Titel: Panta rhei Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Erstellt: 09-10-2016 Disclaimer: # "Er gehört zu mir", Marianne Rosenberg, alle Rechte vorbehalten ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ ~ð~ Panta rhei Kapitel 1 - Geburtstagsvorbereitungen »Der einsame Wolf lebt am Besten in großen Gemeinschaften.« Ich kann mich nicht mehr entsinnen, wann ich diese Aussage aufgeschnappt habe, ob sie eher Tatsache oder Empfehlung, vielleicht sogar Warnung sein soll. Zumindest teilweise trifft sie aber exakt auf mich zu. Ich hatte bei meinem Aus- und Umzug nicht erwartet, eine schlichte, bescheidene Zufriedenheit zu finden. Beinahe ist es mir geglückt. ~ð~ Ich unterziehe mich nicht mal der Mühe, die Kopfhörer zu lupfen, als Tibor sein Zimmer verlässt, wie gewöhnlich bar jeden Feigenblatts und gänzlich unbeeindruckt. Varis wirkt in seinen Armen noch immer wie ein frisch geschlüpftes Küken, dürre Gliedmaßen, fahle Hautfarbe, nur Haut und Knochen, sieht man von dem wirren Lockenschopf ab, der in dezent verschwitztem Mahagoni glänzt wie eine überdimensionierte Pusteblume auf dem Löwenzahnstängel. Natürlich würde die Dusche noch etwas mehr Zeit beanspruchen, danach ginge es erneut zurück in Tibors Zimmer, wo zweifelsohne Varis, fürsorglich in eine flauschige Decke gehüllt, in die Hängematte bugsiert wurde. Der geteilte Fensterflügel würde entgegen verzweifelt quietschendem Widerstand unerbittlich aufgestoßen, die Bettwäsche gelüftet, letzte Spuren beseitigt... Ich widme mich weiter meiner Fachlektüre, während meine Gehörgänge mit sphärischer Hintergrundmusik ausgepolstert werden. Eigentlich soll man sich beim Lernen, um nachhaltigen Erfolg zu sichern, ganz auf eine Sache konzentrieren. Bei mir funktioniert die Erinnerung an den Stoff besser, wenn ich die passende Melodie repetiere. Kurioserweise, denn ich bin kein sonderlich musikalischer Typ, was das betrifft. Tibor marschiert wieder in mein Blickfeld, dieses Mal in Trunks, ansonsten so bloß wie zuvor. Ich schiebe mir die Kopfhörer auf die Schultern, klemme ein Lesezeichen in das Kompendium, sehe zu ihm hoch, als er sich der eingebauten, sehr altertümlichen Küchenzeilenfront widmet. "Weißt du schon, wie du deinen Geburtstag feiern willst?" ~ð~ Ich warte, wohlig eingekuschelt, auf den aromatischen Duft von selbst belegter Pizza. Für mich würde es ein Eckchen geben mit viel Zwiebeln, Knoblauch, grünem Spargel und Tomatenmark mit aufgestreuten Walnusssplittern. Vor Vorfreude grummelt mein Magen leicht. Ich schnuppere schon mal erwartungsvoll, obwohl Tibor ja gerade erst wenige Augenblicke zuvor das Zimmer verlassen hat. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich ohne seine Hilfe auch nicht in die Wohnküche spazieren können. Mir zittern noch die Glieder, was sich gar nicht unangenehm ausnimmt, um bei der Wahrheit zu bleiben. Ich habe das Gefühl, mich bis in alle Spitzen spüren zu können, vollständig "da" zu sein, ohne mir jedoch träge oder schwerfällig vorzukommen. Es ist schön und belohnt mich für meinen Mut. ~ð~ Ich habe mir das nie vorstellen können, dass es mir Spaß machen würde, vor einer klapprigen Küchenzeile herumzuwerkeln, zu schnippeln, zu verrühren, alles zu arrangieren, die Elektrofront von Backofen bis Mikrowelle zu bestücken. Tut es aber. Auch wenn ich den Pizzateig nach wie vor fertig kaufe, weil ich den Geheimnissen folgsamer Hefe noch auf der Spur bin (wenn auch nicht sonderlich beschleunigt). Rags Frage stört mich nicht in meiner Konzentration, auch wenn mir immer wieder nachgesagt wird, dass ich bloß Anzeichen serieller Intelligenz aufweise. "Ich will keine große Sache daraus machen." Antworte ich, während ich mit dem Löffel paritätisch Tomatenmark und eine cremige Kräuterschwitze auf dem Teigfladen verteile. Ist ja nicht so, als wäre es ein bedeutender Geburtstag. Außerdem will ich meine freie Zeit mit Varis verbringen. Wenn nicht gerade Vollmond wäre, würde das auch perfekt klappen. Rag, mein ausgelagerter Verstand, gibt nicht so leicht auf. Darin hat er Übung seit meiner Geburt. "Das verstehe ich ja." Höflich und konziliant ist er, aber auch hartnäckig. "Doch wenn wir uns nicht was einfallen lassen, werden sich alle hier einfinden. Und besonders Kevin..." Mir entwischt ein Knurren, das nichts mit meinem angeregten Appetit zu tun hat, als ich zwei Blechplatten samt Ladung in den Backofen einfahren lasse. "Den will ich hier nicht drin haben!" Grolle ich Rag zu, stopfe den frisch getauften Salat in die Handschleuder, ziehe am Gurt. Freunde zu finden am neuen Wohnort ist ja ganz nett. Allzu kritisch bin ich da auch nicht, aber Kevin nervt mich schon. "Er würde bestimmt auch lieber ausgehen." Bemerkt Rag zuckersüß. Also richte ich mich auf, funkle ihm grimmig in sein entspanntes Ponem, spüre das Jucken in meinen Fäusten, die sich selbsttätig ballen. "Kann er gern machen." Knurre ich. "Braucht mich ja nicht dazu." "Aber ohne dich fehlen ihm die Anziehungspunkte." Nun feixt Rag geradezu diabolisch. Ich bin nicht ganz blöd. Mir ist schon klar, warum Kevin und auch andere Figuren sich an mich hängen. Meine Anwesenheit trägt wohl kaum dazu bei, seine Negativquote bei der holden Weiblichkeit zu verbessern. Grimmig fülle ich Essig, Öl und Kräuter in eine alte Flasche, drehe ihr den Hals zu, schüttle sie, bis mir die Sehnen klingeln. "Ohne Varis gehe ich nicht aus." Stelle ich fürs Protokoll klar. Da Varis erst 14 Jahre alt ist, bleibt nicht viel übrig. Was mich nicht im Geringsten juckt. Ich war schon in Clubs, Diskotheken, Bars und anderen Lokalitäten, die Zugangsbeschränkungen haben: ich vermisse sie nicht. Rag schraubt sich hoch, dockt die Kopfhörer ab, deckt den großen Tisch. "Wenn wir also Kevin und deine Fans nicht hier haben wollen..." Er grinst. "Und es jugendfrei sein soll, schlage ich vor, wir besuchen das Fest der Freiwilligen Feuerwehr." Damit fingert er aus der hinteren Hosentasche ein buntes Flugblatt, reicht es mir. "In Ordnung." Nicke ich nach kurzer Lektüre, strecke ihm die Zunge raus, weil er mich ja wohl absichtlich hat zappeln lassen. Rag erwidert meine Geste mit hängendem Leckbrett, zwinkert. Für einen Klugscheißer ist er ein ziemlich netter Kerl. ~ð~ Bis zu meinem dritten Lebensjahr war ich ein Einzelkind. Amtlich betrachtet bin ich das immer noch, aber da unterscheiden sich eben Theorie und Praxis. Meine erste Erinnerung an Tibor besteht darin, dass mir seine Mutter ein erstaunlich warmes, dezent schnarchendes und unerwartet schweres Bündel in meine kurzen Arme drückt. Tibor ratzt unbeeindruckt weiter, während ich ihn bestaune. "Niedlich, was, Rag?" Sie streichelt mir durch die Haare, hockt sich vor mich hin. "Kannst du gut auf ihn aufpassen?" "Klar!" Trompete ich im Brustton kindlicher Selbstgewissheit. Meine Konzentrationsspanne ist ja auch noch kurz, ebenso wie mein Zeitverständnis. Unsere Mütter sind entfernte Cousinen, die auch noch in derselben Kleinstadt leben. Also war es gar nicht verwunderlich, dass ich Tibor präsentiert wurde und umgekehrt. Was ich erst einige Jahre später und eher durch Zufall (vielmehr unbeabsichtigtes Lauschen) erfuhr, war der fehlende zweite Satz zu meinem Auftrag. "Gut schaut er schon aus, aber wenn er sonst nach seinem Vater kommt..." Tatsächlich gilt Tibors Vater als außerordentlich attraktiv, gefällige Manieren, Leutseligkeit, Gutmütigkeit. Aber, um es mit meiner sehr entfernt verwandten Tante auszudrücken: definitiv nicht die hellste Birne im Kronleuchter. Sie übernimmt also das komplexere Denken, was ihn keineswegs stört. Ich war nun in ähnlicher Funktion aufgefordert, auf Tibor zu achten. Was gar nicht so einfach ist, denn zumeist ist er förmlich umzingelt von Anhängern, Bewunderern, Speichelleckern, Windschattensurfern und anderem Volk. Er legt es allerdings keineswegs darauf an, sondern toleriert die Umstände lediglich. Neben einer imposanten Physis vertraut er besonders auf seine ausgeprägten Instinkte. Das macht seiner Mutter durchaus Sorgen und befördert mich deshalb als "Wachhund" zur Prävention an seine Seite. Auch für mich gilt schließlich: ein Werwolf muss tun, was ein Werwolf tun muss! ~ð~ Als Tibor sein Zimmer betritt, knurrt mir vernehmlich der Magen ob der berauschenden Düfte aus der Wohnküche. Peinlich berührt würde ich mich am Liebsten verstecken, doch Tibor steht schon neben der Hängematte, fädelt mühelos seine muskulösen Arme unter meine Kniekehlen und Schulterblätter, sodass ich artig klammere. Er hebt mich heraus, geht leicht in die Hocke, damit ich selbst stehen kann, was einigermaßen klapprig gelingt. "Alles in Ordnung?" Erkundigt er sich, streicht mit einer Hand über mein Gesicht, um es unter wirren Lockensträngen freizulegen, während der andere Arm mich noch immer stützt. "Alles prima." Quäke ich verlegen, kann aber seinem Blick nicht ausweichen. Selbst jetzt, nach einigen Monaten, bin ich fasziniert von seinem Gesicht, könnte es ewig betrachten. Tibor beugt sich herab, küsst mich ganz sanft, lächelt zufrieden. "Zieh dir was über, Essen ist nämlich fertig." Ich nicke rasch, damit meine quäkende Stimme nicht schon wieder einen so grässlichen Kontrast zu seinem sonoren Bass bildet, drehe mich um, schlüpfe ungelenk in meine Kleider. Währenddessen hat Tibor schon die Hängematte abgenommen, die Kuscheldecke gefaltet und die Fensterflügel wieder geschlossen, ohne den quietschenden Protest zu beachten. "Dann los." Streckt er mir seine große Rechte hin. Dass wir vor dem Essen noch gemeinsam Hände waschen, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. ~ð~ Ich habe ehrlich nicht erwartet, dass es so gut klappt. Obwohl wir uns so lange kennen, war ich mir doch nicht sicher, ob Zusammenleben unsere Freundschaft nicht zu sehr auf die Probe stellt. Andererseits wollte ich schon von zu Hause ausziehen, auf eigenen Füßen stehen. Die Pendelei war mir lästig. Ich hatte auch ein wenig Angst, mich zu sehr auf meine Eltern zu verlassen, ein verwöhnter Bengel zu bleiben. Tibors Schulabschluss und sein Ausbildungsvertrag ermöglichten es uns, gemeinsam den Schritt zu wagen. Geteilte Miete, Gesellschaft, gegenseitige Unterstützung und natürlich meine wachsamen Augen auf Tibor, um größere Kalamitäten zu vermeiden. Unsere Eltern überzeugte das. Tibor hatte keinerlei Zweifel, dass wir es schon packen würden. Manchmal fürchte ich, ihm fehlt einfach die Phantasie für die Katastrophen, die ich mir sehr wohl vorstellen kann. Bis jetzt haben wir uns aber ziemlich gut geschlagen, das stimmt schon. Wobei das "Schlagen" sich eigentlich nur auf unsere erste Stippvisite bezieht. Mietangebote für akzeptable Unterkünfte, die zum eigenen Geldbeutel passen, sind rar gesät, in einer mittelgroßen Stadt mit einer technischen Fachhochschule und S-Bahn-Anschluss an die nächste Großstadt ohnehin. Deshalb hegte ich auch nicht gerade überwältigend große Hoffnungen, als wir zu einer Wohnungsbesichtigung auszogen. Eher Randlage, Häuschen mit der ehemaligen Betriebswohnung einer Pumpstation, renovierungsbedürftig, altmodisch geschnittene Räumlichkeiten, direkt in unmittelbarer Nachbarschaft eine "Sozialsiedlung". Das heißt Mehrfamilienwohnungen in Blockform aus den späten Sechzigern, etwas verwahrlost. Die meisten anderen Interessierten waren zurückgeschreckt, vom Wildwuchs rund ums Häuschen, vor allem aber in Anbetracht der "Nachbarschaft". Zumindest der Vertreter, die offensiv als Abschreckungspotential auftraten, weil sie hofften, dass Häuschen als "privaten" Rückzugsraum nutzen zu können. Natürlich hatte ich Tibor zuvor auf die etwas unerfreulicheren Randbedingungen hingewiesen. Wie gewohnt zuckte er bloß mit den Schultern seines mächtigen Kreuzes, brummte. "Gucken wir erst mal." Was wir auch taten, indem wir artig von der S-Bahn-Station bis hinaus in die Peripherie marschierten. Die Maklerin wirkte nervös, redete rasend schnell auf uns ein, während wir uns umsahen. Ich hakte auf meiner persönlichen Liste alle zu klärenden Punkte ab. Tibor legte Hand an Wände, schnupperte, inspizierte den Dschungel, der mal als Garten angefangen hatte. Wir blieben noch ein wenig länger, nachdem die Maklerin mit ihrem Leihwagen eilig davongebraust war, studierten die Lage jenseits des mannshohen Zauns. Da fand sich das örtliche "Begrüßungskomitee" ein. Mir schwante Übles. Anders als sein leutseliger Vater ist Tibor eher der stoische Typ. Er erwartet, dass sich alle zuerst mal um den eigenen Kram kümmern. Regelmäßig ficht das seine Mitmenschen nicht an, mal abgesehen von der Tatsache, dass er locker 1,90m misst, sehr muskulös ist, lange Beine vorweisen kann und einen dichten Schopf schwarzer Haare, die er zu einem kurzen Zopf zusammenfasst. Es gibt immer Kerle, die sich prügeln wollen, die auf einen wie ihn hoffen, damit er all ihre Vorurteile und Minderwertigkeitskomplexe bestätigt. "Idioten, die nichts Besseres zu tun haben." Tibors Einstufung. Mit der Sorte kennt er sich seit dem Krabbelalter aus. Als Schlichter stand ich wie gewohnt auf verlorenem Posten, das wusste ich selbst. Sie wollten Ärger, Tibor war genervt, seine Instinkte lärmten. Ich ahnte schon, wie diese Kombination ausgehen würde. "Denkst du, die werden die Miete erhöhen, wenn die Nachbarschaft manierlicher wird?" Erkundigte sich Tibor auf dem Heimweg, während er sich etwas Dreck abklopfte. "So schnell nicht." Antwortete ich, seufzte über den Schmutzstreifen auf meinen Sweatshirt. Wenigstens das Sakko hatte nichts abbekommen, weil ich es vorausschauend abgestreift hatte. Es liegt zweifellos an unserem Werwolf-Erbe, dass Tibor IMMER den Anführer einer Gruppe identifiziert, selbst wenn diese das selbst gar nicht so festgelegt hat, wenn der erst mal "Kanonenfutter" vorschickt. Ist das "Rückgrat" der Stänkerer und Streitsucher ausgeschaltet, zerstreuen sich die Mitläufer und Vasallen regelmäßig. Nicht zu vergessen Tibors imponierende Auftritte. Wir haben beide Selbstverteidigungstechniken schon als Kinder erlernt. Weil wir Werwölfe sind, eben auch miteinander trainiert. Wir sind also geübt, aufeinander abgestimmt und trotz der offenkundigen physischen Unterschiede ein eingespieltes Duo. Nach unserem "Einstand" in der Nachbarschaft schlossen wir also gemeinsam den Mietvertrag ab. Der Sicherheitsdienst, den die städtische Gesellschaft seit Jahren beschäftigte, musste öfter Runden drehen, bis wir eingezogen waren, weil sich einige wohl lieber an Sachen als an Menschen schadlos halten wollten. Die Lage beruhigte sich, weil Tibor gänzlich unbeeindruckt durch die Gegend marschierte. Und weil eine Menge Leute uns heimlich beim Roden des Dschungels beobachteten. Wir machten schon eine gute Figur, finde ich, auch wenn es viel Arbeit war. Danach fühlte sich das Häuschen wie "unser" Heim an. Außerdem konnten wir all die kleinen Gimmicks anbringen, die es Angreifern erschweren würden, uns zu überrumpeln. Der Wind hatte sich gedreht. Deshalb gab es eben plötzlich Typen, die sich mit uns anfreunden wollten. Kevin, der war auch ein Werwolf, zugezogen, hatte aber zu den einheimischen Rudeln keine Beziehung aufbauen können. Was mich nicht wunderte, weil er sich allzu sehr bemüht, ein "Macher" zu sein, ohne die notwendigen Fähigkeiten vorweisen zu können. Die anderen Rudel nahmen uns zwar auch zur Kenntnis, aber abgesehen von gegenseitigem Respekt blieben wir außen vor. Eine gute Gelegenheit, sein eigenes "Ding" zu machen, was wir auch taten. Ich fürchtete natürlich schon, dass ein eigener Haushalt zu Streitigkeiten führen würde, doch Tibor überraschte mich. Mit konzentrierter Miene arbeitete er sich durch Kochrezepte, kämpfte mit dem altertümlichen Waschautomaten, rang den Boiler nieder. Wir vereinbarten Putz- und Einkaufsdienste, schlossen uns Freifunkern an, um mit der Umwelt kommunizieren zu können, bastelten einen Anhänger für unsere Trekkingräder, damit auch die Lastentransporte wuppten. Selbst unsere Eltern waren beeindruckt. Ich war felsenfest der Überzeugung, meiner "Wachhund"-Aufgabe ledig geworden zu sein. ~ð~ Ich bin pappsatt, glücklich und falle gleich ins "Suppenkoma", fürchte ich. Deshalb sollte ich mich wohl auf den Heimweg machen. Will ich aber noch nicht. Also greife ich unter dem Tisch nach Tibors Hand, halte sie fest. Er lächelt. "War gut, oder? Den Rest packe ich dir ein." Sein Kinn weist auf die "Grünzeug"-Ecke. Ich mag kein Fleisch, was er ohne Diskussion akzeptiert hat. Ich weiß nicht, ob die beiden sich meinetwegen einschränken, zu hören bekomme ich jedenfalls nichts, auch wenn Ragnar ohnehin selten beim Essen interveniert. "Was meinst du hierzu?" Er reicht mir ein buntes Flugblatt über den Tisch in die freie Hand. "Rag schlägt vor, dass wir da an meinem Geburtstag hingehen." Tibors Daumen massiert meinen Handrücken. "Ist das in Ordnung?" Eilig überfliege ich die überschaubaren Angebote. Es handelt sich um ein kleines Fest, das von Ehrenamtlichen organisiert wird. "Gern." Nicke ich rasch. "Wird bestimmt lustig." "Also abgemacht." Tibor lächelt. Ich schäme mich ein bisschen, weil er vielleicht seinen Geburtstag lieber "erwachsener" gefeiert hätte, mit einer Party und Alkohol. Wie man das eben macht, wenn man Neunzehn wird. Ich bin auch so egoistisch, mich zu freuen, dass er mit mir feiern will, auch wenn das viele Einschränkungen für ihn bedeutet. Dass er keine der Mühen scheut, die ich ihm bereite. "Tja." Sein Blick fällt auf die alte Kuckucksuhr mit den schweren Tannenzweigen als Aufziehgewichte, ein Mitbringsel von einem Trödelmarkt. "Besser, ich bringe dich jetzt heim. Ist schon spät." Leider. Wenn er mich vor der Tür abliefert, werde ich wieder aufs Wochenende warten müssen, um ihm nahe zu sein. ~ð~ Tibor verschwindet rasch in seinem Zimmer, um sich etwas überzuziehen. Ich packe die Pizza-Reste für Varis ein. Die leere Dose steht regelmäßig bereit. Kein Wunder, er ist immer noch spindeldürr, wirkt zerbrechlich, nicht nur neben uns. "Danke schön." Nimmt er sie artig entgegen, wischt sich schüchtern durch die wirren Locken. Ich mache ihn immer noch ein wenig nervös. Umgekehrt ist es genauso, obwohl ich wahrscheinlich besser darin bin, das zu verbergen. "Wir gehen mal." Tibor nimmt selbstverständlich Varis' Hand, tippt zwei Finger zum Gruß an seine Stirn, bevor sie das Häuschen verlassen. Ich staple unser weniges benutztes Geschirr in der Spüle, wo es erst mit dem Frühstücksgeschirr gereinigt wird. Wasser sparen ist angesagt. Varis ist die größte Überraschung, die mir Tibor bereitet hat. Eine, die ich als "ausgelagerter Verstand" nicht verhindern konnte. Wir waren damals gerade eine Woche eingezogen, auf dem Heimweg von einer sehr späten (oder eher frühen) Feier. Es regnete, war kalt. Ein sehr trüber Sonntagmorgen dräute, Valentinstag hin oder her. Ein Sammeltaxi hatte uns bei der S-Bahn-Station ausgespuckt. Wir Insassen zerstreuten uns also mehr oder weniger erheitert, angetrunken oder hundemüde. Auf mich traf eher letzteres zu, während Tibor rasch ausnüchterte (weil er ohnehin wenig Alkohol trank, auf dämliche Provokationen gar nicht reagierte). Ihn beschäftigte wohl (wenn auch nicht zu sehr), dass wir ja noch durch unsere eher herausfordernde Nachbarschaft marschieren mussten. Deshalb bemerkte er zuerst die unter einer Traufe stehende Gestalt an der verlassenen Bushaltestelle. Durch die Bindfäden hindurch witterte er, hielt mit ausgreifend großen Schritten direkt auf sie zu. Ich blinzelte Tropfen aus meinen Wimpern, sah bloß eine unförmige Reisetasche, eine gerollte Unterlage und ein undefinierbares Etwas, das uns gerade bis zu den Schultern reichen würde. Als ich endlich Tempo aufnahm, von Tibors Reaktion überrumpelt, stand er schon direkt vor dem einsamen Wartenden, beide Hände gegen die Hauswand gestemmt, schnupperte. "He, Tibor!" In diesem Moment, mich ignorierend, obwohl ich Galopp gab, löste er die Hände von der Mauer, umfasste ein Gesicht, beugte sich herunter, um auf Zungenkontakt zu gehen. DAS hatte er noch nie gemacht! Ich erreichte ihn, als er sich aufrichtete. Sein zierlicher, viel kleinerer Gegenüber bach nach einem erstickten Atemzug in verzweifeltes Schluchzen aus. "Was zum Geier?!" Tibor presste das heulende Bündel einfach an sich, behauptete seelenruhig. "Das wird schon wieder." Er wandte sich mir zu. "Nimm du mal eben das Gepäck, ja?" Ich begriff gar nichts. Mangels Alternative sammelte ich die durchtränkten Habseligkeiten ein, folgte dem ungleichen Paar. Da wusste ich noch nicht, dass die winzige Gestalt ein vierzehnjähriger Junge war. ~ð~ Einerseits nervt es mich, Varis am Sonntagabend wieder artig auf der Türschwelle des alten Wohnblocks abzuliefern. Andererseits halte ich mir vor Augen, dass es auch gut so ist, wegen der Disziplin. Bisher ist in meinem Leben nahezu alles so gelaufen, wie ich es mir vorgenommen habe. Mit anderen Worten: ich habe bekommen, was ich wollte. Das ist nicht gerade im positiven Sinne charakterbildend. Es schleicht sich ja die Routine ein, immer die eigenen Erwartungen erfüllt zu bekommen, sich nicht anpassen zu müssen, keine Kompromisse zu schließen. Varis ist also meine Chance, mich anständig zu verhalten. Mir ist durchaus bewusst, dass mir die meisten so eine Leistung gar nicht zutrauen. Dabei ist es gar nicht schwer, nahezu alle tun es täglich. Sollte mich auch nicht vor größere Probleme stellen. Mühe bereitet es mir gar nicht. Davon muss ich Varis hin und wieder überzeugen. Jetzt zum Beispiel. "Also, wenn du deinen Geburtstag anders feiern möchtest..." Ich mag seine großen, grauen Augen, seine Stupsnase, den neckischen Leberfleck auf seinem Kinn. Seine weichen Lippen gefallen mir besser, wenn er nicht so angestrengt lächelt, sie aufeinander presst, damit sie nichts entwischen lassen, was ich nicht hören soll. Also beuge ich mich herunter, lege einen Finger unter sein Kinn, küsse ihn, sehr zivil. Wir stehen ja auf einem Gehweg. "In erster Linie möchte ich den Tag mit dir verbringen." Stelle ich klar, kraule seine Locken, die mal wieder einen Haarschnitt benötigen. "Leider sitzen mir Kevin und andere wie Zecken im Pelz. Die kann ich wohl nur abschütteln, wenn ich zeitweise ihre Gesellschaft aushalte." Er grübelt, weicht meinem Blick aber nicht aus. "Du vermisst auch bestimmt nichts?" "Ganz sicher nicht!" Dröhne ich aus tiefster Überzeugung, platziere einen weiteren Kuss. Partys habe ich schon genug erlebt, getanzt, getrunken. Intime Begegnungen mit Frauen gab es auch ausreichend. Ich musste mich nie anstrengen, alles kam zu mir, ohne Mühen. Mit Varis ist alles anders, was mir gefällt. "Wenn ich früher komme, glaubst du, wir könnten vorher noch eine Geburtstagstorte backen?" Varis nimmt unseren Schritt wieder auf, drückt meine Hand so behutsam, als könne sie leicht zerbrechen. "Willst du?" Er wendet den Kopf, sieht zu mir hoch, nickt hastig. "Ich hab's noch nie ausprobiert, aber..." "Dann machen wir das. Gefällt mir, deine Idee!" Entscheide ich ultimativ. Ich weiß, dass er sich Sorgen macht, weil er kein Geld hat, um mir ein Geschenk zu kaufen. Ich habe alles, was ich brauche. Das ist gar nicht nötig. Solche Konventionen sind mir eher lästig. Viel wichtiger ist mir, dass wir zusammen sind, dass es ihm gut geht. Varis schenkt mir im Laufen ein schiefes Grinsen. Ich antworte ebenso, sehe dabei wahrscheinlich grunddämlich aus, doch das ist mir gleich. Ich liebe ihn, deshalb ordne ich mich unter. ~ð~ Ich war eingestandenermaßen total verblüfft. Tibor ist durchaus hilfsbereit. Dass auf längere Zeit kein Bus die Haltestelle anfahren würde, war erkennbar. Aber ich habe noch nie erlebt, dass er die Initiative ergreift, was den erotischen Infight betrifft. Nun, nötig hatte er das auch nicht. Gerade die etwas erfahreneren Damen gingen auf ihn zu. Er fand keine Gründe, die Offerten abzulehnen. Bloß: das tropfnasse, schluchzende Bündel in unserer noch nicht eingerichteten Behausung, zwischen Farbeimern, Leitern und alten Zeitungen, war ein Junge. Ich konnte absolut nicht begreifen, was Tibor zu ihm hinzog, ihn dazu veranlasste, dieses Klappergestell zu küssen! "Rag, mach uns mal Tee, während ich mich ums Trockenlegen kümmere." Verteilte er seelenruhig Aufgaben, schnappte sich das heulende Elend, dirigierte es in unser rudimentäres Badezimmer, um dort per Kampf mit dem Boiler kaltes Regenwasser durch heißes Leitungswasser auszutauschen. Während ich also artig Tee zubereitete und "Spontan"-Kekse mit überreifem Obst und Haferflocken buk, wickelte er unseren Gast in seine eigenen Sachen, um die aufgewärmte, abgerubbelte Vogelscheuche auf eine Umzugskiste zu dirigieren. "Rag, das ist Varis." Übernahm er die nachträgliche Vorstellung. "Varis, das ist Ragnar. Wir sind gerade erst eingezogen, deshalb müssen wir improvisieren." Varis nippte, die dürren Beine vor den Leib geklappt, wie ein Vögelchen von seinem Tee, schniefte eingeschüchtert. "Erzähl mir, was los ist." Verlor Tibor keine Zeit, kraulte dabei wie selbstverständlich den überlangen, wirren Lockenputz. Ich hatte den Eindruck, dass ihm seine Geste nicht mal bewusst war, verstand noch weniger, warum er diesen Jungen geküsst hatte. Denn der war nicht mal ein Werwolf! Nach einer halben Tasse Tee, drei kaum abgekühlten Spontan-Keksen und der Ergänzung der Aufmachung um Tibors Winterjacke enthüllte Varis uns mit stockender Stimme die Hintergründe für seinen Aufenthalt an der Bushaltestelle. Seine Eltern lebten in Scheidung, von heftigen Auseinandersetzungen begleitet. Deshalb hatten sie ihn kurzerhand zu den Großeltern seiner Mutter exiliert. Wo und bei wem er zukünftig leben sollte, war vollkommen ungeklärt. Die alten Leute fühlten sich überrannt, er selbst sich unerwünscht und verzweifelt. In der neuen Schule wurde er ausgegrenzt. Alles war ihm fremd und ohne eine freundliche Perspektive. Deshalb wollte er weg, zumindest weg von den Orten und Menschen, die ihn nicht mochten, als Belästigung, als Störenfried empfanden. "Das finde ich nicht so gut." Stellte Tibor nach diesem Geständnis trocken fest. "Wir haben uns gerade erst getroffen. Wäre eine Schande, sich jetzt zu trennen, findest du nicht?" Wäre ich nicht mit Tibors häufig staubtrockener Art vertraut gewesen, hätte es mir vermutlich auch die Kinnlade ausgehängt. So war es nur Varis, der ihn mit verklebten Wimpern ungläubig anstierte. "Da lässt sich bestimmt was machen." Tibor ließ sich durch unsere Reaktion nicht beeindrucken. "Erst mal hauen wir uns aber aufs Ohr. Nach dem Frühstück überlegen wir, wie's weitergeht. Hast du schon mal in einer Hängematte geschlafen?" ~ð~ Meine Urgroßeltern haben sich schon zurückgezogen, als ich mit Tibor eintreffe. Sie gehen früh schlafen, stehen aber ebenso früh auf. Unsere Wege kreuzen sich deshalb nur selten. Tibor lächelt auf mich herunter, beugt sich hinab, küsst mich ausdauernd, bis es in meinen Haarspitzen kribbelt. "Gute Nacht." Wünscht er, tritt artig zurück. "Dir auch." Antwortete ich krächzend, weiß, dass er erst geht, wenn die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Meistens steige ich hoch, warte im Flur, bis ich durch das Fenster seine Gestalt nicht mehr sehen kann. Erst dann schließe ich die Wohnungstür auf, schleiche möglichst lautlos hinein, um meine Urgroßeltern nicht zu wecken. Tibor hat einen Waffenstillstand abgeschlossen: wir nehmen aufeinander Rücksicht, arrangieren uns mit größtmöglichem Abstand bei besonderer Höflichkeit. Das funktioniert vermutlich auch, weil er Vernunftgründe mit seinem imposanten Erscheinungsbild kombiniert hat. Zudem ermuntert er nicht gerade zu Widerspruch. Ich wasche mir rasch das Gesicht, putze die Zähne, schlüpfe in einen alten Jogginganzug und den Schlafsack hinter der Couch. Die Wohnung ist wirklich zu klein für drei Personen, aber weil es Tibor gibt, komme ich damit aus. Ohne ihn hätte ich nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Meine Eltern sind jedenfalls nicht begierig darauf, mich zurückzuholen oder sich auf etwas zu einigen. Wenigstens ist es mit Ragnars Hilfe gelungen, das Kindergeld zu bekommen, damit ich meinen Urgroßeltern nicht vollkommen auf der Tasche liege. Auch wenn es gerade so für den Lebensunterhalt reicht. De facto stecke ich also immer noch ziemlich in der Klemme. Aber es fühlt sich nicht so an, weil es Tibor gibt. ~ð~ Ich stand nicht allein fassungslos einer vollkommen unerwarteten Schicksalsfügung gegenüber. NIEMAND erwartete von Tibor, sich mit einem vierzehnjährigen Jungen zusammen zu tun! Ausgenommen Tibor selbst. Auf den Hinweis, dass Varis offenkundig ein Junge war, entgegnete Tibor bloß, dass sei ihm bekannt. Im Tonfall, der diesen Umstand als lediglich technischen Fakt einstufte, ohne besondere Relevanz. Der Vorwurf, er könne doch unmöglich mit einem dürren Hosenscheißer herumknutschen wollen, traf ihn ebenso wenig. "Ich dränge mich nicht auf." Konterte er schlicht. Punkt. Als bester Freund und "ausgelagerter Verstand" hakte ich etwas diplomatischer nach, in der Gewissheit, dass mich seine Mutter und so ziemlich jede andere interessierte weibliche Person SEZIEREN würde, wenn ich nicht eine Erklärung vorweisen konnte. "Was ist bloß in dich gefahren, Kumpel?!" Tibor, der gerade die letzte Wand weißte, wandte sich zu mir herum, widmete mir einen langen, musternden Blick, antwortete ausschweifend. "Ich liebe Varis." Die Rolle kratzte wieder über die verputzte Mauer. Mehr war hier nicht zu erwarten. Natürlich kannte ich Tibors ausgeprägte Instinkte. Ich hatte nicht vergessen (wie könnte man das auch?!), wie er Varis erst beschnuppert, danach zungenfeucht geküsst hatte. Die Chemie musste offenbar stimmen. Wir bestehen nicht nur aus Molekülen mit ihren gefährlichen Wechselwirkungen, richtig?! Ich konnte also nur, selbst unter wüstesten Androhungen der gar nicht so holden Weiblichkeit (und eingeschlossen seiner Mutter) antworten, dass er Varis liebte. Der nun mal ein vierzehnjähriger, magerer Junge war. Vorhaltungen prallten an Tibor ab, genauso die Abkehr einiger seiner Anhänger, Bewunderer und Fans. Nach seiner Auffassung hatte er sich gar nicht verändert, niemanden getäuscht. Wer ihm zutraute, der Person, die er liebte, anders als mit Aufmerksamkeit, Fürsorge, Treue und Zärtlichkeit zu begegnen, der konnte sich gern trollen! Ich ließ es dabei bewenden. Der völlig verschreckte, verzweifelte Varis taute in Tibors Gegenwart auf, wirkte nicht, als würde mein bester Freund ihn einschüchtern oder unter Druck setzen. Tibor hingegen entsprach exakt seiner Verlautbarung, fand nichts dabei, mit Varis zu schmusen oder seine Hand zu halten. Wer darob schockiert starrte oder homophobe Bemerkungen vom Stapel ließ, den knurrte er bloß sonor nieder. Warum sollte er sich in zivilisierter Weise nicht verliebt zeigen?! Ich konnte dieser Entwicklung nichts entgegensetzen. Nach kurzer Zeit wollte ich es auch gar nicht. Vielleicht hatte sich seine Mutter getäuscht. An praktischem Verstand jedenfalls mangelte es Tibor nach meiner Beobachtung keineswegs. Die Rücksichtnahme auf Varis schlug dort zu, wo ich zuvor das mahnende Moment gespielt hatte, um größere Schwierigkeiten zu vermeiden. Zwar begriff ich nicht, was an Varis auf sexuelle Weise anziehend sein sollte, aber das musste ich ja auch gar nicht. Zwischen den beiden funkte es eben. Sie hatten gemeinsam einen Weg gefunden, das auszuleben. Dass Tibor ihm Erfahrungen voraus hatte, was den technischen Aspekt betraf, dabei entschlossen war, ihn und sein körperliches Wohlbefinden an die erste Stelle zu setzen, half bestimmt dabei. Das beruhigte mein Gewissen. Möglicherweise wirkte es auf Außenstehende verstörend und kriminell. Ich vertraute auf Tibors Instinkte und sein moralisches Selbstverständnis, gewöhnte mich eben daran, mir Kopfhörer aufzutopfen, mich artig selbst zu beschäftigen, wenn sie in Tibors Zimmer verschwanden. ~ð~ Ich mag mein Leben so, wie es ist. Zumindest 26 Tage in Folge. Die durchschnittlich drei Tage danach sind anstrengend, schmerzhaft, schwer erträglich. Manchmal gelingt es mir kaum, mich darauf zu besinnen, dass wieder gute Tage kommen werden, dass sie sogar in der Überzahl sind. Das sollte ich wohl erklären. Bis zu meinem fünften Lebensjahr war ich ganz "normal", ein typisches Kleinkind eben. Kinderkrankheiten, Zahnen, motorische Fähigkeiten erlernen, alles wie der Durchschnitt. Dann bekam ich entsetzliche Kopfschmerzattacken, immer wieder. Ich konnte nichts essen, musste mich übergeben, mir wurde schwindelig, Licht und Geräusche taten mir weh. Meine Eltern rasten vom Kinderarzt zur Kinderklinik, um Tumore oder andere lebensbedrohliche Fehlentwicklungen auszuschließen. Mir wurde eine kindliche Migräne attestiert. Weil sie regelmäßig so heftig zuschlug, mich apathisch vor Schmerz werden ließ, bekam ich Medikamente. Die halfen bei den Anfällen. Dafür hatten sie Nebenwirkungen. Mit acht Jahren war ich total übergewichtig, atemlos, aufgequollen und vereinsamt in meiner Grundschule, weil ich die Hänseleien nicht ertrug, lieber allein blieb. Nach einem weiteren Marathon durch die ärztlichen Disziplinen wurden die Medikamente abgesetzt. Die Migräne schlug mit Macht zurück. Ich hatte keine Wahl, mein Körper war schon geschädigt. Während die meisten Organe sich dank einer strengen Diät von der Vergiftung erholten, galt das nicht für mein Geruchs- und Geschmacksempfinden. Nur noch sehr starke Reize konnte ich überhaupt wahrnehmen. Aber es half auch während der 26 Tage. Ich verspürte keinen Appetit, hatte deshalb nie Schwierigkeiten, mich an die Diät zu halten, genau abgewogene, immer wiederkehrende Mahlzeiten einzunehmen. Der Hunger wurde gerade so befriedigt, still zu halten. Mit einem Sportprogramm gelang es mir auch, meinen überdimensionierten Körper wieder auf das normale Maß zu reduzieren. Für die Migräne musste autogenes Training reichen. Alternative Aromatherapien funktionierten ja nicht. Die Spuren dieses Kampfes um mein Leben haben sich eingeprägt. Ich lebe immer noch nach dem Diätplan. Essen bedeutet mir nicht viel. Es ist eine regelmäßige Notwendigkeit, nicht mehr. Ich habe gewisse Schwierigkeiten, meinen Körper in seinen Dimensionen richtig einzuschätzen. Ich fühle mich breiter, schwerer, dicker als der Spiegel und die Waage mir anzeigen. Meine persönliche Sphäre ist sehr ausgedehnt, weshalb ich es vermeide, in die Nähe anderer Personen zu geraten. Ich fühle mich also rasch bedrängt, eingeschlossen. Dazu kommt der Umstand, dass ich kaum Gerüche wahrnehmen kann. Auch das sorgt für große Distanz, weil ich nicht einschätzen kann, ob ich etwa schwitze, möglicherweise unangenehm rieche. Was mir sehr zu schaffen machen würde, wenn es andere bemerken. Deshalb bin ich wohl zurückhaltender, distanzierter als andere. Trotzdem komme ich durchaus in Gesellschaft klar, auf gewisse Weise. Ich arbeite in einem Bürojob vor Computern, fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit, lebe problemlos in meinem Souterrain-Appartement. Nur drei Tage sind immer zu überstehen. Für den Jungen, der als "Muschi" gehänselt worden ist, eine machbare Aufgabe. ~ð~ Kevin nervt. Ich hatte ja gehofft, dass ihn Tibors Zuneigung zu Varis nachhaltig abschrecken würde. Leider genügt das nicht. Er ist davon überzeugt, dass sich das schon "auswachsen" wird, Tibor auf "Baby-Dates" keine Lust mehr hat. Während ihm Tibor regelmäßig unmissverständlich zu verstehen gibt, dass seine Priorität auf gemeinsamer Zeit mit Varis liegt. Also hängt sich der nervtötende Möchtegern an mich ran. Er glaubt, ich gehöre zu seiner "Sorte", also noch unbeweibt und deshalb ständig auf der Suche. Was mich hin und wieder auf die Palme bringt. Ich will mit ihm nicht mehr als die Spezies gemeinsam haben. Vor allem jetzt nicht, wo ich mich auf meinen Diplomabschluss konzentrieren und im Job richtig durchstarten will. Wenn ich ehrlich bin: was Tibor und ich gemeinsam erlebt haben, an Feiern, Partys, Mädels usw., das hat mir durchaus gereicht. Irgendwann wiederholt es sich einfach, verliert sich der Reiz, es wird schlichtweg langweilig. Dabei ist mir durchaus klar, dass Werwölfe ein Rudel, eine Gemeinschaft brauchen, die meisten zumindest. Wir haben diesen ausgeprägten Gruppendrang, suchen Gesellschaft, wollen etwas fürs Gemeinwesen tun, wie es so schön heißt. Für Tibor und mich war das nie ein Problem, wir waren ja quasi unser eigenes Rudel, mussten uns nirgendwo eingliedern. Dass Kevin also meine Nerven strapaziert, ist dem Umstand geschuldet, dass wir ein soziales "Zwangsverhalten" zur Toleranz haben. Solange er sich nicht woanders einsortiert, schlägt er eben bei uns auf. Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, wie wir ihn loswerden können, keine Frage! Gerade geht er mir wieder auf den Wecker. Just an Tibors Geburtstag, wo sich die lockere Clique auf dem Feuerwehrfest treffen will, ist auch Vollmond. Was Kevin glauben lässt, wir müssten danach noch etwas "los machen". Es stimmt zwar, dass in Vollmondnächten unsere spezifischen Werwolf-Eigenschaften stärker ausgeprägt sind, doch das ist individuell ganz unterschiedlich. Tibor spürt seine Instinkte stärker, weshalb er sich besser kontrollieren muss (und es mein Job vor Varis' Erscheinen war, den "Verstand" beizusteuern, um Ärger zu vermeiden). Bei mir selbst merke ich keine Auffälligkeiten. Andererseits zeichne ich mich auch nicht durch besondere Fähigkeiten aus (oder habe die bisher nicht bemerkt). Unsere physische Stärke verändert sich jedenfalls nicht. Auch steigt unser "Sex-Drive" nicht auf gemeingefährliches Niveau. Bei Kevin habe ich den Eindruck, er wird noch eine Spur dämlicher und kleingeistiger. Das kann auch meine Voreingenommenheit sein. Ich fühle mich jedenfalls nicht genötigt, irgendwen oder -etwas in der Nacht flachzulegen, um eine wie auch immer geartete Potenz zu beweisen. Kevin hält mich deshalb für übertrieben schüchtern und kontrolliert. Ich halte ihn mit knirschenden Zähnen für einen ausgemachten Idioten, suche nach einer Lösung, ihn zu vertreiben, bevor mein Verstand mich temporär verlässt, ich mir Ärger einhandle, weil ich seinen Hintern in die nächste Dimension trete. Irgendwo muss es doch ein freies Rudel geben! ~ð~ Rag hat schlechte Laune, weil Kevin ihm dauernd auf die Pelle rückt. Von mir hält er Abstand, was auch daran liegt, dass ich draußen die alte Machete schwinge, die wir im Keller gefunden haben. Damit lässt sich das wuchernde Grünzeug ordentlich auf Abstand halten. Mit dem Gemüseanbau wird es wohl erst nächstes Jahr klappen, vermute ich. Hier ist noch immer Pionierarbeit angezeigt nach den Jahren der Verwahrlosung. Ich habe Varis versprochen, dass wir im Winter Gartenbücher wälzen werden. Er war auf der alten Schule in der Garten-AG, vermisst sie. Blumentöpfe sind da kein Ersatz, vor allem, weil seine Urgroßeltern keine zusätzlichen haben wollen. Ich vermisse ihn. Unter der Woche können wir uns nur selten treffen, Ganztagsschule und meine Ausbildung beißen sich da. Pauken müssen wir beide auch noch. Dafür sollen uns die Wochenenden und die freien Tage gehören. Deshalb hat der arme Rag die undankbare Aufgabe übernommen, den notorischen Kevin zu beschäftigen, bevor meine niederen Instinkte zuschlagen (und ich den Blödmann tatsächlich auf die Bretter schicke). Die einfachste Lösung wäre, eine Freundin für Kevin aufzutreiben. Aber vor der Aufgabe kapitulieren sogar meine ausgeprägten Instinkte. ~ð~ So habe ich mir das nicht vorgestellt. Tibor und Varis garantiert auch nicht. Varis ist beim Sportunterricht unglücklich mit einem Mitschüler zusammengeprallt. Beim Sturz hat er sich den Arm ausgekugelt. Ob des Schmerzes wurde er prompt noch ohnmächtig. Bis sich die übliche Konfusion gelegt hatte, er in einem Rettungswagen versorgt wurde, dauerte es auch noch eine Weile, was die Lage nicht verbesserte. Die Schule rief also die Urgroßeltern an, die sich überfordert fühlten, Tibor alarmierten. Der konnte aber nicht von seinem Ausbildungsunterricht verschwinden. Deshalb erreichte sein Notruf mich. So schiebe ich nun mein Rad neben einem leichenfahlen und zutiefst unglücklichen Varis her, der nicht nur seinen Arm in der Schlinge trägt, sondern metaphorisch auch das Haupt. Seine Vorstellung von einer Geburtstagstorte schwebt in größter Gefahr, weil er den Arm unbedingt ruhig halten muss, darob nichts schleppen darf, deshalb nicht einkaufen kann, was doch sein Geburtstagsgeschenk für Tibor werden soll und überdies noch Ärger mit den Urgroßeltern hat! Von mir mal ganz abgesehen, da ich ja sicher auch etwas Besseres vorgehabt habe, richtig? Er ist so geknickt, dass ich mir kaum verkneifen kann, seinen wirren Lockenputz zur Aufmunterung zu kraulen. "Mal halblang." Antworte ich auf seine kleinlaute Selbstanklage. "Das war eben ein Unfall, kommt vor. Wenn ich mich recht entsinne, trägt die Schulversicherung die Kosten fürs Verarzten. Außerdem ist die Torte ja noch längst nicht verloren. Wir lassen uns was einfallen." Er guckt so dankbar aus der schlotternden Wäsche, dass ich mir ungeniert großspurig vorkomme. Dbei spreche ich lediglich aus Erfahrung. Vor dem Supermarkt kette ich also mein treues Gefährt an, schnappe mir einen Korb, marschiere mit Varis im Schlepptau durch die Gänge. Hat ja keiner behauptet, die Torte müsse in einem Stück bestehen, oder? ~ð~ Ich habe vermutlich einen kleinen Streckenrekord aufgestellt, als ich vorfahre, vom Rad springe, durch den gezähmten Wildwuchs den Ankett-Baum hinter dem Häuschen erreiche. Varis hockt dort schon in einem ausrangierten Rattansessel, den wir vom Sperrmüll adoptiert und geflickt haben. "Wie geht's dir?" Falle ich gleich mit der Tür ins Haus. Seine blasse Nasenspitze gefällt mir gar nicht. "Schon besser." Schwindelt er unglaubwürdig, hebt sehr vorsichtig den Arm in der Schlinge ein wenig an. "Aha." Kommentiere ich knapp, bevor ich ihn sehr vorsichtig in die Arme nehme. Ich weiß ja selbst, wie wenig er entgegenzusetzen hat. Rag kommt mit einem alten Flaschentransporter aus Kunststoff raus, den er mit Maschendraht stabilisiert hat. So lässt es sich leichter an, hohe Gläser mit abgekühltem Tee nach draußen zu transportieren. Er zieht eine Grimasse. "Na, willst du auch die schlechte Nachricht hören?" ~ð~ Kapitel 2 - Feuerprobe in der Drachenhöhle Eigentlich sollte ich nach Hause gehen. Wobei ich mich bei Tibor "daheim" fühle, nicht in der winzigen Wohnung meiner Urgroßeltern. Aber ich möchte nicht. Auch nicht, nachdem Ragnar mir eine Dosis Kopfschmerztabletten verordnet hat, weil die Wirkung der Spritze nachlässt. Ich spüre, dass meine Anwesenheit die Stimmung nicht hebt. Kevin ist mit einigen Freunden gekommen, um als Überraschung in Tibors Geburtstag "reinzufeiern". Das Ansinnen habe ich torpediert, was die anderen ärgert. Tibor kümmert sich hauptsächlich darum, dass sich mein Zustand bessert. Ragnar bemüht sich um einen Ausgleich, aber ich merke auch, dass er mit Kevin seine Schwierigkeiten hat. Atmosphärische Spannungen, die mir auf den Magen schlagen, fast wie zu Hause. Nur wird hier noch nicht gebrüllt. Ich bin nicht sicher, ob ich den Heimweg schaffe, aber ich will Tibor auch nicht sein Vergnügen vermiesen. ~ð~ Es geht auf Zehn zu. Noch zwei Stunden mindestens zu überstehen, ohne das Kampfhandlungen ausbrechen. Dass Varis nach Hause läuft, ist ausgeschlossen. Der Lärm, die Schmerzen, die Anstrengungen vom Tag, das ist einfach zu viel auf einmal. Ich würde ihn gern in Tibors Zimmer lotsen, damit er dort übernachten kann. Leider gilt es, Tibor selbst davon abzuhalten, Kevin und Konsorten einen Scheitel zu ziehen. Wenn Varis zu Bett geschickt wird, nimmt er sich selbst vom Zapfenstreich nicht aus. Was das geplante "Reinfeiern" verhindern würde. Wie aber das lästige Überfallkommando loswerden?! Improvisation ist angesagt. ~ð~ Ich "rieche" den Braten oder vielmehr die gefährliche Mischung, die Rag unter dem Etikett "Bowle" zusammengerührt hat. Wir halten uns beide mit Alkohol ohnehin zurück. Mit "Fahne" knutschen ist für mich indiskutabel. Eine Ahnung von Lakritz kann man identifizieren. Die Wirkung lässt jedenfalls nicht lange auf sich warten. Wie nach der ersten Maß auf dem Oktoberfest geht es rein und raus im Klo, da wären Schwingtüren angezeigt. Die Durchhaltebereitschaft sinkt beträchtlich, sodass ich unbehelligt Varis mit stützenden Handtuchrollen in mein Bett verfrachten kann. Er ist total erschlagen, will mir aber um Mitternacht auch gratulieren. "Ruh dich erst mal aus. War ja ein anstrengender Tag." Ordne ich an. Mit ein bisschen Glück und dank Rags gemeingefährlichen Giftmischerkenntnissen kann ich ihm vielleicht selbst um Mitternacht ein Geburtstagsküsschen abschmeicheln. ~ð~ Die Überlebenden brechen zügig kurz nach Mitternacht auf. Respekt, da sind einige unerwartet zähe! Die übermütige bis aggressive Partystimmung hat sich spurlos verabschiedet. Ein bisschen stolz bin ich schon auf meinen Geistesblitz, auch wenn es ganz sicher nicht der feinen Englischen Art entspricht. Leider funktioniert dieser Trick wohl nur ein Mal. Das bedeutet, dass ich mir nun ernsthaft Gedanken machen muss, wie ich Kevin anderen aufhalse. Tibor umarmt mich kurz, seine Art, mir zu danken. Geschenke austauschen, das haben wir schon als Kinder abgeschafft. Während er nun auf leisen Sohlen seinen Varis aufsucht, räume ich noch ein wenig auf, beseitige Spuren. Im Bett grüble ich noch eine Weile, wie ich Kevin beikommen kann, allerdings ohne Ergebnis. ~ð~ Tibor sägt für Varis "Soldaten" zurecht, schneidet also Brote zu Häppchen, die man einarmig konsumieren kann. Beide wirken sehr zufrieden, frisch geduscht und in "Torten-Topfen"-Stimmung. Ich bin ein wenig angesäuert, weil mir partout noch nichts eingefallen ist, um diesen häuslichen Frieden zu erhalten. Spätestens auf dem Feuerwehrfest wird Kevin wieder auf der Matte und meinen Nerven stehen. Es MUSS noch andere geben, die ihr eigenes Rudel aufziehen wollen! Auch wenn es nahezu unmöglich erscheint, jemanden aufzutreiben, der Tibor den Rang abläuft. Irgendeinen Vorteil werde ich schon herausstreichen können! Während die beiden nun Kekse in Gläsern zerdrücken, herummatschen wie kleine Kinder, um Schichten zu topfen, verabsentiere ich mich zwecks Recherche. Auch Werwölfe haben "Communities". ~ð~ Ich bin doch ein wenig nervös, äuge vorsichtig um mich herum. Wenn ich mit Tibor zusammen bin, kommt es mir vollkommen selbstverständlich vor. Er behandelt mich nicht bevormundend, spielt nie seinen Altersvorsprung aus oder Ähnliches. Wir sind, trotz offenkundiger physischer Gegensätze, auf Augenhöhe. Sind wir gemeinsam unterwegs, erlebe ich sein "stoisches" Selbst. Er lächelt selten, wirkt auf eine ganz andere Art konzentriert als in unserer gemeinsamen Zeit. