Titel: Perfekter Moment Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Weißer Tag Erstellt: 10.03.2018 Disclaimer: alles Meins! Für Vegeta (als Entschädigung für wenig Romantik am Valentinstag ^_~) ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ ~*+*~ Perfekter Moment Mit den Ohren, das war so eine Sache, dachte Tsutomu, während er sich wirklich bemühte, die Gedanken einzig und allein auf sein mitgenommenes Notizbuch zu richten. Bei Augen, da konnte man sich behelfen, zumachen, woanders hingucken. Aber Ohren waren nun mal, evolutionär erprobt, ständig auf Empfang. Das bedeutete, man konnte nicht einfach mal "weghören", selbst wenn man wollte. Natürlich hätte man sich außer Hörweite begeben können, korrekt! Allerdings bedingte dieser weise Vorschlag, dass man sich aus dem Klassenraum entfernen durfte, obwohl Selbststudium unter Aufsicht der Klassensprecherin angezeigt war. Diese kritische Erlaubnis lag nicht vor. Deshalb hörte er, während seine Augen sich angestrengt auf die chemischen Formeln konzentrierten, das leise Gespräch mit. Er saß direkt hinter den beiden tuschelnden Mitschülern. Offenbar diskutierten sie in Flüsterlautstärke die Erkenntnis, dass die Mutter eines Mitschülers ein Gravure-Modell gewesen sein sollte! Für einen Moment schweiften Tsutomus Gedanken unerlaubt ab. Wenn das tatsächlich zutraf, müssten diese provozierenden Aufnahmen doch mindestens ein Jahrzehnt oder länger her sein. Wie konnte man sich da so sicher sein? Immerhin veränderten die Menschen ihr Aussehen ja doch über eine gewisse Zeitspanne. Tsutomu rief sich innerlich energisch zur Ordnung. Erstens hatte er dringend zu lernen, zweitens galt erstens für ihn mit unerfreulicher Priorität. ~*+*~ Tsutomu wusste durchaus, dass man von ihm behauptete, er sei die Verkörperung des Adjektivs "verpeilt". Im Wörterbuch müsse dazu sein Porträt zu sehen sein. Nicht im Sinne einer gravierenden Orientierungsunfähigkeit, wie man vielleicht annehmen konnte, nein, er war lediglich abgelenkt. Hauptsächlich durch den Blick in seine Notizbücher, auf Vokabeln, Formeln und eilig hinzukritzelnde Hausaufgaben. Deshalb registrierte er abgesehen vom Schulweg per Fahrrad selten viel und rechtzeitig von seiner Umwelt. Dabei bestand er gar nicht darauf, durch ständiges Studium ein herausragender Schüler zu sein, oh nein! Sein Engagement ergab sich schlichtweg aus den Umständen. Zum Einen, das hatte ihm sein Vater ausreichend oft versichert, weil er bei Mutter Natur einfach kein Stein im Brett hatte. Anstatt den Verstand seines Vaters und das Aussehen seiner Mutter zu erben, verlegte er sich auf die umgekehrte Kombination. Die sich bei weitem nicht so vorteilhaft ausnahm. Nein, sein Vater, dessen Geschäftssinn und Einfühlungsvermögen mit messerscharfem Verstand ihn zum Inhaber eines exquisiten Geschäfts für Kochutensilien de luxe gemacht hatte, behielt recht. Tsutomu wusste, dass er selbst niemals als zweiter Sohn, vom Lande kommend, ohne Aussicht, das väterliche Erbe samt Profession übernehmen zu können, so eine steile Karriere wie sein Vater hingelegt hätte! Zumal er ja Einzelkind war. Sein Vater hingegen hatte Kioto angesteuert, mit seinen Talenten ein kleines Vermögen erwirtschaftet, verteidigte seinen Ruf ebenso versiert wie entschlossen. Da konnte man nur in Respekt zurückweichen. Das harte, aber gerechte Urteil anerkennen, das einen für, nun ja, minderbegabt hielt. Seiner Mutter brachte Tsutomu die gleiche, etwas hilflose Sympathie entgegen, die sie ihm gegenüber offenbarte. Man lebte zusammen, wusste jedoch recht wenig miteinander anzufangen, begegnete sich allerdings freundlich und höflich. Wobei es Tsutomu ein bisschen irritierte, dass seine Mutter weiterhin das Gebaren einer Halbwüchsigen an den Tag legte, kicherte, sich schüchtern in jungmädchenhaften Posen erging. Allerdings musste man ihr zugute halten, dass sie nicht als Hausfrau und Mutter figurieren sollte, sondern als schöner Ausweis für den Erfolg ihres Mannes. Der es sich leisten konnte, eine Gattin vorzuzeigen, deren Hauptaufgabe im Repräsentieren bestand. Weil allen anderen Kandidaten für ihre Hand durchaus bekannt war, welche Erwartungen sie definitiv nicht zu erfüllen vermochte. Sein Vater konnte es sich eben leisten! Maschinen erledigten die lästige Hausarbeit, gekocht wurde nicht. Man aß grundsätzlich auswärts. Der Status erlaubte dies, signalisierte den Erfolg. Tsutomu stellte in seiner Person einen gewissen Rückschlag dar. Andererseits war zu bedenken, dass zumindest im florierenden Unternehmen seines Vaters für ihn auf Sichtweite kein angemessener Platz sein würde. Was nicht hieß, dass er sich nicht in den Erfolg der Familie zu stellen hatte. Natürlich konnte Tsutomu das nachvollziehen, auch ohne explizite und ausschweifende Erläuterungen (die sein Vater ihm dennoch angedeihen ließ). Welcher hochdekorierte Profi wollte sich auch von einem Schüler beraten lassen? Auch wenn der die Theorie paukte, eifrig die blumigen Anweisungen der Hersteller auswendig lernte. So blieb es Tsutomus Aufgabe, sofort nach der Schule zum Geschäft zu radeln, sich rasch umzukleiden, als dienstbarer Geist unsichtbar auf Sauberkeit und Ordnung zu achten. Nachlegen, Einräumen, Polieren, Lieferscheine sortieren und abheften. Die familiäre Verpflichtung verhinderte selbstredend das eigentliche schulische Engagement. Beispielsweise in Form von Clubs, Arbeitsgemeinschaften oder dem Besuch der Paukschulen. Eine solche zu finanzieren, hätte wohl durchaus zur Debatte gestanden, wäre eben der Verstand nicht bloß für den Hausgebrauch geeignet gewesen! Da es sich anders verhielt, entschied der Vater, dass ein Studium vergebene Liebesmüh sein würde, man nur Zeit und Geld verlöre. Besser sei es ohnehin für jemanden wie Tsutomu mit den eher limitierten Möglichkeiten seiner Talente, durch Arbeit zu lernen. Andererseits durfte Tsutomu allerdings auch nicht in die Gefahr geraten, durch schlechte Schulleistungen zurückgestuft zu werden oder den Abschluss nicht zu schaffen. Lange Rede kurzer Sinn: er nutzte jede Gelegenheit, zu lernen, zu wiederholen, eilig Schulaufgaben zu erledigen, um sich irgendwie im Leistungsniveau über Wasser zu halten. Deshalb machte er häufig einen "verpeilten" Eindruck: der Blick leicht glasig wegen der gebannten Konzentration auf eng beschriebenes Papier, der Kopf noch in anderen Sphären. Tsutomu nahm diese Beschreibung nicht krumm. Sie stimmte ja, in gewisser Weise. Außerdem verfügte er über ein gutmütiges Wesen, was ihm im Zusammenleben mit den Eltern zum Vorteil gereichte. ~*+*~ Tsutomu eilte zu seinem Spind, wechselte die Schulslipper, verstaute Bücher. Raus, zum Fahrradständer... Er stutzte. Auf seinen Turnschuhen lag ein kartoniertes, kleines Dokument, sorgfältig ausgeführte Schriftzeichen, schwarzer Tuschestift auf weißer Unterlage. [Bitte komm zur Tischtennisplatte. Ich möchte dich in einer persönlichen Angelegenheit sprechen. Andou Y.] Tsutomu warf die Stirn unbewusst in krause Falten, durch die kurz getrimmten Haare deutlich sichtbar. »Ah!« Kam ihm ein Geistesblitz unerwartet zur Hilfe. »Valentinstag!