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hat er mich davon erzählt, wie es ist, ein Werwolf zu sein. Deshalb verstehe ich die Spannung in seinem Körper, seine Fokussierung, beinahe schon "animalisch", auch wenn das lächerlich pompös klingt. Er schert sich nicht sonderlich um missgünstige Blicke, abschätziges Getuschel oder plumpe Provokationen. Wenn es jedoch mich betrifft, kann ich förmlich sehen, wie sich sein Fell aufstellt. Ich kann es den meisten Leuten nicht verdenken, dass sie zumindest stutzen. Wir sind ganz sicher nicht verwandt, sehen uns ja auch nicht ähnlich, dennoch nimmt Tibor häufig meine Hand, legt mir seinen Arm um die Schultern, richtet seine Körpersprache ganz auf mich aus. Außerdem kann ich nicht leugnen, dass ich recht kindlich aussehe. Im Gegensatz zu ihm, der beinahe alterslos wirkt, wenn er sich anspannt, wie ein Krieger. Da halten sie sich zurück, wie meine Urgroßeltern. Er ist immer sehr höflich, doch allein sein Erscheinungsbild versetzt sie in Angst. Sie akzeptieren ohne Gegenwehr alles, was er ihnen vorschlägt. Deshalb gibt es auch keinen Ärger, wenn ich häufig bei ihm und Ragnar übernachte. Zum Unfall ist auch alles gesagt und erledigt, weil Tibor ihnen versichert hat, dass auf sie keine Kosten zukommen. Ich spüre seine Fingerspitzen in meinem Oberarm, nur ein sanfter, kurzer Druck, sein Morse-Code für "alles in Ordnung, sorg dich nicht." Reflexartig drehe ich den Kopf, schaue zu ihm hoch, grinse vermutlich ziemlich dumm. Ich wollte mir ja keine Sorgen machen! Immerhin weiß ich, wie mühelos er trotz seiner behaupteten geistigen Mittelmäßigkeit in der Körpersprache seiner Mitmenschen lesen kann. "Was hältst du von gegrilltem Maiskolben?" "Magst du das auch?" Frage ich eilig zurück. Ich habe den Eindruck, dass er mich, obwohl es doch SEIN Geburtstag heute ist, verhätschelt, weil er gestern nicht gleich zu mir kommen konnte. Was ich gar nicht erwartet habe! "Vermutlich schmiere ich mir das Fett aufs Hemd." Zuckt er unbekümmert mit den Schultern, zwinkert, zaubert winzige Fältchen in seine Augenwinkel. Ich klappe meinen unversehrten Arm hoch, um meine Hand auf seine zu legen. Ich glaube nicht, dass ich seiner Gegenwart jemals müde sein werde. ~ð~ Ich ignoriere einige Glotzer, kenne ja niemanden hier. Gerade interessiert mich der Grill sehr viel stärker. Bratwurst wäre schon nett. Andererseits mag Varis kein Fleisch. Muss ich ja auch nicht haben. Liegt vermutlich an den Röstaromen, dass sich der Appetit regt. Aber mit scharfer Sauce kann ich kontern! Erstaunlicherweise haben sich doch noch ein paar Überlebende der Bowle eingefunden, wirken zum Teil noch etwas grün um die Nase, halten sich vom Grill fern. Rag hat allen zur Freude der bewirtschaftenden Damen Waffeln mit Erdbeermarmelade ausgegeben. Schmeckten auch sehr gut. Für eine ehrenvolle Sache ist es ja zusätzlich! Wenn ich Varis mit Mais versorgt habe, werde ich daher mal meine ungefragte Entourage bespaßen, damit beide etwas Ruhe haben. Möglicherweise schiebt sich auch Kevins notorische, selbst verschuldete Pechsträhne mit dem weiblichen Geschlecht später in den Abend. ~ð~ Während Varis artig an seinem Maiskolben mümmelt, sich trotz Einarmigkeit nicht bekleckert, erweist Tibor uns das seltene Vergnügen seiner charmanten Seite. Ein wenig hat ja doch von Vattern abgefärbt! Das zieht, durchaus beabsichtigt, einige junge Frauen in unsere Nähe, die offenbar nicht aus persönlicher Verpflichtung hier eingelaufen sind. Ich könnte jetzt die Zeit stoppen, bis Kevin durch eine dämliche Bemerkung die Damenriege vertreibt, nutze aber die Chance, um zu wiederholen, was ich aus seinen kargen Aussagen herausgefiltert habe. Tatsächlich GIBT es Werwölfe, die nicht einem Rudel zugeordnet sind. Einige sehr wenige in unserem Alter, wenn man den Korridor großzügig gestaltet. Dass sie mit Kevin nichts zu tun haben wollen, kann ich persönlich gut nachvollziehen, deshalb messe ich seiner Meinung nicht allzu viel Gewicht bei. Könnte sich da nicht doch eine Möglichkeit auftun, wenn sie nur lange genug isoliert waren? Immerhin ist unser "Gemeinschaftsdrang" ziemlich ausgeprägt! Zugegeben, dass Ausmaß an Verzweiflung muss schon groß sein, um die Waagschale mit Kevin anzuheben. Bevor Kevin sich mal wieder um Kopf, Kragen und jede Sympathie quatschen kann, lässt sich Tibor überreden, an einem spaßigen Wettbewerb teilzunehmen, bei dem man offenkundig mit einer Ausrüstung einen Hindernisparcours bewältigen muss. Also mit Helm, Maske, Atemschutzausrüstung, vollem Ornat, schweren Stiefeln bzw. improvisiertem Ballast in Schürzen, an Bändern und Stollen. "Komm, sehen wir mal, wie flott wir sind." Stachelt er Kevin an, hebt Varis' Kinn sanft an, küsst ihn. "Bin gleich wieder da." Die Damenriege schnappt nach Luft. Varis lächelt verschämt. Ich muss nicht mal zwei Minuten später dabei helfen, "Kamerad Kevin" aus einem Tunnel zu schälen, in dem er sich verkeilt hat. Selbstredend hat Tibor den Wettlauf mühelos in Rekordzeit absolviert. ~ð~ Kevin ist immer noch eingeschnappt, aber Tibor nicht zu erweichen: Vollmond, Geburtstag hin oder her, den Abend will er mit Varis verbringen. Was bedeutet: es wird nicht ausgegangen. Ich beiße in den sauren Apfel, aber nicht ohne Hintergedanken. Wenn es gelingen soll, Kevin irgendwem anders aufzuhalsen, muss ich das Angebot der lokalen, ungebundenen Werwölfe erkunden. Vollmondnächte treiben uns grundsätzlich um, also ist die Wahrscheinlichkeit hoch, sie aufzustöbern, wo man sich eben in unserem Alter so trifft. Hoffe ich zumindest. Also zerre ich den Mühlstein an meinem Hals entschieden Richtung Stadtmitte, Disco mit angeschlossenem Club, gemischtes Publikum, zumeist jedoch Studierende und jüngere Leute, aber keine quietschenden Teenies. Ohne Tibors prägende Präsenz fühlt es sich zwar seltsam an herumzuspazieren (ich bin kein begnadeter Tänzer, zucke lieber am Rande vor mich hin), doch in erster Linie geht es ja darum, Kontakte zu knüpfen und auszuloten, welche Chancen es für eine Kevin-freie Zukunft gibt. Die Liste der potentiellen Gesprächspartner ist zwar nicht lang, aber die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt. ~ð~ "Tja." Bekunde ich am Sonntagmorgen, beiße in krümelnde Croissants aus Fertigbackteig. Nicht gerade ein Frühstück für ökologisch korrekte Champions, aber diese Sünde leiste ich mir. Tibor schenkt mir einen ungerührten Blick, bevor er großzügig aufgequollene Haferflocken mit Erdbeermarmelade bekleckert, wild umrührt. Das frugale Mahl ist selbstredend für Varis gedacht, der an Tibors Schulter lehnt, bemerkenswerte Augenringe zur Schau stellt. "Geht's?" Mein entfernter Cousin reicht den chinesischen Porzellanlöffel an, studiert seinen Liebsten prüfend. Ich vermute, dass nicht etwa ausschweifende Bettgymnastik für Varis' lädiertes Erscheinungsbild verantwortlich zeichnet, sondern Spätfolgen des ausgekugelten Arms aufgetreten sind. Tapfer bemüht sich Varis also, mit dem freien Arm zu schaufeln, zuckt aber erbärmlich zusammen, als er versucht, die Schüssel mit der anderen Hand zu justieren. "Ich denke, wir sollten es mit Wärme versuchen, wenn du was im Magen hast." Tibor, der Hobby-Therapeut, schnappt sich selbst den Löffel, um Varis auf seinen Schoß zu dirigieren, die Fütterung zu übernehmen. "Könnte die Verspannungen lösen. Haben wir noch irgendwo Sonnenöl?" "Denke schon." Grummele ich, kann aber nicht wirklich böse sein, dazu sieht Varis zu elend aus. Vor allem nun, wenn er entschuldigend zu lächeln versucht, aber der Schmerz feine Linien in seine ohnehin spitzen Züge kratzt. Trotzdem kaut und schluckt er tapfer. Tibor bewältigt mühelos im Multi-Modus auch die eigene Versorgung. Das Kevin-Problem hat nichts zu melden in diesem Zusammenhang. Leider hätte ich auch nicht viel Hoffnungsvolles zu berichten gehabt. Wer gestern Nacht im Club war, hatte a) schon Begleitung, b) eine gute Erklärung für die baldige Gründung eines eigenen kleinen Rudels, c) eine irreversible Abneigung gegen Kevin, d) anderweitig Anschluss gefunden, e) fluchtartig die Räumlichkeiten verlassen. Dazu hatte ich die Bekanntschaft von Elmar gemacht, der die Altersgrenze dezent nach oben dirigierte. Ebenfalls Werwolf, gut vernetzt, äußerst enttäuscht darüber, nicht persönlich die Bekanntschaft von Tibor machen zu können. Meine Andeutung, dass Tibor sich selbst fest vergeben hatte, überraschte ihn aber nicht sonderlich. Während Kevin sich also weiterhin unbeliebt machte, für eine wandelnde Katastrophenzone in seiner Gegenwart sorgte (größtmögliche Distanz eingeschlossen), gingen wir gemeinsam die kurze Liste meiner Aspiranten durch. Elmar kannte alles und alle, wie mir schien. Einer von uns, der Gemeinschaft förmlich atmete, dem es wichtig war, dass niemand durch die Maschen rutschte. "Der da." Tippte er auf den letzten Namen. "Ist ein Sonderfall. Wirst du hier nie finden. Kenne ihn auch bloß vom Hörensagen, quasi ein moderner Eremit." "Hmmm." Antwortete ich. Da zerstob quasi meine letzte Hoffnung. Andererseits, wenn dieser Bursche Kevin noch nicht über den Weg gelaufen war... Solange mir keine Alternative zum Kevin-Problem einfiel, musste ich diesen Pfad wohl oder übel bis zu einem besseren Einfall weiterverfolgen. ~ð~ Tibor wirkt nicht so, aber seine Berührungen sind wirklich behutsam und feinfühlig. Ich bin wütend auf mich selbst, weil es mir einfach nicht gelingen will, diese Verspannungen loszuwerden. Was selbstredend die Situation eher verschlechtert. "Das wird wieder." Brummt er sonor, studiert mich einen Moment länger, als mein falsches Selbstbewusstsein aushalten kann. Ich spüre förmlich, wie mein tapferes Grinsen abblättert und bröckelt. In Sonnencreme eingeölt, das nach Tibors Überzeugung die Hitze in den Muskeln und Sehnen hält, werde ich in einen viel zu großen Jogginganzug gewickelt, muss wieder in Tibors Bett kriechen. "Ich sollte Ersatzklamotten deponieren." Murmele ich beschämt. Bloß, ich habe nicht mal genug bei meinen Urgroßeltern, wenn ich deren sparsamen Waschrhythmus nicht beschleunigen will. Nun lehnt er sich tief über mich, auf Nasenspitzenkontakt. "Müffeln sie nach mir?" Mir schießt förmlich das Blut in den Kopf. Ich bin viel zu verlegen, um seinem Blick ausweichen zu können. Er zwinkert, küsst mich sanft auf den Mund. "Ich mag's, dich in meinem Kram zu sehen." Verkündet er nonchalant. Ihn kann gar nichts beschämen, habe ich den Eindruck. "Na ja." Brabbele ich hilflos. "Zähl ein paar Schäfchen." Schlägt er vor. "Ich schau mal, ob Medizinmann Rag nicht doch was gegen die Schmerzen findet." Artig senke ich also die Lider, schnurre inwendig, weil seine große Hand so sanft meine wirren Locken krault. Die Tür fällt sehr leise ins Schloss. Ich frage mich mal wieder, womit ich so viel Glück verdient habe, ob nicht irgendwo das boshafte Schicksal darauf wartet, mir alles wegzunehmen. ~ð~ Rag kramt sich durch Teebeutel, als ich unsere Wohnküche betrete. "Das Zeug hilft bei Magenbeschwerden. Könnte nützlich sein." Deponiert er die Ausbeute neben sich. "Ich kann mich erinnern, dass irgendwas von der Birke auch den Wirkstoff enthält." Er zuckt mit den Schultern. "Aber den komischen Baum an der Kreuzung annagen?" Ich fädele beiläufig Beutel und angekordelte Pappschildchen auseinander. "Wenn der Tee nicht hilft, fahre ich mit dem Rad zur Apotheke." Irgendeine von den Apotheken hat ja Notdienst, oder? "Schläft er jetzt?" Rag verstaut den Rest der Teebeutel-Verschwörung wieder in der großen Blechdose. "Armes Kerlchen!" "Wird schon." Antworte ich, stelle unser benutztes Geschirr zusammen. Da wir noch zwei Mahlzeiten zu verputzen gedenken, wird erst abends gespült. Jetzt gehen bloß die Krümel raus zum Kompost. "Was ist bei deiner Suche rausgekommen?" Erkundige ich mich, schlüpfe in Schlappen, auf Krümel-Transport-Mission. "Ein letzter Strohhalm." Erwidert Rag lakonisch, zieht eine Grimasse, schrubbt sich mit beiden Händen durch die Borsten. "Plan B ist mir noch nicht eingefallen." "Hmm." Stelle ich fest, schlage mich durch den Dschungel. Wenn alle Stricke reißen, muss ich eben drastisch werden. ~ð~ Ich stelle ziemlich schnell fest, nach einer Lektion Kampfsporttraining und Verhinderung der Invasion des Grünzeugs IN unser trautes Heim, dass es recht schwierig ist, über den letzten Strohhalm etwas herauszufinden. Unter dem Namen findet sich niemand in sozialen Netzwerken, auf Karriere-Plattformen. Selbst das Örtliche und die notorischen Suchmaschinen spucken keine einigermaßen wahrscheinlichen Treffer aus. Der Mann ist ein Phantom. Oder tatsächlich derart scheu, dass er sich wirklich als Eremit vor der (digitalen) Welt verborgen hat. Lediglich die Buschtrommeln der Werwölfe haben seine vage Existenz bestätigt. Wie soll ich ihn finden? "Probleme?" Mein bester Freund mustert mich, löst sich von seinen Büchern, weil ich etwas nachdrücklicher den Laptop zuklappe. "Wie finde ich den Burschen?" Stelle ich laut die kritische Frage, die mich umtreibt. Tibor zieht die Augenbrauen kurz zusammen, grübelt. "Wir brauchen jemanden, der Werwölfe aufstöbern kann." Überlege ich laut. "Da gibt es eine Lady, die könnte das bewerkstelligen." Er formuliert gedehnt, Silbe für Silbe ausrollend. Ich muss kein Hellseher sein, um zu registrieren, dass Tibor die Konsultation nicht behagt. "Ist sie schlimmer als Kevin?" Scherze ich lahm. Eine Zitrone könnte keine üblere Fratze mit Tibors Gesicht schneiden. "Großtante Hillu." Knurrt er grimmig. ~ð~ Ich überdenke unsere Möglichkeiten. Wenn ich Großtante Hiltrud um Hilfe ersuche, wird mich das Einiges kosten, von meinem Seelenfrieden ganz zu schweigen. Deshalb sind vorschnelle Entscheidungen nicht angezeigt. Großtante Hillu ist das, was Google mal zu werden hofft. Und sie läuft ohne Strom. Wenn man etwas über Werwölfe wissen will, ist sie DIE Quelle. Sie kennt alles und alle, weiß die Geheimnisse, hat jede Leiche im Keller und auf dem Dachboden registriert. Ihre Währung ist die Information. Willst du was wissen, musst du was preisgeben. Meistens legst du dann noch Boni drauf, ohne es zu merken. Die Inquisition hätte von ihr lernen können, ohne irgendwelches Foltergerät. Ihr Spürnase ist legendär. Nichts kann eine Personengruppe schneller zerstreuen als die Ankündigung, sie sei auf dem Weg. Mein zugegeben robuster Charme bringt mir auch nichts, das weiß ich schon. Auf perfide Art ist Großtante Hillu unbestechlich, was die Bezahlung betrifft, da kann man ihr noch so oft um den Damenbart streichen. Rabatte sind ausgeschlossen. Andererseits will ich Kevin loswerden. Die Sommerferien stehen vor der Tür. Wenn ich Varis quasi hier einquartiere, damit seine Leute sich von seiner Anwesenheit an Wochentagen zwischen dem üblichen Schulbeginn und -schluss nicht belästigt fühlen, hat der Kerl vielleicht den trügerischen Eindruck, er sei hier ebenfalls wohlgelitten. Das gilt es tunlichst zu vermeiden. Irgendjemand muss Kevin neutralisieren. Möglicherweise kommen wir also ohne den Eremiten aus. ~ð~ Ich bin Großtante Hillu noch nie persönlich über den Weg gelaufen, aber ihre bloße Erwähnung löst schon Panik aus. Wollen wir uns wirklich darauf einlassen? Tibor brütet nicht stumm vor sich hin, sondern schleift mich zu Trainingseinheiten vor die Tür. Selbst wenn die Entscheidung schon gefallen ist, muss er sich wohl das Adrenalin (oder die erhöhte Magensäure) aus dem Leib kämpfen. Als wir endlich schweißgebadet und etwas eingesaut den Deckel auf den Topf setzen, hockt auch Varis im alten Korbsessel. Ein bisschen besser sieht er schon aus, nicht mehr ganz so ausgewrungen. "Lass uns duschen." Ohne Umschweife nimmt Tibor seine Hand, hilft ihm vorsichtig (ein Ruck würde ja die lädierte Schulter alarmieren) auf. Gemeinsam zockeln sie ins Bad. Ich gönne mir erst mal einen großzügigen Schluck Wasser mit Zitronenspritzer, wasche artig die Pfoten in der Spüle (was ein wenig des Geschirrs besprengt), bevor ich für ein leichtes Mittagessen nach Grünzeug, Obst und Getreide fahnde. Varis ist kein heikler Esser und sehr günstiger Kostgänger, Tibor erstaunlich unkompliziert. Also kann ich, während ich artig schnipple, abbrühe, abschmecke und umrühre, darüber nachsinnen, ob ich nicht doch einen Weg finde, den geheimnisvollen Eremiten aufzustöbern. Er muss ja einkaufen gehen, oder? Für Heimlieferservice braucht man mehr Kleingeld, was ja auch verdient werden muss... Treiben Eremiten Sport? Vielleicht läuft er ja? Einen Werwolf zu erkennen, wenn ich ihm begegne, ist kein Problem. Andererseits, wenn ich mich überall herumtreiben will, wo möglicherweise ein Werwolf zum Einkaufen marschiert, der wahrscheinlich auch noch rationiert, bloß einmal im Monat die Tortur auf sich nimmt...! "Kamerad, du solltest dein Hirn besser für den Abschluss auf Touren bringen!" Tadle ich mich selbst. Wenn Tibor Großtante Hillu einsetzt, ist das Kevin-Problem auch ohne den geheimnisvollen Unbekannten gelöst, richtig?! ~ð~ Als ich aus dem Bad komme, erfrischt nach der Katzen-(gut, eher Werwolf)-Dusche, sehe ich an Tibors saurer Miene und Varis hochgeklappten Beinen, dass mich schlechte Nachrichten erwarten. "Wie schlimm ist es?" Tibor grollt, während er auf den Laptop einhämmert. "Wir brauchen drei Fernbus-Tickets." Uh~oh. ~ð~ Weder Rag noch ich haben den Führerschein. Meine nachsichtigen Eltern hätten vermutlich die Finanzierung übernommen, aber das wollte ich nicht. Ein Auto zu halten, das ist mir schlicht zu teuer. Wenn man nicht häufig fährt, ist man außer Übung, damit eine Gefahr für die anderen. Ich fahre Rad, ÖPNV oder Taxi, wenn alle Stricke reißen. Warum Rag den Ex-Lappen nicht gemacht hat, kann ich nicht genau sagen. Hätte ihn vielleicht in die Verlegenheit gebracht, die alte Rotte auch noch durch die Gegend zu kutschieren und den Schaden zu potenzieren. Bis jetzt sind wir gut klargekommen. Wenn wir allerdings zu Großtante Hillu müssen (von wollen kann keine Rede sein), haben wir eine halbe Weltreise vor uns. Erst mal rechtzeitig in die Großstadt, um den Fernbus zu erwischen, dann da raus und vor Ort noch durch die Gegend gurken. Rag stöhnt neben mir. Der erste Bus ist schon ausgebucht. Also über Nacht gondeln? Das wird so richtig anstrengend. Ich muss mit Varis' Leuten auch noch verhandeln, sie haben ja die Aufsicht über ihn. ~ð~ Varis pickt in seinem winzigen Anteil herum. Ich muss nicht spekulieren, was ihm durch den Kopf geht: wie soll er das Busticket bezahlen? Wird schon schwer genug, die Ferienzeit zu überbrücken. Tibor, der final gebucht hat, grimmig die Vorkasse übernimmt, weil wir diesen Monat von meinem Konto die Kosten bestritten haben, langt ungeniert nach Varis' Gabel, legt sie ab, zieht sich den Jungen auf den Schoß. "Hör mal, Varis, ich weiß, das wird anstrengend, aber betrachten wir es doch als Abenteuer, ja? Danach kann es nur aufwärts gehen." Knurrt er, krault mit der Linken den wirren Lockenschopf. "Wegen des Geldes..." Tapfer ist er schon, der Kleine, versucht, seinen Stolz zu wahren. "Vergiss das!" Grollt Tibor grimmig. "Ich hätte dir den Mist ja gern erspart, aber Großtante Hillu...!" "Und all der Ärger wegen Kevin!" Seufze ich. Klar ist: Großtante Hillu wird Tibor förmlich sezieren, um herauszufinden, wie das mit Varis läuft. Welchen Horror sie MIR anzutun gedenkt, wage ich nicht mal zu spekulieren. ~ð~ Während andere am letzten Schultag zu Reisen aufbrechen, ringe ich meine lästige Panik nieder, die mir auf den Magen schlägt. Meine Urgroßeltern haben tatsächlich zugestimmt, dass Tibor für den Besuch bei seiner Großtante Hiltrud für mich die Verantwortung trägt. Den Zettel habe ich eigens in einen Klarsicht-Umschlag verstaut. In meinen alten Rucksack stecke ich bloß ein kleines Handtuch, Zahnbürste, Kamm, Taschentücher und eine leichte Jacke. Ragnar übernimmt die Versorgung (Super-Kekse, Wasser, Trockenobst) und Tibor den "Zoll": einen Rührkuchen von einer Confiserie, gespickt mit Pralinen. Sonst wird man wohl bei seiner Großtante gar nicht erst vorgelassen... Es macht mich wirklich nervös, dass sie auf meine Anwesenheit bestanden hat. Wird jetzt der Ärger losgehen? ~ð~ Wir verlieren nach Feierabend nicht viel Zeit. Schnell ist gepackt. Wir sammeln Varis ein, fahren gemeinsam in die Stadt. Es ist ordentlich was los, Freitagabend, eine laue Sommernacht steht bevor. Alle sind auf den Beinen. Wir müssen dagegen warten, bis der Bus auftaucht. Die Abwicklung beginnt mit den Tickets, wir mit ausgedruckten E-Mails, während der ganze Rest schon die Mobiltelefone zückt. Etwas Durcheinander, Tibors dumpfes Weggrollen eines Typen, der sich neben Varis einrichtet (Sitzplatzreservierung gibt's nicht), bevor wir die erste Etappe gemeistert haben. Ich sitze getrennt von den beiden, was mich nicht weiter stört. Um mich herum wird gedaddelt, geschwatzt, gucken Kabel aus den Ohren. Manche bringen sich schon in Party-Stimmung. Wir reisen mit leichtem Gepäck, also ohne Ablenkungsmaterial. Tibor hat sein obligatorisches Handtuch (verreise nie ohne, könnte ja mal ein Raumschiff als Anhalter in Anspruch genommen werden!) so gerollt, dass es für Varis ein Nackenhörnchen bildet, der Kleine an seiner Schulter schlafen kann. Hoffentlich kommen wir gut durch... ~ð~ Ich staune immer wieder, wie selbstgewiss Tibor mit ungewöhnlichen Situationen fertig wird. Als wir in der Frühe ankommen, aus dem Bus steigen, haben wir noch Zeit, bis der passende Vorortzug fährt. Die beiden dirigieren mich in ihrer Mitte in den Waschraum, belegen ein Waschbecken. Zähne putzen, Katzenwäsche, Rasur, ganz selbstverständlich und geübt. Ich komme mir selbst unbeholfen vor. Außerdem fühle ich mich wie gerädert, obwohl Tibor es mir ja bequem gemacht hat. Im Zug gibt Ragnar die Rationen aus. Die Wasserflaschen haben sie noch am Bahnhof wieder aufgefüllt, damit wir bei der Sommerhitze nicht austrocknen. "Hoffentlich ist es den Aufwand wert!" Grummelt Tibor, als wir aus dem Zug steigen. Man könnte noch auf einen Bus warten, aber einhellig beschließen wir, die halbe Stunde Fußmarsch zu absolvieren. Mir wird die wichtige Aufgabe übertragen, den speziellen Kuchen zu apportieren. Trotz meiner Müdigkeit werde ich wieder nervös. Wie soll ich bloß einen guten Eindruck machen? Was wird Tibors Familie zu mir sagen? Wenn seine Großtante so einen großen Einfluss hat, wäre ein makelloser Auftritt angezeigt. Danach sehe ich bloß überhaupt nicht aus. "Immer cremig bleiben." Unvermittelt beugt sich Tibor zu mir herunter (die beiden haben mich mal wieder in die Mitte genommen), küsst mich auf die Wange, zwinkert mit einem schurkisch-gemeingefährlichen Grinsen. Ich zucke dämlich mit den Schultern, verlegen und ratlos. Ich wünschte, ich könnte genauso selbstbewusst sein wie er, aber meine Angst ist einfach größer. Wenn ich nicht bei ihm sein kann, was soll dann werden? ~ð~ Tibor ist definitiv im Dunklen Ritter-Modus, aber auch sehr auf der Hut. Großtante Hillu ist kein einfacher Gegner. Andererseits bezweifle ich, dass irgendwas ihn von Varis trennen kann. Wenn er auf stur schaltet, hat selbst Granit das Nachsehen. Varis dagegen tut mir leid. Die Reiserei scheint ihm nicht sonderlich gut zu bekommen. Er fürchtet wohl auch, man würde ihm nicht so freundlich begegnen oder Tibor etwas ankreiden, was für ihn zweifellos schwerer wiegt. "Tja, noch können wir abhauen." Stelle ich fest, bevor Tibor energisch die niedrige Gartentür aufstößt. "Wie schlimm kann es schon werden?!" Knurrt mir mein bester Freund zu, steuert zu allem entschlossen die Tür an. "Kevin weg oder Tod!" Murmle ich, doch die Kampf-Losung verlangt nach Optimierung. ~ð~ Ich weiß schon, was mich erwartet. Das macht es nicht besser. Oberflächlich wird zunächst das Befinden und Treiben der nahen und fernen Verwandt-, Sipp- und Schwippschwagerschaft erkundet, bevor die Untiefen von Nah- und Fern-Bekanntschaften ausgelotet werden. Alles ganz freundlich, obwohl ich sicher bin, bloß Bekanntes zu bestätigen. Rag kommt zunächst glimpflich davon, was bedeutet, dass er nachher noch in die "peinliche Befragung" gezwungen wird. Gefällt ihm gar nicht, aber er ist zu gut darauf geeicht, den Vermittler zu spielen, um aus der Rolle zu fallen. Varis sitzt neben mir wie Pik Sieben, stocksteif, antwortet artig und höflich. Ich möchte am Liebsten aufstehen und gehen, bevor mir die Reißzähne wachsen. Sie weiß alles, plaudert plätschernd über das Zerwürfnis seiner Familie, seine prekäre Lage, den Schulwechsel und die Auflistung all der Defizite, die sein Leben für Außenstehende gerade aufzuweisen scheint. Das potenziert noch seinen Horror. Ich will dazwischengrätschen, zwinge mich aber, die Klappe zu halten, selbst wenn mir die Kiefer knirschen. Varis braucht keinen überfürsorglichen Verhätschler, er will und kann stolz neben mir stehen. Also heißt es für mich aushalten, Streifen in meine Hose mit den Nägeln ziehen, Haltung wahren. Selbstverständlich umgeht sie nicht die "pikante" Bindung zwischen uns inklusive aller Hinderungsgründe. Für einen Moment wünsche ich, ihr besonderer Rührkuchen mit den widerlich süßen Pralinen würde ihr den Schnabel zukleben. Ihre Spitzen richten sich gegen Varis, nicht mich. Also sollte ich nicht aggressiv dazwischen bellen, aber...!! Seine Hand schließt sich um meine Krampfklaue, bevor ich mir die Hose zerfetzen kann. "Mit uns, das passt." Stellt er entschieden fest, aufrecht, tapfer, weicht ihrem Sezierblick nicht aus. Mir stockt der Atem. Ich bin so hingerissen, dass ich einen langen Moment brauche, bevor ich auflachen kann. Verflixt noch eins, Varis ist ein Held! ~ð~ Tibor lacht laut heraus, was gar nicht mal so oft vorkommt, er ist ja ein notorischer Stoiker. Mir verschlägt es die Sprache (nicht, dass ich gerade gefragt wäre). Varis, das arme Kerlchen, vom Schicksal ziemlich gebeutelt, hat mit vier simplen Worten so viel Selbstgewissheit ohne Arroganz oder Provokation demonstriert, dass selbst Großtante Hillu aus dem Konzept gebracht ist. Jetzt lächelt er Tibor an, dessen Ohren schon von seinen Mundwinkeln Besuch bekommen. Ein bisschen scheu, aber aufrichtig und unverwandt. Was auch immer die Buschtrommeln kolportiert haben, welche Stäbe über sie gebrochen werden: Varis hat recht. Mit ihnen, das passt. ~ð~ Eins muss man dem alten Drachen lassen: sie fängt sich ziemlich schnell. Was sie persönlich von unserer Liebesbeziehung hält, lässt sie nicht erkennen. Wenn ich jetzt Verkupplungshilfe für Kevin herausschlagen will, muss ich ihr etwas bieten, eine Information, die sonst noch niemand hat, Gesprächsstoff mit Ausrufezeichen, Titel und Blockbuchstaben in Übergröße. Na dann! ~ð~ Ich bin über mich selbst erschrocken, über diesen seltsam meditativen Zustand inmitten der desaströsen Befragung, in dem mich eine große Ruhe erfasst hat, ich einfach das Erste ausgesprochen habe, was mir durch den Kopf ging. Tibor wirkt so stolz und aufgekratzt, dass ich mich anstecke, obwohl es nicht gerade manierlich ist, die Gastgeberin so auflaufen zu lassen. "Gut gebrüllt, Löwe!" Zwinkert er mir zu, kapert meine Rechte. Ich bin einigermaßen perplex, weil er sich deshalb eigens auf der Eckbank verrenken muss. "Heiraten können wir noch nicht." Verkündet er seelenruhig. "Aber uns verloben." Damit schiebt er mir einen modischen Ring mit umlaufendem Muster auf den Ringfinger. ~ð~ Mein cleverer Cousin zahlt mit einem Klatsch-Coup für die zu erwartende Kevin-Hilfe! Ich bin ehrlich beeindruckt, auch wenn ich vermute, dass das Ring-Pärchen einem Flohmarktstreifzug zu verdanken ist. Der materielle Wert ist an dieser Stelle ja zweitrangig. Varis schlägt sich tapfer, als er Tibors Ring an der Schwurhand platziert. Eingeweiht hat Tibor ihn jedenfalls nicht. Das verrät seine Körpersprache unmissverständlich. Ich gratuliere natürlich, klopfe meinem besten Freund ordentlich das breite Kreuz, wie echte Kerle das eben tun. Meine "Ausputzer"-Tage sind wohl tatsächlich gezählt! ~ð~ "Da werden einige aber sehr enttäuscht sein." Stellt der alte Drachen deklaratorisch fest. Ich zucke nicht mal mit den Achseln. Die Erwartungen irgendwelcher Leute sind nicht meine oberste Prämisse. "Fein für dich." Wendet sie sich an meinen feixenden Cousin. "Jetzt kannst du ja endlich mal zeigen, wer du tatsächlich bist." Rag blättert eilig das Grinsen vom Gesicht. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Dass er jetzt auffährt, wird sich nicht ereignen. Dazu ist er schon viel zu lange diplomatisch unterwegs. "Eben. Schluss mit dem Kindermädchen-Spielen in meinem Schatten." Ergänze ich knapp. "Du musst nicht länger das Vorbild geben, jemand sein, der du nicht bist." Varis schnappt nach Luft. Rag steht auf, verlässt ohne Wort den Salon. ~ð~ Ich umklammere Tibors Hand so fest, dass mir die eigenen Knochen knirschen. Warum hat er das gesagt? Werden sie sich jetzt streiten? Mir ist speiübel. ~ð~ Mit einer Adresse und einer Nummer verlassen wir den alten Drachen, der vermutlich schon in Überschallgeschwindigkeit die Neuigkeiten in die Gegend posaunt. Nur eine Frage von Minuten, bevor mein Mobiltelefon lärmt, meine Mutter mir die Hölle heiß machen will. Wenn Großtante Hillu was verkündet, ist es schließlich so offiziell, dass man es nicht mehr ignorieren kann. Allerdings bin ich nicht nach meinem Vater geraten, den sie durch unerschütterliche Sturheit erobert hat. Über Erblasten können wir uns also nicht streiten. Varis stolpert neben mir her, ganz blass um die Nase. "Alles okay, keine Sorge." Versichere ich ihm, drücke seine feingliedrige Hand aufmunternd. Rag geht voraus, redet nicht, aber darüber mache ich mir keine Sorgen. Er hat Einiges zu verdauen. Vermutlich würde er mir gerne Eine langen. Andererseits ist er viel zu fair, um den Wahrheitsgehalt unserer konzentrierten Aufforderungen zu ignorieren. Verfluchte Last, ein notorischer Diplomat zu sein! ~ð~ Ich bin froh, dass Ragnar wenigstens hin und wieder etwas äußert, auch wenn es nur knappe Hinweise sind, zum Bahnsteig oder bezüglich des Busses. Tibor kauft für mich einen teuren Schokoladen-Soja-Shake, weil ich eigentlich nichts runterbringe, aber schon ziemlich klapprig auf den Beinen bin. Wie kann er nur so gelassen bleiben? Woher kommt seine Zuversicht, dass ihre Freundschaft keinen Riss bekommt? Ohne Rücksicht auf Verluste schmiege ich mich im Bus an ihn, krieche ihm förmlich auf den Schoß. Ihn stört das nicht im Mindesten, auch kein Getuschel. Trotzdem fühle ich mich elend. ~ð~ Tibor ist kein Dummkopf. Vor allem sein ausgeprägter Instinkt ist eine gefährliche Waffe. Ich habe nicht erwartet, dass er sich gegen mich richtet. Ich bringe kein Wort heraus. Eigentlich weiß ich auch nicht, was ich ihm entgegen soll. Habe ich mich verstellt? Habe ich ihn getäuscht? Und mich selbst? Es wäre leichter, wenn ich so felsenfest wie er von einer Wahrheit überzeugt wäre. Bin ich aber nicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ihn nicht ins Kalkül zu ziehen. Nicht zu berücksichtigen, was andere erwarten, was von ihm erwartet wird. Was "richtig" ist. Wie er sein sollte. Mit dem "guten" Beispiel voranzugehen, weil er ja nicht die hellste Birne im Leuchter ist. Ist das meine Ausrede? Die Bitte seiner Mutter, ihre Einschätzung? Habe ich mich in seinem Schatten besonders gefühlt, von Bedeutung? Bin ich vielleicht gar nicht fähig, meinen Pfad allein zu beschreiten? Brauche ich seine Entschiedenheit, um mich nicht zu verirren? Eines weiß ich aber: seine Worte haben mich ins Mark getroffen. ~ð~ Kapitel 3 - Begegnungen Ziemlich zerschlagen treffen wir Sonntagabend ein. Die Sprachbox auf meinem mobilen Plagegeist detoniert fast. Ich fasse Varis' Hand, verschränke unsere Finger, knipse einen Schnappschuss mit den Ringen, verschicke ihn, lösche den ganzen Murks. Eigentlich sollte ich ihm jetzt etwas eintrichtern, da er auf der Rückfahrt nichts gegessen hat, aber das bringe ich nicht übers Herz. "Hör mal." Wir teilen uns wie gewohnt die Dusche. "Schimpf mit mir. Schluck's nicht runter. Ich liebe dich. Daran ändert sich nichts." Klar, bloße Worte können ihn nicht überzeugen. Dass ihm aber Tränen über die Wangen laufen, habe ich nicht erwartet. Er schluchzt leise, ich verstecke ihn in meinen Armen, schirme sogar den mageren Wasserstrahl von ihm ab. "Wir trennen uns nicht. Uns verbindet so viel, dass wir ehrlich sein können." Versichere ich ihm. Es ist nicht so wie bei seinen Leuten, die vor lauter Emotionen nicht mehr klar sehen, ihn wie lästigen Ballast abgeworfen haben. "Es war grob." Beinahe unhörbar, seine Kritik. "Stimmt." Pflichte ich ihm ohne Reue bei. "Um Diplomatie musste ich mich nie bemühen, Rag hat immer alles ausgebügelt, hat mich immer besser aussehen lassen, als ich tatsächlich bin und sein will. Er ist der bessere Kerl, ganz klar. Jetzt muss er nur aufhören, den Super-Yoda zu geben." Varis schnaubt leise. Beinahe ein Kichern, hoffe ich zumindest. Ich schiebe eine Pranke unter sein Kinn, hebe es mit dem gebeugten Zeigefinger zu mir hoch. Wirklich, seine Augen glänzen von Tränen poliert! "He, Liebling, das wird schon. Ehrenwort." Verspreche ich eindringlich. "Liebling?" Murmelt er, dezent errötend, unter seinen wirren, tropfnassen Locken hindurch spitzend. "Oh, ich bin für Vorschläge offen!" Stelle ich klar. "Tiernamen, Preziosen, Konditoreiwaren. Bloß keine Hygieneartikel!" Knurre ich in Erinnerung an einen britischen Kronprinzen säuerlich. Varis drückt sein spitzes Kinn in meine Brust. "Konditoreiwaren?" Wiederholt er fragend. "Hmm, lecker Sahnestückchen? Mein knackiges Croissant? Schoko-Muffin? Kremtörtchen?" Schlage ich vor. "Pumpernickel?" Prustet er scheu zu mir hoch. "Na ja, DAS wäre mir jetzt nicht in den Sinn gekommen." Gebe ich zu, verziehe unwillkürlich die Miene. Igitt! Nun lächelt er amüsiert, kleine Kerben in den Mundwinkeln. "Liebling klingt gut." Entscheidet er. "Fein." Nicke ich Konsens, trockne mit beiden Daumen behutsam seine Tränen, umarme ihn wieder versichernd. Alles in Ordnung, versprochen. ~ð~ Bevor wir einschlafen, ist Kuscheln angesagt. Ich mag es, mich an Tibor anzuschmiegen, seine Herzschläge in meinem Ohr, seine Linke, die meinen Nacken massiert. Mit der anderen hält er Händchen. "Morgen kannst du mal richtig ausspannen." Raunt er in meinen wirren Kopfputz. Stimmt, der erste Ferientag. Ich darf die Zeit hier verbringen, ganz allein tagsüber das Haus hüten. Im Moment sind meine Gedanken jedoch noch auf Ragnar gerichtet. Während Tibor und ich vereinbart haben, nie im Streit einen Tag zu beschließen, beunruhigt es mich, dass er so still und in sich gekehrt in seinem Zimmer verschwunden ist. Hat er jemanden, mit dem er sich aussprechen kann? Tibor drückt meine Hand. "Rag ist ein zäher Bursche." Liest er meine Gedanken. "ER wäre ein sehr guter Rudelführer, besser geeignet als ich. Dafür muss er aber DEN Tritt in den Hintern bekommen, der seine Komplexe sprengt." Möglicherweise. "Warum können Veränderungen nicht herbeigekitzelt werden?" Murmele ich. Wäre doch eine schöne Alternative! Tibor lacht leise. Die Vibrationen seines Brustkorbs heben und senken mich sanft wie ein Wellengang. "Stimmt, weniger martialisch wäre schon nett." Gibt er zu. Für eine Weile schweigen wir. Tibor brummt mit seinem sonoren Bass. "Startschuss!" ~ð~ Ich verlasse das Zimmer auf Zehenspitzen, um Varis bloß nicht aufzuwecken. Er hat recht lange gebraucht, um einzuschlafen. Also muss er jetzt sein Pensum nachholen. "Morgen." Brumme ich in Richtung Wohnküche, schlappe ins Bad, um mich präsentabel aufzurüschen. Als ich die heiligen Hallen der Hygiene verlasse, werkelt Rag vor sich hin, Frühstück für Leistungsträger, kurz in der Mikrowelle erhitzt. Mein Anteil steht neben dem Kaffeebecher, alles wie gewohnt. Gleich werden die Nachrichten aus dem Radio uns auch noch auf den neuen Stand der Katastrophen, Horrormeldungen und anderer Beiträge zur guten Laune bringen. "Rag." Ich setze mich. "Ich war gestern zu grob." Jetzt sieht er mir endlich ins Gesicht, zieht eine schiefe Grimasse. "Klingt nach Varis." Behauptet er. "Hat er dich ausgezankt?" Nun lupfe ich die Augenbrauen. "Nee, er leidet unter demselben Hang zur Diplomatie wie du." Rag rührt sein Kraftfutter um, sehr konzentriert. "Hast mir ordentlich zu denken gegeben." Formuliert er vorsichtig. "Besser dir als mir!" Kontere ich ungeniert. "Das ist deine Forte." Der Löffel ruht, dafür funkelt er zu mir herüber, ausgesprochen und selten grimmig. "An deinem Verstand ist nichts auszusetzen!" Faucht er. "Du kannst jetzt aufhören, mit der Fehleinschätzung deiner Mutter zu kokettieren." Seine bissige Replik zaubert mir ein breites Grinsen aufs Gesicht. Er selbst wirkt über sich erschrocken. "Werde ich nicht mehr, Rag." Nicke ich. Es verhält sich zwar nicht so, dass mich die fürsorgliche Bevormundung von irgendwas abgehalten hätte, aber es hat mir immer erspart, langwierige Rechtfertigungen herausposaunen zu müssen. Verlegen schaufelt er sich eine ordentliche Ladung in die Backen, kaut gründlich. "Varis hat Angst, dass wir uns nicht mehr vertragen." Erwähne ich zwischen zwei Bissen. "Hat ihn verflixt lange beschäftigt. Hätte fast die Segel gestrichen." "Segel gestrichen?" Fragt er nach, wirkt nicht mehr so verlegen ob seines Ausbruchs. "Hmm." Mümmele ich eilig. "Wir spielen vorm Einpennen 'Assoziationen'. Bis einer wegschnarcht." Die Idee ist auf meinem Mist gewachsen. Natürlich kann man aus den impulsiven Antworten keine allzu tiefsinnigen Erkenntnisse gewinnen, aber wir lernen uns auf diese Weise langsam besser kennen, ohne zwanghafte Episoden a la "was denkst du gerade?". Meistens steckt Varis auf, unsere Hände noch in Kontakt, während ich seinen ruhigen Atemzügen lausche, diese Augenblicke der Einkehr und Demut genieße, weil just alles in Ordnung und perfekt ist. Rag studiert mich, seufzt dann. "Wie lange habe ich mich schon zum Deppen gemacht?!" Murmelt er in rhetorischer Verzweiflung. Ich erwidere seinen prüfenden, aber auch hilflos-beschämten Blick. "Rag, du warst ein perfektes 'Rollenvorbild'." Betone ich entschieden. "Jetzt wird es für uns beide Zeit, der zu sein, der wir tatsächlich sind." Nun seufzt er mit hängenden Schultern, die Augen auf sein Frühstück gerichtet. "Da wird mein Renovierungsprozess wohl länger dauern als deiner." Bekennt er leise. Ich schlürfe erst mal Kaffee, bevor ich meine Einschätzung kundtue. "Du kannst auf dich selbst vertrauen, Rag. Geht vermutlich schneller, als du glaubst." Er wird bestimmt verflixt verblüfft über sich selbst sein, jede Wette! ~ð~ Gestern bin ich bloß unter die Dusche, danach ins Bett, habe mir die dünne Decke über den Kopf gezogen, bin, wider meine eigene Erwartung, tatsächlich sofort eingeschlafen. Der K.O. kann natürlich nicht anhalten. Ich zögere nur das Unvermeidliche heraus. Also werfe ich den modernen Tyrannen an. Mein Smartphone übernimmt für mich die hysterischen Anfälle: zig verpasste Anrufe, eine endlose Liste an Nachrichten, alle garantiert nicht mit Gratulationen gefüllt. Früher wäre mir nie in den Sinn gekommen, das lästige Ding bei wichtigen Angelegenheiten einfach zu deaktivieren. Tibor dagegen hat sich noch nie um solche gesellschaftlichen Zwänge geschert. Wenn er nicht zu erreichen sein will, ist er es schlichtweg nicht. Ursprung unerfreulicher Kontroversen, die man vermeiden kann und sollte, so als Vorbild... Die lange Heimfahrt hat meinen Seelenfrieden ordentlich belastet. Ich mag Tibor, selbst seine Sturheit, sein felsenfestes Vertrauen auf seine Instinkte, seine Selbstsicherheit. Gleichzeitig habe ich aber das Zerrbild eines anderen neben ihn projiziert, den Rudelführer, den alle erwarten, weil Tibor ja so ausschaut... Ich BIN ihm vorausgegangen, als Älterer in der Verantwortung, habe alles gemacht, vorexerziert, von dem ich glaubte, er müsse es tun, so leben. Es WAR mir immer wichtig, was andere von ihm erwarten, welche Qualitäten er vorzuweisen hatte, welchen Inhalt seine schneidige "Verpackung" enthalten sollte. Jetzt bin ich nicht nur dieser Aufgabe ledig, sondern auch noch Nichtverhinderer einer epochalen Katastrophe. Ich lösche sorgfältig jede einzelne Nachricht, ungelesen, werfe, mit jedem Quäntchen freiem Speicherplatz, den Ballast der fremden Erwartungen ab. Bleiben meine eigenen. Bin ich enttäuscht? Nein. Ehrlich gesagt hat Tibor mich beeindruckt. Er hat einen starken Charakter, seit jeher. Jetzt ist Varis der Grund, seine besseren Eigenschaften aufzupolieren. Ich möchte gar nicht, dass er anders ist als so wie jetzt. Und ich? Bisher war ich ja wirklich der "große Bruder", das "ausgelagerte Gehirn", der "Schattenminister". Was nun? Wer will ich eigentlich sein? In seinem Schatten, von breiten Schultern abgeschirmt, musste ich mir darüber keine Gedanken machen, konnte bequem vor mir weglaufen, hatte ja eine wichtige Aufgabe zu bewältigen. Die Aufgabe gab mir Bedeutung, hat mich aber auch perfekt davor bewahrt, eine eigene Persönlichkeit nach außen zu demonstrieren. Keine schöne Erkenntnis. Flucht, das hat Tibor mir klargemacht, ist sinnlos. Das Versteckspiel hat ein Ende. ~ð~ Als ich aufwache, ist das Haus ganz still. Natürlich hat Tibor mich nicht geweckt! Ich rapple mich auf, absolviere hastig eine Katzenwäsche, so, wie ich es mir seit meinem unfreiwilligen Umzug zu den Urgroßeltern angewöhnt habe, schlüpfe in saubere Kleider, hocke mich in die Wohnküche. Auch für mich haben die beiden eine Portion vom Frühstück deponiert, Getreidekaffee in der alten Thermosflasche. Es ist mir etwas zu ruhig für mein Gewissen, das mich als degenerierten Dekadenzler abkanzelt. Deshalb kurble ich das alte Radio, bis genug Umdrehungen für ausreichend Strom sorgen. Statisch knisternd mischt sich die Welt ein, während ich artig mümmle, mich frage, was ich anzustellen gedenke. Tibor erwartet, dass ich mich erhole und es mir gut gehen lasse. Allerdings habe ich darin nicht gerade viel Übung. Da räume ich lieber erst mal auf, lüfte Bettzeug, klopfe alte Polster aus, sortiere Wäsche. Weil mir das noch nicht genug ist, wappne ich mich mit einem alten Overall, einem struppigen Strohhut und einem Körbchen. In der Nähe der Bahngleise haben sich wilde Brombeeren eingenistet, ranken gemeingefährlich durch das wüste Grün unsortierter Hecken und Büsche. Wenn ich Beute mache, sie brav in Backsoda wasche, gäbe es eine leckere Zutat zum Salat am Abend! ~ð~ Mit meiner Introspektion bin ich nicht sehr viel weitergekommen. Andererseits verspüre ich auch keine Eile. So viel hat sich gar nicht verändert, das ist mir klar. Unser Alltag läuft wie gewohnt. Also viel Lärm um nichts? Fast. Wäre da nicht ein gewisses Grimmen in meiner Magengrube, als gäbe es da doch etwas in meinem toten Winkel, das ich besser endlich in Augenschein nehmen sollte. Dieser Zustand trägt nicht zu meinem Seelenfrieden bei, genauso wenig wie die lästigen Nachrichten auf meinem Mobiltelefon. Ich ignoriere sie. Tibors Bild hat alles gesagt, richtig?! Mein Trotz bröckelt jedoch, als ich das Auto vor unserem trauten Heim erkenne. Oje... ~ð~ Wir sind uns bisher noch nicht vorgestellt worden. Ein Blick genügt mir, um die nahe Verwandtschaft zu erkennen: Tibors Mutter wartet, sich Luft zufächelnd. Sie erkennt mich wohl auch, obwohl ich in meiner Brombeer-Beutezug-Aufmachung eher einer Vogelscheuche ähnele. "Guten Tag." Optioniere ich vorsichtig. "Möchten Sie hereinkommen? Drinnen ist es kühler." Dass Tibor da ist, kann sie nicht erwartet haben. Dazu ist es viel zu früh kurz nach Mittag. "Varis, richtig?" Sie folgt mir über die Schwelle, ächzt erleichtert ob der angenehmen Atmosphäre. "Ja." Ich zerre eilig den Strohhut herunter, reiche die Hand. "Freut mich, Sie kennenzulernen." Ihr Händedruck ist so entschieden und kraftvoll wie Tibors, ebenso intensiv auch ihr Blick, der mich studiert. "Und da haben wir auch den Ring." Bemerkt sie treffend, hält meine Hand einen Augenblick fester. Sie gibt mich frei, seufzt, sinkt geschmeidig auf einen Hocker in der Wohnküche. Hastig verstaue ich die Brombeeren in der Spüle, suche ein Glas, schenke Eistee ein. "Hmm, sehr lecker." Bekennt sie, wischt sich durch entflohene Strähnen, in die sich wenige silberne Fäden gemischt haben. "Selbst gemacht?" "Von Tibor." Nicke ich. Was mir eine gelupfte Augenbraue einbringt. "Möchten Sie sich vielleicht frischmachen? Ich lege Ihnen ein Handtuch heraus." Biete ich an. Die Zeit kann ich nutzen, um mich selbst wieder in manierliche Kleidung zu werfen. "Sehr gern." Sie erhebt sich, mustert mich eingehend. "Ich bin auch neugierig, wie du ohne diese Waldschrat-Verkleidung aussiehst." Damit kann ich dienen. Vielleicht hört auch mein Herz auf, in meinem Hals zu schlagen. ~ð~ Ich presche förmlich in unser trautes Heim, in gelinder Panik, dass Varis dem mütterlichen Zorn allein ausgeliefert ist. Was ich jedoch vorfinde, ist ein unerwartetes Küchenidyll: Varis und Tibors Mutter einträchtig am Tisch über Papier gebeugt, mit Buntstiften etwas skizzierend. "Hallo." Mache ich originell auf mich aufmerksam. "Ah, Rag, da bist du ja." Ich kenne den prüfenden Blick schon: die Ouvertüre zum Bekenntnis aller meiner Sünden und Unterlassungen. "Scheint, als würden eure Mobiltelefone nicht funktionieren." Bemerkt sie gedehnt. "Was meinen notorisch ungezogenen Sohn wohl daran hindert, mir zu antworten." Varis wirft mir einen aufgeschreckten Blick zu, springt in die Bresche. "Wir waren gestern so lange unterwegs..." "Was Tibor betrifft, das weiß ich nicht." Antworte ich. "Ich für meinen Teil habe alles gelöscht, was kam." Sie erhebt sich, baut sich vor mir auf, die Hände in die Hüften gestützt, seziert mich förmlich. "Springst du meinem Sohn wie immer bei?" Erkundigt sie sich betont spitz. Ich atme tief durch. Keine Examensprüfung könnte nervenzehrender sein. "Das muss ich nicht. Tibor trifft seine Entscheidungen allein. In dieser Entscheidung kann ich keinen Fehler erkennen." Nicht sonderlich diplomatisch. Ich mache wohl Fortschritte. "Es ist also in Ordnung, vor Großtante Hillu so ein Spektakel abzuziehen?" Rekapituliert sie. "Der größten Nachrichtenbörse der gesamten Gesellschaft?!" Elegant, wie sie das böse Wort der Klatschbase vermeidet. "Hat ihm die Verlobungsanzeige erspart, würde ich meinen." Gebe ich angestrengt nonchalant zurück. Dabei schwitze ich förmlich Wasserfälle. "Ich soll dieses quasi offizielle Arrangement jetzt auch noch gutheißen?" Das Sezierbesteck wird schon gewetzt. "Was ist die Alternative?" Kontere ich selbstmörderisch. Sie funkelt mich noch einen langen Moment grimmig an, wirft die Arme in die Höhe, schnaubt vernehmlich, kehrt mir den Rücken zu. Ich sacke ein wenig in mich zusammen, als sich die Anspannung löst. Varis sieht beunruhigt zu mir herüber, unentschlossen, ob er mir beistehen soll. Was ihr nicht entgeht. Unversehens landet ihre Rechte in seinem wüsten Lockenschopf, rauft ihn wild, von einem weiteren Stoßseufzer begleitet. "Es ist zum Mäusemelken! Ich mag dich, bist ein liebes Kerlchen!" Ihm sackt die Kinnlade herunter. Sie hat sich schon wieder zu mir umgewandt. "Du solltest wissen, dass deine Mutter sich hysterischen Anfällen hingibt, weil Amelia verbreitet, sie habe immer gewusst, dass du aus dem Kleiderkasten kommen würdest." Ich brauche einige Sekunden und einen Dolmetscher, bis ich verwirrt nachfrage. "Aus dem Kleiderkasten komme? Dem Kleiderschrank?" "Wardrobe. Closet." Hilft sie mir auf die Sprünge. Was meine Gesichtszüge entgleisen lässt. "Rag." Sie fixiert mich so prüfend wie Tibor, wenn er seine Instinkte aufs Schärfste beansprucht, legt mir eine Hand auf die Wange. "Du bist ein feiner Mann. Du hast so viel gegeben, um aus meinem unverschämten Bengel einen halbwegs manierlichen Burschen zu machen. Dafür danke ich dir. Gut gemacht." Damit überrumpelt sie mich vollkommen. Wie Tibor versteht sie es meisterhaft, mit wenigen Worten so ernst und aufrichtig allen Wind aus den Segeln zu nehmen, jeden verlegenen Scherz im Keim zu ersticken. "Gern geschehen." Bringe ich erstickt hervor. "Ein feiner Mann." Wiederholt sie leise, das gleiche, sparsame und zugleich bannende Lächeln wie Tibor auf den Lippen. Eine größere Auszeichnung gibt es für sie nicht. Ich bin mit dieser sprachlichen Eigentümlichkeit vertraut. Aufgeräumt wirbelt sie herum. "Zeit für mich, wieder heimzufahren, bevor das Gedränge zu groß wird. Varis, begleite mich doch zum Wagen, ja?" ~ð~ Tibor bewegt die Hängematte sanft. Ich genieße einfach die Entspannung. Was für ein verrückter Wochenanfang! Es hat ihn einigermaßen verblüfft, dass ich mit seiner Mutter Skizzen für den Garten gemacht habe, dass sie mit mir Salat mit Couscous und Brombeeren gegessen hat. Keine einzige Anspielung auf meine private Situation von sich gegeben hat. "Ich war mir sicher, dass sie dich mag." Brummt er unter meinem geneigten Ohr, krault wie gewohnt meinen Nacken. "Stecken wir trotzdem in der Klemme?" Sondiere ich vorsichtig die Lage. Tibor hat mit keinem Wort erwähnt, welchen Sturm er ausgelöst hat oder dass sein Telefon derart belagert wird. Seine Hand wechselt von meinem Nacken zu meinem Kinn, dirigiert es höher, damit er zu mir blinzeln kann. "Nein, das tun wir nicht." Betont er entschieden. "Es gibt da lediglich ein paar Leute, die unaufgefordert meine Angelegenheiten zu ihren machen wollen. Ich ignoriere sie, sonst kleben sie mir ewig an den Hacken." Ganz so einfach wird das wohl nicht werden. "Vertrau mir!" Schnurrt er mit einem schelmischen Grinsen, weil mir meine Skepsis wohl doch vom Gesicht abzulesen ist. Ich kuschle engagierter, drücke behutsam seine Hand. "Und Ragnar?" Frage ich nach. So ein dickes Fell wie Tibor hat er nicht, fürchte ich. Tibor krault zwischen meinen Schulterblättern weiter. Sehr angenehm! "Er hat immer für mich gekämpft, mit aller Finesse. Jetzt muss er sein Talent endlich mal für sich selbst einsetzen." Ich grübele, wie ich meine Sorge formulieren soll. Tibor kennt Ragnar ja viel länger als ich, was mein Urteil nicht gerade unerschütterlich macht. "Wird es ihn nicht treffen, dass Klatsch über ihn verbreitet wird? Dass manche ihn schneiden?" Wage ich mich endlich aus der Deckung. "Sicher." Antwortet Tibor mir unerwartet prompt. "Dann wird sich sein Verstand melden, der ihm aufzeigt, dass die Meinung dieser Leute nicht mal einen trockenen Furz wert ist. Darob wird er extrem ungehalten sein, beinahe ballistisch. DAS wird ein Festtag!" Er lacht in boshafter Vorfreude. Ich weiß nicht, ob mir so eine Eskalation gefällt. Ragnar wirkt eigentlich nicht so streitsüchtig und militant, oder? "Das passt schon, Liebling." Tibor fasst mich geübt unter, um mich an seiner Gestalt förmlich hoch zu katapultieren, küsst mich jedoch sehr sanft und zärtlich auf den Mund, zwinkert mir zu. Chuzpe, dein Name ist Tibor! Ich erwidere seinen Blick, gebe SEINEM Verstand mal etwas Futter. "Ich habe deiner Mama übrigens versprochen, gut auf dich aufzupassen. Sei deshalb bitte artig, mein Liebling!" ~ð~ Mir schwirrt der Kopf. Nicht das erste Mal, deshalb greife ich auf eine bewährte Methode zurück: ich zerlege das Kuddelmuddel in einzelne Bröckchen. Tibors Mutter ist nach Hause gefahren, ohne auf ihren "notorisch ungezogenen" Sohn zu warten. Offenbar hatte sie das auch gar nicht beabsichtigt. Das ist verblüffend. Sie hätte mich ja eigentlich in Grund und Boden verdammen müssen. Stattdessen bin ich meiner Aufgaben entbunden: ab sofort sitzt Varis am Drücker. Meine Mutter tobt hysterische Anfälle aus. Das ist nicht neu, sie verfällt leicht in Panik. Wenn ich jetzt zurückrufe, was soll ich ihr sagen? Kein Grund zur Aufregung, alles in Ordnung?! Eher nicht. Da ist noch die Aussage von Amelia, die geübt darin ist, aus einem Floh eine ganze Elefantenherde zu machen, viral, in kürzester Zeit. Das führt mich zum Inhalt ihrer Behauptung: ich soll aus dem Kleiderkasten kommen, mich outen. Mutmaßlich als schwul, wenn ich das richtig dechiffriere. Tja. Die Aufregung meiner Mutter hat eine Vorgeschichte, ihren älteren Bruder, meinen Onkel Gernot. 