« Das konnte erklärten, warum sich erstmalig in seiner Schullaufbahn eine Nachricht in seinem Spind fand, die nicht an seine Eltern von der Schulleitung gerichtet war. Aber Andou? Er grübelte, während er flugs die Schuhe wechselte, die kleinformatige Einladung einsteckte. Kannte er ein Mädchen mit diesem Nachnamen? Vielleicht in einer Parallelklasse? Oder einer anderen Klassenstufe? Wahrscheinlich wollte sie, dass er sich als Bote betätigte. Um wen es wohl ging? Tsutomu hatte, zu seinem leisen Bedauern, keine Freunde. Klassenkameraden, Nachbarn seines Alters, doch, durchaus, immerhin lebte er in einem Handwerkerviertel. Da kannte man sich untereinander, weil die meisten eben auch diese Schule hier besuchten. Ortsansässige Handwerker und Kleinunternehmer zogen selten weg, weshalb man eine recht geschlossene Gemeinschaft bildete. Aber weil Tsutomu nun mal "verpeilt" unterwegs war, keine Freizeit vorweisen konnte, populäre Trends nicht kannte, mangelte es ihm eindeutig an Attraktivität für einen guten Freund. Sogar für einen halbwegs interessanten Gesprächspartner. Tsutomu eilte geschwind zur steinernen Tischtennisplatte, die zu Schulschluss verwaist sein würde. Dort erwartete ihn jedoch keineswegs ein schüchternes Mädchen, das zum Valentinstag einen Vermittler suchte, sondern ein Jugendlicher seines Alters: Hemd, Pullover, Hose, leichte Slipper, die typische Schuluniform. Mit einem sanften, höflichen Lächeln. Tsutomu studierte erneut die kleine Karte. "Ich bin Yumeji Andou." Löste sein Gegenüber das Rätsel freundlich auf. "Vielen Dank, dass du gekommen bist." ~*+*~ Die Karte war nicht versehentlich in einem falschen Spind gelandet. Es ging auch nicht um ein Mädchen in Tsutomus Klasse, das kontaktiert werden sollte. Tsutomu hatte den Namen nicht erkannt, weil der Mitschüler vor ihm von den Freunden "Yume" gerufen wurde, nicht beim Nachnamen. Damit endeten für Tsutomu allerdings schon die Gewissheiten. Yumeji streckte ihm eine kleine Schachtel hin. Sie enthielt, wie Tsutomu aus eigener Erkenntnis wusste, mit Zartbitterschokolade ummantelte Stückchen von Bitterorangeat. Man verkaufte diese etwas ungewöhnliche Delikatesse im Einkaufszentrum der großen Bahnstation. "Ich möchte dich bitten, mit mir zu gehen." Formulierte Yumeji gerade mit gefasster Stimme. Tsutomu staunte ihn perplex an. "Ich glaube, ich begreife das nicht richtig." Bekannte er vorsichtig. "Ich bin nämlich ziemlich verpeilt, musst du wissen." Ein Lächeln huschte über die angespannten Züge seines Gegenüber, der unbeirrt die Schachtel auf den offenen Handflächen anbot. "Ich bitte dich, darüber nachzudenken, mein fester Freund zu werden." Wiederholte Yumeji tapfer. Was Tsutomu zumindest so weit half, seinen Ohren zu trauen. "Aber wir kennen uns doch gar nicht so gut, oder?" Warf er verwirrt ein. Yumeji lockerte leicht die verspannten Schultern. "Ich weiß, dass du nach der Schule immer im Geschäft deines Vaters arbeitest. Du kommst mit einem Damenrad zur Schule. Du wählst mittags lieber Nudeln als Reis. Du trägst farbige Socken." Er atmete tief durch. "Wenn du gute Noten erhalten hast, gehst du zum Bahnhof, kaufst dir als Belohnung diese Süßigkeiten hier." Tsutomu blinzelte überrascht. "Das stimmt! Oh, entschuldige, aber leider weiß ich gar nichts über dich. Ich bin bedauerlicherweise ziemlich unaufmerksam." Bekannte er aufrichtig. Yumeji lächelte mit einem Spritzer spitzbübischem Amüsements. "Du kannst mich kennenlernen. Bitte!" Damit rückte er näher. Die ausgestreckten Arme zitterten doch merklich unter der Anstrengung, die Schachtel so lange in der Luft zu halten. Automatisch fasste Tsutomu zu, nahm sie entgegen. "Danke schön." Antwortete er ebenso routiniert höflich, bevor er dieser rätselhaften Situation methodisch auf den Grund ging. "Ich begreife es leider immer noch nicht so ganz. Warum möchtest du, dass ich dein Freund bin? Ich bin niemand Besonderes." Ihm gegenüber strich sich Yumeji den langen Pony hinter ein spitzes Ohr. "Für mich schon." Antwortete er leise. "Bitte, denk darüber nach, ja?" Tsutomu zog die Stirn kraus. "Das werde ich, versprochen. Ich bin nicht schlau, deshalb brauche ich wohl ein bisschen Zeit, weißt du?" Erneut huschte ein Schmunzeln über das sanfte, höfliche Lächeln, verwandelte Yumejis Miene subtil. "Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich werde warten." Yumeji verbeugte sich leicht. "Vielen Dank für deine Zeit. Ich weiß, dass du dich beeilen musst, wegen der Arbeit." Was Tsutomu prompt wieder in die alltägliche Gegenwart seiner Routine zurückkatapultierte. "Dann, danke schön, ja? Ich melde mich, versprochen! Schönen Abend noch!" Ebenfalls eine knappe Verbeugung andeutend machte Tsutomu kehrt, sprintete eilig zurück zum Fahrradständer. »Na so was!« Dachte er, noch immer verblüfft. Wer hätte gedacht, dass IHN mal jemand so etwas fragen würde! Ob Yumeji ihn mochte? Nun, vermutlich schon, oder? Beinahe touchierte Tsutomu beim forschen Strampeln ein Absperrgitter. »Schluss!« Ermahnte er sich selbst im Adrenalin-Schreck. Nachdenken, ja, aber nicht hier und jetzt! Außerdem konnte er ja wohl kaum sein Notizbuch herauskramen! ~*+*~ Über die Jahre als arbeitendes Mitglied des Familienunternehmens hatte Tsutomu einen gewissen Radar entwickelt, der es ihm erlaubte, während monotoner Reinigungsarbeiten und dem Auffüllen der Regalfächer in Gedanken Lektionen aus dem Unterricht zu repetieren, ohne dass er dabei von Kundschaft überrascht werden konnte. Quasi ein feingetunter Annäherungsalarm. Selbst seinem Vater gelang es nicht mehr, ihn zu "ertappen". Für Tsutomu galt weiterhin: stealth modus, sprich Unsichtbarkeit. Es handelte sich schließlich nicht um Laufkundschaft, sondern um die Figaros, Maestros und Genies einer der ältesten Professionen der Welt! Durchaus verblüffend, dass jemand, der grundsätzlich die heimische Küchenzeile ignorierte, auf gleicher Ebene mit derartigen Künstlern parlieren konnte, aber Tsutomu hatte längst aufgegeben, das mirakulöse Innenleben seines Vaters ergründen zu wollen. An diesem denkwürdigen Tag riskierte er jedoch nicht, über Yumeji Andous unerwartetes Angebot nachzusinnen. Offenkundig benötigte er die Sicherheit seines Notizbuches, keinen wichtigen Gedanken zu verlieren. Im Einsatz konnte er sich nicht erlauben, mit diesem Hilfsmittel erwischt zu werden. Sein Vater verachtete derartige Gedächtnis- und Entscheidungskrücken nachdrücklich, verbannte sie deshalb außerhalb seiner Sichtweite. Tsutomu lag nun nach einem langen Schul- und Arbeitstag, gerade mal reinlich abgeledert, in seinem schmalen Bett, grübelte, Notizbuch und Taschenlampe bereit zum Einsatz. Also, wollen mal sehen... Wenn er sich korrekt entsann, musste Yumeji Andou im Verlauf der letzten zwei Jahre zur Schulgemeinschaft gestoßen sein. Er gehörte zweifelsohne nicht zur Gruppe der Gleichaltrigen aus dem Viertel, die Tsutomu seit dem Kindergarten kannte. Seine Eltern schienen auch keiner der Professionen aus dem Handwerker- und Händlermilieu nachzugehen. Durch verschiedene Feste und Veranstaltungen wurde der enge Austausch aufrechterhalten. Kontaktpflege nahm einen großen Raum ein. Man verließ sich nicht auf Fremde, sondern folgte Empfehlungen und persönlicher Bekanntschaft. Man musste den eigenen Ruf stets und ständig wahren, bedeutete dieser doch DIE Einnahmequelle! Da Tsutomu weder einer Arbeitsgemeinschaft, noch einem Schulclub beigetreten war, konnten sie sich in der unterrichtsfreien Zeit nicht begegnet sein. Blieb vermutlich das gemeinsame Mittagessen der jeweiligen Stufen in der Schulmensa. Zugegeben, nicht gerade eine ergiebige Gelegenheit, sich kennen und schätzen zu lernen! Tsutomu knipste die Taschenlampe an, notierte rasch. - Gemeinsame Zeit - Interessen? - Hobbys - Verpflichtungen Yumeji schien ihn beobachtet zu haben, was dessen Hinweise erklärte. Umgekehrt hatte er diesem nicht die gleiche Höflichkeit erwiesen. Eigentlich kaum jemanden, wenn man es genau nahm. Zwar wusste Tsutomu aus beiläufigen Bemerkungen und den nachbarschaftlichen Veranstaltungen, was seine Schulkameraden offiziell umtrieb, aber dieses Wissen beruhte eben auf Hörensagen, nicht auf seinem aufmerksamen Interesse. Die Zwangsläufigkeit, miteinander auskommen zu müssen als Nachbarn und vermutlich spätere Geschäftspartner, verlangte