15 Jahre Altersunterschied, ein 2,09m Hüne, passionierter Motorradfahrer, führt seinen kleinen Handwerksbetrieb für Beschattungsanlagen, Jalousien, Rollläden und dergleichen. Die familiäre Legende lautet, dass bei einer fröhlichen Familienfeier mal wieder gedrängelt wurde, er sei alt genug, sich endlich mal für eine Frau zu entscheiden (ausreichend Interessierte gab es). Woraufhin Onkel Gernot gelassen entgegnete, er werde nicht heiraten, dazu finde er zu großen Gefallen auch an den eigenen Geschlechtsgenossen. Selbstredend eine Katastrophe. Man befürchtete gesellschaftlichen Ausstoß, Auftragseinbrüche, Bankrott, den vollkommenen Ruin. Geschehen ist nichts davon, obwohl es damals keine leichte Entscheidung war, sich so zu offenbaren. Onkel Gernot blieb eine Weile ungebundener Junggeselle, bis er bei einer organisierten Motorradtour mehrerer Clubs Freder kennenlernte, Osteopath und Chiropraktiker mit buntem Stammbaum, Großmutter aus Singapur, Vater Diplomat aus Luxemburg, Mutter Sopranistin aus Guatemala, Liebhaber von Operetten und farbenprächtigen Kleidern. Die beiden teilen sich exakt in der Mitte der Distanz zwischen ihren Arbeitsplätzen ein kleines Wochenendhäuschen, wirken durchaus glücklich, wenn man ihre Schnappschüsse ins Kalkül zieht. Es wäre also die zweite familiäre Katastrophe, weil wir auf gar keinen Fall anecken oder auffallen wollen. Sexuelle Erfahrungen mit Männern kann ich nicht vorweisen. Um weibliche Interessierte musste ich mich gar nicht bemühen. Die "zweite Garnitur", also die, die sich nicht an Tibor herantrauten, machten mir den Hof. Eine feste Bindung hatte ich aber nie und verliebt war ich auch nicht. Habe ich deshalb alle, mich eingeschlossen, belogen, weil ich einfach Offerten angenommen hatte, die mir "normal" erschienen? Mir ist der Aspekt sexueller Befriedigung nie sonderlich wichtig gewesen, nicht mehr als eine Fußnote, hin und wieder. Stehe ich deshalb eigentlich auf Männer, traue mich aber nicht?! Hmm. Ich weiß es nicht. Macht es in meiner derzeitigen Lage einen Unterschied? In der FH, im Berufspraktikum vermutlich gar nicht. So sehr kümmert sich niemand ums Privatleben, wenn man umgänglich ist. In der Werwolf-Gemeinde? Meine Mutter kümmert es vermutlich sehr, aber ich wüsste auch nicht, wie ich diesem Gerücht ein Ende bereiten sollte. Entgegen der allgegenwärtigen Überzeugung kann ich Tibor zu nichts beeinflussen, was er nicht selbst akzeptiert. Ihn also derart zu prägen, dass er sich einen Jungen anlacht: das steht mir ganz sicher nicht zu Gebote. Wird man mich jetzt schneiden? Oder umgekehrt, werde ich andere Angebote bekommen? Drollig, der Gedanke kommt mir zum ersten Mal. Wirke ich auf meine Geschlechtsgenossen überhaupt attraktiv? "Tja!" Sage ich mir laut, in Anbetracht der zahlreichen Häufchen des Kuddelmuddels. "Persona non grata könnte mein Lernpensum positiv beeinflussen." Dass es allerdings Kevin abschreckt, steht nicht zu erwarten. ~ð~ Ich bin mit Rag sehr zufrieden. Nach dem ersten Schreck über die Lawine von Gerüchten, blankem Unsinn, dämlichen Vorurteilen und ungeniert-aufdringlicher Besserwisserei steht er sehr geerdet auf beiden Beinen, schert sich nicht drum. Der große Diplomat und Ausbügler meiner Unzulänglichkeiten hat also doch einen eisernen Kern. Jetzt gilt es für mich, den Preis für meinen Coup einzulösen: Kevin zum Problem eines anderen zu machen! ~ð~ Ich bin schon überrascht, in meinem kleinen Kurs diesen hochgewachsenen Burschen zu erblicken. Inmitten von jungen Frauen und älteren Damen, die allesamt pikiert auf ihn reagieren. Offenbar ein geschickter Charmeur, der sich verirrt hat! [VHS-Sommerkurs], lettert es sehr leserlich auf einem Klebezettel, dazu Anschrift und Kursnummer. "Das ist echt ein Selbstbehauptungskurs?!" Wiederholt er in der abgehackten Sprechweise, die gerade bei den Teens und Twens angesagt ist. "Was hast du denn erwartet, hier vorzufinden?" Erkundige ich mich amüsiert. "Es hieß, da wären lauter Chicas." Brabbelt er in einer seltsamen Mixtur, die mir verrät, dass er sich möglicherweise sehr viel gewählter ausdrücken kann, offenbar jedoch den seltsamen Mischmasch fremder, populärer Begriffe einstreut, um sich zu tarnen. Ich begreife die Hintergründe, ohne nachzuhaken. Vor mir steht ein übergroßer Knabe, der durch seine miserable Kopie eines Draufgängers und Weltmannes in Kneipen, Clubs, geschlossenen Räumen aller Art, im Strandbad und im Park als nervtötender, unsympathischer Aufreißer verschrien ist. Ich habe schon von ihm gehört. Kevin. ~ð~ Tibor ist felsenfest überzeugt, dass der Tipp seiner Großtante Hillu funktionieren wird. Ich hingegen kann mir kaum vorstellen, dass die Landplage Kevin, wenn sie erst mal festgestellt hat, dass die Damenriege sich nur versammelt, um zu lernen, wie man so Figuren wie ihn verdrescht, bei der Stange bleiben wird. Immerhin muss ich anerkennen, dass er vertrauensselig (oder verzweifelt) genug ist, zum VHS-Kurs zu marschieren, OHNE exakt zu wissen, was genau da läuft. Nach Tibors vager Andeutung von "physischen Kontakten" hat er wahrscheinlich Tanzen oder Sport oder Massagen erwartet. "Das ist seine letzte Chance." Mein Cousin wirkt sehr zuversichtlich. "Mangels Alternativen wird er nicht so schnell aufstecken!" Mit der Andeutung, er wirke ein wenig "ausgeleiert, fast schwammig" hat mein erbarmungsloser Cousin auch noch Kevins überbordendes Selbstvertrauen angekratzt. Körperertüchtigung tut Not, vor allem, wenn man neben Tibor steht. "Andere Leute bezahlen ja auch, um sich vermöbeln zu lassen." Grinst er mich perfid an. "Wer weiß, gefällt ihm vielleicht?" Ich frage mich, ob der Kursleiter ihn nicht achtkantig herausschmeißt. Der ist auch Werwolf und sollte vorgewarnt sein. ~ð~ Ich gebe verschiedene Kurse und arbeite auch mit der VHS zusammen. Selbstbehauptung für Ältere, für körperlich Eingeschränkte, für Grundschulkinder, für Frauen, Fall- und Sturzübungen für Senioren, Dehnungs- und Beweglichkeitstraining für Erwachsene, Selbstverteidigung, Spezialtraining für die Polizei und Sicherheitsunternehmen, dazu noch Atem- und Entspannungsübungen. Ein ziemliches Potpourri, zugegeben, aber ich bilde mich gern selbst fort, deshalb ist mein Spektrum groß. Ich muss auch mein Studio unterhalten, meinen Lebensunterhalt bestreiten. Mir gefällt körperliche Bewegung, ich brauche sie sogar, werde kribbelig, wenn ich nicht ganz nach Lust und Laune herumlaufen kann. Ein Bürojob am Schreibtisch kommt deshalb für mich nicht in Frage. Was nicht heißt, dass ich nicht als Selbstständiger mit Papierkram zu kämpfen hätte. Glücklicherweise helfen mir da Disziplin und progressive Entspannungsübungen. Mein Werwolf-Erbe ist nicht sehr ausgeprägt, da meine Eltern je nur zur Hälfte entsprechende Ahnen vorweisen konnten. Zwei Halbe machen in diesem Fall ganz sicher kein Ganzes. Trotzdem halte ich mich auf lockere Weise auf dem Laufenden, was die "Werwolf"-Gemeinde betrifft. Das also ist Kevin. Wenn er den Mund hält, einen Teil seiner Accessoires und Klamotten verabschiedet und den Friseur wechselt, durchaus eine attraktive Erscheinung. Großgewachsen, wohlproportioniert, klare, symmetrische Gesichtszüge. Allerdings eine schlechte Körperhaltung, notorisches Herumgezappel und offenbar keinen Begriff von der korrekten Distanz zu anderen Menschen. "Wenn du magst, kannst du mir beim Kurs assistieren. Da brauchst du auch die Kursgebühr nicht zu zahlen." Offeriere ich ihm. Ich höre dezentes Ächzen in Alt und Sopran. Die Damen zweifeln. "Na ja, wieso nicht? Klingt cool!" Brabbelt er, nickt, schlenkert die Arme, bläst sich ein wenig breiter auf. Meine Güte, sehr ungelenk! Seine Körperkontrolle muss verbessert werden. "Fein." Ich drücke seine Hand SEHR fest, weil ihn das beeindrucken muss, zumindest nach dem Image, das er gern pflegen will, wende mich um, lächele zuversichtlich in die Runde. "Meine Damen, Kevin, herzlich willkommen zu unserem zehnteiligen Selbstbehauptungskurs. Meine Name ist Oriol. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zeit!" ~ð~ Kevin ist wirklich nicht einfach zu beeindrucken oder so dickfellig, dass er einem Panzer ähnelt. Jedenfalls hält ihn die Aufregung um Tibor und mich nicht davon ab, mir zu schreiben, dass er beim Kurs sofort zum Assistenten befördert worden ist (statt vor die Tür). Mein werter Cousin grinst. "Nur keine Ungeduld, in der ersten Stunde verdreschen sie ihn noch nicht gleich." "Wenigstens ist er jetzt beschäftigt und zeitweise aus den Füßen!" Brumme ich verdrossen. Mein Wetteinsatz ist fällig: Großeinkauf außer der Reihe. Also Vorräte inspizieren, Nachschubbedarf notieren, den ganzen Kram einkaufen, bis hierher ins traute Heim schleifen. "Hat doch gut geklappt." Triumphiert Tibor, zieht Varis an der Hand mit sich vor die Tür, um im Schatten die Hängematte zu bevölkern. Es ist schon nett, dass Kamerad Kevin nun wenigstens zweimal in der Woche nicht mehr aufschlägt. Das gebe ich gern zu. Ich gestehe auch, dass ich überrascht bin von seiner Vasallentreue. Im Laufe der letzten beiden Tage sind nämlich diverse Nachrichten eingetrudelt, die darauf schließen lassen, dass man mich fürderhin meidet oder sich ganz grässlich über mich echauffiert. Ich hätte meine Grundpräferenz ja auch mal andeuten können, nicht wahr?! Da ich nicht so viele Bekannte treffe, ist das "Vermeiden" und "Ignorieren" noch kein bedeutendes Thema. Wäre ich auch stärker im Netz engagiert, hätte es zweifelsohne massivere Resonanz gegeben. Ich frage mich, warum ich so getroffen war. Jetzt, im Rückblick, wirkt es doch unangemessen heftig. Die Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, begegnen mir unverändert, ganz nach dem alten Motto "what you see is what you get". Sie stellen mich nicht in Frage, nicht mal Varis oder Tibor. Anders verhielte es sich wohl, wären wir nicht ausgezogen, in sicherer Distanz. Also steht es mir jetzt frei, mich primär und prioritär um mich selbst zu kümmern. Was will ICH eigentlich? Klar, das Diplom mit möglichst gutem Abschluss. Zeit und Ruhe, um zu lernen und die Prüfungen vorzubereiten. Hier weiter zusammenleben mit Tibor und Varis. Und sonst? Eigentlich bin ich, wenn diese beiden Optionen erfüllt sind, schon zufrieden und glücklich. Meine Erwartungen und Wünsche sind wohl etwas dürftig. Wenn ich mir vor Augen halte, was man anstreben "sollte", also Haus, Hund, Frau, Kind, Yacht, teure Reisen, großer Bolide, reizt mich nichts davon so richtig. Vielleicht habe ich meine eigene Phantasielosigkeit damit kaschiert, auf Tibor Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchte zu projizieren, die einem unerreichbaren Ideal entsprechen. Für ihn den Weg bereitet, um die Gelegenheiten zu ergreifen, die vermeintliche Hit-Liste abzuhaken. Es sieht allerdings nicht danach aus, als würde mein bester Freund sich von seinem eigenen Pfad entfernen. Andererseits schätze ich mich auch glücklich, dass er mir meine "Aufpasser"-Attitüde nicht nachträgt. "Schon wieder machst du dir einen Kopf!" Tadle ich mich halblaut. "Bist du den Job nicht los?!" Gar nicht so einfach, mal nur man selbst zu sein. ~ð~ Er ist früher gekommen, noch leicht außer Atem, mein Assistent. Ich erläutere ihm auch artig, wie das Programm aussieht. Es heißt "Selbstbehauptung" und nicht "Selbstverteidigung". Das Schlaglicht liegt auch auf Körpersprache und Selbstwahrnehmung. Manchmal kann man Situationen nicht ändern, aber die eigene Reaktion darauf beeinflussen. Dazu heißt es, einige "Automatiken" zu verstehen, die eine oder andere davon auszukontern. Er nickt eifrig, bereit, wie schon in der ersten Runde das abschreckende Beispiel zu geben. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob er das selbst so begreift, oder...? Schon eine seltsame Mixtur, dieser Kevin! Ich erfahre auch beiläufig, dass er gerade Berufsschule hat, einem Abschluss in Sachen "Facility-Management" zustrebt, zumindest in zwei Jahren. Das tägliche Sitzen scheint ihm nicht zu bekommen, er wirkt etwas aufgedreht und zappelig, verbunden mit dem "Swagger", den ich bei vielen jungen Männern in seinem Alter beobachte. Eine merkwürdige Haltung, die imponierend und einschüchternd wirken soll, doch bei Leuten mit Lebenserfahrung geradewegs das Gegenteil bekräftigt. Die, die souverän und imponierend sind, agieren leichtfüßig, selbstbeherrscht und zurückgenommen. Meine Damen sind noch nicht eingetroffen, was schadet also eine kurze Sparringrunde zum Warmmachen? ~ð~ Mir graut vor dem Wochenende, nicht nur, weil ich meine verlorene Wette einlösen muss, im Nahkampf mit Renten-Empfangenden und Familien, die trotz der Ferien kaum ausgedünnt den Samstag zum Großkampftag in Sachen Überleben ausrufen. Einkaufen gehört wirklich nicht zu meinen Lieblingsdisziplinen. Außerdem will Tibor die längere gemeinsame Zeit mit Varis nutzen, was ich ja durchaus verstehen kann. Bedeutet für mich als angenehmen, manierlichen Mitbewohner und Freund jedoch, mich für längere Zeitabschnitte zu subtrahieren. Kevin könnte am Abend möglicherweise auch noch einfallen. Obwohl vegetarisches Grillen eigentlich abschreckend wirken sollte! Horror pur! Die Vorsehung hat den Freitag vor das Wochenende gelegt. Und natürlich die Kalender. Der Freitag korrespondiert wiederum mit dem Vollmond. Eigentlich für uns Werwölfe wieder die Gelegenheit, die Haare wachsen zu lassen (im übertragenen Sinne, selbstverständlich). Tibor will nicht ohne Varis durch die Gegend ziehen. Ich wiederum will nicht mit Kevin "allein auf der Piste sein", was mich ohnehin seit der wilden Fama um meine "wahre Natur" nicht reizt. Ich baue vor, wenn ohnehin die nächsten Tage grottig zu werden drohen: ich verabrede mich mit anderen in einem kleinen Park zum gemeinsamen Pauken. Wir haben Glück, das Wetter spielt mit. Konzentration ist trotz Ferien (für andere) kein tatsächliches Problem, weil wir alle zügig unseren Abschluss machen wollen. Niemand kann sich Verzögerungen, Ehrenrunden oder Ähnliches leisten, vor allem nicht finanziell. Da wir unsere praktischen Ausbildungsabschnitte in verschiedenen Unternehmen absolvieren, ist der Austausch auch wichtig, direkt von Person zu Person. Alt genug sind wir alle, um sozialen Netzwerken zu misstrauen, unsere Worte dort sorgfältig zu wählen. Durchaus zufrieden mit mir selbst mache ich mich auf den Heimweg, der mich an verschiedenen Bürohäusern vorbeiführt. Mehrere Dienstleistungsunternehmen teilen sich die Behausungen, alles hübsch übersichtlich und zweckorientiert gestaltet, Industriegebiet für die ideellen Branchen. Gerade Wege, gepflegte Grünflächen, Sitzbänke vor den Getränkeautomaten und überdachte Fahrradabstellplätze. Schmuck! Vor mir schiebt ein mutmaßlich junger Mann sein Fahrrad, im Gepäckkorb Rucksack und Fahrradhelm, Stoffhosen, Poloshirt, Sneaker: die "Business"-Bekleidung für Geeks. Was mich irritiert, sind zwei Punkte: er geht sehr langsam, steif, mühevoll, stützt sich schwer auf den Lenker. Und er ist ein Werwolf. Ich hole auf, was nicht schwierig ist bei dem Kriechtempo, das er vorgibt. Betrunken? Bekifft? Da beide Hände die Lenkergriffe umklammern, fällt die übliche "Smombie"-Vermutung flach. Kreislaufprobleme? Vielleicht zu wenig getrunken, nun überhitzt? Ich schließe auf, inspiziere auf gleicher Höhe den mir unbekannten, tatsächlich jungen Mann. Eine rundum geschlossene Sonnenbrille maskiert sein Gesicht, erinnert fast an Insekten. Die Sehnen in seinem Profil treten hervor. Ich kann seine angestrengten Atemzüge hören, obwohl er die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander presst. "Verzeihung, ist alles in Ordnung?" Mache ich mich aufdringlich bemerkbar. Ich spüre, dass er mich wahrnimmt, auch, dass er mir antworten möchte. Allerdings ringt er entschieden mit einem Schluckreiz. (Ja, wir gucken auf Kehlen, ist eingebaut, Leute, nichts Persönliches, in Ordnung?) Seine Nasenflügel beben. Offenbar will etwas die Speiseröhre hoch, was er zu verhindern sucht. Ich schiele nach dem Rucksack im Gepäckkorb, wo ein Ausweis in Plastikverschalung an einem Expander mit Rollzug baumelt (sehr fortschrittlich, nicht diese lästigen Schlüsselbänder, die wie Leinen wirken). "Meine Name ist Ragnar." Stelle ich mich vor. "Kann ich dir irgendwie helfen, Konstantin?" Er schluckt verzweifelt, setzt einen Fuß vor den anderen, als wären wir im Hochgebirge mit dünner Luft. Seine farblosen Lippen formen Silben, die Zähne ineinander verkeilt, um die Übelkeit einzusperren. "Migräne?" Dechiffriere ich. "Oh, verstehe." Was uns nicht weiterhilft. Ich habe nur eine vage Vorstellung, was Migräne ausmacht oder den Betroffenen Linderung verschafft. "Wohnst du in der Nähe? Ich begleite dich heim." Dränge ich mich auf. Er hält den Kopf hoch aufgerichtet, die Sehnen arbeiten, alles Selbstbeherrschung. "Ich halte dein Rad, wenn du spucken musst." Offeriere ich ungelenk. Nur eine minimale Kopfbewegung, da habe ich schon zugegriffen. Er stakst hinter eine Hecke, die Mülltonnen vom Gehweg abtrennt. Sich den Mund mit einem Stofftaschentuch trocknend kehrt er im Schneckentempo zurück, als müsse er auf einem Hochseil balancieren, starr und keinen Jota seines fragilen Gleichgewichts verändernd. Wortlos gebe ich den Griff auf die Lenkerenden frei. Das Fahrrad als Rollator. Und das bei Vollmond! Eigentlich sollte mich die Stille zum Plappern reizen. Es gilt ja gemeinhin als unhöflich bis stoffelig, stumm wie ein Fisch nebeneinander zu paradieren. Ich bin davon eingenommen, auf die winzigen Signale zu achten, die seiner strikten Körperspannung entwischen. Außerdem glaube ich mich zu erinnern, dass Migräne nicht nur mit einer Licht-, sondern auch mit einer Geräuschempfindlichkeit gekoppelt ist. Geschwätz würde ihm möglicherweise noch stärker zusetzen. Unser erbärmlicher Zug zockelt weitere zehn Minuten, bis wir ein Mehrfamilienhaus erreichen, leicht zurückgesetzt, durch einen Zaun vom Gehweg separiert. Ich drücke die Klinke für die Pforte, sehe rechter Hand hinter dem obligatorischen Müllcontainer-Käfig ein Häuschen, das sinnigerweise mit einem Warnschild vor Fahrrädern verziert ist. "Nimm du deine Wohnungsschlüssel, ich komme nach." Dränge ich mich auf, übernehme den Lenker erneut. Er steht still, atmet konzentriert, zieht vorsichtig aus seinem Rucksack einen schmucklosen Schlüsselbund. "Bis gleich." Nicke ich, fingere aus dem Lenkertäschchen den Schlüssel für das Häuschen. Das Rad wird mit den beiden Ketten gesichert, das Gepäck samt Helm geschultert, das Häuschen wieder verrammelt. Schon bin ich ihm auf den Socken. Weit ist er noch nicht gekommen, eine halbe Treppe führt ins Souterrain. Kellerasselheim, nun ja. Er schließt auf. Halbdunkel empfängt uns. Er tastet sich an der Wand in einen kleinen Raum. Mutmaßlich die Nasszelle, ich höre ihn würgend ausspucken. Sein Appartement ist äußerst bescheiden. Ein großer Raum mit lediglich einer Fensterfront knapp über dem Gehwegniveau, die Rollläden nur wenige Schlitze geöffnet, dazu die Nasszelle: da hat es sich auch schon. Unter der Fensterfront kann ich dank meiner guten Nachtsicht eine aufgebockte Matratze mit Lattenrost erkennen, gefaltete Decke und Kissen auf einer Seite. Es gibt zwei Koffer, einige Umzugskisten, dazu ein offenes Regal mit Toaster, Mikrowelle und Wasserkocher, ergänzt um ein wenig Geschirr. Keine Pflanzen, natürlich nicht, dafür Bücher in Stapeln, ein Laptop mit Kabelsalat. Er tappt aus der Nasszelle, taumelig, die Insekten-Sonnenbrille noch immer wie ein Visier auf der Nase. Man kann zwar kaum die Hand vor Augen erkennen, aber zielgerichtet schleppt er sich zu seiner Matratzengruft, faltet die Glieder ein, sackt vornüber, ein kompaktes Paket in fötaler Haltung. Ich stelle Rucksack und Helm ab, nähere mich vorsichtig. Gerade schiebt er sich mit verkrampften Fäusten ungelenk die Sonnenbrille vom Kopf, atmet konzentriert, gequält. Seine Fäuste wandern an die Schläfe, pressen dagegen, die Augen zugekniffen. Ich rieche einen Hauch von Salz und begreife, dass ihm vor Schmerz die Tränen laufen. Noch immer höre ich nur seine aufs Äußerste kontrollierten Atemzüge. Was soll ich tun? Braucht er Medikamente? Ich strecke die Hand aus, wage aber nicht, ihn anzurühren, fürchte mich, ganz irrational, ihm noch größere Schmerzen zuzufügen. Ich kann auch nicht gehen. Obwohl ich nichts tun kann, vollkommen überflüssig bin, weigert sich mein Herz zu gehen, will mich nicht mich feige davonstehlen lassen. So hocke ich im Zwielicht auf der Matratzenkante, lausche auf seine Qual, verwünsche meine Hilflosigkeit. ~ð~ Kapitel 4 - Vollmond "Wenn du so spät kommst, weil ihr bis eben eifrig gepaukt habt, halte Abstand, in Ordnung? Will nicht, dass das überspringt!" Pflaume ich Rag an, eine Steilvorlage, ihm zu entlocken, weshalb er so ausgelutscht und längst nach seinem persönlichen Zapfenstreich einschleicht. Der Rucksack plumpst auf den Boden, er selbst auf einen Hocker. "Ich habe den Eremiten gefunden." Erklärt er. "Aha." Kommentiere ich knapp. Nach einem vergnüglichen Kennenlernen sieht es aber nicht aus. "Ihm geht's sehr schlecht. Migräne." Murmelt Rag zur Tischplatte. "Na, da scheidet er als heißer Kandidat für Kevin wohl aus." Urteile ich provozierend. Rag ist zu sehr von seiner diplomatischen Ader geprägt, um mir "Nettigkeit" um die Ohren zu schlagen. Er atmet bloß tief durch, um seine Gefühle zu kompensieren. Varis stellt ihm einen Becher mit Teebeuteln hin, die er tauft, dazu noch aus der Notration Kekse. "Danke." Nun zuckt tatsächlich so etwas wie ein Lächeln über das Gesicht meines Cousins. Ausgelutscht wirkt er noch immer. "Also was?" Provoziere ich ungeniert. "Bist du ihm in seinen Bau gefolgt, oder wie? Tolles Date für nen Vollmond!" Ich angle mir Varis heran, der wie gewohnt erstarrt, wenn ich meine Manieren schleifen lasse, schmiege ihn an mich. Rag reibt sich mit beiden Händen das Gesicht, erzählt von einer lausigen Kellerbude und einem Burschen, der ihn mit seinem persönlichen Unglück so getroffen hat, dass er nicht gehen wollte. "Und dann? Ist er eingepennt?" Ich will verhindern, dass Rag sein Helfersyndrom gleich auf den nächsten Werwolf überträgt. Zumindest, wenn er sich nicht selbst einschließt. "Ich weiß nicht." Brummt er, weicht meinem Blick aus. "Ich denke, er hat aufgegeben. Und ich auch." "Was hättest du auch tun können?" Varis schlägt sich entschieden auf die Seite der Guten. "Du hast ja nach Medikamenten gesucht, bist bei ihm geblieben und hast ihm deine Kontaktdaten hinterlassen! ICH finde, du hast alles richtig gemacht!" "Klar." Knurre ich herausfordernd. "Außer, der Bursche musste sich wegen deiner Anwesenheit extra zusammenreißen, so als Eremit ohne übliche Zeugen, wenn's ihm dreckig geht." Varis schnappt nach Luft, erstarrt an meiner Seite. Endlich sieht mich Rag an, fixiert nicht länger das abgeschabte Holz unseres Küchentisches. "Möglich." Wispert er tonlos, der Teint ausgewaschen wie altes Leintuch. "Selbst wenn, wie hättest du das ahnen können?!" Begehrt mein Varis tapfer auf, entwischt mir, drückt Rag eine hochgezogene Schulter. "Ich weiß nicht." Seufzt der matt. "Ich konnte einfach nicht gehen." Na, Prost Mahlzeit! ~ð~ Ich schlafe schlecht, wälze mich herum, krieche übernächtigt zu meiner Fron aus dem Bett. Varis hat sich natürlich erbarmt, mir schon eine Liste der Einkäufe vorbereitet. Ich mache für alle Frühstück, will ja den Andrang vermeiden, quasi zur Ladenöffnung schon vor der Tür stehen. Tibors Worte leuchten mir heim, während ich den Anhänger am Rad befestige, losstrampele. Habe ich es für Konstantin noch schlimmer gemacht? Warum wollte ich ihn nicht verlassen? Geht es um mein Ego? Will ich schon wieder einen anderen betütteln, um mich selbst zu bestätigen? Nicht gerade schmeichelhaft, dass mir keine Antworten einfallen. Ich ermahne mich streng, nichts zu überstürzen, eine Sache nach der anderen. Jetzt alle grauen Zellen auf den Einkauf gerichtet! ~ð~ Wenn ich aufwache, finde ich mich in Tibors Arm, an seine Seite gekuschelt. Selbstverständlich kann man nicht so schlafen, das weiß ich wohl. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel, dass wir uns im Schlaf wie alle anderen auch bewegen, die Positionen wechseln, rotieren, das ganze Programm. Dennoch. Ich lege den Kopf in den Nacken, blicke zu ihm hoch, der mir zuzwinkert, mit rauer Stimme wispert. "Morgen, mein Liebling." Die Ellen auf seinem Brustkorb aufstützend richte ich mich auf, komme ihm zu einem sanften Kuss auf die geschlossenen Lippen entgegen. "Guten Morgen." Antworte ich heiser, in der Gewissheit, dass er bis jetzt immer vor mir aufgewacht ist, mich behütet wie einen besonders wertvollen Schatz. "Was möchtest du heute unternehmen?" Erkundigt er sich, krault durch meinen verzottelten Schopf. "Vielleicht könntest du mir hinten im Garten helfen?" Schlage ich zögerlich vor. Eigentlich ist der wilde Dschungel ihre Angelegenheit, ich sollte mich nicht einmischen. "Weißt du, da sind ein paar fiese Dornenranken?" Wenn man ihnen samt Wurzelwerk zu Leibe rückt, könnte es auch ein wenig manierlicher aussehen. Ganz zu schweigen von den verholzten und kahlen Büschen, die beim nächsten Unwetter garantiert in sich zusammenbrechen. "Dafür brauche ich ein ordentliches Frühstück." Tibor äußert nicht den Hauch von Kritik. Er stellt meine Vorschläge auch nie in Frage. Sein Vertrauen in meine Urteilsfähigkeit ist ein wenig einschüchternd. Wir schälen uns gemeinsam aus leichten Sommerdecken, lüften rasch, bevor es zu heiß wird. In der Wohnküche hat Ragnar seine Pflicht wie gewohnt bravourös gemeistert. Wir müssen uns quasi nur noch niedersetzen. Tibor tippt auf meine Nasenspitze. "Bist du mir noch gram wegen gestern Abend?" Automatisch schüttele ich den Kopf. Ein bisschen schäme ich mich, dass ich im Impuls reagiert habe, seine Worte als niederträchtige Gehässigkeit verstanden, obwohl mir klar war, dass das nicht seine Art ist. "Tschuldige." Murmele ich verlegen. "Manchmal stehe ich auf der Leitung." Seine große Hand streichelt mir über den Kopf, sanft, beharrlich, wiederholt. "Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen, Varis. Ich BIN ein fieses Aas, wenn ich es für zweckdienlich halte." "Gar nicht wahr!" Protestiere ich, springe halb auf, schnappe nach seinen Händen. "Du hast ja alles nur gesagt, um Ragnar zu helfen!" Er grinst schief. "Mit sehr diskutablen Bemerkungen." "Die funktioniert haben! Außerdem verstehst du ihn am Besten, deshalb...!" Meine Rechtfertigung seines Vorgehens endet auf seinem Schoß, fest in seine Arme eingeschlossen. Ich lasse mich festhalten, erwidere den Druck nach eigenem Vermögen, was nicht gerade beeindruckend ist. "Ich bin sehr dankbar, dich gefunden zu haben." Raunt er in meinen zerzausten Schopf. "Ich bin auch froh." Bestätige ich verlegen. Tibor ist auch ohne mich ein wunderbarer Mensch. Ich habe großes Glück, dass wir unser Leben teilen können, das weiß ich wohl. Wir tauschen einen Eskimokuss aus. Mich überfällt ein Niesen, was ihn zum Lachen reizt. "Ich liebe dich." Schmunzelt er ob meiner Verärgerung über mich selbst. "Ich werde für dich alles liederliche Grünzeug niedermachen!" Ritterliche Worte! ~ð~ Ich zünde gerade die Kerze in einer alten Sturmlaterne an, als Kevin erscheint, wie gewohnt uneingeladen. Tibor füllt Popcorn großzügig in vier Schalen. "Was treibst du denn hier?" Kevin zuckt mit den Schultern, gewohnt dickfellig. "War kein Platz mehr im Auto frei." Mutmaßlich aus dem Grund, ihn nicht als Störenfried für die Samstagnacht-Unterhaltung an Bord zu haben. "Macht ihr später ein Kartoffelfeuer, oder wie?" Er pflanzt sich in einen ausrangierten Klappstuhl, deutet auf den imponierenden Berg aus Schnittgut. Gemeinsam haben wir ziemlich gewütet. Die Ranken, Hölzer, Blätter und dergleichen sollen trocknen, bevor wir sie entsorgen. "Dazu ist alles noch zu feucht." Erklärt Varis ihm nachsichtig, pickt Popcorn. Tibor reicht ihm mit Haferflockenmilch aufgeschüttelten Kakao. "Weil wir so hart gearbeitet haben, werden wir uns auch beizeiten aufs Ohr hauen." Droht er Kevin an, damit der sich nicht allzu häuslich einrichtet. "Jupp, ganz schön große Lücken im Dschungel." Signalisiert er Daumen hoch. Ich kann mich nicht länger bezähmen, zu lange nagt die Sorge an mir. "Sag mal, kennst du einen Werwolf namens Konstantin?" Erkundige ich mich. "Etwa so groß, schlanke Statur, glatte, dunkelbraune Haare, graue Augen." Kevin zieht unter seiner unmöglichen Frisur die Stirn kraus. Seine Miene hellt sich im Geistesblitz auf. "Oh, du meinst Muschi!" ~ð~ Rag ist nicht amüsiert, was man ihm erstaunlicherweise vom Gesicht ablesen kann. Kevin hebt die Hände, hat mit der Popcorn-Stopferei mal kurz Pause gemacht. "He, das haben SIE gesagt, nicht ich, okay?! Bin ihm schließlich nie begegnet, hab's nur gehört!" Konstantin aka Muschi lebt wohl unter anderem so zurückgezogen, weil seine regelmäßigen Migräneattacken ihn als Werwolf disqualifizieren. Zumindest nach den traditionellen Standards, die körperliche und geistige Gesundheit zur einzigen Existenzberechtigung erklären, um das Rudel nicht zu gefährden. Heute, vor allem hier, sind solche gnadenlosen Ausschlusskriterien nicht mehr angezeigt. Was nicht heißt, dass wir als Werwölfe nicht genauso voreingenommen, ausgrenzend und selbstherrlich wie der gesamte Rest der Menschheit sein können. "Er hat sich noch nicht gemeldet." Das treibt Rag um. "Jetzt wissen wir, dass er Übung hat, es überstehen wird." Kontere ich streng. Wenn der Bursche sich derart zurückgezogen hat, wird er nicht auf die erstbeste Bitte eines Fremden anspringen, sondern braucht Bedenkzeit. "Außerdem ist ja immer noch quasi Vollmond." Meldet sich Kevin. "Bestimmt muss er sich erst mal sortiert bekommen. Du weißt, wo er wohnt." Rag schenkt ihm einen galligen Blick, sehr untypisch, bevor er knurrt. "Solche Bemerkungen stimmen deine Mitmenschen nicht zuversichtlich hinsichtlich deiner Intentionen." "Hä?" Kevin wirft mir einen verwirrten Blick zu, aber ich verzichte auf Nachhilfeunterricht in Sachen penetrante Aufdringlichkeit. "Morgen ist auch noch ein Tag." Verkünde ich stattdessen. Nach der Popcorn-Runde geht's in die Heia! ~ð~ Ich schlafe nicht besonders gut, weil mir zu viele offene Fragen durch den Kopf kreisen, ich einfach nicht aufstecken kann. Wenn ich das, was Kevin gewohnt unbesonnen heraussprudelt, richtig einsortiere, hat sich Konstantin selbst isoliert, als er hierher gezogen ist. Sich zwar als Werwolf vorgestellt, um Animositäten zu vermeiden, ansonsten aber keinen Anschluss gesucht. Eine solche Isolation ist nicht gut, für Werwölfe besonders. Dass man ihn hat gewähren lassen, deutet möglicherweise darauf hin, dass er sich auf andere Weise in die Gesellschaft einbringt. Er hat ein Appartement, einen Job... War ich zu aufdringlich? Hätte ich ihn nicht einfach in Ruhe lassen können? Oder müssen? Vermutlich wäre es ihm auch ohne mein Auftauchen gelungen, den Heimweg zu bewältigen, das gestehe ich ein. Andererseits hat es mich, wenn ich ehrlich bin, ins Mark getroffen, neben ihm zu kauern, im Zwielicht, hilflos, tatenlos, unfähig, seine Schmerzen zu lindern. Na schön, bin ich eben ein Weichei! Gut, seien wir mal rational! Wenn die Gerüchteküche stimmt, leidet Konstantin aka Muschi an jedem Vollmond unter Migräneattacken. Abgesehen von der lächerlichen, sexistischen und unzutreffenden Anspielung bedeutet es, dass er sich mit abnehmendem Vollmond wieder besser fühlen wird. Deshalb sollte ich mich nicht wie Mutter Glucke aufführen, vor allem nicht, wenn ich ohnehin nichts am Problem ändern kann. Warum lässt er mich aber nicht los? Auf was bin ich so neugierig? Ich weiß nicht, was es ist. Was ist so bemerkenswert an ihm? Wir haben uns ja nicht mal unterhalten! Zugegeben, er sieht ansprechend aus, wenn er nicht gerade Migräne hat, aber spektakulär mutet nichts an. Was fasziniert mich bloß?! Vielleicht sollte ich mir doch mal den Verstand untersuchen lassen! ~ð~ Ich wache vor ihm auf, rutsche so vorsichtig es geht in eine Position, ihn in meinen Arm zu dirigieren, ohne ihn aufzuwecken, lausche auf seine tiefen Atemzüge an meinem Brustkorb, genieße sein Gewicht. Ich liebe diese Augenblicke, wenn ich mich in vollkommener Verantwortung weiß, wenn Varis mir zugewandt und vertrauensvoll schlummert, sich mir überantwortet. Da will ich wachsen, über mich und mein Ego weit hinaus, das Privileg, das er mir gestattet, würdig hüten, mich danach richten. "Hmmhmmm." Dringt zu mir. Kitzelt ihn etwas? Ich lege die Hand auf seinen verwilderten Lockenschopf, eine ungebärdige, filzende Masse. "Guten Morgen, Liebling." Zwinkere ich. Er blinzelt, entwirrt seine dichten Wimpern, lächelt mich an, kein Reklame-Grinsen, keine großspurigen Gesten, pur Varis. "Guten Morgen." Krächzt er, reibt die Wange an meiner Brust. "Noch ein bisschen Kuscheln, ja, bitte?" "Sehr gern." Antworte ich artig, summe zufrieden vor mich hin, während ich ihn bärig an mich schmiege. Varis seufzt zufrieden. "Danke schön". Perfekte Manieren, rücksichtsvoll bis zur Selbstvernachlässigung. "Was magst du heute tun?" Erkundige ich mich. Er denkt ein wenig länger nach...oder nimmt er Anlauf? Jedenfalls stützt er sich behutsam auf mir auf, blickt mir ins Gesicht. "Tibor, glaubst du...? Könnte ich dich wohl bitten, mir die Haare zu schneiden?" Dabei prustet er in einen verkletteten Lockenstrang, dezent enerviert die Stirn kräuselnd. Hinreißend! "Wenn du mir das zutraust?" Grinse ich kreuzdämlich ob seinem hastigen Nicken. Na, da werde ich heute als Figaro reüssieren! ~ð~ "Ich bin ja Assistent." Wiederholt Kevin erneut. Als könnte ich die gefühlt 1000 Mal vorher vergessen haben! Die Importanz seiner Aufgabe scheint sein Hirn vollkommen zu benebeln. "Aha." Knurre ich, schicke mich aber drein. Immer noch besser, als auf sein Smartphone starren zu müssen, wo er pflichtschuldig die Bilder der vergangenen Nacht präsentiert. Noch mehr "heiße Bräute" und "coole Locations" ertrage ich nicht, ohne mich in die frisch gerodeten Büsche zu übergeben. "Ich Selfie, also bin ich", einfach ätzend. Er war ja nicht mit von der Partie, was ihn wenig zu stören scheint. Bei seiner Erfolgsquote vermutlich ein schlauer Schachzug. "Es lenkt dich ab." Zieht er mich unbarmherzig in die Gegenwart zurück, bemüht sich um einen halbwegs soliden Stand. Ich unterdrücke ein weiteres Grollen. "Bin überrascht, dass du dich nie beim Auswärtigen Amt als Diplomat beworben hast." Kommentiere ich sein Taktgefühl. "Hä?" Er tänzelt in einer grottigen Boxer-Kopie von einem Bein aufs andere. "Also, let's rumble!" Wie kann ich bloß der Versuchung widerstehen, ihm ordentlich das Fell zu gerben?! ~ð~ Ich schlucke langsam. Mein Durstgefühl ist trainiert, weiß, dass ich an den Tagen an meine Grenzen gehen muss. Es nützt ja auch nichts, viel zu trinken, was gleich wieder ausgespuckt wird. Früher Nachmittag. Meine Glieder summen noch, Folgen der verkrampften Haltung. Durch die Hitze sind die Muskeln und Sehnen allerdings gnädig mit mir. Der Schmerz ist noch da, weniger stark, abebbend. Trotzdem muss ich ihn kontrollieren, ausbalancieren. Konzentrierte Atemzüge, abgezirkelte Bewegungen. Mein Magen knurrt, klar, der dritte Tag ohne feste Nahrung, aber für ihn gilt dasselbe wie für meinen Durst. Vorsichtig drehe ich den Notizzettel in meiner Hand, Großbuchstaben, säuberlich mit Kugelschreiber aufs Papier gebannt, Zahlen, Sonderzeichen. Jemand war hier. Ragnar. Es ist so lange her, dass ich von jemandem aufgelesen worden bin, dass ich beinahe die Konzentration schleifen lasse. Was sich mit einem glühenden Nadelstich direkt in der Schläfe bemerkbar macht. Hier, an diesem Ort, ist es jedenfalls noch nie passiert. Ich bin üblicherweise gut vorbereitet, wenn ich an den Tagen mein Zuhause verlassen muss, suche mir kurze, aber nicht zu häufig frequentierte Wege, maskiere mich wie ein Grippekranker. Ich fehle grundsätzlich nicht wegen meiner Migräne, eine Frage des Prinzips. Ich komme klar. Grundbedingung, um mein Leben so führen zu können, wie ich möchte. Was tun? Wird eine einfache Rückmeldung genügen, ihn zu beruhigen? Sicher war er nur höflich, oder? Ich atme gegen eine aufwellende Schmerzwand an. Wenn ich nur wüsste...! Aber es ist müßig, zwei wesentliche Sinne stehen mir nur rudimentär zur Verfügung. Ich kann meine Mitmenschen nur unzureichend einschätzen. ~ð~ Der Sonntag verläuft erstaunlich friedlich, zieht man in Betracht, dass Kevin sich selbst eingeladen hat. Ich verstehe, dass er sich ein wenig zurückgesetzt von seinen Freunden fühlt, die ohne ihn am Samstag ausgegangen sind. Andererseits spüre ich auch, wie ungnädig Tibor ist, was potentielle Abstriche unserer gemeinsamen Zeit miteinander betrifft. Er reißt sich um meinetwillen zusammen. Ragnar hält sich schadlos, indem er die von Kevin erquengelte Sparringsrunde ordentlich ausdehnt. Es überrascht mich ein wenig, dass die Assistenz bei einem Selbstbehauptungskurs so viel Engagement einfordert. "Los, traben wir eine Runde um den Block." Fordert Ragnar ihn gerade auf. "Kondition ist auch wichtig." Schon entfernen sie sich in der nachlassenden Hitze. "Endlich!" Kommentiert Tibor, schnappt meine Hand. Ich wische durch meine kurzen Kringel, gefühlte zehn Kilo leichter auf dem Kopf. "Muss ich auch Sport machen?" "Besser!" Er fletscht anzüglich die Zähne. "Liebling, wie wär's mit Vollkontakt?" ~ð~ Ist es der Lohn der guten Tat? Als wir zurückkommen, nach einer SEHR langen Runde, schweißgebadet, findet sich eine Nachricht von Konstantin. [Es geht mir gut. Vielen Dank.] Ich bin erleichtert, aber nicht allzu sehr, denn das kann ja wohl nicht das Ende dieser Episode sein, oder? ~ð~ Ich benutze mein Telefon nur selten, hauptsächlich aufgrund meiner Arbeit, falls Rückfragen notwendig sind und ich mich schon außerhalb des Büros befinde. Hin und wieder melde ich mich auch mal bei meinen Eltern. Da ich allerdings nichts Bedeutendes zu berichten habe, verlaufen die Gespräche recht einseitig. Ich bin es also nicht gewöhnt, häufiger nachzusehen, ob Nachrichten eingehen. Vor und nach der Arbeit, das genügt in der Regel. Er hat geantwortet. [Das erleichtert mich sehr! Ich wusste nicht, wie ich dir helfen soll und habe mich schäbig gefühlt, dich allein zu lassen. Was tust du normalerweise gegen die Migräne?] Das läuft auf eine Unterhaltung hinaus! Selbstredend kann ich mich mit anderen verständigen, keine Frage, doch eine Restunsicherheit bleibt immer. Ich muss mich sehr konzentrieren auf die Details "zwischen den Zeilen". Körpersprache vermag ich durchaus zu erkennen, aber mir fehlen Geruch und Geschmack. Es ist erstaunlich, wie viel diese beiden Sinne ausmachen, obwohl sie so selten in ihrer Bedeutung gewürdigt werden. Vielleicht, weil sie unbewusst arbeiten, im Hintergrund, subversiv und ebenso automatisch wie autonom. Ihre zusätzlichen Informationen fehlen mir, meine Wahrnehmung ist eingeschränkt. Ich missverstehe hin und wieder Intentionen, die nicht eindeutig formuliert oder durch Gesten offenbart werden. Theoretisch sollte es leichter sein, sich zu unterhalten, wenn man sich nicht sieht, hört, riecht, spürt. Rein digital. Tatsächlich ist es das nicht, will man nicht nur reine Informationen austauschen. Der Subtext bleibt noch rätselhafter. Ist das ein Scherz, Ironie, ernst gemeint? Welche Absicht steckt hinter einer Frage? Ist die Person mir wohlgesinnt oder nicht? So grübele ich in der Mittagspause auch, des guten Wetters wegen im kleinen Park auf einer Bank im Schatten hockend. Warum fragt er nach? Was soll ich antworten? Soll ich ihn beruhigen? Wie ausführlich oder ausweichend soll meine Reaktion ausfallen? Grübeln andere eigentlich auch über diese Details nach? Fragen kann ich niemanden. Das heißt, können wohl, ich entscheide mich aber dagegen. Ich bin dankbar, dass meine Kollegen mich trotz meiner Sonderbarkeiten akzeptieren, die Migräne und meine Essgewohnheiten nicht diskutieren. Mit einer ärztlich bescheinigten Malässe inklusive interessantem lateinischen und/oder altgriechischen Fachterminus rechtfertigt sich erstaunlich viel. Ich weiß nichts über ihn. Ist er bloß hilfsbereit und zugewandt? Oder erst kurz hier und ohne Anschluss? Schwierig. Aber es wäre unhöflich, eine Antwort über Gebühr zu verzögern, nachdem ich ja versichert habe, dass es mir gut geht. [Es war sehr aufmerksam, mich zu begleiten. Gegen meine Migräne helfen keine Medikamente. Ich beschränke mich daher auf autogenes Training. Nach zwei bis drei Tagen bin ich wiederhergestellt. Danke für dein Interesse.] Informationen, Beobachtungen, möglichst wertneutrale Einschätzungen, höfliche Floskel. Das sollte genügen, hoffe ich, und keine Missverständnisse hervorrufen. Oder? Wirkt es vielleicht doch zu harsch, zu unpersönlich? Zu knapp? Ich sende trotzdem, weil noch mehr Grübeln mich nicht weiterbringt. Auch wenn es unmanierlich ist, versuche ich über einen Meta-Crawler mehr herauszufinden, was möglicherweise mit seinem Namen angespült wird. Eine zweischneidige Angelegenheit, obwohl sein Name nicht gerade häufig vorkommt. Selbst das, was im Netz der unterschiedlichen Suchmaschinen landet, kann falsch, veraltet, ohne den notwendigen Hintergrund sein. Helfen mir biographische Daten weiter? Ich seufze, verstaue das Gerät, beende meine Mittagspause. Es ist wirklich kompliziert, sich in Gesellschaft zu bewegen! ~ð~ Rag ist wieder sein diplomatisch-gut gelauntes Selbst. Beinahe bedauerlich. Nach meiner Auffassung kann er ruhig öfter aus sich hinausgehen, die weniger angenehmen, aber menschlichen Regungen offenbaren. Ich werde natürlich in Kenntnis gesetzt, dass dieser Konstantin eine Antwort geschickt hat. Mir würde das jetzt genügen, alles paletti, der Mann hat sein Leben im Griff. Leider genügt Rag das gar nicht. Könnte es ja sein, dass die Gemeinheiten der Vergangenheit ("Muschi") und seine unglückliche Krankheit ihn isoliert haben! "Also..." Beginne ich, doch Varis drückt mir behutsam den Oberschenkel im Sichtschutz der Tischplatte. Mist! "Hat jemand Lust auf eine Runde Würfeln um den Abwasch?" Formuliere ich lahm eine Fortsetzung, damit Rag keinen Verdacht schöpft. Varis strahlt mich an, springt auf die Beine. "Ich mach das schon!" Sakra! "Aber du hast Ferien!" Brumme ich. Er ist ja augenblicklich der letzte am Frühstückstisch, zumindest theoretisch. Praktisch steht er wie wir auf, leistet uns Gesellschaft. Deshalb aber dauernd den Abwasch übernehmen zu müssen (weiterhin einmal am Tag, zwecks Wassersparen), das finde ich unfair. "Ich übernehme das gern." Er zwinkert. "Küchen-Zen, weißt du?" Ich knurre nur leise. Rag tippt schon wieder in das depperte Telefon. Hoffentlich übertreibt er es mit seinem Helfersyndrom nicht! ~ð~ Seine Antwort liest sich ein bisschen distanziert, aber nach meinen Recherchen muss mich das auch nicht wundern. Die Gesellschaft von Werwölfen hat er jedenfalls nach seinem Umzug hierher wohl nicht mehr gesucht. »Lass gut sein!« Das signalisiert mir mein stoischer Cousin unerbittlich, da kann Varis noch so verschmitzt-liebevoll eingreifen, ich dechiffriere das Knurren fehlerfrei. Ich will nicht. Er wirkte so elend, allein in diesem Kellerloch. Alles spartanisch, keine Bilder, keine Kontaktdaten von Familienmitgliedern, keine Anzeichen für Besuch. Gut, ich gestehe, ich habe mich umgesehen, wollte ja nach Medikamenten fahnden. Natürlich ist das unverschämt, aber es hilft meinem Erkenntnisgewinn. Wie in einer Mönchsklause gibt es nur Geschirr und Besteck für eine Person. Kein Gästehandtuch in der winzigen Nasszelle, kein Vorrat an Knabberkram für spontanen Besuch oder Kino-Abende, kein Schwarzes Brett irgendeiner Machart mit Fotos, Postkarten, Wurfzetteln von Lieferdiensten. Abgesehen von den Büchern, darunter viele mit Aufklebern der Leihbücherei, lebt er sehr einfach und zurückgenommen. Wenn die vergangenen Kränkungen ihn in die Isolation gezwungen haben, soll ich das einfach akzeptieren? Immerhin waren wohl Werwölfe dafür verantwortlich, nicht wahr?! [Ich habe gesehen, dass Du viel liest. Hast Du Favoriten? Ich bediene mich auch bei der Leihbücherei hier. Die On-Leihe ist nicht schlecht, aber an das Lesen auf dem Laptop muss ich mich gewöhnen. Hast Du das auch schon ausprobiert?] Gemeinsame Gesprächsbasis finden, genau! Mal sehen, ob wir uns nicht doch besser kennenlernen können. ~ð~ Er lässt nicht locker. Ich kann die Situation nicht einordnen. Ist das noch Smalltalk? Zielt das Gespräch auf etwas Bestimmtes ab? Schwierig. Übertreibe ich es vielleicht mal wieder mit meiner Motiv-Grübelei? Verhalten sich "normale" Menschen einfach so? Messe ich jedem Wort zu viel Bedeutung bei? Wahrscheinlich viel Lärm um nichts, rede ich mir ein, es verläuft sich wieder, all die Aufregung wird dir bald lächerlich vorkommen. Genau. Ich bin nicht interessant oder kurzweilig, habe nichts Bedeutendes zu bemerken. [Ich lese tatsächlich gern, bunt gemischt, solange es nicht zu blutig wird. Favoriten habe ich keine. Die On-Leihe benutze ich auch. Die Lesbarkeit hängt stark vom Material ab. Einfache Texte funktionieren gut, bei Magazinen und technischen Zeichnungen wird es schwierig. Die Haptik eines Buches ist nicht zu unterschätzen.] Hätte ich noch eine Frage stellen sollen, nach seinen Favoriten? War es unhöflich, nicht darauf einzugehen? Hätte er eine diesbezügliche Einladung zur Offenbarung seiner Vorlieben erwartet? Und die Ausführungen zur On-Leihe, haben sie ihm unterstellt, er könne damit nicht umgehen? Hätte ich meine Einschätzung zum Wert von Büchern besser auslassen sollen? Wirklich schwierig, das Richtige zu äußern, in der angemessenen Detailtiefe und Form. Anstrengend. Oder bin ich schon so weit entfernt, dass ich nicht mehr anständig kommunizieren kann? Aber das macht nicht viel aus, richtig? Der Status quo wird wieder eintreten. ~ð~ Mein Assistent ist da, eine halbe Stunde zu früh, hibbelig und aufgedreht. Da ich noch eine Viertelstunde meines Kurses zu bestreiten habe, muss er im Vorraum warten, was seine Unrast nicht gerade reduziert. Meine diesbezügliche Bemerkung, wie energetisch aufgeladen er doch sei, erläutert er gewohnt unbefangen. Offenbar bekommt ihm das lange Sitzen in der Berufsschule nicht besonders. Das kann ich allerdings nachfühlen. "Schön, wir werden heute mal deine Nehmerqualitäten erproben." Verkünde ich, verweise auf die Schutzkleidung, einzeln zu montierende Polster. Bei der Hitze und mit ihrem Gewicht nicht zu unterschätzen. "Wow, ernsthaft?! Total geil!" Dröhnt er, eine merkwürdige Kombination in der Wortwahl. Ich schnüre ihn ein, ermahne. "Gib mir aber unbedingt eine Rückmeldung, wenn es zu viel wird, in Ordnung?" Üblicherweise stecke ich nämlich in der Montur, bin sie auch gewöhnt. Andererseits kann es nicht schaden, wenn er sich einen Teil seiner überschüssigen Energie hier abtrainiert. Meine Damen werden sich auch freuen, endlich loslegen zu dürfen! ~ð~ Ein Bücherwurm also. Lieber fiktive Gesellschaft als echte? Oder umgibt er sich mit Büchern, weil sie ihm "alte Freunde" sind, wie es im Volksmund heißt? Ich klicke mich durch die Tageszeitung. Auf die Papierausgabe haben wir schweren Herzens verzichtet, weil der Erhalt hier draußen Glückssache ist. Genau, da ist die Bestsellerliste, unterschiedliche Kategorien, diverse Titel. Nach was soll ich fragen? Eher bei den Sachbüchern eine Ausgabe herauspicken? Oder besser Taschenbücher, weil die gebundenen Ausgaben, die die Büchereien wegen ihrer Haltbarkeit eher anschaffen, schon länger verfügbar sind? Was wäre wohl ein guter Aufhänger für eine längere Diskussion? Vielleicht etwas Kontroverses? Ich lasse, metaphorisch, die Hosen herunter. [Stimmt, ich mag das Gefühl von Papier und kartonierten Einbänden auch. Sag mal, hast Du schon den neuen Jack Cougar gelesen? Oder ist das eher nicht Deine Kragenweite?] Schön, offenbare ich mich eben als hoffnungsloser Kindskopf, der Abenteuergeschichten liebt! ~ð~ Der Bursche muss ordentlich was einstecken. Vorher hat er entsprechend unseren Szenarien eine Übergriffssituation zu simulieren, kombiniert mit den faulen Sprüchen, die ihm so unfallfrei wie enervierend leicht von der Zunge gehen. Meine Damen sind also äußerst motiviert. Nach den zunächst zögerlichen Reaktionen, weil man ja darauf getrimmt ist, eher zurückzuweichen, niemanden zu verletzen, die körperliche Hemmschwelle zu überwinden, legen sie sich mächtig ins Zeug. Ich beobachte ihn genau, ob er nicht doch eine Pause benötigt, ausgewechselt werden muss. Die Prügel, die die Polster zwar dämpfen, aber nicht völlig verpuffen lassen, scheinen ihn jedoch richtig anzufeuern. "Sehr gut gemacht!" Lobe ich also aufrichtig, als ich ihn langsam nach unserem Kurs aus den Schnüren und Schutzschichten pelle. "Ich kann das schon selbst!" Haspelt er unerwartet nervös, weicht meinem Blick aus. "Hat echt Spaß gemacht." Selbstredend kann er sich nicht vollends selbst befreien, auch wenn er sich windet, um mir auszuweichen. Der Grund für seine unerwartete Reaktion erschließt sich mir rasch. Üblicherweise fällt er ja gerade deshalb unangenehm auf, weil er die persönliche Distanz zu seinen Mitmenschen nicht korrekt einhält: in der kurzen Hose beult sich was. "Ah." Unterdrücke ich ein Grinsen. Die Jugend! Voll im Saft, und möglicherweise nicht ausgelastet. Er zappelt. Ich verpasse ihm einen austarierten Schubser Richtung Wand, greife beherzt in die Vollen. "Das haben wir gleich, ganz normal." Verkünde ich amüsiert. "Uhh!" Protestiert er, klammert sich an mein T-Shirt, die Knie einknickend, sodass wir auf Augenhöhe sind. Ich assistiere, indem ich mein Bein zwischen seine schiebe, damit er mir nicht aufs Parkett rutscht. "Gleich erledigt." Schmunzele ich entgegen meines Vorsatzes, ihn nicht allzu sehr aufzuziehen. Das männliche Selbstbewusstsein ist ein zerbrechliches Gut in derartigen Situationen. Sein Atem glüht mir ins Gesicht, keuchende Stöße, die Finger krallen sich in den T-Shirtstoff. Weil wir gerade so die Köpfe zusammenstecken, ich den Blick auf sein durchaus beeindruckendes Gemächt gerichtet, überrumpelt mich trotz all meiner Übung der ungeschickteste Kussversuch aller Zeiten. In diesem Moment, als wir dental zusammenrasseln, fällt auch das letzte Mosaiksteinchen an seinen Platz. Na so was! Da spiele ich natürlich gern mit! Von vornehmer Zurückhaltung und Selbstkasteiung halte ich wenig. Außerdem wirkt es nicht so, als würde der stramme Bursche so schnell aufgeben. Ich küsse ihn also richtig, greife auch ebenso ungeniert zu. Warum soll ich mich nicht auch schadlos halten? Der Junge ist volljährig, trotz der Prügelstunde so aufgeputscht, dass er ohne Abhilfe zum Öffentlichen Ärgernis werden würde? Außerdem hat mein Kamerad hin und wieder gern Gesellschaft mit einem freundlich-alerten Pendant. Meine Hose soll ja ebenfalls nicht ausgeleiert werden. So leiten wir den späten Dienstagabend mit einem gemeinsamen, feuchten Salutschuss ein. Er stottert Unzusammenhängendes, was mich nicht stört. Eigentlich, auch wenn die Hosen auf Halbmast hängen, will ich ihn aus den restlichen Bestandteilen der Schutzausrüstung schnüren. Sie wird ja noch gebraucht. "Schön aufrecht stehen, Kamerad." Grinse ich launig. Gewöhnlich überragt er mich ja um ein Stück, jetzt aber sind wohl die Knie weich. Zu meiner nicht gelinden Verblüffung scheine ich ihn aber mit meinem geschickten Händchen nicht beeindruckt zu haben. Erneut flaggt mir ein stolzer Botschafter entgegen. "Da schau her!" Kommentiere ich anerkennend. Eigentlich sollten wir unser subäquatoriales Tete-a-tete in die winzige Dusche verlegen, doch mit den Hosen um die Knöchel wird das auch ohne partielle Rest-Verschnürung eine elende Hopserei mit ungewissem Ausgang werden. Seine Zähne schnattern, die Wangen glühen dunkelrot. Keine Chance, dass er den Kopf hebt, mich ansieht. Wäre er eine Schildkröte, würde es im Panzer eng werden, so krümmt er sich zusammen. "Das ist ja schmeichelhaft." Schmunzele ich, bediene mich erneut. Kein schlechtes Gefühl, selbstredend vertraut. Es rührt mich durchaus an, wie verzweifelt er sich an mich klammert. Er schnauft erbärmlich durch die verkeilten Zähne. So kann das kein richtiges Vergnügen werden! Außerdem gibt es hier außer uns beiden weder Augen- noch Ohrenzeugen. Ich habe keine Skrupel, seine Zunge anderweitig zu beschäftigen, damit seine Kieferknochen zu lockern. Er gibt schnell auf, spielt mit, engagiert sich mit Verve. Es gibt ja nichts mehr zu kaschieren. Endlich, nach einem leidenschaftlichen Stöhnen, um erheblichen Druck erleichtert, erwidert er meinen Blick, wenn auch ziemlich glasig. "Okay." Ich schiebe ihn gegen die Wand. "Schön oben bleiben, ich mache uns frei. Danach geht's unter die Dusche." Artig lehnt er, die Fingerspitzen in die Mauer pressend, sich also an. Ich wische meine Hand am Oberschenkel frei, bevor ich die restlichen Panzerungen löse, aus meinen Hosen steige, ihm assistiere, damit er sich nicht aufs Parkett legt. "Abmarsch." Kommandiere ich launig, zwinkere ihm zu. "Machen wir uns noch mal feucht!" Außerdem will ich die Gelegenheit nutzen nachzuschauen, wie mein unerwarteter Spielkamerad obenrum so gebaut ist. ~ð~ Kapitel 5 - Eine unerwartete Entwicklung! Erstaunlicherweise macht sich Kevin rar, belästigt mich nicht mal mit seinen unzähligen Nachrichten über Klatsch und Tratsch aus der Werwolf-Gemeinde. Man soll sein Glück nicht beschreien, sondern genießen! Ich gebe nicht auf, auch wenn es mir gelingt, mein Hirn mit Lernstoff zu füllen, Einiges zu verfassen, ohne zwei Sätze später nicht mehr zu wissen, wie ich den Absatz angefangen habe. Konstantin gehört zur täglichen Freizeit, das heißt, ich schaue abends, ob er geantwortet hat, schicke genau eine Antwort. Bloß nicht aufdringlich oder lästig werden! [Toll, dass Du Jack Cougar auch gern liest! Kennst Du schon sein neuestes Abenteuer? Ich habe das Taschenbuch zwar hier, erlaube mir aber erst die Lektüre, wenn ich mit einem Teil meiner Prüfungsarbeiten durch bin. Was für Fachliteratur musst Du lesen?] Möglichst keine Ja/Nein-Antworten, höfliche Nachfragen fördern, Interesse signalisieren. Ich möchte wissen, was er sonst so unternimmt, wie sein Alltag aussieht, wenn er nicht arbeitet. ~ð~ Es ist eine Unterhaltung. Er zeigt Interesse, fragt nach, beweist eine ausgewogene Balance zwischen Informationen zur eigenen Person und Erkundigungen zu mir. Für einen seltsamen Augenblick frage ich mich, ob wir tatsächlich den gleichen, imaginären Ratgeber befolgen, was die Kommunikation mit anderen betrifft. Allerdings kann das nicht stimmen. Dieser Ragnar wirkt auf mich "normal". Dementsprechend hat er es zweifellos nicht nötig, sich Gedanken ÜBER Kommunikation zu machen. Er betreibt sie schlichtweg, ganz instinktiv und erfahrungsgeprägt. Oder? Ich muss zugeben, dass man mir an den 26 Tagen zwischen den Attacken nicht auf den ersten Blick anmerkt, wie fremd ich mich häufig in Gesellschaft fühle. Die Anpassung an Erwartungen habe ich jahrelang trainiert, sozusagen mein Rettungsring und Schutzpanzer. Eigentlich falle ich nicht auf, zumindest nicht äußerlich. Möglicherweise vermeide ich Ansammlungen von Personen, mangelnde körperliche Distanz, sportliche Gemeinschaftsunternehmungen, aber das tun andere auch. Ich bin nur sehr viel schneller angestrengt, weil ich mich ja konzentrieren muss, mir keine "Automatik" beispringt, die unbewusst dolmetscht, was ich entschlüsseln sollte, aber nur unzureichend kann. Er wirkt nicht, als hätte er irgendwelche vergleichbaren Beeinträchtigungen. Zugegeben, viel habe ich nicht von ihm in Erinnerung. Schwierig. Meinem Urteilsvermögen kann ich nicht gänzlich vertrauen. Möglicherweise ist die Situation zu vergleichen mit den Pausen- oder Kantinengesprächen. Etwas, das man bemerkt hat, thematisieren, eine Gesprächsbasis aufbauen, sich ein wenig austauschen. Da ist die Mittagspause auch schon um. Das soziale Räderwerk der Gemeinschaft wurde geschmiert, alle haben Anerkennung gefunden. Verläuft also alles bald im Sande? Hmm. Von meinen Kolleginnen und Kollegen weiß ich jeweils ein wenig. Das, was sie selbst äußern, beiläufig, meistens zur Familie, zu Urlaubszielen, zu Vorlieben, zu Interessen. Man kann schließlich nicht ständig über das Wetter oder die letzten Ergebnisse der Fußballligen fachsimpeln. Natürlich sind es nur wenige Bruchstücke, einzelne Mosaiksteinchen, die niemals die gesamte Figur ausmachen. Gerade genug, um auf einer professionellen Basis zusammenzuarbeiten, rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Ich erzähle wenig, höre meistens einfach zu. Das ist selbstverständlich leichter. Ich habe Übung darin. Zudem reduziert es die Gefahr, aus unzureichenden Informationen eine unpassende Äußerung zu tun. Möglicherweise fällt es mir aber auch aufgrund meiner Lebensweise inzwischen schwer, mich persönlich ein- und auszulassen. Ich bin es gewöhnt, alles mit mir selbst auszumachen. Bevor ich etwas äußere, frage ich mich selbst, ob es tatsächlich von Bedeutung ist für meinen Gegenüber. Die Prüfung fällt regelmäßig negativ aus. Es geschieht, wie es der Volksmund sagt, nichts Neues unter der Sonne. Ist deshalb etwas, was mir begegnet, mich bewegt, von derart herausragender Bedeutung, dass ich mich in den Vordergrund drängen, es aussprechen muss? Also höre ich meist zu, denke hin und wieder, dass ich jetzt ja auch mal... aber ich lasse es sein. Ist nicht so wichtig. Überhaupt, ich habe es erlebt/gesehen/gespürt/gedacht, genügt das nicht? Vermutlich verhält es sich so wie mit dem Essen. Aufgrund der strengen Diät, die mein Leben retten sollte, habe ich bei den üblichen Mahlzeiten, auch bei Familienfeiern und Ähnlichem, nichts zu mir genommen. Das fiel mir zwar nicht schwer, verärgerte aber alle anderen. Weil es mir augenscheinlich leicht ankam, mich zu beherrschen. Weil es ihnen vor Augen führte, dass sie zu viel/das Falsche/Ungesundes aßen. Weil ich eine Ausrede hatte, um nicht zulangen zu müssen. Weil es ungesellig war. Ich entschied für mich, immer rechtzeitig vor Beginn der Tafelei meinen Abschied zu nehmen oder die Hunde auszuführen, Botengänge zu absolvieren. Schlichtweg durch meine Abwesenheit die Freude wiederherzustellen. Das hat sich so eingeprägt, dass ich gar nicht mehr zu Mahlzeiten erwartet werde. Ich muss mich nicht mehr erklären. Niemand lädt mich mehr ein. Kurze Stippvisite aus Höflichkeit genügt. So verhält es sich eben auch mit den Kontakten zu meinen Eltern und der Verwandtschaft. Wir leben, alle in der eigenen Welt, ersparen einander die unwesentlichen Einzelheiten des Alltags, versichern uns lediglich hin und wieder noch der Grundtendenz, die sich im Telegrammstil (oder zeitgemäßer per Tweet) zusammenfassen lässt: leben noch, alles gut. Mit dem Verschwinden der Notwendigkeit, sich zu erklären, sich einbringen zu müssen, reduziert sich durch Gewohnheit auch das Verlangen danach. Deshalb erfüllt mich der Mitteilungsdrang meiner Mitmenschen inzwischen mit Verblüffung. Ich begreife nicht, was sie antreibt, woher diese Bedürfnisse kommen. Wahrscheinlich ist es vermessen, das alles nur auf meine beiden stark eingeschränkten Sinne zu schieben. Ich habe mich an diesen Zustand der Isolation gewöhnt und keinen Anlass, etwas zu ändern. Ich muss auch in Konsequenz akzeptieren, nicht zu verstehen, warum jeden Tag eine neue Nachricht auf mich wartet. Betrachten wir es also einfach als eine Übung darin, das dünne Fädchen des Austausches mit normalen Menschen zu pflegen! ~ð~ Ich bin nicht sicher, ob sich mein Assistent tatsächlich blicken lassen wird. Das Intermezzo vor zwei Tagen ist inzwischen sicher einer ausführlichen Analyse unterzogen worden, vermute ich mal. Tatsächlich hat er sich nach der Dusche mit wackligen Knien höflich, aber sichtlich beeindruckt verabschiedet. Genug Stoff für seine grauen Zellen und seine Phantasie sollte er wohl erhalten haben. Meine Damen finden sich pünktlich ein, tatendurstig, energiegeladen trotz der sommerlichen Hitze, die auch am Frühabend nicht wesentlich nachgelassen hat. Sein Fehlen wird selbstredend sofort kommentiert. Mit einer Antwort kann ich nicht dienen. Andererseits will ich ohnehin mit Achtsamkeitsübungen beginnen, Energie hin oder her. Wir befinden uns passenderweise gerade bei den Atem-Lektionen, als er hereinstürzt, hochrot, verschwitzt, keuchend, ziemlich ausgetrocknet, was die rauen, weißen Stellen um seinen Mund andeuten. "Ah, da bist du ja." Bleibe ich ruhig, schiebe ihn zur Dusche. "Brause dich erst mal lau ab und trink was, in Ordnung?" Er zuckt vor meiner Berührung nicht weg, was ich als gutes Zeichen werte, erledigt auch folgsam, was ich ihm aufgetragen habe. Bei den Gleichgewichtsübungen steht er in der hinteren Reihe, ohne Zappelei, ohne flotte Sprüche, ohne all die kleinen Ausfälligkeiten, die ihn so unbeliebt machen. Ich spüre die Enttäuschung der Damen, dass heute keine Keile angesetzt sind. Ich möchte, dass sie über das Wochenende bis zum nächsten Dienstag die Übungen wiederholen, die ich ihnen vorgeführt habe. Sie sollen sich auch in ihrem Alltag aufmerksam umschauen, Situationen wahrnehmen. "Es ist wie beim Sex, meine Damen." Grinse ich unverschämt und gar nicht korrekt. "Fünfzig Prozent ist Kopfsache!" "Oder Wunschdenken." Murmelt es frech, was mir den üblichen Applaus am Ende der Stunde noch leichter von den Händen gehen lässt. Während die Damenriege sich munter plaudernd in die Umkleidekabine zurückzieht, nähert sich mir mein Assistent, ungewohnt verdruckst, dennoch entschlossen, die Verspätung zu erklären, meine Nachsicht zu erbitten. Dabei schwankt sein Blick unstet zwischen Fußzehen und einem Meter neben meiner rechten Schulter. "Es tut mir leid, also, ich wollte rechtzeitig lospesen, ehrlich! Aber mein Rad war angekettet, ich mein, logo, nur war da noch so ne Kette, n Kumpel hat nicht aufgepasst, ich ruf ihn an, er so, dass er Aldi is..." Ich lupfe unwillkürlich die Augenbraue: da ist wieder diese krude Mischung von Formulierungen, die nicht recht zueinander passen will. Er bemerkt wohl aus den Augenwinkeln meine kritische Reaktion, stammelt, krampft die Hände zu Fäusten, die an der ausgebleichten Ziernaht seiner Trainingshose zucken. "Musste rennen, deshalb war ich zu spät, Entschuldigung..." "Das ist nicht so schlimm. Du warst ja aufgewärmt genug." Antworte ich ihm. "Vielleicht sollte ich dir meine Nummer geben, damit du mich anrufen kannst, wenn etwas dazwischen kommt?" Nun sieht er mir doch für einen Wimpernschlag ins Gesicht, wendet sich ruckartig ab. "Uh...klar...Momento..." Eilig hastet er zu seiner Tasche, fischt ein Mobiltelefon heraus, kein ganz neues Modell, dazu noch ein chinesischer Hersteller, wenn mich der Aufdruck nicht täuscht. Unterdessen schäle ich mir mein Top vom Oberkörper. Er kennt mich so, die Damen sind abgezogen, also keine Schamgefühle zu beschützen, denke ich mir. Bevor ich registriere, wie er mit glühenden Ohren derartig unkonzentriert an meiner Telefonnummer herumtippt, dass ich fast versucht bin, ihm die Arbeit abzunehmen, damit er die Akkuleistung nicht über Gebühr beansprucht. Wirklich schmeichelhaft! Schon ganz schön arrogant von mir, deshalb zu grinsen wie die Katze am Rahmtopf! "Also bist du zu Fuß hier? Kannst du dein Rad noch auslösen, oder klappt das erst morgen?" Mache ich Konversation, während ich inspiziere, wie ungelenk und steifbeinig er zu seiner Tasche zurückkehrt, um den mobilen Kommunikationsknecht zu verstauen. "Nein, nee, latsch da morgen hin, echt ätzend." Brabbelt er, zögert unschlüssig, kehrt mir den Rücken zu, wägt vermutlich ab, ob er es ohne größeres Aufsehen in durchgeschwitzten Klamotten bis zur Tür schafft. Oder ob...? Ich pirsche mich auf lautlosen Sohlen heran, lege einfach meine Rechte auf seinen kontaktfreudigen Spielkameraden. Er winselt kläglich, die Augen zugekniffen, die Fäuste geballt. "Machen wir's uns gemütlich, hm?" Schmunzele ich, weil er so jung und verschreckt wirkt, ganz das Gegenteil zu seinem sonst proklamierten Image. Jetzt schlägt er doch die Augen auf, feucht überzogen, den Tränen nahe. Mir vergeht selbst der milde Spott, weil er so kläglich aussieht, nicht weiß, was er erbitten oder doch besser abwehren soll. "Alles okay." Höre ich mich selbst raunen, ihm über eine entflammte Wange streicheln. Da bin ich es, der auf die Fußballen steigt, ihn küsst. ~ð~ [Ich habe das neue Abenteuer schon gelesen. Es hat mir sehr gut gefallen. Hinsichtlich der Fachliteratur verfolge ich hauptsächlich die Publikationen in Online-Magazinen. Es gibt auch verschiedene Fachforen im Internet. Darf ich fragen, was Deine Fachrichtung ist?] Ich bin versucht, triumphierend eine Faust zu recken. Gut, ich werde zwar erst Morgen wieder eine neue Antwort erhalten, aber er IST interessiert! Sonst hätte er ja wohl nicht unser Gespräch ausgedehnt, oder? Frohgemut tippe ich also meinen angestrebten Abschluss ein, und, damit sich unser Gespräch nicht in biographischer Statistik erschöpft, die Frage, ob er Lust hat, sich vielleicht eine Amateur-Aufführung zu einem Jules Verne-Roman im Park anzuschauen. Gewagt, zugegeben, aber schlimmer als eine Absage kann es ja nicht werden, oder? ~ð~ Wenn er sich entschlossen hat, ist an seinem Enthusiasmus nicht zu zweifeln. Inzwischen hat mein Assistent beeindruckende Fortschritte gemacht, was das Küssen betrifft. Wenn ich mich nicht sehr täusche, gefällt ihm dieser Austausch ungemein. Das überlässt mir natürlich alle Möglichkeiten, mich unterhalb der Halskrause zu verlustieren, herauszufinden, welche Stellen an seinem Körper besonders entgegenkommend auf meine Avancen reagieren. Mir gefällt es von jeher, ordentlich zupacken zu können, auf Muskeln und Sehnen zu treffen. Nur Knochen, mit dünner Haut überzogen, das ist nicht meins, da bekomme ich "Beißhemmung". Muss ich bei ihm nicht fürchten. Offenbar kann er, verflixt beneidenswerte Jugend, noch mit wenig Aufwand viel ausrichten. Seit unserer ersten Begegnung wirkt er sehr viel fitter. GEFÄLLT mir! Ich bediene mich also ungeniert, genieße es, dass er über eine flotte Regenerationsfähigkeit und Durchhaltevermögen verfügt. Wir kommen ordentlich ins Schwitzen, doch selbst zwei Fanfarenstöße hindern uns nicht daran, unter der Dusche noch mal einen von der Palme zu wedeln. Trotzdem spüre ich, dass es noch nicht genug ist, seine hastigen Seitenblicke, während er sich abtrocknet, die flüchtigen Berührungen, wenn wir uns in der Enge streifen. Er ist noch hungrig. Was ich geboten habe, reicht nicht aus, ihn zu erfüllen. Oder liege ich damit falsch? "Du hast noch einen ziemlichen Heimweg, oder?" Schultere ich meine Tasche. "Willst du vielleicht heute bei mir schlafen?" Jetzt kann ich herausfinden, wie es steht, schon wieder, haha. Er zögert, ringt mit sich. Hmm. Vielleicht sollte ich einen Rückzieher machen. Ganz offenkundig hat er keine Erfahrungen. In DEM Tempo muss es ja nun auch nicht laufen, oder? "Ist das wirklich in Ordnung?" Erkundigt er sich, sieht mir tapfer ins Gesicht. "Klar." Nicke ich wie ein feiger Schweinehund. Alles mal laufen lassen, nicht die feine Englische Art! Andererseits reichen vielleicht auch zehn Minuten Flanierstrecke, um die Spannung rauszunehmen. Kein Grund also, sich zu viele Gedanken zu machen. Eigentlich. Trotzdem ertappe ich mich dabei, Konversation zu betreiben, keine nachdenkliche Stille aufkommen zu lassen. "Wo genau wohnst du eigentlich?" Er streicht sich durch die grässliche Haartolle, holt tief Luft, spult eine für mich zumindest unerwartete Schilderung ab. Offenbar ist seine Unterkunft ein aufgesetzter Leichtbau über einer ehemaligen Kfz-Werkstatt. Die Büros sind in Einzelzimmer umgewandelt. Über eine Außentreppe geht es in die Garage, wo man die Dusche und Toilette benutzen kann. Alles sehr spartanisch. Aus diesem Grund auch nur an Männer vermittelt, wobei er aktuell der einzige Mieter ist. Schlechte Isolierung, dünne Wände, keine Kochmöglichkeit im Zimmer, keine Kabel- oder Telefonanschlüsse. Ich bin angesichts der Beschreibung verblüfft, dass die Bauaufsicht so eine seltsame Kaschemme überhaupt als Wohnung zulässt. Kommt mir sehr seltsam vor. "Aber geiler Preis, außerdem eigene Hütte!" Er wechselt mal wieder zwischen den Jargons hin und her, um zu betonen, welche Vorteile sein Luxusleben hat. So unkontrolliert, auf eigenen Beinen, herumziehen zu können, wie man eben Lust hat, die Kumpels mitbringen... Mich beschleichen ernsthafte Zweifel. Welche Eltern würden, wenn sie es wüssten, zulassen, dass ihr Kind in so einer offenkundigen Bruchbude haust? All die Vorzüge, die er anpreist, sind sie eingetreten, tatsächlich, und nicht nur in potentia? Ich sollte besser die Klappe halten. Nachdem ich ihm schon mehr als einmal ausgiebig die Mandeln poliert habe, fühle ich mich berechtigt, Erkundigungen anzustellen. "Haben dich deine Leute schon mal in deiner Bude besucht?" Allzu lange ist er ja noch nicht hier ansässig, wenn ich das richtig begriffen habe. Er zögert, verlagert das Gewicht der Sporttasche auf seiner Schulter ein wenig. "Na ja, meine Mutter ist ziemlich beschäftigt. Ich will auch nicht, dass sie sich Sorgen macht, weil sie denkt, ich käme nicht klar. Was ich ja tue, absolut!" Hastiges Nicken, Selbstbekräftigung. Hmm. "Und dein Vater?" Jetzt schrecke ich nicht mehr zurück. Der großspurige Unsympath und der ungelenke, angestrengte Bursche neben mir sind zwei konträre Seiten einer Medaille, die ich in genauen Augenschein nehmen will. "Meine Eltern sind geschieden, schon lange." Er zuckt unbehaglich mit den Schultern, konzentriert seinen Blick auf seine Füße. "Wäre nicht gut, wenn ich zu viel Kontakt mit ihm hätte." Aha. "Es ist nämlich so, dass mein Vater eine neue Familie hat." Nun klingt er ungewohnt besonnen. "Sogar zwei Mädchen, Cheyenne Charlotte und Siouxie Samantha, meine Halbschwestern. Ich kenne sie aber nicht persönlich, das wäre illoyal gegenüber meiner Mutter." Er schielt verlegen zu mir, wendet sich hastig ab, bleibt im Profil. Du liebe Güte. Es sind nur noch wenige Meter bis zu meiner Haustür. Ich kann nichts erwidern, weil mir zu viel auf der Zunge liegt, dass ich nicht äußern will. "Jedenfalls alles cool bei mir!" Betont er mit Nachdruck. »Nein«, denke ich, »ganz und gar nicht!« Gerade sind wir im Begriff, diese ganze Hollywood-Kulisse abzureißen. Es fehlt nur noch ein kleiner Schritt. Meine Wohnung befindet sich im zweiten Stock, Altbau, zwei Zimmer, das heißt Wohnküche und Schlafzimmer, nicht übermäßig möbliert. Er sieht sich um, nicht gewohnt aufdringlich, sondern zurückhaltend, abwartend. All das aufgesetzte Potenzgebaren fehlt. Ich habe nur ein Bett, dafür ist es für zwei Personen bequem ausgelegt. "Stell deine Tasche ruhig dahin." Gestikuliere ich. "Hast du Durst? Oder Hunger?" Er zögert, also drücke ich ihm selbst eine Banane in die Hand. "Zum Auftanken!" Ich kaue schneller, verstaue die Schale im Restabfall, wechsle mit Wasser aus dem Kühlschrank ins Schlafzimmer, ziehe mich aus. Statt der Festbeleuchtung von der sehr hohen Zimmerdecke illuminiere ich nur ein Teelicht in einer bunt bemalten Schale mit Spiegelscherben, die einen schönen, aber gedämpften Beleuchtungseffekt verursacht. Ich höre, wie er den Abfallbehälter betätigt, sich meinem Beispiel folgend die Finger an der Spüle wäscht. Wir können jetzt ganz artig nebeneinander in die Federn sinken (gut, stimmt nicht, da ich keine tierischen Produkte nutze, weder Daunen noch Rosshaar oder Ähnliches), oder...! Ich wende mich zu ihm herum, durchaus vorbereitet, was amüsante Intermezzi in meinem privaten Reich betrifft. Er versucht ebenfalls, sich zu entkleiden. Nicht so einfach, wenn da schon wieder die Hormone ordentlich Muskeln aufpumpen! Also komme ich ihm entgegen, assistiere, damit kein Feigenblatt sich störend zwischen uns schiebt. Ich gefalle ihm offenkundig, was mir immer noch schmeichelt. Warum auch nicht, es fühlt sich gut an! Wir folgen den eingeschlagenen Pfaden, bis ich, halb auf ihm kauernd, DIE Frage stelle. "Willst du mehr?" Seine Antwort ist eine eindeutige, von hastigen Atemstößen begleitete Aufforderung. ~ð~ Es ist so warm, dass wir in der Hängematte liegen, ich mir die Locken kraulen lasse, was ohne die grässlich ausgewilderte Matte viel besser funktioniert. Tibor wird mein persönlicher Friseur, so viel steht fest! "Liebling." Bemerkt er da. "Es hilft alles nichts, wir müssen uns unterhalten." Oje! "Stecke ich in der Klemme?" Erkundige ich mich besorgt, während ich eilig mein Sündenregister durchforste. Auf die Schnelle springt mir aber nichts ins Gesicht. Tibor lacht leise. Die sonoren Echi vibrieren angenehm unter mir. "Dein Geburtstag in drei Wochen." Löst er das Rätsel. "Was möchtest du gern machen?" "Machen?" Wiederhole ich ratlos, richte mich auf. Ich weiß, dass er in der Dunkelheit sehr viel besser sehen kann, trotzdem gebe ich dem Impuls nach. "Feiern." Ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme. "Little fifteen, wichtiges Ereignis!" "Tatsächlich?" Platze ich hilflos heraus. Offenbart sich hier eine weitere der unzähligen Bildungslücken, die ich flugs stopfen muss? Er fasst mich behutsam unter den Achseln, um mich zu sich hoch zu schieben, Nasenspitze an Nasenspitze. "Also, wie begehen wir dein Wiegenfest, hm?" Ich habe keine Ahnung. Das letzte Mal verlief aufgrund der familiären Spannungen schon auf Zehenspitzen in einem sehr wackligen Waffenstillstand, sodass ich heilfroh war, als die Kaffeetafel aufgehoben wurde. "Wie hast du denn gefeiert?" Kommt mir ein rettender Gedanke. "Mit Hüpfburg und Zauberer. Die muss man allerdings vorher buchen, deshalb ist es ja so wichtig, dass wir uns unterhalten." Mir sackt unhöflich die Kinnlade herab. Hüpfburg? Zauberer?! Tibor lacht wieder, zieht mich in eine enge Umarmung. Ich schmiege mich bereitwillig an, durchaus verwirrt. "Des Rätsels Lösung!" Seine Nasenspitze flirtet frech, während er mich ein wenig freigibt. "Eine Tante mütterlicherseits hat einen runden Geburtstag gefeiert. Alles wurde zusammengelegt, die ganze Bagage auf einen Sportplatz eingeladen. Zur Bespaßung der ungebärdigen Jugend gab's eben die Hüpfburg und einen Zauberer, der sogar diese Luftballontiere eingedreht hat. Außerdem einen Alleinunterhalter an der Orgel mit den schlimmsten Schlagern seit der Erfindung des Gehörsturzes." "...oje..." Murmle ich betroffen. Hört sich nicht nach einem schönen Geburtstag an. "Das fällt unter 'noblesse oblige', oder auch Werwolf-Schmarrn." Erklärt Tibor mir, pflückt meine Hand ab, die ich tröstend auf seine Wange gelegt habe, um meinen Handteller zu küssen. "Repräsentation, weißt du? Der Plan lautete ja, mich zu einem Rudelführer zu trimmen." Ich weiß nicht, was ich entgegnen soll. So ganz verstehe ich diese fremde Gesellschaft noch nicht. "Einhellig der grässlichste Geburtstag aller Zeiten." Ergänzt Tibor in grimmiger Launigkeit. "Alle meine Freunde sind natürlich gekommen. Die konnten nicht glauben, wie MANIERLICH sie sich benehmen mussten!" Was ihm offenbar auch einen gewissen Spaß bereitet hat. "Eine Hüpfburg und einen Zauberer brauche ich nicht." Versuche ich einen kläglichen Spaß. Immerhin bin ich auch ein Grund dafür, dass er keineswegs als Rudelführer mehr in Frage kommt. "Weise Wahl." Schnurrt er kehlig, krault mir den Nacken. "Wie hat Ragnar denn gefeiert?" Suche ich nach einem anderen Vorbild. Ich will ungern eingestehen, dass ich seit langem schon kein Gast mehr bei Geburtstagsfeiern außerhalb der Familie bin. Tibor streichelt in hypnotisch-aufreizender Langsamkeit über mein knorpeliges Rückgrat, rauf und runter. "Er hat Anfang Dezember Geburtstag, also regelmäßig beschissenes Wetter. Alle sind auf der panischen Jagd nach Weihnachtsgeschenken, dazu vorgezogene Weihnachtsfeiern in Firmen und Sportvereinen. Mit anderen Worten, er geht regelmäßig im Trubel unter. Wäre ja auch unverschämt, sich so in den Mittelpunkt zu stellen!" Ergänzt er ätzend-ironisch. "Hat denn niemand...?" Ich breche ab, verwünsche meine Spontanität. Tibor gegenüber bin ich so offen, dass ich mich manchmal vergesse, nicht erst nachdenke, bevor ich den Mund aufmache. "Hmm?" Seine andere Hand zieht meine Kinnpartie nach. "Was hat niemand?" Ich druckse herum, weiß aber genau, dass er mich nicht vom Haken lassen wird. "Ich meine, na ja, hat niemand daran gedacht, ihn zum Rudelführer...?" Als Antwort bekomme ich einen langen, herzhaften Kuss, der mich nach Luft schnappen lässt. "Deshalb liebe ich dich, Varis." Raunt er kehlig an meinen Lippen. "Unter anderem." Aufrichtige Ergänzung, die mir ein Kichern entlockt. "DU siehst richtig hin!" Bevor ich Zweifel an seiner sehr wohlmeinenden Auffassung meiner Fähigkeiten äußern kann, ergänzt er scharfzüngig. "Rag wäre ein viel geeigneterer Rudelführer als ich, aber er ist eben nicht so ein Schönling wie ich!" Das klingt äußerst bitter. "Ich finde, er ist auch attraktiv." Widerspreche ich zaghaft. Nicht ganz so gefällig wie Tibor, etwas grobknochig-kantiger in den Gesichtszügen, eher quadratisch-gedrungener im Körperbau, allerdings nur im unmittelbaren Vergleich! Tibor zieht mich ganz auf sich, sodass ich hastig die Knie abklappe, damit wir nicht zu sehr ins Trudeln kommen. "Das nimmt niemand zur Kenntnis." Knurrt er grollend. "Ich stehe immer in der Sonne, im Weg! Deshalb hat er es selbst auch nie gemerkt!" Ich begreife, lege die Hände um seine Wangen. "Das ist nicht dein Verschulden!" Betone ich energisch. "Es hätte auch bestimmt nicht geholfen, wenn ihr auseinandergegangen wärt! Ihr seid doch die besten Freunde!" Hoppla! Mir schießt Farbe ins Gesicht. Was habe ich da wieder herausgeplappert, ohne nachzudenken?! Tibor schweigt. Ich halte die Luft an, bis mir schwindlig wird. Rasch, entschuldigen? Oder? "Varis." Er wispert kaum hörbar. "Ich werde dich nie verlassen. Und nicht herausrücken. Auf keinen Fall." Es klingt fast kindlich, aber zutiefst entschlossen. Mir läuft eine Gänsehaut übers Kreuz, selbst meine Zehen prickeln. Tibor setzt sich auf. Ich rutsche auf seine Oberschenkel. Es gibt Seegang. "Lass uns aufs Bett wechseln." Raunt er mir zu. Ich nicke bloß mit saltierendem Herzschlag. Flüchtig schießt mir durch den Kopf, dass ja morgen Freitag ist, er arbeiten muss. Doch Vernunft hat Grenzen. ~ð~ Es ist eine Weile her, ich bin aber nicht abgeschreckt oder nervös. Mit Übung und Erfahrung kann man die hinderlichsten Klippen umschiffen. Außerdem bin ich neugierig. Ich will wissen, wie weit ich bei ihm gehen kann. Wie weit er sich selbst gehen lässt. Ist es wie bei den Küssen? Kaum Widerstand, danach Begeisterung, Enthusiasmus, Leidenschaft? Ich bin lüstern, ganz ungeniert. In der spärlichen Beleuchtung registriere ich jedes Winden seines Körpers, die Perlen von Transpiration, höre sein Keuchen und leises Stöhnen, genieße die Hitze, in die ich hilfsmittelbewehrt vordringe, ihn vorbereite. Er bewegt sich in meinem Rhythmus, nach dem ersten Erstarren vor der ungewohnten Empfindung sehr willig. Vielleicht weiß er auch gar nicht, wie er mich abwehren soll. Oder ich bin sehr erfolgreich im Aufspüren all der "Knöpfe", die man drücken muss, um die Bremsen zu lösen. Ist mir auch gleich. Ich spüre einfach, dass ihm gefällt, was ich tue, dass er es will. Also übernehme ich den Job, dringe in ihn ein, feure ihn an, fülle ihn aus. Das ist Sparring, wie ich es liebe! Vollkontakt, alle Segel gesetzt, zum Teufel mit den Riffen! Er krümmt sich, zuckt, bockt, alles unkontrollierte Reflexe, die mich herausfordern. Beinahe gehe ich auch über Bord, als er in Spasmen heftig kommt, mich merklich einkerkert, doch meine Erfahrung greift ein, sodass ich ihn erst freigebe, auf die Seite sacke. Mein lieber Herr Gesangsverein, das war wirklich fein! Alter Reim in meiner Familie, zumeist bei üppigen Familienspeisungen angebracht, wenn unterm Tisch die Knöpfe gelockert werden müssen. Während sich mein Pulsschlag langsam mit meinem Atem wieder auf ein gemächliches Niveau begibt, setze ich mich auf, angle den Tuchspender heran. Normalerweise benutze ich Toilettenpapier für den Alltag, saugstark und halbwegs umweltfreundlich, aber bei zarten Körperpartien darf es auch ein wenig Luxus sein. Ich tupfe also artig ab und trocken, will ihn etwas anders lagern, damit ich auch seinen praktischen Latexfänger abstreifen kann, da höre ich ihn schluchzen. Ach herrje. Er presst die Fäuste vor die Augen, beißt die Zähne aufeinander, aber hier hilft keine Selbstbeherrschung gegen die inneren Erschütterungen. Ich beuge mich über ihn, fasse ihn unter den Schulterblättern, hieve ihn hoch, ziehe ihn in meine Arme. "Alles gut." Raune ich, wie eine tibetische Gebetsmühle. "Alles gut." Nicht gerade der Ausklang des Abends, den ich mir erhofft habe. Andererseits war ich auch gewarnt, richtig? All die kleinen Hinweise, die darauf hindeuten, dass die Show nicht ganz stimmig ist. Es dauert eine Weile, bis er sich halbwegs beruhigt hat, nicht mehr so elend schlottert. Stoffelig, wie ich häufig sein kann, nutze ich die Gelegenheit, das Kondom abzufischen, auch vorne mein unterbrochenes Reinigungswerk abzuschließen. "Glaubst du, dass du stehen kannst?" Ich löse meinen anderen Arm von seinen Schultern. "Machen wir uns frisch, okay?" Er nickt mit gesenktem Haupt, dezent schniefend. "Schön." Schon befördere ich ihn schwungvoll in die Höhe, schiebe ihn ins Bad. Es gelingt ihm tatsächlich, unfallfrei in die Duschwanne zu klettern. Ich sorge mit der Handbrause für Erfrischung. Die trocknet uns fast vollständig an der warmen Luft ab. Die Handtücher müssen kaum Saugkraft beweisen. Ich pflücke das Laken von einer Matratze, reif für die Wäsche, spurlos geht es selten vonstatten. Zu meiner Überraschung greift er beim Beziehen zu, steht nicht nur linkisch in der Landschaft herum. "Mach's dir schon mal bequem, komme gleich." Bescheide ich ihm, fahnde in meinem kleinen Eisfach nach dem letzten Becher Zitronensorbet. Sollte auch gegen raue Kehlen helfen! Mit zwei Löffeln und einem Küchenhandtuch (Raureif-Tropfgefahr!) bewaffnet kehre ich in mein kleines Reich zurück. Er kauert mit angewinkelten Beinen auf der Matratze, den Kopf auf die Knie abgelegt. "Tut dir was weh?" Erkundige ich mich, reiche ihm einen Löffel, als er verschämt hoch blickt. Er schüttelt den Kopf. "Bisschen ungewohnt." Bemerke ich. "Auch hier ist regelmäßiges Training unser Freund." Ja, ich bin nicht sonderlich subtil in meinem eigenen Sündenpfuhl. Nach den ersten Löffeln taut er ein wenig auf, löst die verspannende Haltung. "Entschuldigung." Krächzt er rau. "Wofür?" Hake ich nach. Er zuckt mit den Schultern, sichtlich verlegen. Eigentlich fühle ich mich jetzt wohlig satt und erschöpft, doch ich fürchte, der Schlaf muss noch etwas warten. Er sieht nicht so aus, als wären alle Themen für den Moment ausgesetzt. "Was ist los, Kevin?" Betätige ich mich als Nervensäge. Er seufzt, in sich eingerollt, leckt sich die Lippen, umklammert den Löffel wie einen Talisman. "Ich bin schwul, oder?" Aha. Es klingt resigniert und verzweifelt zugleich. Als könne er sich noch nicht entscheiden, welcher Emotion er nachgeben wird. "Weil du bei Analsex richtig abgehst?" Ich schnalze mit der Zunge. "Die Meinung teile ich nicht! Ist ohnehin eine ziemlich alberne Etikettierung, weißt du? Wenn zum Beispiel eine Person sehr gut mit einem Dildo oder einem Vibrator umgehen kann, hättest du auch deinen Spaß. Ganz ohne die Frage, wer oder was die andere Person ist, stimmt's?" Nun starrt er mich an, fassungslos, stellt sich vermutlich im Geiste die Situation vor. Gut so! "Was ich damit meine: wieso soll man sich über eine andere Person definieren?" Reduziere ich meine Sendungsenergie ein wenig auf moderate Töne. "Egal, ob schwul, bi, trans oder gar nichts, entscheidend ist doch, wie es jedem einzelnen am Besten gefällt. Dass man Leute findet, mit denen man sich sein Vergnügen gönnen kann." Er zweifelt, dreht den Löffel in den Händen. "Okay." Gebe ich zu. "Die Chancen sind etwas höher, dass du bei Männern, die gleich das richtige Besteck mitbringen, etwas leichter Spielkameraden findest. Aber da wählst du ja auch aus, oder? Muss schließlich alles passen!" Schön, ich gebe ein wenig an. Wozu sind Erfahrungen und Übung auch sonst gut?! "Es ist nur so, dass gar nichts mehr passt." Flüstert er, den Blick auf die Matratze geheftet. Klar, die lächerliche Macho-Chauvi-Aufreißnummer, die dämlichen Sprüche, das ganze Gehabe... "Vorher hat's auch nicht gepasst." Feuere ich gnadenlos zurück. Er lächelt kläglich, wischt sich über die Augenwinkel. "...tut mir leid.." Entschuldigt er sich wieder. So kann ich nicht gemütlich einschlafen! Ich fasse grob unter sein Kinn, hebe seinen Kopf an, dränge ihm meine Zunge auf. Er zögert nur kurz, spielt mit, schlingt die Arme um meinen Nacken. "Alles gut!" Verkünde ich drohend, nachdem ich ihn auf die Matratze gedrückt habe. Für heute Nacht muss diese Einschätzung der Lage ausreichen! ~ð~ Natürlich muss ich warten, bis Konstantin mir auf meinen Vorschlag antwortet. Trotzdem bin ich aufgekratzt, verliere kein Wort darüber, dass mein notorischer Cousin gestern durch die späten Aktivitäten die Schäfchen vom Zaun vertrieben hat. Varis schläft offenbar noch, das arme Kerlchen! "Siehst ganz schön selbstzufrieden aus." Kommentiere ich den hellwachen Zustand meines Gegenüber. "Kurz vor Wochenende, Sonnenschein, was will man mehr?" Er bleckt sein Gebiss. Grmpf. "Weiß Varis schon, wie er seinen Geburtstag feiern will?" Gieße ich ein wenig Wasser in den Wein. "Hüpfburg und Zauberer sind schon mal außen vor." Natürlich lässt sich Tibor nicht so einfach aus der Ruhe bringen. Gegen meinen Willen muss ich undiplomatisch grinsen. "Hast du ihm davon erzählt?" Er schaufelt aufgeweichte Flocken, feixt mit geblähten Backen. "Na, uns wird schon was einfallen." Gebe ich versöhnlich nach. Weil ich hin und wieder meinen niederen Impulsen folge, ergänze ich. "Kannst dir ja beim Großeinkauf Gedanken machen. Bist nämlich an der Reihe, mein Freund!" ~ð~ Ich wache zeitig auf, weil ich eben nicht allein bin. Da scheint mein innerer Wecker sich selbst neu zu justieren. Er schläft noch, in die dünne Decke eingerollt, halb unter dem grässlichen Mopp verborgen, der auf seiner Schädelplatte haust. Ich streife mir Shorts über, wiesele ins Bad, bringe die Katzenwäsche hinter mich, trolle mich in die Wohnküche. Frühstück muss her, am Besten für zwei. Wann fängt eigentlich sein Unterricht an? Ich habe keine Ahnung. Was ist mit frischen Klamotten? Hat er überhaupt Mäuse, um sich mittags zu versorgen? Hmm. Ich bin doch etwas aus der Übung. Andererseits bringe ich normalerweise die Bettfedern mit Leuten zum Schwingen, die alle auf sich selbst aufpassen können. Hier aber gilt Welpenschutz, da gibt es nichts zu deuteln. Ich packe ihm tatsächlich ein Vesperpaket, suche Klamotten raus, die er sich leihweise überziehen kann, wecke ihn behutsam. "Aufstehen, Kamerad, die Sonne putzen!" Er klappt verschreckt hoch, blinzelt mich an, wechselt blitzartig von Verwirrung, Orientierungslosigkeit zu Verlegenheit und Panik. "Rasch, ins Bad, hab dir was zum Anziehen rausgelegt!" Ich will keine schamhafte Betretenheit aufkommen lassen. "Essen fassen. Denk dran, du musst zur Penne laufen!" Artig, wenn auch ein wenig hüftlahm kommt er meinen Aufforderungen nach, hockt sich mir gegenüber auf den Klappstuhl, nervös. "Vielen Dank! Und Entschuldigung für die Umstände." Das klingt gar nicht nach seinem gewohnten Prahl-Stakkato. Sieh mal einer an. "Das sind keine Umstände. Jetzt greif ordentlich zu. Depots füllen nach sportlichen Höchstleistungen ist wichtig." Grinse ich unverschämt über die kurze Tischdistanz. Er errötet, lächelt, schaufelt brav. Na, geht doch! ~ð~ Wieder eine Nachricht. Es ist mir schon zu einer Gewohnheit geworden, mein Telefon entsprechend zu überprüfen. Eine Veranstaltung. Ich glaube, ich habe davon gelesen. Ich bin selten in Versuchung, mich dazu aufzuraffen. Natürlich klingt es kurzweilig und amüsant. Der Aufwand ist überschaubar, der Platz ausreichend. Ich muss nicht fürchten, in einer großen Menschenmasse eingekeilt zu werden. Auch Nahrungsaufnahme ist kein Thema. Da frage ich mich, ob es sein muss, wäge ab, komme final zur Erkenntnis, dass es zwar ganz nett wäre, ich aber auch ohne kann. Also bleibe ich zu Hause, gönne anderen das Vergnügen. Schließlich habe ich schon mal ein Open Air-Theater gesehen. Soll ich ihm deshalb absagen? Wenn ich zusagte, wäre ich verpflichtet, zu erscheinen. Andererseits, wäre es mit dem gemeinsamen Besuch getan, oder erfordern die Konventionen noch mehr? Essen, Trinken? Andere Aktivitäten? Die Lektüre, die ich mir regelmäßig zu Gemüte führe, beschreibt nur selten alltägliche zwischenmenschliche Begegnungen. Vermutlich werden solche Banalitäten auch nicht thematisiert. Alle wissen ja eigentlich, wie die Spielregeln sich gestalten. Ich nicht. Ich bin unsicher. In amerikanischen Spielfilmen werden immer Regeln erwähnt, wann man anrufen kann/muss/soll. Ausgehen nach dem Kinofilm, aber an der Bar trinken vor dem Theaterbesuch. Gilt das auch für Musicals? Was ist mit all diesen ungeschriebenen Regeln, welche Steigerung erfahren die Verabredungsorte? Wann bestellt man bloß Salat, wann darf es mehr sein? Dessert, ist das ein Ja für Sex? Ich begreife das alles nicht. Oder ob es sich jenseits von Leinwandfiktion tatsächlich so verhält. Wenn ich ihn begleite, oder eher, mich dort mit ihm treffe, hat das mehr zu bedeuten als tatsächlich ein gleichzeitiger Theaterbesuch in zwangloser Atmosphäre? Es ist so schwierig. Lautet die Krimi-Frage "cui bono?", muss ich mich auf "wie schlimm kann es kommen?" konzentrieren. Was kann passieren, im schlimmsten Fall? Risikoabwägung. Sollte nicht so anspruchsvoll sein, mir gebricht es jedoch an Phantasie, was zwischenmenschliche Variationen in Ereignissen betrifft. Ich könnte mich lächerlich machen, was nicht so schlimm wäre, wenn niemand da ist, der mich kennt. Könnte also jemand aus der Firma vor Ort sein? Ich durchforste meine Erinnerungen, ob Andeutungen auf Interesse an einer solchen Aufführung geäußert worden sind. Wenn ich mich nicht exponiere, kann mir eigentlich nichts passieren. Ich muss mich natürlich informieren: wie kommt man hin und weg, wo sind Notausgänge? Wie läuft es mit den Tickets? Ist Bargeldzahlung möglich? Wo sind Toiletten, wie verhält es sich mit Verzehrzwang? Zeit gewinnen. Ich kann nicht gleich antworten, eine Entscheidung treffen. Ist nicht unhöflich, sich Bedenkzeit zu erbitten, oder? Immerhin findet die Vorstellung ja erst in einigen Tagen statt. Gleichzeitig sollte ich ein anderes Thema anschneiden. Was ist gerade im Gespräch? Ach ja, Fortsetzung einer modernen Agenten-Serie! Aber nicht zu direkt werden, sondern hübsch allgemein, es soll ja positiv bleiben, trotz meines Zögern, nicht wahr? Obwohl es nicht zu heiß ist in meinem schattigen