ihm derzeit kein großes Engagement ab. Man konnte den Schein als Sein nehmen... Warum hatte er Yumeji Andous Neugierde geweckt? Womit? Tsutomu rieb sich in der Dunkelheit die müden Augen. Optisch machte er selbst nun wirklich nichts her, da gab es nichts zu deuteln! Flächiges Gesicht, etwas zu breite Nase, stämmige Gestalt durch verhältnismäßig kurze Beine, stark gestutzter Schopf, Halbglatzenanwärter. Außerdem zeichnete er sich auch nicht als Anführer, Kapitän oder Ähnliches aus. Wirklich, ein Rätsel! Wenn er sich dagegen Yumejis Erscheinungsbild vor Augen rief, gar kein Vergleich! Gleich groß, aber von schlanker Gestalt, die glatten Haare in einem dunklen Braunton, feine Gesichtszüge, ein klassischer Typus, dazu noch eine dezente Sonnenbräune! Immer ein zurückhaltendes Lächeln um die Lippen spielend, eine angenehme, ruhige Stimmlage. Quasi ein Prinz. Wären die Mädchen nicht schüchtern bzw. stünden nicht unter strengem Regiment, das es nicht begrüßte, wenn Fünfzehnjährige schon Beziehungen zu realen Personen eingingen, hätte man IHN mit Schokolade aufgewogen finden müssen! Hatte er vielleicht keine Freunde, weil man ihm seine ganz offenkundige Attraktivität neidete? Falls das zutraf, wäre ihm allerdings mit einer Freundschaft kaum gedient, da Tsutomu sich selbst nicht als sonderlich beliebt oder einflussreich einstufte. Außerdem, das durfte man nicht unterschlagen, entsprach die Formulierung nicht zwingend einem Freundschaftsgesuch, richtig? Tsutomu schob Notizbuch und Taschenlampe in die relative Sicherheit der Konsole am Kopfende neben den Wecker. Er war sich nicht sicher, was zwei Jungs als "feste Freunde" miteinander anfangen wollten. Bei Mädchen-Junge hatte er vage Vorstellungen, was gerade noch als erlaubt und schicklich galt. Bevor ihm endgültig die Augen zufielen, entschied Tsutomu, dass er ein wenig länger an diesem ungewohnten Problem knabbern würde. ~*+*~ Bei wichtigen Entscheidungen galt es grundsätzlich, sich im Vorfeld so gründlich wie möglich zu informieren, sich Mühe zu geben, auch eine komplexe Situation zu durchdringen. Der gegenseitige Respekt verbat es simpel, sich mit flüchtigen Launen davonzustehlen! Tsutomu hatte sich eine Stichwortliste gemacht, im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten recherchiert. Trotzdem war er noch nicht zu einer finalen Entscheidung gelangt, die er verantworten konnte. Dieser Umstand entband ihn, wie er fand, aber keineswegs davon, sich zeitnah dem geschuldeten Versprechen zu widmen. Deshalb hinterließ er ebenfalls eine kleine Notiz auf einem gefalteten Zettel in Yumejis Schließfach, seinerseits um ein persönliches Gespräch zu ersuchen. ~*+*~ »Hoppla!« Konstatierte Tsutomu etwas aus der Bahn geworfen oder vielmehr in seinem Schwung gebremst. Es regnete. Nicht gerade ungewöhnlich für Mitte Februar, keineswegs, aber ihm machte dieser Umstand gerade einen Strich durch die Rechnung, weil er zwar über eine Regenjacke verfügte, es sich aber wirklich schlecht so an der Tischtennisplatte parlieren ließ. Ein alternativer Ort musste gefunden und sein Konversationspartner eilig informiert werden... "Hallo." Brachte sich Yumeji unerwartet in Tsutomus angestrengte Gedankengänge ein. Der fegte überrascht auf dem Absatz herum. "Oh, da bist du ja! Entschuldige, ich habe das Wetter nicht berücksichtigt!" Tsutomu agierte mit der gewohnten Höflichkeit und Rücksichtnahme, die man (sein Vater) ihm antrainiert hatte. "Ich habe einen Schirm." Antwortete Yumeji mit dem üblichen, sanften Lächeln. Er öffnete den Taschenschirm routiniert, nickte Tsutomu zu. "Bitte." Eine artige Aufforderung, den Platz unter der anderen Hälfte zu wählen, damit sie doch noch zu ihrem Gespräch kamen, außer Hörweite eventuellen Publikums. "Danke schön." Fand Tsutomu den Faden wieder. "Ebenfalls danke, dass du dir Zeit nimmst." Rasch fingerte er sein Notizbuch heraus, erklärte auch dieses Vorgehen. "Ich glaube, ich hatte schon erwähnt, dass ich nicht besonders klug bin, oder? Deshalb brauche ich länger, um etwas zu begreifen, leider. Und meine Notizen, damit ich nichts vergesse." Er blätterte durch die dünnen Seiten. "Ah, da ist es!" Tsutomu richtete die Augen auf Yumejis Gesicht. Er hielt es für sehr ungezogen, seinen Gegenüber im Gespräch nicht anzusehen, auch wenn man einer Gedächtnisstütze bedurfte, was zwischenzeitliches Spicken bedeutete. "Ich bin nicht ganz sicher, dass ich die Tragweite deiner Frage richtig verstanden habe. Ich möchte dich kennenlernen." Tsutomu nickte knapp, diesen Punkt schon gemacht zu haben. "Allerdings wäre es nicht in Ordnung, dir zu verschweigen, dass ich keine Freunde habe, weil ich eigentlich nie über freie Zeit verfüge. Wenn ich nicht lerne, muss ich arbeiten." Seine Stirn schlug dezente Falten. "Ich glaube, dass man normalerweise etwas zusammen unternimmt oder sich über Gemeinsamkeiten unterhält. Da bin ich, fürchte ich, leider gar nicht geeignet. Tatsächlich bin ich langweilig und wenig unterhaltsam." Was es dezent auszuführen galt. "Also, ich habe keine Hobbys oder Steckenpferde, weißt du? Ich bin auch in keinem Club. Unsportlich, das auch noch! Ach ja, ich werde auch nicht studieren, nach dem Abschluss." Womit, wie Tsutomu fand, schon eine Menge gesagt worden war. Trotzdem, ein Punkt blieb noch übrig. Er räusperte sich, straffte das breite Kreuz. "Da gibt es noch etwas. Das hat nichts mit deiner Frage zu tun, aber weil wir uns jetzt ja unterhalten, gut, ich rede gerade, trotzdem." Die Knitterfalten in seiner Stirn vertieften sich, ohne dass ihm dies bewusst war. "Vielleicht ist es dir nicht bekannt, aber es geht ein Gerücht um, dass deine Mutter ein ehemaliges Gravure-Modell sein soll." Yumeji studierte ihn schweigend. Das sanfte Lächeln unverändert, wie eine undurchdringliche Maske, die Nähe suggerierte, aber nicht gewährte. "Wenn ich dir sage, dass ich über all dies Bescheid weiß, das Gerücht der Wahrheit entspricht, wirst du dennoch einwilligen? Mein Freund zu sein?" Antwortete er schließlich mit seiner ruhigen, angenehmen Stimme. Tsutomu sortierte den Satz konzentriert. "Wenn du das sagst und trotzdem magst, dann ja. In Ordnung." Entschied er nach kurzer Kontemplation. In Yumejis Mundwinkeln zuckte es amüsiert. "Ich nehme dich beim Wort." Schmunzelte er, streckte Tsutomu die Rechte hin, den kleinen Finger zum Einhaken abgewinkelt. Mit dem eigenen Pendant besiegelte Tsutomu auf traditionelle Weise den Pakt. "Schön." Stellte er aufgeräumt fest, verstaute mit der freien Hand sein Notizbuch in der Jackentasche. "Bloß, wie stellen wir das an? Ich meine, Freunde sein?" Keine triviale Frage, wie er befand. Immerhin war er ja ständig auf Achse! Yumeji lächelte, nicht die gewohnte, sanfte Version der höflichen Maske, sondern ein inneres Strahlen, das seine gesamte Mimik aufleuchten ließ. "Wie wäre es, wenn wir uns in der Mittagspause zum Essen treffen? Wir könnten uns auch ein wenig unterhalten." Schlug er vor. "Eine prima Idee!" Lobte Tsutomu sofort, um gleich die Falten in die Stirn zu schlagen. "Ist das denn genug? Stört es deine Freunde auch nicht?" Er würde sich selbst ja in eine Position drängen, die zuvor andere besetzt hatten, oder nicht? "Ich möchte gern meine Mittagspausen mit dir verbringen." Stellte Yumeji unmissverständlich, aber mit gelassener Stimme fest. "Dann tun wir das!" Nickte Tsutomu munter, bevor er ergänzte. "Sei bitte so nett, mich darauf hinzuweisen, wenn ich etwas falsch mache, ja? Ich bin nicht clever, merke das oft gar nicht." Mit entwaffnender Offenheit wollte er zumindest für eine Chance sorgen, dieses Freundschaftsangebot zu würdigen. Yumeji zwinkerte, strich mit der freien Hand den langen Pony hinter ein spitzes Ohr. "Ich freue mich darauf, dich besser kennen zu lernen." Auch wenn der nächste Schritt sich auf die kommende Mittagspause vertagen würde. ~*+*~ Tsutomu fand durchaus, dass man über die Vorlieben eines Mitmenschen viel lernen konnte, wenn man täglich gemeinsam zu Mittag aß. Beinahe täglich, selbstredend. In der Grundschule hatte damals jede Klasse noch selbst etwas zubereitet. Man saß gemeinsam im Klassenzimmer, räumte danach wieder auf, putzte auch. Jetzt kostete so ein Vorgehen zu viel Zeit. Deshalb wurde in Jahrgangsstufen zeitlich versetzt in der Mensa gespeist. Für die Schulgemeinschaft in toto reichte simpel der Platz nicht aus, geschweige denn die Kapazität der Küchenbrigade. Üblicherweise saßen die Jahrgangsstufen zusammen, häufig nach den Klassen getrennt, Mädchen und Jungen ebenfalls in Grüppchen, soweit die Räumlichkeiten es zuließen. Das jeweilige Kollegium hielt ein Auge auf Disziplin und Ordnung, verfügte jedoch über einen eigenen Tisch. Dass Yumeji am Automaten, wo man die Menü-Tickets ziehen musste, auf ihn wartete, stellte schon eine kleine Überraschung dar. Mit den Tabletts bewaffnet suchten sie auch noch benachbarte Sitzplätze. Dabei gingen sie nicht in eine Klasse oder kannten sich seit der Krabbelgruppe oder waren Nachbarn! Tsutomu registrierte die Aufmerksamkeit kaum. Er war schließlich "verpeilt". Was sich als Schutzschild für das eigene Nervenkostüm hin und wieder als nützlich erwies. Während des Essens sprach man natürlich nicht allzu viel, schon aus praktischen Erwägungen. Geschlossener Mund kaute besser. Trotzdem konnte man sich durchaus miteinander bekannt machen. Yumeji beispielsweise zog Nudeln ebenfalls dem Reis vor. Curry mit Möhren mochte er gar nicht, hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht. Von Milch und Joghurt bekam er Bauchschmerzen. Deshalb verzichtete er, ganz gleich, wie sehr man ihm androhte, er werde an Kalziummangel leiden. Konnyaku, aromatisiert mit Pfefferminz, aß er gerne, auch wenn man diese Kombination allgemein für despektierlich hielt. Tsutomu hörte immer aufmerksam zu, notierte sich jede kleine Neuigkeit abends im Notizbuch, das er eigens für Yumeji angelegt hatte. Nur ihm offenbarte er, dass zu Hause, beim berühmten Ausstatter für Küchenutensilien aller Art, gar nicht gekocht wurde. Nicht mal Reis! Zum Frühstück und zum Abendessen (wenn sich dazu die Zeit fand), huschte Tsutomu eilig zu "Baa-sama". Nicht seine Großmutter, nein, aber alle riefen die alte Frau so, die einen winzigen Laden betrieb. Dort gab es schlichte Hausmannskost zum Mitnehmen, "Brotzeiten" für die Bentou-Box, kalte und warme Speisen für den "Henkelmann". Suppen, herrlich! Oder Omelette mit Gemüse auf Nudeln oder Reis! Überhaupt, ihr Reis schmeckte viel besser als die Variante in der Mensa! Jedenfalls war Tsutomu Stammgast bei Baa-sama. Seine Eltern gingen ebenfalls stets aus, aßen dort, wo sie gerade Aufenthalt hatten, beim Shopping oder direkt in der Nähe des Geschäfts eben. Eigentlich ein Unding, deshalb auch ein Geheimnis. Zumindest eine Angelegenheit, die man nicht zum Gesprächsthema machen sollte, doch Tsutomu verspürte Yumeji gegenüber die Gewissheit, diesem vertrauen zu können. Dessen Geduld nicht durch seine gewohnte Ignoranz, mangelnden Verstand oder "Verpeiltheit" überzustrapazieren. Auch schien es Yumeji nicht zu langweilen, dass er nicht über Sujets sprach, die bei den Klassenkameraden gerade en vogue waren. Erstaunlich! Bald füllten sich auch weitere Lücken im Steckbrief. Yumeji war wie er selbst ein Einzelkind. Er hatte tatsächlich zuvor an anderen Orten gelebt, war zugezogen. Zwar spielte er früher mal in der Fußballmannschaft seiner ehemaligen Schule, doch nach dem Wechsel hatte er dieses Ziel nicht mehr verfolgt. Yumeji besuchte keine Paukschule, kam mit der Bahn. Hin und wieder bekam er für den schulfreien Sonntag kleine Aufträge als Verteiler von Werbezetteln, Papiertaschentüchern oder ähnlichem. Dabei wurde er manchmal von Magazin-Scouts oder Maklern angesprochen, was ihm sehr unangenehm war. Tsutomu konnte das Interesse nachvollziehen. Zwar betrachtete er seine Mitmenschen in erster Linie als zu respektierende Persönlichkeiten, doch selbst einem so "verpeilten Dummbatz" wie ihm war nicht entgangen, wie attraktiv Yumeji aussah. Ganz abgesehen von den inneren Werten, selbstredend! Die feinen Gesichtszüge, die geschmeidig-elegante Haltung, das stets höfliche Lächeln, all das zog eben Blicke auf sich. Er selbst betrachtete Yumeji ja schließlich auch mit Wohlgefallen! Natürlich sollte man ihn nicht bedrängen mit Job-Angeboten, das stand außer Frage. Manch einer mochte eben so gar nicht im Mittelpunkt, im Rampenlicht stehen! Ungezogen, da nicht zurückzuweichen, dieses Selbstbestimmungsrecht nicht zu akzeptieren! Leider, das musste man konstatieren, gab es immer wieder dreiste Zeitgenossen, die nicht leicht abzuschrecken waren. Es galt, mitfühlend zuzuhören, sich überflüssiger Ratschläge und Empfehlungen zu enthalten, Solidarität nonverbal zu signalisieren! »Ein bisschen habe ich mich schon gemausert.« Dachte Tsutomu. Yumeji zeigte keine Anzeichen, sich von ihm zu distanzieren. Also, gewagter Schluss, konnte er gar nicht so entsetzlich fade und hoffnungslos "verpeilt" sein, oder? ~*+*~ Über die Zeit, hauptsächlich die gemeinsamen Mittagessen, vergaß Tsutomu beinahe, dass er ja eine "offizielle Funktion" innehatte. Glücklicherweise kam ihm seine Beschäftigung als unsichtbarer Angestellter im väterlichen Geschäft zur Hilfe. Dort disputierte man sehr zivilisiert über den beklagenswerten Einfluss amerikanischer Gebräuche, namentlich Valentinstag und Weißer Tag. Wegen der grässlichen Inflation von Schokoladen aller Varianten, zuerst dunkel, dann, vier Wochen später, weiß! Wobei die weiße Variante gar keine "Schokolade" im eigentlichen Sinn war, da lediglich die Kakaobutter genutzt wurde, aber nicht die gesamte Kakaomasse. Während Tsutomu sich geräuschlos aus der Gegenwart der Diskutanten reduzierte, lärmte in seinem Hinterkopf vehement eine Alarmglocke. Du liebe Güte, er hatte den Weißen Tag glatt vergessen! Verständlicherweise, weil er ja bisher gänzlich allein sein Dasein gefristet hatte. Der (gar nicht so alte) Brauch verlangte jedoch, ein Geschenk, das einem am Valentinstag zugedacht worden war, genau einen Monat später zu erwidern. Zugegeben, traditionell übergaben Angehörige des weiblichen Geschlechts Schokolade an männliche Personen, pflichtgemäß oder aus tieferem Empfinden. Aber es wäre geradezu unerhört, Yumejis Geschenk (sie hatten es sich unter dem Regenschirm geteilt) nicht entsprechend zu beantworten! Doch was tun? Für Tsutomu stand außer Frage, selbst mit weißer "Schokolade" herum zu experimentieren. Vor allem, weil zu Hause nicht mal entsprechende Gelegenheiten vorzufinden waren. Außerdem, zumindest entnahm er das der belauschten Konversation, schien die "weiße" Variante auch gefährlich nahe an Yumejis Unverträglichkeit von Milchzucker zu gelangen... Frustrierend! Erkannte Tsutomu, Kartonagen stapelnd. Dass er so wenig über die Zusammensetzung von verarbeiteten Nahrungsmitteln wusste! Aus was bestand wohl die "weiße" Schokolade? Und, viel wichtiger, was sollte er Yumeji überreichen?! Der mochte gern Pfefferminz, schon richtig (und ungewöhnlich), aber sollte er wirklich glibbrige Würfel in Plastikschalen am Bahnhof kaufen?! Konnyaku selbst herzustellen, das ging schon mal gar nicht ohne Hilfsmittel... Tsutomu kauerte sich zusammen, zückte, sich umblickend, sein "Yumeji"-Notizbuch. Eine Freundschaft stellte eine sehr wichtige Beziehung dar. Um Beziehungen musste man sich jeden Tag bemühen! Was ihm ganz klar den Auftrag erteilte: gekniffen wird nicht! ~*+*~ Einfach noch früher