Plätzchen, fühle ich mich angestrengt. ~ð~ Ich bin nicht sonderlich überrascht, als er nach dem letzten Kurs vor der Tür wartet, mit Rad, dazu einer Tüte, die die von mir geliehenen Kleider enthält, handgewaschen, in der trockenen Sommerhitze flugs getrocknet. "So sehr hättest du dich damit nicht beeilen müssen." Necke ich ihn. "Ich muss deshalb nicht nackt herumlaufen." Er errötet. Der Großmeister aller plumpen Anmachsprüche. "Danke fürs Leihen." Haspelt er verlegen. "Überhaupt, danke für alles. Wirklich...danke. Danke sehr." Ich bleibe stehen, mustere ihn. Das ist also der Junge hinter dem lächerlichen Abziehbild. Er wirkt verloren, klammert sich an den Fahrradlenker, blinzelt nervös. "Soll sehr heiß werden über das Wochenende." Formuliere ich bedächtig. "Willst du bei mir bleiben?" Nicht nur, damit ich dich nach Lust und Laune vernaschen kann, sondern auch herausfinden, was du alles versteckst. Er zögert, rollt die Schultern, als könne er seine Anspannung abschütteln. "Geht~geht das auch wirklich in Ordnung? Störe ich nicht?" Ich lächle versonnen. "Ich würde dich nicht einladen, wenn's anders wäre." Antworte ich ihm, lege ihm eine Hand auf den Rücken. "Lassen wir's uns gut gehen, okay?" Jetzt bin ich wirklich gespannt, was ich entdecken werde. ~ð~ Mit einer schnellen Zusage habe ich nicht gerechnet. Er hat ja nicht umsonst den Ruf eines Eremiten. Zumindest gibt es noch keine definitive Absage. Das ist ein gutes Zeichen, muntere ich mich auf. Jetzt gilt es, eine gescheite Antwort zu finden, was die Fortsetzungsserie betrifft. Ich kenne die jüngste Version nur aus den Feuilletons. [Freut mich, dass du es dir überlegen willst! Was die Serie betrifft, da kenne ich bloß die kurze Zusammenfassung des Inhalts. Mir fehlt ein wenig die Abenteuerromantik, aber das ist ja Geschmackssache. Planst du, dir die Folge im Kino anzusehen?] Soll ich noch etwas hinzufügen? Wird er mir überhaupt morgen antworten, oder muss ich mich bis Montag gedulden? Ich seufze, höre Tibor GRINSEN! Also lupfe ich eine Augenbraue, beschließe, ihm ein wenig zuzusetzen. Er hat ja offenbar Reserven. "Was unternimmt man mit jemanden, der am Liebsten drinnen ist?" "Außer dem Offenkundigen, was nicht mit Migräne kompatibel ist?" Gurrt er zurück. Wie gewohnt springt Varis mir bei, der gerade über der Einkaufsliste sitzt. "Man kann zusammen kochen oder backen! Musik hören oder Gesellschaftsspiele machen. Puzzlen. Basteln." Zählt er auf. "Manche werkeln auch gern an alten Geräten herum. Oder Wellness, improvisiert!" Er begeistert sich richtig. Tibor grätscht dazwischen. "Was riecht und schmeckt, fällt schon mal flach. Wie wäre es mit Vorlese-Stunden? Er mag Bücher, hören kann er noch, viel Platz in dem Kellerloch braucht es auch nicht." Varis schenkt ihm einen enttäuschten Blick. Woraufhin zu meiner völligen Verblüffung mein notorischer Cousin die Segel streicht, die Waffen streckt. "Schon gut, schon gut! So einfach wird er dich nicht in seine Hütte reinlassen." Es dauert ein wenig, bis der Groschen fällt. "Du denkst, dass ich ihm an die Wäsche will?!" Platze ich entgeistert heraus. "Wieso nicht?" Tibor zuckt mit den Achseln. "Windschnittig ist er ja, ganz nett anzuschauen auch." "Für so was interessiert er sich aber nicht!" Schimpfe ich empört los. Das habe ich durchaus zwischen den Zeilen verstanden, ein Teil meiner Menschenkenntnis funktioniert schließlich. "Bring ihn halt behutsam auf den Geschmack." Schlägt er süffisant vor. "Falls die Lektüre mal zu öde wird." "Depp!" Fauche ich, erhebe mich würdevoll. Ich brauche erst mal Bewegung, so viel ist sicher, sonst rutschen mir noch ganz andere Dinge heraus! ~ð~ "...bist du sicher, dass...?" Mein Varis zögert. Na, überzeugt bis zur Feuerprobe bin ich natürlich nicht, aber dass sich Rag für irgendwen so sehr interessiert, kommt auch nicht alle Tage vor. Wenn's nicht klappt, nun ja, ich habe ein dickes Fell. Deshalb schnappe ich mir auch rasch das Mobiltelefon. Nicht abgeschlossen, sehr nachlässig! Varis keucht. Ich lächle entschlossen. [Hast Du Lust, gemeinsam etwas zu schmökern? Ich würde dich gern treffen und näher kennenlernen. Und keine Angst, ich bin manierlich und stubenrein. :-)] "...oje..." Murmelt mein Varis besorgt. "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt." Zwinkere ich ihm zu. Außerdem ist das Kellerloch außer Schussweite, falls sich die nächste Empörungswelle hochschaukelt. ~ð~ Kapitel 6 - Annäherungen Er zögert auf der Türschwelle, unschlüssig, gehemmt. Mein Eindruck von ihm kümmert ihn wohl sehr. Ich packe einfach sein Handgelenk, ziehe ihn hinter mir her. "Magst du duschen? Ich leg dir ein Handtuch raus." Gebe ich die Richtung vor. "Das~das hab ich schon. Vorher." Druckst er herum. Demonstrativ grinse ich. "Perfekt! Vorausschauendes Handeln, gefällt mir!" Nun huscht doch ein schiefes Lächeln über seine angespannten Züge. Ich baue mich vor ihm auf, blicke hoch. "Wollen wir ne Runde Freistil absolvieren?" Er nickt eilig, läuft wieder rot an. "Fein." Ich mache kehrt, entferne geschäftig die Decken, breite ein altes Strandlaken aus, sortiere Gleitgeltuben und den neuen Karton mit den Gummis. Ich bin ein Großpackungs-Fan. Unerwartet finde ich mich von hinten umschlungen. Keine Attacke, darauf hätte ich reflexartig reagiert. Er hält sich einfach nur fest. "Nervös?" Streiche ich über seine Unterarme. "Kannst dir wünschen, was wir machen." Aber ich lasse ihn gewähren, sich anschmiegen. Wir haben Zeit. "Ich glaube, ich bin doch schwul." Flüstert er beklommen. "Finde ich nicht tragisch." Posaune ich entschieden. "Kommt mir zum Beispiel gerade ziemlich entgegen. Rein ausstattungstechnisch." Ja, ich weiß, grober geht's nimmer! Mit der bloßen Erkenntnis einer Tendenz auf der langen Skala ist es ja nicht getan. In der Rückschau fühlt man sich häufig sehr blöd und extrem peinlich. Ich biete also einen Rettungsring an. "Ist jetzt aber nicht so, dass du damit hausieren gehen musst. Ist schließlich nur wichtig, wenn's um das gemeinsame Vergnügen geht. Sonst hat sich ja nichts geändert." Große Not-Lüge. "Ich habe bisher bei so ziemlich allem gelogen." Murmelt er an meinem Nacken. "Eine aufgehübschte Version angeboten." Schlage ich als alternative Formulierung vor. Er kichert leise, seufzt. "Das ist nicht so tragisch, weißt du?" Ich streiche beruhigend über seine verkrampften Unterarme. "Wir machen alle Fehler, uns häufig selbst auch was vor. Das gehört einfach dazu, um Möglichkeiten zu erproben, um zu lernen. Heute schlauer als gestern." Er schweigt, grübelt offenbar, wie viel Selbstanklage er zulassen muss. "Meistens gibt es ja auch Gründe." Helfe ich aus. Warum man zum Beispiel so tut, als sei man ein chauvinistischer Macho, der wie ein Seemann ohne Buddel auf Landgang breitbeinig herumschwankt, der vorgibt, er beherrsche Grammatik und Wortwahl nur auf Reklame-Niveau mit arg begrenztem Platz in der Zeile. "Wir können von vorne anfangen." Schlage ich vor. "Von vorne?" Er klingt verunsichert. "Ja!" Verkünde ich im Brustton der Überzeugung. "Stellen wir uns einfach vor, ich hätte ein Auge auf dich geworfen, du wärst auch interessiert. Nun sind wir hier." Schön, nicht das originellste Szenario, aber ich habe Lust auf Sex, und zwar bald. Seelenstriptease, bitte hinten anstellen! Deshalb drehe ich mich energisch in seiner Umarmung, packe seine Rechte, erprobe meinen Charme. "Hallo, ich bin Oriol. Freut mich, dass du hier bist." Er blinzelt, erwidert meinen Händedruck. "Ähem, Kevin. Ich freue mich auch. Danke, dass ich hier sein darf." Hölzern, aber ein Anfang. Ich ziehe alle Register, volle Fahrt voraus, lege ihm demonstrativ die Arme um den Nacken, gehe auf Tuchfühlung, senke die Lider, schnurre im Bass. "Wie wär's mit nem Kuss?" Der geübte Verführer würde stöhnen ob des frontalen Kitsch-Angriffs. Mein ehemaliger Prahlhans dagegen läuft rot an. »In eine Schwulenkneipe darf ich ihn auf keinen Fall mitnehmen!» Geht mir durch den Kopf. Er würde locker einen Harem anziehen. Demnach praktische Bildung, auch zur Abwehr potentieller Interessenten! Ich ziehe ein wenig, steige auf die Zehen: es passt perfekt. Gierig, wie ich bin, belasse ich es natürlich nicht bei einer Kostprobe, sondern lade ihn ein, mal so richtig zu explorieren, welche Möglichkeiten sich bieten. Damit verfliegt auch seine steife Körperhaltung, was mir zupass kommt. "Machen wir's uns doch bequem." Schon habe ich ihn auf die Matratze bugsiert, bediene mich. Das T-Shirt wird abgepult, ich gehe auf Expedition, selbstredend im gnadenlosen Vorteil durch die Kenntnis seiner Hotspots. Die Hose wird ihm rasch eng, weil ich mich über ihm winde, um möglichst viel Reibung zu erzeugen. Dazu schnurre ich noch guttural. Wohlbehagen will man schließlich kommunizieren. Er hat keine Erfahrung, das weiß ich ja, auch nicht mit Frauen. Sonst wäre er nicht so leichte Beute für den mittel-gewieften Aggressor. Er lässt sich verführen, reagiert, indem er meine Handlungen zu spiegeln versucht, hat noch nicht gelernt, sich zu verstellen. Obwohl es nicht das erste Mal ist, spüre ich, wie er sich mir überlässt, vollkommen auf mich vertraut. Er ist zwar tapfer bemüht, auch mir etwas Gutes angedeihen zu lassen, was jedoch schwierig ist, wenn man selbst derart unter Beschuss steht. Ich mache nämlich so weiter, wie ich begonnen habe, lausche darauf, was ihn richtig in Fahrt bringt, verführe ihn nach Strich und Faden, vernasche ihn anschließend. Das funktioniert zuverlässig, auch bei Neu-Bekanntschaften. Bei ihm weiß ich, was er wirklich mag, also bekommt er den Service. Im Fiebertaumel der Erregung kann ich ihn mühelos präparieren. Er bewegt sich wie zuvor schon im Rhythmus meiner Stöße, sein Keuchen ein dezent verzögertes Echo. Mich macht es auch an, aber hallo! Das Spiel seiner Muskeln, die Transpirationsperlen, die Gewissheit, dass ich zupacken kann und darf, seine unerwartete Beweglichkeit und vor allem die LUST, genau das hier mit mir zu wollen. Perfekte Konditionen für Runde 1! ~ð~ "Was hast du herausgefunden?" Ich komme gerade aus dem Bad, unser Zimmer nur im sehr gedämpften Licht der Straßenlaterne von der Dunkelheit abgegrenzt. Varis hat das Fenster geöffnet, zeichnet sich als schmale Silhouette davor ab. Ich sehe natürlich gut genug, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. "Schlaues Kerlchen." Schnurre ich anerkennend, ziehe ihn in meine Arme. Sein Kinn drückt sich in meinen Brustkorb, während er hoch blinzelt, ohne Nachtsicht eines Werwolfs im Nachteil. "Ich habe ein wenig im Trüben gefischt." Warum soll ich auch Ausflüchte suchen? Gibt genug Leute, die einem gern was erzählen wollen, Gerüchte, Klatsch, Tratsch, garniert mit ihrer unmaßgeblichen eigenen Meinung. Varis seufzt leise. Er befürchtet Komplikationen. "Der Knabe lebt von seiner gesamten Familie entfremdet. Die Gemeinschaft hier hat zwar ein Auge auf ihn, weil uns Isolation nicht gut tut, doch der ist unauffällig. Keine Freunde, keine Intimitäten. Arbeitskontakte, ja, aber keine Hobbys mit Vereinsanschluss." "Oje." Murmelt mein Liebling mal wieder sehr mitfühlend. "Außerdem scheint er asexuell zu sein." Das ist jetzt der heikle Part. "Null Anziehungskraft. Gar nichts. Und zwar schon seit immer." Wiederhole ich ein Zitat aus der Familie. "Ist das möglich?" Er klingt weniger erstaunt als beklommen. "Klar, wieso auch nicht?" Mich ficht das nicht sonderlich an, alle nach der eigenen Fasson. Oder auch nicht. Hier wird's bloß deshalb schwierig, weil mein werter Cousin vielleicht seine Libido noch nicht aufs Altenteil verabschieden will. "Willst du, dass er Ragnar eine Abfuhr erteilt?" Ohne Verurteilung, betont neutral. Mit meinem Varis zu streiten wird wirklich herausfordernd, weil er mir immer noch eine zweite und dritte Erwägung meiner Motive zugesteht. Ich muss mich also zusammenreißen. "Nicht unbedingt." Gestehe ich, massiere behutsam seine knochigen Schultern. "Ich habe nur das Gefühl, dass die beiden aus mangelnder Übung und aus manischer Diplomatie zu viel umeinander herumtanzen. Immer nur mit Samthandschuhen und auf Zehenspitzen, das führt häufig zu Missverständnissen und dem totalen Rückzug aus reiner Rücksichtnahme!" Varis schmiegt die Wange an meine nackte Brust. Seine Löckchen kitzeln mich dabei herausfordernd. "Du hast recht. Das wäre eine Schande." Pflichtet er mir leise bei. Ich rolle mich ein wenig ein, um seinen gestutzten Schopf zu busseln. "Ich weiß nicht, was Rag braucht." Gestehe ich ein. "Wahrscheinlich weiß er das nicht mal selbst. Irgendwas ist an diesem Konstantin dran, das ihn interessiert. Ich schubse bloß ein wenig." "Aha." Kichert Varis nachsichtig, drückt mich ein wenig fester. "Wir halten uns ab jetzt raus, warten ab, richtig?" Die Botschaft ist angekommen. Ich verzichte aber auf einen Salut, sondern schnappe mir meinen Liebling, lupfe ihn an, damit wir noch ein wenig in der Hängematte kuscheln können. Vielleicht, wenn es immer noch so warm ist, im Bett ein wenig Kalorienumbau betreiben, Nahrungsenergie in Bewegungsenergie. ~ð~ Ein nicht zu unterschätzender Vorteil beim Horizontal-Tango ist Beweglichkeit. Ungeachtet seiner vorher präsentierten Ungelenkigkeit, des gruseligen Timings, der fehlerhaften Distanzeinschätzung erweist sich Kevin einmal mehr als begeisterungsfähiger und geschmeidiger Gespiele. Von vorne, frontal, ist nicht jedermanns Sache. Für den richtigen Eintrittswinkel muss der eine die Rolle rückwärts annähernd beherrschen, der andere stabile Knie trotz federnder Matratze beweisen. Man kann's auch anders gestalten, mit ein wenig sportlicher Herausforderung für die Selbstbeherrschung. Ich lagere also bequem mit leicht angewinkelten Beinen, mein von den genossenen Wonnen noch zutraulich gestimmter Meisterschüler mir gegenüber. Er soll die Beine aufstellen, die Fersen rechts und links neben mir richtig in die Federung stemmen, sich selbst den gewünschten Spaß verschaffen. Selbstredend stehe ich "meinen Mann", weil schon das Spiel der Muskeln und Sehnen vor meinen Augen extrem lecker ist. Ein wenig helfe ich schon, keine Frage, damit das Einlochen funktioniert. Danach liegt es an ihm. Er bohrt die Schulterblätter in die Matratze, initiiert einen Hüftschwung, der Elvis Konkurrenz macht. Mir hängt sich fast die Kinnlade aus vor Verblüffung. Mein lieber Herr Gesangsverein! Die Vögelchen höre ich zwar nicht singen, aber ich bin unmittelbar stark engagiert, fasse ihn schließlich unter, beschleunige, bevor mir der Schädel platzt. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich sortiert habe, aufsetzen kann, nach Tüchern angle, auch die Latexlümmel entferne. Dieses Mal schluchzt er nicht, was mich erleichtert. Ich bin es, der sich bedient, indem ich mich ausstrecke, ihn auf mich ziehe, von oben bis unten großflächig bestreiche. So einen Partner wie ihn hatte ich noch nie! ~ð~ Ich begleite Tibor natürlich beim Einkaufen, denn das ist ja auch unsere gemeinsame Zeit. Auf dem Hinweg habe ich Platz auf dem Gepäckträger, auf dem Rückweg stapeln sich da die Einkäufe. Er schiebt, eine Hand auf der Mitte der Lenkerstange, damit er Händchen halten kann. Mir ist das nicht so wichtig, denn es guckt immer mal wieder jemand komisch, doch ihm bedeutet es viel. Ich bin froh, dass heute niemand schräg guckt, weil es Tibor davon abhält, böse Blicke zu versenden, abgründig zu knurren. Zunächst habe ich diese Werwolf-Geschichte für dubios gehalten. Niemand, der ihn mal diese Laute hat produzieren hören, würde sie in Zweifel ziehen: er klingt WIRKLICH wie ein Wolf. "Hast du schon eine Idee?" Erinnert er mich. Mein Geburtstag, richtig. "Es wäre nett, wenn wir zusammen feiern könnten." Wage ich einen Anlauf. "Mit Ragnar und vielleicht euren Freunden..." Die vermutlich nicht besonders gut auf mich zu sprechen sind, weil ich ihnen ihre Ausflüge mit Tibor als Damen-Magnet verhagelt habe. "Bah! Die sind so simpel gestrickt! Wird dir das nicht zu öde?"" Er grollt. Ich zucke mit den Schultern, weiche seinem Blick aus. Tatsächlich langweile ich mich schon ein wenig, weil sie sich nur für Dinge interessieren, die mir nicht viel sagen. Ich gehe nicht aus, ich tanze nicht, ich trinke keinen Alkohol, habe weder Auto noch Führerschein, auch keine tolle Hightech-Ausrüstung zu Hause. Andererseits weiß ich auch nicht, wie man so richtig feiert. Ich will niemandem das Wochenende verderben. "Auf alle Fälle feierst du mit mir!" Beschließt Tibor grimmig. "Ich lasse mich nicht ausladen!" Erschrocken wende ich den Kopf, ein "das würde ich nie!" auf den Lippen, da hat er sich schon runter gebeugt, küsst mich. Zwinkert herausfordernd. "Ich denke nach." Verspreche ich lahm. "Wir könnten zum Beispiel eine Waffel-Torte machen." Er lächelt, balanciert das vollgeladene Fahrrad mühelos aus- "Im Garten Lichter aufhängen, Outdoor-Spiele ausleihen. Ich glaube, ich habe auch noch irgendwo bunte Kreide." "Das klingt toll!" Staune ich ihn an. "Wirklich, das würde ich gern machen!" Er schmunzelt. "Wir haben ja schon mal einen Plan." Ich male mir gleich im Geiste aus, was wir brauchen, wo man was unterbringen könnte im Garten, wie viel Geld wohl nötig ist... Merke erst mehrere Meter später, dass alles ein wenig nach Kindergeburtstag aussieht. "Was ist?" Er registriert meinen Stimmungswandel sofort. Verwünschter Werwolf-Instinkt! "Findest du es..." Ich atme tief durch. "Nicht etwas kindlich?" "Keine Spur!" Schießt er prompt zurück. Nicht, wie man vermuten könnte, weil es sein Vorschlag war. Er hat geahnt, was MIR gefällt, es vorgeschlagen, weil ich es selbst nicht erkannt habe, ist nun in Verteidigungshaltung, um mich mit Argumenten auszurüsten, falls andere die Gestaltungsideen abtun könnten. "Gefällt dir das wirklich auch?" Gehe ich nicht auf die Details ein. Er ist schließlich erwachsen, hat mehr Erfahrungen und auch einen anderen Geschmack von der Welt genossen als ich. "Tut es." Tibor schiebt unvermindert weiter. "Und zwar um Etliches mehr als das übliche Zeug von Herumsitzen, sich das Maul zerreißen, viel zu viel essen, noch mehr trinken, aus der Rolle fallen und Blödsinn veranstalten. Davon habe ich genug gehabt. War nicht amüsant." "Warum..." Hastig schlucke ich den Rest herunter. Lächerlich möchte ich mich eigentlich nicht machen. "Warum tun's so viele immer wieder, spotten über einfache Spiele, während sie sich selbst zum Affen machen und unerträglich albern bis abstoßend sind?" Gegen Tibors Geistesblitze ist kein Kraut gewachsen. Er grinst, als er meine entgleiste Miene goutiert. "Ehrlich, mein Liebling, ich weiß es nicht. Die Frage habe ich mir auch gestellt, weil's mir überhaupt nicht 'erwachsen' und 'cool' vorkam. Ich habe mich entschlossen, den Mist nicht mehr mitzumachen. Wir haben Spaß miteinander, schaffen für uns schöne Erinnerungen. Das zählt." Ich drücke seine Hand, bin froh, dass er mich gefunden hat. Weil ich ihn so sehr liebe und es so oft nicht über die Lippen bringen kann. ~ð~ Etwas stimmt nicht. Es sind zwei Nachrichten und da ist ein Bild-Symbol. Ich überprüfe die Absendeinformationen. Dieselbe Nummer, nur eine kurze Zeitspanne dazwischen. Aber die zweite Nachricht ist so direkt, übertritt die Grenzen, die wir gezogen haben. Es macht mich nervös. Will er sich zu mir einladen? Wo kann man draußen lesen? Wieso will er mich kennenlernen? Manierlich und stubenrein, also in geschlossenen Räumen... Es bringt mich ganz durcheinander. Kann es sein, dass er ein erotisches Interesse an mir hat? Bin ich nicht vermessen, seine Fragen so zu verstehen? Oder mache ich mich doch lächerlich? Es stört meinen wochenendlichen Frieden, so viel ist sicher. Ich kann nicht einfach in meine Lieblingsgeschichten abtauchen, von Traum zu Traum gleiten, in andere Welten und Dimensionen reisen. Immer wieder zieht diese unerledigte Angelegenheit mich zurück. Was tun? ~ð~ Ich wache auf, weil mich seine Morgenlatte streift, als er seine Position leicht verändert. Ziemliches Schlamassel. Beide Bettdecken exiliert, auch die Kopfkissen, das Strandlaken ein Knäuel, dafür neben mir ausgestreckt, von Mutter Natur sehr appetitlich gestaltet, mein Wochenendgast. Jugend ist schon was Feines. Ich erhebe mich, husche ins Bad, Katzenwäsche und Gurgeln, schließe eine kleine Wette mit mir ab: wenn er noch so aufreizend schlummert, werde ich mich ungeniert bedienen. Ist er wach, kümmere ich mich ums Frühstück. Er blinzelt, als ich auf die Matratze klettere, registriert erstaunlich fix, warum ich so breit grinse. "Guten Morgen." Schnurre ich herausfordernd. "Was Schönes geträumt?" Nun steigt ihm Farbe in die Wangen. Die Standarte ragt weiterhin unbeeindruckt auf. "Was meinst du, willst du mich reiten?", Ich streiche über seine Flanke, über ihn gebeugt. Darauf habe ich gerade so richtig Lust, ihn über mir zu sehen, wie er sich verausgabt, dabei seine Handgelenke zu packen und mitzufedern, was das Zeug hält. Er öffnet die Lippen, muss trocken krächzen, wendet hastig (und höflich) das Gesicht ab. Vor der Ölung der unteren Gleitbahn muss hier oben für Geschmeidigkeit gesorgt werden! Ich helfe großzügig mit verdünnter Zitronenlimonade aus, nachdem er sich aufgerichtet hat. "Und?" Käme ich durch den grässlichen Mopp auf seinem Schädel. Er legt die Fingerspitzen auf meine Wange, zerzaust, immer noch errötet, weiterhin stramm im Saft, küsst mich sehr vorsichtig auf die Lippen. Ich schalte, verbanne die Flasche, lege mich ins Zeug, knutsche so richtig schwungvoll und ausdauernd. Inneres Notizbuch: vor der subäquatorialen Massage das Geschmackszentrum im Norden verwöhnen! Selbstredend erfüllt er meinen Wunsch, besteigt mich, lässt seine Muskeln so gekonnt spielen, dass ich glatt einen Aussetzer habe und er sich selbst auf mir abfangen muss. "...Wahnsinn...!" Stammele ich mein Fazit, halb unter ihm, halb an seiner Seite, lasse ihn meine Hand klammern wie einen Rettungsanker. Die beste Art, sich einen Muskelkater zu verschaffen! ~ð~ Ich habe noch keine Nachricht von ihm. Na ja, Wochenende, richtig? Gehöre ich also eher zu seinen "geschäftlichen" Kontakten? Hmm. Ich will mich gar nicht aufspulen. Es kann ja sein, dass er einfach was zu tun hat, nicht dauernd am Telefon hängen will. Trotzdem verspüre ich eine gewisse Unruhe. War ich vielleicht doch wieder zu aufdringlich? Glücklicherweise lenkt mich das schwer beladene Eintrudeln von Tibor und Varis ab. Verstauen helfen und sich ENDLICH mal auf mich selbst besinnen, das kann doch nicht so schwer sein! Nehme ich mir zumindest streng vor. ~ð~ Nach einer getrennten Dusche und einem Frühstück aus der Porridge-Schüssel machen wir uns auf die Socken, ich mit Hackenporsche, er mit Flechttasche. Ja, mir macht es gar nichts aus, wie ein Öko-Fuzzi durch die Gegend zu schnüren. Ich bin nicht für Gäste gerüstet, deshalb flanieren wir beide durch das kleine Einkaufszentrum in der Nähe, studieren die üppigen Angebote von Obst und Frühgemüse. Außerdem habe ich auch einen gewissen Ernährungsplan, den ich befolge, bin ja nicht mehr ganz neu. Also heißt es, die richtige Balance zu finden zwischen Kohlenhydraten, Eiweiß und Fett. Ich liebe Kombinationen aus Hülsenfrüchten mit Getreide und Obst. Eintöpfe fürs Brot oder lecker Brei mit Einlagen, das ist meine Domäne! Andererseits will ich ihm nichts aufdrängen. Was isst er überhaupt, wenn er in einer ziemlich schlichten Leichtbaubude haust? Kevin ist beeindruckend artig, stellt vorsichtig Fragen zu dem, was ich vorschlage, äugt kein einziges Mal zu den Regalen mit Süßkram oder Couch-Potatoe-Potential. "Wir können Popcorn machen. Hast du Lust?" Ganz spaßfrei will ich ihn nicht halten. Er nickt brav, steuert umsichtig den bockenden Einkaufswagen aus. Ich bin angenehm überrascht, wie pflegeleicht er agiert. Keine Spur mehr von dem großspurigen Macho-Gorilla! Bloß das tote Tierbüschel auf seinem Schädel erinnert an sein altes Image. "Sag mal, was für eine Schule hast du denn besucht?" Ich bin unersättlich neugierig. Er blickt unter sich, zögert ein wenig. Anstelle der plakativen Schulversager-Vita enthüllt er mir jedoch verlegen, dass er den Gymnasialzweig auf einer Gesamtschule absolviert hat. "Darf bloß niemand merken, hm?" Necke ich ihn. Dazu muss er nicht mal nicken, ich verstehe auch so. Klugscheißer, Streber, Besserwisser, das ist kein Etikett, mit dem man erwischt werden möchte, wenn man in einem anderen Biotop landet. "Was für Sport hast du so betrieben?" Erkundige ich mich, während ich unsere Einkäufe strategisch verstaue. "Schulsport." Murmelt er. "Sonst nicht so viel. Na ja, ich bin Rad gefahren. Hab Wasserflaschen gestemmt." Er zieht eine hilflose Grimasse. "Kein Geld für einen Verein, hm?" Bohre ich unbarmherzig in der Wunde. Er zuckt mit den Achseln, in Verlegenheit gebracht. So langsam setzt sich mir das Bild zusammen. Obwohl ich mich ja eigentlich nicht über Gebühr mit diesem selbst verschuldeten Paria beschäftigen wollte, als ich ihn zu meinem Assistenten machte! All der ganze Unsinn, die lächerliche Scharade, die dämlichen Sprüche: dahinter hat sich einer verkrochen, der große Angst vor Ausgrenzung und Einsamkeit hat. Verständlich. Während wir zurück zockeln, plage ich ihn weiter. "Fährst du denn manchmal heim?" "Heim?" Rutscht ihm raus, bevor er sich bremsen kann. "Zu deiner Mutter, nach Hause." Souffliere ich gnadenlos. Er zögert, wägt wohl ab, ob er mit einer nonchalanten Replik ausweichen kann. Mein aufmunternd-unerbittlicher Blick pulverisiert jede Hoffnung auf Ausflüchte. "Das ist ein wenig schwierig." Gibt er schließlich nach. "Meine Mutter ist zu ihrem Freund gezogen. Der Platz ist begrenzt." Er lächelt schief. Mit anderen Worten: die Altlasten aus vorigen Beziehungen sind nicht gern gesehen, werden gerade noch besuchsweise geduldet. Er hat kein Zuhause mehr, zu dem er zurückkehren kann. "Ich bin ja alt genug!" Erinnert er mich eilig. "Ich steh auf eigenen Füßen. Ich komm schon klar." Verständlich, dass er zumindest versucht hat, Anschluss zu finden, sich zu tarnen, wie er es bisher gewohnt war. Wird jetzt nicht ganz einfach werden, die eigene Welt neu zu sortieren. Selbst wenn von außen niemand viel davon bemerkt. "Hast du Geschwister?" Macht er sich scheu schlauer. Ich habe ihn ja ordentlich ausgequetscht. "Nein." Ich grinse. "Aber jede Menge Cousins und Cousinen. Erstaunlicherweise sprechen wir sogar noch miteinander." Er lächelt verlegen. "Das klingt gut. Eine Familie zu haben, meine ich." "Anstrengend, aber gut." Nicke ich. "Außerdem schaffen wir uns ja auch noch unsere eigene Familie durch Freundschaft, Kollegialität und Nachbarschaft." Ich ahne nämlich schon, worauf seine nächste Frage abgezielt hätte, wenn er sich traut. Er zögert, wie gewohnt, vorsichtig. Bloß nichts zerbrechen, was fragil erscheint! »Sei kein Ätzer!« Ermahne ich mich selbst. "Ich hab schon Beziehungen gehabt." Erleichtere ich seine Abwägung. "Im Gegensatz zu meinen Eltern, die immer noch verheiratet sind, und zwar miteinander, liegen meine Prioritäten auf meinen Jobs, Fortbildungen, neuen Kursinhalten usw. Wahrscheinlich habe ich deshalb immer Leute gefunden, die genauso ticken." Er errötet heftig, obwohl er gar nicht selbst gefragt hat. Ich muss lachen. "Ehrlich, wenn dein Erscheinen die Damen im Kurs nicht total verblüfft hätte, wäre die Frage garantiert gekommen! Die meisten Damen sind nämlich neugierig, warum ich ohne Fingerfessel durch die Gegend schnüre." Was tatsächlich nicht übertrieben ist. Ich WERDE gefragt, denn frau ist schon interessiert, wo bei mir der Haken ist. Kann ich verstehen, keine Diskussion! Schmeichelt mir ja auch, dass ich überhaupt noch in Frage komme für entsprechende Charme-Attacken. "Das ist alles gar nicht so einfach." Stellt er leise fest, den Blick streng auf seine Füße konzentriert. "Wir erfinden die Regeln, während wir marschieren." Übersetze ich leicht abgewandelt ein englisches Sprichwort. "Ich kann auch nur für mich selbst sprechen. Für mich funktioniert's." Das gibt ihm so viel Stoff zu grübeln, dass er bis zum Einlaufen in meinem heimatlichen Hafen versonnen schweigt. ~ð~ Ich habe mich entschieden. Allerdings ist meinem Entschluss eine ausführliche Recherche vorangegangen. Es mag überheblich erscheinen, doch ich halte mich aus Erfahrung damit zurück, die Biographien anderer Leute, die mich in Ruhe lassen, auszuforschen. Wenn Ragnar jedoch tatsächlich die gewöhnliche Schwelle einer zufälligen Bekanntschaft überschreiten möchte, muss ich mich wappnen. Nun bin ich fast überzeugt, dass die zweite Nachricht nicht von ihm stammt. Die forsche Vorgehensweise in der Formulierung lässt eher den Schluss zu, dass sein Mitbewohner sich in einem unbeobachteten Moment eingemischt hat. Tibor, Alpha-Werwolf, derzeit Zentrum großer Kontroversen, weil er einen minderjährigen Verlobten hat. Ich bin einigermaßen verblüfft über die Entwicklungen. Bisher hielt ich die Werwolf-Gemeinschaften hier für ruhig und eher konservativ. Ein Trugschluss, vermutlich, weil sie mich nicht behelligt, sondern meine Isolation akzeptiert haben. Ragnar scheint ebenfalls ausgesprochen zwiespältige Reaktionen hervorzurufen: entweder ist er die Ursache des Übels, da er Tibor als Vorbild figuriert, oder er gilt als diplomatisch-geschmeidig-angepasst-charakterfrei. Das passt nicht zu der Person, die sich mit mir unterhält. Andererseits ziehe ich mein Urteil grundsätzlich in Zweifel. Instinktive Informationen entgehen mir. Was für einen Vorteil sollte er aber daraus ziehen, mich vorzuführen, wo er selbst in Bedrängnis ist? Ist er vielleicht doch stärker an mir interessiert, scheut aber vor direkten Ansagen zurück? Ist ihm deshalb der Cousin heimlich beigesprungen? Möglich. Wahrscheinlich? Schwer zu sagen. [Ich gehe ungern in Kinos, da zu häufig gegessen und gesprochen wird, was mich in meiner Konzentration auf den Film stört. Manchmal sehe ich mir Filme auf dem Computer an. Ich möchte gern etwas klären, um Missverständnisse zu vermeiden: bist du auf erotische Weise an mir interessiert?] Ich verstehe nicht, wie körperliche Anziehungskraft funktioniert. Die Beschreibungen lassen mich ratlos zurück. Die wissenschaftlichen Abhandlungen dazu erscheinen mir als logisch, jedoch für mich persönlich irrelevant. Was werde ich tun, wenn er antwortet? Wenigstens Klarheit wird sich einstellen. Auf dieser Basis kann man darüber verhandeln, wie eine Beziehung sich gestaltet. Ich brauche diese Regeln. Sie sind mein Sicherheitsnetz. Nun fühle ich mich gleich entspannter. Endlich kann mein Wochenende beginnen. ~ð~ Nachdem wir alles verstaut haben, schlage ich eine kurze Bewegungseinheit draußen vor. Langsam heizt es sich auf. Bevor es zu drückend wird, können wir aber ein leichtes Lauftraining einlegen, dazu noch einige Übungen zu Kraft und Beweglichkeit. Ihm scheint es zu gefallen, lenkt von den Gedanken ab, die vermutlich durch seinen Kopf spuken. Eine Stunde später, verschwitzt, staubig und ziemlich ausgetrocknet trudeln wir wieder ein. Ich scheuche ihn nach einer Trinkkur am Hahn unter die Dusche, damit ich unsere Sachen ausklopfen und mit Wasser besprüht an den alten Rollladenleisten vors Fenster aufhängen kann, praktisch und beinahe absturzsicher. Ich setze Nudelwasser auf, zerlege etwas von dem Grünzeug, zerteile Kirschtomaten und Oliven, zerdrücke vorgegarte Kichererbsen, damit das Dressing mehr Stand hat. Als er in Boxershorts wieder schüchtern um die Ecke lugt, kann ich ihn beauftragen, das Nudelbad zu überwachen, während ich mich selbst manierlich abbrause. Unser Nudelsalat, lauwarm, lecker pikant abgeschmeckt, mundet vorzüglich, vor allem, wenn man sich richtig verausgabt hat. Mich stört lediglich der aufgeplusterte, nun schräg nach einer Seite herumlungernde Wust auf seinem Schädel. Er registriert meine Blicke, zuckt verlegen mit den Schultern. "Ich hab das Wachs vergessen." Deshalb hängt der explodierte Deko-Putz wie ein besoffenes Kleintier über seine Stirn. "Es sieht grässlich aus!" Knurre ich. "Stört dich das denn nicht?!" Nein, gar nicht höflich, ganz schlechte Manieren meinerseits! weil es mich förmlich in den Fingern juckt, mit der Küchenschere dem Elend ein kurzes Ende zu bereiten. "Alle laufen so rum." Erläutert er leise das Problem. Bloß nicht auffallen, in sicherer Deckung bleiben! Ich gebe mich geschlagen, habe ja leicht reden. "Tut mir leid. Dein Kopf, deine Frisur. Mir gehen manchmal die Gäule durch." Ich strecke zur Versöhnung die Hand über den Tisch zu ihm hinüber. Er greift rasch zu, hält sich fest, sieht mich an, bange, forschend, bittend. Habe ich seine Welt nicht schon genug in ihren Festen erschüttert? Der Typ, der sich selbst an die erste Stelle setzt, offenbar keine ewigen Bindungen eingehen kann, auch sonst eher Bruder Luftikus als verlässlicher Herr Gesangsverein ist? "Darf ich deine Schere benutzen?" Er erhebt sich langsam, lächelt mich tapfer an. "Ich helfe dir. Das geht leichter." Komme ich auch auf die Beine. Verdammt, ich mag ihn. Ich mag ihn wirklich. ~ð~ Kapitel 7 - Langsam wird's ernst! Tibor hat sich mit Varis zurückgezogen. Es geht kein Lüftchen mehr, draußen ist es sehr heiß, man läuft förmlich in einen Schmelzofen hinein. Ich vermute, dass in unserem Backsteinhäuschen die angenehme Atmosphäre zum Nickerchen reizt, ganz ohne irgendwelche Aktivitäten, die mir die Kopfhörer nahelegt. Ich hingegen entsage der leichten Lektüre anstelle des Lernstoffs. Das ist kein Problem, da ich der Versuchung nachgegeben habe, doch mal aufs Telefon zu schauen. Könnte ja was passiert sein... Abgesehen von den abebbenden Kommentaren zu meinem Charakter, meiner Person und meinem schädlichen Einfluss, die ich ungelesen lösche, finde ich Konstantins Antwort. Deshalb starre ich jetzt aufs Display, grüble. "'Erotische Weise'?!" Hat er sich vielleicht doch schlau gemacht? Glaubt er etwa den ganzen Unsinn, der da kolportiert wird? Oder habe ich durch meine Neugierde eine Gegenreaktion ausgelöst? Will ich mit ihm Sex haben?! Also wirklich! An meinen Geschlechtsgenossen war ich bisher auf diese Art nicht interessiert, ganz gleich, was andere da verbreiten. Wenn ich an die "technischen Details" denke, wird mir flau und zwar nicht aus positiver Erregung. Ich bin einfach neugierig auf ihn. Richtig? Beinahe. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum er mich fasziniert. Wenn Tibor recht behalten sollte mit seiner "unterschwelligen Instinkt"-Theorie, gibt es einfach Wellen und Teilchen auf atomarer Ebene, die den bewussten Verstand unterlaufen, im Unterbewusstsein jedoch ein Feuerwerk abfackeln, was uns dazu verleitet, jemandem nahe sein zu wollen. Ist er so ein Teilchen-Schleuderer für mich? Es wäre auch mal nett, einfach mit jemandem Zeit zu verbringen, der gar nichts von mir erwartet oder verlangt! Was antworte ich ihm aber? Die ehrliche Variante, die diplomatische, die höfliche? Eine Verlegenheitslüge? [Ich glaube nicht, dass es ein erotisches Interesse ist. Ich möchte gern in deiner Gesellschaft sein. Ich bin neugierig auf dich und deinen Alltag. Woher das kommt, kann ich selbst nicht genau sagen. Einfach aufgeben möchte ich aber auch nicht. Willst du mir trotzdem eine Chance geben, dich kennenzulernen?] ~ð~ Wir liegen auf dem Bett, der Hitze eine Siesta abtrotzend. "Fällt dir das schwer? Stillzuhalten?" Erkundige ich mich. "Schon." Murmelt er gedämpft. "In der Schule immer nur sitzen..." Kommt mir bekannt vor. Erklärt auch ein wenig seine virile Zappelei vorher, vor der Verwandlung. "Ich bin immer aufgestanden. Hat mir Ärger eingebracht." Nun muss ich in Erinnerung grinsen. "Bei den Lehrern. Die Alt-68 haben sich nicht abgestrampelt, damit so ein reaktionäres Kerlchen wie ich aufsteht, wenn er was gefragt wird oder sagen will." Ich drehe den Kopf leicht, um seine Reaktion zu beobachten. Vermutlich sagt ihm das nicht viel, ich bin ja mehr als doppelt so alt wie er. "Ich stapfe mit den Füßen oder lehne mich weit vor, damit ich abwechselnd die Beinmuskeln anspannen kann." Verrät er mir seine Taktik. "Wäre für Leute wie uns echt leichter, wenn wir uns bewegen dürften." Zwinkere ich ihm zu. Deshalb würde mich ein reiner Bürojob mit Hockzwang auch umbringen. "Ich sollte Medikamente nehmen, gegen meine Unruhe." Er flüstert beinahe. "Die waren zu teuer, also hab ich's nicht gemacht. Stattdessen habe ich mir Steinchen in die Socken gefüllt. Da tat das Laufen so weh, dass ich abgelenkt war, lieber auf meinem Platz blieb." "Autsch!" Kommentiere ich mitfühlend. Für einen aufdringlichen Unsympathen mit Großmaul-Attitüde und Aufreißer-Masche erstaunlich rücksichtsvoll und überlegt. "Was haben denn deine Freunde dazu gesagt?" Er zuckt mit den Achseln, verlegen. Ich rolle mich auf die Seite, stütze mein Kinn in der Hand auf. "Lass mich mal raten: du hast ihnen erzählt, dass Bruce Lee so trainiert hat, um der beste Kungfu-Kämpfer zu werden!" Nun lächelt er doch. "Richtig? Stimmt's?!" Nein, ich bin nicht zurückhaltend, sondern gerade etwas aufgedreht, weil er mir immer sympathischer wird. "Jason Statham." Korrigiert er. "Nicht Bruce Lee. Aus dem Transporter-Film." "Buh!" Protestiere ich, plumpse rücklings auf meine Matratze. "Das ist doch kein Klassiker!" Er lacht leise, versucht jedoch, es zu unterdrücken. "Sag jetzt nicht, dass ich zu kindisch bin!" Knurre ich kehlig, verschränke trotzig die Arme. Also ehrlich, was hat die Jugend von heute für Vorbilder?! Wo sind alle meine Helden hin?! Na ja, entweder in Rente oder schon tiefer gelegt. Irgendwie deprimierend. Wenn nicht Tarantino seine verdrehten Filme drehen würde, hätte das junge Gemüse gar keine Ahnung von all den verbotenen Früchten ihrer Eltern und Großeltern. Er rollt sich auf die Seite, streckt die Linke aus, streichelt mir behutsam über die Wange, beinahe tröstend. "Na schön!" Gebe ich mich geschlagen. "Heutzutage ist Kung-Fu auch ein alter Hut. Über die Socken-Methode würde man sich wohl auch streiten können." Doziere ich ausladend. "Heute würde ich deinen Namen nennen." Raunt er, zwinkert scheu. "Oho!" Gurre ich geschmeichelt. "Das geht in Ordnung! Außer, ich müsste auch steinreiche Socken tragen!" Bremse ich mich. Er grinst, stemmt sich hoch, beugt sich über mich, küsst mich sanft auf den Mund. Sein Lächeln weicht einer gewissen Konzentration, die vermutlich auch meine Miene verändert. Wir studieren einander einen langen Augenblick. Ich breche die Spannung. "Lust auf etwas Bewegung?" ~ð~ "Ich sollte mich mal ums Abendessen kümmern." Mein Varis zeigt unerträgliche Anzeichen von Emsigkeit, obwohl wir gerade so gemütlich in der Hängematte liegen, im Halbdunkel, wohltemperiert. "Ist das Mittagessen schon so lange her?" Knurre ich, kraule seinen Nacken. "Wenn wir grillen wollen, wäre es schon an der Zeit." Wendet er sehr vernünftig ein. "Ich muss nicht grillen!" Stelle ich entschieden fest. Belegte Stulle, Grünzeug, Apfelsaftschorle, schon erledigt. "Kommt denn heute Abend niemand vorbei?" Nun klingt mein Varis ehrlich verblüfft. Womit er vollkommen recht hat. Gewöhnlicherweise hängt mindestens Kamerad Kevin hier herum, bis er entweder mit seinen notorischen Spießgesellen abzieht oder diese, mit Ebbe in der Kasse, auf kostspielige Hasenjagd verzichten, ein bisschen quatschen wollen. "Ist hier kein Streuner-Asyl für unterbeschäftigte Selbstanöder." Brumme ich. Gastgeber zu spielen, das nervt mich. "Es wäre schon praktisch, wenn sie Bescheid geben würden." Pflichtet er mir vorsichtig bei. "Für den Fall...!" "Nö." Bestimme ich selbstherrlich, kerkere ihn in meinen Armen ein. "Hiergeblieben. Mein Schmuseeinheiten-Speicher ist nicht mal zur Hälfte gefüllt!" Wir führen ja hier auch kein Bistro. Wenn sie Kohldampf schieben, sollen sie sich woanders versorgen! Ich grummele leise vor mich hin, in tiefsten Basstönen. Zugegeben, das ist ein technisches Foul, ich spüre genau, wie mein Varis unruhig wird, sich in meinen Armen windet. Yepp, das ist ein Rhythmus, bei dem man mit muss! Vor allem machen. Da hilft noch ein wenig Friktion an neuralgischen Stellen. Er schiebt sich zu mir hoch, wispert mir ins Gesicht. "Aufs Bett, ja?" Genau, mein Liebling! Wenn wir da weiterspielen, werde ich schon dafür sorgen, dass anderer Leute mögliche Freizeitgelüste auf unserem Grundstück vollkommen aus deinen Gedanken verschwinden! ~ð~ Das ist schon bemerkenswert. Ich bin zwar in körperlich guter Verfassung, sehe weniger nach Mitte Vierzig als nach Mitte Dreißig aus, aber so oft die Laken in kurzer Zeit zu zerwühlen, das ist selbst für mich eine ungewohnte Erfahrung. Andererseits, wenn ich exakt weiß, wie ich seine Hemmungen auskontern kann, eindrücklich an prominenten Stellen erfahre, wie sehr es ihm gefällt, was wir da mit großem Engagement treiben: werde ich den Teufel tun, mich in vornehmer Zurückhaltung üben! Wahrscheinlich ist es in meinem Schlafzimmer jetzt so heiß wie draußen. Wir beide glühen jedenfalls, keuchen wie die Dampfrösser. Ohne die grässliche Totes Tier-Tolle auf seiner Schädeldecke wirkt er auch sehr viel erotischer. Wie da die winzigen Perlen in seinen kurzen Strähnen glitzern! Mjamm! Ich fühle mich prächtig, ziemlich sündig und ungeniert schamlos. "Willst du mal tauschen?" Tippe ich ihn an, grapsche ohne Gewissensbisse seine aparte Kehrseite. Lecker! "Tauschen?" Er blinzelt, leckt sich Schweißperlen von der Oberlippe. "Ja. Ist zwar ne Weile her bei mir, aber grundsätzlich...?" Nicke ich. "Du hast also... wirklich?" Stammelt er verblüfft. Ich muss über seinen ungläubigen Gesichtsausdruck lachen. "Klar doch! Allerdings hat's bei mir nie richtig Klick gemacht. Also, hast du nicht Lust rauszufinden, wie es auf der anderen Seite ist?" Biete ich ihm an. Für mich ist das kein großes Risiko, auch wenn ich bei Analsex tatsächlich keine allzu berauschenden Erfahrungen gemacht habe. Ich weiß aber, was mir ganz gut gefällt, kann mich entsprechend bewegen. Dazu noch Handspiel, da kommen alle zu ihrem Vergnügen. "Ich weiß nicht." Zögert er. "Ich hab noch nie... Ich könnte dir weh tun." Ich stemme mich schwungvoll in die Höhe, zwinkere auf ihn hinab. "Ich reite dich einfach, in Ordnung? Alles unter meiner Kontrolle. Du lässt dich vernaschen!" Er blickt noch immer sorgenvoll, streicht dabei über meinen Oberschenkel, als müsse er ein scheues Tierchen beruhigen. Ich kann nicht anders als grinsen, mich vorbeugen, seine Nasenspitze zwischen meinen Fingern einklemmen, tröten. "Komm schon, lass uns Spaß haben, ja?" Er gibt sich schließlich mit einem schiefen Grinsen geschlagen. Übersetzung: der alte Sack ist total plemplem, aber wenn's der Völkerverständigung dient... Ich jedenfalls bin entschlossen, auf meine Kosten zu kommen. Wer weiß, vielleicht erlebe ich ja eine Überraschung? ~ð~ Da ich meinen Cousin kenne, der gerne mal das Pflichtbewusstsein seines Lieblings auskontert, topfe ich mir Kopfhörer auf, kümmere mich um unser Abendessen. Bei der Hitze grillen: darauf habe ich überhaupt keine Lust. Irgendwie, auch wenn das seltsam erscheinen mag, hat Varis' Speiseplan mit viel Grünzeug dafür gesorgt, dass ich kein großes Verlangen nach Fleisch mehr empfinde. Konstantin hat noch nicht geantwortet. Unserem gewohnten Takt entsprechend wäre für heute ohnehin der Dialog erfüllt. Ich hoffe, er gibt mir meine Chance, wünsche mir inständig, dass er den ganzen Mist, der da über mich verbreitet wird, nicht glaubt. Alle Nachrichten ungesehen zu löschen hat meiner seelischen Gesundheit sicher gut getan. Was da noch übrig ist und NICHT direkt an mich gerichtet, erfüllt mich nicht unbedingt mit Zuversicht. »Positiv denken!« Ermahne ich mich. Ich bin weder enterbt noch nach Nimmerland verwünscht worden, auf meine Familie bezogen. Bei einigen anderen wären die Molukken noch nicht weit genug. »Tja, warst ja wohl sehr erfolgreich in deiner Rolle!« Ätze ich mich selbst an. Es ist nämlich durchaus ärgerlich, dass so viele Leute mir einen überragenden Einfluss auf Tibor unterstellen, obwohl ich bei Licht betrachtet selbst vor Varis' Erscheinen gerade mal als "Hinweisgeber" fungiert habe. Der Kerl tut ohnehin nur, was er selbst will! Wieso sieht das niemand?! So ein Erfolg als "graue Eminenz" kann doch ganz schön bitter schmecken. Jetzt fühle ich mich definitiv pinselig. Schön, er WILL kein Rudelführer sein, damit kann ich leben. All die Untaten und grässlichen psychologischen Druckmittel, mit denen ich ihn mutmaßlich gefügig gemacht habe: nichts stimmt! Wenn mir das schon unterstellt wird, hätte ich manches durchaus mal gern auch GETAN! Die ganzen Damen zum Beispiel, die sich höchst bereitwillig an seine breite Brust geschmissen haben, zählten im Nachhinein als Abschreckung meinerseits, weil ich sie nicht erobern konnte?! Hä?! Also, ich hätte mich sicherlich bei der ein oder anderen Interessentin nicht gewehrt, man lernt ja auch gern dazu. Dass sie alle älter als er waren, woraufhin ihn jetzt nur junges Gemüse begeistert: wirklich, was sind das für Gedankengänge?! Irgendwelche Julia und Romeo-Konstellationen hätten mir garantiert einen Herzkasper verursacht. Deshalb war ich persönlich für den Schwerpunkt auf "erfahreneren" Damen dankbar. Das ist alles so... dämlich! "Willst du den Tisch zerlegen?" Dringt Tibors Stimme in mein Tomaten-Massaker. Ich schiebe die Kopfhörer auf meine Schultern, schenke ihm einen bitterbösen Blick. "Dass du es nur weißt: DU bist schuld!" Er grinst breit. Leider zu recht. Ich höre mich wie der quengelige Sechsjährige an, der den Dreikäsehoch mal wieder nicht von irgendeinem Streich abhalten konnte. "Mach dir keinen Kopp." Klopft er mir auf eine hochgezogene Schulter. "Der Mist zählt nicht." "Du hast leicht reden!" Knurre ich mit einem kurzen Blick auf Varis, der etwas verlegen von einem Fuß auf den anderen tritt, nicht weiß, ob er intervenieren soll. "Genau." Mein bester Freund gibt natürlich keinen Fußbreit nach. "Lerne vom Meister!" Zwinkert er ungeniert. "Depp!" Fauche ich, seufze, weil mein Brass schon wieder verflogen ist. Außerdem will ich Varis nicht so besorgt dreinblicken sehen. Eigentlich sollte er unsere Kabbeleien ja gewöhnt sein. "Kein Grillen heute?" Tibor kippt die Tomatentrümmer in die große Salatschüssel. "Gefällt mir!" "Kevin macht sich in der letzten Zeit rar. Da nutzen die anderen vermutlich auch die Gunst der Stunde." Bemerke ich achselzuckend. Warum sich über unerwartete Wohltaten beschweren? Tibor schmunzelt. "Sieht so aus, als hätte der Kurs Früchte getragen." Ich starre ihn nach einer Gedenkminute an die Leitungssteher fassungslos an. "Du meinst doch nicht, er hätte da eine Freundin gefunden?!" "Eher nicht." Tibor wuschelt Varis im Vorbeigehen durch die gestutzten Locken. "Ich setze auf den knackigen Kursleiter." Och nee... oder?! "Hoffentlich ist er wenigstens diskret." Murmele ich, ungeachtet Kevins gewöhnlichem Auftreten. "Rag, sieht so aus, als wärst du der Chef eines rosa Rudels!" Feixt mein notorischer Cousin mich an. Ich ramme ihm meine Faust in den Oberarm. Natürlich ohne nennenswerten Effekt. Na, Prost Mahlzeit! ~ð~ Ich gebe zu, ich bin nicht der passive Typ. Das fällt mir einfach schwer. Wenn ich penetriert werden soll (oder es von selbst anbiete), gebe ich nicht die tote Flunder ab oder lasse mich bespaßen. Das schaffe ich einfach nicht. Natürlich läuft es dieses Mal auch nicht anders. Ich lasse mir zwar ein wenig helfen beim Präparieren (er ist mit seinen Fingerspitzen so vorsichtig, dass ich Mühe habe, ihm nicht den von mir kunstfertig gestutzten Schopf zu raufen), aber danach gebe ich das Tempo vor. Selbst im Zwielicht meines abgedunkelten Schlafzimmers komme ich nicht umhin, seinen glasigen Blick zu registrieren. Mann, das bauchpinselt mich doch ziemlich! Er ist gut gebaut, sein gar nicht so kleiner Freund (eher im Gegenteil!) schrickt auch nicht zusammen (und schrumpft panisch), als ich ihn mir einführe. Nicht gerade ein großes Vergnügen, trotz der Vorbereitung. Ich bin eben doch ein wenig aus dem Training. Ich lasse die Muskeln spielen, nutze die gute Federung von Matratze und Federkernauflage (ja~a, da zahlt sich Qualität eben aus!), besorge ihm einen aufregenden Ritt. Es macht mir mehr Spaß, seine Reaktionen zu erleben, als mich auf mich selbst zu konzentrieren (gut, bis zu dem Punkt, wo ich doch bei mir selbst handgreiflich werde, um zum Absch(l)uss zu kommen). Wow! Nun ist mir richtig heiß, alles klingelt, aber ich fühle mich auch gut. Es macht einfach Spaß, mit ihm zu vögeln, selbst in der eher ungeliebten Rolle. Er hält mich im Arm, schnieft dezent, streichelt mich so sanft, als könne ich bei übertriebenem Abrieb in meine Bestandteile zerbröseln. "Gar nicht mal so übel, oder?" Schnaufe ich an seiner Brust, sauge mich ungeniert fest. Er stöhnt auf, lässt mich aber gewähren. "Bin ich jetzt sexy für nen alten Mann, oder was?!" Ich besteige ihn, um die Gummi-Parade abzuzupfen, für temporäre Reinlichkeit zu sorgen. Seine Hände liebkosen mich erneut behutsam, meine Flanken, meine Oberschenkel. "Und, was gefällt dir besser?" Lasse ich nicht locker, beuge mich vor, kreuze die Arme über seinem Brustkorb. "Einstöpseln oder einlochen lassen?" Er ähnelt, zumindest im Gesicht, einem gekochten Hummer vor Verlegenheit. Ich seufze betont, richte mich wieder auf. "Du musst mich jetzt nicht großartig schonen, weißt du? Vernichtende Kritik prallt an Oriol, dem Super-Hengst, einfach ab!" So, das sollten jetzt ja wohl genug dämliche Sprüche sein, oder?! Da teilen sich seine Beine. Ich plumpse etwas tiefer mit meinem aparten Gesäß. Er stemmt sich hoch in eine sitzende Position, zieht mich in seine Arme, hält mich fest. Ich spüre seine Muskeln, die dezent feuchte Haut, seinen stoßweisen Atem. "... nicht weinen." Klinge ich jetzt wie ein verschrecktes Küken? Seine Umarmung ist fest, aber nicht einengend oder schmerzhaft. Er schnüffelt leise, wie einer, der sich nie dabei erwischen lassen will. Ich mache ihm wohl Angst, trotz all der blöden Sprüche, seines lächerlichen Auftretens, dieser ganzen idiotischen Attitüde. »Sei kein Arsch!