als gewohnt das Appartement zu verlassen, fiel nicht auf, weil die Eltern noch schliefen. Tsutomu hielt dies für einen sehr erfreulichen Umstand, der seinem Vorhaben zupass kam. Vielleicht gebrach es ihm erheblich an Verstand und kaufmännischem Geschick, doch mangelnden Einsatzwillen und Entschlossenheit konnte ihm niemand vorwerfen! ~*+*~ Tsutomu entschied, Yumeji vor dessen Klassenzimmer abzufangen. Er hatte in seiner Vorfreude jedoch die Rechnung ohne hinterhältige Komplikationen gemacht. Während seine größte Sorge noch darin bestanden hatte, man möge es als merkwürdig erachten, dass sie einander so häufig Gesellschaft leisteten, obwohl sie nichts gemein hatten, rottete sich gerade ein Mob zusammen, in dessen Mitte Yumeji stand. "Gib's ruhig zu, leugnen ist zwecklos!" Ein abgegriffenes Heft wurde geschwenkt. "Hat echt abgebaut, guckt her!" Man steckte die Köpfe über der Bildwiedergabe einer kleinen Kamera zusammen, die zweifelsohne teuer war, nicht in die Schule gehörte. "Das ist echt erbärmlich!" "Solltest dich schämen, so ne Mutter zu haben!" Tsutomu schob sich in das Knäuel, erhaschte einen Blick auf das flatternde Magazin. Er ahnte, worum sich diese Konfrontation drehte. "Ist das ne Perücke, oder was? Gruselig!" Unversehens bekam er auch ein Foto zu sehen. Tsutomu fasste die Hand, die die Kamera umklammerte, ignorierte das empörte Aufjaulen. "He, wusstest du, dass Yumes Mutter n Gravure-Modell war?!" "Total peinlich, so was!" Tsutomu hob den Kopf, blickte direkt in Yumejis kalkweißes Gesicht. "Hat schwer nachgelassen, wie? Kommt davon, wenn man unanständige Sachen macht!" Sie hatten Vergnügen daran, sich moralisch überlegen zu fühlen, Yumeji so lange zuzusetzen, bis der die Fassung verlor. "Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass Augenbrauen und Wimpern fehlen." Tsutomu entließ die Hand aus seinem Griff. "Mithin das Zeichen für eine schwere Erkrankung, die man mit Chemotherapie behandelt." Unwillkürlich stellte er die Schultern aus, richtete sich besonders aufrecht auf. "Ich kann einem Menschen, der so eine Leidenszeit tapfer durchsteht, nur Respekt und Bewunderung entgegenbringen." Dabei fixierte er seinen Blick auf Yumeji. "Kommst du mit raus, an der frischen Luft essen? Hier steht die Luft ja förmlich." ~*+*~ Sie saßen am Rand des Schulhofes auf einer niedrigen Aufpflasterung, jeder einen kleinen Kasten auf dem Schoß. Tsutomu brach schließlich das Schweigen. "Ich wollte mich bedanken für dein Geschenk am Valentinstag. Aber mit weißer Schokolade oder Marshmallows kenne ich mich nicht aus, daher habe ich etwas zum Mittagessen gemacht." Yumeji, der neben ihm saß, so nahe, dass sich ihre Schultern berührten, nickte abgehackt. "Bitte entschuldige, dass ich vorhin so einfach etwas erfunden habe." Den Kopf wendend betrachtete Tsutomu angespannt seinen Freund. Die familiären Umstände gehörten nicht zu ihren Gesprächsthemen. Bisher hatte er sich auch nicht irgendwelche Freiheiten herausgenommen, um ihr Kennenlernen vor anderen zu demonstrieren. Dass er sich derartig exponiert hatte, überraschte Tsutomu selbst. Solche Impulse hätte er bei sich keineswegs vermutet. Yumeji schniefte leise neben ihm, versuchte, nicht unmanierlich die Nase hochzuziehen. "Ich werde das richtigstellen, ja? Vor deinen Klassenkameraden!" Bot Tsutomu betrübt, aber entschlossen an. Seine Vorstellung vom Weißen Tag wich erheblich von der sich gerade abspulenden Situation ab! "Bitte nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen! Die meisten wissen, dass sie sich nicht anständig verhalten haben. Sie werden sich wieder besinnen." Zumindest ging Tsutomu davon aus. Yumeji galt ja durchaus als beliebt, war stets schön anzuschauen, ganz gewiss von einer freundlichen, ausgeglichenen Wesensart! In Kürze würde man sich mit anderen Dingen befassen, wäre dieser aufgebauschte "Skandal" bald vergessen. Er griff nach der Schraubflasche, in die er kalten Tee abgefüllt hatte, öffnete sie, reichte sie Yumeji. "Bitte trink etwas. Danach fühlst du dich besser." Empfahl er besorgt. Tatsächlich zitterten Yumejis Hände, als er die Flasche in Empfang nahm. Die Gelegenheit nutzend löste Tsutomu auch die Deckel von den Transportkisten, damit sie ihr Innenleben präsentieren konnten. "Ich weiß, dass man Figuren machen sollte." Entschuldigte er sich verlegen. "So fingerfertig bin ich nicht. Ich hoffe, dass es dir wenigstens schmeckt." Sogar sehr. Für dieses Gegenpräsent hatte er unter der Leitung von Baa-sama eifrig gelernt, die wiederum nichts von den dekorativen Spielereien hielt, die man sonst so fand. Ihrem Motto zufolge ging es bei Hausmannskost darum, die einzelnen Bestandteile so zu präsentieren, wie es deren natürliche Beschaffenheit vorsah. Da brauchte es keine Oktopusse aus Möhren, "Tomaten"-Pilze oder ähnliche Verrenkungen! Unterdessen hatte Yumeji sich den Kloß aus dem Hals gespült, erstattete ihm die Flasche zurück. "Danke." Wisperte er dennoch mit belegter Stimme. Tsutomu wagte ein ungeübtes Lächeln. "Es tut mir leid, dass ich vorhin so vorlaut war." Entschuldigte er sich erneut. Yumeji, die Kiste auf den Oberschenkeln vorsichtig ausbalancierend, blickte ihn aus Tränen polierten Augen an. "Es ist wahr." Murmelte er, scheiterte daran, das gewohnt höfliche Lächeln wieder auf seine bleiche Miene zu zwingen. "Alles trifft zu." Spontan hob Tsutomu den linken Arm, legte ihn um die verkrampften Schultern. "Das ist bestimmt eine schwere Zeit. Ich habe dich auch noch bloßgestellt! Entschuldige, da habe ich nicht richtig nachgedacht!" Er spürte, wie sich Yumeji schwerer an ihn lehnte. Den Blick auf die Mahlzeit auf seinem Schoß gerichtet antwortete der ihm. "Du hast mir beigestanden. Da gibt es keinen Grund, sich zu entschuldigen. Mir war so elend zumute, weil sie mich an den Pranger gestellt haben." Tsutomu nickte beipflichtend. Ganz bestimmt kein erhebendes Gefühl, wenn sich die Klasse gegen einzelne zusammenrottete! "Wir können uns zusammen etwas ausdenken." Stellte er in Aussicht. "Ich helfe dir, versprochen!" Auch wenn er dieses Mal ein wenig gründlicher über die Konsequenzen sinnieren sollte, bevor er spontan zur Hochform auflief. "Danke." Yumeji wandte den Kopf, rollte die Mundwinkel nach oben. Etwas zittrig und zögerlich, dieses Lächeln. Tsutomu wertete es als gutes Zeichen für wachsenden Mut. Jetzt galt es aber rasch, bevor die Mittagspause beendet wurde, die leeren Depots aufzufüllen! Mit leerem Magen konnte man nicht reüssieren. ~*+*~ Natürlich machte das Gerücht die Runde. Einige gingen Yumeji aus dem Weg, vor allem wohl, weil Unglück ja ansteckend sein konnte. Andere suchten geradezu seine Gesellschaft, um ihn zu trösten, Mitgefühl zu beweisen. Was für Tsutomu bedeutete, dass er sich selbst zurücknahm, weil es ihm wichtig erschien, dass Yumeji wieder in die Gemeinschaft seiner Klasse integriert wurde. Da ihnen ohnehin nur die Mittagspause blieb, man sich nicht fortwährend absondern konnte, wie er es mit seiner Bentou-Box-Aktion exerziert hatte, verfiel er auf eine andere Idee. Warum nicht ein Notizbuch austauschen? Da konnte man Gedanken, Ideen, Fragen, Begebenheiten notieren und dem anderen ein über den anderen Tag mitgeben! Auch wenn Tsutomu befürchtete, dass er selbst mit seinem banalen, gleichförmigen Alltag und einer unspektakulären Persönlichkeit nichts Interessantes bieten konnte. Zu seiner Erleichterung nahm Yumeji den Vorschlag an. So erfuhr Tsutomu auch, dass sein Freund hoffte, später einmal mit alten Zügen zu fahren, einfache Straßenbahnen, Marke Holzklasse zum Beispiel, so, wie man es gelegentlich in alten Spielfilmen sah, recht spartanisch, doch durchaus mit Liebe zum Detail. Auf diese Offenbarung sehr persönlicher Sehnsüchte antwortete er mit einem eigenen Geständnis. Er wollte nämlich mal, wenn sich endlich die Gelegenheit bot, das Meer sehen. Bis dato war an Urlaubsreisen nicht zu denken, das Geschäft ging vor. Selbstredend besuchte sein Vater Fachmessen. Einfach mal mit der Familie an den Strand fahren? Oder die Küste? Ausgeschlossen. Zudem verfügte sein Vater nicht über eine Fahrerlaubnis, hatte so etwas als Geldverschwendung angesehen. Wozu gab es schließlich Transportdienstleistungen aller Art?! Wer würde auch so verschwenderisch und verrückt sein, in Kioto ein Auto halten zu wollen, das man dann nicht mal nutzen konnte, weil die Gelegenheit fehlte!? Tsutomu akzeptierte diese Argumentation als stichhaltig. Das Meer lief ihm ja nicht weg, gar keine Frage. Er hatte es auch nicht eilig damit. Allerdings, wenn es darum ging, dass man Träume oder Wünsche formulieren sollte, kam ihm dieses Begehren in den Sinn. Eigene Familie, Reichtum, Romanzen, Kreuzfahrt, Urlaubsreisen in die Ferne: all diese Dinge gingen ihm nicht nahe, erfüllten ihn nicht mit einem fiebrigen Eifer, sie anzustreben und zu erreichen. Einmal direkt das Meer zu sehen, nicht im Fernsehen, auf Bildern, ja, das konnte schon Anstrengung und Unbequemlichkeiten rechtfertigen. Es handelte sich nicht um ein lebenswichtiges Bedürfnis, weshalb man es eigentlich nach hinten ordnen sollte in der Prioritätenliste. Über das Familienleben tauschten sie sich auch im Notizbuch, das von Schließfach zu Schließfach wanderte, nicht aus. Vielleicht, sinnierte Tsutomu, während er die Zimmerdecke im Dunkeln anvisierte, weil es eine Phantasiewelt verkörperte, wo man frei darüber denken und schreiben konnte, was einen gerade bewegte, ganz auf sich selbst bezogen, im Fokus, nicht wie sonst den Belangen anderer untergeordnet. Tsutomu jedenfalls gefiel es, die dünnen Blätter mit Bleistift eng zu füllen, sich Gedanken zu machen, nicht mehr bloß sorgenvoll Unterrichtsinhalte zu repetieren, zu arbeiten, erledigt die Matratze abzuhorchen, sondern sich neue Fertigkeiten zu verschaffen. Den Beweis anzutreten, dass er selbst ein einigermaßen passabler Zeitgenosse war! ~*+*~ Unerwartet fand er, nachdem er Yumeji beim Mittagessen nicht gesehen hatte, im Notizbuch nur einen einzigen Satz vor. [Bitte komm zur Tischtennisplatte!] ~*+*~ Etwas stimmte nicht, das konnte Tsutomu schon an der Haltung seines Freundes erkennen. Die Schultern hochgezogen, die Arme um den eigenen Oberkörper geschlungen, wirkte die schlanke Gestalt noch schmaler. Der Pony hing ungehindert ins Gesicht, kein spitzes Ohr fungierte als Blickfrei-Accessoire. Tsutomu näherte sich rasch. "Ist was nicht in Ordnung? Geht's dir nicht gut?" Erkundigte er sich ungewohnt direkt. Der ständige Austausch, wenn auch zeitweise hauptsächlich schriftlich, ermutigte ihn, sich derlei Freiheiten zu nehmen. Yumeji hob den Blick von den Schuhspitzen, löste eine Hand, sich Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. Sein Teint wirkte ausgebleicht. Sehnen spannten sich merklich unter der Haut, ließen die feinen Gesichtszüge noch spitzer wirken. "Wir müssen umziehen!" Brach es erstickt aus ihm hervor. "Oh!" Tsutomu seufzte. "Wann denn?" Hatte nicht gerade erst das neue Schuljahr begonnen? Yumeji blickte erneut unter sich. "Bis zum Ende der Woche. Wisperte er tonlos. Vor Überraschung brachte Tsutomu keinen Kommentar heraus. So rasch und unerwartet, zumindest für ihn, das nahm sich doch wirklich seltsam aus. Ihm gegenüber umklammerte Yumeji die eigenen Oberarme, grub die Fingerkuppen so tief, dass sich die Sehnen der Hände abzeichneten. "Der Partner meiner Mutter hat seine Arbeit verloren. Wir können die Miete nicht mehr zahlen, also müssen wir weg." Bekannte er bitter. "Für kurze Zeit dürfen wir bei Verwandten auf dem Land unterschlüpfen, aber vorher~vorher muss ich losschlagen, was wir nicht mitnehmen können." Eine sehr ernste Situation, wie Tsutomu betäubt erkannte. "Ich weiß nicht, ob ich noch mal in die Schule kommen kann." Yumeji richtete sich mit einem Ruck auf, schenkte ihm ein elendes Lächeln. Weil alles schnell gehen musste. Weil sie nur noch mit leichtem Gepäck unterwegs sein konnten. "Wohin wirst du gehen?" Rang Tsutomu mit einer angemessenen Fassung. "Ich werde dir schreiben, ja? Wenn es dir recht ist?" Schließlich ging es nur um eine räumliche Trennung, nicht wahr? Und doch nicht für immer! Jetzt, da er endlich einmal einen recht vertrauten Menschen gefunden hatte, wollte er alles an Energie investieren, diese Beziehung zu pflegen! "Ich weiß nicht, wo wir bleiben können." Murmelte Yumeji verlegen. "Wenn du es weißt, melde dich bitte, ja? Damit ich dir Briefe schicken kann." Tsutomu grub die Nägel in die eigenen Handballen. Er bemerkte, dass auch Yumeji leicht zitterte, vor Anspannung. "Ich möchte dir keine Mühe machen." Würgte der gerade tapfer hervor. "Ich kann verstehen, wenn du Schluss machen willst." Tsutomu protestierte sofort. "Das möchte ich nicht! Bitte, wir fangen doch gerade erst an! Wir sind doch Freunde, nicht wahr?" Damit spreizte er rasch den kleinen Finger ab, an das gegebene Versprechen erinnernd. Er musste einige, sehr lange Atemzüge warten, bis Yumeji sich entsprechend mit dem kleinen Finger einhakte. "Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen!" Verkündete Tsutomu entschlossen. "Weißt du was? Du nimmst unser Buch mit, als Glücksbringer! Ich schreibe dir schnell noch meine Anschrift rein!" Tatendurstig löste er seine Hand, um rasch Zahlen und Zeichen zu notieren. Feierlich überreichte er das schlichte Notizbuch Yumeji, der es einsteckte. Nun hieß es wohl, Abschied nehmen. "Ich begleite dich zum Bahnhof." Verkündete Tsutomu. Natürlich würde er entsetzlich zu spät kommen, aber das spielte für ihn keine große Rolle. Wenn es vielleicht das letzte Mal für eine gewisse Zeitspanne war, dass er Yumeji sehen und sprechen konnte, galten die Prioritäten als gesetzt! "Ich hole rasch mein Rad, ja? Komm doch mit!" Yumeji folgte ihm, den Kopf gesenkt, auf seine Schuhspitzen konzentriert, was Tsutomu ihm nicht übelnahm. Die Situation war unerquicklich genug, wenn man nicht genau wusste, wohin es ging, wie es werden würde. Energisch rang er die aufkommende Traurigkeit herunter. "Auch wenn wir uns nicht sehen können, ist es ja nur für eine Weile." Argumentierte er laut. "Wir lassen uns etwas einfallen. Zu zweit findet man immer eine Lösung!" Durchaus Plattitüden, aber als temporäre "Haltegriffe" in schlingernder Position auf dem Lebensweg nicht zu verachten. Yumeji an seiner Seite schwieg, rückte jedoch näher, nicht nur dem Menschenstrom geschuldet. Vor dem Bahnhofsgebäude herrschte ein reges Kommen und Gehen. Für Tsutomu mit seinem Drahtesel Endstation, wollte er es nicht kostenpflichtig einschließen lassen. Vor ihm wandte Yumeji sich herum. "Vielleicht wird es dauern..." Setzte er an. "Ich warte. Ich vertraue dir. Wenn es möglich ist, meldest du dich." Nickte Tsutomu auffordernd, als könne er damit Entschlossenheit unsichtbar übertragen durch eine spiegelnde Körperhaltung. Yumeji folgte jedoch seinem Vorbild nicht, sondern wischte sich knapp über die Augen unter den tarnenden Strähnen. "Glaubst du mir?" Tsutomu beugte sich unversehens vor, schielte zwischen dem Haarvorhang in das bleiche Gesicht. Die Lippen zusammenpressend zwang sich Yumeji zu einem minimalen Nicken. »Man müsste noch etwas finden, neben dem kleinen Finger-Versprechen!« Dachte Tsutomu. Seine Prophezeiung einige Augenblicke zuvor erwies sich als zutreffend: zu zweit fanden sich Lösungen. Yumejis sah in diesem kritischen Augenblick so aus, dass er die Gelegenheit nutzte, um todesmutig einen entschiedenen Kuss auf Tsutomus Lippen zu landen. ~*+*~ Yumeji kehrte nicht mehr in die Schule zurück. Er schien sich, wie Tsutomu durch Hörensagen erfuhr, auch von niemandem verabschiedet zu haben, ausgenommen dem Klassenlehrer, den er wohl ins Vertrauen ziehen musste. Die Verärgerung und Enttäuschung über dieses Gebaren verging ebenso rasch wie die Erinnerung. Mitschüler kamen und gingen, wenn ihre Eltern versetzt wurden. Es blieben die, die Handwerker und kleine, selbständige Händler in der Familie hatten. Tsutomu vermisste Yumeji durchaus, doch er richtete seine Gefühle und Gedanken auf das Notizbuch, das er ergänzte. Wenn Yumeji sich meldete, wollte er ihm schließlich etwas zu berichten haben! Allerdings vergingen mehr als drei Wochen, bevor eine schlicht gehaltene Postkarte eintraf, eine knappe Entschuldigung mit den sorgfältig ausgeführten Schriftzeichen transportierend, es habe etwas länger gedauert, sich anzusiedeln. Im festen Vertrauen auf ihre Freundschaft setzte sich Tsutomu sofort im Bett hin, die Taschenlampe justiert, um auf dünnem Papier seine Mitteilungen aufzuzeichnen. Gleich am folgenden Morgen vertraute er den ersten Brief der Post an. Zunächst blieb ihre schriftliche Unterhaltung auf Ereignisse und Begebenheiten beschränkt. Weil er stets nach altmodischen Zügen und Waggons Ausschau hielt, die Yumejis Gefallen finden konnten, mischten sich auch Gedanken und Ideen darunter, Empfindungen und subtile Eindrücke des Alltags. So hätten sie wahrscheinlich nicht einmal miteinander gesprochen, wenn sie ganz allein gewesen wären, urteilte Tsutomu nach einer Weile verblüfft, doch erschien es ihm ganz und gar angemessen, sich so weit zu offenbaren, weil es ja keine direkte, unmittelbare Reaktion gab, man sich zwar ein wenig schämen konnte. Unter der eigenen Bettdecke, auf dem Schoß ein Buch als Unterlage balancierend, sah das ja niemand! Bald fühlte er sich Yumeji nicht nur höflich verbunden, sondern intim vertraut. All die Gedanken, die Emotionen, Reaktionen, Neigungen, Sehnsüchte, erst ganz privat im eigenen Kopf, nun diese Schranke des Ichs überwindend, an einen Adressaten gerichtet, dem man sich überantwortete. Eine Beziehung immer stärker und variierter verknüpfte, bis ein dichtes, starkes Netz entstand. Mehr als ein einzelner, roter Faden an einem kleinen Finger. Tsutomu beschnitt seine ohnehin kargen Mittel, um zwei Notizbücher zu führen, dazu noch günstiges Briefpapier zu erwerben, regelmäßig Briefmarken zu kaufen. Nach außen immer noch aufs Lernen konzentriert, doch wohldosiert bei jeder sich bietenden Gelegenheit sein Yumeji-Notizbuch ergänzend. All die Heimlichkeiten, die er verfolgte, veränderten schleichend seine Meinung von sich selbst. Selbstredend galt er noch immer als "verpeilt", was zweifellos seine Berechtigung hatte. Hoffnungslos dumm und wenig gesellschaftstauglich empfand er sich nicht mehr. Bestärkt durch Yumejis Bereitschaft, ihn umgekehrt auch ins Vertrauen zu ziehen, die schwierige private Situation nicht zu verbergen, fasste er selbst auch Mut. Zuvor hatte er seine gesamte Energie in die pflichtschuldige Unterstützung der Familie und des Geschäfts investiert. Aus freiem Willen, ohne Erwartungen, aber hoffnungsvoll, widmete er sich der Möglichkeit, einen eigenen Pfad einzuschlagen. Weil sie sich eines Tages wieder gegenüberstehen würden, er sich der Zuneigung seines Freundes würdig erweisen wollte. ~*+*~ Tsutomu legte den Arm um die schmalen Schultern Yumejis. "Ganz schön frisch." Bemerkte er leise, ohne den Blick vom Wasser zu wenden. Kein malerischer Sandstrand, kein Touristenort. Eine kleine Siedlung, Wellenbrecher aus Beton, gemauertes Kai. Man konnte, wenn man sich nicht umwandte, das Meer betrachten, endlos bis zum Horizont, so weit man den Kopf drehte. Die Landzunge ragte tief hinein, erzeugte die Illusion, die Welt bestehe nur noch aus schäumenden Wogen. Möwen kreischten im jagenden Sturzflug. Es roch ein wenig salzig. Yumeji lehnte sich stärker an ihn, suchte seine Nähe. Das alte Handtuch, das Tsutomu auf dem Kai ausgebreitet hatte, damit sie nicht direkt auf den kalten Steinen sitzen mussten, reichte nicht ganz, die fehlende Wärme zu ersetzen. Neben ihm, auf der anderen Seite, stapelten sich in kleinen Kästen die Leckereien, die er vorbereitet und mitgenommen hatte. Weil man sich eben wirklich nahe eines Nirgendwo befand. Was es wohl am Morgen schwierig machen würde, Mitbringsel für Baa-sama und Yumejis Kollegen zu erstehen. "Und?" Yumejis linke Hand legte sich federleicht auf seinen Oberschenkel. "Wie denkst du über das Meer hier?" Ein verschmitztes Lächeln kräuselte Yumejis Mundwinkel. Die steife Brise zupfte energisch an seinen Ponysträhnen, doch die Strickmütze hielt ihr stand. Tsutomu betrachtete das Panorama. "Gewaltig." Urteilte er schließlich nachdenklich. "Wie klein wir dazu im Vergleich sind." Er drehte den Kopf, lächelte Yumeji an, der so tapfer neben ihm der Kälte trotzte. "Vielen Dank." Raunte er, blies warmen Atem auf eine blasse Wange. "Dass du mit mir hierher gekommen bist." Es handelte sich um ihren ersten gemeinsamen Urlaub. Nun ja, zwei einander folgende freie Tage, mühsam errungen. Er hätte auch ganz sicher nichts einzuwenden gehabt, wenn sie zuerst den aktuellen Favoriten bei Yumejis Traditionszügen aufgesucht hätten! Doch da zeigte sich einmal mehr, was für ein wundervoller, einfühlsamer Mensch der Mann an seiner Seite war: er hatte aufs Losen bestanden. Danach könne man sich ja abwechseln. Yumeji streichelte sanft über Tsutomus Oberschenkel. Hier draußen musste man nicht befürchten, Anstoß zu erregen, weil man einander zugetan war. "Ich danke dir, dass du ja gesagt hast." Wisperte er mit seiner so angenehm wohlklingenden Stimme. "Vor zehn Jahren." Tsutomu drehte sich, visierte das vertraute Gesicht mit den feinen Zügen an, zwinkerte, bevor er ungeniert Yumejis kalte Lippen küsste. "Ich danke dir, dass du mich gefragt hast, Yume-chan." Antwortete er zärtlich. Nicht auszudenken, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte Yumeji nicht damals so viel Mut bewiesen! "Jetzt lass uns besser zur Pension gehen." Er streichelte behutsam über die kalten Wangen. "Sonst frieren wir hier noch fest." "Oder die Möwen nisten auf uns." Scherzte Yumeji, faltete das alte Handtuch geübt zusammen. Sie schlenderten nebeneinander den Kai entlang, streiften einander immer wieder an Schultern oder Hüften, ein Morsecode der Zuneigung. ~*+*~ Yumeji lächelte unwillkürlich, als er die klapprige Glastür zum spartanischen Nassbereich aufschob, auf dem Regal einen flauschigen Flanell-Pyjama vorfand. Natürlich gab es auch eine etwas ausgebleichte Yukata, doch Tsutomu kannte ihn besser. In ihrem winzigen Appartement, eigentlich Tsutomus, lag auch stets neben einem frischen Handtuch fürsorglich Nachtwäsche bereit, im Thermosbecher dazu seine Lieblingsteesorte. Wenn er mitten in der Nacht nach einer langen Schicht, im vagen Schein der Straßenbeleuchtung durch den Vorhang zum Semi-Doppelbett huschte, wartete ein gastfreundliches, breites Kreuz. Man konnte unter die Decke kriechen, sich anschmiegen, an der abstrahlenden Wärme gütlich tun! Nicht einmal hatte der passionierte Seitenschläfer ihn abgewiesen, ärgerlich herumgebrummt! Nein, Tsutomu schlief tief und fest. Immerhin musste er sehr früh aufstehen, ließ sich halb umarmen, bekuscheln, spendete nicht nur sehr willkommene Wärme, sondern Geborgenheit und Sicherheit. Ganz gleich, wie anstrengend der Tag gewesen war: nach der Katzenwäsche und Tee konnte Yumeji immer mit einem Lächeln einschlafen, sich richtig entspannen. Keinen Augenblick bereute er, den Mut eines ganzen fünfzehnjährigen Lebens aufgebracht zu haben, dem gutmütigen, freundlichen Tsutomu seine Gefühle offenbart zu haben. Der über eine ausgeprägte innere Balance verfügte, ein unerschütterliches seelisches Gleichgewicht, auf den man bauen konnte, selbst wenn alles andere in Bewegung geriet, sich veränderte. Die, die über ihn gelächelt oder gespottet hatten, verfügten nicht mal über ein Viertel seiner Qualitäten! Auch jetzt gab es hin und wieder noch Unbelehrbare, die auf ihn herabsahen, den breitschultrigen, etwas gedrungenen Mann, der in einem winzigen Laden einfache Speisen zum Mitnehmen zubereitete. Was sie nicht begriffen, was sie ignorieren wollten: Tsutomu war längst das Herz des gesamten Viertels. All die Kinder, deren Eltern keine Zeit hatten, ihnen ein Frühstück zu machen: sie bekamen es bei ihm. Nicht bloß Geld in die Hand gedrückt, sich irgendwas im Bahnhof zu kaufen, bei den Schnellrestaurants oder Ketten, nein, er füllte ganze Berge von privaten Bentou-Boxen oder Henkelmännern mit Reisbällchen, Gemüse, Omelette, etwas Fisch, Fleisch. Man bekam Hausmannskost, ohne Sperenzchen. Suppen, wer mochte, sogar Tee für die Thermoskanne! All das, was Mütter und Großmütter früher geleistet hatten, gute, frische, schlichte, aber ausgewogene Speisen, im eigenen Geschirr, fertig zum Abholen. Dazu ein freundliches Wort, ein aufmunterndes Lächeln. Es hieß, dass mittags die ganzen alten Leute der Gegend mit ihren Rollatoren oder Klappstühlen anrückten, das Trottoir belagerten, um zu speisen und Neuigkeiten auszutauschen. Mehr als eine Hausfrau entschied, sich von der Arbeit zu entlasten, bei ihm etwas zu ordern. Im Laden selbst gab es für Baa-sama, mit der sich Tsutomu abwechselte, gerade mal Platz für ein Hockerchen. Man konnte sich kaum drehen, aber hier befand sich Tsutomus Heimat, seine Bestimmung. Yumeji selbst galt als "Tsutomus Freund". Was ihn anfangs belustigt hatte. Aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes war er bis dato nie "der Freund/Schulkamerad/Sohn von.." gewesen. Einmal die zweite Geige zu spielen, das gefiel ihm durchaus. Yumeji überprüfte ganz automatisch im Spiegel sein Konterfei, bevor er in den Plastiklatschen aus dem Gemeinschaftsbad trat, über einen quietschenden Holzflur ihr Zimmer aufsuchte. Die Pension beherbergte sonst nur Interessierte an Wanderungen oder Tourengängen, anspruchslose Gäste, die sich nicht aufhalten wollten. Sich an dem heruntergekommenen Erscheinungsbild nicht störten. Deshalb konnte man nicht allzu viel erwarten. Er lächelte, als er die Schiebetür öffnete, weil Tsutomu gerade die Futons in dem knappen Separee zurechtschubste. Eigentlich hätte man ja noch in eine kleine Kneipe ausgehen können, doch Yumeji verspürte eine zunehmende Müdigkeit. Sie waren gleich nach Ende seiner Schicht aufgebrochen. Die Nickerchen auf der langen Fahrt hielten nicht lange vor. "Danke." Zupfte er an seinem Pyjama, streifte die Plastiklatschen ab, kroch zu Tsutomu unter die Decke. Sittsame Gäste hätten den Abstand zwischen den Lagern beibehalten. Sein liebenswerter Freund wusste genau, wie sehr er in der Nacht menschliche Wärme entbehren würde! "Ist ziemlich frisch." Nickte Tsutomu ihm zu. "Ich hätte auch nicht gedacht, dass es hier drin so auskühlt." Oder dass der rheumatisch knackende Elektroheizlüfter so wenig Nutzen entfaltete, dass er ihn lieber gleich ausschaltete. Yumeji schmiegte sich eingeladen an die vertraute, kräftige Gestalt. "Entschuldige, dass wir nicht ausgehen können." Blinzelte er, unterdrückte ein Gähnen. "Oh, das ist völlig in Ordnung." Antwortete Tsutomu ihm offenherzig. "Sah mir ehrlich gesagt gar nicht appetitlich aus, die Kneipe. Bestenfalls für Bier und Knabberzeug aus der Tüte geeignet." Schmunzelnd dirigierte Yumeji eine Hand aus der wärmenden Deckenhülle, um sanft die kantigen Gesichtszüge Tsutomus nachzuziehen. "Mit dir zu verreisen gefällt mir sehr." Raunte er melodiös. "Lass uns das wiederholen, ja?" Tsutomu kraulte ihm den Nacken, nickte aufgeräumt. "Klar! Du bist als Nächstes dran! Das wird spannend, ich bin jetzt schon neugierig, welchen Zug du dir auswählen wirst." Natürlich würde eine gewisse Zeitspanne verstreichen, bis sich erneut die Gelegenheit ergab, gemeinsam zur selben Zeit frei zu haben. Sparen müssten sie auch. Weder Tsutomus Hausmannsküche noch seine eigene Beschäftigung im Empfang eines auf ausländischen Tourismus spezialisierten Hotels warfen viel Geld ab. "Darauf freue ich mich auch schon." Yumeji schloss die Augen, kuschelte sich eng an. Ganze fünf Jahre waren vergangen, bis sie nach ihrer abrupten Trennung einander wieder persönlich gegenüberstanden. Damals hatte er den langjährigen Brieffreund tollkühn gebeten, ihm für eine Nacht Unterschlupf zu gewähren, bis er in Kioto ein Quartier gefunden hätte. Bereits am zweiten Abend, obwohl sie gar nicht sicher sein konnten, ob sie miteinander auf engstem Raum auskommen würden, hatte Tsutomu ihm ganz förmlich den Antrag gemacht, zu bleiben, mit ihm zu leben. All die Dinge, die andere Pärchen zuerst unternahmen, bevor sie überhaupt diesen Schritt in Erwägung zogen, holten sie gemächlich nach, beide ungeübt, aber voller Mut. "Ich frage mich, was sie zum Frühstück anbieten." Murmelte Tsutomu, während er ihm gleichmäßig über den Rücken strich. Yumeji unterdrückte tapfer ein amüsiertes Glucksen. Sein geliebter Gefährte lebte tatsächlich die Volksweisheit, dass Essen Leib und Seele zusammenhielt. "Was du zubereitest, wird mir immer am Besten schmecken." Wisperte er in eine warme Halsbeuge, schob sich ein wenig höher, um einen Gute Nacht-Kuss zu empfangen. "Schlaf gut und träum was Schönes." Wünschte Tsutomu ihm wie gewohnt, wenn sie tatsächlich mal zur selben Zeit ins Bett kriechen konnten. "Du auch." Erwiderte Yumeji entspannt. Besser, befand er im Halbschlaf, hätte er es gar nicht treffen können. ~*+*~ Im Schein der recht zerrupft wirkenden Papierlampe betrachtete Tsutomu Yumejis Gesicht. Im Schlaf so heiter, mit diesem besonderen Lächeln um die Mundwinkel, das nur ihm allein galt. Der definitiv schönste Mann im gesamten Stadtviertel, ja, vielleicht von ganz Kioto! Sanftmütig, höflich, geduldig und unerschrocken. Die äußere Erscheinung entsprach der Seele, ganz unzweifelhaft. Hin und wieder gönnte er sich morgens, wenn Yumeji tief schlief, erschöpft von einer langen Schicht, diese kostbaren Augenblicke, ihm nahe zu sein, ihn anzublicken. Zu wissen, dass er sich freute, über den Pyjama, den Lieblingstee, ein Frühstück. Manchmal, wenn die Zeit nicht reichte, im Geschäft vorbeizukommen, eine Bentou-Box. Über ein frisch geplättetes Hemd auf dem Kleiderbügel, einen Witz auf der altmodischen Schultafel auf der Konsole als Morgengruß. Die Gewissheit, ihm Freude zu bereiten, feuerte Tsutomu an, in aller Frühe auf den Märkten seine frischen Zutaten zu erwerben, sich munter ins Treiben zu stürzen, im Akkord Thermosbehälter und Boxen zu füllen, dass er manchmal wie ein Derwisch um die eigene Achse kreiselte. Das Leben meinte es zweifelsohne gut mit ihm! Er konnte tun, was ihm Freude bereitete und seinen Fähigkeiten entgegenkam. Seine innigsten Gefühle hatten eine Heimat gefunden, einen Adressaten, der sie erwiderte. Und jetzt hatte er sogar noch das Meer aus nächster Nähe erlebt! Für einen Verpeilten konnte er bei den wirklich wichtigen Dingen im Leben eine beeindruckende Bilanz vorweisen. Tsutomu schmunzelte über den eigenen Stolz, reckte sich, löschte das Licht. Yumeji seufzte ob der Bewegung im Schlaf, rückte näher heran, sich gütlich an der Wärme tuend. Auf die Seite gerollt parkte Tsutomu passgenau ein, drapierte einen Arm wie gewohnt um seine Taille. Den zufriedenen Schnaufer seines Klammeräffchens im Ohr schloss er selbst grinsend die Augen. Wieder ein perfekter Moment. ~*+*~ ENDE ~*+*~ Danke fürs Lesen! kimera