« Muss ich mich erneut zur Ordnung rufen. »Er hat nichts davon tatsächlich gemeint, sich keinen anderen Rat gewusst. Auf diese Art um Hilfe gebeten, ohne sich dessen bewusst zu sein!« Ich streichle sein breites Rückgrat, rücke nicht von ihm ab. "He, ich weiß, dass du mich magst." Raune ich an sein Ohr. "Das zeugt von gutem Geschmack, weißt du? Ich mag mich nämlich auch." Necke ich ihn leise, hoffe, dass seine Tränen einem Kichern weichen. Er schluckt bloß merklich. "Der Sex mit mir ist gigantisch, klare Sache!" Flüstere ich weiter. "Kannst mich deshalb auch gern loben. Stört mich gar nicht, ehrlich!" Nun trötet er sehr gedämpft, ein Prusten mit verstopfter Nase, dreht er den Kopf, hebt ihn ein wenig. Selbstredend nicht hoch genug, um Blickkontakt aufzunehmen. "...Hilfe... bitte." Wispert er kaum hörbar an meinem Ohr, ängstlich, bange, verstört. Ich streiche über seinen Nacken, packe zu, dirigiere seinen Schädel auf Kussdistanz, lecke ihm die Lippen speichelfeucht. Das ist kein Spiel, das begreife sogar ich. Ich bin mir nicht sicher, ob er die Konditionen versteht. Dass es keine Garantien für die Ewigkeit gibt. "Willst du mit mir zusammen sein?" Frage ich trotzdem leise. Wir leben jetzt und hier, nicht morgen, nicht gestern. "...ja... ja, bitte!" Er schluchzt wieder leise. "In Ordnung." Ich schiebe sein Gesicht auf meine Schulter, wiege uns leicht. "Das kriegen wir bestimmt hin. Wir haben ja so einige Gemeinsamkeiten, richtig? Wir vögeln gern miteinander, wir essen gern, wir schlafen gern, wir atmen gern." Er lacht leise. Ein bisschen gequetscht durch den Kloß im Hals, vermute ich mal. "Aber eins muss ich dir sagen!" Energisch packe ich seinen Kopf, funkle ihm in die nassen Augen. "Ich steh nicht auf Blowjobs! Das langweilt mich total. Geht außerdem unheimlich auf die Sehnen, weißt du? Außerdem kann es definitiv kein geschicktes Händchen ersetzen!" Er schluckt, blinzelt, nickt artig, lächelt schief. "Okay?" Hake ich sehr viel sanfter nach. Zugegeben, mich würde es jetzt nicht über Gebühr stören, wenn es ab und zu mal eine solche Episode gäbe, aber haben muss ich das wirklich nicht. Fairness gebietet jedoch, ihn deshalb anständig vorzuwarnen. Wenn er sich diesen Service woanders holen würde, kratzte mich auch nicht, ich bin da nicht kleinlich. "Okay." Krächzt er mit belegter Stimme. "Magst du auch lieber Küssen?" Schnurre ich, wische dabei unauffällig die Salzspuren aus seinen Augenwinkeln. "Ja." Stimmt er mir brav zu, dippt mir ganz ohne Aufforderung einen leichten Schmatz auf die Lippen. Ich MUSS grinsen! Sieht wahrscheinlich aus wie beim Joker mit Nierensteinen. Er ist ein lieber Kerl. Was gar nicht gut ist, denn ich habe eine ziemlich neckische Ader, die leider jetzt mal wieder herausplatzt. "Wieso 'Kevin'?!" Seufze ich also profund. "Hast du nicht vielleicht noch einen anderen Namen?" Zu meiner Überraschung schmunzelt er, legt den Kopf ein wenig schief. Das habe ich bei ihm noch nie gesehen. "Schlimm, was?" Er dippt mir wieder ein Bussi auf dem Lästerschnabel. "Zu mehr als einem Vornamen hat's auch nicht gereicht." "Irgendwie werde ich mich schon daran gewöhnen!" Stöhne ich gequält, verdrehe theatralisch die Augen. Er küsst mich auf die Nasenspitze, ein wenig scheu, ob er sich die Freiheit herausnehmen kann. Ich habe keine Einwände, will meine spitze Zunge aber besser beschäftigt wissen, halte mich an seinem Leckbrett schadlos. Außerdem hocken wir ja sehr gemütlich eng beieinander, und, oh Wunder der Jugend!, mein neuer Spielkamerad ist allzeit bereit! ~ð~ "Hast du das vorhin ernst gemeint?" Es hat ein wenig abgekühlt. Eine noch warme Brise streift uns, als wir gemeinschaftlich im Garten hocken. Kein störender Besuch, wie angenehm! Auch keine fliegenden Plagen in Klatschreichweite! Mein notorischer Cousin balanciert die Hängematte aus, die er sich mit Varis teilt. "Mit Kamerad Kevin und dem Kursleiter?" Er präsentiert sein imponierendes Gebiss. "Klar doch!" "Woher WEISS sie so was?!" Grolle ich Großtante Hiltrud. Wie kann sie ahnen, dass ausgerechnet die wandelnde Beziehungskatastrophe Kevin bei einem gestandenen Sportlehrer Anschluss findet? Außerdem, wieso steht der Kerl auf andere Kerle?! Tibor zuckt mit den Achseln. "Anscheinend ist das ein lockerer Vogel. Irgendwer MUSS uns doch die Nervensäge abnehmen, oder?" Mit anderen Worten: einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. "Das tröstet mich ungemein." Grummele ich. Wenn sich herumspricht, dass Kamerad Kevin auch MÄNNLICHEN Anschluss gefunden hat, wird der Scherz mit dem rosa Rudel (sehr originell!) zu bitterem Ernst. "Wo liegt das Problem?" Tibor klingt gewohnt entspannt. ER hat ja auch sein Herzblatt an sich gekuschelt, ist grundsätzlich dickfellig! "Wetten, dass ICH dafür zur Verantwortung gezogen werde?" Schnaube ich. "Wirklich? Wen interessiert, was Kevin treibt?" Schießt er scharf zurück. Stimmt. Leider. Alle wollen ihn bloß von hinten sehen, erkundigen sich nur danach, wo er ist, weil sie ihn vermeiden wollen. Von seiner Familie oder seinem alten Rudel weiß ich eigentlich gar nichts. Ich richte mich im Rattansessel auf, sende einen kritischen Blick zu meinem besten Freund hinüber. Nachtsicht hilft da enorm. "Du hast gewonnen." Gebe ich klein bei. Eine nachteilige Lösung ist es ja nun wirklich nicht. "Hat sich dein Freund schon gemeldet?" Varis klingt wie üblich sehr vorsichtig. Gewohnt scharfsinnig ist er auch, verflixt! "Noch nicht." Brumme ich. "Er guckt nicht so oft auf sein Telefon." Ich will nur nicht, dass er sich bedrängt fühlt, wenn er herausfindet, was für eine illustre Truppe mich so umgibt. Möglicherweise zu schrill für seinen Geschmack. "Wenn er kein Interesse an Sex hat, kann's ihm wurscht sein." Springt Tibor schon in die Bresche, bevor mir überhaupt der Hauch einer Kritik an Varis' Frage in den Sinn kommen könnte. "Ich weiß." Seufze ich, bin frustriert, weil ich immer noch nicht den Finger auf den Punkt legen kann. Warum ist mir Konstantin so wichtig? Sympathie auf den ersten Blick?! "Dabei habe ich gar keine besonderen Instinkte!" Knurre ich kaum hörbar mich selbst an. Irgendeine logische Erklärung wäre jetzt sehr hilfreich! Das Universum lässt mich aber hängen, es kommt kein Geistesblitz zufällig vorbei und schlägt bei mir ein. Tibor hält sich auch auffällig zurück. Kein Grinsen, kein Grunzen, kein Schnauben, kein Nichts in meine Richtung. Unheimlich. So langsam fange ich an, mir Sorgen darüber zu machen, wer ich bin. ~ð~ Ich habe Kevin einfach raus geschleppt, altes Frotteehandtuch, kurzer Marsch, kleine Klettereinlage. Mein Ziel ist eine uralte Ziegelei, tatsächlich nur noch ein Backsteinhaufen mit verrosteten Gleisen, verrottenden Sperrgittern und jede Menge Abraum. Dazwischen hat sich der urbane Dschungel wieder eingenistet, was zu einer sehr bequemen Wildwiesen-Unterlage führt. Selbstverständlich handelt es sich um Hausfriedensbruch und unerlaubtes Betreten von fremden Eigentum. Das ist mir bewusst. Andererseits gibt es hier kaum Nachbarschaft, wir machen nichts kaputt. Man kann herrlich in den Nachthimmel gucken. Die Restlichter sind natürlich vorhanden. Tatsächlich dunkel wird es kaum noch in Nordeuropa, das stimmt, aber es ist schön, trotz allem, sich auf die fernen Lichtpunkte zu konzentrieren. Da liegen wir also, halten Händchen, schauen hoch, genießen die laue Luft, die dezenten Geräusche von nächtlichem Getier. "Wirst du keinen Ärger bekommen?" Flüstert er. "Wegen der Kletterei hier?" Ich wende den Kopf. "Uns hat doch niemand gesehen." "Meinetwegen." Präzisiert er verlegen. Oh. Ach so. "Warum? Du bist volljährig, oder?" Ich zucke mit den Achseln. "Mit der neuen Frisur richtig possierlich, sorgst bei mir für eine sehr ausgeglichene Libido..." Ich kann SPÜREN, wie er errötet. "Aber ich bin nicht gerade beliebt." Druckst er herum. Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Echt niedlich, er sorgt sich um meinen Ruf! "Ach, du glaubst, man könnte mir schlechten Geschmack unterstellen!" Trompete ich also übertrieben einfältig. "Oh, das ist kein Problem! Wenn ich erzähle, wie du mich auf Touren bringst...!" Er schnappt panisch nach Luft. Ich lache, drücke seine Hand. "He, ich mach nur Spaß, okay?" Ich setze mich auf, blicke auf ihn herunter, der mich verunsichert ansieht, streiche ihm durch den Schopf. "Ich bin mit dir zusammen, weil ich das will. Ich kann darin nichts Schlechtes erkennen." Ich drücke seine Hand. "Vielleicht gibt es Leute, die damit ein Problem haben, aber das ist DEREN Problem, nicht Meins, nicht Deins. Wir können Besseres mit unserer Zeit anfangen, als uns mit den Befindlichkeiten von anderen zu beschäftigen, oder?" Er nickt eilig, setzt sich auch auf, streckt die freie Hand aus, um mir über die Wange, die Haare zu streichen. Süß. Ich lächle, weil wohl niemand eine Ahnung davon hat, wie schüchtern und sanftmütig der vorgebliche Großmaul-Gorilla tatsächlich ist. "Na, magst du mich?" Schnurre ich kess. "Ja." Raunt er verlegen. "Sehr?" Gurre ich frech. "Sehr!" Bekräftigt er eilig. "Na dann!" Grinse ich breit. "Gib Küsschen!" ~ð~ Ich schulde ihm eine Antwort. Er hat meine Frage ehrlich beantwortet, also stehe ich in der Pflicht. Er weiß nicht, warum er mich kennenlernen will. Wobei es da, zumindest aus meiner Erfahrung, gar nichts Bemerkenswertes gibt. Was es mir erleichtert. Er wird sich schnell langweilen, ich muss mir also keine Gedanken machen. Mein Alltag ist gleichförmig und ohne Besonderheiten. Ich habe keine imposanten Ziele oder überschäumenden Träume, kein Ehrgeiz in irgendeine Richtung. Ich möchte nur, dass mein Tag angenehm verläuft, zu meiner Zufriedenheit. Das ist, finde ich, schon ziemlich viel. Also, kein Grund mehr zu zögern. [Ich führe kein interessantes Leben. Wir können uns gern weiter unterhalten. Wie gestaltest du deine Freizeit?] ~ð~ Ist schon eine Weile her, seit ich Gäste über Nacht hatte. Die Damen ziehen es vor, in ihrem eigenen Heim beglückt zu werden, was ich absolut nachvollziehen kann. Ich mag's ja auch eher gemütlich und vertraut. Bei den Burschen nutze ich das Heimspiel hingegen für die Überraschungsmomente, ich bin ja ein großer Vernascher. Meist empfehlen sich meine Bettgenossen aber, bevor es zum eher lästigen "Morgen danach"-Szenario kommt. Nach der Action der banale Alltag mit Knautschfalten im Gesicht, ledriger Zunge, krachenden Gliedern, Hüftsteife... Kerle stehen eben schon auf Romantik. Wenn vielleicht auch nicht auf dieselbe wie die Damen! Wenn ich jemanden also bei mir häuslich beherberge, kommen wir auch sonst gut miteinander aus, locker, ungezwungen, wie Kumpels eben. Das ist jedoch, zugegeben, ziemlich selten. Als ich nun die Lider hochklappe, erwische ich meinen Gefährten dabei, neben mir zu hocken, im Zwielicht, mich zu betrachten. "Guten Morgen." Murmelt er ein wenig verschreckt, weil ich achtkantig hochfahre. "Morgen." Brumme ich, rubble mir energisch übers Gesicht. "Ist es schon spät? Hast du Hunger?" "Kurz nach Acht." Antwortet er artig. "Und nicht so sehr." "Mann, ich werde wohl alt, wenn ich länger penne als du!" Grolle ich mir selbst. "Oder, Moment, umgekehrt müsste es sein, die Alten brauchen ja weniger Schlaf, richtig?!" Er prustet leise. "Ich bin nur wach, weil ich austreten musste und bei der Gelegenheit gelüftet habe." Erklärt er sich. "Es soll ja wieder heiß werden." Wir haben, nach unserer Seance unterm Sternenhimmel, noch ein Nümmerchen geschoben, aus Rücksicht auf die Nachbarschaft aber bei verschlossenen Fenstern und Türen. "Da guckst du dem alten Sack hier zu, wie ihm graue Haare wachsen und die Bartstoppel die Visage überwuchern?!" Erkundige ich mich, rolle aus dem Sündenpfuhl, recke und strecke mich. Gut, rheumatisches Knirschen ist nicht zu registrieren! Er errötet, wendet sich ab, presst die Lippen zusammen. Ich sortiere meine Bettseite. Sein Anteil ist schon ordentlich arrangiert. "Kannst mir jetzt ruhig sagen, dass ich verdammt sexy aussehe und du aus reiner Höflichkeit gezögert hast, über mich herzufallen und die Glocken zum Klingeln zu bringen." Tut er selbstredend nicht. Stattdessen erhebt er sich elastisch, schlingt mir die Arme um den Nacken, schmiegt sich an mich. Der Größenunterschied ist gar nicht mal so unangenehm. Ich klopfe ihm behutsam auf den Rücken. "Stehst du immer noch auf mich?" "Ja." Raunt er an meinem Ohr. "Sehr sogar." Gut, damit kann ich auch sonntagmorgens leben. "Fein!" Ich grapsche mit voller Absicht und noch größerer Wonne seine prachtvolle Kehrseite beidhändig. "Ich brauche jetzt ne Katzenwäsche und Frühstück." Er lässt mich artig gewähren, was ich ganz gut finde. Disziplin schadet mir auch nicht. Nach dem Frühstück, sittsam in Bermudas und ein Top gehüllt, erledige ich meine Vierzehntages-Aufgabe: bei Muttern melden. Mein Vater ist eher der stoische Typ, ihm reicht ein Lebenszeichen alle Halbjahr. Mein wertes Mütterchen kennt mich besser, weiß um meine eher laxe Einstellung zu pflegeleichtem Bürgersein. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ich plaudere deshalb artig, versichere wie gewohnt, dass ich weder pleite noch obdachlos bin, keine heimlichen Kinder gezeugt habe oder die Absicht verfolge, mich wohlgefällig in die Schar der gesetzlich Verbandelten einzuordnen. Im Gegenzug werde ich über den Rest der Verwandtschaft auf dem Laufenden gehalten (Das dauert. Wir sind, wenn auch weit verzweigt, ein großer Haufen). Dazu gibt es noch das ärztliche Bulletin und die Ermahnung, bloß nicht dies einzukaufen, jenes zu essen, mich da herumzutreiben und dort nicht mal wieder blicken zu lassen! Ganz normal eben. Er hat sich während meiner Unterhaltung sehr rücksichtsvoll in die Wohnküche verzogen, was von meiner Warte aus gar nicht notwendig gewesen wäre. "Hier!" Strecke ich ihm meinen Quasselknochen hin. "Wenn du auch deine Mutter anrufen magst?" Sonntag ist ja Familientag. "Danke schön." Er sieht zu mir hoch, lächelt verlegen. "Wir telefonieren nicht so häufig. Wenn ich jetzt anrufe, würde sie denken, es sei etwas nicht in Ordnung." Erläutert er. "Bei meinem Vater reicht auch regelmäßig ein Lebenszeichen." Kommentiere ich schließlich, beuge mich runter, um ihn zu küssen. Wir tauschen einen prüfenden Blick aus. Und jetzt? Ich richte mich auf, strecke ihm die freie Hand hin. "Wir haben spät gevögelt, gepennt, gefrühstückt. Wie wäre es mit nem weiteren Hobby? Hast du Lust, ein bisschen die Muskeln spielen zu lassen?" Er greift zu, federt auf die Beine. "Ja, gern!" Der Bursche ist fast schon zu pflegeleicht! "Perfekt!" Schüttele ich den Anflug von Verantwortungsgefühl ab. "Wasser fassen, danach zischen wir ab!" ~ð~ Ich freue mich über seine Nachricht. Es geht also vorerst mal weiter. Bloß habe ich durchaus den Eindruck, dass er glaubt, da käme nicht mehr viel nach. Dabei suche ich ganz gewiss keinen Privatunterhalter! So anspruchsvoll und faul bin ich gar nicht. Nette Gesellschaft, hin und wieder, das wäre schon schön, ohne dass gleich der nächste Katastrophenalarm ausgegeben wird. Freizeitaktivitäten also. Hmm. [Danke, dass Du weiterhin mit mir in Kontakt stehen willst. Das freut mich sehr! In meiner Freizeit mache ich eigentlich nichts Besonderes. Ich lerne für den Abschluss, bastele im Haus herum, das wir gemietet haben, muss einkaufen gehen, lese und trainiere mit meinem Cousin Selbstverteidigungsübungen. Nicht besonders spannend. Was machst Du gern?] Zugegeben, das IST dröge. Andererseits läuft es gut so. Der Stress ist auch, sieht man mal von dem ganzen Shitstorm ab, viel geringer, seit wir hierher gezogen sind. Viel weniger ausgehen müssen, Clubs suchen, dies und das und jenes, dazu noch passendes Kleingeld abknapsen, die richtigen Klamotten, all der ganze Unsinn: weg. Hier genügt es mir schon, mal in der lauen Brise mit Varis einen Federball durch die Gegend zu löffeln oder mich mit Brombeersaft einzusauen, wenn wir in den Ranken auf Beutezug gehen. Alles einfach eine Nummer kleiner. Ha, so viel zum heimlichen Rudelführer! Dem es schon reicht, wenn er nach einem langen Tag eine Dusche bekommt, im Garten die Beine baumeln lässt! Ich seufze. Varis streckt mir ein selbstgemachtes Obstsorbet hin, guckt besorgt. Also lächle ich automatisch, recke den Daumen. "Noch ist er nicht abgeschreckt." Verkünde ich. Was dem kleinen Kerl ein erleichtertes Schnaufen entlockt. "Vielleicht, wenn du gern möchtest, kannst du ihn auch einladen." Eer räuspert sich verlegen. "Zu meiner Geburtstagsfeier." Schlägt er vor. "Das heißt, du weißt schon, was wir machen werden?" Erkundige ich mich schmunzelnd. Varis ist wirklich ein verdammt lieber Kerl! Er nickt. "Mir hat Tibors Vorschlag wirklich gut gefallen, mit den Outdoor-Spielen und einer Waffeltorte. Würde dir das auch Spaß machen?" "Du meinst, ohne Hüpfburg und Zauberer?" Necke ich ihn ein wenig. Mittlerweile ist er schon selbstsicherer, zwinkert mir einfach zu. "Klar macht's ihm auch Spaß!" Mischt sich mein notorischer Cousin dröhnend ein, umschlingt seinen Liebling besitzergreifend. Jede andere Antwort würde mir wohl argen Ungemach einhandeln. "Ich find's gut." Ignoriere ich ihn, konzentriere mich auf Varis. "Wir sollten uns rasch um die Reservierung kümmern, damit wir die Sachen bekommen, die dir am Besten gefallen." Gibt ja schließlich genug andere Feiern, die auch bei der städtischen Leihbücherei als Konkurrenz auftreten könnten. "Hab ich schon erledigt." Tibor grinst auf mich runter. "Jetzt nasch das Sorbet, bevor es wegläuft." Ich lupfe eine Augenbraue. "Sag nicht, du willst auf einmal doch Boss spielen?" Er bleckt bloß sein imposantes Gebiss. "Iwo. Dient bloß meiner persönlichen Befriedigung, meinen Liebling zu verwöhnen!" Varis errötet selbstredend dezent, während ich aufseufze. Was für ein Kitsch! Tatsächlich weiß ich, dass es Tibor absolut ernst damit ist. Varis ist nun sein Gradmesser für die Welt. "Du kannst ihn gern einladen, wenn er kommen mag." Versichert der mir gerade erneut. "Ich versuch's." Verspreche ich. Erst mal wäre es schon schön, wenn wir uns gemeinsam bei der kurzen Open Air-Veranstaltung treffen könnten. ~ð~ Ich mag es, mich zu bewegen, neue Übungen auszuprobieren. Das gefällt mir besonders, wenn ich einen Partner habe, der mir gewachsen ist. Damit meine ich Konstitution, Kondition und Kraft. Natürlich bin ich kein Olympionike oder Rekordler, keine Frage, trotzdem, wenn man sich ständig kontrollieren muss, weil der Gegenüber möglicherweise nicht die fixen Reflexe hat, nicht so beweglich ist oder bei gewissem Krafteinsatz einbricht, ist das ein wenig frustrierend. Die Konzentration auf das Wesentliche, nämlich die neuen Übungseinheiten oder Bewegungsabfolgen geht schlichtweg flöten. Kevin ist da eine angenehme Überraschung. Ich weiß zwar schon aus den Kursstunden, dass er ganz anders als sein altes Image agieren kann, trotzdem freut es mich. Ich provoziere bei ihm auch einen gewissen Ehrgeiz, stelle ich fest. Er will sich auf Augenhöhe (im metaphorischen Sinn) hocharbeiten. Das schmeichelt mir. Wir suchen uns einen Platz im Grünen, unter dem Schattenwurf einiger Bäume. Glücklicherweise ist es noch nicht so bevölkert, dass wir mit Konkurrenz rechnen müssen. Es macht mir Spaß, ihn ein wenig zu necken, zum Beispiel nach seinem T-Shirt zu haschen, ihm auszuweichen, ihn ein wenig zu foppen. Richtig gelernt hat er das nicht, ist unerschrocken eifrig darin, meine Tipps und Tricks umzusetzen. Natürlich nagle ich ihn am Ende doch ins hohe Gras, knutsche ihn bis zu zappliger Warnung, dass wir gleich eine schalldichte Hecke suchen müssen. Ich gebe nach. Wir teilen uns die letzten Wasserrationen, marschieren staubig, grasbefleckt, schwitzend, zurück in mein trautes Heim. Fragen muss ich nicht erst. Unter der Dusche folgt der erste Salut. Wir machen auf dem Bett weiter. Es fühlt sich einfach phantastisch an, weil ich Spaß habe, weil es einfach fluppt, weil er so unkompliziert ist. Nachdem ich für Hygiene gesorgt habe, strecke ich mich wieder neben ihm aus. Er kuschelt, trotz der Hitze, legt mir sein Haupt auf die Brust. "Seltsam." Stelle ich fest, pflüge durch seine Haare. "Du siehst zwar schon eine Weile zum Anbeißen aus, aber deine Ausstrahlung wird immer erotischer." Klar, ich will ihn ein bisschen necken, aber ich lüge auch nicht. Wenn er so in einem meiner Kurse auftauchen würde, hätte ICH schon vor der Aufwärmrunde Familienstand, Telefonnummer und meine Chancen bei ihm abgeklärt! Er robbt bäuchlings höher, bis wir auf Augenhöhe sind, blinzelt mich an. "Wenn du jetzt sagst, das ist schon Altersblindheit!" Drohe ich unglaubwürdig, da stemmt er sich hoch, hockt sich auf meine Hüften. Mjamm, ich kann definitiv da etwas Heißes mit genau dem richtigen Gewicht auf meinem Unterleib spüren! Ihm steht der Sinn jedoch nach anderer Kost. Er beugt sich über mich, küsst mich, wieder und wieder, fängt meine Hände ein, hält sie fest, fädelt unsere Finger ineinander, bis wir über die Handteller morsen können. Das ist jetzt kein bevorzugter Sport. Mir ist gar nicht mehr nach lockeren Scherzen zumute, mir wird sogar die Kehle eng. Ich mag ihn. Und ihm ist es ernst mit mir. ~ð~ Kapitel 8 - Konfrontationen Es ist schwierig, nach so langer Zeit eine imaginäre Hand auszustrecken, Kontakt zu suchen. Ich bin daran gewöhnt, für mich zu sein. Ich muss mich nicht rechtfertigen, nicht erklären, nicht beweisen, nicht maßregeln. Was mache ich gerne? Was mich nicht in Schwierigkeiten bringt. Andere Menschen bringen mich in Schwierigkeiten, weil es mir solche Mühe bereitet, in ihrer Welt korrekt zu funktionieren. Soll ich ihm also aufrichtig antworten? Es überrascht mich ein wenig, dass sein Alltag so unspektakulär klingt. Was machen andere in seinem Alter? Gehen sie nicht aus, treffen sich? Kurzurlaube, jede Menge Sport, Selbstoptimierung? Soziales Engagement? Ich bin unsicher. Sind das Klischees? Sollte ich besser den Durchschnitt der Extreme bilden? Was kann dir schon passieren? Stimmt, er hat keinen Einfluss auf meine Unterkunft oder meine Arbeit. Er kann mir nicht gefährlich werden, richtig? [In meiner Freizeit lese ich oder schlafe. Seit einer Erkrankung in meiner Kindheit habe ich nur noch ein stark eingeschränktes Geschmacks- und Geruchsempfinden, daher befolge ich eine Diät. Sport betreibe ich nicht. Ich lebe sehr zurückgezogen.] Nun ist zumindest alles zusammengefasst. Mehr ist zu mir auch nicht zu sagen. Gäbe es diesen Körper nicht, würde mein Selbst von der leichtesten Brise davongetragen, so fadenscheinig und unbedeutend ist es. ~ð~ Im Schlaf sieht er jünger aus. Na ja, er ist ja noch keine Zwanzig, was Wunder! Eigentlich bin ich nicht der kontemplative Typ. Zumeist kommt es ja ohnehin anders, als man denkt. Jetzt betrachte ich ihn, frage mich, ob ich wirklich eine gute Wahl für ihn bin. Ich bin zwar nicht verantwortungsscheu, doch offenkundig der Erste bei ihm für diverse Erfahrungen. Das raubt mir ein wenig die ungenierte Unbekümmertheit. Ein Boytoy, das werden sich die meisten denken, die MICH kennen. Ich habe nichts dagegen, nicht mal, wenn er sich selbst so einordnen würde. Die Welt ist groß, es gibt eine ganze Menge zu entdecken! Andererseits hege ich starke Zweifel, dass SEIN Spieltrieb entsprechend ausgeprägt ist. Wenn jemand aus Rücksicht auf die Gefühle der eigenen Mutter den Vater und die Halbgeschwister lieber nicht sieht, obwohl sie schon längst einen anderen Partner hat, zeugt das nicht von Leichtfertigkeit. Vielleicht mache ich mir aber auch viel zu viele Gedanken. Seit wann sind wir zusammen, seit vorgestern?! Da raucht mir schon die Grütze?! »Tsktsk!« Tadele ich mich selbst. »Sei kein Frosch!« Das klärt sich schon von selbst. Eben. Ich bin zwar knackig für mein Alter, aber eben doch mehr als doppelt so alt wie er. Wenn er sich selbst erkannt hat, auf eigenen Beinen steht, wird er sich was Passenderes suchen oder gefunden werden. Also keine Aufregung! Dieser Wirrwarr in meinem Schädel kann nur eine Erklärung haben. Die ist ziemlich beschämend: ich bin verliebt. URGH!! ~ð~ Er bestätigt mir, was ich schon weiß, nun ja, ausgeschnüffelt habe. Ich stelle mir vor, wie das ist, in diesem Kellerloch zwischen Büchern zu hausen, zu lesen und zu schlafen, bloß rauszugehen, um zu arbeiten, damit man wieder die Muße hat, zu lesen und zu schlafen. Ein ziemlich transzendentes Dasein. Ist er nicht einsam? Oder hat er dieses Stadium schon hinter sich gelassen? "Ich weiß nicht, ob der Typ dir gut tut." Mischt sich Tibor in meine Gedanken. "Du machst dir schon wieder nen Kopp." "Ich mach mir immer nen Kopp." Entgegne ich bissig, zucke mit den Achseln. "Das ist ein trainierter Reflex." Mein Cousin wirkt unzufrieden. Ich kann ihm da nicht helfen. Konstantin kitzelt meine Neugierde. Ich würde ihm gern all die Fragen stellen, die er in mir aufwirft. Ausgeschlossen natürlich, kein höflicher, rücksichtsvoller, anständiger Mensch würde das tun. [Können wir uns morgen auf ein Gespräch treffen? Eine halbe Stunde? Wärst Du dazu bereit?] Ich verstaue grimmig mein Telefon. Ich will ihm persönlich begegnen, herausfinden, ob ich mir dieses seltsame Interesse an ihm nicht nur eingebildet habe. Schlagabtausch in direkter Distanz. Hoffentlich sagt er zu! ~ð~ Ich werkle in meiner Wohnküche herum. Regelmäßige Fütterung des zweiten Gehirns ist angezeigt, bevor mein Magen den Mond anheult. Er tapst ein wenig verschüchtert herein, sexy verpennt. In der Jugend funktioniert das noch. Bei mir muss das Bügeleisen die Knautschfalten beseitigen. "Hast du auch Hunger?" Erkundige ich mich locker. "Bisschen." Krächzt er, umhalst mich von hinten, nicht erstickend oder aufdringlich, eher Schutz suchend. "Nichts Schönes geträumt?" Ich nutze die Spüle, reiche ihm ein Glas Kranenberger an, um die Gleitbahn zu schmirgeln. Er schluckt artig, murmelt Unverständliches. Ich schieße auch so ins Blaue. "Bammel vor morgen?" Schon flauscht er sich wieder an wie eine zweite Haut. Puh, ganz schön warm! "Ist doch alles perfekt, oder?" Schnurre ich, schmatze betont erdnah auf seine Wange. "Hast du nicht ein verdammt scharfes Wochenende hinter dir?" "Doch." Pflichtet er mir artig bei, küsst mich viel wohlerzogener auf meine Wange. "Hmm, soll ich dich vielleicht öfter in Verlegenheit bringen?" Erwäge ich laut. "weißt du, da könntest du dich eher ärgern, als hübsch durchgewuscht auf Wolke 7 schweben." Er kichert leise, drückt mich jetzt fester um die Mitte. "Komm schon!" Ich hebe die freie Hand, kraule sein Kinn. "Sag's mir! Mach mir Komplimente, bagger mich an!" Ihm entfleucht selbstredend nichts. Ich fühle mich jetzt ziemlich eingequetscht. Kraft hat er wirklich! Ich sortiere also das Abendessen zusammen, stippe ihm in die kurzen Rippen. "So, lass mal locker, mein Held, ich will servieren!" Eine halbe Drehung wird mir gewährt. Ich bin flugs eingekerkert, mein Schädel eingefangen. Er küsst mich, ziemlich engagiert. Mir summt es bis in die Zehen! Würde mein Magen nicht LAUTSTARK aufbegehren, hätte er mich wahrscheinlich als leichte Beute ins Schlafzimmer verschleppt. "Du stehst echt auf mich." Brumme ich, als er sich brav hinhockt. "Nicht, dass ich das jetzt kritisieren will..." Er schenkt mir einen hilflosen Blick, zieht die Schultern hoch, den Kopf ein. "Ist schon in Ordnung." Betont grob zerraufe ich seine Frisur, nehme auch Platz. Anstatt zuzulangen ringt er jedoch mit sich, schnauft, ballt die Fäuste. Ich WEISS, dass er sprechen kann! All die dämlichen Sprüche, die er vorher locker rausgelassen hat, da stotterte nichts, da klemmte kein Zahnrad, obwohl es manchmal besser gewesen wäre. "Ich liebe dich." Flüstert er schließlich hochrot, so bange, als würden ihm Prügel drohen. Sogar die Augen kneift er fest zu. Ich verkneife mir jeden Anflug von Humor oder neckendem Spott. Er sieht einfach erbarmungswürdig verletzlich aus. "He." Ich tippe behutsam auf eine verkrampfte Faust. "Das ist in Ordnung. Wir gewöhnen uns schon dran, richtig?" Er lächelt zögerlich, immer noch verschreckt. "Na, gib Pfötchen!" Kommandiere ich, meinen niederen Instinkten nicht widerstehend, drücke seine Hand versichernd. "Kriegen wir das jetzt hin, oder was?!" Ein minimales Nicken. Er schluckt schwer. "Weißt du, du kannst ruhig erzählen, dass du keine Wahl hattest." Ich zwinkere ihm zu. "Ich bin so ein scharfes Geschoss, ein absoluter Volltreffer, da greift man einfach zu! Ein richtiger Kerl braucht eben einen richtigen Kerl!" Bevor ich ihm weiter faule Sprüche auf die Zunge legen kann, damit er sie bei Bedarf als Verteidigungswaffen gebrauchen kann, hat er sich leicht erhoben, mir den Schnabel versiegelt. "So was werde ich über dich nicht sagen." Wispert er. "Ich bin lange genug feige gewesen." Mir bleibt für einen langen Moment schlicht die Spucke weg. Holla! Jetzt grinse ich vermutlich idiotisch mit meinem aufgeblasenen Ego-Ballon, der offenbar ganz überflüssig ist. "Ich kann besser sein." Er lächelt verlegen. "Ich werde mir wirklich alle Mühe geben, damit du dich nicht für mich schämen musst." Uff. "Tiefschlag!" Beschwere ich mich brummig. "Ich kann dir umgekehrt leider nicht versprechen, dass ich all meine Marotten und Unsitten so gut unter Kontrolle habe." Er schmunzelt, zwinkert mir zu, immer noch schüchtern. Verdammte Hacke, mir flattert glatt die Pumpe! "Ich muss jetzt was essen, sonst schaffe ich den Nachtisch nicht!" Verkünde ich grimmig. Das Dessert wird so was von die Erde zum Beben bringen, aber hallo! ~ð~ "Ich mach mir ein wenig Sorgen." Bekenne ich, kuschle mich bei Tibor an. "Weshalb?" Er krault mir den Nacken, auch die Partie zwischen meinen Schulterblättern. Sehr angenehm! "Ich habe den Eindruck, dass Ragnar ein wenig aufgeregt ist." Formuliere ich vorsichtig. Zumindest ich habe ihn selten so ärgerlich-entschlossen erlebt. Das ist sehr ungewöhnlich für ihn. Seine Verstimmung lässt er sich nur selten anmerken. Sie hält auch nie lange vor. "Liebling." Tibor hält inne, fasst mich unter, befördert mich auf seine Augenhöhe. "Du hast recht." Ich staune, nicht, weil Tibor mir beipflichtet, sondern ob seines sehr zufriedenen Lächelns. Ihm bereitet der mutmaßliche Gemütszustand seines Cousins offenbar größtes Vergnügen. "Jetzt ist bei ihm endlich der Punkt erreicht, wo er die Keule rausholt. Herausfindet, aus welchem Holz er geschnitzt ist." Er küsst mich auf die Nasenspitze. Das beruhigt mich nicht unbedingt. "Keine Angst." Tibor schmunzelt mich an. "Kleinholz oder Conan, der Barbar, das ist nicht seine Kragenweite. Es wird bestimmt spannend zu sehen, wie er neue Antworten auf Fragen sucht, die er schon längst geklärt glaubt." Ich kann ihm nicht ganz folgen, tippe aber auf seine Nasenspitze. "Verrät dir das dein Instinkt?" "Hmm." Nickt er. "Kleiner Werwolf-Vorteil." "Unheimlich." Murmele ich. "So habe ich dich gefunden." Tibor küsst mir die Stirn. "Ganz so übel ist es also nicht." Dagegen kann ich nicht argumentieren. Ich schmuse also lieber, weil es sich so herrlich anfühlt, in seinen Armen warm zu liegen, auch noch massiert zu werden. "Mach dir keine Sorgen." Er fasst behutsam unter mein Kinn, damit er zur Abwechslung mal auf den Mund zielen kann. "Rag ist ja nicht allein. Er hat uns." Gutes Argument, zumindest, was Tibor betrifft. Ich hingegen war noch nie eine große Hilfe bei Schwierigkeiten. "Weißt du schon, was du morgen unternehmen wirst?" Lenkt Tibor mich ab. Ich sollte meine Ferien auch nutzen! "Ich fürchte, ich werde mal in die Mathe-Bücher reinschauen." Seufze ich. Ich habe zwar den Schulwechsel einigermaßen geschafft, aber besser sollten meine Leistungen doch werden. "Tapfer, tapfer!" Tibor lacht sonor, die Vibrationen tanzen unter mir. "Da fühle ich mich bei meiner Paukerei gleich besser!" Ich hebe den Arm, streiche durch seine Mähne, stemme mich hoch, richte mich auf ihm ein, betrachte sein Gesicht. So vertraut und doch kann ich mich nie satt sehen! "Danke." Flüstere ich, weil Glück so flüchtig ist, ich es nicht vertreiben möchte. "Dito." Raunt er, hält meine Hände. Ich denke, ich bin doch noch nicht so müde. Wenn er sie loslässt, werde ich mich meiner lästigen Kleider entledigen. ~ð~ Der Wecker brüllt uns wach. Mich zumindest, ich habe tief geschlafen nach unser abendlichen Matratzengymnastik. "Guten Morgen." Ein Kuss landet auf meinem zerknitterten Gesicht in Höhe der Denkerstirn. "Ich mache Frühstück, ja?" "Hmrblrm." Bringe ich unmissverständlich hervor, raffe mich zur Flugrolle aus der Kampfarena auf. Bett machen, lüften, Katzenwäsche, Bermudas überstreifen! Der Autopilot springt ein, was mir sehr zupass kommt. Auf mich wartet schon ein Frühstück, ein etwas hibbeliger Ex-Bettgenosse und die Erkenntnis, dass ich einen Kaffee brauche, um auf Touren zu kommen. Der Wasserkocher brodelt aber noch, ich muss mir also behelfen, indem ich meinen Liebhaber schnappe, mir oral bestätige, dass zumindest hier die Muskeln schon geschmeidig auf Hochbetrieb arbeiten. Er keucht, als ich loslasse. Die nervöse Zappelei ist auch verschwunden. "Für den Blutdruck." Erkläre ich seriös. "Der Kaffee ist noch zu heiß." Und instant, weil ich ein fauler Hund bin, der nicht den Ein-Tassen-Dauerfilter benutzen will. Er lächelt, streicht mir durch den wirren Kopfputz. "Ist es jetzt denn besser?" "Hmmm." Erwäge ich, verdrehe die Augen. "Könnte noch einen Nachschlag brauchen..." Ja, sehr albern, ich weiß, trotzdem. Es fühlt sich gut an und mir gefällt's. Wir futtern sittsam. Die Zeit haben wir beide nicht gestohlen, auch wenn ich nicht ganz so früh auf der Matte stehen muss. Im wahrsten Sinne des Wortes, ich springe nämlich als Vertretung bei einer Senioren-Gymnastik ein. "Brauchst du was für mittags?" Erkundige ich mich, während er seine Sachen eilig packt. "Nein, ich esse in der Kantine." Schon schultert er sein Gepäck. "Wir sehen uns am Dienstag, in Ordnung?" Ich bremse mich, ihn bloß nicht erneut zu knutschen, sonst kommen wir nie zu Potte! "Ja." Er nickt, wirkt wieder beklommen. Könnte sich herumgesprochen haben, dass zwischen uns was läuft. Ich mache die Wohnungstür auf, erwische ihn am Handgelenk. "Kannst anrufen, wenn was ist." Biete ich an. "Ich meine, wenn dich der unwiderstehliche Drang überkommt, mir Liebessonette vortragen zu wollen. Oder für Telefonsex.." Ja, das Treppenhaus hat Spaß! Nicht tatsächlich, die Mieterin unter mir ist stocktaub, ihr Nachbar verreist und meine Nachbarin ohne Kabel im Gehörgang gar nicht existenzfähig. "Telefonsex?!" Er staunt mich an. "Nicht wischen oder tippen." Helfe ich großzügig aus. "Da muss man sprechen! Ich wette, ich kann mich noch an die meisten anatomisch korrekten Bezeichnungen erinnern!" Er prustet. He, das ist wirklich wichtig! Nichts törnt stärker ab als "und dann mach ich mit Dingsda...also unten.. weißt schon... also..." "Was denn, auch wir Dinosaurier konnten uns mal amüsieren!" Grolle ich grimmig. Ich bekomme natürlich doch meinen ausgiebigen Kuss auf der Türschwelle, danach einen prächtigen Blick auf seine aparte Kehrseite, als er los strampelt, um die Zeit aufzuholen. ~ð~ Ich bin verwirrt. So plötzlich will er mich treffen? Ist etwas passiert? Geht es vielleicht um die Open Air-Veranstaltung? Was kann die Ursache sein? Er will mich sprechen, eine halbe Stunde. Was kann mir schon geschehen? Habe ich ihm nicht alles mitgeteilt? Vielleicht will er mir persönlich das Ende unserer Unterhaltung unterbreiten. Nicht unwahrscheinlich. Warum also zögern? Die Ungewissheit im Hinterkopf tragen? [Wir können uns gegen 18 Uhr an der Ecke treffen, wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind.] ~ð~ Ich bin überhaupt nicht darauf vorbereitet. Sogleich überkommt mich ein Gefühl von Panik. Hat sie mich nicht erst Anfang des Jahres hierher geschickt? Warum soll ich jetzt zurück zu ihr? Ich verstehe es nicht, sie liegen doch immer noch im Streit. Und ich will nicht. Der Gedanke, von hier weg zu müssen, Tibor nicht mehr sehen zu können, das will ich nicht. "Ich möchte hier bleiben." Dieses Mal gebe ich nicht nach. Sie weint. Das ist schlimm, so schlimm, dass mir auch die Tränen kommen. Man darf seine Mama nicht zum Weinen bringen, ich weiß. Ich habe es so oft gehört, immer befolgt, mich grässlich gefühlt, wenn ich nicht so war, wie sie mich wollte. Es tut mir weh, ich kann kaum schlucken. Aber dieses Mal gehorche ich nicht. ~ð~ Ich bin etwas zeitig eingetroffen. Wenn er kommt, können wir uns auf eine der Bänke am Spielplatz setzen, öffentlich genug, ohne indiskret zu sein. Seit seiner Mitteilung, die ich in der Mittagspause gelesen habe, konnte ich die Frage nach den Hintergründen verschieben. Auf die Liste nach hinten setzen, nicht vergessen, aber später zu behandeln. Das hilft mir, mit meinen gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten umzugehen, nicht in Panik zu verfallen. Ich bin überrascht, als er herbei eilt. Ich erkenne ihn zwar, aber mir war nicht bewusst, dass er ein sehr attraktiver, junger Mann ist. Es verblüfft mich. Mein "Bild" von ihm erschien mir eher "auf Augenhöhe", dabei haben wir offenkundig nicht dasselbe Niveau. "Entschuldigung, ich wurde aufgehalten, danke, dass du gewartet hast, oh, richtig, hallo Konstantin, ich bin Ragnar, das haben wir noch gar nicht absolviert!" In Hochgeschwindigkeit spricht er, streckt mir die Rechte hin, schüttelt meine Hand, atmet tief durch. "Hallo, angenehm, Konstantin." Sortiere ich vorsichtig die Floskeln. "Danke schön, dass du zugesagt hast!" Er nickt nachdrücklich, lässt meine Hand los. "Gerade schwirrt mir nämlich der Kopf, und das reicht mir! Kann ich dir davon erzählen?" Ich nicke verblüfft, sehe aber kein Hindernis. Zuhören fällt mir nicht sonderlich schwer. Da sprudelt er schon heraus, von seinem Cousin, von dessen Freund, von den Gerüchten, der Werwolf-Gemeinschaft, einem Kevin, dem Skandal, seiner Beteiligung, den unberechtigten Unterstellungen und abschließend von subversiven Molekülen, die Anziehungskraft ausüben, die er aber nicht erkennen kann, was alle anderen jedoch können... Ich bin dankbar für die solide Bank. "Deshalb schwirrt mir der Kopf." Erklärt er gerade mit empörten Blick. "Ich weiß nicht, warum ich dir damit auf den Keks gehe, aber ich will wenigstens wissen, ob mein angebliches Helfersyndrom sich mal wieder selbständig macht, oder ich wirklich neugierig auf dich bin. Selbst wenn ich diese verflixte Molekül-Theorie von Tibor für Quatsch halte!" Er atmet tief durch, wischt sich mit beiden Händen in den Haaren herum, schließt die Augen, sackt ein wenig in sich zusammen. "Es tut mir leid, dass ich dich damit überfalle, dabei hast du gar nichts damit zu tun." Er lächelt. An seiner Haltung erkenne ich Verlegenheit und echtes Bedauern. "Das macht nichts." Antworte ich konzentriert. "Ich kann nachvollziehen, dass die Situation tatsächlich sehr verwirrend ist. Was diese Theorie betrifft..." Ich zögere. "Da bin ich allerdings überfragt. Mit zwischenmenschlichen Beziehungen kenne ich mich nicht gut aus." "Ich offenbar auch nicht." Knurrt er, hebt den Kopf, um mich anzusehen. "Bist du einsam?" Die Frage überrumpelt mich, ist mir noch nicht gestellt worden. Über eine Antwort muss ich demnach erst grübeln. "Ich fühle mich nicht einsam." Taste ich mich vor. "Ich bin in meiner Gesellschaft und der meiner Gedanken." Sein Blick ruht auf mir, abwartend, als fehle eine entsprechende Erläuterung. "Ich BIN meine Vorstellung." Formuliere ich bedächtig. "Dazu kommen all die Vorstellungen von Personen, von Gegenständen, von der Umgebung, von Ideen, von Begebenheiten. Eigentlich ist ja alles imaginär, was ich wahrnehme, meine Version von Raum und Zeit. Sie ist angefüllt von Wahrnehmungen, von Möglichkeiten, von Staunenswertem. Deshalb bin ich nicht einsam." Er überlegt, die Brauen kritisch zusammengezogen. Warum habe ich ihm so freimütig geantwortet? Keine Ausflucht gesucht? Obwohl ich darin ausgesprochen ungeübt und leicht durchschaubar bin. Mich überkommt eine gewisse Leichtigkeit. Diese Begegnung ist nur eine weitere, wie ein Schmetterling wird sie davonflattern. Ich werde keine Nachteile erleiden, nicht wahr? "Was ist mit physischem Kontakt?" Hakt er schließlich nach. "Schafft der nicht andere Realitäten als die Vorstellung?" "Ich habe mich daran gewöhnt, wenig physischen Kontakt zu haben." Antworte ich ihm aufrichtig. Das elektrische Feld einer anderen Person ist mir nicht länger vertraut, vom Händeschütteln einmal abgesehen. Ich vermisse es nicht. Er lächelt nachdenklich. "Erinnert mich ein bisschen an Sci-Fi mit künstlicher Intelligenz und der Auslagerung des eigenen Bewusstseins in Speicherelemente. Ist es wirklich in Ordnung?" "Es ist möglich, sich daran zu gewöhnen. Wir formen unsere Realität selbst in unser Wahrnehmung. Was wir nicht erfahren, benötigen wir nicht, weil wir es nicht kennen." Antworte ich. Selbst wenn man etwas kennt, kann man sich doch daran gewöhnen, es nicht mehr zu erfahren. Er schweigt eine ganze Weile, den Blick auf die Hände gesenkt, die er auf dem Schoß verschränkt hat. Mich stört das nicht. Ich bin eher verblüfft, dass ich mich mit jemandem über dieses Sujet unterhalte. Mir kommen meine Gedanken nie neu oder besonders vor, also äußere ich sie erst gar nicht. Meine Dialoge finden allein in meinem Kopf statt, wenn ich entsprechende Passagen und Abhandlungen lese. "Das Merkwürdige ist, dass ich trotz all des Chaos gerade einer Sache gewiss bin: ich möchte mich weiter mit dir unterhalten." Er wendet sich mir zu. "Egal, ob da nun Moleküle reinfunken oder nicht!" Ergänzt er grimassierend. "Tatsächlich?" Ich bin überrascht. Er erhebt sich. Ich folge seinem Beispiel. Die halbe Stunde haben wir längst überzogen. "Du hast mir geschrieben, dass dein Geruchs- und Geschmackssinn nur noch rudimentär vorhanden sind, richtig?" Ich nicke beipflichtend. "Umgekehrt verhält es sich nicht so." Er studiert mich lächelnd. "Offenbar kann ich ganz unterbewusst eine Menge an dir gut leiden. Außerdem hat sich der Bodennebel in meinem Verstand gelichtet." Er zwinkert. "Ich bin gern behilflich." Optioniere ich erstaunt. Verstehe ich das richtig: er fühlt sich von mir positiv angezogen? "Darf ich mich morgen wieder bei dir melden?" Er streckt mir die Hand hin. "Ich muss dir ja auch noch Details zur Open Air-Veranstaltung senden, richtig?" Ich ergreife sie, erwidere automatisch den knappen Druck. "Ich habe keine Einwände." Antworte ich. "Vielen Dank für die Mühe." "Ist keine Mühe." Er lächelt wieder. "Ich freue mich drauf. Danke für deine Zeit heute Abend. Das hat mir sehr geholfen!" "Gern geschehen." Murmele ich verblüfft. Wirklich erstaunlich! Wir verabschieden uns höflich. Der Zustand der Überraschung will sich so schnell nicht legen. Ist es so einfach, sich privat auszutauschen? ~ð~ Ich ahne, dass etwas nicht stimmt. Die kleine Glocke am Gartentor fehlt. Als ich unser Heim betrete, kehrt mir mein Varis den Rücken zu, wischt mit einem alten Lappen über den Tisch. "Was ist passiert?" Er schrickt zusammen, aber ich bin schon bei ihm. Eine blutige Schramme auf der rechten Wange, auch die linke ist verfärbt. "Wer hat das getan?" Ich muss mich beherrschen, alles unter Kontrolle halten. Jemand war hier, hat ihn misshandelt. Seine Augen sind geschwollen, entzündet. Kehrschaufel, Besen, Putzeimer... "Es ist nicht so schlimm..." Versucht er zu lächeln. Ich bekomme kaum noch Luft. Raus hier, bevor ich explodiere. ~ð~ Tibor ist wütend. Ich wollte es ja erklären, aber... Ich laufe ihm nach. Er geht schnell, bis zur alten Litfaßsäule, zieht sich den Ring vom Finger, steckt ihn in die Hosentasche. Er schlägt auf die Säule ein, tritt, ganz still, ohne ein Wort. Sein Zorn ist so immens, dass ich die Erschütterungen im Boden spüre. ~ð~ Bis vor einigen Augenblicken ging es mir richtig gut. Nun ja, beinahe. Konstantin ist wirklich ausgesprochen ungewöhnlich. Wahrscheinlich wirkte unsere Unterhaltung auf Außenstehende bizarr. Aus irgendeinem Grund waren wir auf derselben Wellenlinie. Mit meinem Leben ist doch eigentlich alles in Ordnung. Den ganzen Stress habe ich mir nur aufgehalst, weil ich fremde Erwartungen zu meinen eigenen gemacht habe! Schluss damit! Bin ich eben rosa Rudelführer ohne besonderen Ehrgeiz und gewaltige Träume! Mir geht's gut. Wenn er in Büchern leben kann, kann ich auch mit meiner kleinen Idylle hier gut auskommen. Zugegeben, ein bisschen verwirrt bin ich noch. Tibors Teilchenschleuder-Theorie. Da ist etwas an Konstantin, was mich fasziniert. Ich kann es nicht festnageln. Muss ich aber auch nicht! Er hat zugestimmt, sich weiterhin mit mir zu unterhalten, mich zu treffen. Also! Unseliger Weise registriere ich trotz meiner verkümmerten Sinne, dass am Ende der abendlich einsamen Route jemand wuchtig gegen die alte Litfaßsäule wütet. Das kann nur Tibor sein! Ich lege einen rekordreifen Spurt hin, steige vom Rad runter, packe todesmutig meinen verrückten Cousin an den Schultern. "Das langt jetzt, verdammt! Was treibst du da?!" Ich habe große Mühe, ihn festzuhalten. Varis kommt mir zur Hilfe, wirft sich von vorne in das Gerangel. Das bremst ihn endlich. "Was ist hier los?!" Brülle ich mir den Schrecken von der Seele. Vorsichtig lasse ich locker, rieche deutlich das Blut. Klar, er hat sich die Fäuste aufgeschürft. Die Turnschuhe sehen auch nicht besser aus. "Tibor!" Knurre ich in seinen mächtigen Nacken. "Ich lass jetzt los. Hände weg von der Säule, okay? Genug getobt." Ich kann ihn zwar freigeben, aber vorne hängt Varis, schluchzt erstickt. Ich verstehe kein Wort. "Kommt, ihr beiden!" Sammle ich mein Fahrrad auf. "Klären wir das zu Hause." Tibor antwortet mir nicht, pflückt Varis jedoch von seiner Mitte, hebt ihn hoch, trägt ihn wie ein kleines Kind, die dünnen Beine um seine Hüften gewickelt. So viel zu meinem erfreulichen Abend. Nachdem ich meinen Drahtesel an Tibors angekettet habe, erschließt sich mir auch langsam, was dieses Tohuwabohu ausgelöst hat. "Tibor, unter die Dusche! Danach verbinde ich dich. Keine Widerrede, du saust hier noch alles ein!" Er gehorcht mir tatsächlich. Übel, übel. Varis schnüffelt, geht mir aus dem Weg, räumt herum. Ich vermisse einen Teil des Geschirrs. Auch das alte Radio fehlt. Hmm. "Varis, setz dich mal, ja?" Ach du Schande. Ich krame nach Eis, drücke es ihm in die Hände. "Auflegen, okay? Hast du die Schramme desinfiziert?" "Essig." Murmelt er. Autsch. Tibor beehrt uns wieder, ein Schnellduscher und Minimalist, was die Bekleidung betrifft, nämlich bloß Unterhosen. Er setzt sich Varis gegenüber, legt die Faust auf den Tisch, öffnet sie, darin sein Ring. "Du spinnst ja!" Knurre ich. Seine Hände sehen wirklich übel aus. Natürlich beginnt Varis bei dem Anblick wieder zu schluchzen. Das ganze Kerlchen zuckt. So kann das nichts werden! Etwas grob ziehe ich ihn vom Hocker, dirigiere ihn auf Tibors Schoß. "Gib mir eine Pranke!" Fauche ich, betätige mich nacheinander als Bandagierer vom Dienst. Wenigstens seine Füße haben außer ein paar Schürfwunden nicht allzu viel abbekommen. "So, Varis, genug Salzwasser, lass mich dein Gesicht sehen!" Ja, ich bin grob! Wahrscheinlich wäre die Litfaßsäule sonst ein Trümmerhaufen. Ich lege ihm mit abgekühltem Kamillentee getränkte Papiertaschentücher auf die geschwollenen Augen, inspiziere die Wangen. "Und sonst?" Tibors Ruhe macht mich nervös. "Hast du noch woanders was abbekommen?" Er schluchzt unterdrückt, steht auf, legt die improvisierten Augenschmeichler ab, lupft ungelenk sein ausgeleiertes T-Shirt. Ich bearbeite vorsichtig die Verfärbungen, zupfe ihm den Stoff wieder herunter. "Setz dich wieder." Drücke ich ihn auf Tibors Schoß, reiche ihm das Kamillenduo. Ich setze einen Topf auf, schmelze darin Schokolade, die ich mit Sojamilch aufrühre. Klar, es ist heiß, aber das ficht mich nicht an, Seelentröster sind gefragt. "Wer hat hier randaliert, Varis?" Er würgt leise, bringt aber doch elend die Wahrheit heraus. "...meine... Mutter..." Ich stelle den Herd ab, verteile die heiße Schokolade in drei Becher. Glücklicherweise haben wir noch ausreichend intaktes Geschirr. "Macht sie das öfter? Dich verprügeln, Sachen herumwerfen, Dinge kaputtschlagen?" Varis hält den Kopf gesenkt, die Hände auf den Augen. Ich bin trotz allem froh, dass sie abgehauen ist, bevor Tibor kam. "Will sie dich zurückholen?" Ich stelle die Becher ab, setze mich. Wenn sie das durchziehen möchte, werden wir versierte Hilfe brauchen. Das wird nicht einfach. "Ich hab ihr gesagt, dass ich bleiben will." Varis ringt nach Luft. "Aber~aber sie will das nicht..." "Und weil sie ihren Willen nicht bekommen hat, ist sie ausgerastet." Konkludiere ich gnadenlos grantig. Ich erhebe mich, nehme meinen Becher und mein Telefon mit. "Entschuldigt mich mal ne Weile." Knurre ich. "Ich muss was erledigen." Die Kavallerie anfordern, aber besser im Garten, damit Tibor nicht hört, was seiner Mutter zum Thema einfällt. ~ð~ Kapitel 9 - Stand by your man! Mir ist so elend zumute. Alles tut weh. Ich wollte nicht, dass so etwas passiert. Tibor sagt nichts. Das macht mir Angst. Was soll ich tun? Wie soll ich es gutmachen? Seine Hände... Er kann ja nicht mal den Becher halten mit den Verbänden! Wenn ich ihm helfe, wird er das annehmen? ~ð~ Als ich das ehemalige Schlachtfeld wieder betrete, im sicheren Bewusstsein, eine Lawine in Gang gesetzt zu haben, damit wir versierte Hilfe bekommen, tupft Varis gerade mit seinem T-Shirt meinem Cousin Tränen vom Gesicht. Dabei schluchzt er schon wieder. So kann das ja nichts werden mit dem Abschwellen! "Hört mal, ihr beiden Helden!" Seufze ich. "Trinkt eure Schokolade, dann ab in die Falle! Sonst sitzen hier morgen Früh nur Rosinen herum!" Ganz abgesehen davon, dass mir ihr Kummer auf den Magen schlägt. ~ð~ Mit den Verbänden habe ich Mühe, unser Bett zu machen. Ich bin immer noch wütend, aber die schlimmste Rage ist zumindest verraucht. Er darf nicht zurück. Ihr Geruch macht mich rasend. Dass sie Rechte an ihm hat und ich keine, das treibt mich die Wände hoch. Er hat mir nicht erzählt, dass sie so ist. Ich habe nicht ernsthaft geglaubt, dass jemand wagen wird, ihn einzufordern. "Es tut mir leid." Wispert er, hockt auf der Bettkante. Ich strecke den Arm aus, damit er wie gewohnt an meine Seite schlüpft. Ich wünschte, ich wäre wie Rag. Er würde sich besser kontrollieren können. Er würde Varis keine Angst machen. "Sie bekommt dich nicht!" Würge ich heraus. "Ich wollte dich nicht so aufregen." Beteuert er, tastet nach meinen Händen. "Das tut mir so leid!" Ich will es ihm nicht sagen. Er hat so viel auszuhalten. "Tibor?" "...sie ist... krank. Nicht wahr?" Er kauert sich noch kleiner an meine Seite. Geahnt hat er es wohl. "...es tut mir leid..." Nein. Es soll dir nicht leid tun. Du hast nichts falsch gemacht. "Ich lass dich nicht gehen, Varis. Du trägst keinerlei Schuld. Gar keine!" Er glaubt es nicht. Mir zu gefallen wird er nicht widersprechen. Aber Rag wird mir glauben. "Wir streiten nicht." Krächze ich. "Nein!" Beteuert er, schmiegt sich an mich. Ich küsse seine heiße Stirn. Er hat Schmerzen. "Alles wird gut." Verspreche ich. "Hab keine Angst. Auch nicht vor mir." Er streicht über meine Arme, so vorsichtig und scheu wie am Anfang. "Ich habe keine Angst vor dir." Wispert er. "Sondern um dich. Ich will dich nicht verletzen." "Das hast du nicht. Du hast nichts falsch gemacht." Aber auch nicht richtig genug für dein eigenes Urteil, deshalb wirst du keinen Schlaf finden, dich elend fühlen. "Alles wird gut." Wiederhole ich, summe leise vor mich hin, ein Schlaflied, ganz ohne Worte. Soll ihn wiegen, einlullen, für eine Weile entführen in eine bessere Welt. Ab morgen werden wir kämpfen. ~ð~ "Ich hab deine Mutter angerufen." Teile ich meinen Cousin mit, bevor er sich echauffieren kann. Er brummt bloß. "In der Thermosflasche ist Tee mit Baldrian." Ich schiebe ihm seine Frühstücksschüssel zu, heute etwas flüssiger, damit er nicht so viel mit Besteck herumfuhrwerken muss. "Fahr du bei der Drogerie vorbei. Die haben da Stoffhandschuhe für deine Pranken." Nach Varis zu fragen erspare ich mir. Wenn es irgendwie möglich wäre, säße er hier. Also die leichte Droge im Tee, damit er die Schmerzen verschlafen kann. Hoffe ich zumindest. "Wir werden Hilfe brauchen." Knurre ich. Die Sache mit dem Kindergeld konnten wir ja noch deichseln, Tibors Auftreten hat die Urgroßeltern ausreichend beeindruckt, aber eine gefestigte rechtliche Position steht uns nicht zu Gebote. Leider. Tibor schluckt, kaut, pult sich die Verbände von den Händen. Definitiv kein Anblick für einen nüchternen Magen, aber ich habe schon damit gerechnet. "Lass den Blödsinn, okay? Du machst ihm Angst." Bricht bei mir mal wieder der große Bruder durch. Er ballt die Fäuste, erprobt die Beweglichkeit seiner Finger. Muss höllisch schmerzen. "Ich lass ihn nicht zurück." Unterrichtet er mich grimmig, den Blick auf seine Hände konzentriert. "Die Frau ist krank." "Glaube ich gern, aber so einfach..." Kontere ich, werde von ihm aber unterbrochen. "Sie ist KRANK!" Faucht er, funkelt mich an. "Ich hab's GEROCHEN! Es hat ihr gefallen..." Er steht abrupt auf, wendet sich ab, schnappt nach Luft. So langsam begreife ich. "Deine Instinkte?" Hake ich nach, erhebe mich bedächtig. "Das könnte uns nützlich sein." Er ringt um Fassung, knirscht hörbar mit den Zähnen. "...es hat GESTUNKEN..." Zischt er, beugt sich hastig unter den Wasserhahn in der Spüle, die seltsam leer ist ohne das übliche Geschirr. Das liegt ja in einem Abfallsack in Trümmern und Scherben. Ich lasse ihn sich abkühlen, den Mund ausspülen. Wie stark sein besonderes Gespür ist, weiß vermutlich niemand. Tibor handelt diese Aspekte mit sich selbst aus. Ich frage mich, ob seine Mutter eine Ahnung hat, was für ein außergewöhnlicher Bursche er eigentlich ist. "Wir kriegen das auf die Reihe." Lege ich ihm eine Hand aufs breite Kreuz. "Varis gehört zu uns. Das klappt schon." Wenn er sich beherrscht, wenn wir keine Fehler machen, wenn wir uns professionelle Unterstützung holen. "Jetzt machen wir uns auf die Socken." Gebe ich die Marschrichtung vor. "Behalte dein Telefon im Auge." Ich weiß, dass es ihm widerstrebt, Varis allein zu lassen, sich nicht mal morgens von ihm zu verabschieden. Da müssen wir jetzt durch. ~ð~ Ich erwache viel zu spät, kann kaum aufstehen. Es fühlt sich an, als trüge ich einen Panzer. Mir ist schwindlig, ich habe rasende Kopfschmerzen. Tibor und Ragnar sind schon weg, natürlich. Auf dem Tisch liegt eine Nachricht. Wenn etwas ist, soll ich mich melden, unbedingt. Ich schenke mir den Tee aus der Thermoskanne ein, schlucke mühsam gegen die Nadelstiche in meiner Schläfe an. Mir ist so richtig elend zumute, dass ich Mühe habe, mich auf den Beinen zu halten. Mit Bleigewichten an den Gliedern schleppe ich mich zurück in Tibors Zimmer, rolle mich auf sein Bett. So geht es etwas besser, die seltsame Benommenheit reduziert sich ein wenig. Vielleicht wage ich einen zweiten Anlauf in einigen Minuten... Als ich zu mir komme, rieche ich das Aroma von Brühe. Neben mir, auf einem Hocker, sitzt jemand. "Ah, Herzchen, bist du wach?" Die Stimme ist mir vollkommen fremd, aber die panische Anspannung verliert sich sofort. Nicht meine Mama! Ich blinzele, da tupft ein feuchtes Tuch energisch über mein Gesicht. "So was, so was, hässliche Schramme! Dabei hast du so ein hübsches Gesicht!" Ich schlucke, versuche, mich auf die Ellen zu stemmen. Wer ist das? Eine ältere Frau, rundliche Erscheinung, gemütliches Aussehen mit Apfelbäckchen, Strickjacke und kurzen grauen Haaren, eine Halbbrille mit Kette auf den Oberkopf geschoben. "Elfie." Sie streckt mir ihre kräftige Hand hin. "Tibors Oma. Und du bist Varis." Hilft sie mir aus, falls ich es vergessen haben sollte. "Guten Tag, freut mich." Stammele ich überrumpelt. "Ich hab Gemüseeintopf aufgesetzt." Unterrichtet sie mich, während ich Ähnlichkeiten ermittle. "Du magst ja kein Fleisch, richtig? Da ist noch meine spezielle Salbe! Selbst gemacht!" Sie kramt in einer Tasche von der Größe eine Umzugskartons herum. "Für die blauen Flecken!" Ich bin zu verlegen, um etwas Zusammenhängendes über die Lippen zu bringen. "Da ist sie ja!" Triumphierend wird mir ein Tiegel vorgestellt. "Kannst du aufstehen? Wir machen uns gleich ans Werk!" Ich würde mir gern die Peinlichkeit ersparen, aber in ihren dunklen Augen liegt dieselbe Befehlsgewalt, die Tibor untersteht. Also schicke ich mich drein. Das Schlamassel habe ich zu verantworten. ~ð~ Ich nutze meine Möglichkeiten. Tibors Mutter hat schon alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit wir rechtlichen Beistand bekommen. Was genau Tibor "gerochen" hat, will ich nicht genau ergründen, um seine Sicherungen intakt zu lassen. Ein paar Hinweise sollten genügen, um tiefer zu graben. So erfahre ich natürlich auch, dass Oma Elfie spontan eingesprungen ist, um Varis zu betütteln. Das ist gut, da sie trotz ihres Erscheinungsbilds eine beinharte Marke darstellt. Ein Feldwebel ist nichts dagegen. Eilig lasse ich Tibor wissen, dass Varis versorgt und beschützt wird. Mir fällt ein, dass ich ja Konstantin (war das wirklich erst gestern?!) versprochen habe, mich um die Open Air-Veranstaltung zu kümmern! So viel zu meinem langweiligen, unspektakulären Leben... ~ð~ Er ist pünktlich, begrüßt die Kursteilnehmerinnen höflich, lässt sich sogar artig die neue Frisur komplimentieren. Ich suche selbstredend sofort nach Anzeichen von Kummer, Bedrückung, Mobbing, erkenne aber nichts. "Stell deine Tasche hinten ab." Weise ich ihn an. Das gibt mir die Gelegenheit, ihn dort ungesehen zu stellen, genau zu inspizieren, ob es ihm tatsächlich gut geht. "Sind dir keine Liebessonette eingefallen?" Erkundige ich mich also gedämpft in seinem Rücken. "Das kränkt mich jetzt schon." Er wirbelt auf den Absätzen herum, fasst mich um die Hüften, erstickt weitere Nickeligkeiten meinerseits durch einen sehr ausführlichen Kuss. "Okay." Schiebe ich ihn widerwillig auf rettende Distanz. "Ich freue mich ja auch, aber wir müssen noch arbeiten. Vor dem Vergnügen." Das wird gar nicht so einfach, wenn ich mir meinen Gürteläquator begucke! ~ð~ Die Sache mit den Händen habe ich als Fahrradunfall deklariert. In der richtigen Tonlage fragt auch niemand genauer nach. Es erleichtert mich zu wissen, dass meine Oma vor Ort ist. Sie kann alles und alle in die Flucht schlagen. Ich zwinge mich, dem Unterricht zu folgen, mich auf das zu konzentrieren, was vor mir liegt. Sobald die letzte Stunde beendet ist, trete ich in die Pedale. Als ich ankomme, steht kein Auto mehr vor unserem Haus, dafür brennt in der Gartenlaterne die Kerze. In Windeseile kette ich den Drahtesel an. Da erscheint Varis auch schon hinter mir, verlegen, fast in seinen Kleidern verschwindend. "Deine Oma ist schon weg, wegen der drei Hunde..." Die mir gleichgültig sind. Vermutlich irgendwelche uralten Stromer, die im Tierheim ihren Lebensabend verbringen, regelmäßig von ihr ausgeführt werden. Das kennen wir schon. Meine Selbstbeherrschung pulverisiert sich. Ich halte auf ihn zu, ermahne mich gerade noch, ihn nicht zu fest an mich zu ziehen, um ihm nicht mehr als unbedingt nötig weh zu tun. Seine dünnen Arme schlingen sich um meinen Nacken. Er wispert meinen Namen erstickt. "Alles wird gut." Verspreche ich ihm, trage ihn wie ein Kind auf den Hüften, gehe auf und ab. "Alles gut." Unmöglich, mich von ihm zu trennen! Seinen Duft, seinen Geschmack, sein gesamtes Wesen: ich WILL nicht ohne ihn sein. Ich gebe ihn nicht her. ~ð~ [Können wir uns Mittwoch vor Deiner Firma gegen 18 Uhr treffen? Ich habe die Armbänder besorgt, quasi die Eintrittsspende. Gestern gab es noch etwas Trubel zu Hause, deshalb bin ich gerade etwas beschäftigt. Wie lief es bei dir heute?] Seine Nachricht kommt spät, nicht zu meiner Mittagspause. Deshalb schaue ich am Abend noch mal in mein Telefon. Mich für seine Mühe bedanken, den Termin bestätigen, das ist keine Herausforderung. Aber wie soll ich seine Frage beantworten? Nach meinem Tagewerk hat sich, mal abgesehen von Leistungsprüfungen, seit Ewigkeiten niemand mehr erkundigt. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Eine Aufzählung der erledigten Aufgaben steht nicht zur Debatte. Die Höflichkeit gebietet, "gut" zu antworten, ähnlich wie bei der Frage nach dem werten Befinden. Ein ärztliches Bulletin will niemand hören. Ist das andererseits aber nicht ein wenig abweisend? Mit einer Floskel zu reagieren? Diese würde auch den Gesprächsfaden abtrennen. Schwierig. [Vielen Dank für die Mühe trotz Deiner privaten Herausforderungen. Ich werde pünktlich vor Ort sein. Mein Tag verlief ereignislos. Kann ich Dir möglicherweise behilflich sein?] Ich bin mir nicht sicher, die Situation zutreffend einzuschätzen, aber ich glaube, ein höfliches Hilfsangebot ist angemessen. Zudem beschäftigt mich der Umstand, dass er mir ein positives Interesse entgegenbringt. Es bringt meinen Alltag durcheinander, fordert mich heraus. Ich bin erstaunt, dass meine Gelassenheit anhält, ich mich nicht von ihm bedroht fühle. Verblüffend! ~ð~ Mein Assistent ist konzentriert bei der Sache. Für die Damen wie ausgewechselt, auch wenn sie kaum Gelegenheit zum Tuscheln haben können. Kein Zappeln, keine Sprüche, keine Angeber-Pose: er ist mir beinahe zu still. Ganz auf mich fokussiert. Ich muss mich zusammenreißen. Glücklicherweise springt mir meine Routine bei. Das ist also "mein Kevin". Kein Vergleich zur vorigen Version. Mit einigem Nachdruck muss ich die Damen verabschieden. Wie die Bluthunde haben sie wohl Lunte gerochen. Er hat sich bereits entkleidet, wartet jedoch unter der winzigen Dusche höflich auf mich. "Ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann!" Warne ich ihn vor. "Ich hab den starken Drang, dich anzufallen." Selbst bei der miesen Beleuchtung kann ich erkennen, wie er dezent errötet. "Kann ich mich vorher waschen?" "Versuchen können wir's!" Knurre ich hilflos. Er ist fast schon zu perfekt und in Reichweite! Also schäumen wir uns gegenseitig ein, üben Unterwasserknutschen, gehen in den Clinch, nicht jugendfreier Infight inklusive. Als ich wieder einigermaßen Luft habe, will ich aber trotzdem meine Sorge äußern. "Geht's dir wirklich gut?" Er lächelt zögerlich. "Gerade fühle ich mich wunderbar." Geschickter Konter. "Wie war's darum gestern Mittag bestellt? So als Beispiel?" Ich streiche mit den Fingerspitzen über seine Front. Mjamm, da kommt Appetit auf! "Etwas heikler." Gibt er zu, massiert mir die Kehrseite, unverschämt gut. "Hast du mit mir angegeben?" Erkundige ich mich an seinen Lippen. Himmel, ich will ihn knutschen! "Nicht direkt." Unerfreulicherweise legt er den Kopf in den Nacken, atmet tief durch. "Ich hab bloß erklärt, dass mich kein Ghoul gebissen und zum Zombie gemacht hat, sondern dass ich jetzt einen festen Freund habe." Ich bin dezent verwirrt. "Teil 2 verstehe ich ja noch, aber zum ersten Teil..?!" Er lächelt bloß, verkürzt die Distanz wieder. "Unwichtig." Recht hat er. Der "feste Freund" hat definitiv höchste Priorität! ~ð~ Liebe Güte, an Kriegsrat ist nicht zu denken! Mein notorischer Cousin, der Litfaßsäulen-Herkules, trägt Varis wie einen Säugling durch die Gegend, lässt ihn nicht los. Mir würde es helfen, wenn er mit seiner Mutter über seine "Instinkte" sprechen würde. Vor Varis will ich das nicht thematisieren. So bleibt mir nur zu hoffen, dass wir genug Zeit haben, um eine Strategie auszuarbeiten, bevor Varis' Mutter eine neue Attacke reitet. "Hört mal!" Mache ich auf mich aufmerksam. "Morgen bin ich länger weg, okay? Ich gehe mit Konstantin zu einer Open Air-Veranstaltung." Tibor nickt bloß, registriert, abgehakt. Mehr kann ich hier nicht bestellen. Also konzentriere ich mich mal ungeniert auf mich selbst, schaue nach, ob Konstantin mir eine Antwort geschickt hat. [Prima! Ich freue mich schon, wird bestimmt amüsant. Danke auch für Dein Angebot. Ich fürchte, ich werde es in Anspruch nehmen, indem ich dir erzähle, was gerade so los ist. Vielleicht kannst Du mich aber auf andere Gedanken bringen! Über welches Thema hast du zuletzt etwas gelesen?] ~ð~ Das sollte in meinem Alter eigentlich nicht mehr vorkommen: mangelnde Selbstkontrolle gepaart mit Unvernunft. Ich ignoriere die Verhaltensregeln. Zur Berufsschule kann er auch von meiner Wohnung aus radeln. Außerdem gibt das Fernsehprogramm nichts her, ich stehe noch ordentlich unter Strom, ein leichtes Nachtmahl könnte durch entsprechende physische Aktivitäten auch besser verarbeitet werden. Er muss also mit, sträubt sich aber gar nicht, was die fehlenden Liebessonette ausgleicht. Bewegung ist ja gesund. "Ist das wirklich in Ordnung?" Höre ich ihn hinter mir fragen. Er muss sein Fahrrad einhändig schieben, weil ich ihn hinter mir her ziehe. "Hattest du was Besseres vor?" Ignoriere ich schnöde seine Sorge um meinen Ruf oder was auch immer. "Wird es dir nicht zu viel?" Aha. Das habe ich schon mal gehört, auch von mir. "Lass mich raten! Du bist der Typ, der quasi nie zu Hause war, bis Schulschluss dort herumgehangen hat, anschließend noch jede Menge Umwege ausprobiert, hm?" Er schweigt. Ich auch. Vor dem Haus nötige ich ihn, sein Stahlross die halbe Treppe runter in den Keller zu tragen, damit er es dort anketten kann. Ich schleife ihn die Treppe hoch in mein Domizil. Kaum habe ich die Tür geschlossen, nagle ich ihn an die Wand, packe seine Handgelenke. "Sorry, aber ich bin nicht der verantwortungsvollste Typ aller Zeiten, sondern peinlicherweise total scharf auf dich. Bei meinem galoppierenden Alter lasse ich keine Chance auf ein bisschen Matratzenolympiade mehr aus!" Er staunt mich an, zu verblüfft, um verlegen zu sein. Ich stemme mich auf die Zehenspitzen. "Bringen wir jetzt die Wände zum Wackeln, oder was?!" Er nickt reflexartig, meinem Kommandoton geschuldet. Reicht mir vollkommen. Verdammte Hormone, aber wat mutt, dat mutt! ~ð~ Ich habe schon wieder verschlafen. Zumindest kann ich mich etwas geschmeidiger bewegen. Dafür sehe ich stellenweise sehr farbenprächtig aus. Ich hoffe, dass die Flecken im Laufe des Tages verblassen. Ich will nicht, dass Tibor sie so sieht. Es würde ihm nur mehr Kummer bereiten. Nachdem ich gefrühstückt habe, spüle ich ab, blättere durch meine Bücher. Nach Mathe steht mir einfach nicht der Sinn. Also lieber raus, durch den Garten spazieren, nachschauen, wo sich der Dschungel schon wieder eingenistet hat. Als ich über den Zaun luge, bemerke ich einen Mann, der in der Distanz die Litfaßsäule studiert. Sie wird kaum genutzt, zu abgelegen hier, ein Rest des ehemaligen Bahnbetriebs. Mich überkommt ein nervöses Unbehagen. Dort kann es nichts Fesselndes zu entdecken geben. Die ehemaligen Plakate sind nicht mehr als ausbleichende Fetzen. Er wendet sich ab, kommt mit federnden Schritten näher, ein eher sehniger Typ, Baseballkappe, gepflegter Backenbart, nachlässig geknöpftes Leinenhemd zu legeren Baumwollhosen, moosgrün zu dunkelrot, ziemlich auffällige Kombination. "Guten Morgen." Seine Stimme ist verblüffend tief für eine eher hagere, gerade mittelgroße Statur. "Varis, richtig?" Ich erstarre hinter dem Zaun, fühle mich überrumpelt. "Soleiman, aber gerufen werde ich nur Sol." Er lächelt mit unsortierten Zähnen, zupft die Sonnenbrille vom schmalen Nasenrücken. Seine Augen sind ungewöhnlich hellbraun, fast gelb und auffällig unterschiedlich. Das rechte weist zahlreiche Einschlüsse auf, während das linke makellos klar ist. "Guten Morgen." Murmele ich vorsichtig. Wer kann das sein? "Tibors Werk, hm?" Mit dem Daumen über der Schulter deutet er auf die Litfaßsäule. "Reife Leistung." Ich weiche vorsichtig vom Zaun zurück. Woher weiß er das?! Werden wir Ärger bekommen?! Er grinst, präsentiert die nicht korrigierten Zahnreihen. "Gut, dass du so umsichtig bist! Kennst mich ja nicht." Damit weist sein spitzes Kinn auf das abweisend geschlossene Gartentor. Er müsste allerdings nur die Klinke herunterdrücken... "Tibors Vater hat mich gebeten, mal vorbeizuschauen, weil ich gerade in der Nähe bin. Macht sich ein bisschen Gedanken über seinen Sprössling." "Er hat nichts angestellt!" Lüge ich verzweifelt. Dieser Sol lacht, stützt sich mit den Ellen auf das Gartentor. "Die Säule dahinten spricht eine andere Sprache!" Er hängt die Sonnenbrille in sein Hemd, lupft die Kappe, streicht sich über eine polierte Glatze. "Schätze, Rag war nicht in der Nähe, hm?" Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Was will er hier?! "Hat dir einen Schreck eingejagt, oder?" "Ich habe keine Angst vor Tibor!" Fauche ich hitzig. Mehr muss dieser Mann nicht wissen! Er schmunzelt. Die Zahnreihen verschwinden hinter den schmalen Lippen. "Aber du hast ihn auch nicht gefragt, was mit ihm los ist." Behauptet er, studiert mich dabei eindringlich. Ich wünschte, er würde sofort verschwinden. Was soll das?! Er seufzt, präsentiert mir sein scharf geschnittenes Profil. "Tibor macht mächtig was her, hm? Imposante Type, gebaut wie ein Schrank. Hat alles im Griff." Er fährt so abrupt herum, dass ich reflexartig zurückweiche. "Er hat dir bestimmt erzählt, dass er einem komischen Verein angehört. Werwölfe, merkwürdige Truppe, enge Familienbande, Rudeltrieb." Sein Lächeln wirkt harmlos. Ich fühle mich jedoch bedrängt. "Wir passen ein wenig aufeinander auf, Varis, deshalb bin ich hier. Weil dein Tibor ein kapitaler Bursche ist." Er zwinkert, bevor er ernster fortfährt. "Aber eben auch erst Neunzehn. Manche Angelegenheiten lassen sich nicht so einfach allein lösen." "Tibor hat nichts angestellt." Beharre ich hilflos-trotzig. Er mustert mich schweigend. Ich verschränke die Arme vor der Brust, recke das Kinn. "Na schön." Er löst sich vom Gartentor, setzt seine Sonnenbrille wieder auf, justiert die Baseballkappe. "Frag ihn, was die Attacke gegen die Litfaßsäule ausgelöst hat. Das ist die falsche Art von Geheimnis." Er tippt sich an den Schirm der Kappe, entfernt sich gemächlich. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, bis von ihm keine Spur mehr zu entdecken ist. Seine Worte spuken mir im Kopf herum. Ich weiß, dass ich gar kein Buch aufzuschlagen brauche. Es hätte keinen Sinn. ~ð~ Ich verzichte auf eine Replik. Wir werden uns ja am frühen Abend treffen. Zuletzt las ich einen Artikel zur Entwicklung von Schriftsprachen anhand jüngster Entdeckungen. Ob ihm dieses Thema nützlich als Ablenkung wäre? Sein Leben scheint im Augenblick etwas turbulent zu sein. Oder ist das normal? Für mich wird es immer schwieriger, das einzuschätzen. Ohne enge, verpflichtende Bindungen zu anderen Menschen reduziert sich meine Welt auf den Augenschein, auf Fremdbeobachtung durch Lektüre. Auch die Bandbreite der Emotionen verblüfft mich, als hätte ich sie wie meinen Geschmacks- und Geruchssinn verloren. Vielleicht ist das auch so. Ich habe hin und wieder Schriften studiert, die sich mit "Mu", dem Nichts, und "Zen" beschäftigten, aus europäischer Sicht. Das Anstreben eines Seins ohne Verlangen, ohne Sehnen, ohne Leidenschaften, schlicht SEIN, ohne Sinn, ohne Zweck, ohne Bestimmung. So weit bin ich selbstredend nicht. Möglicherweise funktioniert es auch gar nicht. Der Organismus an sich will leben, erstrebt daher aktiv das Fortbestehen, will nicht hungern, dürsten, frieren, leiden. Man müsste konsequenter seiner fleischlichen Existenz entsagen, um einen solchen Zustand zu erreichen. Womit würde man diesen erkennen, wenn es kein Gehirn, keine Nerven, keinen Körper mehr gibt? Vermutlich gehe ich diese Aspekte falsch an. Was mir jedoch nicht entgeht, ist meine Distanz zu vielen Angelegenheiten, die meine Mitmenschen umzutreiben scheinen. Die Leidenschaftlichkeit, der Nachdruck, die Begeisterung, mit denen sie sie verfolgen. Ist das etwas, was mit Körperlichkeit, mit Geruch oder Geschmack einhergeht? Ich dagegen erfülle die Bedürfnisse meines Organismus nach Nahrung, Erholung, Schutz und Abwesenheit von Schmerzen. Im Austausch für Mußestunden mit Lektüre arbeite ich und bin bemüht, weder meine Mitmenschen noch meine Umwelt ungebührlich zu beeinträchtigen. Ist das genug? Oder viel zu wenig? Sollte mich nicht mehr im Inneren erfüllen? Eigentlich halte ich mein Dasein für zufriedenstellend und unproblematisch. Mir geht es gut. Stelle ich mir jedoch nun vor, ich sollte es ihm gegenüber erklären, nachvollziehbar machen, sein Tempo aufnehmen, verspüre ich Unbehagen, einen ungewohnten Rechtfertigungsdruck. Andererseits, wie rasch könnte er von mir gelangweilt sein und all diese Sorgen mundan? Nun, das werde ich sehen. ~ð~ Ich hatte vermutet, dass mich mein temporärer Ruf als "rosa Rudelführer", der gleich zwei (bei Kevin bin ich mir nicht sicher) wertvolle Mitglieder unserer Gemeinschaft verkorkst hat, von Hilfestellungen ausschließt. Das ist jedoch nicht der Fall. Tibors Eltern haben erstaunliche Strippen gezogen, um uns beizustehen, falls Varis' Mutter tatsächlich beabsichtigt, ihn zurückzuholen. Das Motto lautet: nur zuschlagen, wenn es nötig wird. Ich hege die Vermutung, dass dieser "Ausraster" nicht der erste ist. Da wir beide Varis aber nicht über Details zu den Streitigkeiten zwischen seinen Eltern ausgequetscht haben, kann ich das nicht mit Sicherheit behaupten. Wäre nur von großem Vorteil, kein Elternteil würde Tibor über den Weg laufen. Tsk! Ich kneife mich selbst kräftig in den Oberschenkel. Gleich werde ich Konstantin treffen. Wir amüsieren uns bei einer kurzweilige Veranstaltung unter freiem Himmel, der artig mitspielt. Wieso zerbreche ich mir schon wieder den Kopf über andere?! Weil, das muss ich langsam einsehen, ICH tatsächlich ein Rudelführer bin. ~ð~ Ich halte mich nicht auf. Sobald das Signal ertönt, verschwinde ich per Drahtesel in Höchstgeschwindigkeit zu unseren Haus. Seine Nachricht, dass es ihm gut geht und ein Bekannter meines Vaters namens Sol vorbeigeschaut hat, beruhigt mich nicht. Ich weiß, dass er mich schont, sich zurücknimmt, mir keinen Ärger bereiten will. An diesen Sol kann ich mich erinnern. Ab und zu hat er mal eine Stippvisite absolviert. Was hat er gewollt? Varis empfängt mich im Garten, kleiner Salat, etwas Brot, gekühlter Kräutertee. Sein Gesicht ist nicht mehr geschwollen. Wie sollte es auch, so mager! Nur die blutige Schramme verschorft auffällig. Ich habe geschwitzt. Sollte mich waschen, sollte meine Gedanken sortieren, aber ich habe nur Augen für ihn, wittere seine Erleichterung, nicht mehr allein zu sein. Also halte ich ihn fest, wispere ihm ins Ohr, dass alles in Ordnung ist. Wir gehören zusammen. Dafür werde ich alles tun. ~ð~ Wir haben nicht viel gesprochen, etwas gegessen, die Reste nach drinnen gepackt, die Hängematte bestiegen. Ich liebe es, halb auf ihm zu liegen, seine Arme um mich zu spüren, seinen kräftigen Herzschlag unter meiner Wange, Hitze, eine Ahnung von Schweiß, Muskeln und Sehnen, seine Atemzüge über meinen Schopf. Ich verlasse mich in allen Dingen auf ihn, das weiß ich. Fair ist das nicht. Dieser Sol hat nicht unrecht. Tibor ist gar nicht so viel älter als ich. Ich muss auch einen Teil der Verantwortung übernehmen. Habe ich das nicht auch versprochen? Also atme ich tief durch, räuspere mich, rufe mir Tibors völlig zerschundene Hände in Erinnerung. "Kannst du mir bitte sagen, warum du die Litfaßsäule attackiert hast?" Ich spüre sofort, wie er sich unter mir verspannt, hart wird, starr, unnachgiebig. Meine Schuld. Meine Verantwortung. Ich richte mich vorsichtig auf, blicke auf ihn herunter, sein gemeißeltes Gesicht. "Was hast du gespürt?" Es ist nur eine Vermutung. Ragnar spielt immer mal wieder auf die mir fremden Werwolf-Instinkte an, trotzdem vertraut er Tibors Urteil. Mir antwortet Tibor jedoch nicht. Kein Muskel regt sich. Er wirkt wie eingefroren. Ich fühle mich elend. Kann er mir nichts sagen, weil ich nicht verständig genug bin? Ist auf mich kein Verlass? Behält er es für sich, versteckt es, schluckt es runter, macht es zu einem Geheimnis? "Bitte?" Versuche ich es noch mal, verabscheue meine piepsige Stimme. Blitzartig packt er mich, hält mich so fest, dass ich vor Schreck aufschreie. Die Matte trudelt, doch wir kippen nicht. Ich bekomme kaum Luft. Seine Kraft ist beängstigend. Er knurrt, knirscht zähnefletschend an meinem Ohr wie ein Tier. "Tibor!" Presse ich hervor. "Tibor!" Er löst eine Hand, legt sie auf meinen Hinterkopf, schiebt mein Gesicht an seine Halsbeuge. Ich spüre unter meinen Lippen, wie seine Sehnen arbeiten, er um Worte ringt. Er kämpft mit sich selbst. Niemand würde ihn jetzt für stoisch halten. Was ist das für eine furchtbare Sache? Was setzt ihm so zu? "Nicht weinen." Dringt sein Krächzen an mein Ohr. "Nicht weinen." Ich hasse meine dämliche Heulerei, schniefe, versuche aufzuhören. Er richtet sich mit mir auf, gleitet geschickt aus der trudelnden Matte, fängt mich ab, hebt mich auf die Arme, hält mich eng wie ein Kleinkind an sich gepresst, läuft mit mir auf und ab, wiegt mich. Ich halte mich fest, mit Armen und Beinen. Langsam dämmert mir, dass er nicht meinetwegen wie ein eingesperrter Tiger mit Ballast herumkreist. Es ist die Alternative zur Litfaßsäulen-Attacke. "Sag's mir." Dränge ich nun. Was auch immer Furchtbares es ist, die gefährliche Brodelei in seinem Inneren muss aufhören! Er atmet schwer, marschiert schneller, getriebener. Ich kann nicht mehr tun, als mich festhalten und betteln, bis er stehen bleibt. "Es stank..." Höre ich ihn rau flüstern. "...nach... Freude. Lust.... an Quälerei..." Ich halte die Luft an, um kein Wort zu verpassen. Was bedeutet das? Er atmet tief durch. Und noch mal. Und erneut. "Deine Mutter ist krank." Formuliert er so deutlich, als müsse er jeden Buchstaben einzeln suchen. "Psychisch krank. Sie... sie stinkt nach... Übel." ~ð~ Es brennt. Alles brennt. Ich möchte am Liebsten schreien und um mich schlagen. Die Erinnerung... Kontrolle. Fäuste ballen, Zehen in die Erde graben, alles anspannen. Kontrolle. Ich lasse ihn herunter, damit ich ihm nicht weh tue. Noch mehr. Beherrschung. Meine Kraft ist gefährlich. Ich muss runterkommen. Alles spüren, Erde, Gras, Muskeln, Sehnen, Hitze, Brise, Druck. Er ist so blass. Zerbrechlich. Hat schon genug auszuhalten. Hat es nicht verdient! Seine Fingerspitzen streifen über meine Fäuste. "Tut mir leid.." Er lächelt, während seine Augen mit Tränen beschlagen. Ich hasse das! Ich hasse es! Das ist nicht richtig! Nicht OKAY! Ich packe ihn grob, halte ihn fest, lasse ihn nicht frei. "Nein! Es ist nicht deine Schuld! Nichts braucht dir leid zu tun!" Ich will diesen Schmutz nicht mehr spüren! Die Erinnerungen, das Salz, sein Elend, meinen Selbsthass, meinen unbändigen Zorn! Ins Bad, unter die Dusche, abspülen, was uns anhaftet, diesen ganzen DRECK! ~ð~ Tibor ist nicht so vorsichtig wie sonst, als er mir die nassen Kleider abstreift, aber das stört mich nicht. Er zieht mich fest an sich, während uns die Dusche begießt, hält mich in seinen Armen, mit aller Kraft. Ich erwidere den Druck, auch wenn mir die Knochen summen. Deshalb also. Natürlich. Er beschützt mich. Es muss schlimm sein, wenn sie "stinkt". Wenn ich ihr wie immer gehorcht hätte... So ist das. Das Geheimnis. Tibors Instinkt. Bis jetzt habe ich es wohl nicht richtig begriffen, wenn er sagt, dass er es "weiß". Dass ich ihn liebe, dass wir zusammengehören. Ich löse mühevoll einen Arm und drehe die Dusche ab. Ich habe es nicht "gewusst". Das hat ein Ende. Ich blicke hoch in sein Gesicht, gezeichnet von den Anstrengungen. Sols Stimme ist in meinem Ohr: "aber eben auch erst Neunzehn." "Es ist in Ordnung. Du kannst mir alles erzählen." Er knirscht mit den Zähnen. "Wir gehören zusammen." Ich zeige ihm den Ring. "Wir schaffen es gemeinsam, nicht wahr, Liebling?" Wieder kippt meine Stimme. Dämliche Heulerei! Er beugt sich runter, küsst mir die Tränen weg, hält meine Hände behutsam. "Alles wird gut." Raunt er erstickt. "Alles gut." Er hebt mich hoch, trägt mich auf den Armen in sein Zimmer. Ich spüre seine Unruhe, das erste Mal. Er möchte, sogar sehr, ist sich aber nicht sicher, ob er darf. Dabei verdunstet schon das Wasser im Laken. Mich ergreift mit jedem hastigen Atemzug eine größere Erregung. Ich möchte. Ich möchte ihn so sehr spüren, dass ich mich in ihm verliere. "Komm!" Fasse ich nach seiner Hand. "Bitte." Wir werden stärker sein als alle Schwierigkeiten. ~ð~ Kapitel 10 - Panta rhei Es ist wirklich eine gelungene Parodie, amüsant und liebevoll. Hin und wieder riskiere ich einen Seitenblick auf Konstantin. Er lächelt, ist ganz auf die kleine Bühne konzentriert. Glücklicherweise ist es nicht zu voll geworden, haben wir ausreichend Platz um uns herum. Ich registriere seine Anspannung, wenn der Andrang zu kompakt wird. Es scheint ihm Spaß zu machen, was mich erleichtert. Ich hatte keine Gelegenheit, ihm den ganzen Murks zuzumuten, der seit Montag meinen Alltag "bereichert". Heute Abend habe ich frei, beschlossene Sache! Da ist noch was, das ich nicht ignorieren kann: ich genieße einfach seine Gesellschaft. Merkwürdig, wir müssen weder etwas tun noch uns unterhalten. Woher kommt das? Moleküle-Schleuder? Ich will sehen, dass ich noch einige Minuten herausschinden kann, damit er meinen Verstand anfüttert, mich mit seinen Vorstellungen fasziniert. ~ð~ Es ist weniger anstrengend als gedacht. Nicht zu viele Leute, nicht zu viele Bewegungen, die ich beobachten muss. Ich kann mich auf die Bühne konzentrieren. Gut gemacht, kurzweilig. Doch was jetzt? Möchte er noch etwas unternehmen? Etwas essen? Mich würde das nicht stören, solange ich nicht genötigt werde, selbst teilzunehmen. "Hat's dir gefallen?" Er lächelt, stellt die Schultern aus, schafft uns etwas Platz. "Sehr nett. Vielen Dank." Ich suche die Münzen für meine Spende heraus. "Du wärst verärgert, wenn ich dich einlade, richtig?" Vermutet er, nimmt das Geld. Ich bin überrascht. Eine Einladung wäre mir tatsächlich nicht recht. Ich fühlte mich verpflichtet, eingeengt. "Ginge mir genauso." Antwortet er auf meine Verblüffung. "Ist schon wichtig, dass man sich gleichberechtigt begegnen kann." "Das stimmt." Mir hört man mein Erstaunen deutlich an. Er wirkt nicht beleidigt, lächelt jedoch schief. "Eigentlich würde ich mich gern noch ein bisschen mit dir unterhalten. Hast du noch ein wenig Zeit? Wir haben ja eine ähnliche Marschrichtung." Ich nicke artig. Richtig, die privaten Turbulenzen! "Es ist gerade etwas schwierig bei meinem Cousin und Varis. Ich kann mich da nicht raushalten." Er holt tief Luft. "Weil ich leider so ein zwanghaftes 'Rudelführer'-Syndrom habe." Ich höre schweigend zu. Häufig ist gar keine Meinung oder ein Ratschlag gefragt, nur mitfühlende Ohren. "Aber im Moment läuft das wohl von selbst." Er rollt mit den Schultern, Zeichen von Anspannung. "Daher will ich mein Hirn lieber anderweitig auf Touren bringen. Deshalb gib mir bitte was zu denken, ja?" Er bleibt stehen. Ich halte inne, verdutzt. "Ich soll ein Gesprächsthema vorschlagen?" Sondiere ich vorsichtig. "Genau!" Er nickt eifrig, schließt wieder zu mir auf. "Ich habe leider den neuen Jack Cougar noch nicht gelesen, sonst hätten wir schon etwas Passendes..." Erstaunlich. Ich zögere, erinnere mich jedoch an meine Selbsteinschätzung. Panta rhei-alles fließt. "Denkst du, dass es möglich ist, alles Verlangen aufzugeben?" ~ð~ Ich bin ganz schön spät dran, als ich gemächlich nach Hause radle. Dort ist es schon dunkel. Schlafen die beiden etwa? Wenn ich sturmfreie Bude hätte, würde ich vermutlich auch die Gelegenheit nutzen, jetzt erledigt die Matratze abhorchen. In der Wohnküche finde ich meinen Anteil am Abendessen, aber keine Vorbereitungen fürs Frühstück. Das entlockt mir ein Grinsen. Während ich also den Start in den Tag präpariere, ein wenig aufräume, lasse ich die sehr lange Unterhaltung mit Konstantin Revue passieren. Unsere Gedanken sind ganz schön mäandert, ohne strikte Regeln, ohne zwingendes Ergebnis. Beide sind wir einig darüber, dass wir uns nicht vorstellen können, alles Verlangen aufzugeben, schon vom körperlichen Standpunkt aus. Es ging mit Volldampf Richtung Sci-Fi, Auslagerung von Erinnerungen, Emotionskontrollen, die Evolution. Keineswegs dogmatisch, sondern richtig lustig. Ich habe den Eindruck, dass er aufgetaut ist, weniger vorsichtig, ob er sich äußern sollte oder nicht. Mir hat es jedenfalls Spaß gemacht, mit ihm zu fabulieren, weit weg von der drückenden Gegenwart mit all ihren Forderungen. Also werde ich die Unterhaltung mit ihm nicht aufgeben. Wenn panta rhei gilt, ist carpe diem genauso wichtig. ~ð~ Dieses Mal wecke ich Varis. Ich gehe nicht mehr, ohne mit ihm in den Tag zu starten. Er lächelt schläfrig, umarmt mich. Ich hebe ihn aus dem Bett, nehme ihn auf die Arme. Im Bad tupfe ich vorsichtig seine Blutergüsse mit der Salbe meiner Oma ein. Dabei streicht er mir fortwährend über die Arme, die Brust, tröstend. "Alles gut." Versichert er mir. Ich küsse ihn sanft. "Alles gut." Rag wartet in der Küche, gut gelaunt, auch wenn wir noch immer kein anderes Radiogerät haben. "He, ihr zwei, was haltet ihr von Melone heute Abend? Wird wieder warm!" Ich drücke Varis' Hand. Alles ist gut. ~ð~ Mir geht's bombastisch. Vor allem deshalb, weil mir tatsächlich im Traum ein bestechender Gedanke gekommen ist: Sein braucht Form. Klar, das ist selbstredend nicht revolutionär an sich, doch in lebhafter Verarbeitung unserer Diskussion, die in einem Ausläufer auf der missverständlichen Übersetzung von "survival of the fittest" den "fähigsten, tüchtigsten Überlebenden" einschloss, kam mir der Blitz in Morpheus' Reich. Der Anpassungsfähigste überdauert gemäß Darwins Theorie. Dabei geht es weniger um das Individuum als die Gesamtheit einer Art. Sehr locker adaptiert: man gewöhnt sich an alles (oder stirbt aus). So, und jetzt kommt nun, Achtung!, der Blitzeinschlag: wenn man eine Form benötigt, um zu SEIN, also eigene Existenz in Abgrenzung zur Umwelt und zu anderen, muss die Form regelmäßig als solche (Begrenzung) bestätigt werden. Ergo: Umwelterfahrung ist lebensnotwendig. Toter Fisch? Na ja, zugegeben, neu ist das nicht, aber was ist schon im Anbetracht der Welt wirklich neu? Oder, wie Konstantin mir schmunzelnd erklärte, wir sind alle recycelt, auf atomarer Ebene. Wie sollte es auch sonst funktionieren? Also nichts Neues unter der Sonne. Meine persönliche Erleuchtung: ich habe mich daran gewöhnt, ständig einem Fremdbild zu entsprechen. Er hat sich daran gewöhnt, mit sich allein zu sein, in Distanz zu anderen Menschen. Dieser Zustand ist aber nicht in Stein gemeißelt und unumkehrbar! Ja, ich weiß, das ist jetzt nicht höhere Mathematik, aber für mich ein richtiger Glücksmoment beim Aufwachen. Ich MUSS nicht ständig diplomatisch, zurückhaltend, abwägend, alle umsorgend sein! Das ist nur der gegenwärtige Zustand, an den ich mich und meine Umgebung gewöhnt habe. Da Varis und Tibor ihre Parameter der Gleichung geändert haben, sollte ich das auch tun. Endlich. Wenn ich mich ändern kann, kann ich auch auf Konstantin Einfluss nehmen. Zum Beispiel dahingehend, dass wir uns regelmäßig persönlich treffen. Ich KANN ihn an mich gewöhnen. ~ð~ Das ist nicht gut. Eigentlich. Der letzte Kurstag, wie immer gewidmet der kurzen Wiederholung, der Reflexion, der Aufgabenkritik. "Feedback", wie es so schön heißt. Was bei mir aber immer die Assoziation mit der Vogelfütterung hervorruft: Elternvogel würgt vorverdautes Aas in die Brüllschnäbel des Nachwuchses. Würg! Die Damen sind prächtig gelaunt, was es mir erleichtert, fühlen sich bestärkt, können schon erste Erfolge in ihrem Auftreten vorweisen. Gute Vorsätze werden verkündet, jetzt regelmäßig die Übungen in den Alltag zu integrieren, aufmerksam und achtsam durch die Landschaft zu schnüren. Schön. Da befinde ich mich jedoch auf der Fakir-Möblierung mit kleiner Flamme (gespicktem Grillrost): ob ich mich nicht auch verändert hätte? Welchen Einfluss ich auf meinen Assistenten genommen hätte? Ob wir uns nicht sehr gut (zwinkerzwinkerzwinker) verstünden? Gnah! Diese Situation ist ein Novum für mich. Wenn ich gerade in einer Beziehung bin, erscheint die nicht bei meinen Kursen, es fehlt also die "Gegenüberstellung". Bin ich solo, kann ich mich mit kessen Ansagen aus der Bredouille retten. Hier stehe ich aber in locker choreographierter Runde, Kevin neben mir, perplex ob der geballten Attacke weiblicher Intuition, habe Mühe, mich auf meine eigenen Selbstbehauptungstechniken zu konzentrieren. Tief durchatmen hilft zum Beispiel enorm. "Schön, schön!" Hebe ich die Arme, auch wenn sich dadurch nicht die bedrängende Flut weiblicher Umzingelung zum Fluchtweg teilt. "Immer mit der Ruhe! Wie heißt es so treffend: blickst du in den Abgrund, blickt er auch in dich." Die rasanteren Denkerinnen kommentieren meinen wenig schmeichelhaften Vergleich mit Buh-Rufen. Ohne eine gewisse Gegenwehr ergebe ich mich nicht! Wo käme ich denn sonst als Vorbild hin?! Es gehen jedoch keine Furien auf mich los. Vielmehr sehe ich vom Training erhitzte, gelöste Gesichter, die grinsend eigentlich nur noch darauf warten, dass ich metaphorisch die Hosen runterlasse, bestätige, was sie sich längst gedacht haben. Gemeingefährlicher weiblicher Radar, besonders bei Rudelbildung! Ich räuspere mich, entscheide mich für die Schlagervariante des Gegenangriffs. "Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür...!" ~ð~ Er will mich unbedingt sprechen, persönlich, weil ihm ein bahnbrechender Gedanke gekommen ist, aus Anlass unserer gestrigen Unterhaltung. Ich bin perplex, detektiere Euphorie. Ich sage zu. Eine halbe Stunde, das ist keine größere Schwierigkeit. Obwohl mich ebenfalls die Unterhaltung mit ihm nach der Vorstellung beschäftigt hat. Das ist schon merkwürdig. Ich habe keinerlei Schwierigkeiten, mich über Fakten auszutauschen, über konkrete Fragestellungen, die man mit Logik und Vernunft erörtern kann. Kritisch wird es, wenn es um Personen geht, auch um mich selbst. Es erfordert einfach so viel Konzentration, dass ich mich angestrengt und ausgelaugt fühle. Wenn dann noch meine Umgebung laut, bevölkert, hektisch oder überhitzt ist, möchte ich mich am Liebsten in Luft auflösen, um allem zu entrinnen. Das war gestern keinen Augenblick der Fall. Es hat mir Spaß gemacht, mit ihm zu sprechen. Er hört sogar zu. Das ist gar nicht so häufig anzutreffen, wie man meinen sollte, weil man den Gehörsinn als solchen ja nicht ohne Vorkehrungen ausschalten kann. Er folgt meinen Äußerungen, geht auf sie ein. Verblüffend, immerhin haben wir uns nicht über Sachthemen unterhalten, sondern sind kunterbunt durch alle möglichen Gefilde gestreift. Wie angenehm. Sind andere vielleicht auch so? Habe ich mich von Fehlschlägen zu stark leiten lassen? Während mir diese Gedanken durch den Kopf treiben, höre ich leichte Schritte, federnd. Er läuft, obwohl er keineswegs unpünktlich ist, dezent errötet, hält vor mir inne, muss sich auf die Oberschenkel stützen, nach Luft schnappen. "Ist alles in Ordnung?" Ich krame zögerlich nach meiner Glasflasche. Für den Heimweg habe ich immer einige Schlucke übrig. Er nickt, strahlt mich an, wirbelt eine Umhängetasche herum, entzieht ihr geschickt ein kleines Handtuch, mit dem er die Spuren von Transpiration beseitigt. Zwei kleine Flaschen mit Gemüse-Obst-Saft folgen, gerade sehr angesagt. "Ich bitte um das Anstoßen auf meinen Geistesblitz!" Reicht er mir eine Flasche. Ich greife zu, ohne Nachzudenken. "Der wäre?" Er hängt seine Tasche auf die Bank, neben mein Fahrrad mit meinem Rucksack. "Ich kann mich an die von mir geänderte Umgebung anpassen!" Verkündet er, hält die Flasche hoch. Das... ist korrekt. Artig hebe ich auch meine Flasche. "Du kannst das auch!" Er strahlt weiterhin beglückt, nickt mir eifrig zu. Ich weiß dem nicht zu widersprechen. "Das... stimmt." Vorsichtig erwidere ich das kurze Klicken der beiden beschichteten Fläschchen. "Phantastisch!" Urteilt er, schraubt den Deckel ab, nimmt einen herzhaften Schluck. Ich bin nun vollkommen verwirrt, kann aber keine Anzeichen für eine Gefährdung oder einen Scherz erkennen. Also folge ich seinem Beispiel, probiere von dem Getränk. "Bah!" Murmelt er. "Bisschen arg süß, oder? Ich dachte, die schmecken so gut! Tsktsk!" Tadelt er sich selbst. "Vermutlich zu viel Banane." Wage ich einen Vorstoß. "Man müsste sie einfach verdünnen." Er mustert angestrengt den kleinen Aufdruck. "Hoffentlich bekommen wir keinen Zucker-Flash!" Seine Miene schwankt zwischen Entrüstung und Besorgnis. Ich muss schmunzeln ob der Lebhaftigkeit seines Ausdrucks, seines Bemühens, einen feierlichen Moment gebührend zu würdigen. "Oh!" Plötzlich wendet er sich mir abrupt zu. "Schmeckst du überhaupt was? Ich habe völlig vergessen, dass du ja deine Diät hältst!" Er ist ernsthaft bestürzt. "Das ist schon in Ordnung." Versichere ich. "Es war nur ein Schluck. Ich kann aber nicht beurteilen, ob es zu süß ist." Ich schmecke es nicht. Ich spüre die dickflüssigere Konsistenz im Vergleich zu Wasser, aber was ich da geschluckt habe, könnte mir nur das Etikett verraten. Er nimmt mir die Flasche aus der Hand, die ich automatisch zugeschraubt habe, stellt sie zu seiner auf die Bank. "Ich hab was begriffen, heute Nacht." Er betrachtet mich konzentriert. "Das möchte ich jetzt überprüfen." Im nächsten Moment hat er mich in einer einzigen, fließenden Bewegung umarmt. Ich keuche vor Schreck auf, erstarre. "Ich tu dir nichts." Versichert er an meinem Ohr. "Ich möchte mich nur unserer Form versichern." In meiner Verwirrung halte ich still, registriere die Hitze seiner Arme, den Druck auf meiner Haut, meinem Körper, spüre die Knopfleiste seines Poloshirts und die Gürtelschnalle an meiner Front, sogar seinen Herzschlag, seine Atmung. Nach schier ewigen Augenblicken, lässt er mich vorsichtig los, tritt einen Schritt zurück. "Ich denke, dass wir für unseren Geist Form brauchen, nicht nur als Container, sondern als Beweis für unsere Existenz." Formuliert er bedächtig, während er mich keinen Wimpernschlag aus seinem Fokus entlässt. Ich schnappe nach Luft, weil sich meine reflexartige Anspannung löst. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir zuletzt jemand so nahe gekommen ist, auf diese direkte, beabsichtigte Weise. Mir schwindelt ein wenig. "Oje!" Er streckt die Hände aus. "War das zu viel? Setz dich, ja?" Seine Hände, die meine greifen, bevor ich ausweichen kann, sind heiß, zupackend. Ich bin so durcheinander, dass ich schon auf der Bank sitze, bevor mein Verstand sich entscheiden kann. "Entschuldige, ich wollte dir keine Angst einjagen!" Er hält betonten Abstand von mir, studiert mich besorgt. Meine Benommenheit legt sich, weil ich wieder die freie Fläche um mich herum spüre, durchatmen kann. "Das war zu viel, du bist es ja nicht gewöhnt." Er macht sich Vorwürfe. "Tut mir leid!" Es verblüfft mich. Keine Kritik, kein Spott, keine Verachtung, kein Unverständnis, keine Verärgerung über meine Reaktion, die nur als Zurückweisung, Ablehnung verstanden werden kann. "Geht es wieder?" In der Hocke kauert er vor mir, hält artig eine Sicherheitsdistanz ein. "Ich bin es einfach nicht gewöhnt." Antworte ich. Begreife. Deshalb also die Euphorie, die Feierstunde. "Du möchtest, dass ich mich an dich gewöhne, oder?" Es ist heraus, bevor ich mich bremsen kann. "Ja." Antwortet er schlicht. "Weil ich dich mag." Er grimassiert verlegen. "Ich habe den Verdacht, dass ich hin und wieder ziemlich gedankenlos dem Impuls nachgeben werde, dich anzufassen. Mit dir viel öfter und länger zusammen sein zu wollen." "Ich verstehe nicht." Ich seufze, will ihm aber ins Gesicht sehen. "Ich verstehe nicht wirklich, wie das funktioniert, jemanden mögen. Stärker als andere." Das ist nämlich das Problem, was ich nicht zu meinem Problem machen will. Bisher ging es doch auch ohne, nicht wahr? "Das verstehe ich auch nicht." Er lächelt schief zu mir hoch. "Ich habe auch keine Ahnung, wie genau das funktioniert, selbst wenn mir jemand was von Pheromonen und gemeinsamer Prägung und Symmetrien erzählt." Er erhebt sich, setzt sich neben mich. "Ich bin eine totale Niete darin zu erkennen, warum sich Leute verlieben. Tibor, mein Cousin, hält dagegen eine grässliche Trefferquote. Er sagt, es sei ganz klar, aber das sind wieder seine Instinkte! Ich seh da nix, was klar wie Kloßbrühe ist!" Er verzieht die Miene zum Ausdruck von Frustration, bevor eine gewisse Melancholie erkennbar wird. "Duss man denn Gründe haben? Oder ein Zeitlimit?" Ich zögere. "Ist es denn nicht unsportlich, wenn es eigentlich auf eine Gewöhnung hinausläuft?" Zumindest in den Erzählungen sind herausragende Emotionen von erheblicher Bedeutung. Bloße Sympathie oder Koexistenz erscheint mir kein häufig aufzufindendes Phänomen zu sein. "Hmm." Er grübelt. "Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass die meisten Leute sich schlicht aneinander gewöhnen. Dass es so läuft, bis man eben die Parameter ändert." Er zuckt mit den Schultern. "Es hilft vermutlich auch, wenn man das Glück in sich selbst und nicht bei anderen sucht. Habe ich gelesen." "Das klingt logisch." Pflichte ich ihm bei. "Weniger projizierte Erwartungen, weniger Druck, weniger Konfrontationsaspekte." Er lächelt mich an. "Unter dem Aspekt wäre es doch nicht unsportlich, wenn wir uns aneinander gewöhnen, oder? Ich bin zumindest ziemlich froh, dass du hier gerade jetzt neben mir existierst. Das übt auf dich noch keinen größeren Druck aus, richtig?" Ich kann ein Grinsen nicht ganz verbergen. "Nein, aktuell beansprucht mich meine Existenz hier nicht über Gebühr." Antworte ich brav. "Ich fühle mich auch nicht unglücklich." "Das heißt, dass wir uns an solche Situationen gewöhnen können." Schlussfolgert er feixend. "Wenn es dir mal wie mir geht, du lieber mit mir hier bist als zum Beispiel dem Typen da hinten am Büdchen, haben wir den Beweis dafür, dass wir zwar nicht wissen, WIE es funktioniert, aber damit umgehen können!" Er wirkt so spitzbübisch erfreut, dass es mich ansteckt. "Fast wie bei diesen Smartphones, oder?" Schmunzele ich. "Kaum jemand versteht tatsächlich, wie sie im Detail funktionieren, aber benutzen können die meisten sie." Nun stöhnt er theatralisch. "Romantik ist nicht unsere Stärke, was?" "Ich fürchte nein." Lache ich leise, überrascht darüber, wie rasch mein Schreck verflogen ist. Er lächelt mich an. "Das geht für mich in Ordnung." Ich nicke wortlos. So sitzen wir noch eine Weile in der warmen Abendbrise nebeneinander, ganz zufrieden mit unserer Existenz. ~ð~ "Das nächste Mal singst du!" Brumme ich, während ich ihn hinter mir her ziehe. Er schiebt artig sein Rad einhändig, lässt nicht erkennen, dass er vor Kurzem noch über meinen tapfer dahin geschmetterten Vortrag LAUT GELACHT hat! "Entschuldigung." Wiederholt er. Ich gebe mich vergrätzt, schnaube bloß. Deshalb haben wir auch auf den One-Step unter der Dusche verzichtet. ICH fand meinen Einfall angesichts der bedrohlichen Umzingelung ziemlich gelungen! Er bremst abrupt, was mich auch zu einem ruckartigen Stillstand verleitet. "Was ist?!" Fahre ich irritiert herum. "Was kann ich tun, damit du mir verzeihst?" Er wirkt tatsächlich geknickt. Ich schnaube noch mal. Das ist albern. Ich bin bockiger als ein Windelrocker. "Ich habe auch eine empfindsame Künstlerseele!" Kläre ich ihn großspurig auf. "Die ihren Beitrag gewürdigt zu sehen erwartet!" "Ich hab's nicht böse gemeint." Versichert er mir hilflos, lehnt sein Rad an der eigenen Hüfte an, streckt die freie Hand nach mir aus. "Wirklich, es tut mir leid!" "Ach, Quatsch!" Knurre ich, reduziere die Distanz auf Null, küsse ihn. Mir egal, wer guckt. "Komm jetzt." Wende ich mich nach einem prüfenden Blick in sein gelöstes Gesicht ab. "Ich hab Kohldampf. Und bin heiser!" Er prustet, sehr unterdrückt. Ich grinse, lasse ihn das nicht sehen. Verdammt, ich benehme mich tatsächlich wie ein Teenie! ~ð~ Ich bin froh, dass Tibor eintrifft. Von Ragnar wissen wir ja, dass er Konstantin noch mal treffen will, später kommt. Obwohl ich mich pflichtbewusst meinen Mathe-Übungen gewidmet habe, fühlte ich mich einsam. Spazieren gehen wollte ich nicht. Als könnte mich jenseits des Häuschens etwas Böses erwarten. Ich warte gerade so lange, wie er benötigt, sein Rad anzuketten, lasse mich von ihm umarmen. Es ist so angenehm, seine Stärke zu spüren! "Ich hab dich vermisst." Vertraue ich ihm an. "Ja, nervt manchmal, sich am Riemen zu reißen." Antwortet er mir sonor, krault meine Locken. "Was magst du essen?" Will ich mich brav von ihm lösen, doch er lupft mich mühelos vom Boden. "Rag kommt später, Kuschelzeit für uns." Legt er fest. Ich kann in seinem Gesicht lesen, dass Einwände Gehör finden würden. Ich habe keine. ~ð~ Es ist amtlich: ich bin verrückt. Ich freue mich wie ein Schneekönig darüber, mit Konstantin regelmäßige Treffen verabredet zu haben, montags, mittwochs, freitags. Gewöhnungsphasen. Da das Wetter anhält, können wir uns zumindest noch eine Weile draußen treffen, bevor die Frage aufkommt, wo wir das in geschlossenen Räumen fortführen. Tibor starrt mich an. Offenbar ist meine Hochstimmung verdächtig. Ich bin beinahe in Versuchung ihn zu bitten, uns mal anzuschauen, ob seine Instinkte da irgendwas melden, aber ich verkneife es mir. So, wie es gerade ist, macht es mir Spaß. Ihn ab und zu mal in den Arm zu nehmen, der Gedanke gefällt mir. Allerdings verspüre ich kein drängendes Bedürfnis, ihm noch intimer zuzusetzen. Ich mag ihn. Mir gefällt sein Lächeln, seine bedächtige Art, die entwaffnenden Eingeständnisse unserer Unzulänglichkeiten voreinander. "Du bist abstoßend gut gelaunt!" Knurrt mich mein bester Freund an. "Mir geht's eben gerade gold!" Trällere ich. Ausnahmsweise überlagert dieses Empfinden nicht die Verpflichtung, sich ob all der Kümmernisse, Katastrophen und Kalamitäten des Rests der Welt zu verstecken. Ja, MIR darf es egoistisch gold gehen! "Und wenn Kevin vorbeischaut?" Freitagabend, stimmt, da könnte mit einer Stippvisite zu rechnen sein. "Sagtest du nicht, er hätte den Kursleiter erobert?" Ficht mich nicht an! "Hrmpf!" Kommentiert mein Cousin meine unbeeindruckte Gelassenheit. Klar, Kevin muss warten, bis ich mit Konstantin meine Unterhaltung beendet habe! ~ð~ Mein Vater hat mich nie zu etwas gedrängt. Kein einziges Mal habe ich von ihm die Erwartung gehört, auch Rudelführer werden zu müssen. Wir weisen ja nur äußerlich die große Übereinstimmung auf, sonst sind wir sehr unterschiedlich. Da er mich immer hat gewähren lassen, überrascht es mich doch, dass er jemanden wie diesen Sol bittet, sich einzubringen. Mein Vater kennt alles und alle, auf eine recht eigentümliche Art. Selbst Werwölfe, die sich üblicherweise weigern, mit anderen in einem Raum zu sein, weil sie derart überkreuz miteinander liegen, kommen zu ihm zum Plaudern. "Er ist nicht die hellste Birne im Kronleuchter." Das habe ich oft gehört. Mein Vater hat das nicht mal bestritten, sondern lachend zugestimmt. Er sei planlos, ohne Ehrgeiz, stehe sich mit allen gut, was ausgesprochen verdächtig anmute, ohne seine Frau ein hoffnungsloser Fall. All das habe ich schon als Kind mitbekommen. Diesen Auffassungen verdanke ich auch Rags Gegenwart. Der Apfel fällt ja nicht weit vom Birnbaum. Das ist die eine Seite. Die andere Seite, die mich immer wieder verwundert: obwohl scheinbar alles gegen ihn spricht, hat er als Rudelführer keine Konkurrenz zu fürchten. Er spricht mit allen, bringt sie zusammen, indem ER da ist, zuhört, sich nicht einmischt. Ich habe nie erlebt, dass er meine Mutter dafür getadelt hat, Rag quasi seiner eigenen Familie zu entziehen, um für mich als Bruder und Ausputzer zu agieren. Weder meine Schulkarriere noch meine Ausbildung oder meinen Auszug hat er gesteuert. Ich darf und durfte immer machen. Er redet meiner Mutter nie rein. Er hört immer zu, begleitet sie, folgt ihren Entscheidungen. Also machen wir einfach. Andere machen auch einfach. Verblüffender Weise kommen dabei häufig erstaunliche (und positive) Ergebnisse heraus. Vielleicht lenkt uns sein absolutes Vertrauen in uns, gibt uns Zuversicht, lässt uns Differenzen überbrücken, über eigene Ziele hinauswachsen. Ich bin nicht sicher. Wahrscheinlich würde er meiner Theorie aufmerksam zuhören, lächeln. "Meinst du?" Fragen. Wenn ich ihn sehe, begreife ich umso stärker, dass ich kein Rudelführer sein kann. Damit glücklich bin. Ganz ohne Unterstützung schaffe ich es aber auch nicht. Meine trotzige Entschlossenheit, mich aus der Gemeinschaft, dem Rudel zu entfernen, hat mich wohl überheblich gemacht. Trotz des Ärgers höre ich von ihm weder Tadel noch Enttäuschung oder Vorwürfe. Stattdessen schaut gelegentlich ein alter Schulkamerad vorbei, der ZUFÄLLIG eine besorgniserregende Vorstellung von meinen Instinkten hat, ausgerechnet Varis anspitzt, mir die Luft rauszulassen. Auch wenn es mir nicht gefällt, wäre es wahrscheinlich besser, ich würde mich mal mit jemandem unterhalten, der ähnliche Fähigkeiten hat. Und sich selbst unter Kontrolle. Ich seufze, als ich an der Litfaßsäule abbiege, trete noch mal ordentlich in die Pedalen. Ich habe entschieden weniger im Griff, als ich gern glauben möchte. Nachdem ich das Stahlross angekettet habe, suche ich nach Varis. Er sitzt am Tisch, sortiert lose Blätter in einen alten Folianten. "He, mein Liebling, wie war dein Tag?" Dröhne ich, besorgt, weil er mich nicht freudestrahlend empfängt. Hmm, und wer war der hässliche Besuch?! Er lächelt mich an, ein bisschen gebremst. "Hallo, Tibor! Sol war vorhin hier." AHA! Ich spüre, wie sich gewittrige Wolken in meiner Miene sammeln, leider begleitet von einem mulmigen Gefühl in der Magengrube. "Er hat uns auch etwas mitgebracht." Mein Varis klettert vom Hocker, weist auf einen schmucklosen Karton. "Hefeteig belegt mit Zwetschgen, Schalotten, Essiggurken und süßem Senf. Man muss es nur kurz aufwärmen. Es schmeckt danach noch besser." "So, so." Knurre ich grantig, umarme ihn, reibe kräftig über seine knochigen Schulterblätter. "Was verschafft uns die Ehre seines ungebetenen Besuchs?" Er löst einen Arm von meiner Mitte, weist auf den alten Schinken. Weil der Einband wirklich prächtig ist, haben wir ihn, trotz der zerfledderten Innenseiten, mitgenommen. "Es gab da einen Zwischenfall mit meiner Mutter. Sie wurde zur stationären Behandlung eingewiesen." Er schmiegt die Wange an meinen Brustkorb. Ich verschlucke einen bissigen Kommentar zum erstaunlichen Zeitpunkt dieses Ereignisses. Varis blickt mich an, lächelt hilflos. "Mein Vater zieht die Scheidung jetzt durch. Es reicht ihm endgültig, hat er mir geschrieben. 15 Jahre sind lange genug. Das gilt als lebenslänglich, ohne gute Führung." Ich sollte jetzt Bedauern äußern, aber ich lasse es, ich kenne den Mann ja nicht. "Sol hat all die Erklärungen und Nachweise vorbeigebracht." Varis blättert behutsam Seite um Seite im Folianten um, den er als Aufbewahrungsmappe nutzen will. "Wegen der Schule. Und ihren Großeltern. Und so vielen anderen Sachen." Er zuckt verlegen mit den Schultern. "Zudem macht mein Vater gerade eine Umschulung, hat kein Geld übrig. Ich soll mir da nichts erwarten." Ich streiche über seinen Rücken. Wir kommen schon klar. "Außerdem soll ich bitte schön aufhören, gruselige Gestalten auf ihn anzusetzen, die ihn zu diesem ganzen Papierkram nötigen." Er lacht leise, ein wenig gepresst. Ihn sanft wiegend drücke ich einen Kuss auf seinen lockigen Schopf. "Wieso hast du den Burschen reingelassen?" Fand er diesen Sol nicht beim ersten Mal beängstigend?! Varis schlägt mit der einen Hand den Folianten zu, zwinkert zu mir hoch. "Er hatte doch diese seltsame Pizza dabei!" Ich knurre guttural runter, weil ich weiß, wie sehr ihm die Vibrationen gefallen. Prompt lächelt er, ohne die Traurigkeit an den Rändern. "Ehrlich gesagt fand ich ihn gar nicht mehr furchteinflößend. Er hat mir eine Menge erklärt, erzählt, was schon geregelt worden ist." Er wendet den Kopf zur Seite, schmiegt wieder vertraut seine Wange an. "Auch wenn es sehr ungezogen ist, bin ich doch erleichtert, dass ich hier bleiben darf." Flüstert er. "Dass die Streitereien und Auseinandersetzungen ein Ende haben." Mir reicht es. Ich schiebe ihn dezent von mir, um ihn unterzufassen, in meine Arme zu heben, ihm einen Eskimokuss zu verabreichen. "WIR sind eine Familie, Varis. Du bist nicht allein. Alles ist gut." Gebe ich nachdrücklich die Losungen aus. "Ich weiß." Wispert er, vergräbt das Gesicht in meiner Halsbeuge, aber es kommen keine Tränen. Ich setze mich, mit ihm im Arm, halte ihn einfach fest. "Wenn sich die Lage etwas beruhigt hat, reden wir mit deinen Leuten, damit du hier einziehen kannst. Wir kriegen das hin." Höre ich mich plappern. Er streicht synchron über meinen Rücken, meine Schultern. "Danke." Wispert er. "Vielen Dank, Tibor." "Da nicht für!" Knurre ich. Ich habe Zweifel, dass nicht gewisse Hilfeleistung für den 'Zwischenfall' gestellt wurde, auch wenn es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr gefährlicher Zustand sich offenbart. Seine Finger kraulen durch meine Haare, lösen meinen Zopf. Er striegelt meine Strähnen sanft, eine entspannende Massage. Ich lasse ihn gewähren, genieße die vertraute Nähe. "Tibor?" "Hm?" "Sol deutete an, dass deine Mutter eine gewisse Erwartung hegt?" Ich jaule dezent auf. Sofort erstarrt mein Varis, mustert mich erschrocken. "Hab ich dir was getan?!" Ein schiefes Grinsen verunglückt auf meinem Gesicht. Ich rolle mit den Schultern. "Das wollte ich eigentlich nicht auf nüchternem Magen ansprechen." Brumme ich unwillig. Sofort will er aufspringen, das kuriose Gastgeschenk zerteilen, aufwärmen, doch ich kapere seine schmale Hüfte, halte ihn auf meinem Schoß. "Ich hab gelegentlich erwähnt, dass Werwölfe ne schräge Truppe sind, oder?" Grimassiere ich geplagt. Er lächelt, kämmt mir Strähnen hinter die Ohren. Da muss ich jetzt wohl durch. "Meine werte Mutter findet, dass es meine Bürgerpflicht ist, ein Schreiben aufzusetzen, an die Stadtverwaltung zu schicken, in dem ich auf die akute Baufälligkeit der alten Litfaßsäule hinweise." Ich verdrehe die Augen. "Ich biete darin freiwillig meine Dienste beim Abtragen an, übernehme die Patenschaft für einen schönen, schattenspendenden Baum." Er beißt sich auf die Lippen, unterdrückt tapfer ein Kichern. "Ich wette, dieser Sol hat gepetzt!" Gebe ich mich verärgert. Ich weiß schon, wer hier die Verantwortung trägt. Es ist ja auch eine sehr elegante Lösung, um meinen Totalausfall wieder in Ordnung zu bringen. "Ich melde mich auch freiwillig! Ich helfe dir!" Mein Varis schmunzelt, bevor er nachdenklich ergänzt. "Sag mal, müssen wir den Baum kaufen? Das könnte etwas teurer werden." Ich küsse ihn kurz. "Das muss ich alles noch rausfinden." "Ragnar hilft uns bestimmt auch!" Schon konzentriert er sich wieder auf die positiven Aspekte. "Wir könnten auch Kevin fragen, meinst du nicht? Und vielleicht einige Freunde von ihm?" "Wenn wir denen nicht zu rosa sind." Werfe ich ein, integriere noch ein Bussi. "Ach ja!" Mein Varis sortiert meine Zotteln wieder sittsam im Zopf. "Ich soll Ragnar noch etwas von Sol ausrichten: es wäre schon eine ganze Weile her, dass einer so viel Wirbel veranstaltet hat." Er blickt mich fragend an, etwas besorgt. "Ist es wirklich so arg?" Ich spüre, wie sich ein fettes Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet. "Nö." Bescheide ich ihm, fasse ihn fester, um uns beide in die Höhe zu befördern. "Komm, lass uns was essen, bevor Rag und noch mehr hungrige Mäuler einfallen!" Mit einer soliden Grundlage wird es auch viel amüsanter, das Gesicht meines besten Freundes zu genießen, wenn ihm klar wird, dass er gerade offiziell als Rudelführer akzeptiert worden ist! ~ð~ "Ich weiß, dass es schon dekadent ist." Er lächelt so vorsichtig wie gewohnt. "Sich einfach aller Pflichten ledig in andere Welten zu versetzen, zwischen Tag und Traum zu wandeln." "Und nicht mal eben die Welt zu retten." Nicke ich verständnisvoll. "Das ist ganz schön schwierig." Er weicht mir nicht aus. "Es gibt da immer so viele Details..." Sein Blick sagt mir, dass er sich erklären möchte, andererseits aber auch darauf verzichten kann, wenn mein Einwurf lediglich als fader Witz gedacht war. Ich will mehr hören, gerade weil ich den Eindruck habe, dass er sich mit diesen Dingen intensiv beschäftigt. "Ja." Stimme ich ihm zu. "Ich versuche zwar, mich an den Grundsatz zu halten, 'was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu', doch irgendwas ist ja immer!" Er schmunzelt dezent. "Selbst wenn wir nichts tun, tun wir noch etwas, ein Dilemma. Mich erstaunt immer wieder, wie überzeugt manche Menschen von ihrer Wahrheit sind. Wie sicher, was das Richtige ist. Dabei wissen wir doch so wenig von den Zusammenhängen in unserer Welt." "Der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings?" Frage ich nach. Er streicht kurz mit den Händen über seine Hosenbeine. "Selbst wenn man nach wissenschaftlichen und statistischen Standpunkten entscheiden würde, was richtig ist, ohne die komplexe Frage des Maßstabs zu diskutieren, verfügen wir doch über zu wenig Einblick in die Funktion all der Dinge unseres Daseins." Das kann man nicht abstreiten. "Da ist es nicht dekadent, sich erst mal auszuklinken und nachzudenken, bevor man tatendurstig auf die Welt losstürzt." Finde ich, hoffe, dass ich mal eine Einladung bekomme, mit ihm zu lesen und zu träumen, ohne Zeitdruck, abgeschieden von der sich überschlagenden Geschäftigkeit der so genannten Realität. "Ich bringe es selten zur Sprache." Erläutert er mit einem verlegenen Schulterzucken. "Augenblicklich ist ja Selbstoptimierung sehr angesagt, Leibesertüchtigung, diverse Engagements, Fortbildungen, kulturelle Teilhabe, alles in wenig Zeit." "Freizeitstress." Fasse ich verständnisvoll zusammen. Na, von diesem Druck habe ich mich auch schon ziemlich verabschiedet. "Ich finde, wir sollten unserem eigenen Pfad folgen." Blase ich mich trotzig auf. "Für uns selbst entscheiden, wenn unsere physische Existenz gesichert ist. Alle nach eigener Fasson." Ich für meinen Teil beabsichtige das nämlich durchaus. Lange genug habe ich für diesen Entschluss ja benötigt! In der Nähe schlägt eine Uhr zwei Mal, unsere halbe Stunde ist vorbei. "Treffen wir uns am Montag wieder?" Erkundigt er sich höflich, steht auf. Ich folge seinem Beispiel. "Unbedingt! Vielleicht komme ich am Wochenende ja auch mit dem neuen Jack Cougar voran. Da kann ich endlich mitreden!" Er lächelt über meinen Elan, während wir unsere Fahrräder freiketten. "Damit hat es doch keine Eile." Schön zu hören! "Danke, Konstantin." Ich strecke ihm die Hand hin. "Für deine Zeit." Etwas schüchtern greift er zu. "Nicht der Rede wert. Es ist mir ein Vergnügen." Wir grinsen beide, lösen unsere Hände voneinander. Ein seltsames Gefühl, kribbelnde Freude, erstaunliche Vertrautheit und eine ungezwungene Gelassenheit, alles zusammengemischt. Ob er es wohl genauso empfindet? Das kann ich beim nächsten Mal fragen, wenn wir nicht anderen Gedanken hinterher fliegen. ~ð~ Kevin benutzt tatsächlich die kleine Klingel am Gartentor. Ich bin nicht nur darüber verblüfft, wie zurückhaltend er sich gibt, auch seine veränderte Frisur, seine gesamte Haltung, all das überrascht mich. "Ich will nicht lange stören." Er lehnt sein Fahrrad bloß an den Zaun an. "He, was ist denn mit deiner Wange passiert?!" Automatisch taste ich nach der verschorfenden Wunde. "Nur eine Ungeschicklichkeit." "Oh, hoffentlich wird es bald besser." Das klingt schon nach ihm, jedoch ohne all den seltsamen Jargon wie verlorene Streusel dazwischen. Desinteresse an seinen Mitmenschen kann man ihm nicht vorwerfen. Tibor legt mir den Arm um die Schultern. "Was verschafft uns die Ehre? Hast dich zuletzt ja rar gemacht." Kevin nickt, sammelt sich dann kurz. "Ich bin hier, weil ich mich entschuldigen wollte." Sprudelt er heraus, ächzt erleichtert, die schwierigste Hürde genommen zu haben. "Vor allem bei Rag. Immerhin habe ich ja auch dazu beigetragen, dass er schlecht angeschrieben ist." Ich schaue erschrocken zu Tibor hoch. So ganz kann ich nicht folgen. "Ach, weil du dich ganz unerwartet dem Club der rosa Rüden angeschlossen hast?" Tibor bleckt die Zähne. "Bin überrascht, dass du dich noch auf die Straße traust." Nun senkt Kevin den Kopf. "Das~das kam auch für mich überraschend. Ich hatte aber nicht die Absicht, jemandem zu schaden." Er wirkt unverkennbar geknickt. Gab es so viel Wirbel? "Ach was!" Tibor verpasst ihm einen leichten Faustschlag gegen den Oberarm. "Du hast die Kurve ja gekriegt. Rag ist ein harter Hund, wenn es darauf ankommt. Nun erzähl mal, wie hast du den scharfen Kursleiter rumgekriegt?" Eigentlich nicht seine Art, so ungeniert neugierig zu fragen, doch ich erkenne seinen Versuch, Kevin die Beschämung zu nehmen. Er sieht uns wieder an, mit einem ungewohnten, zurückhaltenden Lächeln. "Ich weiß es nicht. Ich vermute mal, unverschämtes Glück?" Er zwinkert, ohne jeden Anflug der früheren Großspurigkeit. "Verbringst du jetzt die Wochenenden bei ihm?" Bringe ich mich ein. "Das ist prima! Freut mich." "Mich auch." Lächelt er mich warm an. "Trotzdem wäre es schön, wenn wir auch mal wieder was gemeinsam unternehmen könnten." "Oh!" Tibor lässt sein gutturales Knurren hören. "Da fällt mir spontan schon was ein: was hältst du von lokaler Umweltverschönerung?" ~ð~ Ich drücke den Summer, lausche auf seine ausgreifenden Schritte auf der Treppe, kehre demonstrativ der Tür den Rücken zu. Außerdem habe ich zu arbeiten! "Guten Abend!" Artig tritt er die Schuhe ab, schlüpft heraus, schließt die Tür, setzt seine Tasche ab. Sie klingt schwer, der Stoff ächzt. "Hm." Brumme ich konzentriert, rolle den nächsten Pfannkuchen in die kleine Auflaufform. "Darf ich dir helfen?" Er nähert sich lautlos, wäscht sich an der Spüle die Hände. "Du kannst die passierten Tomaten vorsichtig erhitzen, etwas von der Bitterschokolade abschaben." Erteile ich Anweisungen. "Gern." Bereitwillig macht er sich neben mir an die Arbeit. "Und, wie war's bei deinen Freunden?" Frage ich beiläufig nach, passe den perfekten Moment für die Pfannkuchen-Wendung ab. "Rag habe ich leider nicht angetroffen, aber Tibor und Varis tragen mir nichts nach." Berichtet er freimütig. "Ist auch wirklich keine Schande, mir den Hof zu machen!" Prahle ich provozierend. Er lächelt bloß, schenkt mir einen fröhlichen Blick. "Wow, dein Enthusiasmus haut mich um!" Grummele ich, quetsche noch eine Pfannkuchenrolle in die Form. Peinlich, aber in seiner Gegenwart benehme ich mich wie ein aufgedrehter Grünschnabel! "Hat dich nicht wenigstens irgendwer zu mobben versucht?" Stänkere ich beiläufig, gieße die nächste Portion Flüssigteigmasse in die Pfanne. Er erstarrt für einen Augenblick, stellt das Rühren der sämigen Tomatensauce ein. "Da fühle ich mich echt nicht wertgeschätzt!" Quengele ich noch boshafter, schüttele innerlich entsetzt über mich selbst den Kopf. "Hast du Ärger? Meinetwegen?" Seine Stimme ist gepresst, ein hohles Echo, staubtrocken, kläglich. Wie kommt er jetzt auf DIE Idee?! Als ob mich anderer Leute unmaßgebliche Ansichten über mich und mein Leben jucken würden! Grimmig donnere ich die Pfanne auf die Platte, hämmere den Wender daneben, die Hände schon in die Hüften gestützt, in halber Drehung für eine komplette Tirade vorbereitet. Er steht vor mir, mit bangem Blick, schlimmer als ein getretener Welpe. "Das tut mir wirklich leid." Krächzt er beklommen. Ich reiße die Arme hoch, jaule Dezibel-stark. "Herrje, was ist bloß mit dir los?! Ich benehme mich wie ein Vollidiot unter Hormonüberflutung, und DU entschuldigst dich?! Für WAS?! Tritt mir gefälligst in meine knackige Kehrseite, wenn ich meine Unleidlichkeit an dir auslasse, weil mein Libidometer unterlastet ist!!" Seine Kinnlade sackt herunter. Ich schnaube, die Fäuste geballt. "Musst du so verdammt scheu sein, wenn du jemanden wirklich magst?!" Schimpfe ich weiter. "Jetzt gib mir gefälligst Kontra!" Sein Mund öffnet und schließt sich mehrfach. Ich vernehme keinen Laut. "MannMannMannMannMann!!" Zetere ich originell, greife selbst zu, zerdrücke sein Hemd am Ausschnitt, ziehe ihn auf korrekte Kusshöhe herunter. Er schmeckt ein wenig bitter wie unterdrückte Tränen und gallige Panik. Mit Verve arbeite ich dagegen. Immerhin habe ich den Teig vorgekostet! Gelernt ist gelernt, er spielt eifrig, mit wachsender Begeisterung mit. Wir taumeln schließlich beide mangels Kiemenatmung. Er umhalst mich, das Gesicht in meinen Nacken geschmiegt. "...tut mir leid..." Flüstert er. Ich seufze, kraule einhändig seinen Nacken, während ich mit der anderen Hand die aparten Pobacken massiere. "Du musst dich daran gewöhnen, dass ich mich wie ein depperte Teenie verhalte! Sei gefälligst nicht so erwachsen und verständnisvoll!" Er lächelt, was ich zwar nicht sehen kann, aber förmlich ahne. "Was ist jetzt?!" Fauche ich, grapsche ordentlich zu. "Ich werde mich bemühen." Verspricht er artig, drückt mich fester. Kraft hat er ja, der scheue Schisser! Ich sorge für ein wenig Distanz, damit ich ihn ansehen kann. "Ist WIRKLICH alles gut gelaufen? Mach mir nichts vor, ich bin schon groß!" Zum Beweis steige ich auf die Zehen. Er hat mir ja doch ein paar lächerliche Zentimeter voraus. Er nickt, leckt sich über die Lippen. "Niemand hat mir was getan. Nur..." "Nur?!" Bin ich sofort in Krawallstimmung. Er zuckt verlegen mit den Schultern. "Es ist ein wenig peinlich, dass Tibors Großtante so genau wusste, wen ich..." Er räuspert sich, hummerrot angelaufen. "...liebe." "Tibors Großtante?!" Echoe ich irritiert. "Sie hat ihm den Tipp mit deinem Kurs gegeben, damit sie mich loswerden können." Lässt er verbal die Hosen herunter (gegen die andere Variante hätte ich selbstredend auch nichts einzuwenden gehabt). Ich werfe krause Falten auf meine Stirn, hebe die Hand. "MO~MENT!" Er verharrt artig, während ich rasch die letzten Teigrollen produziere, die Sauce über sie in die Auflaufform gieße, alles in das heiße Ofenrohr schiebe. "O~KAY." Ich packe ein Handgelenk. "JETZT will ich die gruseligen Details deines Besuchs heute in allen Einzelheiten erfahren!" Im Schlafzimmer. In meinem Bett. Damit sich meine Hormone, mein Temperament und all die anderen in mir tobenden Vulkane ordentlich schadlos halten können! ~ð~ "Ach, wirklich?" Ich bin verblüfft, angenehm überrascht und ein wenig angepisst, ohne Umschweife. Es freut mich, dass Kamerad Kevin sich eingefunden hat, um sich zu entschuldigen für nervenaufreibende Episoden der Vergangenheit. Hätten wir geahnt, wie schnell sich das Problem in Wohlgefallen auflösen könnte! Ich zweifle nicht, dass er selbst auf Entdeckungsreise gegangen ist. Was mich heftig ärgert, ist der Umstand, dass wohl in der Welt da draußen, die auf digitalen Klatschbasaren ihren Lenz auslebt, noch immer der Bär steppt. Er hält da stärkeren Kontakt als ich. Für meine Person wäre es mir ja gleichgültig, aber ich sorge mich um Konstantin. Ich will nicht, dass er in den Schlamassel reingezogen wird. "Reg dich nicht auf, Rag." Klopft mir mein notorischer Cousin auf die Schulter. "Jetzt hat doch jeder Topf nen Deckel, also, was kümmert's uns?" Ha! Ich weiß GENAU, wonach du angelst! Varis, der noch immer die Spuren der Auseinandersetzung mit seiner Mutter trägt, bemerkt es auch, wirft mir besorgte Blicke zu. Wenn wir jemals wieder pokern, Tibor, wirst DU alt aussehen! "Wir sind FREUNDE!" Betone ich grimmig. "Ich möchte, dass das auch so bleibt." "Ist ja keine schlechte Ausgangslage." Stichelt Tibor weiter. "Du musst ihn eben noch auf den Geschmack bringen." Varis materialisiert sich blitzartig vor mir, dabei habe ich gar nicht die Absicht, Tibor eine verdiente Kopfnuss zu verpassen. "Du weißt am Besten, was zu tun ist!" Sprudelt er hochgeschwind heraus. "Möchtest du ihn vielleicht zu meiner Geburtstagsfeier einladen? Er muss auch nichts essen oder trinken!" Sein verzweifeltes Bemühen, eventuelle Wogen zu glätten, beschämt uns beide. Wir knurren guttural, vermeiden Augenkontakt, klopfen uns gegenseitig kurz gegen die Brust. "Ich werde ihn fragen." Sichere ich Varis zu, der sichtlich erleichtert zu mir hoch lächelt. "Fein!" Strahlt er. "Kevin wird seinen Freund...Oriol... auch fragen! Je mehr, je lustiger, richtig?" Das von jemandem, der seit Ewigkeiten keine Party mehr gefeiert hat. Ansatzlos schnappt Tibor Varis, hebt ihn sich auf die Arme. "Wir sagen jetzt gute Nacht!" Ich kann ein süffisantes Grinsen nicht ganz unterdrücken. Tatsächlich, Tibor hat seinen Meister gefunden! ~ð~ "Bist du mir böse?" Ich seufze, kraule behutsam durch die Löckchen, während ich mit der anderen Hand seine halte. Sein Kopf ruht auf meiner Brust, er selbst ist angeschmiegt, immer noch zerbrechlich und gezeichnet von der Auseinandersetzung mit seiner Mutter. "Ich bin dir nicht böse. Werde ich vermutlich nie sein." Antworte ich ehrlich. Hin und wieder ärgere ich mich allerdings sehr über mich selbst, weil ich ihn dazu veranlasse, für mich gesellschaftliche Fehltritte auszubügeln. "Ich sollte mich besser beherrschen." Gestehe ich zerknirscht ein. "Daran muss ich wirklich noch arbeiten." Er richtet sich auf, entschlüpft meinem Zugriff. "Das musst du nicht! Ich bin einfach zu schreckhaft und kleinmütig..." Ich ramme die Ellenbogen in die Matratze, richte mich mit Schwung auf, umarme ihn eng. "Du hast Grund genug, vorsichtig zu sein." Knurre ich in deutlicher Erinnerung seiner körperlichen und seelischen Wunden. "Außerdem wissen wir beide, dass ich ziemlich ungeschliffen bin, was meine Rücksicht auf meine Umgebung betrifft." Allerdings käme dir eine solche Kritik nie über die Lippen. "Tibor..." Ich begehe ein taktisches Foul, versiegle ihm den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. Japsend sackt er in meinen Armen zusammen. "Sieh mal, Liebling, ich kenne meine Defizite." Ich wiege ihn behutsam. "Bisher war ich bloß zu bequem, um sie anzugehen. Aber ich denke, dass es jetzt höchste Zeit ist." Grummelnd ergänze ich. "Außerdem gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, dass dieser Sol dir sehr viel besser erklären konnte, was mit mir los ist." Unschön, aber die Warnung ist wohl nötig, das gebe ich zu. "Ich habe das vorher nicht richtig verstanden." Antwortet er mir leise. "Ich hätte diese Werwolf-Sache ernster nehmen sollen." "Hab ich doch auch nicht!" Kontere ich. "Woher sollst du das auch wissen?!" Er legt mir beide Hände um die Wangen, lehnt seine Stirn an meine, muss sich selbst im Sitzen recken. "Sol hat mich auch an etwas Wichtiges erinnert." Wispert er. "Ich bin selbst für mich verantwortlich. Ich kann mich nicht einfach an dich hängen. Du bis gerade vier Jahre älter." Nun schnaube ich erbost. "Was soll das heißen?! Hält der alte Kauz mich für einen Waschlappen, oder wie?!" Gut, die Litfaßsäule steht für einen gewissen Mangel an Souveränität, aber ansonsten habe ich alles im Griff! Was für Griffe, aber hallo! Da sind Grabschaufeln nichts dagegen! Mein Varis schmunzelt. Ich registriere das Kräuseln seiner Mundwinkel in der Atmosphäre. Allerdings müsste ich schon stark schielen, um tatsächlich in dieser intimen Nähe sein Gesicht vollständig betrachten zu können. "Tibor, ich möchte nicht, dass du dich um meinetwillen einschränken musst." Er zögert. "Zumindest nicht mehr als jetzt schon." "Ich schränke mich überhaupt nicht ein! Tue ich nie!" Donnere ich. Rag hat damit leidvolle Erfahrung! Er küsst mich sanft auf die Lippen. "Das habe ich nicht richtig ausgedrückt." Seine leise Stimme klingt ernst, aber sanft, viel erwachsener und reifer als mein eigenes Geknurre. "Ich möchte nicht, dass du für mich Elternersatz oder großer Bruder bist." Oh. Uhm. Für einen langen Moment fällt mir wirklich keine einzige vernünftige Entgegnung ein. "Also, ich habe leider so ein Bestimmer-Gen." Grummele ich schließlich hilflos, bin unbeherrscht, selbstherrlich und gnadenlos von mir selbst überzeugt. "Ich weiß, dass du IMMER auf mich achtest, mir beistehst, mich beschützt." Seine Finger streichen über meine Haare, kämmen die losen Strähnen. "Darüber bin ich sehr froh. Aber die Hälfte des Jobs obliegt mir. Davor will ich mich nicht länger drücken." Ich gebe mich geschlagen. Er hat ja auch recht. Es könnte tatsächlich zu einer üblen Angewohnheit werden, ihn nicht gleichberechtigt auf derselben Höhe laufen zu lassen. Ich seufze bis in die Fußzehen, spüre seine Anspannung, die Sorge, mich gekränkt oder beleidigt zu haben. "Varis, mein Liebling, du hast recht." Antworte ich laut. "Deshalb werde ich auch meine Hälfte in Ordnung bringen." Er küsst mich zärtlich auf den Mund. "Ich finde deine Hälfte tadellos." "Naahhh!" Schnaube ich mundartlich. "Auch wenn's mich frustriert, ich werde diesen Sol kontaktieren. Ich brauche Hilfe bei meinem Werwolf-Schmarrn." Ein Baum reicht, finde ich, sonst muss ich wahrscheinlich noch öfter zu Kreuze kriechen. Mein Varis umarmt mich aufmunternd. "Das ist prima, Tibor! Er ist eigentlich ganz nett." Was ich in MEINEM Bett nicht über andere Kerle hören will! Folgerichtig knurre ich sonor, rolle uns geschickt von Sitz- in Liegeposition, achte aber darauf, meinen Liebling nicht zu erdrücken. Statt einer beflissen-ängstlichen Entschuldigung höre ich ihn kichern, leise seufzen. "Was ist denn?" Hake ich gedämpft nach, drücke ihm ein paar Bussi auf. "Ich bin nur so froh." Wispert er. "Hier mit dir zu sein." Dem habe ich nichts hinzuzufügen. ~ð~ "Das passt mir gar nicht!" Stelle ich kategorisch fest, stopfe ihm den letzten Pfannkuchenrest mit der Gabel in den Mund, bevor er Kritik äußern kann. Wir sitzen ganz ungeniert und dekadent völlig entblößt auf meinem Bett, vertilgen gerade die Reste unseres Backofen-Abendbrots, um die Energiereserven wieder aufzufüllen. Vorher habe ich ihn ordentlich spüren lassen, wie erbost ich über die Heimtücke dieser verwandtschaftlichen Mischpoke seiner Freunde bin. Jetzt ist mir ordentlich warm, mein Kreislauf brummt hochtourig, während mein Verstand Gewitterwolken produziert. Woher will so eine alte Klatschbase wissen, wer mit mir die Federungen zum Quietschen bringen darf?! Ich halte zwar nichts von Verschwörungstheorien, aber das hier sieht mir eher nach einer fiesen Praxis aus! Er leckt sich die Mundwinkel sauber, beäugt mich betroffen. "Die kommt doch hoffentlich nicht auch vorbei, oder?!" Schimpfe ich ungehemmt weiter. "Nein, nein!" Wedelt er hastig mit den Armen, jedoch ohne die frühere Unterkoordination mit Unfallgefahr als Dreschflegel-Azubi. "Varis hat Geburtstag, es ist seine Feier! Er ist auch kein Werwolf... Moment!" Rasch federt er hoch, springt auf die bloßen Füße, wendet sich jedoch noch mal zu mir um. "Bitte entschuldige mich kurz." Huscht aus meinem Schlafzimmer. Ich bin nachhaltig beeindruckt. Trotz seiner eher tristen Vita schält sich immer wieder heraus, dass er tatsächlich sehr aufmerksam und beinahe altmodisch gut erzogen ist. Was mir sehr gefällt, leider auch den Spiegel vorhält, wie unreif ich mich in seiner Gegenwart verhalte. Peinlich. Er erscheint wieder auf blanken Sohlen lautlos, seinen chinesischen Gehirnerweiterungsknecht in der Hand. Bevor ich missbilligend schnalzen kann, setzt er sich neben mich, erläutert rasch. "Nur für ein Bild, ich hab's schon unterwegs ausgeschaltet!" Und nicht nur, um Strom zu sparen. Ich lupfe also nur eine kritische Augenbraue, beäuge den Schnappschuss. "Varis, Tibor und dahinter Ragnar." Identifiziert er die drei Abgebildeten. "Wie alt wird der Bursche?!" Hake ich konsterniert nach. Das zarte Bübchen mit dem wirren Lockenschopf wirkt definitiv ZU jung, um mit dem muskulösen, sehr selbstbewussten Alpha-Männchen delikate Horizontalspielchen zu betreiben. "Er wird 15." Antwortet mir Kevin brav, registriert meine Miene, ergänzt eilig. "Tibor würde ihm nie was antun, wirklich! Und Rag würde das sonst auch nicht akzeptieren!" Na, wie beruhigend. Ich spüre seinen nervösen Blick. "Wenn du lieber doch nicht mitkommen möchtest..." "Wird ja wohl kaum drin sein!" Fauche ich, verschränke demonstrativ die Arme vor der Brust. "Wie willst du mit mir angeben, wenn ich nicht da bin, hm?!" "Das ist richtig." Er stellt seinen mobilen Datenknecht aus, verbannt ihn außer Reichweite. Eine Weile halte ich seinem besorgten Blick stand, schnippe blitzschnell gegen seine Nasenspitze. "Hör mal, du MUSST mir hin und wieder den Wecker stellen, sonst werde ich dich total und gnadenlos EINNORDEN!" Schimpfe ich begleitend. Ich brauche eben einen Kontrahenten, nicht nur bei unserer bevorzugten Sportart! Er sagt gar nichts, stattdessen hebt er die Arme an, verdreht sich, um mich fest zu umhalsen. Ich erwidere seine Umarmung, seufze. "Ich lass dich nicht hängen und mach Schluss, wenn du mir alles von dir zeigst und zumutest." Raune ich in sein Ohr. Immerhin lege ich MIR keinerlei Rücksichtnahme auf, oder?! Er drückt noch ein wenig fester zu, wispert eine klägliche Entschuldigung. "Du musst auch nicht ehrfürchtig glauben, dass ich zu cool, zu sexy und zu souverän für dich bin." Knurre ich grollend. "Klar bin ich der heißeste Hengst unter der Sonne, aber das bedeutet ja auch, dass ich verdammt gute Urteilsfähigkeit mitbringe, was die Befriedigung meiner Gelüste betrifft, oder?!" Quod est demonstrandum! Er lacht leise, dreht den Kopf ein wenig, um mich auf die Wange zu küssen. "Ich liebe dich so sehr, Oriol." Raunt er perfid an meinem Ohrläppchen, ein wenig erstickt, mich beinahe zerdrückend. Ganz mieser Trick! Ich quetsche zurück, schnaube nach einem peinlichen Räuspern. "Na also, hab doch gesagt, dass ich WEISS, was ich will! Zweifle bloß nich am heißen Hengst, klar?!" Er nickt minimal in meiner Halsbeuge. "Brav!" Ich löse einen Arm, tätschle seine appetitliche Kehrseite. Als er den Kopf hebt, sich ein wenig widerstrebend distanziert, zwinkere ich herausfordernd, poliere engagiert seine Mandeln. Keine Ahnung, wie lange wir einander Gesellschaft leisten, aber ich werde mich voll reinhängen. Diese Herausforderung nehme ich an, aber hallo! ~ð~ "Das ist merkwürdig." Stelle ich besorgt fest. Unser Frühstück steht bereit, doch von Ragnar keine Spur bis auf eine hastig hingekrakelte Nachricht, die Tibor zu meiner Verblüffung mit breitem Grinsen zitiert. [Guten Morgen, Jungs, sorry, muss sofort zu Konstantin. Tausche meinen Einkaufsdienst mit euch. Melde mich später. Rag.] "Sieh an!" Er feixt. "Schätze, wir müssen ihm gar nicht so rasch mitteilen, dass er ein anerkannter Rudelführer ist." Tatsächlich hat sich Ragnar bisher noch nie so verhalten, seine Pflicht vernachlässigt, eigene Bedürfnisse an die erste Stelle gesetzt. "Denkst du, dass es Konstantin gut geht?" Erkundige ich mich. Was könnte wohl Ragnar zu so einem überstürzten Schritt bewegt haben? "Bestimmt." Tibor zwinkert. "Ich vermute eher mal, mein liebenswert-verpeilter Cousin fürchtet, sein neuer Freund könnte von bösen Digital-Trollen von ihm abgeschreckt werden." Was, seiner Miene nach zu urteilen, absolut unwahrscheinlich ist. "Wie ärgerlich!" Murmele ich. Warum können diese Leute sich nicht schlicht und einfach um ihr eigenes Leben kümmern? "Gönnen wir uns was." Lenkt Tibor mich ab, schlüpft aus seinen Boxershorts, streckt mir splitterfasernackt die Hand hin. Ich begreife nicht gleich, doch sein amüsiertes Gestikulieren Richtung Fenster, wo sich gerade ein milder Landregen über die Gemeinde ergießt, zündet die notwendigen Synapsen. "Ich weiß nicht." Zögere ich. Obwohl es angenehm warm ist, niemand das Grundstück einsehen kann, bin ich noch nie blank in den Regen marschiert. "Finden wir's doch raus!" Neckt er mich, fasst mich unter, hebt mich hoch auf seine breiten Schultern. Ich stütze mich ab, wehre mich nicht, von meinen verschlissenen Bermudas befreit zu werden. Es geht hinaus, riecht angenehm "grün", dezent nach Blüten. Der Tropfenregen auf meiner Haut ist streichelzart und wohltemperiert. Tibor lässt mich nicht etwa herunter, sondern raunt kehlig. "Schön festhalten, Liebling. Lass mich nicht los." Ich könnte gar nicht, er dreht sich trotz des schlüpfrigen Bodens flink um die eigene Achse, so rasch, dass meine dürren Beine weit im Kreis fliegen. Trotz anfänglichen Schreckens höre ich mich selbst bald vor Vergnügen kreischen, lache laut heraus, tropfnass, quietschfidel. Langsam reduziert er seine Umdrehungen, liebkost meine Nasenspitze mit Eskimoküssen, strahlt mich an. "Ich werde dich so was von heiraten bei der ersten Gelegenheit!" Schnurrt er basslastig, was mir Bauchflattern verursacht. "Das tun wir." Ich schmiege mich an, küsse ihn. Wir sind einfach glücklich, in diesem perfekten Moment. Gemeinsam werden wir bestimmt noch viele solcher Augenblicke erleben. ~ð~ Ich bin überrascht. Besuch, vor allem unangekündigt, habe ich selten. Und nicht an einem Samstagmorgen. Der vollkommen durchnässt auf meiner alten Fußmatte steht, aufgelöst und zwischen Besorgnis und Empörung schwankend einen Wortschwall hervorstößt, der mich überfällt wie ein Mückenschwarm. Nun sitzt Ragnar in meinem alten Bademantel in geliehenen Socken mit Handtuchturban auf einem Kissen, nippt an einem mit heißem Wasser aufgegossenen Apfelsaft. Schämt sich, wie er mir anvertraut. Ich dagegen bin amüsiert. "Bitte zerbrich' dir nicht den Kopf." Tröste ich ihn. "Es steht nicht zu erwarten, dass meine Eltern ihrer Sorge Ausdruck verleihen, hier unvermutet aufschlagen." Auch wenn ich gänzlich unvorhergesehen einen harschen Anruf am gestrigen Abend erhalten habe, mich doch auf meine sensorischen Beeinträchtigungen zu konzentrieren, bitte nicht auf einen notorischen Verführer mit homosexuellem Einschlag einzulassen. Nachdem ich jahrzehntelang überhaupt keine sexuelle Präferenz geschweige denn Aktivität an den Tag (oder die Nacht) gelegt habe, ist dieser fromme Wunsch (oder die panische Sorge vor der Gerüchteküche im Umfeld meiner Familie) für mich verwunderlich bis erheiternd. "Ich begreife wirklich nicht, wie das zwischenmenschliche Erotik-Spiel funktioniert." Bescheinige ich ihm lächelnd. Menschen sind einfach verblüffend, Fuzzy-Logik fest eingebaut. Er seufzt tief, immer noch dezent gerötet, nicht nur von der reichlichen, himmlischen Dusche. "Mir macht es ja nichts aus, wenn es nur um mich geht. Aber dass du jetzt so unter Druck gesetzt wirst!" Er knirscht mit den Zähnen. "Oh, das werde ich nicht." Beruhige ich ihn, erhebe mich, um nach Instant-Gemüsebrühepulver zu fahnden. Auf Frühstücksgäste bin ich nicht vorbereitet, aber das sollte helfen. Seine sichtbare Stirn schlägt immer noch Sorgenfalten. "Wie du ja schon bemerkt hast, bewege ich mich nicht in digitalen Foren oder sozialen Netzwerken." Ich zucke mit den Schultern. "Außerdem habe ich festgestellt, dass mir unsere gemeinsame Zeit gefällt. In meinem Leben zählt meine eigene Integrität für mich sehr viel. Ich werde sie nicht für die irregeleitete Meinung anderer Personen einschränken." Er seufzt, lächelt erleichtert. "Danke, Konstantin. Wirklich, danke!" "Keine Ursache, ist mir ein Vergnügen." Zwinkere ich verschmitzt, mische Trockennudeln mit Pulver, heißem Wasser, befördere die Mischung zum Eindicken in die Mikrowelle. "Wenn du keine weiteren Verpflichtungen hast, könnten wir uns heute den neuen Jack Cougar vornehmen." Schlage ich vor. So kommt es, dass ich ihm, während er sich aufwärmt und eifrig Nudelsuppeneintopf löffelt, das erste Kapitel vorlese. Wir spekulieren gemeinsam, wie es wohl weitergehen könnte, malen uns die verrücktesten Verwicklungen aus, lachen und diskutieren engagiert, bis wir beide ein Nickerchen einlegen. Als ich aufwache, spüre ich seine Hand auf meiner liegen, während er noch entspannt schläft. Es stört mich nicht. Es ist schön. Ich bin gespannt, wohin unser Weg uns wohl führen wird. Panta rhei. ~ð~ ENDE ~ð~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera