Titel: Phobikus Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Adventskalender 2021 Erstellt: 24.12.2021 Disclaimer/Hinweise: - How are habits formed: Modelling habit formation in the real world von Phillippa Lally, Cornelia H. M. van Jaarsveld, Henry W. W. Potts, Jane Wardle, (European Journal of Social Psychology, Volume 40, Issue 6, veröffentlicht Oktober 2010) - "A lie can run round the world before the truth has got its boots on" aus "The Truth" von Sir Terry Pratchett (in Variationen gebräuchliche Redensart seit Vergil) - Die Idee der Einkommensteuererklärung auf dem Bierdeckel wird dem Politiker Friedrich Merz zugeschrieben (2003) - Straight Edge = Verzicht auf Alkohol und Drogen/Rauschmittel, teilweise auch Ablehnung von Promiskuität - Ferrero Rocher ist eine eingetragene Handelsmarke für Süßigkeiten - § 57a Strafgesetzbuch, Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach 15 Jahren - Statistisches Bundesamt, Ehescheidung nach Dauer Ehejahren im Jahr 2020 (destatis.de) - Quod est demonstrandum = was zu beweisen war, Abschlussformel bei gelösten Gleichungen - Tourette-Syndrom = neuropsychiatrische Erkrankung - Ital/I-Tal, hauptsächlich pflanzenbasierte, ausgewählte Ernährungsform im Verbindung mit der Rastafari-Überzeugung - "Harry und Sally" von Rob Reiner, amerikanischer Spielfilm von 1989 - "Lebbe geht weider", Zitat von Fußballtrainer Dragoslav Stepanovic - "Die Körperfresser kommen" ("Invasion of the Body Snatchers"), amerikanischer Spielfilm (Remake) von 1978 - "Casablanca" von Michael Curtiz, amerikanischer Spielfilm von 1942 - "Es gibt nichts Neues unter der Sonne", Prediger Kapitel 1 (Bibel) - Muppet-Show, Unterhaltungssendung mit Puppen von Jim Henson - "Der Rosenkrieg", amerikanischer Spielfilm von 1989 Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Q~~~* Phobikus »Das ist nicht wahr!« Dachte Ugo panisch, entgegen des offenkundigen Bild-Beweises. Er wollte es nicht "wahrhaben", das traf es wohl besser oder vielmehr katastrophal. Deshalb begann er zu zittern, schnappte trotz der Sicherheit seines Zimmers hektisch nach Luft. Q~~~* Ugo gehörte zu den vermutlich wenigen, die das Pandemie-bedingte Home-Schooling, also Lernen Zuhause, genossen hatten. Obwohl es technisch gesehen eine Herausforderung dargestellt hatte, weil sie in der Wohnung nur über einen "geteilten"-Anschluss verfügten. Eine Methode, wenn der Betreiber keinen schnellen Aus- und Umbau vorsah. Zum Abholen und Abliefern von Aufgaben reichte es jedoch. Darüber hinaus konnte Ugo auch das betagte Lesegerät seiner Mutter nutzen, um sich über die digitale Ausleihe in zwei Lexika einzuwählen. Ohne Aufsicht arbeitete Ugo grundsätzlich diszipliniert und nach Zeitplan. Er genoss vor allem den Umstand, allein, in aller Stille arbeiten zu können, auf Papier seine Ergebnisse vorzubereiten, damit er nicht den ganzen Tag auf Displays und Bildwiedergabegeräte aller Art starren musste. Kein Stress durch die allgegenwärtige Lärmkulisse von Mitmenschen in der Klasse. Kein halbstündiger Transfer im Bus mit Ohrstöpseln. Nein, Ugo vermisste andere Menschen nicht sonderlich. Umgekehrt, so vermutete er, galt das auch uneingeschränkt. Die meisten empfanden ihn als anstrengend, obwohl Ugo sich große Mühe gab, die eigene Existenz nicht über Gebühr in Erinnerung zu bringen. Weil jedes eigene Tun oder Unterlassen gleich als Kritik oder gar Affront gewertet werden konnte, von noch größerem Ärger ganz zu schweigen! Q~~~* "Mit dem Jungen stimmt was nicht. Ich meine, noch mehr." Nicht für seine Ohren bestimmt. Er hatte die Aussage seiner Großmutter, Nonna, registriert. Unter "noch mehr" fiel, mit jedem Lebensjahr, sein Äußeres. Die komplette Familie war dunkelhaarig: er selbst trug rotblonde Löckchen. Sonne und Wärme stellten seit Generationen kein Problem dar: Ugo benötigte ständig Sonnenschutz, bekam Hitzepickel. Mittelmeer-Kost, sehr gesund! Nur Ugo konnte überhaupt keine Milchprodukte vertragen, weder von der Kuh noch von der Ziege. Bei Olivenöl entwickelte er auch noch eine Allergie! Wobei seine Mutter vermutete, eine Verunreinigung habe die ausgelöst. Nur, wenn sein Immunsystem so heftig reagierte, riskierte man lieber nichts. Es war kein Geheimnis, dass seine Existenz auf einer Samenspende beruhte, weil sein Vater nicht entsprechend disponiert war. Lange hatte man überlegt, erwogen, diskutiert und sich doch entschieden, es zu versuchen. Ein Phänomen, das nichts mit diesem Ursprung zu tun hatte, lag in seiner Über-Sensibilität, vor allem bei Geräuschen. Augen konnte man schließen, doch Ohren waren nun mal, so sie funktionierten, ständig auf Empfang. Was an sich kein Problem darstellte, wäre "sein Oberstübchen aufgeräumter"! Aus welchem Grund auch immer: sein Gehirn sortierte nicht gerade viel Unwesentliches aus. Das deutete, bedauerlicherweise, nicht auf eine Inselbegabung oder eine Genialität hin, wie der Kinderarzt seinen Eltern vermittelte. Ja, der kleine Kerl war völlig erschlagen im Kindergarten, richtig! E fiel in Tiefschlaf, wollte nicht mal was essen! Nein, nicht so gut. Trotzdem, da mussten sie alle gemeinsam durch, damit Ugos "Maschinenraum" unter der Schädeldecke lernte, die richtigen Prioritäten zu setzen, wie jeder andere graue Schwamm zu funktionieren. Unwesentliches, was alle Sinne meldeten, ausblenden. Filter-Feinjustierung. Das konnte schon mal dauern, aber alle Kinder bewältigten das letztendlich. Ugo erfüllte diese optimistische Prophezeiung nur sehr langsam. Wozu seine Umgebung auch beitrug. Schließlich wollten sich Kinder auch selbst erfahren, nicht wahr?! Man konnte ja wohl nicht auf Zehenspitzen herumlaufen und flüstern, weil der Junge sonst irgendwo hineinkroch, sich die Ohren zuhielt! Ugo bekam von seinem Vater die kleinste Ausgabe von Ohrstöpseln, die sich auftreiben ließ. Weil sie es auch leid waren, ihren Sohn unter Tischen oder aus Schränken zu bergen, wo er zitternd und keuchend kauerte, sich versteckte vor dem Lärm. Und Menschen, die ihn damit gern spaßeshalber quälten. Q~~~* Autogenes Training. Atemtechniken. Ohrstöpsel. Nicht in Panik verfallen. Ugo kniff zusätzlich die Augen so fest zusammen, dass ihm Tränen über das Gesicht rannen. Q~~~* Er hatte es nicht darauf angelegt, allen anderen auf die Nerven zu gehen, anstrengend zu sein, störend. Ugo bemühte sich um Rücksicht, führte keine Diskussionen oder gar Streitgespräche, nicht nur seiner Geräuschempfindlichkeit geschuldet. Man konnte sich ja aus dem Weg gehen, richtig? Konfrontationen vermeiden, Entscheidungen, die man selbst für sich getroffen hatte, nicht plakativ bekannt machen. Ugo stellten sich beispielsweise grundsätzlich die Haare auf, wenn in seiner Nähe musiziert wurde. Das hatte mit der Qualität der Darbietung gar nichts zu tun. bleich, zittrig und keuchend einen solchen Vortrag von Geräuschen zu ertragen, das wirkte selbstverständlich wie Kritik! Deshalb vermied Ugo es, sich solchen Situationen auszuliefern. Er lernte Noten lesen, durchaus, verfasste Aufsätze zur Vita berühmter Personen, reinigte Notenständer und Instrumente. Alles, um nicht in die Zwangslage zu kommen, Geräusche produzieren oder anhören zu müssen. Laute Gespräche setzten ihm ebenfalls zu. Deshalb waren Familienfeiern pünktlich zu Weihnachten oder Ostern ein regulärer Horror. Sah man von den Ereignissen ab, die durch Kontaktbeschränkungen wegen der Pandemie verhindert worden waren. Was Ugo sich tunlichst nicht anmerken ließ. Um Diskussionen zu vermeiden, führte er nach klassischem Schema gleich selbst Pro und Contra auf, sammelte Fakten, recherchierte Quellen, notierte den Dialog der Argumente auf. Papier oder auch Textdateien waren still, hielten sich an ihre Reihenfolge, brüllten nicht kakophonisch durcheinander. Konzertierte Abläufe bestehend aus Regelmäßigkeit, Routine und Ruhe: das gefiel Ugo und seinem empfindlichen Nervenkostüm. Q~~~* "Hugo, das Dschungeltier!" Das brüllte man ihm im Kindergarten hinterher, wenn er sich die Ohren zuhaltend flüchtete. Eine Kinderserie. Ugo kannte sie nicht, da er, wenn man ihn vor einen Zeichentrickfilm setzte, als erstes die Lautstärke reduzierte oder gleich den Ton ausschaltete. Seine Lieblingsfunktion der Fernbedienung. Hin und wieder erschloss sich die Handlung nicht ganz. Das kümmerte ihn nicht, weil das Chaos an Geräuschen, an Worten, an gar nicht so "unter"-legter "Hintergrund"-Musik, an Bildern, an Dynamik ihn nicht überrannte. Ugo bevorzugte Bücher und Hefte. Wenn man las, wurde man, zumindest von wohlerzogenen Personen, nicht angesprochen. Quasi ein Schutzschild zu den Ohrstöpseln, die den Alltagslärm dämpften. In der Mittelstufe verpasste man ihm einen neuen Spitznamen. Weil DAS DA der Typ war, der im Gedränge Panik bekam oder in Aufzügen mit mehr als zwei Personen! Der nicht auf Ausflüge mitfuhr, wenn man irgendwo übernachtete, weil der dann nicht schlafen konnte, wenn da noch wer im Zimmer atmete! Der Typ, den man mit einer Fahrradklingel locker in den Zaun jagen konnte. Dessen hässliches Alt-Smartphone stumm blieb, dazu auf monochrome Graustufen eingestellt war! Der kein Programm wie jeder Normale benutzte, weil ER ja die Allgemeinen Geschäftsbedingungen gelesen hatte! So ein ätzender Spalter, ein total stranger Idiot. N Phobikus eben! Q~~~* Ugo wusste, dass er KEINE Phobie hatte, zumindest bis jetzt nicht. Eine Phobie zeichnete sich nämlich definitionsgemäß als "zwanghafte Angst" aus. Es gab dazu diverse Krankheitsbilder, je nachdem, wovor man die Angst empfand, die das Leben einschränkte, sogar gefährdete, einer Behandlung bedurfte. Ugo hatte keine solche Angst vor lauten Geräuschen, vor zu vielen Personen auf zu engem Raum. Nein, ihm wurde bloß sehr unbehaglich zumute. Sein Hirn funkte Fluchtimpulse, verlangte danach, sich schleunigst zu verfügen. Damit er mit Abstand, schön sortiert, auf ein erträgliches Maß reduziert, die Situation einschätzen konnte! Alles, was Ugo sich erhoffte, bestand darin, dass andere ihm diese Distanz zugestanden. Vielleicht war er nicht "normal", also genau der Durchschnitt aller möglichen Abweichungen. Wenn man ihm einfach erlaubte, die für ihn beste Variante zu wählen, war er ein "Spalter", ein "Ätzer", ein "Störer". Wurde nicht toleriert, sondern in den Fokus genommen. Als nötige er andere, sich ihm anzupassen oder kritisiere grundsätzlich ihre Entscheidungen, ihre Liebhabereien, ihre Lebensentwürfe! Ugo ging in Schulkino-Vorführungen nur mit Ohrstöpsel, suchte sich im Schulsport Aktivitäten, die man allein vollführen konnte, ohne Kommandos (auch mit Ohrstöpseln). Auf Ausflügen oder Wandertagen lief er für sich allein, meist hinten, die Ohrstöpsel griffbereit. Ugo bereitete sich auf jede Aktion, die außerhalb der Schulroutine dräute, mit Akribie vor, Atemübungen und Recherche. Wo konnte ihm Gefahr drohen, Lärm ihn ohne Ausweg belagern? Was konnte schlimmstenfalls passieren? Wenn man sich vorbereitete, konnte man vieles bewältigen. Außerdem schulte es den Verstand, richtig? Q~~~* Ugo wusste, was er vorzog, nicht zu tun oder zu sein: Musizieren, Vereinssport, Camping, Sonnenbaden, Schwimmen, elektronische Spiele, Soziale Medien, alles, was Spontanität verlangte. Die Liste seiner (heimlichen) Beschlüsse verlängerte sich gerade um "Führen von Fahrzeugen". Ugo hatte Fahrradfahren gelernt, durchaus. Seiner Geräuschempfindlichkeit geschuldet schob er das Kinderrad jedoch meist. Immerhin: "Sicherheit geht vor!" Wenn es unübersichtlich wurde, hektisch, schneller getaktet, andere Radfahrende oder Tierausführende unterwegs waren: Ugo stieg sofort ab und schob. Die Idee, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, strichen seine Eltern stillschweigend. Es fuhr ja der Schulbus. Wenn ihr Sohn völlig erschlagen vom unvermeidbaren Lärm wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf das Rad steigen sollte, nein, keine gute Idee. Außerdem kostete das verbilligte Jahresticket nicht die Welt. Der Junge kaufte sogar auf dem Heimweg etwas ein. Sie wollten jedoch gar nicht erst wissen, was die Familie sagte, wenn sich herausstellte, dass der Junge zu seinem nächsten Geburtstag keinen Führerschein vorwies. Das wäre zwar nur begleitetes Fahren, aber wer OHNE Ohrstöpsel Ugo auf der Rückbank erlebt hatte, nein, danke. Man musste auch zugeben, dass der Verkehr zugenommen hatte, tendenziell weniger Rücksicht genommen wurde. Zudem: Ugo war ein braver Sohn, zuverlässig, ordnungsliebend, vernünftig. Man konnte mühelos 14 Tage außerhalb der Saison verreisen und fand kein Trümmerfeld vor. Um ihn musste man sich keine Sorgen machen. Da konnte man auch zähneknirschend die Provokation ignorieren, Ugo sei der geborene Bürokrat, solle bei der Finanzverwaltung anheuern. Tatsächlich hatte Ugo diese gehässige Empfehlung auf ihre Nützlichkeit hin überprüft, sich in Steuerarten, Mitteilungen des Bundesministeriums für Finanzen und supranationale Vereinbarungen eingelesen, ganz sicher keine Gute Nacht-Lektüre. Vielleicht konnte das eine Perspektive darstellen? Eine Büroarbeit (keine Sonne, keine Feldtoiletten, geregelte Arbeitszeiten), die ohne Lärm (Faxgeräte ausgenommen, haha!) erledigt werden konnte, zu kompliziert, zu verwoben, zu divers war, um durch einige Algorithmen ersetzt zu werden. Auf seiner obligatorischen Liste führten zumindest die Für-Argumente vor den Wider-Parts. Gegen langweilige Aufmachungen mit Hemd/Polo-Shirt zu Pullunder/Pullover/Strickjacke hatte Ugo nichts einzuwenden. Er durfte erst seit seinem 14. Geburtstag seine Bekleidung selbst aussuchen. Q~~~* Ugo informierte sich, reihte Fakten auf, ordnete sie und entschied. In einer "Info-"Demie gar nicht so einfach. Er verfügte über Geduld und Organisationsvermögen, wenn er seine Ruhe hatte. Der Welt ging es schlecht, das Anthropozän konnte dafür sorgen, dass eine Balance gekippt wurde. Selbst wenn man selbst klein und unbedeutend war, nur einer von bald neun Milliarden Homo sapiens, musste man es nicht ohne Not schlimmer machen. Auch wenn Ugo keine Vorstellung davon hatte, wie man es "richtig" machen konnte, wenn die eigene Existenz schon an der fragilen Ausgeglichenheit zerrte und zupfte. Nicht mal spontanes Aussterben wäre gänzlich komplikationslos und hilfreich! Verrottungsprozesse, Methangas, Umweltverschmutzung wegen Synthetik in Bekleidung und Schwermetallen im Körper plus Ersatzteile. Ugo wollte trotzdem seinen Beitrag leisten. Ohne dies zu verkünden, weil, wie schon erwähnt, andere sich dadurch indirekt diskriminiert, unter Druck gesetzt, moralisch belangt oder beleidigt fühlen konnten. Deshalb ging, nun, Heimlichkeit vor, Tarnung sozusagen. Reisen zu Schulferienzeiten waren ja teuer, weshalb außerhalb der Saison das Angebot besser war. In den Schulferien gab es genug aufzuarbeiten, einfach mal nicht viel zu tun (ohne die Hausarbeiten zu vernachlässigen), sich anderen Themen zu widmen. Ja, diese Allergie und der Lärm in der Mensa, das Gedränge. Lieber den Proviant selbst her- und zusammenstellen. Dabei konnte man auch gut und gerne auf tierische Produkte verzichten und möglichst regional, saisonal und plastikarm agieren. Hygiene musste sein, doch Vollbäder waren der Haut abträglich (und seine ja ohnehin empfindlich), darum lieber selten kurz duschen, feucht abreiben in der Zwischenzeit. Strom sparen war ebenso wichtig wie der sorgsame Umgang mit Trinkwasser. Lieber ein Buch lesen als Serien streamen (wobei sein Vater eine entschiedene Auffassung zur Nutzung "seines Anschlusses" hegte). Energiearme Beleuchtung, Reduktion der elektrisch betriebenen Geräte auf Notwendigkeiten... Mit Eltern, die nach langen Arbeitstagen (Tiefbau-Ingenieur und Lebensmittelhandel-Logistikerin) bei Kerzenlicht und Tee saßen, keine große Schwierigkeit, ganz unauffällig und beiläufig. Ugo war auch entschlossen, sich nicht zu reproduzieren. Was er ganz sicher nicht ohne größte Not seinen Eltern zu gestehen gedachte. Es gab schon recht viele Angehörige seiner Spezies, erschien ihm nicht dringlich, seinen Gensatz zu vervielfältigen. Aber es konnte als Kritik aufgefasst werden, als Altklugheit, wenn man sonst keine Vorstellung davon hatte, was man mit seinem Leben anzufangen gedachte. Das konnte Ugo kaum kontern. Tatsächlich verspürte er trotz seiner 16 Lebensjahre keine drängenden Talente, Träume, Sehnsüchte oder Ziele aufkeimen. Nicht mal das, was man als "normal", als Alltag summierte. Diese mangelnde Begeisterung für die persönliche Zukunft brachte ihn ordentlich in die Bredouille. Q~~~* Gewisse Dinge sollte man nicht tun, vor allem nicht während einer Pandemie. Ugo stritt mit seinen Eltern grundsätzlich nicht. Wenn sein Vater erklärte (erbost von irgendwelchen Sportübertragungsvereinbarungen), was gesehen werden durfte, solange der Anschluss auf seinen Namen lief, erhob Ugo keine Einwände. Wenn man den ganzen Tag auf elektronische Tafeln oder Displays starren musste, verlangte ihm die Freizeit eine Pause ab, wollte er gar nicht fernsehen, ganz gleich, nach welcher Übertragungsvariante. Zudem leistete ja auch der Anschluss erheblichen Widerstand, begrenzte die Leistungsmöglichkeiten. Außerdem gab es Alternativen. Ugo las, um nötigenfalls bei einem belanglosen Geplauder mithalten zu können, einfach Kritiken, das Feuilleton, Inhaltsangaben zu Serien, Sendungen, Spielfilmen oder elektronischen Spielen. In schwierigen Zeiten üblich gab es Katastrophenfilme oder Dystopien en masse, passend zur jeweiligen Notlage: die Welt zerstört, nur wenige Überlebende, mal alles unter Wasser, mal Wüste, mal Eiszeit, mal Epidemie mit oder ohne Zombies/Aliens. Ugo fand das alles unerfreulich. Dazu mischten sich Warnungen, wie man sich auf Katastrophen vorzubereiten hatte plus die "Prepper"-Szene. Natürlich hätte er diese ganze Melange auch ignorieren können. Nur, das mit dem Ausblenden, nicht nur bei Geräuschen, das funktionierte in seinem Oberstübchen bekanntermaßen nicht so konsequent. Deshalb hatte Ugo eine seiner Listen aufgestellt mit dem Fazit, dass er keinerlei Chance in irgendeiner Katastrophe oder Dystopie hatte, bei der die Zivilisation, die er kannte, nicht mehr vorhanden war. Weshalb die Vorbereitung ganz persönlich in einem beschleunigten Ableben bestand, respektive entsprechender Methoden. Alles Leben war endlich, korrekt! Es gab nach Ugos Vorstellung nichts dabei zu gewinnen, sich bis zum Unvermeidlichen zu quälen, wenn man sich selbst als völlig inkompatibel mit diversen Überlebensszenarien einschätzte. Außerdem, Überleben, zu welchem Zweck? Pure Existenz? Bessere Zukunft für die nachfolgenden Generationen? Ein gehässiger Mensch hätte wohl prognostiziert, dass bei Gehirn 1.0 die Wahrscheinlichkeit, erneut eine Katastrophe zu produzieren, nicht nennenswert sinken werde, weil der Homo sapiens eben Homo sapiens war. Ugo hatte deshalb überlegt, leider nicht so diskret, wie es der Situation geschuldet gewesen wäre. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bibliothek hatte seine kurze Abwesenheit am Platz für den Gang zur Toilette als alarmierendes Warnzeichen angesehen beim Blick auf die ungewöhnlich leserliche Handschrift und den Stapel medizinischer Abhandlungen. Ugo befand sich nicht einen Tag später samt seiner wenig erfreuten Eltern in einer Videokonferenz, um seine vermutete Suizidalität aufgrund der Isolation der Pandemie abzuwenden. Q~~~* Diese unerfreuliche Episode hatte Ugo gelehrt, noch vorsichtiger zu sein bei der Auswahl der Bücher und Magazine. Sich immer und grundsätzlich auf eine Hausaufgabe oder eine Ausarbeitung im schulischen Kontext berufen zu können! Dazu: alles am Mann! Kein Toilettengang mehr ohne alle Habseligkeiten. Kein Streifen durch die Regale, während am temporären Arbeitsplatz verräterische Unterlagen warteten. Für den Eintritt einer Zombie-Apokalypse hatte er eine Entscheidung bezüglich der Methode seines Ablebens getroffen. Er betrachtete dieses Kapitel als erledigt. Andererseits registrierte er, dass seine Eltern Befürchtungen hegten. Ja, ein Spätzünder, eher scheu veranlagt, aber er würde seinen Weg schon machen, ganz sicher! Für Ugo ein neues Minenfeld. Eigentlich verstand er so überhaupt nicht, was Beziehungen ausmachte. Wie funktionierte das Ganze? Und anschließend, wie hielt man es zusammen? Oder warum? Angeblich "Liebe". Mysterium. Bei allen Musen. Naturwissenschaftlich nicht zu erfassen, offenkundig jedoch ein wichtiges, herausragendes Sujet der menschlichen Existenz. Man sollte Antworten haben, nicht unvorbereitet sein. Ugo tat das, was er immer tat: recherchieren. Wenn die Naturwissenschaften nicht halfen, keine schlüssige Erklärung boten, musste Ugo das "Spielfeld" wechseln. Was er getan hatte. Weshalb jetzt gerade eine Katastrophe dräute. Q~~~* [Wenn Du nicht willst, dass ne Menge Leute das hier sehen, tust Du, was ich Dir sage. Morgen Nachmittag, zweiter Bus nach Schulschluss.] Q~~~* Es regnete, natürlich. Ugo fror, schniefte dezent hinter der obligatorischen OP-Maske. Er wollte in der einsetzenden Dunkelheit nicht hier sein, ganz und gar nicht. Aber wenn herauskam, was er getan hatte...! Ein Zittern durchlief ihn. Automatisch umklammerte er seinen Oberkörper. Ugo hob den Kopf, blinzelte hinter den beschlagenen Brillengläsern. Gleich musste der Bus doch kommen und bisher... "Steig hinten ein." Wie aus dem Nichts stand jemand neben ihm. Verschreckt stolperte Ugo zur Seite, kollidierte fast mit einem verankerten Mülleimer. "Tu, was ich sage." Brummte die Stimme hinter der schwarzen Maske. Ugo schniefte, rang seine aufkeimende Panik mühsam herunter. Da nahte auch schon der Bus. Q~~~* Eine halbstündige Fahrt. Ugo saß eigentlich nie ganz hinten, sondern regelmäßig vorne, in der Nähe des Zustiegs. Da konnte er nämlich trotz Ohrstöpsel recht sicher sein, dass man ihn nicht aus Langeweile drangsalierte. Jetzt musste er hinten, auf der breiten Bank, Platz nehmen, wo sonst nur die souveränen, gechillten, coolen, lässigen Typen präsidierten. Wenn sie gezwungen waren, den Hartz IV-Transport nutzen zu müssen. Es fiel kein Wort, sodass Ugo hauptsächlich seinen nervösen Puls hörte. Er umklammerte seinen Rucksack auf dem Schoß, wünschte ein Wunder. Leider erwies sich sein naturwissenschaftlich geprägter Verstand als notorisch atheistisch und diesbezüglich unnachgiebig. Über Auswege oder Alternativen hatte er nach Erhalt der Kurznachricht schon ausweglos gebrütet. Neben ihm saß, die Arme vor der Brust verschränkt, jemand aus der Klassenstufe nach ihm. Da Ugo keine Freunde vorweisen konnte (seinen dubiosen Interessen und zahlreichen Unzulänglichkeiten geschuldet), sortierte er seine Mitmenschen lediglich in "zu vermeiden" und "ungefährlich". Mit diesem Exemplar war er bisher nicht in Interaktion getreten, sortierte jedoch sofort "zu vermeiden" auf den noch leeren Steckbrief als warnendes Etikett. Woher hatte der Jüngere seine E-Mail-Adresse? Was konnte der wollen? Geld? Irgendwelche Credits oder wie auch immer für elektronische Spiele? Bange kämpfte sich Ugo in die Senkrechte, als seine Haltestelle angesteuert wurde. "Geh weiter." Eine kurze Anweisung. Ugo schniefte. "Und nimm den blöden Latz runter, wenn du mir was sagen willst." Q~~~* Man sollte verhandeln, argumentieren, plädieren. Ugo brachte überhaupt nichts heraus. Mit hochgezogenen Schultern leise keuchend marschierte er den gewohnten Heimweg. Rettung durch seine Eltern konnte er nicht erhoffen. Seinen klammen Fingern entglitt auch noch der Schlüsselbund. Ob des Geräusches erschreckt zuckte Ugo zusammen, umklammerte automatisch den großen Türgriff. Neben ihm ging sein schweigsamer Erpresser in die Hocke, klaubte das Fallgut auf. "Aufschließen." Grummelte er, noch immer maskiert, vermutlich wegen des Hinweises für die Logopädin im Halbparterre. Mutlos zupfte Ugo seine Maske zurecht, gelangte im Wiederanlauf ins Treppenhaus, stakste steifbeinig in den dritten Stock. Er entriegelte die Wohnungstür, trat auf die Schmutzmatte seitlich. "Bitte~bitte die Schuhe hier ausziehen." Krächzte er nervös, die Maske wie befohlen unters Kinn zerrend. "Klar." Während Ugo sich von Rucksack und nasser Jacke befreite, die Mütze auf die Ablage schubste, entpuppte sich auch sein Begleiter, funkelte ihn an. "Hast keinen Schimmer, wer ich bin, korrekt?" Ugo krallte die Finger ineinander und presste besorgt die Lippen zusammen. Zögerlich schüttelte er den Kopf. Ein Schnauben wurde ihm zuteil. "Roger. Nicht Rocher. Nicht Ferrero. Aber ich hör sowieso nur, wenn ich will." Damit tippte Roger sich hinter beide Ohrmuscheln. Die dort befestigten Hörgeräte konnte man kaum übersehen, nicht nur, weil Roger die Haare kurz rasiert hatte, lediglich am Oberkopf einen Dutt trug. "Wo ist dein Zimmer?" Ugo zögerte. Die Auswahl in der altmodisch geschnittenen Wohnung war nicht groß. Unbehaglich ging er voran, schob die lediglich angelehnte Tür auf. Sein Zimmer war schmal, rechter Hand ein Bett mit Schubkästen, linker Hand eine alte Kommode, daneben eine mobile Kleiderstange, vor dem Fenster auf zwei schlichten Böcken eine einfache Platte als Schreibtisch. Darauf befanden sich Laptop, Drucker und eine externe Festplatte, entouriert von Maus und Tastatur, garniert von Bücherstapeln, obwohl Ugo sich die "Einsame Insel"-Strategie des Minimalismus zu Gemüte geführt hatte. Allerdings waren Bücher Freunde und er konnte sich nicht so einfach beschränken. Roger schloss hinter ihnen die Zimmertür. Ugo, seinen Rucksack umarmend wie einen Prellbock, wandte sich herum, vom Schreibtisch gebremst. Ihm sagte der grimmige Gesichtsausdruck seines unerwünschten Gastes gar nicht zu. "Stell den mal ab, ja? Und komm her." Widerstrebend leistete Ugo der Aufforderung Folge. "Ich~ich werde das nicht wieder tun, wirklich nicht! Das war ein Fehler." Wisperte er bange. Roger stopfte unterdessen seine Maske in die hintere Tasche der Jeans, fingerte in seiner "Messenger-Bag" herum. "Was ist?! Ich dachte, ICH hab hier nur was mit den Ohren. Komm jetzt." Bellte er, eine große Hand nach Ugo ausgestreckt. Ugo, der trotz seiner Vorbereitung auf eine Unterhaltung, zusammengezuckt war, rührte sich nicht von der Stelle. "Was~was willst du denn von mir?" Presste er ängstlich heraus, umklammerte dabei die Tischplatte. Ihm wurde die Luft knapp, seine Knie zitterten, seine Handflächen schwitzten kalt. Roger schnaubte. "Nachhilfe." Knurrte er, produzierte dabei einen Schokoladen-Hohlkörper. "Vegan!" Betonte er, tippte auf den Aufdruck, bevor er den mutmaßlichen Weihnachtsmann/Nikolaus vom Haupt abwärts strippte, das Oberteil abbiss. Ugo verfolgte diese Vorführung verwirrt. Nachhilfe?! Wieso denn Nachhilfe?! Und bei was?! Bevor seine Panik seiner Verwunderung die hinteren Plätze auf der Liste der Prioritäten zuweisen konnte, schnellte Roger heran, packte Ugo mit einer Hand im Nacken, während er ihm einen schokoladigen Zungenkuss aufzwang. Q~~~* Ganz offenkundig war er Roger nicht gewachsen, der ihn packte, seinen Pullover geschickt als Fesselung nutzte, ihn auf das sorgfältig gemachte Bett beförderte, ihm ohne Zögern Hose, Leggings und Unterhose in die Kniekehlen zerrte. Ugo schluchzte in Panik, war aber vollkommen ungeschult in effektiver Gegenwehr. Da war es auch zu spät, weil Roger sich eines Körperteils bemächtigte, der ähnlich sensibel wie Ugos Verstand reagierte. "Kein Wort!" Grollte Roger grimmig, ohne Triumph oder Schadenfreude. Während er Ugo entschieden unzüchtig küsste, bereitete er sich skrupellos darauf vor, sie beide manuell zu befriedigen. Q~~~* Wenn das schon den Höhepunkt der Katastrophe darstellte, widerlegte sich Ugos Prognose gerade. Es ging selbstredend noch schlimmer. Roger wienerte ihnen nicht nur die Spermaspuren von der Haut, sondern zerrte Ugo auf die klapprigen Beine, scheuchte ihn splitternackt durch die Wohnung in das Badezimmer. "Dusche. Was ist das denn?" Ugo, der auf der altmodisch eingemauerten Badewanne kauerte, mit verstopfter Nase nach Luft rang, zitterte, zog den Kopf zwischen die Schultern. Roger schnüffelte an einem Seifenstück, mit Band aufgefädelt. "Gab's wohl nicht für Kerle." Schlussfolgerte er durchaus zutreffend, packte Ugo beim Kinn. Der schniefte, blinzelte ohne Brille noch ängstlicher. "Sieh mich an." Hastig nickte Ugo, soweit es der energische Griff zuließ. Roger wandte sich ab, deponierte seine beiden Hörgeräte in ungefährlicher Distanz für Wasserschäden, überstieg den Rand der Wanne, hievte Ugo dort auf die Füße. Er zerrte den Vorhang herum, feuchtete die so kritisch gemusterte Duschseife an. Ugo schluchzte leise vor sich hin. Er sollte natürlich den Kopf nicht senken, weil er Roger nicht ansah, der ihm nichts von den Lippen ablesen konnte, aber Ugo wünschte gar nichts mehr zu sagen. Am Liebsten hätte er sich wie früher in einen Schrank verkrochen, die Ohren zugehalten. Der Griff in seinen Nacken ließ ihn panisch keuchen, doch eine Flucht stand nicht zu Gebote. Vielmehr versiegelte Roger ihm den Mund, während er ihn einseifte. Was leider, zum zweiten Mal, äußerst unpassend stehende Ovationen zur Folge hatte. Q~~~* Wie eine Drohung thronte der Rest der Schokoladenhohlfigur auf Ugos Schreibtisch. Roger war, geduscht und angezogen, vor der Rückkehr seiner Eltern gegangen, mit einer unmissverständlichen Drohung. "Nächste Woche, selbe Zeit, selber Ort." Ugo zitterte selbst bei zwei zusätzlichen Decken noch, ein kompaktes Paket auf seinem Bett. Das war eindeutig sexueller Missbrauch! Er musste sich das nicht gefallen lassen! Sollte er nicht einfach abwarten, ob dieser Roger seine Drohung wirklich umsetzte? War das hier weniger schlimm als die Konsequenzen aus seinem Fehlverhalten? Es ging um seine Würde! Nur verlor er hier gegen EINE Person, während die Alternative der GANZEN Welt seinen Gesichtsverlust offenbaren würde. Q~~~* Ugo verzichtete am folgenden Tag auf den Präsenzunterricht. Er hatte kaum geschlafen, das Frühstück so prompt exiliert, dass seine Eltern schon glaubten, es handle sich um eine Lebensmittelvergiftung. Andererseits, möglicherweise hatte seine Allergie zugeschlagen? Außerdem wirkte er erkältet, schniefte und zitterte. Ein Tag Auszeit würde vielleicht helfen. Trotz all der Masken konnte man sich ja was anderes einfangen! Ugo verkroch sich in sein Bett, die Ohren verplombt. Was tun? Ihm war elend zumute. Es schien ihm, als könne er gar keine "gute" Entscheidung treffen, wenn er sich die möglichen Folgen vor Augen führte. Ugo schluchzte leise in sein Kopfkissen, verwünschte seinen Versuch, dem Mysterium durch Lektüre näherzukommen. Q~~~* Sich auf ewig zu verkriechen, das stand nicht zur Debatte. Wenn man versuchte, die eigene Würde zu retten, konnte man nicht anderweitig Zweifel aufkommen lassen. Ugo zwang sich, am nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen, auch wenn er sich fürchtete. Was, wenn dieser Roger noch mehr verlangte?! Wie würde er sich verhalten? Tatsächlich konnte Ugo ihn bloß erahnen wegen der strikten Distanzregeln, unterschiedlicher Klassenstufen und fast uniformer Verpuppung dank Dauerlüftens. Kein Versuch, ihn anzusprechen, keine weiteren Nachrichten, kein Abpassen beim Arbeiten in der Bibliothek. Einfach der vorherige Zustand. Parallele, sich nicht kreuzende Existenzen auf einem abgesteckten Flecken Erde. Ugo ermahnte sich, die Galgenfrist zu nutzen. Nein, in einer Dystopie wäre er nicht mal Fußnote, sondern sofort hinüber. Gesichtslose Zahl beim Vorspann. Von all diesen grässlichen Filmen und Erzählungen hatte er gelernt, dass man auch zur Gegenwehr schreiten konnte. Eine Erpressung mit einer gegengleichen Enthüllung kontern, das Drohpotential erheblich reduzieren! Wer also war dieser Roger? Gab es nicht doch irgendeine Möglichkeit, ihn in seine Schranken zu verweisen? Q~~~* »Das ist unfair!« Stellte Ugo hilflos fest. Weil er selbst nicht in sozialen Medien unterwegs war, konnte er bestimmte Zugriffe nicht erlangen. Die offiziellen Möglichkeiten jenseits dieser Barrieren, die schlichten Treffer deuteten darauf hin, dass Roger die Unverschämtheit besaß, unsichtbar zu sein! Keine Mitgliedschaft in einem Sportverein, nicht in einer Band, einem Chor, in einer Besten-Liste. Wen er fand, war Rafael, offenbar der ältere Bruder, von dem es sogar Ablichtungen gab, weil der mehrere Instrumente beherrschte und sang, sich zum Studium verabschiedet hatte. Bei den Eltern, Mutter Kunstpädagogin und Vater Musiker sowie Klang-Therapeut, kein Wunder! Ugo studierte die Fotografie. Ähnlichkeiten gab es, aber der Ausdruck, fröhlich, munter, begeisternd, sympathisch, attraktiv, ganz anders als Roger! Weiter half ihm diese Erkundung der familiären Umstände jedoch nicht. Wie sollte er Roger in Schach halten? Was würde den beeindrucken, abschrecken? Ugo seufzte, zupfte die Ohrstöpsel zurecht, fast mit der Maske kollidierend. Sollte er doch besser seine Verfehlungen offenbaren? Q~~~* Militanz war keine Lösung, darüber musste Ugo nicht lange nachsinnen. Ihre Wirkung beruhte ja darauf, Verstärkung oder Aufmerksamkeit zu gerieren. Was das Aufdeckungsszenario SEINER Verfehlungen nur noch potenzierte! Tierabwehrspray, keine gute Idee in geschlossenen Räumen. Selbst wenn er es käuflich erwerben konnte, was Ugo nicht glaubte. Pfefferspray eigener Produktion? Wenn der Aggressor in der Ambulanz landete, um die Augen ausspülen zu lassen, war das definitiv zu viel Aufmerksamkeit! Außerdem erinnerte sich Ugo seufzend an seinen Versuch eines umweltschonenden Deodorants. Ständig verstopfte sich der Diffusor. Deshalb nutzte er nun einen ausrangierten Roll-On. Waffen standen selbstredend grundsätzlich nicht zur Debatte. Also Selbstverteidigung? Abgesehen davon, dass man entsprechende Techniken nicht in kürzester Zeit erlernen konnte. Ugo zog den Kopf zwischen die Schultern. Das half nicht, nicht, wenn man selbst große Scheu davor hegte, andere Personen einfach anzufassen. Immer zögerte, grundsätzlich, auch ohne Pandemie, Distanz wahrte, wegen der Lautstärke und der möglichen Unerwünschtheit der eigenen Person. Roger hingegen bewies in seinen "Hand"-lungen, und es waren große Hände!, weder Zurückhaltung noch Zweifel. Die Sekundenbruchteile Vorteil, abgesehen von der offenkundig trainierten Physis, die Ugo nicht übertrumpfen konnte. Von einer "Lockdown"-Plauze war jedenfalls nichts zu bemerken gewesen. Zudem schien Roger ausgesprochen geübt, versiert. Da konnte Ugo es sich nicht mal zum Vorwurf machen, wie sein Körper reagiert hatte. Auf eine stimulierende Actio folgte nun mal eine reactio, da half kein Jammern und Zetern. Und jetzt? Ugo tippte hilflos mit der Bleistiftspitze auf seine noch jungfräuliche Liste der Abwehrmaßnahmen. Einfach aushalten? Wie lange? Vielleicht handelte es sich lediglich um Neugierde. Langeweile. Oder? Eine Gewohnheit würde doch nicht daraus werden, oder?! Ugo erinnerte sich an eine häufig zitierte Studie, dass (allerdings bei einer geringen Teilnehmendenzahl) durchschnittlich 66 Tage verstrichen, bis aus einer Umstellung eine Routine und somit Gewohnheit wurde, die nicht mehr aktives, konzentriertes Denken erforderte, sondern eine Automatik einsetzte. Nein. Nein, nein, nein! Ganz sicher nicht! Wenn dieser Roger in keinem Verein war, keiner Band, keinem Club oder was auch immer, musste der doch Alltagsroutinen ablehnen, richtig? Wollte ganz sicher nur eine kleine Abwechslung, etwas testen. Das würde ihm bestimmt schnell langweilig! Oh. »Genau.« Seufzte sein geschultes Logikzentrum. FALLS diese unbewiesene Annahme zutreffen sollte (die er mangels Informationen konstruiert hatte), was hinderte Roger daran...? "...seine Drohung trotzdem umzusetzen?" Ugo zog die Beine vor den Leib, rollte sich elend zusammen. Q~~~* Ugo hatte keinen Ausweg gefunden und auch nicht viel zu Roger. Er befand sich unverändert im Dilemma, bei eisigem Wind an der Haltestelle zitternd auf den zweiten Bus zu warten. Wenigstens beschlugen ihm die Brillengläser nicht trotz Maske, weil es derartig zog, er nicht erneut fast mit dem Müllkübel kollidierte, als Roger auftauchte, kaum kenntlich durch Maske und Kapuze. Lediglich die hängende "Messenger-Bag" verriet ihn. Ugo fragte sich, ob ein Gespräch helfen würde, wusste schlichtweg nicht, wie er anfangen sollte. Nicht mal ein "Hallo" kam ihm über die Lippen. So kauerte er neben Roger auf der Rückbank, den Rucksack auf dem Schoß umarmend. Die halbstündige Fahrt verlief so schweigend wie der Weg zu seinem Haus. Schicksalsergeben gelang es Ugo dieses Mal, beim ersten Anlauf die Haustür zu öffnen. In der Wohnung streiften sie Schuhe und Winterbekleidung ab. Ugo straffte seine Schultern, setzte den Rucksack bei seinem Schreibtisch ab. Obwohl er Ruhe bevorzugte, drückte ihm das Schweigen aufs Gemüt. Er räusperte sich, artig die Maske abgezupft. "Warum tust du das?" Roger, der sich bereits des Kapuzenpullovers entledigte, schnaubte, funkelte ihn kriegerisch an. "Hab eben gerade Bock drauf, mir in Gesellschaft einen runterzuholen. Los, raus aus dem Fummel." Ugo zögerte. DAS war, zugegeben, eine schlüssige Erklärung. Offenkundig spielte es keine Rolle, wer die Gesellschaft bei dieser "Handlung" war. Andererseits... "Was ist jetzt?!" Roger stand schon vor ihm, nackt bis auf einen weiteren Schokoladen-Hohlkörper, dieses Mal in einer Art Plastik-Kokon. Zu seiner Verlegenheit errötete Ugo heftig. Es war ungehörig, eine andere Person unterhalb des Kinns derart zu mustern. "Du glaubst doch nicht ernsthaft den Scheiß aus diesen Büchern?!" Begleitete ein wütendes Grollen diese bitterböse Frage und eine große Hand in Ugos Nacken. "Ich verstehe nicht?" Setzte der verschreckt an. "Da gibt's nichts zu verstehen!" Donnerte Roger finster, stellte sein Mitbringsel ab, ging ohne Skrupel dazu über, Ugo zu entkleiden. Der zitterte, fror, erkannte die trostlos-desolate Disposition seiner Physis. Er plumpste fremdbeschleunigt auf sein Bett. Roger pulte unterdessen das Plastikdekor ab, biss mit einem lauten Knacken der Figur den Schädel von den Schultern, kaute kurz. Ugo rutschte ungelenk Richtung Wand, was ihm jedoch nicht half. Gegen Roger kam er einfach nicht an! Q~~~* Ugo hatte sich unter den Begleitumständen der Pubertät eine eher diskrete Behebung gewisser hormoneller Notstände erwartet. Eine gesellschaftlich erforderliche Verpflichtung, wollte man kein unerwünschtes Aufsehen erregen. Etwas, das beiläufig, solitär und ohne Aufhebens rasch erledigt wurde. Auf die Idee, gar das Verlangen, andere Personen einzubeziehen, war er nie gekommen, zumindest nicht für sich selbst. Obwohl das eine obligatorische "Normalität" darstellte. Was nicht zwingend den Akt als solches mit den Konventionen verband. Gerade DIE stellten ihn ja vor ein Rätsel! Dessen versuchte Erkundung die aktuelle Katastrophe bewirkt hatte. Auch wenn Ugo sich zurücknahm, nicht in den omnipräsenten sozialen Medien unterwegs war, nahm er bestimmte Realitäten durchaus wahr: wie man zu sein, vor allem zu scheinen hatte, äußerlich, in Gestalt, Aufmachung, Gestik. Selbstverständlich gab es Filter, raffinierte Programme, auch Selbstdisziplinierung, Challenges, Chirurgie und diverse Diäten samt Weltanschauung. A la mode, im schnellen Wechsel. Ugo fiel nach eigenem Empfinden durch sämtliche dieser Aufnahmeprüfungen. Er machte nichts her, stellte nichts dar, zeichnete sich nicht (positiv) aus. Ergo: unbedeutend, ohne Wert, tendenziell eher Ballast. Wenn die anderen, die diese Hürden nahmen, sich zusammentaten, konnte Ugo das verstehen. Es musste da eine gewisse Dynamik, eine Logik geben. Nur bei IHM versagte diese Automatik offenbar vollkommen, was eigentlich nicht Wunder nahm, da er Streitigkeiten vermied, Distanz suchte, sich zurückzog. Nein, er begriff nicht mal, warum seine Eltern als Paar und Eltern zusammen waren. Wie funktionierte dieser Magnetismus, dieser Klebstoff?! Gewohnheit, Routine, gesellschaftlicher/wirtschaftlicher Druck, "Herdentier"-Prägung? Fehlten ihm die Rezeptoren? Enzyme? Bakterien? Natürlich wollte er nicht provozieren, aus der Reihe tanzen, sich wichtig machen. Wie sollte er "normal" sein, wenn diese Art von "Normalität" sich ihm einfach nicht erschließen wollte? Wenn er schlicht und einfach die innere Logik nicht begriff? Wenigstens den Versuch hatte er unternehmen wollen. Q~~~* Einem möglichen Puzzleteil dieses Mysteriums kam Ugo viel näher, als er sich das gewünscht hatte. Offenbar verlangten hormonelle Höchststände eine Kompensation AUCH in Gesellschaft. So erklärte sich ihm Rogers Aktion. Das erschien Ugo als sehr unerquicklich. So musste man zwangsläufig andere Leute belästigen. Zugegeben, die meisten Menschen schienen die richtige Logik zu verfolgen, sodass es weniger ein Belästigen als eine willkommene Offerte schien. »Ich begreife das nicht.« Stellte sein Verstand erneut fest. Nein, da zündete immer noch keine Rakete der Erkenntnis. Summierend kam hinzu, dass es mit einer raschen Abwicklung in Teilhabe Dritter nicht sein Bewenden hatte. Zungenküsse mit schmelzender Schokolade, überall anfassen... Ugo spürte, wie ihm Röte in die Wangen stieg. Roger hatte ihn nicht nur oral belagert, sondern auch seine Brustwarzen, die Ohrläppchen, die Schlüsselbeine, den Nacken! Irgendwie animalisch. Naturwissenschaftlich nachvollziehbar, da der Homo sapiens ein Säuge-Tier war, sich eben nicht so fein und steril verhielt wie in der Fiktion, wo Verdauungsakte, Toilettengänge und andere Niederungen der Biologie keine Erwähnung fanden. Trotzdem. Ugo vermied eine allzu große Auseinandersetzung mit seiner Physis. Er bekleidete sich mehr als ausreichend, achtete darauf, nichts zu essen oder zu trinken, was seinen Magen-Darm verärgerte und wollte sonst eher Geist, beziehungsweise Persönlichkeit, als Biomasse auf zwei Beinen sein. Nun musste er sich seiner Physis stellen, respektive der Tatsache, dass eine andere Person sich entsprechende Rechte an ihr herausnahm, ihm den Torso eines passend zum Nikolaustag staffierten Schokoladen-Mannes als Mahnmal da ließ. Q~~~* Ugo fand keine Lösung. Um sein Nervenkostüm zu entlasten, konzentrierte er sich auf die Schularbeiten. Bisher waren weder seine Verfehlungen aufgedeckt worden, noch schien durch Rogers "Aktivitäten" eine Traumatisierung einzusetzen. Außerdem waren die Ferien in Sicht. Das bedeutete, dass man sich nicht treffen konnte/durfte. "Nachhilfe" konnte da kaum als Argument ziehen. Roger wäre nach dieser Zwangspause bestimmt auch schon gelangweilt, nicht mehr an ihm interessiert, hoffte Ugo. Zusätzlich hob sich seine Stimmung, weil die weihnachtliche Zusammenkunft auch in diesem Jahr abgesagt werden musste. Keine lange Anreise, kein Lärm, keine Streitereien, kein aufgenötigter Kirchenbesuch, kein fortwährendes Bewerten seiner Person! Familienfeierlichkeiten dieser Art waren vor längerer Zeit schon Gegenstand seiner Listen gewesen. Sie beruhten auf unzutreffenden Erwartungen. Das ganze Jahr über sah man sich nicht, kommunizierte selten, interagierte viel intensiver mit der unmittelbaren Umgebung. Da sollte, wie durch Zauberei, eine enge Bindung, Harmonie, Gemeinschaftsgefühl entstehen? A la "Blut ist dicker als Wasser"? Das konnte gar nicht gut gehen. Ein gemeinsamer Gensatz in grauer Vorzeit bügelte nicht alle Differenzen und Unterschiede aus. Deshalb gab es auch entlarvender Weise jedes Jahr im Fernsehen spätestens nach 22 Uhr obligatorisch die Ausstrahlung von Klassikern mit hohem "Bodycount", also "Stirb langsam", "Rambo" oder Konsorten. Weil sich hier in katharischen Momenten die angestaute Spannung entladen konnte, die unterschwellige Aggression, die aufgezwungene Fröhlichkeit. Ugo überstand diese "geselligen Zusammenkünfte im Herzen der liebenden Familie" nur als Wrack, vollkommen ausgelaugt, erschöpft, verkrampft, verspannt, ein Schatten seiner Selbst. Dieses Jahr gab es mal wieder nur wacklige Videokonferenzen, kurze Telefonate (mit Geschrei), alles hübsch auf Distanz. Wunderbar! Keine Hektik, kein Stress, kein Druck, keine Rechtfertigungen, keine Beurteilungen. Gemütliche, kleine Runde daheim, kein Aufbrezeln, keine Magenverstimmung. Eigenes Bad, eigenes Bett, himmlische Ruhe. Mit diesen Aussichten ließ sich auch die Ungelegenheit vor den Schulferien ertragen! Q~~~* Etwas ratlos stand Ugo vor dem Schulgebäude. Die letzten beiden Stunden waren unerwartet ausgefallen. Die Bibliothek hatte montags geschlossen. Er war sich der unmissverständlichen Aufforderung von Roger bewusst. Doch bis der verabredete Bus abfuhr: was sollte er bis dahin tun? In der Schule durfte man nicht verweilen, Pandemie-Regeln! Sollte er also nach Hause fahren, Roger dies mitteilen und ihn dort erwarten? Unentschlossen konsultierte Ugo seine altmodische Aufziehuhr am dünnen Handgelenk. Hier in der Kälte herumstehen, nein, das war keine Option! Es begann zudem unerfreulich zu nieseln, was seine Brillengläser benetzte. "Komm." Obwohl die Aufforderung sehr moderat ausgesprochen wurde, japste Ugo vor Überraschung. Roger. "Aber...?" Rutschte Ugo verwirrt heraus. "Beweg dich." Knurrte Roger. Zur Verdeutlichung kassierte er den Gurt von Ugos Rucksack ein, zog ihn mit sich. Q~~~* Der Bus fuhr in die entgegengesetzte Richtung oder vielmehr die, die Ugo morgens nutzte, jedoch vorher entstieg. Hier durfte er jedoch nicht notgedrungen auf der letzten Bank residieren. Roger zog ihn in die Mitte, wo die breite Plattform das Stehen vorsah, falls nicht gerade elektrisch betriebene Rollstühle oder Zwillingskinderwagen an Bord waren. Zwei Stationen später erklärte sich diese Maßnahme. Hauptsächlich Mütter kletterten mit dem Nachwuchs hinein, Gewusel und Durcheinander, Kindergarten- und Grundschulkinder. Nach einer guten halben Stunde musste Ugo die trügerische Sicherheit des Gefährts aufgeben. Fußmarsch, in eine Gegend, in der noch einige Bürgerhäuser und Gründerzeitvillen standen. Altbau. Die großzügigen Park- und Gartenanlagen der ehemaligen Luxusanwesen waren parzelliert und verdichtend bebaut worden. So dicht, dass es sehr "urban" und fast bedrückend wirkte. Roger steuerte einen Altbau an, die frühere Villa in mehrere Wohnungen aufgeteilt. Von einem Garten konnte man kaum etwas erahnen, nur handtuchbreite Streifen trennte von den Nachbarhäusern ab, die den kastenförmigen "Charme" der Achtziger verströmten, kleinteilige Fenster mit schwarzen Rahmen, an Bauklötzchen erinnernd. Schweigend tappte Ugo im Halbdunkel eines engen Treppenhauses hinter Roger her. Die kleine Wohnung mit den hohen Decken war vollgestopft mit den unterschiedlichsten Musikinstrumenten und Kunst in Form von Bildern, Gegenständen, Objekten. Da fühlte man sich gleich klein und bedrängt von derlei überbordender Vielfalt! Das schmale Zimmer, in das Roger ihn dirigierte, entsprach zur Hälfte dem Gesamteindruck, an jeder Wand ein Hochbett, darunter eine freie Fläche. Die linke Seite war geschmückt mit Bildern, bemalten Tüchern, kunterbuntem Zubehör für alles Mögliche, die rechte Seite hingegen kahl. Kein Bild, kein Poster, keine Einladung zur Gemütlichkeit. Ein Umzugskarton mit Bücherstapeln, eine große Tasche mit gefalteter Kleidung. Es wirkte alles wie die unleidliche Variante des Minimalismus in Vorbereitung. Angesichts eines gezeichneten Porträts konnte Ugo treffsicher schließen, wem welche Hälfte des Zimmers zuzuordnen war. Strahlende Eltern, in der Mitte mutmaßlich Rafael, lachend, in einem Wirbel von Farben und Instrumenten. Roger, dem sein Blick nicht entgangen sein konnte, schnaubte. "Ja, die Heilige Dreifaltigkeit des Talents. Schon Scheiße, wenn der 'andere Sohn' nicht mal ne gerade Linie ohne Hilfsmittel ziehen kann und auf beiden Ohren taub ist." Ugo zog bei dieser gallig-bitteren Aussage automatisch den Kopf zwischen die Schultern. Üblicherweise klangen so die Ouvertüren zu Auseinandersetzungen. Die behagten ihm grundsätzlich nicht. Unterdessen beförderte Roger aus seiner "Messenger-Bag" eine Figur in eher psychedelischem Gewand. "Vegan." Knurrte er. Das erinnerte Ugo eilig an die Realität. "Wieso Schokolade?" Erkundigte sich Ugo deshalb, umklammerte seinen Rucksack. Die falsche Frage. Roger schoss einen finsteren Blick auf ihn ab, zerrte sich den Kapuzenpullover über den Kopf. "Ach, haben wir da moralische Bedenken?! Wegen der Kinderarbeit, die so hübsch mit Weihnachtswichteln oder Christmas-Elfen verniedlicht wird? Oho, da geben wir doch einfach alles mit Kakaobohnen drin auf! Das wird den Leuten aber so was von helfen! Wenn niemand das Zeug kauft, gibt es keine Ausbeutung mehr, nicht wahr? Zwar auch keinerlei Einkommen, aber das ist es uns doch wert, globale Gerechtigkeit!" Ugo begriff in diesem Moment zwei Dinge: - Roger konnte durchaus mehr als ein paar kurze Sätze bellen. - er hegte einen ätzenden, bissigen, sarkastischen, zynischen Groll gegen so ziemlich alles und alle. Q~~~* Eigentlich wollte Ugo sich nach dem Anlass erkundigen, warum Roger Schokolade kaute, bevor er ihn küsste. In dem zornigen Blick erkannte er jedoch, dass er dies besser unterlassen hätte. "Was ist dein Problem?! Palmfett? Zucker?" Roger setzte die Figur heftig auf einem Bücherstapel ab, ballte die Fäuste. "Kein Scheiß-Palmöl drin, okay?! Wird den Regenwald nicht retten, macht sich aber gut beim Karma-Konto! Aber, oh Schreck, in einer Süßigkeit ist tatsächlich Süßungsmittel drin! Heimischer Rübenzucker, mit CHEMIE raffiniert! Scheiße, das ist viel schlimmer, als Zuckerrohr um die halbe Welt zu transportieren! Oder maximal 'un-natürlich', ganz anders als Reissirup!" Ugo wich Richtung Fenster zurück. "Zucker ist pfuibah, eine böse Droge, die auch noch fett macht! Lieber was mit Datteln, die haben ja nur Fructose drin!" Einigermaßen bewandert auf dem Gebiet dieser Diskussionen zögerte Ugo, etwas Beschwichtigendes zu äußern. Roger lief sich gerade erst warm. "Zurück in die Steinzeit, das ist doch fein! Ursprünglich, super gesund! Sind zwar an ähnlichen Krankheiten verreckt wie heute, aber das sind bloß Details. Samen, Nüsse, kein Getreide, Wildfrüchte und totes Tier, tolle Diät. Wenn man sich auf die letzte Option konzentriert, ist man auch schon gleich für die Zombie-Apokalypse trainiert." Gebieterisch streckte er eine Hand nach Ugo aus. "Komm her. Das bisschen Ausbeuter-Schokolade wird dich schon nicht umbringen!" Ugo versteckte sich hinter seinem Rucksack, auch wenn er keineswegs so sehr einschrumpfen konnte. "Ich habe gar nichts gegen Schokolade." Natürlich gab es viele Kritikpunkte am Anbau, am Transport, am Herstellungsprozess, an der ganzen Kette. Diese Diskussion wollte er ganz und gar nicht führen. "Ah, wären Pralinen dir lieber gewesen?!" Roger schnarrte förmlich, zischte die Silben durch die Zähne. "Bist du echt auf diesen Romanzen-Scheiß so erpicht?! Hast diesen Blödsinn geglaubt?! Soll ich auch noch Grünzeug knicken, ja? 'Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken'? Die übrigens auch zum Teil aus Ausbeuterbetrieben stammen, um die halbe Welt geflogen werden?!" Völlig überfahren rutschte Ugo auch noch der Rucksack aus den Armen, plumpste vor seine Füße. Blumen? Pralinen? Endlich bequemte sich seine Auffassungsgabe, von der "Leitung" zu steigen, eine Schlussfolgerung zu ziehen. "...also...nein, das ist ein Missverständnis..." Versuchte er, eine Erklärung anzubringen. "Was ist bloß los mit dir?! Machst einen auf vernünftig, rational, empirisch und wissenschaftlich, kommst mit so einer gequirlten Kacke?! Seichte Scheiß-Storys für Gehirntote und Realitätsverweigerung! Genau deshalb hast du dich in die Scheiße geritten, wegen so brägenfreiem Blödsinn!" Roger packte Ugo an den Schultern, zerrte ihn von seinem Rucksack weg. "Lass los!" Protestierte Ugo, überraschte sich selbst, auch wenn seine Stimme schrill und panisch klang. "Leck mich! Du bleibst hier, klar?! Oder sollen alle mitkriegen, dass du idiotische Liebesromane geklaut hast?! Die sperren dich garantiert auf Lebzeiten aus der Bibliothek aus!" Ugo erbleichte. Von Diebstahl konnte zwar nicht die Rede sein, schließlich hatte er alle Leihbücher wieder zurückgebracht. Nur eben nicht auf seinem Lese-Konto gebucht. Weil er so schnell nicht mit dem Überfliegen der Handlung fertig wurde und die Bücher, die er kreativ in den Regalen "verstellt" hatte, dort plötzlich nicht mehr zu finden waren. Wenn seine Schandtat offengelegt wurde, mit Bild-Beweis, konnte eine lebenslange Sperre wegen wiederholter Verletzung der Nutzungsbedingungen durchaus die Konsequenz darstellen. Was sollte er tun? Von der verlorenen Ehre ganz abgesehen. Wenn seine Eltern auch involviert wurden, welche Schande sie ohne jedes Zutun erleiden würden! Wegen banalen Liebesromanen. "...was habe ich dir getan, dass du..." Es war heraus, bevor Ugo sich bremsen konnte, obwohl sein Puls schon raste, ihm vor Aufregung schwindlig wurde. "Du kotzt mich einfach an mit diesem Scheiß! Fällst auf diesen lächerlichen Kack rein, jammerst jetzt herum! Wie kann man so blöd sein und diese Lügen nicht durchschauen?! Wieso benimmst du dich wie der letzte Depp, obwohl dein Hirn noch arbeitet?! Scheiße, das regt mich so was von auf!" DAS war kaum zu überhören, auch wenn Ugo durch den harten Griff seine empfindlichen Ohren nicht mit den Händen abdecken konnte. Roger quetschte ihm fast die Oberarme ab, so fühlte es sich an. "Jeder Idiot schnallt, dass das alles Schwachsinns-Märchen sind, die uns konditionieren sollen! Du glaubst ja wohl auch nicht an sprechende Tiere und diesen Prinzessinnen-Disney-Scheiß, oder?! Das ist alles Gehirnwäsche! Hübsch Ordnung aufzwingen, damit man die hohle Masse besser kontrollieren kann! Man muss ja nur glauben, dass der Scheiß stimmt! Da hast du deinen Zucker, dein Opium! Praktischerweise bist du auch gleich schuld und unfähig, wenn du zweifelst oder es nicht so perfekt hinbekommst. Win-Win, feine Sache, alle haben sich lieb!" Roger offenkundig nicht, der Gift und Galle spie, nicht gerade leise. Ugo versuchte, sich aus dem harten Griff zu befreien. Was er verstanden hatte, war, dass Roger ihn für unzulänglich hielt und deshalb stinksauer war. Mutmaßlich fand auch der Rest der Welt vor ihm keine Gnade. "Das waren nur Recherchen." Setzte Ugo an, stemmte die Handflächen tollkühn gegen Rogers Brustkorb. Irgendwie musste er sich doch herauswinden können! "Was gibt's da groß zu recherchieren?! Wenn du nicht an den Scheiß glaubst, was versprichst du dir davon?! Selbst-Hypnose?! Ist doch Betrug! Der Zug ist abgefahren, kapier das endlich! Es gibt kein Happyend, kein 'und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende'! Nein, verdammt! Das ist hier ne kurze, einmalige Veranstaltung, grundsätzlich zum Nachteil von Natur und Universum. Keine Krönung, keine Bestleistungen, kein Nichts. Von wegen 'sapiens'! Nur ne miese Kopie, die sich was ohne jeden Grund einbildet. Sich jede Menge bombastische Lügenmärchen auftischt. Du willst da mitmachen?! Ist ja großartig! Klar, wenn's mal unangenehm wird mit der Wahrheit, verpisst sich die Analytik schnell!" Ugo schwirrte der Kopf. Er konnte Roger gar nicht folgen, der einen derart verbiesterten Ausdruck zur Schau stellte, dass sich einem die Haare aufrichteten! "Lass mich los!" Wiederholte Ugo, zappelte im festen Griff. "Ich denk nicht dran. Hättest eben keine blöden Liebesromane klauen sollen." Roger steuerte, Ugos Oberarme fest im Griff, das kleine Sofa unter dem Hochbett seines älteren Bruders an. Ugo drehte und wand sich wie ein Aal. In dieser Stimmung, aggressiv-zornig-abschätzig, wollte er nicht ausharren müssen, die Roger vielleicht zu entsprechendem Gebaren veranlasste! In höchster Not, auf das Sofa geplumpst, haschte Ugo nach einem der bunten Tücher, warf es Roger über den Kopf. Der fluchte, ließ ihn los, um das Hindernis zu entfernen. Das bot Ugo die Gelegenheit, aus dem Zimmer zu entwischen. Bevor er jedoch seine Schuhe erreichen konnte, hatte Roger ihn schon eingeholt, umklammerte ihn um die schlanken Hüften, lupfte ihn vom Fußboden. Ugo rangelte wild, brachte Roger dabei unerwartet aus dem Gleichgewicht. Der taumelte zwei Schritte rückwärts, gab Ugo nicht frei, schimpfte, stieß gegen eine Wand, an der sich unter anderem ein großer, schlanker Spiegel befand. Dessen fragile Balance er störte. Es regnete Scherben. Q~~~* Ugo rang pfeifend nach Luft, unerwartet auf allen Vieren gelandet. "Scheiße!" Hörte er Roger brüllen. Der ging auf die Knie, versuchte mit dem rechten Arm, seinen Rücken zu erreichen. Am nackten linken Arm lief ein blutiges Rinnsal herab, tropfte auf den Boden, der von unterschiedlich großen Scherben bedeckt war. "Scheiße, Scheiße, Scheiße!" Wiederholte Roger donnernd, atmete zischend zwischen den Zähnen hindurch. "...Entschuldigung..." Wisperte Ugo eingeschüchtert, dem bewusst wurde, dass er dieses Chaos und die Zerstörung ausgelöst hatte. Zumindest hälftig. "Kacke." Stellte Roger fest, gab das verbissene Verrenken auf, visierte Ugo an. "Wirf die Fackel an und schau nach." Ugo begriff nicht, kämpfte mit seinem Puls, weil Rogers Lautstärke ihn immer noch verschreckte. "Das Licht! Mach, verdammte Scheiße, das Licht an und schau nach, was mich getroffen hat!" Zusammenzuckend unter der wütenden Ausführung seiner Befehle schüttelte sich Ugo, kam wacklig auf die Füße, tastete zwischen allerlei Dekor nach einem Kippschalter. Unterdessen hatte Roger achtlos mit einer Hand Scherben weggewischt, um sich zu setzen. Ugo, der dessen nackten Rücken studieren sollte, keuchte. "Und?!" Hakte Roger ungnädig nach. "Da~da stecken...zwei Stück und...so ein Band...." Der Spiegel war massiv ausgeführt, mit Einlegearbeiten, die einzelne Partien mit dem Untergrund verbanden. Ganz und gar nicht zu vergleichen mit zerbrochenem Glas. Ein Schmuckband aus verschiedenen Legierungen hatte einen tiefen, blutigen Kratzer gezogen. "Toll. Scheiße." Stellte Roger fest, drehte sich leicht. "Kriegst du die Dinger raus?" Bleich schüttelte Ugo den Kopf. Die großen Spiegelscherben steckten wie Schrapnell fest, muteten wie bizarre Rückenschilder längst vergangener Dinosaurier an. Roger hob seinen linken Arm, beäugte die Blutspur. "Hol mir ein Handtuch." Ugo tapste, die Scherben vermeidend, eilig in das vollgestopfte Badezimmer, griff nach einem bunten Grubentuch. "Es tut mir leid." Das Handtuch um seinen linken Arm drapiert schnaubte Roger. "Mein Handy. In der Umhängetasche." Hastig bemühte sich Ugo, das Smartphone zu bergen und anzureichen. Roger blinzelte, funkelte grimmig, schaltete die Funktionen frei, wählte den Notruf an. "Notrufzentrale? Ja, guten Tag, ich hab einen Unfall erlitten, im Haus. Mir stecken Scherben im Rücken. Ich schaff es nicht bis zur Ambulanz. Moment, können Sie das wiederholen? Ich bin hörbehindert. Ja, meine Adresse... brauchen Sie gleich die Versichertenkarte?" Ugo lauschte mit wachsendem Unglauben. Roger hielt an sich, legte sich zwischenzeitlich den linken Arm über den Kopf, wohl, um den Blutfluss zu bremsen. "Ja, ich warte." Er schnaubte. "Lustig, was denken die, dass ich um den Block jogge und sie versetze?!" Er funkelte Ugo an. "Du verpisst dich jetzt." Ugo, dessen Magen rebellierte, schüttelte den Kopf, die Fäuste geballt. "Nein." Gewohnt finster, wenn auch etwas bleicher als gewohnt, funkelte Roger ihn an. "Die werden bestimmt das Martinshorn anwerfen! Extra laut, weil ich ja taub bin!" Kündigte er drohend an. Ugo reckte das Kinn. Selbstredend graute ihm vor dem Lärm, aber Roger in diesem Schlamassel zurücklassen, das stand nicht zur Debatte! "Verpiss dich!" "Nein." Roger knurrte, ließ den linken Arm sinken. "Scheiße." Er warf Ugo einen drohenden Blick zu, trat heftig in die Garderobe, sodass Schuhe, Taschen und Schirme durcheinander flogen. Prompt zuckte Ugo verschreckt zusammen. "Los, hol die verdammten Lätze. Lass mich reden, verstanden?!" Q~~~* Anders als vermutet ertönte kein Martinshorn. Ugo war ohnehin angespannt wie ein Flitzebogen. Artig maskiert öffnete er Haus- und Wohnungstür, ließ zwei entsprechend ausstaffierte Mitarbeitende eines Hilfsdienstes ein. Die kamen jedoch nicht allein, sondern in Begleitung einer Streifenwagenbesatzung. Was eindeutig zu viele Personen für den winzigen Flur darstellte. "Ugo, kannst du mal die Scheiß-Scherben wegkehren?" Entfernte Roger rücksichtslos Beteiligte vom Geschehen, präsentierte seinen gespickten Rücken und den linken Arm. "Uns wurde eine mögliche häusliche Auseinandersetzung gemeldet." Startete die Konversation mit der Streifenwagenbesatzung, die die Verarztung lieber aus dem Treppenhaus verfolgten. Ugo, der in der winzigen Küche eine Kehrschaufel samt Handfeger identifiziert hatte, musste ebenfalls dort warten. "Da hat wohl jemand Fehlalarm geschlagen." Grollte Roger, kauernd, weil es an die Schrapnell ging. "Ich bin über den Kram hier gestolpert und in den dämlichen Spiegel gefallen, nichts weiter. Hier steht eben immer zu viel Plunder herum." Man war nicht überzeugt. "Es wurde eine 'lautstarke' Auseinandersetzung gemeldet." Roger, der zischend das Entfernen der Splitter über sich ergehen ließ, knurrte. "Ich bin hörbehindert, taub, schwerhörig! Wenn die Dinger hier Aussetzer haben, spreche ich automatisch lauter." Ein kritischer Blick streifte Ugo. "Die laute Unterhaltung drehte sich um?" Roger, dessen Rückenpartie bestrichen und getackert wurde, zögerte nicht mal einen Wimpernschlag. "Nachhilfe. Wann, was und wie. Deshalb ist er hier." Sein Kinn wies auf Ugo, der ungläubig starrte, sich schwindlig fühlte. "Du hast nicht gesagt, du wärst allein zu Hause?" Roger schnaubte. "Ich wollte ihn heimschicken, weil er kein Blut sehen kann. Da wäre ich ja wohl allein, wenn Sie hier einrücken. Wir waren mit der Abstimmung schon beinahe durch." Die Inquisition hakte nach. "Aus welchem Grund bist du ohne Oberteil in den Spiegel gestolpert?" Demonstrativ verdrehte Roger die Augen, reichte gleichzeitig seine Versichertenkarte weiter. "Weil ich mich in der Mensa heute eingesaut habe. Da hab ich eben den Pulli gleich ausgezogen, wollte noch die Wäsche machen, wenn ich allein bin." Er knurrte. "Ich hatte jetzt keine Angst, er da könnte mir was weggucken." Seine gallige Ansprache beförderte eine Augenbraue Richtung Dienstmütze. Unterdessen rappelte sich Roger auf, stand inmitten der Scherben und des eintrocknenden Bluts. "Tja, Entschuldigung, dass Sie da extra herkommen müssen, weil hier im Haus jemand gern Kunstschaffende, Behinderte und Leute mit Migrationshintergrund rausekeln will!" Tönte er so laut, dass Ugo das Kehrbesteck polternd aus den Händen glitt. Roger, der so mühelos und ungeniert Lügenmärchen spann, schnaubte. "Ich sag ja, er kann kein Blut sehen." Q~~~* Ugo musste das Kehrbesteck aus der Sicherheit der Küche herausgeben. Unterdessen rüstete man sich zum Aufbruch. Er hörte die Streifenwagenbesatzung leise beim Abstieg sprechen. "Was für ein Zirkus, echt! Teenager und ihre Beziehungskisten! 'Nachhilfe', echt originell." "Ein Klassiker." Auch der Sanitätsdienst beendete seinen Einsatz. "Also, in zehn Tagen etwa nachschauen lassen, klar? Falls Fieber auftritt oder Rötungen, sofort in die Notaufnahme. Deine Eltern kommen doch noch, oder?" Roger nickte, kommentierte die laute Ansprache nicht mit einem Wimpernschlag. Offenbar vermutete man, dass ohne Sichtkontakt auf die Lippen, den OP-Masken geschuldet, mehr Dezibel bessere Kommunikation versprachen. "Danke. Schönen Abend noch." Wünschte Roger erstaunlich zivil, ließ die Wohnungseingangstür jedoch geöffnet. "Wenn ich den Mist hier gekehrt habe, holst du deinen Rucksack und verziehst dich." Ugo kämpfte gegen ein Schlottern der Erleichterung an. "Du willst den Bus nicht verpassen." Soufflierte Roger grimmig, füllte mit mehr Schwung als notwendig das Kehrblech. "Ich kann das tun, dein Rücken..." Bot Ugo hastig an. "Abmarsch. Oder ich schmeiß dich eigenhändig raus." Drohte Roger düster, schwenkte den Handfeger eindeutig mit der Rechten. Ugo huschte eilig in das kleine Zimmer, barg seinen Rucksack, schlüpfte in Schuhe und Winterkleidung und floh. Q~~~* Nein, von einer ruhigen Nacht konnte keine Rede sein. Ugo schlief schlecht, schreckte von eingebildeten Geräuschen hoch und erwachte, fühlte sich wie gerädert. Zweifellos hatte Roger Ärger mit seinen Eltern bekommen: der zerstörte Spiegel, die ärztliche Behandlung, die Polizeistreife. Ugo presste automatisch die Hände auf die Ohren: ER hatte Roger in diese Lage manövriert. Es wirkte jedoch dank der "alternativen" Erzählung ganz anders. Er konnte er sich einfach herauswinden, die Verantwortung fliehen. Tja, wenn die Analyse zu unangenehmen Konsequenzen führte...! Ugo erinnerte sich an Rogers zornige Tirade. Schon einmal war er so geflohen. Was die erste Katastrophe ausgelöst hatte. Was sollte er jetzt unternehmen? Wenn er seine Beteiligung eingestand, wurde Roger zum Lügenbaron. War das "besser"? Oder erleichterte er es sich selbst bloß, ohne Rücksicht auf andere? Ugo stöhnte leise, hätte sich am Liebsten wieder unter der Bettdecke verkrochen. Keine Option: seine Mutter erinnerte ihn mahnend ans Frühstück. Q~~~* Irgendwas stimmte nicht. Die Geräuschkulisse um Ugo schien stärker, lauter, aufgedrehter. Er hatte das Gefühl, als stünde er unter Beobachtung. Dabei war er doch nie von Interesse oder Bedeutung! Da konnte einem richtiggehend übel werden! Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, auf seine Turnschuhe konzentriert, bemühte er sich, das alles zu ignorieren. Spontan unsichtbar zu sein. Je mehr er sich anstrengte, seine Umgebung zu "überhören", umso vehementer nistete sich der Stress ein. Ihm war kalt, die verkrümmte Haltung schmerzte. In seinen Schläfen pochte es arhythmisch, das Atmen tat weh, klang wie Schluchzen. Ugo entschied, sich selbst vom Nachmittagsunterricht zu befreien. So elend, wie er sich fühlte, konnte er es ja kaum zum Bus schaffen! Wenn er ohnehin nichts herunterbrachte, konnte er die Mittagspause nutzen... Ein menschlicher "Pfropfen" im Gang, trotz der Richtungspfeile. "He, Phobikus, stimmt's? Dass Ferrero dich fickt?" Ugo traute seinen Ohren nicht, obwohl die ihn NIE im Stich ließen. Er erstarrte, rang nach Luft, saugte dabei die OP-Maske an. Das wiederum löste einen Würgereiz aus, Alarm im Oberstübchen. Sein ausgefranstes Nervenkostüm vermutete einen Erstickungstod, leitete drastische Gegenmaßnahmen ein. Flucht ging jedoch nicht, zu viele Menschen. Ugo hyperventilierte, taumelte, brach bewusstlos zusammen. Q~~~* "Scheiße, wenn ihr nicht helft, verpisst euch! Du Arsch hörst auf zu filmen!" Roger, lautstark, so aufgebracht wie immer. Die Maske war weg. Ugo registrierte Wärme, Druck um seine verkrampften Schultern. "Pack dein bekacktes Handy weg, du Wichser, oder ich stopf es dir in die Fresse!" Ugo versuchte, die Arme zu heben, um seine Ohren abzudecken. Ihm war kalt, er bemerkte ein Zittern. Prompt brach ihm kalter Schweiß aus. Sein Atem raspelte hektisch durch seine zusammengebissenen Zähne. Er keuchte in die warme Halsbeuge, schämte sich nicht für das asthmatische Schluchzen, das ihn durchschüttelte. Q~~~* Die Liege im Sanitätsraum, eigentlich eine Abstellkammer für Zubehör und Putzmittel, war hart und unbequem, das grüne Kunstleder kalt. Ugo wollte sich nicht ausstrecken, aber er fürchtete sich davor, beim Aufrichten erneut das Bewusstsein zu verlieren. Irgendwo klapperte etwas. Mit Verspätung erkannte Ugo, dass es seine eigenen Zähne waren. "Ich mess jetzt deinen Blutdruck, okay?" Ugo blinzelte. Sein linker Arm wurde gekapert, es piepte wiederholt, was ihn zusammenfahren ließ. "Dauert n Moment." Ein Stift kratzte über Papier. Ugo gelang es endlich, seine verklebten Wimpern ausreichend zu trennen. Er erkannte jedoch nicht sonderlich viel, weil seine Brille fehlte. "Hab's gleich, Protokoll, so, also Listenvergleich, hmm, Blutdruck zu niedrig. Ich sag im Sekretariat, die sollen deine Eltern anrufen." Bewegung, Abzupfen des Messgerätes von seinem Arm. "...Augenblick, bitte..." Da schlug schon lautstark die Feuerschutztür ins Schloss, was Ugo aufwimmern ließ. Q~~~* Ugo gelang es trotz seiner Angst vor einem Rückfall, in eine sitzende Position zu kommen. Nachdem sich sein Puls etwas gemäßigt hatte, blickte er sich suchend nach seiner Brille um. Ihn fror erbärmlich, sein Nacken war steif vor Anspannung. Keine Brille in Sicht. Ihm graute vor der Vorstellung, was seine Eltern wohl von dieser Entwicklung halten würden. Sekretariat! Da musste er hin. Sehr vorsichtig rutschte Ugo von der unbequemen Pritsche, stand, wenn auch wacklig, auf eigenen Füßen. Verunsichert durch die eher schemenhafte Sicht tastete er sich zur Tür. Mühsam glückte ihm das Aufstemmen. Er bewegte sich durch die freien Flure Richtung Sekretariat. Der Unterricht lief wohl schon. Ugo verzichtete auf eine Bestätigung durch den Blick auf die Armbanduhr. Er war schon damit ausgelastet, sich zu orientieren, mit einer Hand an der Wand langsam zu gehen. Endlich im Sekretariat schluckte er hoch quellende Galle mit Spülwasseraroma herunter. "He, ohne Maske...! Oh, du bist das. Setz dich und fall bloß nicht hier um!" Q~~~* Im Sekretariat fanden sich Brille und Rucksack. Außerdem bekam Ugo mit ausgestrecktem Arm eine neue Maske. Ihm trat kalter Schweiß auf die Stirn, doch es half nichts: aufsetzen! »Nur die Ruhe. Auf die Stille konzentrieren. Der Atem geht langsam.« Autogenes Training. Leider war die relative Ruhe rasch dahin. Die Telefonanlage lärmte. "Ah, ja, klar. Gut, sag ich ihm. Kein Problem." Ugo wickelte sich angestrengt in seine Winterjacke. Ihn fror erbärmlich. "Du, hör mal! Deine Mutter sagt, du sollst ein Taxi nehmen. Sie bestellt eins vor die Tür. Also geh besser schnell runter." Solcherart an die Luft gesetzt kämpfte sich Ugo, seinen Rucksack beinahe schleifend, vor das Schulgelände. Das georderte Taxi benötigte länger als erwartet. Wenigstens hatte seine Mutter bereits die Rechnung vorab beglichen, sodass Ugo nicht noch nach Geld oder seiner Debitkarte im Rucksack fahnden musste. Trotz gemächlicher Fahrt fühlte er Übelkeit aufsteigen. Er schleppte sich hoch in die Wohnung, streifte sich zitternd Schuhe und Jacke ab, verkroch sich in seinem Bett. Er verwünschte völlig zerschlagen seinen Versuch, diesem mörderischen Mysterium auf die Spur kommen zu wollen! Q~~~* Ugo befand sich in einem exponentiell expandierenden Dilemma: er musste seinen Eltern erklären, warum er zusammengebrochen war. Das wiederum gebot, die Ereignisse des gestrigen Tages zu gestehen. Allerdings, welche Version davon? Was konnte durch Gerüchte und Vermutungen schon kolportiert worden sein? Einem englischen Sprichwort zufolge hatte die Lüge schon die Welt umrundet, während sich die Wahrheit noch die Stiefel anzog. Sollte er nicht besser ganz reinen Tisch machen? Recht egoistisch und rücksichtslos, wenn man es genau betrachtete. Ugo kroch aus seiner Betthöhle in die feindliche Realität, um seinen Rucksack zu bergen. Eine Liste, Pro und Contra, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse! Als er seinen Rucksack öffnete, feixte ihm die psychedelisch verpackte Schokoladenhohlfigur entgegen. Nervös geworden leerte Ugo seinen Rucksack komplett aus. Es fanden sich jedoch keine weiteren Fremdkörper. Er konsultierte ahnungsvoll sein Mobiltelefon. Jeder Elternteil mit einer Mitteilung, man werde so rasch wie möglich nach Hause kommen. Eine E-Mail von Roger: [Halt dich an die Absprache. Hab den Speicher gelöscht.] Q~~~* Ugo wusste, dass er beim Abendessen weniger klapprig, bleich und mitgenommen aussah als einige Stunden zuvor. Gestärkt, glücklicherweise blieb die Nahrung, wo sie verarbeitet werden sollte, konnte er sich der Erklärung widmen. Ein dummes Gerücht wegen des Unfalls am Vortag. Er habe den Vorfall nicht erwähnen wollen, da es ja eigentlich nur um eine mögliche Nachhilfe gehen sollte, es dem anderen Jungen unangenehm war. Das verstanden seine Eltern. Nach ihrem Eindruck musste die Bude dort die reinste Räuberhöhle sein! Wenn man da vor lauter Zeug über die eigenen Füße fiel! Dass Ugo in einer Rangelei einen Teil der Verantwortung trug, kam ihnen gar nicht in den Sinn. Sie begrüßten seine Hilfsbereitschaft, erlegten ihm streng auf, sich nicht zu übernehmen. Vor allem nicht, wenn der Begünstigte laut wurde, weil seine Hilfsmittel versagten! Man konnte Solidarität auch übertreiben. Ugo wand sich innerlich. Dieses Lügengespinst ließ ihn viel zu gut, zu edel dastehen. Aber Roger hatte schließlich...! Seine Verfehlungen getarnt, Unmut auf sich selbst gelenkt, die Schuld auf sich genommen. Obwohl er ihn mit seiner Lektüre doch wohl erheblich verärgert oder enttäuscht hatte? Wieso? Eine verwirrende Lage. Der offenkundig ständig zornige, grimmige, in Harnisch gebrachte Roger störte sich daran, dass Ugo ein Dummkopf wurde, weil er heimlich Liebesromane las, um doch noch zu begreifen, irgendwie zu erhaschen, was sich ihm nicht erschließen wollte? "Ich verstehe das nicht." Bekannte Ugo vor sich selbst, sicher in seinem Bett, warm eingewickelt. Wenn Roger über ihn zornig oder enttäuscht war, wie passte das zu seinen Aktionen? Warum wollte er Sex mit ausgerechnet Ugos Beteiligung? Funktionierte DAS besser, wenn man verärgert war? Oder stellte er mal wieder, auf diesem heimtückisch-trügerischen Gelände, falsche Zusammenhänge her? Hatte das eine Tun mit dem anderen keine Verbindung, keine gemeinsame Motivation? Ugo seufzte kläglich. Obwohl es um ihn herum so angenehm ruhig war, verwirrten sich seine Gedanken wie bei einem Hardrock-Konzert! Q~~~* Ugo graute vor dem nächsten Schultag. Allerdings musste er sich der Realität stellen. Man konnte sich nicht ewig im Bett (oder einem Schrank) verschanzen. Außerdem hatte er ja seine Ohrstöpsel, nicht wahr? Für den Notfall. Erstaunlicherweise schien jedoch das Interesse an seiner Person erheblich nachgelassen zu haben. Wenn man tuschelte, nur noch moderat. Die Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf mobile Displays, wo die Daumen in Hochgeschwindigkeit Buchstaben nagelten. Ugo fokussierte sich auf die zahlreichen Tests, Übungen und Aufgaben. Nicht die Übersicht verlieren, immer die richtige Distanz einhalten, analytisch vorgehen! So konnte man auch diese letzten Tage vor den Winterferien überstehen. Q~~~* Am Freitag reduzierte sich der Unterricht für alle Stufen auf drei Stunden. Für Ugo keine Frage, sich wie ein Lemming in den Strudel zu stürzen. Nein, sorgsam wartete er den Sturm ab, verließ möglichst spät das Schulgelände, steuerte die Bibliothek an. Zum Rucksack hatte er noch eine Tragetasche, um sich mit viel Lektüre zu versorgen. Auf keinen Fall mehr Romanzen, so viel stand fest! Wie auch immer das Geheimnis dieser ominösen Anziehungskraft beschaffen war: die Erforschung lag auf Eis. Mühevoll einen Stapel ausbalancierend stapfte Ugo durch die Gänge. Manche Sachbücher waren sehr gefragt. Er musste sich auf verfügbare Alternativen beschränken. "Nimm das hier." Hätte Roger nicht blitzartig zugepackt, wäre der gesamte Stapel polternd zu Boden gegangen. Er schnaubte, während Ugo keuchend nach Luft rang. "Sind meine Lausch-o-maten schon wieder hin, oder bist du bloß n Panickel?!" Knurrte er übellaunig, einen Taschenbuchband ergänzend. Ugo balancierte seine Last aus, zögerte. "Danke. Tut mir leid. Ich hoffe, die Verletzungen sind nicht schlimmer geworden." Brachte er nervös heraus. Roger funkelte ihn grimmig an. "Jetzt, wo du es sagst: wahrscheinlich läuft mir gerade rote Soße den Buckel runter. Und, verdammte Hacke, ich hab keinen Knoblauch gefrühstückt! Wenn du jetzt noch Sternzeichen Jungfrau bist..." Ugo sackte trotz Maske die Kinnlade tiefer. Einen halben Kopf höher verdrehte Roger die schwarzen Augen demonstrativ. "Scheiße, noch nie von Neo-Vampiren gehört? Oder willst du dir den Bären nicht auch noch aufbinden?" Verunsichert wich Ugo einige Schritte zurück. "Ich verstehe nicht..." Haspelte er gedämpft heraus. Sie befanden schließlich sich in der Bibliothek! "Scheiße, du schaffst mich!" Stellte Roger ärgerlich fest. "Ich bitte mir Ruhe aus!" Wurden sie nun auch noch von einer Beschäftigten ermahnt, die Roger in den Fokus nahm. "Exkrement!" Fauchte der, packte Ugo am Hemdkragen, beförderte ihn zur Ausleihtheke. "Los, sack das Zeug ein. Hier kann man nicht reden." Was er offenbar zu Ugos Erschrecken beabsichtigte. Q~~~* Roger kaperte Ugos Tragetasche mit den Leihbüchern. Flucht war demnach zwecklos. Rücksichtslos zerrte Roger ihn am Gurt des Rucksacks mit sich, stieß ihn auf einen freien Klappstuhl, draußen unbesetzt. Bei Nieselregen nicht weiter verwunderlich. "Bleib hocken. Wag ja nicht abzuhauen!" Drohte Roger finster, ließ Ugo samt Rucksack und Tragetasche vor einer Bäckerei-Filiale allein. Ugo seufzte, zog den Kopf zwischen die Schultern. Zwischenzeitlich, als sich seine Nervosität durch die trügerische Ruhe reduziert hatte, war auch Erkenntnis eingetrudelt. Rote Soße, richtig, Blut. Knoblauch, genau, Vampire... Aber diese Jungfern-/Jungfrauen-Sache erschien ihm immer noch haltlos. Von Sternzeichen war dabei gar keine Rede gewesen, oder? Immerhin sah man ja die Sternenkonstellation bei Geburt niemandem an, andere, angebliche "Zustände" im Erfahrungshorizont jedoch auch nicht. »Oh.« Schlussfolgerte Ugo geknickt. Das passte zu dem übellaunigen, ungnädigen, kritischen Roger, der offenbar für Fiktion nicht sonderlich viel übrig hatte. Von bissigen Kommentaren mal abgesehen. Vor ihm materialisierte sich ein hoher Becher. "Genau, scheiß auf die Umwelt und den Regenwald." Fauchte Roger, faltete sich mit einem Pendant auf einen anderen Klappstuhl. "Natürlich beschichtet, damit die Schokolade nicht raus tropft. Verdammt sei das Karma, es ist ZUCKER drin! Karamell! Kakaobohnen! Sojamilch, um die heimische Wirtschaft zugrunde zu richten und den Viechern ihr Futter zu stehlen!" Schnaubte Roger, funkelte ihn kriegerisch an. Ugo blinzelte, zupfte die Maske tief, weil er durch die teils benieselten, teils angelaufenen Brillengläser kaum noch etwas erkannte. "Danke schön." Wisperte er kleinmütig. Roger knurrte kehlig. "Da nicht für. Ich provoziere gern Komplizenschaft und ein schlechtes Gewissen." Vorsichtig nippte Ugo an der sündigen Mischung. "Es tut mir leid, dein Rücken und der Spiegel..." Wagte er erneut einen Anlauf. Roger brummte bloß verächtlich. "Hast du die blöden Romane aufgegeben?" Ugo senkte den Kopf, den wohlig-warmen Becher umklammernd. "Das war nur..., ich wollte bloß..." Stammelte er kaum hörbar. Ruckartig wurde sein Kopf in den Nacken bewegt, beschleunigt von Rogers Griff um sein Kinn. "He, sag ich nicht, du sollst mir ins Gesicht sehen?! Schon vergessen, dass ich taub bin?" Erstaunlicherweise erfolgte diese grobe Aufforderung jedoch in gemäßigter Lautstärke. Ugo blinzelte verschreckt. Roger nahm einen Schluck, visierte ihn tadelnd an. "Also?!" Forderte er arrogant eine Antwort. Automatisch zog Ugo den Kopf zwischen die Schultern. "Ich wollte nur verstehen, wie das funktioniert." Murmelte er schließlich beschämt, schrumpfte in sich selbst. "Pff! Biologie, Anatomie, Mechanik, dynamische Prozesse... Bist du blöd?" Erkundigte sich Roger grimmig. Das forderte Ugo nun doch heraus. "Nicht den~den physischen Part! Die anderen Aspekte!" Konterte er aufgebracht. "Aha? Was wären die wohl, hm? Geld, Einfluss, gesellschaftliche Erwartungshaltung, Mangel an Alternativen, grunddämliche Vorstellungen..." Zählte Roger genüsslich auf, bereits auf dem Kriegspfad. "Das weiß ich ja gerade nicht!" Feuerte Ugo zurück, schniefte, schob die Brille höher auf den Nasenrücken. "Irgendwas MUSS doch da sein, sonst...!" "Sonst wäre das ganze Konstrukt nicht mehr als eine kollektive Illusion? Eine imaginäre Wunschvorstellung, die WEM genau nützt?" Grätschte Roger mit diabolischem Vergnügen hinein. Ugo sackte nach diesem ungewohnten Ausbruch von Agitation in sich zusammen. "Ja, also..." Roger schlürfte hörbar einen großen Schluck. "Aha. Willkommen in der realen Welt. Hake den Scheiß ab. Ist nichts weiter als eine der unzähligen Lügen zum Selbstbescheißen von Homo sapiens. Die überragende Säugetierart, die es beherrscht, sich jeden Blödsinn einzubilden. Schon toll, wozu man den glibbrigen Schwamm hier oben nutzen kann." Ugo starrte zu Roger hinüber. Der klang gewohnt sarkastisch, aber keineswegs so, als scherze er. Sich straffend feuchtete Ugo seine Kehle an. Offenkundig verachtete Roger Menschen grundsätzlich. Warum hatte er sich aber ihn herausgepickt? In der vagen Sicherheit, dass Roger behauptet hatte, die Beweisaufnahmen seien vom Speicher gelöscht, entschied Ugo, einen Ausfall zu wagen. "Du magst Menschen wohl nicht sonderlich, oder? Was habe ich dir denn so besonders Schlimmes getan?" Abgesehen von der heimlichen, nicht nutzungsordnungskonformen Lektüre von Liebesromanen. Roger schnaubte. "Korrekt, ich finde Menschen generell beschissen. Mich eingeschlossen. Was soll daran so toll sein, diese Welt wie eine Pestbeule zu verseuchen? Wir halten uns alle für so clever, so besonders, so herausragend. Das ist Blödsinn. Nichts als Täuschung." Er knurrte grimmig. "Oh, wir fliegen zum Mond, bauen Wolkenkratzer, versauen in kürzester Zeit das Klima! Jedes Mal kommt ein Konter, was irgendein Homo sapiens aber GANZ GENIAL geschaffen hat! Wie erfindungsreich und künstlerisch begabt und schlau wir doch sind." Ein abschätziges Winken, ein weiterer Schluck aus dem sich rasch leerenden Becher. "Das ist eine der großen Lügen. WIR haben nichts erfunden, sondern lediglich kopiert. WIR haben nichts geschaffen, bloß in Bruchstücken ein wenig ermittelt, wie MANCHE Dinge funktionieren. Weil UNSER Maßstab der wesentliche für alles ist, machen wir uns vor, wir wären die Spitze der Evolution, die Krönung, der Gipfel. Alle unsere angeblichen Rekorde und herausragenden Leistungen, die können Tiere, Pflanzen, andere Geschöpfe locker übertreffen. Musik ist aber, wenn WIR Geräusche produzieren. Kunst ist, wenn WIR etwas gestalten, obwohl wir dabei doch nur kopieren, was uns umgibt. WIR denken, alles hier sei UNSERE Bühne, dabei sind wir absolut überflüssig und definitiv verzichtbar. Die Welt wäre vermutlich nicht besser, wenn wir alle begreifen und verinnerlichen würden, dass wir nur eine Fußnote sind und bleiben. Aber, Scheiße, MIR wäre das schon ein Fest!" Ugo betrachtete Roger schweigend. Dass der seine zweite Frage nicht beantwortet hatte, ließ er dabei nicht außen vor. "Bist du immer so wütend?" Wagte er sich auf vermintes Gelände. Roger grollte. "Ist mein natürlicher Aggregatzustand. Ändert selbstredend nichts, aber wie soll man sich sonst amüsieren? Könnte einem auch alles scheiß-egal sein, stimmt." Sicherheitshalber hätte man es damit auf sich beruhen lassen können. Ugo, aufgewärmt, in einer erträglichen Distanz zu Lärmquellen, arbeitete seine "innere" Liste kontinuierlich ab. "Wieso bist du auf mich besonders wütend?" Immerhin lasen unzählige Leute Liebesromane, verfassten sie, verfilmten sie! Prompt verfinsterte sich Rogers Miene. "Weil du eigentlich nen halbwegs intelligenten Eindruck machst! Und dann so beknackte Scheiß-Romane liest!" Ugo ballte die Fäuste. "Warum kümmere ICH dich?" Hakte er beharrlich nach, ein wenig atemlos. Roger knurrte, setzte sich aufrechter. "Tja, mir geht eben einer ab, wenn ich dich sehe. Dummerweise hatte ich gehofft, du wärst als Person für mich mehr als ne Wichs-Vorlage." Q~~~* Dunkelrot sortierte Ugo das Gehörte, dankbar, dass Roger sogar finster flüstern konnte. Der lehnte sich zurück, schnaubte. "Keine Angst. Meine Altvorderen haben schon dafür gesorgt, dass ich anderweitig beschäftigt bin. Schulpraktikum bei der Straßenreinigung, um meinen Grund-Hass auszutrocknen, selbstverständlich. 'Weil meine Existenz ein Geschenk ist, die Wunder dieser Welt zu erfahren.'" Der letzte Satz erklang in einem salbungsvollen Zwitschern. Roger brummte verschnupft. "Wird natürlich nicht funktionieren, aber was soll's. Erspart mir den Familien-Zirkus. Könnte ja sein, dass ich sogar Talent beweise." Fast boshaft funkelte er zu Ugo herüber, der sich nicht mehr wie eine reife Tomate fühlte. "Leider nichts für dich. Die haben SEHR laute Laubbläser und diese lärmenden Kehrmaschinen! Dauernd blinkt und rumpelt und rappelt was!" Ugo reckte das Kinn. "Ich dachte auch eher an die Finanzverwaltung." Versuchte er, einen hochnäsigen Gegenangriff zu fahren. Roger musterte ihn kritisch. "Das klingt vernünftig. Irgendwas muss man ja machen. Um sich den ganzen Kram auszudenken, muss man wohl das Hirn ordentlich mit Gespinsten füllen, zumindest, solange wir nicht auf Bierdeckel ausweichen. Jemand muss ja die Illusion von Umverteilung für soziale Gerechtigkeit organisieren." Ugo merkte, wie ihm der Unterkiefer herabsackte. "Was?!" Ätzte Roger prompt. Automatisch schreckte Ugo zurück, hob die Hände auf die Ohren, ein nie gänzlich zu unterdrückender Reflex. "Komm mir bloß nicht mit 'Wut-Bürger-Sternchen-in'! Ich hab nie behauptet, ich könnte es besser oder hätte DIE Lösung!" Er fauchte, zerdrückte den beschichteten Pappbecher. "Fakt: Homo sapiens stellt sich selbst immer an die erste Stelle. Alles ist immer eine Nutzen-Kosten-Erwägung, auch wenn Homo sapiens das GERN hinter irgendwelchen Märchen und Rechtfertigungen versteckt. Großes Kino-hässliche, banale, niedrige Beweggründe. Nur die Variante der Inszenierung unterscheidet sich." Ugo, der sich wieder gefangen hatte, fragte sich, ob Roger jemals heiter war, sich freute, lachte. Nicht nur, wenn seine Verachtung für die menschliche Population mal wieder Nachschub bekam. Offenbar dauerte seine innerliche Retrospektive etwas zu lange. Ein Turnschuh tippte seinen unter dem Klapptisch an. "Zunge verschluckt? Gehirn abgestürzt?" Mutmaßte Roger grimmig. Seinen Becher geleert blinzelte Ugo Nieselregentropfen aus den Wimpern. "Ist es nicht anstrengend, ständig so wütend zu sein?" Wenn Roger die nächste Zeit unter strenger Elternaufsicht stand, konnte man sich auch mal aus dem Schneckenhaus wagen, oder? "Pff!" Schnaubte der. "Jahrelange Übung, tägliches Training, funktioniert selbst im Schlaf!" Er erhob sich, nahm nicht nur den eigenen, zerdrückten Becher, sondern auch seine Umhängetasche und Ugos Tragetasche. Nervös folgte Ugo seinem Beispiel, entsorgte auch seinen Becher in dem großen Müllcontainer. "Kann ich jetzt bitte meine Tasche bekommen?" Erkundigte er sich angespannt. "Nö." "Aber..." Roger marschierte voran, Richtung Bushaltestelle. "Ich verstehe nicht..." Hastete Ugo hinter ihm her, in der Sicht durch die betropften Brillengläser im Nachteil. "Ja, DAS ist mir schon öfter aufgefallen." Ätzte Roger, wandte sich halb herum, um Ugos Rucksackgurt zu kapern. "Los, Tempo!" Der Bus näherte sich schon. Q~~~* Im Bus, artig maskiert, herrschte Schweigen. Das gab Ugo die Gelegenheit, einige Fehleinschätzungen zu korrigieren. Die Sicherheit, in der er sich wegen des letzten Schultags wähnte, war trügerisch. Wie sich nun herausstellte, auch noch falsch. Wenn er jetzt den Zutritt zur Wohnung verweigerte? Immerhin gab es keine Bilder mehr, die seine Verfehlung bewiesen. WENN Roger ihn darüber nicht auch ungeniert angelogen hatte. Dass der sich in Märchenstunden wie Baron Münchhausen aufführten konnte, hatte er ja aus nächster Nähe selbst erlebt! Also, nach dem Aussteigen aus dem Bus, was tun? Sich hinstellen und nicht mehr vom Fleck rühren? Mit der Polizei drohen? Weglaufen, sich irgendwo verstecken? »Nicht praktikabel.« Urteilte sein Verstand gnadenlos. Außerdem wandelte sich der Nieselvorhang so langsam in richtigen Regen. Bevor ihm ein gangbarer Ausweg eingefallen war, der sich auch mit seiner zögerlichen Reaktion vereinbaren ließ, hatte Roger ihn schon aus dem Bus expediert. "Warum...?" Nahm Ugo Anlauf, klemmte die Maske unter sein Kinn. "Nachhilfe." Bellte Roger kurzangebunden. "Aber du hast doch die Bilder gelöscht!" Begehrte Ugo auf, leicht außer Atem, weil Roger ein flottes Schritttempo vorlegte. "Ah, und da meinst du, du stehst bei mir nicht mehr in der Kreide? Keine Schuldgefühle? Keine Verantwortung?" Eine Mischung aus bitterböse und zuckersüß im Tonfall. Bevor Ugo darauf antworten konnte, schnappte sich Roger den Rucksackgurt, zerrte ihn im Laufschritt hinter sich her. Q~~~* Sie waren nass, Ugo für seinen Teil auch ausgekühlt, trotz des Sprints, den er nicht gewöhnt war. Er fühlte sich deshalb schwindlig. Selbstherrlich deponierte Roger nicht nur Tragetasche, Rucksack und seine Umhängetasche, sondern strippte Ugo noch im Flur. Der wollte sich wehren, doch perfid packte Roger da zu, wo keine Unterwäsche mehr textile Schutzhülle bot. "Ins Bad. Sonst fang ich an zu singen!" Perplex ob dieser neuen Drohung zögerte Ugo, sich irgendwie zur Wehr zu setzen. Außerdem, was hätte er auch unternehmen sollen? Sodass er mal wieder hinter dem Duschvorhang stand, eingeseift, geküsst und manuell befriedigt wurde, bis ihm die Knie zitterten. Q~~~* Abtrocknen ja, anziehen nein. Den nicht angerührten Weihnachts-Was-auch-immer im psychedelischen Gewand entpuppt holte Roger die Schokoladen-Ouvertüre nach. In Ugos Bett, der sich nicht wehrte, noch benommen war, die Wärme suchte, die das Duschen lediglich kurz gespendet hatte. Außerdem, wie er beiläufig registrierte, lagen Rogers Hörgeräte noch im Bad. Dessen Ohrmuscheln waren frei, sodass sich Konversation wohl auch ausschloss. Q~~~* Mühsam lupfte Ugo die Unterarme, drückte die Handflächen gegen Rogers Brustkorb. "Ich kann nicht mehr." Krächzte er, obwohl Roger ihn vermutlich "überhören" würde, wenn es ihm beliebte. Die beiden vorherigen "Nachhilfe-Stunden" hatten zwei "Durchgänge" vorgesehen. Nicht, dass der offenkundig SEHR virile Roger erprobte, wie häufig nacheinander die Pubertät "hervorstechende Eigenschaften" unterstützte! Ein energischer Griff unter sein Kinn. Die letzten Schokoladenreste waren längst verteilt, vertilgt, verschluckt, trotzdem küsste Roger ihn immer wieder so aufreizend, beinahe, als könne er ihn auch verschlingen. Ugo vernahm einen unartikulierten Laut, als er zurück auf die Matratze sackte. Unerwartet erhob sich Roger, zupfte lässig die Decke zurecht. Einige Augenblicke später, die Ugo dazu nutzte, nicht mehr ermattet zu schnaufen, sich die Augen zu wischen, kroch Roger wieder zu ihm. "Ein-Weg-Konversation ist schlecht, wenn du mir nicht 'alle Wünsche von den Augen abliest'." Es sollte wohl eine ironische Anspielung auf Liebes-Floskeln sein. Bei Roger klang es, nun wieder mit Hörgeräten, sarkastisch. "Bitte, ich kann nicht mehr." Plädierte Ugo leise, vermisste seine Brille. Die Unschärfe half ihm wirklich nicht dabei, Roger richtig einzuschätzen. "Tsktsk!" Tadelte der, hievte Ugo mühelos in eine sitzende Haltung. "Ist wahrscheinlich der Zucker! Das ganze, Bewusstsein trübende Gift! Gib's ruhig zu, Koffein im Kaffee, Kekse und, oh, Kartoffelchips! Obwohl du nicht fett genug bist." Eine große Hand glitt kritisch über Ugos Brustkorb und seinen Rücken, als wäre sie dort zum ersten Mal unterwegs. "Ich~ich esse gar keine Kartoffelchips." Wagte Ugo verwirrt Widerspruch. "Aber du 'hast nichts gegen Schokolade', hast du selbst gesagt! Das wird es sein, das perfekte Verhältnis zwischen Fett, Salz und Zucker!" Roger knurrte bedrohlich, zog Ugo einfach auf seine gekreuzten Beine. "Nicht!" Protestierte Ugo reflexartig. Diese Art Nähe pflegte in gemeinschaftliches "Palmwedelhobeln" zu münden. Roger musterte ihn kurz, küsste ihn ausgiebig und speichelfeucht. "Na, tatsächlich, kein Ständer mehr." Konstatierte er spöttisch, kraulte durch Ugos feuchte Löckchen. Erschöpft, überfahren und verwirrt begannen Ugo, Tränen zu laufen. Er schniefte, drehte den Kopf weg, wienerte mit den Handrücken über seine Wangen. "He, ein bisschen Kompensation stand mir zu! Kein Grund, jetzt zu heulen." Grollte Roger. Ugo schluchzte aufgebracht, weil ihn seine Kondition im Stich ließ, er weder ein noch aus wusste. "Ich~ich verstehe das nicht! Zucker und Schokolade und Koffein!" Ließ er Roger abgehackt wissen, die Sicht verschleiert, die Fäuste geballt. Ein ungewohntes Geräusch ertönte: Roger lachte, kurz, ein bisschen rau. "Noch ne Bildungslücke? Da tun sich ja Abgründe auf!" Verspottete er Ugo, der verblüfft blinzelte, sofort an den Schultern auf die Matratze gedrückt wurde. Roger zupfte die Decke zurecht, streckte sich neben ihm aus, das Kinn in eine Hand gestützt. Um ihn bei der Unterhaltung ansehen zu können, vermutete Ugo, der das erschrockene Japsen einstellte. "Na schön. Straight edge, schon mal gehört? Nein? Na, kein Wunder, war vor deiner Zeit." Etwas eingeschnappt erwog Ugo zu retournieren, dass es dann ja wohl auch vor Rogers "Zeit" gewesen sein musste! "Nach Lesart meiner Eltern, die auch bloß so ne Art Revival mitbekommen haben: keine Drogen, keine Rauschmittel, nichts, was das Bewusstsein trüben könnte, also Alkohol, Nikotin, Trips, aber eben auch der Erzfeind Zucker, respektive der 'un-natürliche' Zucker! Zurückhaltung beim Sex, kein 'Industrie-Futter', keine Wasserpfeife, kein Koffein. Das Hirn muss immer klar sein, damit es die Welt richtig wahrnimmt, sich für sie öffnet, sich mit ihr verbindet." Roger schnaubte verächtlich. "Dieser verdrehte Ansatz, radikal alles zu vermeiden, was angeblich das Bewusstsein beeinflusst, das ist IHR Klebstoff. Eine gemeinsame 'Weltanschauung', Ersatz-Religion, wie auch immer. In sich selbstredend nicht konsistent, zum Teil grauenerregend unlogisch und von dämlichen Dogmen gelenkt." Ugo blinzelte. "'Klare Kante', saubere Trennung, ha! Wenn man sich allerdings nicht strikt daran hält, wird man so wie ich. Blind für die Wunder des Daseins, nicht eins mit sich oder mit anderen oder dem Universum." Führte Roger grimmig aus, schnaubte. "Obwohl ich natürlich die freie Entscheidung habe, ihrem 'Weg' zu folgen." Er knurrte. "Ausgenommen meine Vorliebe für all diese verfluchten Rauschgifte wie Schokolade, Karamell-Kaffee, Bonbons..." Ugo runzelte die Stirn. "Augenblick, bitte. Wie kann es sein, wenn du auch nicht SO lebst, dass ICH daran Schuld bin, dass..ich meine...?" Er errötete heftig, als ihm klar wurde, dass er nun direkt aussprechen musste, also, ahumm! Roger legte die freie Hand einfach auf Ugos Schritt. "Aha, dein Gehirn hat die Arbeit wieder aufgenommen. Exzellent. Schätze, ich bin einfach notgeiler als du. Daran liegt's." Erläuterte er unerwartet schnörkellos. Ugo schob behutsam die große, angenehm warme, aber doch beschämend platzierte Hand höher, auf seinen Bauch. "Du glaubst also nicht, dass Schokolade..? Ich meine, eine aphrodisierende Wirkung, das stimmt ja nicht." Roger löste das Kinn von seiner Hand, beugte sich über Ugo, küsste ihn intensiv, richtete sich wieder bequem neben ihm ein, auf der Seite lagernd. "Das ist, zumindest so, wie ich Schokolade mag, natürlich Nonsens. Ist bloß mein Fetisch, macht mich geil. Solange du nicht allergisch bist, auch kein Problem, korrekt?" Ugo starrte Roger an. Erzählte der ihm gerade, dass es ihn erregte, mit ihm schokoladenverschmiert Sex zu haben? Einfach so?! Wurde nicht mal rot oder verlegen oder verdruckst?! Unterdessen stemmte Roger sich hoch und verließ das Bett. »Toilettengang?« Vermutete Ugo, sortierte die letzten Enthüllung hastig. Dieser Roger hatte doch nicht mehr alle Latten am Zaun! Man beschloss doch nicht so einfach, mit irgendwem Sex zu haben, ohne begleitende Umstände wie...wie...! Ugo rappelte sich auf in eine sitzende Haltung, rieb sich die Schläfen. Tappte er da gerade in die "Lügen"-Falle der Liebesromane? Wo physische Interaktionen nur im Kontext mit anderen Beziehungskonstellationen überhaupt denkbar waren? Er schreckte auf, als Roger sein Zimmer betrat, bewaffnet mit Handtuch und Waschlappen. "...aber..." "Wasser sparen, Mikrobiom auf der Haut schützen." Bellte Roger, während er Ugo wie ein Kleinkind ablederte und -tupfte, ihn dabei herrisch dirigierte. "Zieh dir jetzt besser was über und leg dich hin. Wirkst ein bisschen matt." Kommandierte er, las auch noch die benutzten Papiertaschentücher auf! "Ich hab mich wohl verhört?!" Empörte sich Ugo. Das war ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit! Roger bleckte die Zähne. "Oh, oh, und jetzt auch noch soziale Aneignung! Nur die richtig Hörbehinderten dürfen den Satz uneingeschränkt gebrauchen!" Grollte er grimmig, bereits in Richtung Badezimmer unterwegs, Handtuch und Waschlappen apportierend. Ugo, der sich eilig bekleidete, schimpfte unterdrückt vor sich hin. "'Soziale Aneignung', stimmt nicht! So ein Unsinn!" Als Roger zurückkehrte, seine eigenen Klamotten ansteuerte, adressierte Ugo ihn ärgerlich. "Das ist Quatsch, mit der Aneignung! Ich bin nur so geschafft, weil DU...! Außerdem~außerdem glaube ich, dass DU die Bücher verstellt hast!" Die er selbst zuerst kreativ "verteilt" hatte, um zu verhindern, dass sie entliehen wurden, bevor er sie beendet hatte. Roger, der ungerührt flink in Unterhose und Jeans stieg, streifte sich den Kapuzenpullover über. "Verblüffend, bist du erst jetzt dahinter gekommen?" Spottete er, wirkte gefährlich heiter, nicht verärgert, aufgebracht oder per se pinselig. Ugo ballte die Fäuste, keuchte vor Empörung. "Aber...wieso...?!" Setzte er zornig an. Unvermittelt stieß Roger ihn vor die Brust, kräftig genug, dass Ugo das Gleichgewicht verlor, auf sein Bett fiel. "Unter die Decke. Den Grund hab ich dir schon mehrfach gesagt, wäre also reizend, wenn du ihn mal behalten würdest." Ätzte Roger, wickelte Ugo einfach ein. "Das~das ist doch kein Grund! Niemand macht so was, um, um Sex zu haben!" Feuerte Ugo trotz eines Anflugs von Scham heraus. Roger schnalzte abschätzig mit der Zunge. "Niemand ist schon mathematisch falsch, weil ICH es getan habe. Außerdem ist die Dunkelziffer vermutlich recht hoch, auch ohne empirische Erhebung. Zudem hat's funktioniert, was die Theorie zur Praxis macht. Quod est demonstrandum." Nachdem Ugo mühsam seine Arme unter der Decke exiliert hatte, packte er sein Kopfkissen, schleuderte es nach Roger. "Du~du bist ganz unerträglich! Und ein Lügner! Und~und ich will das nicht mehr, hörst du?!" Das Kissen aufklaubend seufzte Roger betont enerviert. "Ich hab DICH nicht ein Mal angelogen. Du hast bloß Schiss, aus der Analyse die Konsequenzen zu ziehen. Hör endlich auf, dich in bescheuerten Illusionen zu verlieren. 'Genieße das Einssein mit der Welt ohne getrübtes Bewusstsein'!" Skandierte Roger salbungsvoll, warf das Kopfkissen in einem leichten Bogen zurück, sodass es selbst Ugo, unsportlich und ohne Brille, auffangen konnte. "Jetzt zähl Schäfchen. Bis dann." Bevor Ugo eine passende Erwiderung einfiel, hatte Roger die Zimmertür geschlossen. Wenige Momente später rastete auch die Wohnungseingangstür ein. Q~~~* Obgleich Ugo diese unverschämte Selbstgerechtigkeit nahezu unerträglich empörte, leistete er sich ein ausgedehntes Nickerchen. Oder kam vielmehr nicht gegen das Votum seines allzu animalischen "Parts" an, der nicht bloß Gehäuse für den Geist sein wollte und ansonsten ignoriert werden! Ein Blick auf die gefüllte Tragetasche tröstete Ugo. Lektüre, Abstand, Ferien! Ruhe, Frieden! Der Frieden hielt zu seinem Bedauern nicht lange vor. Sein nervöses Katastrophenvorwarnzentrum schlug nämlich Alarm bei der beiläufigen Erkundigung seiner Mutter, wobei er Nachhilfe zu geben gedenke. Ugo stotterte etwas Unverbindliches, hoffte flehentlich, es würde nicht nachgehakt werden. Zum Lügen fehlte ihm die notwendige Kaltblütigkeit! Nach dem Abendessen zog er sich in sein schmales Zimmer zurück, schlug nicht etwa die entliehene "Beute" auf, sondern sein Notizbuch für die Listen. Wie sollte man auch in Seelenfrieden schmökern können, wenn einen die Ungewissheit plagte?! Zudem galt es, die jüngsten Erkenntnisse zu verarbeiten. Für sein aufgeschrecktes Gemüt stellte die wichtigste "Bedrohung" die nächste Begegnung dar. Oder vielmehr deren zeitweiliges Ausbleiben, wenn man Rogers Worten Glauben schenken durfte. Deshalb nahm Ugo sich seinen Laptop vor, ging auf Spurensuche. Gab es wirklich Schülerpraktika bei der Straßenreinigung?! Zu seiner Verblüffung, ja. Die Schicht startete zwischen 5:00 und 5:30 Uhr auf dem zentralen Betriebshof. Ugo schüttelte ungläubig den Kopf. Auch wenn er sich durchaus in der Pubertät befand, trotzdem zu den "Lerchen" zählte: das war verflixt früh am Tag! Würde Roger das wirklich auf sich nehmen? War der etwa auch keine "Nachteule?" Ugo runzelte die Stirn, tippte auf seine jüngsten Notizen. Was hatte Roger doch recht sarkastisch bemerkt? Hauptsache, ihm bleibe der "familiäre Zirkus" erspart? Wollte er überall sein, nur nicht zu Hause? Vor Weihnachten? Bei seiner Suche nach möglichen Schwachpunkten hatte Ugo zwar über Roger gar nichts gefunden, jedoch eine Menge über die anderen Familienmitglieder, die "Dreifaltigkeit des Talents". Wie war es wohl, wenn man da herausstach? Wie ein Sonnenlicht vermeidender, Allergie-affiner Bub mit rotgoldenen Löckchen... »Stopp!« Ermahnte Ugo sich streng, setzte sich auf. Bevor er hier Parallelen zog, die aus Mutmaßungen gespeist wurden! Sonst tappte er ja wieder in die Falle der "Märchen", die Roger so echauffierten. Möglicherweise war der ja auch nicht gern in der Wohnung wegen der Streitereien in der ehemaligen Villa? Ein älterer Artikel drehte sich um verschiedene Parteien des Hauses, die gern die anderen exiliert gesehen hätten, zwecks Wertsteigerung. Das korrespondierte mit dem Stichwort "Gentrifizierung" im Viertel. Ugo seufzte. »Nicht auf den Augenschein hereinfallen!« Einerseits. Andererseits, wie sollte er Roger richtig einschätzen? Wenn der doch skrupellos Bücher verstellte, um ihn dazu zu verleiten...! Wobei Ugo in sportlicher Ehrlichkeit eingestand, dass er selbst diese Entwicklung zu verantworten hatte. Warum hatte er Rogers Augenmerk auf sich gelenkt? Wie lange beobachtete der ihn schon? Hielt Roger sich etwa auch in der Bibliothek auf, um in Ruhe und Sicherheit vor dem alltäglichen Ansturm an Details zu sein? Ugo erlaubte sich keine Illusion zu seiner "Wachsamkeit" zwischen den Regalen: er wich mobilen oder stationären Hindernissen aus, richtig, aber sein Blick klebte an Buchrücken. »Weil es in der Bibliothek eben wenig potentiell Gefährliches gibt!« Konterte er sich selbst kleinlaut. Viel weniger Leute, die man als "zu vermeiden" etikettieren musste. Wobei es ihn im Nachhinein verblüffte, dass die Beschäftigte sich sofort an Roger gewandt hatte. Immerhin gehörten zwei zum Dialog! Ugo grummelte innerlich vor sich hin. Wirklich, zum Haareraufen! Wenn er sich jemals eine solche Entgleisung gestattet hätte. "Kann es denn wirklich sein...?" Dass Roger bloß mit Schokolade garnierten Sex mit ihm haben wollte? Nicht die geringste Absicht hegte, irgendwie auch andere Bande zu knüpfen? Das widersprach nämlich der Mehrzahl der ungeschriebenen Regeln der Gesellschaft. "Ich verstehe es einfach nicht!" Konstatierte Ugo missgelaunt. Da ersparte er es sich auch, nach diesem ominösen "Straight edge" zu suchen. Was auch immer das für ein "Klebstoff" war, der Rogers Eltern zusammenhielt! Q~~~* Eine erneute Unterhaltung wollte Ugo nicht führen. Nein, das half SEINEM fehlenden Verständnis für dieses Mysterium, das sich bei ihm nicht zeigte, nicht ab. Außerdem hatte Roger ja eindeutig bekundet, wie er zu diesen "Lügen" stand. Mochte es auch moralisch nicht verwerflich sein, sich ein körperliches Vergnügen zu verschaffen, KONNTE man es auch negieren, hielt Ugo sich vor. Das war ja nicht mal ein zwanghaftes Bedürfnis! Nicht zu vergleichen mit Hunger, Durst, Kälte und Schlaf. Empörend genug, dass sein "Geist" nicht gefordert wurde, seine Persönlichkeit vollkommen unerheblich war! Es sich lediglich um physische Vorgänge drehte. Die "Hülle" in den Vordergrund rückte. "Und es ist nicht werthaltig." Murmelte Ugo sich entschieden zu. Genau. Der Körper alterte, die Beweglichkeit ließ nach, Energien wurden verschwendet für kurzweiliges Getändel. Verzichtbar. Wenn man sich vor die kurzsichtigen Augen führte, wie konstant verächtlich und wütend Roger seine menschliche Umgebung betrachtete... "Das ist nichts für dich." Wies Ugo sich im Selbstgespräch fürsorglich an. Das Erpressungspotential war nicht mehr vorhanden, er MUSSTE sich nicht dreinschicken. Entschuldigt hatte er sich außerdem mehrfach für die unerfreuliche Episode mit dem Spiegel und der Verletzung. Ein Schlussstrich würde gezogen werden, jawohl! Auch wenn Ugo von Neujahrsvorsätzen nichts hielt, entschied er, DIESEN fest mit sich selbst abzumachen. Q~~~* Die Woche vor den Feiertagen war früher, das heißt vor der Pandemie, von Hektik, Stress und Anspannung geprägt gewesen. Waren alle Geschenke beisammen, klappte die Anreise, war gepackt, für Notfälle vorgesorgt, alle Geräte ausgestöpselt? Eine riesige Liste half zwar, aber am Ende fühlte man sich schon ausgelaugt, wenn man den Fuß vor die Tür setzte. Diese Belastung addierte sich noch zur "Feierstimmung", der lieben Familie, vielen Leuten, erzwungenem Gottesdienstbesuch, Lärm, Durcheinander, fremde Schlafstätten... Ugo genoss es, zum zweiten Mal in Folge dieser Verpflichtung entgehen zu können. Da er Ferien hatte, seine Eltern noch arbeiten mussten, übernahm er die Vorbereitungen. Selbstredend gab es einen Plan zum Menü, sodass er nur noch Kleinigkeiten zu besorgen hatte. Geschenke wurden zwischen ihnen nicht mehr ausgetauscht, das hatten sie einvernehmlich besprochen. Ohnehin, wenn etwas ersetzt werden musste, hatte das selten Zeit bis zum Jahresende. Zudem fasste ihre kleine Wohnung gar nicht so viel an Habseligkeiten, dass man ungeniert noch mehr dazustopfen konnte. Alles musste ja auch gewartet, gereinigt, abgestaubt, gepflegt werden: weniger war mehr Qualitätszeit! Ausnahmen sahen seine Eltern bei hochwertigen Büchern und manchen Musikaufnahmen vor, wobei es sich auch eingestandenermaßen um "Erbstücke" aus der Zeit vor ihrer Ehe handelte. Sammler und Jäger waren jedenfalls an seinen Eltern nicht verloren gegangen! Ugo übernahm die Hausarbeiten, erledigte auch ein wenig mehr, quasi die Quartalsreinigung, versorgte sich selbst, las in seinen Leihbüchern. Diszipliniert absolvierte er einen Spaziergang pro Tag, auch wenn das Wetter nun wirklich nicht zum Flanieren einlud. Dabei konnte er den Kopf nicht einfach ausschalten, auch wenn es ihm missfiel, dass Roger sich auf diesem Weg wieder in sein Leben drängte. Schließlich wusste er sehr wenig über diesen~diesen schokoladensüchtigen Erpresser! Ob der das absichtlich so hielt, um sich wie ein Sphinx in der Rätselhaftigkeit zu sonnen und unwiderstehlich zu machen?! Ugo dachte auch über die Beziehung seiner Eltern nach. Ja, sie waren einander begegnet, hatten Interesse entwickelt. Wie verlängerte man diese Phase? Was veranlasste sie, noch immer ihr Leben gemeinsam zu verbringen? Eine Illusion, der "Märchenstunde" aus der Kindheit geschuldet? Eher unwahrscheinlich bei zwei recht rationalen, gut organisierten Personen, oder? War es schlichtweg Gewohnheit geworden, zusammen zu sein? Wollten sie um seinetwillen, also dem Nachwuchs verpflichtet, keine Abkehr vom Ideal der glücklichen (Klein-)Familie? Ugo kannte keine lautstarken Auseinandersetzungen oder distanzierenden Groll bei seinen Eltern, eher die vernünftige Variante von "quid pro quo". Beispiel Urlaub: nachdem sie sich überzeugt hatten, dass er selbst in ihrer Abwesenheit nicht zu verlottern drohte, nutzten sie die Nebensaison. Sein Vater interessierte sich für technische Anlagen und Bauten, die Infrastruktur. Seine Mutter bevorzugte botanische Gärten und Parks, vor allem, weil sie keinen Garten hatten, den sie mit ihren "schwarzen Daumen" in eine Ödnis verwandeln konnte. Man leistete sich gegenseitig Gesellschaft, erkundete die gastronomischen Besonderheiten der Gegend. Essen, vor allem, wenn andere es zubereiteten und anschließend die Küche samt Inventar wieder auf Hochglanz brachten, bereitete so besonders viel Vergnügen! Auch Anschaffungen wurden gemeinsam besprochen, sogar die möglichen Einsparungen wegen der steigenden Energiepreise und der Inflation. Seine Eltern agierten als Team, argumentierten (auch mit Listen-was Wunder) und einigten sich. Irgendwelche romantischen Anwandlungen registrierte Ugo zumindest in seiner Anwesenheit nicht. DAS entsprach vermutlich höchstens den Ansprüchen klinisch-reiner, quasi aseptischer amerikanischer Familienfilme. Er kannte es nicht anders. Die "liebe Familie" war da sehr viel physischer ausgeprägt. Man wurde gedrückt, geherzt, auf die Wangen geschmatzt, aber auch gekniffen und geknufft. Der eigene Körper gerierte nicht als Sperrzone für Angehörige. Das behagte Ugo gar nicht, der sich bedrängt und bedroht fühlte, jedoch gezwungen, dies auszuhalten, weil es gesellschaftlicher Usus war. Hingegen bei Roger... Ugo runzelte die Stirn, nippte am Heiligabend an seinem Tee. Er gönnte den Eltern die Siesta nach einem späten, üppigen Frühstück. Was sie sich nach Ugos Auffassung redlich verdient hatten, da die ganze Arbeitsbelastung, die Einschränkungen, der Druck endlich abfallen konnten. Ja, bei Roger spürte er verordnete Scham darüber, keinen Widerwillen empfunden zu haben. Wenn man erpresserisch geküsst, mit Schokolade gefüttert, abgeleckt, gestreichelt, liebkost und befriedigt wurde! Gut, der Körper, die Hormone, gewisse Reflexe, sozusagen das Vetorecht des Reptiliengehirns, das MEHR als nur eine elektrisch betriebene Existenz im grauen Schwamm sein wollte. Veritable Argumente, sich selbst in Schutz zu nehmen. Was die Zweifel jedoch nicht austrieb. Grimmig nippte Ugo einen weiteren Schluck des aromatisierten Tees mit Bratapfelaroma. "Ich habe mir die falschen Bücher temporär gemopst!" Q~~~* Ein ruhiges, gemächliches, entspanntes verlängertes Wochenende, sah man von dem Pflichtanruf per Video bei der "Familie" ab, der glücklicherweise technische Makel aufwies und kaum ausgedehnt werden konnte. Ugo genoss es, mit seinen Eltern die simplen Mahlzeiten gemeinsam zuzubereiten und einzunehmen, Spaziergänge zu unternehmen, sich über interessante Sachlektüre auszutauschen. Er lauschte sogar einem der "Lieblinge" seiner Eltern, gemeinsame Aufnahmen von John Coltrane und Miles Davis, Jazz, über sechs Jahrzehnte alt. Die hatten nichts Weihnachtliches, hinterließen jedoch auch bei ihm eine beschwingte Stimmung. Erholt und entspannt konnte man so in die letzte Woche des alten Jahres starten. Eingedenk der ausgefallenen Reise zur "lieben Familie" hatten seine Eltern wie im Vorjahr diesen Vorteil ausgespielt. Warum "Zwangsurlaub" nehmen, wenn man zwar ein minderjähriges Kind hatte, das sich jedoch prima allein zurechtfand? So konnte man die Urlaubstage viel geschickter dann nehmen, wenn es konvenierte, Nebensaison, unter der Woche, wenn Unterkünfte noch günstiger zu sein pflegten. Vorausgesetzt, eine Reise begegnete nicht den gegenwärtigen Einschränkungen. Ugo erledigte diszipliniert die häuslichen Arbeiten, ließ sich in Gewohnheit vor seinem Laptop am Schreibtisch nieder. Es konnte kaum schaden, sich den Verstand zu trainieren, selbst wenn keine Schulaufgaben über die Ferien anstanden! Wer wusste schon, was in drei Jahren bei den Abiturprüfungen dräute? Ob man dann nicht wünschte, man hätte das ein oder andere Thema noch mal wiederholt? In Gewohnheit überprüfte Ugo sein digitales Postfach, was seiner gehobenen Stimmung einen erheblichen Dämpfer verpasste. [Montag, Nachhilfe. Gehe jetzt los. Denk über ne glaubwürdige Erklärung für Deine Eltern nach.] Q~~~* Ugo glich hastig den Zeitstempel ab, kalkulierte die Dauer des Fußmarsches, die Häufigkeit der Busverbindung nach der Umstellung des Fahrplans in Schulferienzeiten. Eilig erhob er sich, zwang kontrollierte Atemzüge, den Kampf gegen die Panik aufzunehmen. Für seine Eltern benötigte er mangels Anwesenheit keine prompte und "glaubwürdige" Erklärung für Rogers Erscheinen! "Ich hatte doch deutlich gemacht...!" Adressierte er verstimmt und aufgeschreckt das gleichgültige Universum. Genau, er wollte sich nicht mehr treffen! Dafür gab es keinen Grund! Was jedoch tun?! Ugo entschloss sich, die Sicherheit der eigenen vier Wände aufzugeben. So, wie er Roger einschätzte, würde der vor der Haustür spektakeln, bis er Einlass fand, möglicherweise unter Verweis auf seine temporär defekten Hörgeräte! Grimmig verpuppte sich Ugo der ungemütlichen Witterung angemessen. Kein Zweifel, die Nachbarschaft in den übrigen Etagen wäre nicht erfreut, wenn da jemand vor dem Haus lärmte. Man sollte zwar, zumindest erinnerte sich Ugo an entsprechende Aussprüche, den Feind besser auf eigenem Terrain angehen, doch das griff hier wohl kaum! Zudem war Roger schon mit Haus und Wohnung vertraut, da gab es keinen nützlichen "Vorsprung". Entschiedenen Willens dem Opponenten die Grenzen aufzeigen, genau! Zum Tango gehörten schließlich zwei und Ugo beherrschte nicht mal den One-Step! Q~~~* Da Ugo vermutete, dass Roger den üblichen Weg von der Bushaltestelle wählte, wusste er auch, wo es eine geeignete Stelle gab, nämlich, den unerwünschten "Wackerstein" in einer Waagschale seiner just restaurierten seelischen Balance abzupassen. Unter vernünftigen Personen musste schließlich ein Gespräch möglich sein! Von einem Fuß auf den anderen stapfend, um sich warm zu halten, wartete Ugo deshalb an einem kleinen Park. Ausgenommen Hunde Ausführende war hier nicht mit großer Frequentierung bei dieser ungemütlichen Witterung zu rechnen. Es bestand auch nicht die beschämende Gefahr, vor allzu großer Lautstärke in der eigenen Entschlossenheit einzuknicken! "Interessante Taktik." Ugo stolperte vor Schreck, hätte sich beinahe in eine struppige Hecke aus Hainbuchen gesetzt. Roger schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge, haschte den Absturz verhindernd Ugos Anorak am Ärmel. "Guten Tag. Nette Feiertage verbracht?" Ugo keuchte, blinzelte. Wie gelang es Roger bloß immer, sich an ihn heranzupirschen?! Und wieso...?! "Soll ich dir hier die Mandeln polieren, oder hast du dir die Zunge abgebissen? Das ist übrigens keine sehr sinnvolle Methode, Selbstmord zu begehen, nur nebenbei." Roger stopfte die großen Hände wieder in seine Jackentaschen, musterte Ugo kritisch. "Wie bitte?" Stammelte Ugo verwirrt, kilometerweit von seiner felsenfesten Entschlossenheit entfernt. "Das wird hin und wieder mal in Samurai-Comics kolportiert." Schnaubend verdrehte Roger die Augen. "Lass mich raten: 'ich verstehe nicht?'" Kopierte er recht gehässig sehr treffend Ugos Stimme und mehr als einmal geäußertes Signal der Bitte um Aufklärung. "Ist dir wohl nicht bei deiner Zombie-Apokalypsen-Forschung begegnet, hm?" Roger kaperte, Ugos Zusammenzucken übergehend, dessen Anorak-Ärmel, setzte sich in Bewegung. "Schön, vertreten wir uns eben ein wenig die Beine." Zehn Schritte später hatte sich Ugo endlich gefangen. "Ich möchte mich nicht mehr treffen. Mit dir." Stellte er so energisch wie möglich fest. "Aha. Aus welchem Grund?" Ugo beäugte Rogers Profil überrumpelt und verwirrt. Bisher war nicht einmal Rogers Hauptvokabel "scheiß/e" gefallen, wirkte der nicht zornig/wütend/aufgebracht. "Ich mag das nicht." Antwortete Ugo endlich, das Kinn tapfer reckend. "Weshalb?" Keine Explosion, kein Tobsuchtsanfall, nicht mal erhöhte Lautstärke. Unheimlich! "Weil~weil..." Stammelte Ugo hilflos. Roger seufzte lautstark, schnalzte tadelnd mit der Zunge. "Scheiße, du bist so gar nicht präpariert, oder? Hast du nicht eine Liste gemacht, wie du mir argumentativ den Fußtritt in die Kehrseite verpassen willst? Also, das is ja mal ne herbe Enttäuschung! Da hätte ich dir mehr zugetraut." Ugo stapfte am Ärmel geführt auf dem Spazierweg noch einen halben Meter weiter, bis seine Empörung endlich die Fassungslosigkeit verdrängt hatte. "Ich hab es dir am Freitag vorletzte Woche gesagt, jawohl! Und dann kam die E-Mail heute ja unerwartet...!" Neben ihm schüttelte Roger entschieden den Kopf. "Das lasse ich nicht gelten. Ad 1, deine Replik war eine spontane, unreflektierte Äußerung aus der Situation heraus. Ad 2, ich hatte dir keineswegs als Reaktion signalisiert, dass ich unser Arrangement als beendet betrachte. Ad 3, es lag eine ganze Woche dazwischen, sich Gedanken zu machen. Also, noch mal, und jetzt bitte mit vernünftigen Gründen!" Vor Entrüstung schnaubte Ugo mehrfach in die nasskalte Luft, unterließ jedoch den würdelosen Versuch, seinen Ärmel freizubekommen. "Ich sehe überhaupt keine Veranlassung, meine Entscheidung zu erklären! Wenn ich nicht einverstanden bin, dann...!" Roger bremste abrupt, kreuzte die Arme vor der Brust, funkelte frostig auf Ugo hinab. "Aufgemerkt! Entweder höre ich jetzt rationale, nachvollziehbare Gründe, oder ICH lege DIR mal deine Lage ausführlich und mit Fußnoten dar!" Ugo, dem Schlepptau mittels Ärmelkaperung entwischt, stutzte. "...wieso...meine Lage...?" Erkundigte er sich besorgt. Roger knurrte vernehmlich. "Du bist so was von verpeilt! In den grässlichen Liebesschnulzen hast du wohl nicht sonderlich viel begriffen, wie?" Verstimmt ob dieser Unterstellung reckte Ugo beleidigt das Kinn. "Ich sehe nicht den geringsten Zusammenhang..." Leitete er seine bemüht frostige Replik ein. Roger schnellte vor, klemmte Ugos Nasenspitze zwischen Mittel- und Ringfinger ein. "Scheiße, dabei bist du doch sonst so clever!" Fauchte er ärgerlich, bot Ugo unerwartet das Profil, grummelte unverständlich vor sich hin, schnaubte vernehmlich, während Ugo schniefte, aber nicht wagte, Widerstand zu leisten. Seine Nase signalisierte, nicht stärker gequetscht werden zu wollen. Was bei aufsässigem Verhalten möglicherweise drohte! "Scheiße!" Exklamierte Roger, gab Ugos malträtierte Nase frei, um dessen Ärmel erneut zu packen. "Hör auf, so verschreckt zu gucken und konzentrier dich. Schön, oder vielmehr EXTREM NERVTÖTEND, spielen wir ein kleines Quiz. Vielleicht fällt auch endlich der Groschen bei dir." Weil Roger damit auch Tempo aufnahm, konnte Ugo nicht intervenieren. "Frage: was glaubst du, in welchem Verhältnis wir FÜR ANDERE stehen?" Ugo bemühte einen grimmigen Blick, scheiterte jedoch kläglich. "...also...Schüler..." Roger schnaufte. "Scheiße, ist dein Verstand noch in Urlaub? Oder gleich ausgezogen? Rekapituliere mal die letzte Schulwoche!" Zwar wollte Ugo einwenden, dass er weder an seinem Verstand zweifelte, noch unter Gedächtnisverlust litt. Doch dann...! "...aber..." Neben ihm intonierte Roger einen grunzenden Tusch. "AH, im Brägen brennt doch noch Licht! So, präzisiere deine Schlussfolgerung, teile sie dem aufmerksamen Publikum mit!" Grässlich, wie zielsicher Roger zwischen Gehässigkeit, Ironie und sarkastischer Parodie eines Lehrmeisters wechselte! Ugo beäugte seine Turnschuhe. "Wir warten." Erinnerte Roger unnachgiebig, stupste ihn sogar mit einer Schulter an! "Das war ein Missverständnis." Behauptete Ugo unbehaglich. "Was GENAU?" Man fühlte sich wie in einem Verhör! "Dass~dass wir..." Ugo brach ab, presste die Lippen fest aufeinander. Nein, er konnte ja nicht abstreiten, dass sie Sex gehabt hatten! Es war kein Verhältnis, keine Beziehung...! "Frage: wie bist du in den Sanitätsraum gekommen?" Mühsam kämpfte Ugo gegen das Verlangen an, sich in einem Schrank zu verkriechen. "Ich bin nicht sicher." Bekannte er schließlich tonlos, hob den Kopf nicht mehr. Er erinnerte sich, Rogers wütende Tiraden gehört zu haben, als er nach Luft ringend auf dem Flur zusammenbrach. "Frage: wie konnte ich dein regelwidriges Treiben in der Bibliothek entdecken?" Kein Fluchen, kein Fauchen, keine Häme. Roger sprach ganz ruhig und sachlich, hatte den Sarkasmus gestrichen. Das machte es für Ugo noch schlimmer. "Mir wird schwindlig." Q~~~* Die feuchten Sitzbänke waren zusätzlich noch unangenehm kalt und das Gegenteil von bequem. Trotzdem war Ugo dankbar, sich dort zusammenkauern zu können. Zu behaupten, ihm schwirre der Kopf, wäre jedoch unzutreffend gewesen. Nein, zu seiner mühsam verwalteten Panik registrierte er nun all die Lücken, die Leerstellen in seiner Recherche, die er nicht konsequent mit Erkenntnis zu stopfen versucht hatte. All die Fragen, die sich anschlossen, die er nicht gestellt hatte! Sie reihten sich wie zum Hohn artig in seinem gebeutelten Verstand auf, ließen ihn wissen, wie nachlässig er gewesen war. So viel zu "mehr Geist als Biomasse auf zwei Beinen"! Roger stampfte abwechselnd mit den Turnschuhen auf. "So, genug Kontemplation! Also, wir warten immer noch auf DEINE Ausführungen zur aktuellen Situation." Ugo schnüffelte verhalten, starrte durch die betropften Brillengläser ins Ungefähre. "Ich verstehe nicht, warum andere glauben sollten..." Setzte er mutlos an. Sie beide hatten doch nichts gemeinsam! Warum also sollte man es für zutreffend erachten...? Überhaupt, wie war diese haltlose, nun, teilweise jedoch zutreffende, Fehleinschätzung in die Schulgemeinde gelangt?! Roger knurrte ärgerlich. "Du bist dir bewusst, dass du für andere nicht unsichtbar bist, oder?" Erkundigte er sich bissig. Einen Seitenblick riskiert murmelte Ugo in Selbstverteidigung. "Durchaus. Allerdings auch nicht von Interesse..." Was den anderen Besetzer der ungemütlichen Bank zu einem Ausbruch verleitete. "Scheiße hoch drei! Muss ich ne Kurbel drehen, ne Münze einwerfen, nen Schlüssel aufziehen, oder was?! Streng deinen Verstand gefälligst an, Scheiße noch mal!" Ugo, der schon beim ersten donnernden Ausruf beinahe von der Sitzfläche hopste, zog den Kopf zwischen die Schultern, kniff die Augen zu. "Aha." Bemerkte man neben ihm deutlich moderater in Tonfall und Lautstärke. "Glaubst du gerade, man sieht dich nicht? Ich bin überzeugt, dass du weißt,dass die Methode 'Vogel Strauß mit Kopf im Sand' Unsinn ist. Wie lautet deine Theorie zur aktuellen Situation?" Unerbittlich hakte Roger nach. Ugo verwarf die Sehnsucht nach einem sicheren Schrank oder wenigstens seinen Ohrenstöpseln. Er konnte nicht entwischen. Nicht den dräuenden Fragen in seinem Kopf. "Ich soll annehmen, dass andere glauben, dass wir..." Wisperte er stockend, richtete sich auf. "Wir benehmen uns doch gar nicht..! Ich meine, dauernd zusammen, Händchen halten und...!" Warf er Roger empört über diesen logischen Bruch in der Theorie "der anderen" vor. "Ah. Wenn schon die Liebesschnulzen nichts gebracht haben, funktioniert doch ein Teil deiner Wahrnehmung. Wobei man sich streiten kann, was zuerst da war, die 'Vorbilder' oder die 'reale Anschauung'." Spottete Roger süffisant. Ugo runzelte die Stirn, was unter seiner Wollmütze nicht zu erkennen war. Roger tippte ihm unvermutet auf die Nasenspitze. "Erläuterung! Verbreitete, gesellschaftliche Erwartung aka Vorbild: Abgrenzung des Paares von anderen durch Signale. Gemeinsames Auftreten, gemeinsame Aktionen, Intimität, Vertrautheit im Umgang, Symbole wie Accessoires oder Partnerlook. Innerhalb der Gesellschaft somit für andere erkennbare Kleingruppenbildung." Der zwingende Blick verlangte eine Bestätigung, dass Ugo dieser Erläuterung auch folgen konnte. "Fehlkalkulation oder Trugschluss, nach Belieben. Die Vorstellung oder auch anerzogene Illusion, dass bestimmte gemeinsame Aktionen zwingend zu einer Kleingruppenbildung führen. Vulgo: Sex bedingt eine partnerschaftliche Beziehung, was trotz einer gewissen Empirik nicht in einem unausweichlich kausalen Zusammenhang steht. Vielmehr: Henne-Ei-Problem, gesellschaftlich indoktrinierte Erwartungserfüllung oder gelebte Praxis, die als 'Normalität' verallgemeinert wird." Ugo blinzelte, wünschte, ihm würde sich nicht die Kinnlade den Knien annähern. Endlich jedoch, verärgert über Rogers süffisanten Vortrag und der Andeutung eines spöttischen Grinsens, regte sich Widerstand. "So viel Zeit haben wir gar nicht zusammen verbracht! Die war außerhalb der Schule, im Privaten, erst ganz kurz! Außerdem, wieso könnten wir nicht einfach Freunde sein?!" Feuerte er grimmig in die Parade. Roger grinste nun tatsächlich. "Bravo und da capo! Dein Verstand scheint ja doch so langsam wieder den Strom anzuwerfen. Gut, gut! Gegenfrage: wie viele Freunde kannst du vorweisen?" Ugo, gegen den Strich gebürstet ob dieser Frechheit, verlor seine Empörung unerfreulich rasch. "...also..." Druckste er hilflos, darüber verärgert, presste die Lippen zusammen. "Genau." Roger schnurrte fast. "Deshalb lautet die These: diese beiden haben gar nichts gemeinsam. Phobikus ist mit niemandem befreundet. Dennoch gab es das nachbarschaftsfreundlich verbreitete Gerücht über den 'Beziehungsstreit' im Haus von Ferrero. Am nächsten Tag bricht Phobikus auf dem Flur zusammen, als man ihn mit der vermuteten 'Wahrheit' konfrontiert. Derartige Heimlichtuereien mit Dramatik lassen den Schluss zu, dass hier unzüchtige Begierden ausgelebt werden. Hoffentlich. Zumindest, um der Sensationsgier für einige Augenblicke Nahrung zu bieten, bevor der nächste 'Skandal' die Aufmerksamkeit ablenkt." Ugo blinzelte betäubt, wünschte sich, einen logischen Bruch erkennen zu können. "Dabei habe ich noch gar nicht erwähnt, dass ich dich heldenhaft in den Sanitätsraum transportiert habe." Ein wenig zu sehr für Ugos ausgefranstes Nervenkostüm goutierte Roger seine Rolle als "großer Aufklärer"! Für dessen Beistand er sich nicht mal bedankt hatte. Die Arme um sich geschlungen rollte Ugo sich ein, starrte auf seine Schuhspitzen. Was~was sollte denn jetzt werden? "Willst du mich heiraten?" Q~~~* Nach langen Augenblicken der völligen Verblüffung stolperte Ugo auf die Beine, starrte Roger an. Wie konnte der sich so ungerührt über ihre missliche Lage amüsieren und derart bösartig spotten?! Roger erwiderte seinen aufgebrachten Blick gelassen. "Das, und selbst dir wird das nicht entgangen sein, ist die erwartete Fortentwicklung. Zumindest laut der von dir temporär unerlaubt unterschlagenen Lektüre. Wobei vorausgesetzt wird, dass es selbstredend für die Ewigkeit gedacht ist und alle wie vom Blitz getroffen in ihrem momentanen Zustand verharren." Ugo öffnete den Mund, um wütend zu protestieren, auch wenn ihm bewusst war, dass Roger diese Frage nicht ernst gemeint hatte. Der erhob sich, was Ugo hastig zurücktapsen ließ, steckte demonstrativ die großen Hände in die Jackentaschen. "Verstehst du nun, was ich meine, wenn ich von Illusionen, von Gehirnwäsche, von Märchen spreche? Du bist jetzt 16 Jahre alt. Statistisch gesehen, selbst bei Berücksichtigung der Pandemie, hast du noch mindestens 60 Jahre zu erwarten. Das ist viermal lebenslänglich, bezogen auf die Strafverfolgung. Oder, wenn man statistisch auf der Höhe der Zeit ist, nach dem 'verflixten sechsten Jahr' noch zehnmal die Möglichkeit, sich zu trennen und erneut zu heiraten. Wobei unsere Basis darin besteht, Sex mit Schokoladendekor zu haben. Über unsere Biographie, unsere Erwartungen, Pläne, Sehnsüchte, Hoffnungen haben wir uns nicht ausgetauscht. Ist das, was wir in unserer Qualitätszeit teilen, deshalb weniger befriedigend, angenehm, aufregend, erfüllend?" Q~~~* Ugo brachte überhaupt nichts Zusammenhängendes heraus. Tatsächlich war er bemüht, nicht über die eigenen Füße zu stolpern, da Roger wieder einen Ärmel einkassiert hatte, sie im Flaniertempo durch den kleinen Park bewegte. "Die~die anderen glauben wirklich, dass wir...?" Stotterte er schließlich hilflos heraus, ballte die kalten Fäuste, streckte das Rückgrat durch. "Das ist doch unlogisch. Mag ja sein, dass ich nicht sonderlich geschätzt und beachtet werde, aber dir wird doch niemand, ich meine, du hast doch sicher Freunde..." Die intervenierten. Die diese, nun, nur teilweise zutreffende Mutmaßung widerlegten! "Was setzt es voraus, dich dieser optimistischen Vermutung hinzugeben?" Roger schnurrte fast, schlenderte gemächlich, Ugos Ärmel in festem Zugriff. Ugo stutzte. "...oh..." Murmelte er, studierte den Boden vor sich. "...hast du keine Freunde...oder...ähem...?" Brach er verlegen ab. "Definiere 'ähem' für mich." Ungnädig ließ Roger ihn nicht entwischen! Das ärgerte Ugo, auch wenn ihm Röte in die Wangen stieg. "Ich wollte nicht indiskret sein." Konterte er deshalb bemüht eisig. "Indiskretion ist nicht dein Hemmschuh, sondern die hartnäckige Weigerung, die Unbekannten in der Gleichung aufzulösen." Feuerte Roger grollend zurück, mit einem verräterischen Unterton diebischen Amüsements. "Ach ja?! Wie soll ich bitte Unbekannte auflösen, wenn du selbst quasi ohne Eigenschaften bist!" Zu spät erkannte Ugo die Fallgrube, in die er so schwungvoll gesprungen war und nun bis zur Nasenspitze saß. Roger feixte ungeniert und ausgesprochen ungezogen. "Aha. Du hast dich also doch bemüht, Erkundigungen über mich einzuholen." Ugo reckte das Kinn, schnupfte beleidigt. "Selbstverständlich habe ich recherchiert! Aber du...!" Neben ihm grinste Roger herausfordernd. "Wie denn, sind wir empört, weil andere auch soziale Medien meiden?! Wird mit unterschiedlichem Maß gemessen? Oder, Watson, leiden wir unter einer gewissen Betriebsblindheit?" Es ärgerte Ugo sehr, mit dem häufig als etwas töffelig charakterisierten Ermittlungspartner von Sherlock Holmes, Erfindung von Sir Arthur Conan Doyle, verglichen zu werden. "Wie ungerecht, mir so etwas zu unterstellen!" Schimpfte er deshalb ungewohnt aufgebracht. "Gerade weil ich es ja verstehen wollte! Es ist unfein, sich darüber zu mokieren! Ich frage mich, warum du deine Zeit an mich verschwendest, wenn ich derart unzureichend...!" "Weil es mich scharf macht, dich und Schokolade mit mir zusammenzubringen. Was ich im Übrigen schon mehrfach erklärt habe." Fiel Roger ihm schnörkellos ins Wort. Ugo stolperte, fing sich jedoch ohne Sturz ab. "Das~das ist nicht schmeichelhaft, gar nicht! Überhaupt, meine Persönlichkeit so zu missachten: das will ich nicht!" Stellte er kriegerisch heraus, stemmte die Fersen in den Spazierweg. Roger blieb ebenfalls stehen, den Ärmel jedoch unverändert im Zugriff. "Ist das so? Ist nicht dein Geist, dieses Unsichtbare, Einmalige, dein wahres Wesen? Die Verpackung nicht mehr als ein Vehikel?" Es klang amüsiert, jedoch ohne Spott oder Häme. Ugo öffnete den Mund, wusste jedoch nicht, was er entgegnen sollte. Vielmehr erwartete er einen Ausbruch, gewürzt mit Fäkalien und einer zornigen Tirade, die seine Naivität, ja, Dummheit verdammte! Stattdessen tippte ihm Roger blitzartig mit der freien Hand auf die Nasenspitze. "Verblüffender Weise muss man immer das gesamte Paket 'Mensch' nehmen. Ohne Körper, ohne Knochen, Fleisch, Bakterien, all die niedrigen Vorgänge, gibt es keinen Geist. Nur die Materie lässt den Geist sich selbst und seine Umwelt erfahren. Die kleinen elektrischen Blitze benötigen Material." In den schwarzen Augen funkelte es animiert. "Richtig, deine Persönlichkeit tritt in meiner Wahrnehmung an die zweite Stelle, wenn ich dich vernaschen will. Da haben schlichtweg deine körperlichen Fähigkeiten und die Ausstattung das Primat. Was im Übrigen der Lebenserfahrung entspricht, meinst du nicht? Wäre ich befähigt, 100 Nachkommastellen der Kreiszahl Pi aufzählen zu können, würde dir das jedoch nicht helfen, wenn ich mich beim Sex wie ein Idiot anstelle. Quod est demonstrandum, nicht wahr?" Ugo wollte gern kontern. Leider wies Rogers Argumentation für ihn keine Lücken auf. Er hob die freie Hand, zupfte an seiner Mütze, richtete die Brille. "...aber... irgendwie..." Seufzte er mutlos, senkte den Kopf. "Scheiße." Konstatierte Roger sehr ruhig, gab Ugos Ärmel frei, um stattdessen die kalte Hand in seine große zu nehmen, ihren Spaziergang fortzusetzen. "Genau dieses Gefühl der Leerstelle, des vermeintlichen Mangels, das habe ich dir prophezeit. Die heimtückische Wirkung der Märchen, der Illusionen, der Gehirnwäsche. Achte ich dich nicht als Person, als Mitmensch, weil wir Sex haben? Oder müssen wir uns einander in jedem Aspekt unseres Lebens, für alle Zukunft, gegenseitig ausliefern? Können wir nicht einfach genießen? Müssen wir stattdessen falschen Erwartungen nachjagen, uns unbefriedigt, unterbewertet, geringgeschätzt fühlen?" Ugo, der dem gelassenen Vortrag lauschte, blieb nach einigen Schritten stehen. Ihre händische Verbindung veranlasste auch Roger innezuhalten. Tapfer aufblickend räusperte sich Ugo. "Du brauchst gar keine Nachhilfe, oder?" Q~~~* Roger lachte. Ein bisschen rau, kehlig, wirkte verändert ohne die ständige Wut, die mühsam kontrollierte Enttäuschung über die Aufgeblasenheit von homo sapiens. "Zumindest in schulischer Hinsicht, vom Leistungsniveau her, nein." Ugo seufzte hörbar. Die Schultern sackten ihm automatisch tiefer. "Deshalb würde wohl niemand glauben, dass ich dir Nachhilfe gebe." Erkannte er wenig schmeichelhaft die Basis der wilden Gerüchte. "Willst du mal dem Ende der Schnur folgen und das Knäuel entwirren?" Bot Roger an, zwinkerte sogar. Eine veritable Einladung, sich fürchterlich zu blamieren. Ugo erkannte auch die Möglichkeit, endlich mehr zu erfahren, all das, was seine trostlosen Recherche-Anläufe nicht aufgedeckt hatten. "Ich arbeite nicht nur mit Listen!" Ließ er Roger wissen, reckte das Kinn. "Ich kann auch Kausalketten aufbauen. So dumm bin ich also nicht." Roger schnaubte. "Scheiße, du bist tatsächlich beleidigt? Ein bisschen eitel? Willst nicht, dass ich dich für appetitlich und sexy, aber ein bisschen untermotorisiert im Oberstübchen halte?" Entrüstet versuchte Ugo daraufhin, seine Hand aus Rogers zu lösen. Dessen Griff konnte Schraubzwingen beeindrucken. "Wie würdest du dich fühlen, wenn man dir permanent unterstellt, blöd und naiv und...?!" Zu seinem Schrecken packte Roger ihn am Kragen des Anoraks. "Wie würdest du dich fühlen, wenn man dir außer sexuellen Gelüsten keine Persönlichkeit, keine Werte, keine Gedanken unterstellt?" Q~~~* "Das~das habe ich nicht!" Beteuerte Ugo hastig. Roger funkelte ihn an, die Miene unleserlich, hielt jedoch noch immer seine Hand fest im Griff. "Was denkst du denn, was ich über dich denke?" Formulierte er schließlich bedächtig, leise. Ugo errötete, keuchte erleichtert, als sein Kragen wieder freigegeben wurde. "Ich gebe zu, dass ich mich nicht sonderlich klug und ehrenhaft verhalten habe." Gestand er ein, den Blick abwendend. "Dass du mich in den Sanitätsraum gebracht hast, danke schön. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich da...?! Ich weiß nur noch, dass ich im Flur umgefallen bin." Wisperte er, schauderte bei der Rekapitulation. "Und~und es ist nicht so, dass ich nicht erwogen hätte, alles zu gestehen!" Tapfer sah er Roger ins Gesicht. "Ich meine, deine Verletzung, der zerstörte Spiegel! Es sah für mich selbst so aus, als wollte ich mich der Verantwortung entziehen. Ich hätte wie ein Opfer gewirkt und du, nun, du..." Roger schnaubte. "Exakt, als Lügner, Erpresser, Vergewaltiger und Nötiger zu Schokoladenkonsum." Ugo zögerte. Wenn er sich derart exponierte, konnte er auch alles gestehen, selbst wenn er sich egoistisch fühlte, sich mit einer Beichte zu erleichtern. "Ich dachte zuerst, dass es dir schnell langweilig werden würde. Und dass ich..." Er atmete tief durch. "Ich wollte nicht, dass meine Eltern zufällig sehen, was für Lektüre ich mir entleihe. Weil~weil sie sich Sorgen machen. Wenn ich dieses Rätsel löse, kann ich mich wie alle anderen einfügen. Es ist ja nicht so, als wollte ich unbedingt auffallen oder Ärger machen." Er blickte doch lieber auf seine Schuhspitzen. "Deine Eltern überprüfen deine Lektüre?" Erkundigte sich Roger etwas grimmig. "Nein, nein!" Wedelte Ugo hastig mit der freien Hand hin und her. Bevor er jedoch erläutern konnte, dass man sich häufig auszutauschen pflegte, was die Freizeit betraf, schmunzelte Roger. "Oh, ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du mit 'alternativen Wahrheiten' über die Liebesschnulzen scheiterst. Da wäre ja auch deine Eitelkeit verletzt, sich mit solchen Trivialitäten abzugeben, wo doch angeblich NIEMAND Mühe damit hat!" Entrüstet schnaufte Ugo. Ihm fiel zu oft der Begriff 'Eitelkeit' im Zusammenhang mit seiner Person. Roger grinste. "Jetzt wäre es bestimmt nett, mal lautstark 'Scheiße' brüllen zu können, hm?" Neckte er Ugo boshaft. "Ich bin nicht du!" Fauchte der im Reflex, erblasste sofort. "Scheiße, DAS ist mir auch aufgefallen!" Konterte Roger diabolisch amüsiert, drückte auch noch frech Ugos Hand. "Soll ich es dir verraten? Das Geheimnis?" Ugo zögerte, studierte Rogers Miene besorgt. "Keine Sorge, es handelt sich nicht um eine Tourette-Variante, wo mein Hirn in Fehlzündungen Schimpfworte feuert." Roger lächelte, zog Ugo weiter. Langsam wurde ihm kalt. "Du findet 'ähem', 'halt' oder 'äh' zu trivial?" Wagte sich Ugo tollkühn an eine Vermutung. "Nö. Die Konsonanten knistern so schön zwischen den Zähnen und es hat Feuer." Verblüfft klappte Ugo der Unterkiefer herunter. Neben ihm schnurrte Roger fast. "SCHEI-SSSSS-E." Fast zärtlich zerbiss er Silben und trennte Vokale von Konsonanten. "...oh..." Rutschte Ugo heraus. Er nutzte das einsetzende Schweigen, um die letzten Minuten ihrer Unterhaltung zu rekapitulieren, seufzte. "Ich hätte wirklich nicht so eitel sein sollen. Diese Bücher haben mir nichts als Ärger und gar keine Lösung eingebracht." Roger grummelte. "Etwas zu verallgemeinernd, dein Urteil. Hast du nicht doch Einiges gelernt?" Was Ugo nicht negieren konnte. "Schon richtig. Bloß, wenn ich das Mysterium nicht lösen kann, falle ich doch immer auf." Bereitete seinen Eltern Kopfzerbrechen, was wohl aus ihm werden sollte. So allein, geräuschempfindlich und zurückhaltend bis scheu. "Lass mich dir mal dieses Bild skizzieren: wenn die Realität nur in deinem Kopf erschaffen wird, wenn dein Körper die einzige Möglichkeit darstellt, sich eine Realität im Kopf zu erschaffen: bist du da nicht immer allein gewesen? Wenn es sich so verhält: mit wem musst du wohl auskommen, bis der letzte Funke erlischt?" Ugo ließ diese ruhig vorgebrachte Vorstellung einige Schritte auf sich wirken. Weniger ihr Inhalt, mit entsprechenden Theorien war er bereits in Berührung gekommen, als Roger beschäftigte ihn. Offenkundig, was man seinem "Aggregatzustand Wut" nicht entnehmen konnte, hatte der sich viele Gedanken gemacht. Das bedeutete, dass er sich wohl auch über seine "Untat" den Kopf zerbrochen haben musste. Deshalb hatte es ihn vorhin sichtlich gekränkt, dass Ugo ihm Leichtfertigkeit unterstellte. "Kann ich~kann ich noch mal von vorne anfangen?" Q~~~* Ja, es war schließlich eisig! Außerdem tropfte es. Dazu kam noch eine gewisse Leere in der Magenregion! Ugo lud Roger wagemutig nach Hause ein, wo sie nun gemeinsam an der Küchenzeile werkelten, sich ein Mittagessen zuzubereiten. Zu Ugos Verblüffung erwies sich Roger als geschickt und kenntnisreich, was seine Miene dem Jüngeren selbstredend verriet, ihm einen Stups mit der Schulter einbrachte. "Scheiße, du hältst mich tatsächlich für grundsätzlich inkompetent, oder? Dabei handelt es sich um ein Grundbedürfnis! Nahrung, Schlaf, Obdach, erträgliche Temperaturen, Hygiene..." Ugo errötete, setzte zu einer Entschuldigung an. "Nein, schon gut, ich weiß ja, was 'normal' sein sollte. Kann nur Packungen oder den Kühlschrank aufreißen. Höchste Klasse der Küchentechnik: Mikrowelle bedienen." Roger grimassierte. "Tatsächlich habe ich bis jetzt keine Nahrungsmittelunverträglichkeiten, aber Eltern, und, oh, was für welche!" Er schnaubte. "Begeisterungsfähige Eltern. Schnappen was auf, pflegen eher vage Vorstellungen! Schon mal von Ital oder I-tal gehört? Nein? Ist nicht Italienisch oder Mittelmeerkost, nein, das wäre ja zu simpel! Eine Ernährungsform, wobei es tatsächlich diverse Unterschiede gibt, die Rastafari aus Überzeugung pflegen. Feine Rezepte, sehr gesund, pflanzlich. Bloß dumm, dass wir hier nicht in der Karibik sind." Roger grummelte, setzte die Nudeln ins kalte Wasser. "Ja, ich weiß, Energie sparen. Einmal aufkochen statt ins kochende Wasser schmeißen und warten. Nun, begeisterungsfähige Eltern. Ich wollte der Sache lieber auf den Grund gehen, wie bei all ihren Ideen. Das Kleingedruckte finden, die Fußnoten. Prosaisch, nicht lyrisch, genau. Nicht künstlerisch begabt, nicht talentiert, nicht empfänglich für das große Ganze." Ugo zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Es MUSSTE Roger doch verletzen, so anders zu sein, ohne das zu wollen, ohne es ändern zu können. "Ich mache das, wie ich es immer mache. Nachlesen, recherchieren, zur Not Videos anschauen, wenn es Untertitel gibt, weil die Audiospuren häufig Murks sind." Er hob die großen Hände. "Scheiße, kann kein Instrument bedienen trotz der Pranken, aber zumindest küchentauglich bin ich. Kein Maestro der Töpfe und Pfannen, aber für die Basis genügt es. Wenn man sich auf lokal, regional und saisonal konzentriert, hat du einen Eindruck davon, was mich umtreibt: die allzu sphärischen Eingebungen meiner Altvorderen auf die banale, örtliche Realität herunterzuschrauben." Roger klang wieder bärbeißig und zornig. Wagemutig ließ sich Ugo zu einer persönlichen Einlassung hinreißen. "Also, ich finde es besser, sich auf Kochen, Backen und Essen zu verstehen, als auf Musik. So ganz privat, nur meine Meinung." Er spürte Rogers sengenden Blick auf sein Profil, errötete. Da hörte er ihn lachen, gewohnt rau, ein bisschen kehlig. "Scheiße noch mal, willst du mich trösten? Tres charmant, aber das ist gar nicht nötig. Zu meiner vollkommen prosaischen Natur kommt noch ein gnadenlos vernünftiger Realist. Ich jammer bloß manchmal, weil es mich wurmt, trotz allem, wie weit die Äpfel vom Apfelbaum streuen können." Für Ugo eine Bresche. "Das ist doch aber die Basis von Evolution, nicht wahr? Variationen vom Thema." Neckte er Roger herausfordernd, der grinste, während er die Nudeln inspizierte, damit Ugo ein "erblindendes" Dampfbad der Brillengläser ersparte. "Scheiße, da hast du mich ertappt! Ich fürchte bloß, die Nörgelei, die Anmaßung, die permanente Unzufriedenheit: die sind systembedingt. Da ist vermutlich nicht mit einer optimierten Variante zu rechnen. Oder anders: die Varianten sind wohl alle dem Säbelzahntiger zum Opfer gefallen." Q~~~* Ugo entschuldigte sich einen Moment von der Mittagstafel, huschte in sein Zimmer, kehrte zum Rest Tee mit seinem Notizbuch zurück. Roger grinste unverhohlen. "Wegen des Knäuels und des Fadens." Setzte Ugo verlegen an, lupfte kurz seine Gedankenstütze aus Pappe und Papier. Ihm gegenüber lümmelte sich Roger betont lässig. "Inquisition? Ein Verhör? Für deine legendären Listen?" Gegen das metaphorische Fell gebürstet reckte Ugo das Kinn, funkelte angestrengt grimmig. "Was soll dieses 'legendär' heißen, bitte? Es sind ganz normale Listen, zwei Spalten..." Roger gluckste kehlig. "Scheiße, Lockenköpfchen, du bist WIRKLICH betriebsblind. Weißt du nicht, dass ALLE beim Begriff 'Listen' sofort DEINEN Namen assoziieren? Ehrlich, du bist genauso sichtbar wie wir alle. Sich verstecken, die Augen schließen, von allen fernhalten: das funktioniert nicht. Auch keine Aktion ist eine Interaktion." Beleidigt wandte Ugo den Kopf ab. Wie ungerecht! Das klang ja so, als wolle er sich über die bloße Form seiner Gedanken in Spalten gegliedert wichtig machen! Blitzartig schnellte Roger hoch, wuschelte ihm höchst ungebührlich durch die Löckchen. "He!" Der Angreifer parkte jedoch seine letzten Buchstaben bereits wieder, ein verdächtiges Grinsen präsentierend. "Einige würden es wohl mutig nennen, andere eher suizidal, so unachtsam in Gesellschaft aufzutreten." Roger verschränkte die Arme vor der Brust, studierte Ugo nachdenklich. "Wenn du so darauf erpicht bist, nicht hervorzustechen, nicht aufzufallen, muss dein Radar sehr viel besser werden. Deine Sachen immer in den Lokus mitzunehmen, das wird nicht genügen." Ugo erstarrte. Ihm gegenüber setzte sich Roger auf, legte die Unterarme auf die Tischplatte. "Erinner dich mal zurück, als ich dich mit zu mir genommen habe. Wie ist die Gegend dort beschaffen?" Sein Notizbuch aufgeschlagen, wo er sich die ältere Zeitungsmeldung über den Streit im Haus notiert hatte, senkte Ugo den Kopf. Roger tippte gegen das Notizbuch. "Du wirst die Höflichkeit besitzen, mich anzusehen. Ich bin schließlich hörbehindert." Frechheit! Ugos Kopf ruckte automatisch hoch, weil Roger sich erdreistete, ihn SO ungezogen-hochnäsig zu ermahnen! Der lächelte herausfordernd. "Ah. Denkst du noch nach?" "Nein!" Fauchte Ugo spontan, erschreckte sich damit selbst. "Also?" Man hätte verzogen schmollen können. Ugo war mit dieser Taktik nicht vertraut. Sein Aufbegehren war schon angesichts der eigenen Lautstärke verpufft. "Urban. Nachverdichtet. Enge Straßen." Er schloss die Augen, hatte die Eindrücke wieder vor sich. "Die Einsatzfahrzeuge haben die Straße blockiert, oder?" Murmelte er schließlich geschlagen. "Gut kombiniert. Das bedeutet Aufregung, Hupkonzert, Leute an Fenstern, mit Smartphones, falls man spektakuläre Aufnahmen verticken kann." Roger schnaubte verächtlich. "Natürlich noch interessierte Parteien im Haus, die auch gern mit Dreck um sich werfen. Den Artikel hast du ja gefunden." Ugo umklammerte sein Notizbuch, schlug die Augen wieder auf. "Demnach bestand nie die Chance, dass wir Freunde sind." Für einen langen Moment breitete sich bleischwere Stille aus. Roger straffte sein breites Kreuz. "Wenn man, modern gegendert, der Theorie von Harry aus dem Spielfilm folgt, sind Sex und Freundschaft bei Personenidentität unmöglich." Dieser Einlassung konnte Ugo nicht folgen. Sein verwirrter Blick animierte Roger, Erläuterungen anzufügen. "Ein recht bekannter Spielfilm aus dem letzten Jahrhundert. 'Harry und Sally', sehen sich über die Jahre immer mal wieder, bis es dann doch funkt. Oder ihnen die Alternativen ausgehen, je nachdem, wie man es definiert. Harry postuliert, dass Männer und Frauen nicht befreundet sein können, weil ihnen der Sex alles verdirbt. Sally hält das für Unsinn, womit sie richtig liegt, wenn der eigene Horizont nicht aus einem Punkt unter den eigenen Füßen besteht." Schlussfolgerte Roger mit ätzendem Unterton. Ugo presste kurz die Lippen zusammen, wich Rogers Blick aus. "Wusstest du, dass es so kommen würde?" "Du meinst, als ich dich nach Hause schicken wollte?" Schnurrte Roger sarkastisch, was Ugo noch mehr in sich hineinschrumpfen ließ. Da wollte er sich der Verantwortung nicht entziehen und hatte es durch seinen Starrsinn noch schlimmer gemacht! "Scheiße." Konstatierte Roger ruhig. "Wahrscheinlich hat die großkotzige Trulla ohnehin auf der Lauer gelegen. Du siehst leider so überhaupt nicht kleinkriminell aus!" Verdattert blinzelte Ugo über die Küchentischfläche. "Merke: eine Unwahrheit funktioniert besser, wenn sie ein paar Wahrheiten enthält. Bei deinem bedauernswerten Erscheinungsbild sind die üblichen Delikte wie Rauschmittelhandel oder -konsum eher nicht zu erwarten. Muss eine gewisse Enttäuschung hervorgerufen haben." Roger knurrte bissig, wischte diese unerfreuliche Reminiszenz beiseite. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass du zusammenbrichst. Eigentlich wollte ich Distanz wahren, um den Nährboden des Geschwätzes auszutrocknen." Er zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, es war schon zu spät." Murmelte Ugo, der sich schaudernd an die aufgeheizte Geräuschkulisse erinnerte. "Danke, dass du mir geholfen hast." Er räusperte sich entschieden. "Es tut mir leid, dass ich dich falsch eingeschätzt und dir Gedankenlosigkeit unterstellt habe." Roger grummelte. "Scheiße, ich gestehe, das hat mich gefuchst. Ich bin's nämlich nicht gewöhnt, dass man mich übersieht. Oder überhört." Er schnaubte ironisch. "Verdammte Eitelkeit. Und verfluchte Ungeduld. Wenn auf die eigene actio die reactio so lange auf sich warten lässt." Q~~~* Ugo starrte Roger an. Er errötete erneut, als dessen ironisches Augenbrauenlupfen ihm signalisierte, dass er nicht unbeobachtet war. Hastig senkte Ugo den Blick, blätterte fahrig durch seine Notizen. Jetzt, wo sie das erste Mal richtig ausführlich miteinander sprachen, beschämte ihn seine Ignoranz. Bequemlichkeit oder Betriebsblindheit? Hatte er sich in seiner "Blase" schön eingerichtet und alles andere außer Acht gelassen? Seufzend klappte er das Notizbuch zu. Zum Anfang des Knäuels gehen! "Du bist häufig in der Bibliothek, nicht wahr?" Roger brummte. "Gut kombiniert. Trocken, warm, ruhig." Ugo erkannte die Übereinstimmungen, runzelte die Stirn. "Aber wieso...? Ich meine..." Er sortierte sich. "Wenn du auch in der Bibliothek bist..." "Wieso hast du mich nicht bemerkt?" Ergänzte Roger fast schnurrend in einem merklich spöttischen Tonfall. "Scheiße, du müsstest dich mal selbst sehen: entrückt und selig den Blick nur auf Buchrücken gerichtet, emsig und eifrig auf der Pirsch nach lohnenswerter, Erkenntnis stiftender Lektüre, allenfalls mobile Hindernisse registrierend. Bösartig formuliert: du bist für die nicht gedruckte Peripherie völlig unempfänglich, wie im Rausch." Kein vorteilhaftes Porträt. Roger tippte das geschlossene Notizbuch an. "Ich bin meist in der Kunst-Ecke, wo all diese überformatigen Schwarten lagern. Da gibt's ein Stehpult, kaum Frequenz. Man kann mal den Steiß entlasten von der elenden Hockerei in der Penne. Rotgold-Löckchen lässt unbedacht seine Unterlagen offen herumliegen. Das war quasi eine Einladung." Ugo setzte zu verärgertem Protest an. Es gehörte sich ja wohl nicht, anderer Leute Arbeitsutensilien zu erforschen! "Scheiße, ich MUSSTE es mir ansehen, um sicherzugehen, dass es kein Tagebuch ist." Roger feixte. "DAS hätte ich natürlich nicht gelesen. Zumindest nicht weiter als bis zum Punkt der Identifikation als solches. Allerdings könnte es ja auch Fiktion sein, ein Romanentwurf!" Gleichbedeutend mit: wenn man etwas lesen KONNTE, weil es zugänglich war, GAB es wenig Bremsen! "Du hast meine Notizen gelesen?" Moment mal! Wann hatte er angefangen, alles immer sorgsam einzupacken? Wie viel Zeit war seit dem unerfreulichen Zwischenfall mit der Recherche bezüglich der Zombie-Apokalypse vergangen?! Als Erkenntnis dämmerte, wusste Ugo, dass man es ihm vom Gesicht ablesen konnte. Roger lächelte. "Erst war ich nur verblüfft. Es war unterhaltsam, deine Überlegungen zu den unterschiedlichsten Themen zu überfliegen. Ich habe angefangen, dich im Auge zu behalten. Tja, leider kam dann ja diese originelle Episode mit den Vor- und Nachteilen von Selbstterminierung bei Ragnarök dazwischen." Er setzte sich auf, zupfte an seinem Dutt. "Eigentlich hatte ich nicht vor, dir noch näher zu kommen. Wie heißt es so schön: I'm deaf not dumb. Mir war schon klar, dass du nicht auffallen wolltest, Lärm nicht goutierst. Also nicht gerade die besten Voraussetzungen, mit MIR Bekanntschaft zu pflegen." Auf dem Küchentisch faltete er seine großen Hände. "Und, scheiße, da war da plötzlich diese Fantasie. Ich weiß bis heute nicht, was mein Unterbewusstsein da zusammengerührt hat, Blinder Fleck, trotz aller Anstrengungen, mich zu erinnern. Ich wollte dich mit Schokolade beschmiert küssen." Während Ugo errötete, seufzte Roger leise. "Das war echt deprimierend. Herauszufinden, dass man so eine virtuelle Idee nicht aus dem Schädel bekommt. Dass sie sich in Besessenheit verwandeln könnte. Dass man der eigenen Libido 'Platz!' befiehlt und sie sich einen Scheißdreck drum schert." Roger grimassierte grimmig. "Scheiße, ich war wütend. Dann dachte ich mir: der Junge macht Listen, pflegt rationales Denken. Argumentiere vernünftig, überzeuge ihn, zieh es durch. Danach wird es aufhören. Saubere Sache. Problem gelöst, 'Lebbe geht weider'." Bei Ugo fiel der von Roger eingeforderte Groschen endlich. "Ich habe diese Liebesromanzen... und du dachtest..." Mit einem Schnauben bestätigte Roger die Mutmaßung. "Scheiße, so was von. Gerade, als ich mich entschlossen hatte, meinem Egoismus und Seelenfrieden den Vorzug zu geben!" Er funkelte Ugo an, der prompt den Kopf zwischen die Schultern zog. "Scheiße, hat das meine Strategie förmlich pulverisiert! Ich war so sauer, ich hätte mich nicht mal mit der fünffachen Menge an Zucker in Zitronensirup verwandeln können!" Angesichts dieser Metapher entwischte Ugo ein verblüfftes Glucksen. "Na toll, DU lachst! Ich hatte SO NEN BRASS!" Grollte Roger finster, bevor ein bitteres Lächeln über sein Gesicht zog. "Ich will keine falschen Erwartungen wecken, andere von mir abhängig machen, Versprechen geben, die ich gar nicht halten kann. Nach diesen Illusionen, Märchen, diesem ganzen Klimbim mein Leben ausrichten. Selbst wenn mich diese aufgeilende Fantasie in den Wahnsinn treibt!" Ugo verspürte plötzlich starkes Mitgefühl. "Wolltest du mich aus der Reserve locken, als du die Bücher noch mal verstellt hast?" Ihm gegenüber schnaubte Roger. "Scheiße, ich wollte sehen, wie du reagierst, wenn du merkst, dass du nicht unbeobachtet bist. Zugegeben, ich wollte mich ein bisschen rächen, weil MEINE Erwartungen, von denen du ja gar nichts wusstest, enttäuscht wurden. Scheiß-Homo-sapiens mit seiner Hybris." Beschämt wich Ugo seinem Blick aus. "Ich dachte, es wäre vielleicht jemand von der Bibliothek." Nein, sonderlich intensiv nachgedacht hatte er wirklich nicht! "Trotzdem hattest du die Traute, die ollen Romanzen zu entführen." Roger schnalzte mit der Zunge. "Das war... Ich meine, es schien nicht so... und ich wollte sie gleich zurückbringen, quasi nur über Nacht...!" Stammelte Ugo betreten. Er hatte die Überzeugung gepflegt, man werde sie nicht vermissen. Dass es weniger Courage als Trotz gewesen war, diesem verflixten Mysterium endlich den verhüllenden Schleier zu entreißen! "Wenn es dich tröstet: ich war überrascht, dass es dir so wichtig war, dass du tatsächlich eine kriminelle Ader entwickelst." Neckte Roger spöttisch. Ugo blickte betreten unter sich. "Ich fürchte, ich habe mich hinreißen lassen." Er sah auf. "Ich hätte mich der Verantwortung stellen müssen. Wusstest du, dass ich feige sein würde?" Roger betrachtete ihn aufreizend lange prüfend und still. "Es wirkt vielleicht so." Er trennte seine Hände voneinander, öffnete sie, die Flächen nach oben gerichtet. "Nein, ich war mir überhaupt nicht sicher, wie du reagieren würdest. Bloß vorbereitet darauf..." Ein schiefes Grinsen huschte über sein Gesicht. "Scheiße, es HÄTTE auch funktionieren können, oder? Deshalb war die Schoko-Figur an Bord. Wenn die Wahrscheinlichkeit nicht bei Null liegt..." Ugo runzelte verwirrt die Stirn. "Was hättest du gemacht... ich meine, wenn ich mich geweigert hätte?" Ihm gegenüber verschränkte Roger demonstrativ lässig die Arme vor der Brust. "Wie hättest du das wohl angestellt, hm?" Herausgefordert richtete Ugo sich auf. "An dem Tag hätte ich selbstredend nichts unternehmen können. Montags ist die Bibliothek zu. Aber am nächsten Tag!" Roger beugte sich leicht vor, die schwarzen Augen funkelnd. "Wie genau wärst du am Dienstag vorgegangen?" Irritiert und dezent verunsichert blinzelte Ugo. "Es~es hätte sich wohl angeboten, alle Bücher zurückzugeben. Vor~vor Zeugen." "Das hättest du mir am Vortag angeboten, wie?" Erkundigte sich Roger höflich. "Ich hätte es versprochen." Versicherte Ugo hastig. Ihm gegenüber seufzte Roger vernehmlich, löste die verschränkten Arme, legte sie auf den Tisch. "Aha. Du gehst also am Dienstag rein, die unerlaubt entfernten Schmonzetten im Arm, Richtung Theke. Wer ist dienstags für die Rückgaben zuständig?" Die Frage hatte rhetorischen Charakter. Ugo erbleichte. Roger bleckte die Zähne, fletschte sie wie ein Raubtier. "Scheiße, hm? Ich würde vermuten, Bußgeldbescheid wegen des Verstoßes gegen die Nutzungsordnung, die zur Satzung gehört, dazu noch weitere Sanktionen, vielleicht lebenslanges Hausverbot? Ganz zu schweigen von einer gnadenlos öffentlichen Demontage an der Theke, vor aller Augen." Den Kopf zwischen die Schultern ziehend umklammerte Ugo seine Mitte. Die plastische Beschreibung löste nicht nur Beklemmungen, sondern auch einen Anflug akuter Übelkeit aus. Roger studierte ihn einige Augenblicke, langte über die Distanz, lupfte Ugos Kinn. "Wenn wir rein gegangen wären, hätte ich dich am Kragen gepackt, zu den Romanen geschleift. Wäre Schmiere gestanden, damit du die grässlichen Märchenbücher wieder in die Lücken stopfst. Hätte das Video gelöscht und zu Hause den hässlichen Niko-Graus aus Schokolade allein vertilgt, nach geschätzt ner halben Stunde Scheiße brüllen in mein Kopfkissen." Seine Stimme blieb ruhig, gelassen, gefasst. Während Ugo der Unterkiefer herabsackte. Schnaubend kommentierte Roger diese vollkommene Verblüffung. "Scheiße, ich bin zwar permanent wütend auf alle und mich selbst, aber deshalb nicht vorsätzlich grausam. Du wärst doch am Boden zerstört, wenn du nicht zwischen Bücherreihen auf Schatzsuche gehen könntest. So eine Schandtat ist meine geile Fantasie niemals wert." Q~~~* Obwohl sie im Konjunktiv der Vergangenheit gesprochen hatten, zweifelte Ugo Rogers Entscheidung nicht an. Schließlich hatte der mehr als einmal versucht, ihn vor unerwünschter Aufmerksamkeit und Fehlurteilen zu bewahren. "Nun schau nicht so drein, als wäre ich ein edelmütiger Charakter, ja? Scheiße, ich BIN mit Schokolade bewaffnet auf dich losgegangen!" Erinnerte Roger betont ungnädig, mit donnerndem Unterton. Ugo wandte zur eigenen Verwunderung den Blick nicht ab, sondern studierte Roger. "Verstehst du, warum...? Ich meine, wieso...? Ich finde mich gar nicht..." Bemühte er sich, die eigene Ratlosigkeit zu vermitteln. Roger seufzte profund. "Scheiße, und noch mal scheiße und zum Dritten scheiße. Wenn ich das wüsste, festnageln könnte, wäre ich wohl ein gemachter Mann! Treffsicher die Reize, die Trigger ermitteln, die garantiert so eine Reaktion hervorrufen! Vermutlich könnte man Geld wie Heu scheffeln, wenn man das wüsste." Er grimassierte gallig. "Ich weiß nicht, warum ausgerechnet du, warum Schokolade, warum Standing Ovations bei meinem Herrengedeck." Die Fäuste auf dem Tisch ballend führte er finster und ärgerlich seine Gedanken aus. "Scheiße, mal grundsätzlich. Ist dir das aufgefallen? Dass wir als Gesellschaft der homo sapiens unsere Präferenz bei sexueller Interaktion an der vermuteten biologischen Ausstattung der Beteiligten festmachen? Wie blöd ist das denn?! Wie sinnig ist es, sich selbst generalisierend über ANDERE zu definieren?! Wobei natürlich außer Acht gelassen wird, welche Hilfsmittel es gibt, was man einsetzen oder es auch lassen könnte! Dass NIEMAND, selbst mit diagnostizierter Störung, bei potentiell vorhandener Art der primären Sexualorgane WAHLLOS alles im Raster beglücken will?! Wir verfügen über mehrere Sinne, die plötzlich keine Rolle mehr spielen sollen? Gerade noch SEHEN, trotz Bekleidung vermuten, was darunter steckt, Schwachsinn!" Roger funkelte Ugo an. "Du lagst übrigens richtig mit deiner Mutmaßung: ich WOLLTE diese lästige, aufgeilende Fantasie EIN MAL erproben. Dann Ende, aus, Schluss, fertig. Für eine Wiederholung muss so viel zusammenpassen, rein auf biologisch-chemischer Basis! Das HÄTTE im Prinzip nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eine Fortsetzung nach sich ziehen können. Dabei waren Zeit, Ort, motorische Fähigkeiten, moralische Überzeugung, Erwartung usw. nicht mal inbegriffen!" Zu seinem Schrecken verspürte Ugo ein freches Amüsement über diese empörte Klage. Das ihm, wie er zu seinem Leidwesen ebenso rasch konstatierte, offenkundig anzusehen war! "Scheiße, wie kannst du da schmunzeln?! Wenn das jetzt eine einmalige, verhunzte, fummelige, unbefriedigende, peinliche Nummer gewesen wäre!" Donnerte Roger mit divenhafter Dramatik. Ugo zuckte tollkühn mit den Schultern. "Ich bitte um Nachsicht, aber ich war schon bei 'Romanze' raus. Von sexueller Präferenz jenseits biologischer Thesen verstehe ich gar nichts. Bezogen auf konkrete Personen, meine ich." Nicht, dass er sich darüber Gedanken machen WOLLTE. So etwas erschien ihm stets als unhöflich und primitiv. Jenseits des Tisches schnaubte Roger aufbrausend. "AHA! Na, stell dir mal vor, wie ich disponiert bin! Die visuelle Variante eines Ohrwurms im Schädel, der mich noch wahnsinnig macht, und dann, nix! Realitätscheck sollte doch das fiese Viech erlegen! Gescheitert! Versagt! Wenn nicht mal auf meinen notorischen Pessimismus Verlass ist! Pubertäre, hormonelle Notstände, die können bis Ende Zwanzig vorhalten! Scheiße, da kann man doch das Grausen bekommen!" Rogers Zorn auf sich, die Umstände, die Macken in der Konstruktion des homo sapiens, die Deklamation: Ugo konnte das Kichern nicht unterdrücken, auch wenn er sich die Hände vor den Mund schob. Er MUSSTE einfach lachen! Auch wenn diese Eloge bedeutete, dass Roger noch nicht den Zustand erreicht hatte, ihn nicht mehr sexuell anziehend zu finden. "Scheiße, dir macht das wohl Spaß, wie? Ich befinde mich in einem Zustand unbefriedigter seelischer Not, ohne Erpressungsmaterial, meinen Kronjuwelen ausgeliefert! Ausgesprochen unsensibel, deine Reaktion!" Nun schmollte Roger sogar. Allerdings wenig glaubwürdig, weil es in seinen Mundwinkeln verräterisch zuckte. Ugo hielt Entgegenkommen für angezeigt. "Es tut mir leid. Mir war nicht bewusst, wie unangenehm das so ist, so ein Verlangen." Wagte er sich tollkühn aus der Deckung. Roger grummelte grantig. "Scheiße, ich kann NUR davon abraten! Zumindest, wenn man ne ruhige Kugel schieben will, sein Selbstbild nicht noch mieser derangieren. Im Bann von Hormonen, Bakterien, verdrehten Energieentladungen im Brägen!" Deklamierte er aufgebracht seine Beschwerde. Noch immer amüsiert betrachtete Ugo ihn, wurde nachdenklich. "Wenn wir nicht herausfinden, was die Auslöser sind, wie sollen wir das Problem lösen?" Er errötete, als Roger ungeniert grinste. "Ja, schon richtig, ich erspare mir den Hinweis auf die derzeitige Lösung." Schnurrte Roger boshaft, faltete die großen Hände auf der Tischplatte. "Im Moment sehe ich gar keine Veranlassung, etwas DAGEGEN zu tun. Perspektivisch könnte es auch ausschleichen, sich durch Wiederholung im Reiz reduzieren. Allerdings wäre darauf zu achten, dass es keine Gewohnheit wird. Scheiße, wir balancieren gerade über einem Abgrund, ist dir das klar?!" Ugo zögerte, bevor er entschieden das Kinn reckte. "Tatsächlich sind wir doch schon gefallen, oder nicht? Wenn so viele glauben, dass wir eine körperliche Beziehung haben." Ihm gegenüber fauchte Roger guttural. "Was könnte schlimmer sein als als 'schwul' entlarvt zu sein?! Scheiße, dass ich DIESEN Albtraum noch nicht hatte!" Erschrocken zuckte Ugo zurück, zog den Kopf ein. Roger schnaubte, die Fäuste geballt, funkelte ihn finster an. "Scheiße, ich bin nicht unsichtbar, aber was irgendwelche Figuren über mein Sexleben vermuten, juckt mich nicht! Das lässt mich nicht in Abgründe stürzen!" Der Fehdehandschuh flog in Ugos Ecke, metaphorisch gesprochen. Bestürzt versuchte Ugo zu ergründen, wie die Unterhaltung derart kippen konnte. Oder...? War das erneut eine Sondierung von Roger? Der schnauzte ja gern zornig herum, um eine reactio zu provozieren, richtig? Tapfer presste Ugo die kalten Hände auf seine Oberschenkel, verordnete sich selbst Courage. "Ich bin nicht sicher, ob ich falle, in den Abgrund. Wenn meine Eltern erfahren würden... Ich glaube, sie wären sehr getroffen, wenn ich~wenn ich eine andere Person nur benutzen würde. Leichtfertig wie bei einem Mode- oder Sporttrend mir etwas herauspicken, um es dann bei Überdruss fallen zu lassen, nur einer körperlichen Befriedigung folge. Keine Verantwortung übernehme, nur Vorteile nutze, die Verpflichtung scheue..." Er brach ab, Rogers grimmige Miene im Visier. "Scheiße. Das tust du?!" Roger plusterte sich auf, schnalzte tadelnd mit der Zunge. "Lockenköpfchen, wenn DEINE Eltern je annehmen würden, du könntest irgendwen BENUTZEN, nur zum Vergnügen: da sind die Körperfresser unter uns. Schon recht, das sind sie sowieso, sonst gäbe es ja auf der flachen Erde keine Reptiloiden." Ugo blinzelte verwirrt, grätschte misstrauisch in diese 'alternative Parallel-Realität' hinein. "Augenblick, bitte, ja? Redest du gerade über wirre Verschwörungsmythen?" "Exakt. Plus einem sehr alten Film. Will sagen: du bist ohne große Anstrengung gar nicht befähigt, dich gedankenlos-leichtfertig zu verlustieren. Der Erinnyen-Chor in deinem Schädel hält dich schon davon ab." Zwinkernd goutierte Roger Ugos unmaskierte Verwirrung. "Oh-oh-oh, lass es mich sagen, ja?! 'Ich verstehe nicht?'" Schnurrte er diabolisch amüsiert, während Ugo aufgebracht nach Luft schnappte. Also doch! Wieder ein Reaktionstest! Wie ungezogen! Bevor er Roger empört auf diesen Mangel an Höflichkeit hinweisen konnte, federte der hoch, tippte Ugo auf die Stirn. "Da drin haust eine ganze Furien-Schar, die dich LAUTSTARK auf echte und vermeintliche Verfehlungen hinweist, die gar nicht zulässt, dass du ohne abzuwägen etwas unternimmst. Außerhalb von Bibliotheken bist du so sehr darauf bedacht, keinen Anstoß zu erregen. Niemand mit etwas Grütze im Dachgeschoss würde dir unterstellen, andere Menschen wie Objekte zu benutzen." Ugo verfolgte überrumpelt, wie Roger sich wieder setzte. "Möglicherweise mangelt es mir an an Skrupellosigkeit, dennoch glauben andere von uns, also auch von mir...!" Wies er auf einen Widerspruch hin. Wenn sie nichts gemeinsam hatten, aber die Schulgemeinde annahm, sie seien miteinander intim...! Roger rollte die Augen, grummelte. "Scheiße, hast du die 'Märchenstunde' schon vergessen? Den Regeln der gelebten und gesellschaftlich oktroyierten Illusion zufolge sind wir selbstredend liiert!" Ugo spürte, wie ihm langsam der Geduldsfaden riss. "Das sind wir doch aber gar nicht, weil wir diese ganzen Regeln gar nicht erfüllen! Ergo können wir nicht liiert sein! Wenn wir aber trotzdem... da muss es doch, nun, nicht ganz...!" "Ah, des Pudels Kern, um sich Mephisto einzuladen! JETZT sind wir bei den Gründen angelangt, die uns heute Morgen abhold waren: moralische, ethische Bedenken! Die Verwerflichkeit des reinen Lustprinzips, der Anschein von hedonistischer Lebensfreude im Angesicht all des Elends und Unglücks auf der Welt. Die ungezügelte Libido zulassen, ohne sich strafend aneinander zu fesseln. Nur für den Moment, für den Genuss zu existieren, dem Animalischen allen Raum gewähren." Führte Roger versiert aus, staubtrocken, ohne Pathos. Ugo errötete beschämt. "Scheiße, hm? Dass man diese verdammte Prägung nicht los wird, dass man denkt, man sollte sich schämen, ein schlechtes Gewissen haben." Roger setzte sich auf, blickte Ugo unverwandt an. "Ich für meinen Teil will mich nicht schämen. Ja, ich habe dich in die Enge getrieben und genötigt, mit mir einer körperlichen Befriedigung nachzugehen. Ich sehe in unserem gemeinsamen Treiben nichts Schändliches, nicht mal etwas, das Dritte angeht. Ich möchte es wieder tun, so oft und so lange, wie wir beide darin Vergnügen finden. Ich will uns nicht aneinander ketten, Zukunftspläne schmieden, was auch immer planen, als wären wir an der Hüfte zusammengewachsen. Wenn dich das umtreiben sollte: ich kann diskret sein, sogar lautlos, falls du auch die Gebärdensprache beherrschst." DAS kam wieder mit einem satten Unterton von Ironie. Ugo, der sich nicht mehr wie ein gekochter Hummer fühlte, seufzte, sackte ein wenig in sich zusammen. "Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Normalerweise gibt es doch Fakten und Naturgesetze und..." Eine balancierte Abwägung von Vor- und Nachteilen, eine Konsequenzanalyse. Sich erhebend streckte Roger ihm eine große Hand hin. "Eine Empfehlung hat der Volksmund zu bieten: ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich recht ungeniert. Die alten Römer würden dir raten: mens sana in corpore sano. Meine abgehobenen Eltern zitieren häufig: wenn der Körper tanzt, jubiliert die Seele und zelebriert das Leben." Panisch blickte Ugo zu Roger hoch. "Ich kann gar nicht tanzen, wirklich!" Woraufhin Roger, der KEINE Aufforderung zu einem Gesellschaftstanz aussprechen wollte (eher die Lapdance-Variante im Sinn hatte), laut zu lachen begann. Q~~~* Da Ugo perplex über diese Reaktion noch reglos staunte, bediente sich Roger selbst, indem er Ugos Handgelenke einkassierte, ihn auf die Füße, anschließend in seine Arme zog. Ihm ins Ohr raunte. "Heute gibt es die Geschmacksnote Praliné, eine infernalische Sorte, die auf der Zunge zerlegt. Sie diffundiert quasi direkt ins Gehirn und lässt die Endorphine euphorisch ins Elysium eingehen." Ugo fragte sich, ob das Reklame war oder von Roger ungeniert als Alliteration ersonnen, um ihn vollends zu verwirren. "Das ist aber keine Lösung." Sie setzten perspektivisch fort, was nach den "Regeln" nicht funktionieren sollte! Zudem wusste er nicht, wie er für Roger NICHT reizvoll erscheinen konnte! "Oh, temporär durchaus. Pflege deinen Körper, du hast nur einen. Während der Geist noch grübelt, gönnen wir uns was Feines." Konterte Roger, dirigierte Ugo geübt Richtung Zimmer und Bett. Ugo, der zutreffend annahm, dass er dieser Argumentation nicht widersprechen konnte, schnaubte gequält. "Wieso ist das alles bloß so unsortiert?!" Da musste man sich doch frustriert fühlen! Nach der aufreizend angekündigten Tafel Schokolade aus seiner Umhängetasche fischend lachte Roger rau. "Das, werter Mitsündigender, ist ein weiterer Beleg für die Hybris von homo sapiens. Die Gesetzmäßigkeiten nicht erkennen, weil sie komplex sind, sich simplifizierend was einbilden und dann beschweren, dass es NICHT aufgeht." Was für Ugo auch verdächtig nach "Eitelkeit" klang. Sich für schlau und durchblickend zu halten, aber daran kläglich zu scheitern. "Es ist zweifellos komplex, aber doch persönlich ärgerlich, wenn andere sich damit arrangieren, während..." Er selbst zweifelte, haderte, sich metaphorisch die Zähne daran ausbiss, sogar kriminell agierte, um dieses verflixte Mysterium...! Roger, schon ein Bruchstück der Schokoladentafel verkostend, vertagte die unerquickliche Debatte um trügerische Illusionen und fehlgeleitete Erwartungen. Die gemeingefährlich appetitliche Ladung wollte gelöscht und Ugo auf die aktuell wesentlichen Entwicklungen gelenkt werden! Q~~~* Es war das erste Mal, dass Ugo nicht konsequent die Augen zukniff. Zugegeben, es erschien ihm etwas unhöflich, diese Aktionen leiblicher Verlustierung anzusehen, da würdevolles Gebaren häufig nicht mit einherging. Im Klartext: man sah verschwitzt, entblößt, erregt und lüstern nicht gerade präsentabel aus. Roger, der wie gewohnt die Initiative ergriffen hatte, lupfte kurz eine Augenbraue, zwinkerte, bevor erneut die rapide schrumpfende Menge an tatsächlich SEHR DELIZIÖSER Schokolade neue Kontaktflächen und Abnehmende fand. In einem kurzen Moment der Besinnung erkannte Ugo, wie geschickt Roger ihn rangiert hatte. Durch Aufbrausen, Grollen, Argumentieren dazu bewegt, sich selbst die Erkenntnis einzugestehen. Er wollte diesem lustvollen Akt nicht frönen, weil er glaubte, es nicht zu dürfen. Nicht wollen zu dürfen aufgrund der wirren, widersprüchlichen "Regeln" von anderen. Die andere "Situationen" voraussetzten, durch idealisierende Wunschvorstellungen utopische Ziele setzten, für alle als verbindlich einstuften. Schließlich hatte man das "schon immer" so gehalten! Ein Lob dem kurzen menschlichen Gedächtnis! »Nein!« Ugo leckte Roger Schokolade aus einem Mundwinkel. »Schluss mit diesem Unsinn und der überflüssigen Selbstbeschränkung!« Schlimmer noch, er mochte Roger! Dessen frech-unverschämtes Vorgehen, sich selbst von einem aufdringlichen Tagtraum befreien zu wollen, die Courage aufzubringen! Außerdem war es eine Erleichterung, sich auch körperlich so langsam pubertärer "Normalität" anzunähern! Q~~~* "Uh." Murmelte Ugo, registrierte, dass er mutmaßlich wohlig weggedöst sein musste. Roger, der ihm geübt mit einem feuchten Lappen die Haut abtupfte, grinste. "Morgen selbe Zeit, selber Ort, selbes Programm." Verkündete er, wirkte etwas zerrupft, was den Dutt am Oberkopf betraf. Ohne Brille und damit im Nachteil blinzelte Ugo heftig, auch wenn das die Sicht nicht bedeutend verbesserte. "...oh! Was sag ich meinen Eltern?!" Wr wollte nicht glauben, dass sie schon das wilde Gerücht über sein "Outing" vernommen hatten. Dennoch wäre es angezeigt, sich etwas Solides für die Freizeitgestaltung in den Sinn kommen zu lassen. "Conversation en courant." Schlug Roger vor, erhob sich, um nach abgeschlossenen Hygienearbeiten kurz die Utensilien ins Badezimmer zurückzubringen. "Laufende Gespräche?" Wiederholte Ugo zweifelnd, seine Brille justiert, die er endlich ausgemacht und aufgesetzt hatte. "In der Tat." Roger zog sich ohne Hemmungen vor ihm wieder an, reichte ihm demonstrativ die eigene Wäsche. "Gelebte Debattenkultur, argumentativer Austausch. An der hoffentlich frischen Luft, zumindest aber unter freiem Himmel, bei natürlichem Licht. Zufuhr von Vitamin D, maßvolle Bewegung, gesund für Leib, Glieder, Gelenke und Verdauung." Ugo spürte, wie seine Kinnlade mal wieder die Knie besuchen wollte. "Niemand würde Nachhilfe glauben." Rutschte ihm schließlich resigniert heraus. Wenn Roger nicht gerade wütend durch die Gegend bellte und sein Lieblingswort in jedem dritten Atemzug intonierte... Der zwinkerte aufgeräumt. "Für morgen: alle deine Fragen auf die Liste. Fordere mich heraus, überprüfe die Schlüssigkeit meiner Argumente. Das wird ordentlich Appetit machen. Wie denkst du über Pizza? Quiche? Focaccia? Hefefreier Universalteig, dazu Aufstrich und Belag nach Wahl?" Mitten im Bekleidungsprozess begriffen starrte Ugo Roger an. "Wenn du etwas anderes vorziehst?" Signalisierte der deutlich amüsiert Kompromissbereitschaft. Ugo zerrte rasch seine Hosen hoch. "Ich frage mich gerade, was passiert, wenn wir doch Freunde werden können." Formulierte er vorsichtig. Roger schmunzelte. "Solange du nicht 'Harry' heißt, und ich meine nicht diesen Zauber-Fuzzi, sehe ich großartige Zukunftsperspektiven. Ah, Moment!" Er beugte sich vor, küsste Ugo gründlich. Der errötete. "War da wirklich noch Schokolade?" Roger feixte so breit, dass die Hörgeräte gequetscht wurden. "Nö. Bis morgen dann!" Womit er geschmeidig seinen Abgang von der Bühne einleitete, die Wohnung verließ. Ugo hingegen plumpste recht unelegant auf sein Bett. "Ach du liebe Güte." Gewann er hier gerade den ersten richtigen, menschlichen, nicht aus Zellulose gefertigten Freund seines Lebens? Q~~~* Nachdem sich die Verblüffung gelegt hatte, beschäftigte sich Ugo mit den drängenden Problemen. Zunächst mal: herausfinden, ob er die Zutaten für die von Roger vorgeschlagenen Speisen fand. Dazu wären Rezepte vielleicht auch nicht verkehrt, wenn der eine gewisse Expertise aufwies. Wie exotisch oder anspruchsvoll sollte es sein? Sicherheitshalber entschied sich Ugo für eine ihm selbst genehme Variante, die das Verletzungs- und Scheitern-Level gering hielt. Man musste sich eine Erklärung für die Eltern ausdenken. "Conversation en courant" hörte sich hübsch an, aber "laufende Unterhaltung" wirkte doch ein wenig dürftig angesichts der Vorgeschichte. Die Erinnerung ermahnte Ugo auch, dass er sich WIRKLICH um eine vollständige Liste aller Fragen bemühen musste. Ihm würden wohl auch diverse gestellt werden, wenn seine Eltern nachhakten, warum sich die "Nachhilfe" so gewandelt hatte. Oder was der Spiegel-Sprenger eigentlich bei der Straßenreinigung so erlebt hatte. Ugo seufzte, zwang die Schultern weg von seinen Ohren. Wie unhöflich von ihm! Als Freund erkundigte man sich bestimmt nach dem Ergehen, Wohlbefinden, den jüngsten Erlebnissen! "Ich muss besser werden!" Entschloss er sich. Q~~~* Die Herausforderungen vom Vorabend präsentierten sich als sehr leicht definiert. Erschöpft vom ersten Arbeitstag unter strengeren Corona-Bedingungen nach ihrem verlängerten Wochenende wollten seine Eltern lediglich erfahren, ob er den Tag gut verbracht hatte. Füße hoch, Windlicht an, Tee aufgebrüht und Durchschnaufen! Was Ugo bestätigte, dass er zumindest noch nicht von "fehlerhaften" Gerüchten eingeholt worden war. Deshalb zog er sich rücksichtsvoll in sein schmales Zimmer zurück, notierte entschieden Fragen. Es waren unerfreulich zahlreiche, einhergehend mit der Erkenntnis, dass er Roger nicht richtig eingeschätzt hatte. Für die "Etiketten" musste eine dritte Kategorie eingeführt werden! "Unbedingt erforschen!" Q~~~* Ugo wartete. Er hielt sich akribisch an die Losung, am Folgetag beim kleinen Park. Dieses Mal näherte sich Roger in seinem Blickfeld, vermutlich, das konnte man nicht bestreiten, mit Absicht. "Morgen! Na, bereit für die Quizrunde?" Roger zwinkerte, präsentierte die gewohnt grimmige Miene mühsam beherrschten Zorns. Ugo runzelte unter seine Mütze die Stirn. Actio-Reactio. ER durfte zwar die Fragen stellen, wurde jedoch auch selbst geprüft. "Guten Morgen. Ich habe die Liste hier. Zuerst, wie ist dein Befinden?" Hakte er gesellschaftliche Gepflogenheiten mit der Vorsicht eines Vulkanfeld-Erforschenden ab. Neben ihm ertönte ein raues Glucksen. "Scheiße, Lockenköpfchen, hast du auch noch ein Konversationstraining absolviert?" Verschnupft lupfte Ugo das Kinn, richtete seine Brille, die der Nasenspitze entgegen wanderte. "Ganz und gar nicht! Ich bin bisher lediglich überrumpelt gewesen! Es gehört ja wohl unbestritten zum guten Ton, sich nach dem persönlichen Ergehen zu erkundigen!" Selbst wenn man das anders betitelte, unzählige Optionen zum "Status" in irgendwelchen Foren und auf diversen Plattformen anbot. "Schön, spielen wir brav nach den Regeln! Das gesundheitliche Bulletin überspringe ich und kürze auf 'alles paletti' ab. Wie geht's dir?" Noch ein wenig verstimmt stopfte Ugo die Hände in die Jackentaschen. "Danke der Nachfrage, mir geht es gut." Das klang derart steif, dass er Roger ein nur nachlässig unterdrücktes Schnauben nicht verdenken konnte. Einige Schritte spazierten schweigend sie über den Weg. Ugo blieb stehen, zupfte an seiner Jacke, bis er aus der Innentasche endlich seine Notizen exiliert hatte. Sich eilig wieder gegen die Witterung isolierend blinzelte er. Klare Sicht, eigens die Brillengläser poliert. "Ich werde mich nicht verschrecken lassen!" Ließ er Roger entschlossen wissen, funkelte betont kämpferisch. "Es ist mir nämlich nicht entgangen, dass du das immer wieder versuchst. Um mich aus der Reserve zu locken, vermutlich. Ich ziehe eine Konversation vor. Ich glaube, dass wir beide nicht derart unsicher sind, um auf andere Methoden der Reaktion zurückgreifen zu müssen." Q~~~* Nachdem Ugo diesen Wirkungstreffer gesetzt hatte, nahm er den Schlendergang wieder auf, wünschte allerdings, er hätte an Handschuhe gedacht. Seine Notizen benötigte er ja doch. Roger kämpfte, ein Seitenblick enthüllte es Ugo, gegen ein Grinsen an, was unverschämt die Mundwinkel kräuseln wollte. "Sieh an, sieh an. Scheiße, das ist mal ne Ansage. Da werde ich mich wohl am Riemen reißen müssen." Was nicht danach klang, als sei es eine große Belastung oder eine Herausforderung. Obwohl taktisch ausgesprochen unklug, entwischte Ugo ein Seufzer der Erleichterung. Eilig konzentrierte er sich auf seine Notizen. Über eine Reihenfolge hatte er sich durchaus Gedanken gemacht. Allerdings wirkte es in der Umsetzung arg nach einem Verhör, was sich als Basis für eine potentielle Freundschaft nicht gerade als empfehlenswert ausnahm. Mit dem Erinnyen-Chor lag Roger richtig! "...ich würde gern wissen... wieso warst du gestern hier?" Versuchte Ugo es mit der Chronologie als Einstieg. Roger, der äußerst entspannt neben ihm flanierte, grinste unverhohlen. "Weil du hier warst, selbstverständlich." Was Ugo gegen den Strich bürstete. Allerdings, das musste er anerkennen, wäre es wohl angezeigt, präziser zu formulieren. "Das verstehe ich ja. Worauf ich hinaus wollte: woher wusstest du, dass ich HIER sein würde?" Und nicht zu Hause, auf der Flucht, in einem Schrank. "Scheiße, Lockenköpfchen, du hast keine große Meinung von meinem taktischen Planungsvermögen, hm? Zugegeben, die Sache mit dem Spiegel spricht nicht gerade für mich." Roger hielt artig inne, als Ugo neben ihm frustriert schnaufte. "Du hast mir eine E-Mail nach Hause geschickt!" Was Ugo als unverschämt selbstherrlichen Schachzug ansah, zumindest bis zu einer Erläuterung. Amüsiert präsentierte Roger darauf hin seine große Rechte. "Ad 1: Konditionierung. Der Distanzunterricht hat bestimmte Uhrzeiten zur Abholung von neuen Aufgaben bedingt bei Remote-Verbindungen. Nach meinen Beobachtungen pflegst du gern Routinen im Alltag. Ergo würdest du zu einer bestimmten Uhrzeit vor dem Rechner sitzen, Nachrichten und die Post virtuell aufgabeln." Dem Zeigefinger gesellte sich der Mittelfinger bei der grafischen Auflistung der Argumente hinzu. "Ad 2: kein Verreisen zur Familie aufgrund der Pandemie-Bestimmungen. Zudem, das konnte ich am letzten Schultag ja sehen: keine ausgedehnten Vorbereitungen im trauten Heim. Keine Taschen, Tüten, Paketaufkleber usw. für Geschenktransport oder -versand." Roger ergänzte den Ringfinger. "Ad 3: potentielles Dilemma durch das Aufklärungserfordernis an die werten Eltern. Stünde ich vor der Tür, würde es schwierig, den Einlass mit einer glaubwürdigen Begründung zu verweigern. Außerdem, wie man ja weiß: hat man das Ungeheuer erst mal über die eigene Schwelle gelassen... Gilt nicht nur für Blutsaugende." Ugo zog eine grämliche Schnute, weil er sich unseliger Weise zu recht lektioniert fühlte. "Ad 4: Konsequenzanalyse: Abfangen VOR der heimischen Schwelle. Vorteile: Absprache der Verlautbarungen, Verhandlung von Kompromissen. Notwendigkeiten: Ort und Zeit dafür. Geländekenntnis: möglichst ungestört, unbeobachtet, in Distanz, falls es zu LAUT werden sollte." Gelassen verstaute Roger seine große Hand wieder in der wärmenden Jackentasche. "Demnach war es logisch, wo ich dich finden würde. Ebenso, dass du aufgeschreckt und nervös NUR in eine Richtung blicken würdest. Woraufhin ich mich bequem über einen kleinen Umweg anpirschen konnte." Gepeinigt entschied Ugo, ohne Sichtkontakt eine Frage auf seiner Liste abzuhaken. Möglicherweise war er doch sehr viel "sichtbarer", als er jemals angenommen hatte! "Woher hast du überhaupt meine E-Mail-Adresse?" Wich er hastig auf eine andere Fallgrube aus. Was Roger nicht aus dem Takt brachte. "Schlichte Nachfrage. Schulsekretariat. Natürlich alles Datenschutz, keine Frage. Ich hab lediglich behauptet, ich wüsste nicht, ob da jetzt ein Punkt zwischen Vor- und Nachname gehört. Wegen der Masken Verständigungsschwierigkeiten plus Berührungsängste mit Behinderten. Erreichtes Ziel: Abgleichen der E-Mail-Adresse durch Notiz und Hochhalten über den Tresen. Bingo." Roger rollte lässig die Schultern, während Ugo nach Luft schnappte. "Aber~aber du kanntest meine E-Mail-Adresse doch gar nicht!" "Nö. Danach schon." Bestätigte Roger verschmitzt, schämte sich keinesfalls seiner psychologischen Kriegsführung. "Das~das ist nicht richtig! Beinahe kriminell!" Empörte sich Ugo aufgebracht, weil er nicht umhin konnte, Rogers Frechheit zu bewundern. "Oh, definitiv. Und unmoralisch, weil ich die Unsicherheit einer anderen Person ausgenutzt habe, ihre Hilfsbereitschaft ausgebeutet. Ich dachte mir dabei: es dient ja einer guten Sache. Wie zum Beispiel das Ende des unregistrierten Entleihens von Schmonzetten herbeizuführen." Süffisant und sarkastisch. Prompt errötete Ugo beschämt, starrte auf seine Schuhspitzen, fühlte sich ganz und gar nicht souverän. "...die Bibliothek... als wir uns unterhalten haben... warum hat sie...?" Stammelte er hastig. Oje, schon wieder eine Einladung, ihm mangelnde Präzision vorzuhalten! Roger verzichtete darauf. "Warum sie mich direkt angesprochen hat? Exkrement!" Zitierte er sich selbst. "Wie ich dir gestern schon erzählt habe, nutze ich oft das Stehpult in der Kunst-Ecke. Bildbände, schwere Folianten, viel Staub, da ist nicht viel los. Man kann im Stehen arbeiten, wird nicht gestört. Ich wollte da an einem Referat arbeiten. Hab mir meine Lausch-o-maten abgeklemmt und in die Tasche gesteckt. Gebiss lässt man ja auch nicht herumliegen. So reduziert sich meine Umgebung akustisch auf sehr gedämpfte, sonore Geräusche. Ich konzentriere mich also artig, tauche in den Tunnel der Erkenntnis ein. Später sollte eine Lesung erfolgen, nur geladene Gäste, wofür das Stehpult benötigt wurde. Das war mir allerdings nicht bekannt. Unser bibliothekseigener Drache nähert sich und bemüht sich akustisch, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen, selbstverständlich in Lesesaal-tauglicher Leise-Stärke. Ich, juveniler Nichtsnutz, ignoriere sie unhöflicherweise, habe NICHTS in den Lauschern, bin also theoretisch durchaus auf Empfang. Abgesehen von angeborener, sich verstärkender Taubheit. Was ihr nicht bekannt ist, woraufhin, mit einem gewissen Frustrationspegel, ein Rütteln am Lesepult folgt. Ich reagiere darauf wie gewohnt, nämlich mutmaßlich laut und mit meiner Lieblingsvokabel. Eine Intervention später sind die Fronten geklärt. Aber es war nicht, um mal cinemaphil zu bleiben, 'der Anfang einer wunderbaren Freundschaft.'" Schloss Roger die Reminiszenz ab, registrierte Ugos hilflosen Blick mit einem grimmigen Grollen. "Scheiße, bewegte Bilder in Fiktion sind nicht deine Forte, wie? Casablanca, schon mal gehört? Nach dem grässlichen 'ich schau dir in die Augen, Kleines' und 'spiel's noch mal, Sam' das bekannteste Zitat." Ugo widmete sich eilig seinen Notizen, verteilte Haken. "Wieso Filme? Also, Spielfilme, weil da ja auch Romanzen..." Kein besonders überzeugender Return. Roger grummelte erneut. "Scheiße, das ist ein Treffer. Das Schiff ist aber noch nicht versenkt! Okay, sag mir nicht, dass du das auch nicht verstehst!" Sich abwendend pustete Ugo warme Luft auf seine kalte Hand, die die Notizen apportierte. "Lockenköpfchen, du bist definitiv zu oft allein. Vergiss 'Schiffe versenken', Militarismus ist auch keine nachhaltige Lösung, mal ausgenommen Atombomben. Also, Filme, Spielfilme. Zunächst simpel: Unterhaltung, im Kreis der lieben Familie, gelegentlich zumindest. Dazu: Untertitel. Quasi Training, wenn die meisten Klassiker nicht ursprünglich Englisch/Amerikanisch aufgeführt werden. Da passen deutsche Untertitel leider nicht zur Lippensynchronisation. Allerdings im Original schon ein gewisses Training, wenn man die Möglichkeit bekommt. Dann natürlich: Recherche und Beweisführung. Gerade bei Klischees, Märchen, Illusionen, aufgenötigten Erwartungen." Für einen langen Moment zögerte Roger, zum ersten Mal in ihrer Bekanntschaft, presste kurz die Lippen aufeinander. Linien zeichneten in sein Gesicht. "Scheiße, den Rest kann ich ja auch gestehen. Gesellschaften definieren sich häufig über ihre Kultur, ihre Kunst, richtig? Wie hinlänglich bekannt: Musik ist an mich verschwendet. Von Malerei halte ich Abstand, mit Lineal." Ugo wand sich unter dem ironisch-bissigen Unterton. Da klang der ewig zornige Roger sehr deutlich durch. "Bleiben zum Beispiel Literatur und bewegte Bilder. Die Eindrücke und Erlebnisse, die prägen, werden entsprechend umgesetzt. Folglich ist es von Interesse, sich häufig gesehene Filme, ihre Handlung und ihre Motive zu betrachten. Wenn man nachvollziehen will, was eine Gesellschaft beschäftigt." Roger schnaubte grimmig. "Keine neue Erkenntnis, durchaus nicht. Horrorfilme, Dystopien entsprechen Ängsten. Mal Atomunfälle, mal Kalter Krieg, mal Seuchen, mal Völkerwanderung, mal Klimakatastrophen. Bei Science Fiction kann man sich Erwartungen für die Zukunft oder das noch Unbekannte ansehen. Auch die ganzen epischen Erzählungen, quasi Seifenopern, Zyklen, Serien. Wie ist die Gesellschaft gerade organisiert, modern gesprochen: wie divers, wie individuell, wie harmonisch. Und, oh, Grusel, Romanzen oder Komödien. Welches Bild wird vermittelt, was gilt als Erfolg, als Glück, als Lebensziel." Wieder einmal staunte Ugo über die Verwandlung, wenn Roger die Wut beiseite ließ. "Dementsprechend kann man Listen studieren. Was wurde wie häufig gesehen, prämiert, erwähnt. Welche Motive wurden aufgegriffen. Was prägt ein Jahrzehnt, eine bestimmte Bevölkerungs- oder Altersgruppe. Es gibt eine Menge Aufsätze dazu. Wenn wir ehrlich sind: eigentlich ist schon alles erzählt. Die Verpackung passt sich bloß ständig an." Schloss Roger seinen Vortrag ab. "...und in der Kunst-Ecke...?" Erkundigte sich Ugo nervös, der sie zugegeben gar nicht aufgesucht hatte. "Exakt, dort findet man nicht nur Bilder in Bänden, sondern auch Cinematographie. Für faule Socken wie mich auch Annalen mit Inhaltsangaben zu den jeweiligen Filmen." Roger grummelte griesgrämig. "Scheiße, ich bin nicht sicher, ob es eine Erleichterung oder Enttäuschung ist, dass nichts Neues unter der Sonne geschieht, um es mal biblisch auszudrücken. Zumindest bei den wiederkehrenden Motiven. Deshalb sind die Details in der Darstellung von Interesse." Zu Ugos Verwunderung führte Roger seine Überlegungen aus. "Natürlich bestehen Filme auch aus Bildern. Anders als bei den Exemplaren, die in Museen hängen, wird der Kontext beim Film mitgeliefert, zumindest recht häufig. Ich bin nicht gezwungen, eine vergessene Symbolik mühsam zu entschlüsseln. Das reduziert die Hürden, erleichtert den Einstieg." Er grollte. "Scheiße allerdings bleiben Märchenstunden, ganz gleich, wie die Verpackung aussieht. Auch wenn man es nuanciert, alle möglichen Teints zulässt, biologische Geschlechterdefinitionen aufbricht. Am Ende entsteht ein Ideal, eine Utopie, die ohne Warnung losgelassen wird: regelmäßig zwei Menschen in ewiger Liebe verbunden. Ausgeblendet werden die Realität, die nickligen Details, die Ausreißer in der Statistik. Und das Henne-Ei-Problem: soll es so sein, weil wir es wollen, oder wollen wir es, weil es so sein soll? Imitiert die Kunst das Leben oder leitet die Kunst die Lebensführung an?" Ugo registrierte die Kaltluftzufuhr endlich, schloss den Mund. "Langweile ich dich?" Erkundigte sich Roger in gefährlich süßlichem Tonfall, die schwarzen Augen funkelnd. "Nein. Nein, gar nicht! Ich bin bloß... ich meine, es kommt mir wie eine Möbiusschleife!" Hastig brach Ugo ab. Es wirkte sonst, als zerbreche sich Roger völlig überflüssig den Kopf, weil das Henne-Ei-Problem nicht logisch zu lösen war. Roger blieb stehen. Zögerlich bremste Ugo, achtete jedoch auf eine gewisse Distanz. "Wenn es eine Möbiusschleife ist, und ich widerspreche dir gar nicht, warum...?!" Knirschte Roger mit den Zähnen. "Scheiße. Also, warum machen wir uns was vor? Wem nützt es, Ideale wieder und wieder zu präsentieren, an denen man scheitern muss? Warum lassen wir uns das einreden? Wieso müssen wir uns mühsam immer wieder freikämpfen? DAS regt mich so was von auf!" Wobei er erstaunlich moderat in der Lautstärke blieb und seiner Lieblingsvokabel ungewohnt selten frönte. Unbehaglich zog Ugo die Schultern hoch. In den schwarzen Augen loderte ein gefährliches, abgründiges Feuer, wie ihm schien. Fast hätte er einen lärmenden Ausbruch bevorzugt. "Offenkundig Kontrolle. Machtausübung. Steuerung." Roger setzte sich langsam wieder in Bewegung. "Was wäre, wenn es in der menschlichen Disposition liegt? Neben unserem Drang, zu simplifizieren, Schubladen zu konstruieren, Muster zu erkennen, die es vielleicht gar nicht gibt. Wenn wir, möglicherweise aus evolutionären Gründen, einfach unfähig sind, aus uns selbst heraus Befriedigung zu finden. Ich will jetzt nicht so weit gehen und das Streben nach dem Nichts, dem nichts Wollen, zu propagieren. Sollte sich nicht endlich die Erkenntnis durchsetzen, dass unsere endliche Existenz bedingt, eine eigene Antwort finden zu müssen? Sich in Bezug auf den Sinn der eigenen Lebensführung auf sich selbst zu beziehen? Das Heil nicht bei anderen zu suchen, ganz gleich, ob die menschlich, ideell oder sonst wie beschaffen sind?" Q~~~* "Du liebe Güte." Wisperte Ugo. Er fragte sich, ob möglicherweise die Kunst-Ecke neben den Abhandlungen zu philosophischen Denkschulen lag. Neben ihm grimassierte Roger bitter. "Ich gehe mal davon aus, dass du nicht 'was für ein Scheißdreck' denkst. Nicht mal euphemistisch umschrieben, weil das nicht dein Vokabular ist. Scheiße, ich bin mittlerweile zu der Auffassung gelangt, dass homo sapiens einfach blöd ist. Uns fehlen ein paar wichtige Sinne. Wir verlassen uns auf unsere Augen, um Distanz zu potentiellen Gefahrenquellen zu halten. Die größte Gefahr für homo sapiens ist homo sapiens selbst. Was sehen wir? Äußere Erscheinung plus Dekoration. Folglich wird uns diese Disposition IMMER rein grätschen. Es muss schnell gehen, also entscheidet die Optik, die wiederum Schubladen benötigt, zwecks Mustererkennung. Die Falle schnappt zu. Vielleicht sind wir einfach nicht FÄHIG, die Vielfalt der Lebenswirklichkeit zu verarbeiten. DARUM fallen wir auf die einfachen Antworten rein, die schlichten Erzählungen, die simplen Ideale. Sex nur zu zweit mit Beziehung, deren Gefühlsspektrum unter 'Liebe' subsumiert wird. Fall erledigt, Problem abgehakt." Schloss Roger ätzend seine philosophischen Ausflüge. Ugo hingegen fühlte sich unvermutet in einen Ein-Mann-Kulturkampf einbezogen. Ein auswegloses Dilemma, weil man auch als Individuum die Gemeinschaft der anderen zum Überleben benötigte. "Heißt das jetzt, wir sind im Untergrund unterwegs? Weil wir uns von diesem Ideal abwenden?" Erkundigte er sich zögerlich. Roger drehte den Kopf, studierte ihn einen ungemütlich langen Moment, bevor ein leichtes Lächeln seine grimmige Miene ablöste. "Scheiße, Lockenköpfchen, so subversiv habe ich mich gar nicht eingeschätzt! Valides Argument. Macht sich besser als 'Querulant', hm?" Ugo sortierte unterdessen seine Gedanken, verwirrt von der Entwicklung. So konspirativ hatte er sich selbst nicht gefühlt, aber nun, da ihm dieser Gedanke gekommen war... "Hab ich jetzt deine Strategie vollends torpediert? Oder sind keine Fragen mehr übrig?" Fragte Roger, strebte der Straße zu. "Nein, und doch..." Antwortete Ugo, in Gefahr, mit einem Markierungspfosten zu kollidieren. Glücklicherweise stupste Roger ihn an, was ein Ausweichmanöver initiierte. "Oh, danke! Ich habe noch Fragen. Nur muss ich... Moment" Ugo blieb stehen. Im Laufen ließ sich schlecht Ordnung in sein System bringen. Die logische, einigermaßen chronologisch aufgebaute Liste der Fragen musste durchgesehen werden, weil einige obsolet erschienen nach Rogers unerwartet tiefsinnigen Einblicken in seine Gedankengänge. "Oh, die Straßenreinigung..." Entzifferte er eine Notiz. Danach hätte man sich durchaus erkundigen können! "Nach einer Woche wegen guter Führung entlassen." Schnurrte Roger selbstbewusst. Ugo richtete seine Brille, runzelte die Stirn. "Tatsächlich? Oh, ich meine damit nicht... Vielmehr wollte ich... Es liegt ja nicht nahe..." Haspelte er, irritiert durch Rogers ungezogen breites Grinsen. "Scheiße, hast du dir Sorgen gemacht? Juckte da etwa das schlechte Gewissen?" Amüsierte er sich ungezogen über Ugos Verlegenheit. Prompt verlor sich dessen Unsicherheit in einer unsortierten Mischung aus Verärgerung, Beschämung und Hilflosigkeit. Weil er Roger keineswegs dessen unverschämt selbstherrliche Art gepfeffert vorwerfen konnte! Roger hingegen lachte leise, rau. "Du solltest wirklich niemals Poker spielen, Lockenköpfchen. In deinem Gesicht kann man wie in einem offenen Buch lesen. Dass es dir wirklich gelungen ist, so eine Heimlichtuerei in der Bibliothek abzuziehen! Verblüffend!" Beleidigt drehte Ugo den Kopf weg. Derart unfähig wollte er sich nicht darstellen lassen! Als könne er kein Geheimnis bewahren, sehe man ihm jeden Gedanken an der kalten Nasenspitze an! "Scheiße, sei nicht gleich eingeschnappt wie ne Auster! Lass uns lieber zu eurer Wohnung schnüren. So langsam frieren mir die Kronjuwelen ein." Bestimmte Roger die Richtung, setzte sich in Bewegung. Ugo, der ungemütlich registrierte, dass seine zusammengepressten Lippen möglicherweise doch Ähnlichkeiten mit Austernschalen haben konnten, folgte widerwillig. "Die Straßenreinigung lag, entgegen deiner Vermutung, durchaus nahe. Es gibt immer mal freiwillige Reinigungsaktionen. Da habe ich mich schon mal beteiligt. Meine Eltern waren in diesem Fall der Auffassung, dass mein Gemüt mal wieder eines Durchfegens bedurfte. Frische Luft, Engagement für die Umwelt, Wertschätzung von Gütern, Ordnung, körperliche Betätigung, sichtbare Erfolge. Was will man mehr?" Schloss Roger rhetorisch, wandte sich über die Schulter an Ugo, der aufschließen musste, um Roger keinen Vorwand zu liefern, die Lautstärke ihrer Unterhaltung zu steigern. "Die netten Leute bei der Straßenreinigung würden mehr maschinelle Unterstützung begrüßen, zum Beispiel. Sie waren der Auffassung, ich sollte meinen Verstand bei einem Studium einbringen. Besseres Gehalt, weniger körperliche Arbeit, neue Geräte, Maschinen, Straßenbeläge. Idealerweise mehr Wertschätzung für die eigene Umwelt, mehr Rücksicht, weniger Bequemlichkeit oder Gedankenlosigkeit." Ugo hakte eilig auf seiner Liste. Er zögerte, weil es Fragen gab, die er sich scheute, direkt zu stellen. Roger hingegen schien auf geradezu unheimliche Art diese "Leerstellen" aufspüren zu können. "Traust du dich doch nicht? Mich zu fragen, warum meine Eltern auf so etwas als 'Strafe' verfallen?" Ertappt stolperte Ugo, fing sich gerade noch ab. "Oder was sie glauben, was an dem Tag passiert ist?" Diese Frage fand sich in den Notizen. Nach langem Zögern aufgeschrieben, weil Ugo Zweifel überkamen, wie viel Forschungsdrang ihre seltsame Beziehung vertrug. Nervös suchte er in Rogers Gesicht nach einem Hinweis. Der allerdings schien durchaus Pokerspiele erfolgreich bestreiten zu können, ließ sich keinen Fingerzeig anmerken. Er streckte die Hand aus. "Du musst dich schon trauen, sonst bleibt der Horizont der Punkt unter den eigenen Füßen und Erkenntnis eine Illusion." Feigheit ließ Ugo sich nicht gern vorhalten! Obwohl er wusste, dass Roger gerade diesen Hebel wählte, ihn zu rangieren, auf das Gleis der Analyse trotz Unbehagen. Bevor er sich widerwillig entscheiden konnte, kaperte Roger einfach seine Hand, die mit den Notizen, schon wieder kalt und steif. Er stopfte uneingeladen die Notizen in SEINE Jackentasche, umschloss Ugos Hand. "Best foot forward, Kamerad! Während wir marschieren, nein, kein Lied, sondern die Auflösung." Ugo seufzte geschlagen, stapfte neben Roger her. Er hatte ZWEIFELLOS die falschen Bücher gemopst! Q~~~* Roger kümmerte sich nicht um irritierte Seitenblicke. Während er Ugo in forscherem Tempo mit sich zog, auch, weil es spät und recht unwirtlich wurde, lieferte er Antworten. "Meine Altvorderen erfuhren selbstredend von dem Aufruhr. Bullenschaukel vor der Tür, Ambulanz, minus ein Spiegel im Flur. Was sie NICHT glauben, ist, dass ich dir mit Schokolade bewaffnet auf den Leib rücke. Diese Art von Entgleisung trauen sie MIR nicht zu, weil das unvernünftig, kriminell, triebgesteuert und beinahe anarchistisches Verhalten wäre. Ich gehöre aber zur 'Spießer'-Fraktion." Ugo warf Roger einen verblüfften Blick zu. Der grimassierte äußerst grimmig. "Stellen wir diese Einschätzung mal einen Moment zurück, lassen die Variable offen. Für meine werten Eltern sah die Gleichung schlicht wie folgt aus: Streit mit einem Schulkameraden. Weil ich von unausgeglichener Natur bin, mir selbst entfremdet, in meinen Hass eingesponnen, Randale. Körperlicher Ausdruck meiner selbst verschuldeten Hilflosigkeit. Mein Selbst, meine Seele ist folglich belastet, in einem chaotischen Zustand gefangen. Es hilft, Lesart meine Eltern, sich eine Auszeit zur Einkehr, zur Besinnung, zum seelischen Frühjahrsputz zu verordnen. Für die 'Spießer'-Fraktion ergänzend eine Tätigkeit, die meinem Hang zur Ordnung, zu den harten Fakten, zur nackten Vernunft entspricht. Was könnte besser sein, mich zu erden, aus meiner Selbstbezogenheit zu befreien, als das tatsächliche und mentale Reinigen? Zudem können repetierende, gleichförmige Handlungen einen meditativen Aspekt mit sich bringen." Ugo blinzelte. "...Tat~tatsächlich?" Es verhielt sich nicht so, als hätte er nie davon gelesen, dass manche Menschen dazu neigten, ihre Wohnung zu putzen, wenn sie eigentlich ihr Leben metaphorisch "entrümpeln" wollten, sich einen Neustart verschaffen. Dass man dafür gleich eine Woche bei der Straßenreinigung verbrachte... Roger schnaubte schlicht. "Scheiße, sie liegen nicht falsch damit, in sich erstaunlich konsequent. WENN ich mich nicht schon vorher ausgiebig mit meinem TATSÄCHLICHEN Problem auseinandergesetzt hätte. Gegen meine Grund-Wut hilft ganz sicher keine Putzaktion. Andererseits befriedet es eine Front, nämlich die heimische. Du musst übrigens nicht annehmen, dass es einen freien Fleck im Flur gäbe. Dieser traurige Zustand hielt nicht mal zwei Tage vor." Ergänzte Roger bissig, steuerte Ugos Haus an. Der erinnerte sich an das Zimmer der Brüder und die kahle Seite, ungeschmückt, undekoriert, nicht sonderlich einladend wirkend. "Okay, wenn wir den Lappen wieder runterziehen können, erklär ich dir die 'Spießer'-Fraktion." Versprach Roger unterdessen, gab auch Ugos Hand frei. Die Notizen erstattete er jedoch nicht zurück. Q~~~* Nach dem Entpuppen aus winterlicher Verschalung und gründlicher Handhygiene hieß es, in der Küche für das Mittagessen zu sorgen. Dabei lüftete Roger das Geheimnis der 'Spießer'-Fraktion. "Ich vermute mal, dass du unter 'Spießer' eine etwas andere Vorstellung hast, zumindest als mein äußeres Erscheinungsbild." Roger zerteilte geschickt Zwiebeln in dünne Streifen. "Erklärung: üblicherweise sind in Familien die Personen in der Überzahl, die geregelten Beschäftigungen profaner Natur nachgehen. Die von den Musen geküssten Auserwählten sind rar und exponiert." Er grummelte, ließ die Zwiebelstreifen geübt in einer Pfanne mit Möhrenhäckseln und Sellerie anschwitzen. "Meine Altvorderen haben sich von dieser Gnade begünstigt zusammengetan. Mein älterer Bruder zählt auch zu den Musen-Lieblingen. Deshalb verschieben sich die Proportionen. Ich dagegen bin wie der Rest der Verwandtschaft von beiden Seiten: phantasielos, konform, unsäglich auf Pragmatismus fixiert. Ein 'Spießer', der nach Konsequenz fragt, immer mit Realismus stört, ganz profan die Probleme sieht und nicht die Chancen. Für solche Leute ist es besser, wenn sie sich mit konkreten, unspektakulären Dingen befassen. Das beruhigt ihr simples Gemüt, verschafft ihnen ausgleichende Bewegung und hält sie auf Distanz. So sind alle glücklich und das Gleichgewicht ist gesichert." Die essigsaure Miene verriet, dass Roger diese Vorstellung nicht goutierte. Ugo, der die Teigfläche behutsam planierte, riskierte einen vorsichtigen Blick. "Keine Angst, ich lasse die Pfanne nicht fallen. Du kannst fragen. Oder brauchst du deine Liste dazu?" Die ruhte ja noch in Rogers Jackentasche an der Garderobe. Zögerlich schüttelte Ugo den Kopf, wich zurück, um Roger freien Zugang zum Teig zu gestatten, der geübt die Auflagen verteilte. "Also?" Lupfte Roger eine Augenbraue, nachdem sie den Ofen bestückt hatten. Das Teewasser aufgesetzt atmete Ugo tief durch. Er war neugierig, aber selbst er erkannte sehr dünnes Eis, wenn es unter ihm schon warnend knackte. Sollte er also die Courage aufbringen? Abwartend positionierte sich Roger direkt neben ihm, fixierte sein Profil. Es ließ Ugo zu seiner Not auch noch erröten, sich so ungeniert gemustert zu finden. "Ich fühle mich unter Druck gesetzt." Teilte er Roger mit, dankbar für den Wasserdampf auf seinen Brillengläsern. "Ich warte darauf, dass du fragst. Scheiße, hast du Angst, ich würde dich beißen? Oder, schlimmer noch, ich wäre sauer, würde mit einer theatralischen Szene die Bühne hier verlassen?" Er knurrte grollend. Die bissigen Spitzen tarnten nicht vollends ein gewisses Amüsement. Roger beugte sich zu Ugo, der erschrocken den Kopf wandte. "Hast du Angst, mich zu verletzen? Bin ich dir schon so wichtig?" Q~~~* Allen anderen, davon war Ugo felsenfest überzeugt, wäre eine saftige Replik in den Sinn gekommen. Einen Verweis auf die übertriebene Einbildungskraft! Die Überschätzung der eigenen Wichtigkeit von manchen Personen! Ugo hingegen stotterte unzusammenhängende Laute, ähnelte nach eigener Vorstellung einem Feuermelder. Roger beendete die Farce, indem er ihn auf den Mund küsste, zuerst recht zivil, zurückhaltend, dann engagierter. In der Folge japste Ugo, als Roger Einsicht bewies, sich zurückzog. "Scheiße, Lockenköpfchen, für jemanden, der mich loswerden will, stellst du dich sehr ungeschickt an." Verletzt ballte Ugo die Fäuste, während seine Schultern mal wieder die Ohren besuchten. Als würde er jemanden vorsätzlich verletzen, um Distanz zu erzeugen! Sich abwendend taufte Roger Teebeutel mit dem nicht mehr kochenden Wasser. "Soll ich es von deiner Liste ablesen?" Bot er dabei an. Das zwang Ugo zu einer Antwort. "Nein! Das... Es ist sehr persönlich. Und~und vielleicht besser... Ich muss nicht alles wissen!" Stellte Ugo aufgewühlt fest, die Fäuste noch immer geballt. Roger verschränkte die Arme vor der Brust, funkelte diabolisch. "Scheiße, ist das so? Du hältst mich also für ein Sensibelchen, das dir ungeniert sexuelle Handlungen PLUS Schokolade aufnötigt, sonst fragil ist? Das man mit Glacé-Handschuhen anfassen muss? Scheiße, DAS passiert mir ja nun wirklich nicht oft!" Aufgebracht reagierte Ugo, bremste sich jedoch inhaltlich entschieden aus. "So verhält es sich nicht! Aber ich will niemanden kränken, auch dich nicht! SO VIEL ist meine Neugierde nicht wert!" Returnierte er Rogers Antwort in Sachen Bußgang in der Bibliothek. "Und~und wir wollten auf Provokationen verzichten!" Keuchte Ugo erneut, erschreckt von der eigenen Lautstärke, zuckte mit den Händen Richtung Kopf. Unvermittelt fand er sich an Roger gezogen, der ihn entschieden umarmte. "Scheiße, du erschreckst dich sogar vor dir selbst. SchSch, atme mal durch. Erinnere dich daran, was für ein harter Brocken ich bin." Q~~~* Die Umarmung erinnerte Ugo an den Schulflur, die Geräuschkulisse, seine Atemnot, die eisige Kälte in seinen Gliedern, die Panik. Er kniff die Augen so fest zu, dass sie tränten. "SchSch." Hörte er Rogers Stimme rau und leise an seinem Ohr. "Das sind nur Schallwellen, Lockenköpfchen. Winzige Teilchen, nicht mehr. Alles besteht aus winzigen Teilchen, Sternenstaub, das weißt du doch. Kein Grund zur Aufregung. Nur Teilchen, die andere Teilchen besuchen. Alles easy, alles gut." Ugo schniefte unterdrückt, verwünschte seine verklebten Wimpern. "Scheiße, du kannst doch nicht annehmen, dass ich so leicht abzuschrecken bin, hm? Ich meine, überleg dir mal, wie lange ich dich schon im Blick habe. Was ich, nach reiflicher Überlegung und strategischen Erwägungen, unternommen habe. Im Prinzip versaust du mein Karma-Konto, aber hallo! Das sollte dir hinlänglich beweisen, was für ein notorisch unbeeindruckbarer Wüterich ich bin." Wie gemein! So ruhig und rücksichtsvoll mit ihm umzugehen, ihn aufmuntern zu wollen, obwohl...! Obwohl Ugo sich gerade über sich selbst ärgerte. Warum, verflixt noch eins, setzte ihm nur alles so zu?! Beschämender noch, JETZT machte er sich selbst Angst, weil er laut wurde und aufgeregt und...! "Ich~ich kann das nicht! Es ist keine Absicht...!" Beteuerte er, die Fäuste geballt, blinzelnd, keuchend. Roger konterte mit einem weiteren, sehr intensiven Kuss, dirigierte Ugo auf einen Stuhl, holte aus dem Badezimmer einen feuchten Lappen. "Leg erst mal die Gucker wieder frei. Inzwischen sollte der Tee auch trinkbar sein." Erteilte er Anweisungen, schenkte nicht nur Tee aus, sondern regelte auch die Hitze im Ofen herunter. Nachziehen genügte schließlich. Es sollte ja auch sorgsam mit der teuren Energie umgegangen werden. "Jetzt besser?" Erkundigte er sich, als Ugo wieder die Brille justierte, sich die Kehle mit Tee freigespült hatte. "Danke. Entschuldigung. Ich kann das manchmal nicht steuern." Roger, der sich einen Stuhl heranzog und niederließ, schnaubte. "Scheiße, da kann ich mich nicht mal mehr selbst bemitleiden! Noch mehr Negativ-Punkte." Ugo, der durchaus erkannte, dass er hier getröstet werden sollte plus Brückenbau, seufzte. "Ich bezweifle, dass du ernsthaft an ein Karma-Konto glaubst. Ich denke auch nicht, dass du Mitleid mit dir hast." Ertappt hielt er inne, senkte hastig den Blick. "Ah, nein? Warum sollte ich mich nicht für ein bedauernswertes Opfer statistischer Wahrscheinlichkeiten halten?" Schnurrte Roger rau, behielt seine sehr reduzierte Lautstärke bei. Weil er die Teetasse hielt, konnte Ugo nicht die Fäuste ballen. Seine Schultern grüßten bereits verräterisch die Ohren. "Ich werde nicht weglaufen. Ich werde dich nicht anschreien. Ich verzichte auch darauf, hier Spiegel zu zertrümmern." Bot Roger an, ein gewisses Amüsement in der Stimme. "Mitleid ist simpel, unverbindlich, wohlfeil. Ich denke, dass du wütend bist. Darüber, anders zu sein, um Akzeptanz kämpfen zu müssen. Keine Aussicht hast, diesen Zustand ändern zu können." Ugo wusste, dass er Roger eigentlich ansehen musste, weil er sich selbst kaum verstehen konnte. Für eine ungemütliche Weile hörte man nur das leise Ticken der Küchenuhr, das Knacken des abkühlenden Ofens. Roger rührte sich nicht. Ugo wagte nicht, den Kopf zu heben. "Das ist ein Anfang." Stellte Roger schließlich fest, lupfte Ugos Kinn, der vor Schreck nach Luft schnappte. "Wie du siehst, bin ich noch hier. Willst du wissen, ob du mit deiner These richtig liegst?" Auf Rogers Gesicht lag ein Ausdruck von Ingrimm und Ernst, obwohl seine Stimme ruhig und sachlich blieb. "Wenn du lieber nicht darüber sprechen willst..." Reagierte Ugo eingeschüchtert. "Könntest du mich weiterhin nicht ausreichend einschätzen." Ließ Roger ihn wissen, erhob sich, um mit Backhandschuhen den Ofen zu leeren. Zögerlich gesellte Ugo sich dazu, reichte ein großes Messer, um Stücke abzuteilen, legte Besteck aus, während Roger Teller zu den Teetassen setzte. "Ich möchte dich gern besser einschätzen können." Gestand Ugo schließlich. Roger ließ sich nieder, die ersten Stücke auf die Teller verteilt. "Guten Appetit. Mit einer soliden Grundlage im Magen lässt sich besser sondieren. Und die Zukunft aus Eingeweiden lesen, falls wir in heidnische Rituale übergehen wollen." Ugo bremste die Teetasse auf halben Weg zu seinem Mund. Das war sehr unappetitlich! Woraufhin Roger zwinkerte, weil er natürlich den Effekt seiner Äußerung auf Ugos Miene ablesen konnte. "Scheiße, das findest du sogar im Asterix-Comic! Quasi jugendfrei! Wenn auch absolut geschmacklos und unangemessen im Timing, hm?" Prompt schnaubte Ugo, weil Roger ihn einmal mehr provoziert und aus seiner Scheu bugsiert hatte. "Guten Appetit." Antwortete Ugo schließlich geschlagen, verkostete die ersten Stücke ihres Gemeinschaftswerks. Glücklicherweise verzichtete Roger auf Konversation, sondern ließ sie in kontemplativer Ruhe speisen. So konnte Ugo sich auch wieder sammeln. Keine souveräne Vorstellung, ganz und gar nicht, so lautete das Fazit. Es sollte ihm wohl Sorge bereiten, wie nervös ihn der Gedanke machte, Roger zu verscheuchen. Obwohl das vor nicht allzu langer Zeit sein Ziel, seine Hoffnung gewesen war! "Dass mein Grundaggregatszustand Wut ist, weißt du." Nahm der unvermittelt den Gesprächsfaden wieder auf, schenkte die Neige Tee paritätisch aus. "Niemand trägt daran die Schuld. Menschen werden manchmal taub geboren. Hin und wieder in eine Gruppe Personen, für die Geräusche, Musik, einfach alles sind. Wenn man es mal metaphorisch ausdrücken will: die liegen auf einer Wellenlänge, während ich die Welle nicht mal wahrnehmen kann." Roger grimassierte grimmig. "Wir leben zwar in einer Welt, in der das Visuelle primäre Bedeutung hat, aber wir vergessen häufig den Lausch-Radar, weil der gewöhnlich einfach da ist, rund um die Uhr, pausenlos. Ohne diesen Sinn sortiert sich der graue Schwamm unterm Skalp anders, da bleiben Lücken, fehlen Vernetzungen und Verdrahtungen. Taub bedeutet nicht thumb, sondern verlangt, dass man sich die Welt der anderen übersetzt." Ugo fragte sich still, ob es vermessen war, wenn man willentlich per Ohrstöpsel die Welt der anderen aussperrte. Nun jemandem gegenüber saß, der diese Option nie gehabt hatte, eingeschränkt war und bleiben würde, wenn man keine technische Lösung fand. "Zuerst merkt man es nicht so. Schreien um Aufmerksamkeit funktioniert ja trotzdem. Bis man selbst präzisere Mitteilungen machen möchte." Roger nippte an seinem Tee. "In der Welt meiner Familie wurde ziemlich schnell deutlich, dass ich hörbehindert war. Ich bekam auch früh die Resonanzverstärker hinter den Lauschern. Die müssen jedoch justiert werden. Das Gehirn muss plötzlich analysieren, was da zusätzlich an Informationen reinkommt." Er überraschte Ugo, indem er sich kurz erhob, ihm auf die Nasenspitze tippte. "Scheiße, schau nicht so betrübt, Lockenköpfchen! Sitze ich nicht hier und drangsaliere dich selbstherrlich mit ollen Kamellen?" Nachdem er wieder Platz genommen hatte, schob er die leere Teetasse ein wenig von sich, legte die großen Hände auf den Tisch. "Es war anstrengend und mühsam, für alle Beteiligten. Was mich gepackt hat: sozusagen eines dieser berühmten Schlüsselerlebnisse! Ich war ungefähr Fünf, wollte für meinen Bruder Rafael einspringen, beim Kiosk eine Zeitschrift kaufen. Keine große Sache, der Weg war kurz, das Geld abgezählt. Der Typ hinter dem Tresen verstand nicht, was ich sagte. Ich konnte mich hören, aber für ihn waren diese Laute sinnlos, also schickte er mich heim, ohne Zeitschrift. Meine Mutter glaubte, die sei eben ausverkauft gewesen, keine große Sache. Ich war einfach nicht in der Lage, ihr zu erklären, dass ich mich nicht hatte verständigen können. Ich war entsprechend wütend. Wütend, weil ich in diesem Augenblick begriffen habe, dass ich IMMER in Vorleistung würde gehen müssen. Dass es NIE aufhören wird, anstrengend und mühsam zu sein. Dass ich niemanden dafür verantwortlich machen kann. Dass ich nicht wie mein Bruder meine Emotionen in Musik oder Zeichnungen transportieren kann. Dass ich nichts von anderen zu erwarten habe, weil sie MEINE Probleme nicht haben." Roger schnaubte. "Natürlich dachte ich damals nicht so analytisch, absolut nicht! Ich begriff nur, dass mir nichts helfen würde, nicht heulen, nicht zu den Eltern rennen, nicht toben. Mir blieb die Wut, auf diese miese Konstruktion, auf die Annahme, alles werde schon super werden. Wie das so ist, wenn man wütend wird: ein Ventil muss her. Für mich: ich lass mich nicht aussperren, nicht aufhalten. Ich gebe nicht klein bei." Er zog aus seiner hinteren Jeanstasche zu Ugos Entsetzen dessen Notizen, offenbar beim Gang zum Badezimmer eingesteckt. "Aha. Wie ich mir dachte. Nein, ich bin nicht verletzt oder einsam, Ugo. Tatsächlich habe ich verstanden, dass es, wenn schon, den Richtigen getroffen hat. Meinen Bruder würde es umbringen, wenn er sein Gehör verlieren würde. Er LEBT Musik, das ist sein Elixier, sein Element. Nicht, dass wir uns nicht verstehen würden, aber wir lassen einander viel Raum dazwischen. Es gibt eben unterschiedliche Welten, so sieht es für uns aus. Friedliche Koexistenz und Wohlergehen, Punkt." Ugo sammelte seine Courage, streckte die Hand aus. "Bitte, gib sie mir, ja? Das sind nur Gedankenstützen..." Von denen er sicher einige nicht als Fragen aufwerfen würde! Roger jedoch überflog gründlich jeden Posten. "Sieh an, sieh an. Wenn du Ruhe hast, kannst du wirklich analytisch vorgehen. Oho, sogar einige delikate Punkte auflisten!" Unbehaglich erhob sich Ugo, die Hand weiterhin ausgestreckt. "Bitte, das ist nicht nett. Ich wollte auch gar nicht..." Schmunzelnd verstaute Roger die Liste sehr demonstrativ wieder in seiner hinteren Hosentasche. "Scheiße, warum nicht, Lockenköpfchen? Was kann dir passieren, hm? Ich hab dir gesagt, ich schreie nicht, oder?" "Du könntest gekränkt sein!" Entfloh Ugo, der nicht wusste, wie er die Liste an sich bringen konnte. Oder ob das noch einen Sinn hatte, da Roger sie offenkundig zumindest überflogen hatte. "Ja, und? Glaubst du, ein bisschen gekränkt sein gewinnt gegen meine konstante Wut auf mich und alle und alles? Scheiße, das is ja schnuckelig!" Mokierte sich Roger demonstrativ, verschränkte die Arme vor der Brust, zwinkerte zu ihm hoch. Die Fäuste geballt, stocksteif, registrierte Ugo die leidige Melange aus Empörung und Hilflosigkeit. Wie sollte er Roger bloß beikommen?! Der schraubte sich auch gemächlich in die Höhe, was Ugo unwillkürlich zurückweichen ließ. Allerdings nicht weit, da er den Kühlschrank im Kreuz spürte. "Hast du mir geglaubt, als ich dir sagte, ich hätte dich kein Mal angelogen?" Erkundigte Roger sich, reduzierte die Distanz. Ugo presste die Lippen zusammen, nickte bloß nervös. "Warum glaubst du mir jetzt nicht, wenn ich dir versichere, dass ich nicht so leicht zu kränken bin?" Wie sollte man darauf antworten?! Dieser Notwendigkeit wurde Ugo enthoben, weil Roger ihn einmal mehr küsste, zuerst sanft, fast neckend. Bis Ugo doch die Lippen teilte. Dann forscher, nachdrücklicher. "Du kannst mich fragen. Als schurkischer Stratege muss ich das doch erwartet haben und präpariert sein, oder nicht?" Raunte er an Ugos Ohr. Der ertappte sich dabei, Rogers Kapuzenpullover als Haltegriff zu missbrauchen. "Können wir uns bitte wieder setzen? Mir drückt der Holm in die Seite." Murmelte Ugo, wich Rogers Blick aus. Allerdings war es höchst unbequem, so eingequetscht zu sein! Ugos Rechte einkassiert ließ Roger etwas Abstand zu, wählte jedoch als Sitzgelegenheit Ugos Bett aus. "Soll ich es kurz machen, hm? Ja, abhängig von Hausaufgaben und Referaten verfüge ich über Freunde. Früher waren es mehr, aber ich bin wählerisch. Leute, die über mich mit meinem Bruder Bekanntschaft schließen wollen, schrecke ich ab. Außerdem habe ich keine Lust auf 'Scheiße bauen', 'chillen' oder 'Games zocken', was die Schnittmenge an Gemeinsamkeiten erheblich reduziert. Ich gelte bloß deshalb nicht als Streber, weil ich mehr tun muss als andere. In der 'normalen' Schule kann ich nicht erwarten, dass man auf mich und meine Behinderung Rücksicht nimmt. Dass ich von den Lippen ablesen kann, was ich nicht akustisch begreife. Dazu kommt persönliche Eitelkeit: ich will nicht blöd sein. Das bedeutet, dass ich mich schlau machen muss. Mehr Kontext, mehr Zusammenhänge, mehr Recherchen, mehr Wiederholungen. Wenn schon wütend auf mich, alle und alles: bitte fundiert, mit Fußnoten und Quellenangaben. Sonst macht es ja keinen Spaß, scheiße noch mal!" Ugo errötete verlegen, weil er sich erinnerte, was er darunter notiert hatte. Bevor er Roger auffordern konnte, diesbezüglich keine Auskunft zu erteilen, legte der schon nach. "Nein, ich pflege keine Beziehungen wie im Märchen. Vulgo: ich war noch nie mit jemandem zusammen oder intim. Nein, es haut mich auch nicht von den Socken, dass wir beide über die gleiche Garnitur unter dem Gürteläquator verfügen. Das schreckt mich nicht ab. Eher die Aufforderung zu Analsex, das würde ich ablehnen, einfach nicht mein Geschmack. Und ja, ich habe nach den ersten Phantasien nachgelegt. Fortbildung, wozu wurde schließlich das Internet erschaffen? Allerdings nicht in Richtung Porno, ich behause ja die Kunst-Ecke. Interessante Abbildungen an Tempelfassaden, Volksbildung quasi. Tatsächlich habe ich bei einem Sachbuch über Massagen nachgeschlagen. Für Erwachsene, selbstredend. Kein Yoga, kein Tantra, nur Nervenbahnen, Sehnen, Lösung von Spannungen. Warum schaust du so entgeistert, Lockenköpfchen?" Roger amüsierte sich sichtlich, genoss diesen Vortrag. Das konnte Ugo kaum entgehen, der spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Beinahe schwindlig grub er hastig die Finger in die Bettdecke. "Scheiße, das kränkt mich doch ein wenig! Wo ich doch sonst immer genau nachlese, mich informiere! Also wirklich, da werde ich mir meine Schmuddel-Phantasie doch nicht ohne Substanz gönnen! Kopf-Kino ohne Details, das ist ja reinster Märchen-Schmu!" Neckte Roger Ugo unterdessen, wuschelte ihm frech durch die kurzen Locken. Ugo schnappte nach Luft, mal wieder ratlos, empört, beschämt, überrumpelt. Unvermittelt stupste Roger ihn an, was ihn auch noch in Rückenlage beförderte, beugte sich über ihn. "Ja, natürlich habe ich vorausgeplant, selbst wenn immer alles anders kommt, als man denkt. Es könnte immerhin auch funktionieren, nicht wahr? Da will man ja nicht mit heruntergelassenen Hosen ohne Anleitung erwischt werden, oder?" Ugo muckste sich nicht, weil Roger so entspannt und belustigt wirkte. Nicht gekränkt, nicht verlegen, nicht darob aggressiv in Vorwärtsverteidigung. Nein, schlicht entwaffnend. "Die restlichen Fragen müssen warten. Jetzt will ich Schokolade und dich vernaschen." Q~~~* Marzipanschokolade. Gemein! Wenn es eine Sorte gab, die Ugo besonders mochte...! Außerdem bewies sich erneut, dass Rogers Lektüre einschlägiger "Anleitungen" sich gelohnt hatte. Mochte eine gewisse Mattigkeit nach dem Mittagessen einsetzen: sie störte nicht. Ugo akzeptierte schlichtweg, dass er Roger nicht gewachsen war. Der ihn wollte, zwecks Befriedigung der Libido, dementsprechend komplett, wenn auch nur temporär. Das konnte man durchaus erwidern, vielleicht nicht ganz so geschmeidig, so selbstsicher. Aber da half noch ein Stückchen Marzipanschokolade! Q~~~* Eine gemeinsame Blitzdusche musste genügen, weil es recht spät geworden war. Ugo vergaß nicht nur, für den nächsten Tag einen Menüvorschlag einzuholen, sondern auch, dass seine verräterische Liste sich noch in Rogers Jeanstasche befand. Q~~~* Als Thema der "Konversation" plus Spaziergang gab Ugo seinen Eltern "Selbst- und Fremdwahrnehmung" an. Das stellte durchaus keine Lüge dar. Dass die Woche bei der Stadtreinigung offenkundig unterhaltsam gewesen war, Roger ihn nicht durch Lautstärke einschüchterte. Nein, Nachhilfe wäre missverständlich, da der sehr belesen sei, Argumente austauschen wollte. Ja, es gefalle ihm sehr, die Woche so zu gestalten, zumal die Bibliothek ja geschlossen sei. So hätte er Bewegung, geistigen Austausch und Gesellschaft. Die Erleichterung auf den Gesichtern seiner Eltern beschämte Ugo. Sie mussten sich doch erhebliche Sorgen um ihn gemacht haben. Q~~~* Ugo positionierte sich mit dem Einkaufstrolley am Park. Seine Eltern hatten ihn gebeten, ein wenig einzukaufen. Der Jahreswechsel dräute. Wenn sein Freund wieder zum Essen käme, biete es sich an. Dem konnte man nicht widersprechen. Bewaffnet mit Einkaufsliste und einer Idee für Nudelauflauf hatte er sich auf den Weg gemacht. Jetzt hieß es warten und sinnieren. Darüber, was Roger ihm anvertraut hatte, wie der sich verhielt, wenn er keine Reactio hervorkitzeln wollte. Da kam man sich selbst ein wenig unreif vor. Ganz zu schweigen von den peinlichen Auftritten mit Luftnot und Tränen! Vielleicht konnte man wirklich Freunde sein. Dazu brauchte es keine Märchen, keine falschen Ideale, keine unerfüllbaren Erwartungen. Wenn er selbst nur die Courage aufbrachte, nicht jedes Mal bei erhöhter Lautstärke seinem Fluchtimpuls gehorchte! In einiger Distanz konnte er Roger erkennen. Plötzlich begann sein Herz schneller zu schlagen. In seiner Magengrube rumorte es ungewohnt. Ugo schnappte nach Luft. Heiß-kalte Schauer wanderten über seine Haut, stellten ihm die Härchen auf. Halt suchend umklammerte er den Zuggriff des Einkaufstrolleys. "...du liebe Güte..." Q~~~* "Ein 'guten Morgen' hätte genügt." Kommentierte Roger, hielt ihn ohne Rücksicht auf Publikum fest in den Armen. "Geht es wieder? Bist du festgefroren oder war dir schwindlig?" Ugo grub noch immer die Finger in den Stoff von Rogers Jacke. "Schwindlig." Murmelte er, klammerte sich fest. "Schaffst du es bis zur Bank da? Ich fasse dich unter und ziehe den Hackenporsche." Schlug Roger vor, umschlang Ugo bereits, angelte sich dessen Stütze heran. Auf der Parkbank überkam Ugo ein Zittern. "Was ist los, hm? Wie lange hast du hier gestanden?" Roger rückte heran, streichelte ihm den verkrümmten Rücken, fischte Ugos Hände ab, rieb sie energisch zwischen seinen großen. "Okay, wie kann ich helfen? Einen Hinweis musst du mir schon geben. Wovor hast du dich erschreckt?" Ugo schniefte leicht, entzog Roger eine Hand, um nach einem Taschentuch zu fahnden. Der musterte ihn besorgt. Kein Spott, keine Lieblingsvokabel. Die Nase geputzt liefen Ugo doch tatsächlich Tränen! Hastig tupfte er an der Brille vorbei, schniefte erneut. Was für ein Desaster! Unvermutet, weil er erst an seiner Sicht arbeiten musste, drängte sich ein Stück Schokolade zwischen seine Lippen. Man musste mümmeln, sonst sabberte man sich selbst noch voll! Unerbittlich stopfte Roger ein zweites Stück nach. "Ja, ich weiß, bloß mit einer Crem gefüllt, aber wir können uns vorstellen, es seien Früchte und Vitamine." Grummelte er, entzog Ugo das schon zerrupfte Papiertaschentuch, säuberte selbst. "Schön kauen und schlucken. So, nun würde ich gern im Rahmen meiner atheistischen Ungläubigkeit erleuchtet werden. Was ist passiert?" Ugo räusperte sich, ballte die Fäuste. "Ich glaube... Also, die Symptome..." Wisperte er beschämt und verunsichert. Roger lupfte eine Augenbraue. "Wie denn, Corona?" Zweifelte er skeptisch. Was Ugo zu einer Einlassung aufforderte. "Nein! Ich fürchte, dass ich verliebt bin." Q~~~* Zum erstem Mal zeigte sich Roger sowohl überrascht als auch sprachlos. Wenngleich nicht sonderlich lange. "Scheiße. Wie konnte das passieren?" Ugo zog die Schultern Richtung Ohren. Für ihn selbst kam es ja wie eine Attacke aus dem Nichts! "Das ist dir gerade eben aufgegangen?" Roger schnalzte mit der Zunge. "Ist ja heimtückisch! Vielleicht war ja dein Frühstück nicht in Ordnung. Also, an mir kann es nicht liegen, ich benutze keine chemische Keule!" Ergänzte er im Brustton der Überzeugung, zwinkerte dem aufgelösten Ugo zu. "Das wird schon wieder, Lockenköpfchen. Was denkst du, kannst du laufen? Bringen wir erst mal die kostbaren Einkäufe in Sicherheit, verschieben den Spaziergang." Ugo zögerte. Er fühlte sich immer noch wackelig. Andererseits schien es kein Fanal zu sein, dass sein Körper derart auf Rogers Anblick reagierte. "Hm, bekommst du die Kiste nicht hoch? Starthilfe gefällig?" Ohne eine Antwort abzuwarten beugte sich Roger zu ihm, küsste ihn. Mutmaßlich wegen der Schokoladenspuren ganz und gar nicht jugendfrei. Er zog Ugo auf die Beine. "Ah, schon mehr Farbe auf den Wangen, gut! So, eine Hand behalte ich. Machen wir uns auf den Weg. Was hast du übrigens für das Mittagessen vorgesehen?" Roger steuerte den Einkaufstrolley, legte ein gemächliches Tempo vor. "Nudelauflauf." Ugo fand endlich seine Stimme wieder, selbst wenn sein Puls immer noch zu schnell für seinen Geschmack ging. "Klingt gut, da können wir gleich die Vorbereitungen starten. Ach ja, ich schulde dir ja auch noch Antworten. Also, ich gehe zu Fuß, wenn keine Schule dräut oder ich pünktlich beim Park Anschleichversuche unternehme. Außerdem hat mir ein Pate Dehnübungen gezeigt. Der war als Schlagzeuger immer auf Tour, da musste man fit sein. Spitzname 'The Animal' wie das Tier bei der Muppet-Show... Oh, sag mir nicht, dass du die nicht kennst! Kermit, Miss Piggy, Gonzo... die Verwandten von der Sesamstraße! Aha, ich sehe, da dämmert was! Also, wie gesagt, Dehnübungen und häufig per Pedes unterwegs sein. Außerdem noch gymnastische Übungen. Weniger gehässig gesprochen: Gebärdensprache. Er übt mit mir, damit ich das nicht verlerne. Früher gab es keinen Gehörschutz. Bei Punkrock kann einem da schon mal der Empfang verloren gehen. Ich hab ihm immer geholfen, die Schießbude, so heißt das Schlagzeug, aufzubauen. Kann man auch taub spielen, sagt er. Leider musste er wegen der hohen Mieten wegziehen. Wir unterhalten uns nur per Video. Deshalb bin ich also vergleichsweise fit." Führte Roger entspannt aus, in gleichbleibendem Rhythmus die Einkäufe ziehend. Ugo erwiderte zögerlich seinen amüsierten Blick. "Lass mich raten, ja? 'Was soll ich jetzt tun?'" Ein Händedruck begleitete diese Frechheit. Ugo konnte nicht mal beleidigt seine Schuhspitzen anvisieren. "Antwort: das, was wir gern gemeinsam tun, wenn der Schreck sich gelegt hat. Wir unterhalten uns, wir verputzen den Rest Schokolade, wir haben Sex. Also, für mich klingt das nach einem sehr gelungenen Programm." Unwillkürlich entwischte Ugo ein Seufzer. "Es ist bloß fürchterlich, wenn einem das Leben so außer Kontrolle gerät!" Erhob er eine klägliche Beschwerde an das Universum. Roger lachte rau, drückte ihm erneut die Hand. "Scheiße, DAS dachte ich auch, als ich das erste Mal von dir geträumt habe! Schätze, wir müssen da einfach durch. Am Ende ist ja alles nur Sternenstaub, richtig? Und Chaos der originäre Zustand von allem. SO gesehen machen wir es gerade goldrichtig!" Intonierte er im Brustton der Überzeugung. Ugo stutzte, wandte den Kopf, gluckste leise. "Scheiße, was jetzt?" Grollte Roger prompt. Errötet richtete Ugo den Blick strikt geradeaus, wo sich schon das Haus abzeichnete. "Du bist richtig lieb. Das dachte ich gerade." Wisperte er, brachte Roger tatsächlich bis in den dritten Stock zum Schweigen. Q~~~* Profane Tätigkeiten gingen vor: Entpuppen, Hände und Gesicht waschen, Einkaufstrolley ausräumen. Warum auch nicht, gleich mal den Nudelauflauf vorbereiten. Ugo war dankbar, dass Roger ihn nicht inquisitorisch bearbeitete, sondern ganz pragmatisch ihr Strategie entwarf. "He, Antipasti, gute Idee! Ich taufe gerade mal die Nudeln. Nehmen wir eine Soße? Mehlschwitze?" Zögernd entführte Ugo einen "Milchtopf", der so beschichtet war, dass man An- und Einbrennen verhindern konnte. "Wenn du lieber eine andere Soße hättest...?" "Nein, gar nicht. Rösten wir vorher Zwiebeln an? Oder Möhren?" Roger sortierte, säbelte bereits geübt, warf Ugo einen scharfen Blick aus den schwarzen Augen zu. "Scheiße, du musst mir schon Paroli bieten, Lockenköpfchen! Dein Haus, deine Küche, deine Regeln, oder nicht?! Also, welche Gewürze nehmen wir?" Leicht eingeschnappt sammelte Ugo entsprechende Behälter ein. "Ich kann nicht nachvollziehen, warum du mich zu Rücksichtslosigkeit anhältst, wirklich nicht!" Tadelte er so streng, wie es ihm gerade möglich war, dabei errötet, weil es für den Gastgebenden als nicht höflich galt. Manieren, tsktsk! Bereits die Töpfe regierend schnaubte Roger demonstrativ. "Scheiße, dein Gedächtnis ist heute besonders mies, hm? Hab ich nicht gesagt, ich hätte keine Unverträglichkeiten? Ich meine, abgesehen von genereller Wut auf alle und alles." Ugo prüfte die Nudeln, stand deshalb temporär blind durch Wasserdampf am Herd. "Das ist kein Grund, MEINE Unzulänglichkeiten dir aufzubürden!" Pfefferte er erbost zurück, erschrak mal wieder vor sich selbst, ließ fast den Topf fallen. "Oho, also getrennte Teller, getrenntes Menü? Das ging ja flott, nicht mal zusammen und schon geschiedene Leute." Neckte Roger unbeeindruckt und ausgesprochen spöttisch. Das trieb Ugo in die Enge, der gar keinen Streit suchen wollte, sich noch verwirrter als vorher fühlte. Abgesehen davon, dass diese grässlichen Symptome von Verliebtheit wie Sirenen Alarm schlugen. "Ah, ich nehme den Topf. Setz dich." Griff Roger wachsam ein, goss die Nudeln ab, verhinderte Rauchfahnen am Milchtopf, "Du bist nicht nur schreckhaft bei Lautstärke, sondern auch ungeübt bei Auseinandersetzungen. Wobei ich gerade lediglich versuche, dich ein klein Bisschen zu triezen." Ugo ballte die Fäuste, zog die Schultern hoch. Streitigkeiten war er nicht gewöhnt. Vor allem nicht, wenn er gerade versuchte, sie zu vermeiden, um diese Freundschaft nicht zu gefährden! Unterdessen schichtete Roger Nudeln, Gemüse und Soße in der Auflaufform, ging vor Ugo in die Hocke, umschloss dessen verkrampfte Fäuste. "Ich hab über dich recherchiert und dich beobachtet. Das heißt nicht, dass ich alles über dich weiß. Wenn ich dich kennenlernen möchte, erwarte ich, dass du mir die Chance gibst. Also nicht höflich agierst, wie du vermutest, dass ich erwarte, wie du sein sollst... Boah, Scheiße, Gehirnwindungsknoten!" Ugo blinzelte in die schwarzen Augen. "Ich habe Angst vor Streit. Das macht mich krank, körperlich. Ich möchte nicht streiten wegen trivialer Dinge wie dem Essen." Wisperte er gehemmt. Roger studierte ihn prüfend. "Ugo, du wirst aus dem Schrank kommen müssen. Eine eigene Position zu vertreten, das ist kein Streit. Bedauerlicherweise wird sehr selten da draußen rational agiert, handeln wir nach Argumenten. Auseinandersetzungen lassen sich nicht immer vermeiden. Die Leute, auf die es im Leben ankommt, die können das auch einordnen. Denen macht eine Ansage nichts aus. MIR macht es nichts aus, mich beim Essen nach dir zu richten. Würden wir jetzt über Kapern reden, ärgh, da wäre ich echt nicht pflegeleicht! Die Marinade, da könnte ich schon beim Geruch kübeln!" Die Miene verzogen schien er sogar einen Brechreiz unterdrücken zu müssen! Ugo blinzelte unterdessen Tränen aus den Augenwinkeln. Am Liebsten hätte er sich verkrochen. Alles war so verwirrend! Er fürchtete, jeden Augenblick einen fatalen Fehler zu begehen! Roger wippte unterdessen aus der Hocke hoch, hielt jedoch Ugos Fäuste. "Scheiße, ich seh schon, dass wir trainieren müssen, Lockenköpfchen! Du hast ordentlich was aufzuholen! Was für ein Glück, dass ich gerade verfügbar bin und sehr streiterprobt!" Bescheinigte er sich selbst mit großem Verve. Verschreckt legte Ugo den Kopf in den Nacken. Das ging ihm doch arg schnell und bisher...! Da kam ihm die Erleichterung seiner Eltern vom Vorabend in den Sinn. Nein, ein Schrank stellte wohl mit 16 Jahren keinen zu rechtfertigenden Rückzugsort mehr dar. "Komm, schwing die Hufe! Wir haben noch Zeit, bis der Auflauf in die Röhre muss." Roger beförderte Ugo schwungvoll im Schlepptau ins Wohnzimmer, topfte ihn auf die Couch, marschierte das Bücherregal entlang. "Ah, perfekt, William Shakespeare, Gesammelte Werke. So, hier haben wir 'Viel Lärm um Nichts'. Benedikt und Beatrice." Konzentriert blätterte er, schlug eines der berühmten Streitgespräche auf. "So, du bist Benedikt!" Damit platzierte sich Roger direkt neben Ugo, um für beide die Einsicht in den Text zu ermöglichen. "...aber..." "Falsch, dein Text lautet anders." Korrigierte Roger streng. Ugo schickte sich heillos verwirrt drein. Q~~~* "Beim dritten Durchlauf warst du richtig in der Rolle." Lobte Roger verschmitzt, während Ugo glaubte, nie wieder eine normale Gesichtsfarbe annehmen zu können. Diese verflixte Beatrice! "Zeit für den Ofen. Auf die Beine, Lockenköpfchen!" Ugo leistete Folge, auch, weil er seine Handgelenke in Rogers großen Händen fand. "Ich verstehe wirklich nicht..." Roger lachte. "Warum die beiden sich unentwegt zanken und doch SOOO verliebt sind? Theater. Im wahren Leben wären wir schon beim 'Rosenkrieg'. Ein Spielfilm, nicht wichtig. Was haben wir gelernt? Selbst bei unsinnigen Flirtereien kann man sich behaupten!" Auf Ugos Gesicht standen plakativ Zweifel. Ein Benedikt war er so gar nicht! Wenn er an den ersten Durchlauf dachte, eine stotternde Katastrophe! Roger lud inzwischen den Auflauf in den Ofen, programmierte geübt. "Mit mehr Übung geht es leichter. Ich suche ein paar Texte heraus oder Spielszenen. Wir üben das." Ugo wagte Widerspruch. "Das~das bin aber nicht ich. Und sich ständig mit dir streiten..." Geschmeidig näherte sich Roger, wuschelte herausfordernd durch Ugos kurze Locken. "Du streitest doch nicht mit mir, sondern mit der Figur, die ich darstelle. Wichtig ist, dass du die allzu große Angst überwindest. Vorsicht ist gut, zu viel Vorsicht gefährlich. Zudem machen wir es zu zweit, niemand sonst, kein Publikum. Ich suche absurde Episoden heraus, vielleicht von Monty Python. Die kennst du?! Heureka! Wie wäre es mit dem Sketch um die Tierhandlung und den Papagei?!" Roger blühte sichtlich auf, von einer Mission erfüllt. "Willst du wirklich so viel auf dich nehmen?" Erkundigte sich Ugo zögerlich. "Sex und Schokolade und Spaziergänge behalten wir natürlich bei! Scheiße, das wird wahrscheinlich lustig. Ich kann nicht ständig wütend sein, aber ein bisschen Abwechslung tut immer gut! Du könntest sogar Spaß haben! Außerhalb einer Bibliothek!" Formulierte Roger diabolisch eine geradezu verschreckende Vision. Weil er gleichzeitig Ugos Hände kaperte, wirkte es jedoch ganz und gar nicht besorgniserregend. "Ich brauch jetzt gleich Schokolade." Raunte er, beugte sich vor, um Ugo zu küssen. Erst das warnende Klingeln des Ofens beendete den Austausch von Intimitäten. Q~~~* In sich gekehrt widmete Ugo sich dem Auflauf, nippte immer mal an seinem Wasserglas. Unbestritten, gleich, in welcher Lautstärke: er war vollends durcheinander. War diese körperliche Schockreaktion mit Verliebtheit-Symptomen vorübergehend? Mangelnder Wachsamkeit geschuldet? Jedenfalls störte sie gerade in dem Moment, wo er glaubte, Freundschaft und Sex verbinden zu können! Jetzt wollte Roger auch noch Streiten mit ihm üben. Ausgerechnet! Wo es endlich die Möglichkeit gab, sich vertrauensvoll zu unterhalten! Roger beobachtete ihn prüfend, jenseits des Ingrimms, den er sonst präsentierte. "Lass uns gerade das Geschirr einweichen. Machen wir unseren Spaziergang." Mangels stichhaltiger Gegenargumente folgte Ugo seinem Vorschlag, packte sich ordentlich ein. Vor der Tür ergriff Roger einfach seine Hand, ließ sie nicht los, sondern schlenderte gemächlich Richtung Park. Ugo registrierte einen Anflug von Panik, der ihm die Kehle zuschnürte. "Nein, Lockenköpfchen, ich lass dich nicht los." Versicherte Roger, als habe er Gedanken lesen können. "Tatsächlich habe ich meine Strategie überdacht. Du kannst argumentieren, auf der Sachebene, ganz vernünftig und rational. Schreihälse auf dem Holzweg wären zwar nervig, aber bloß laut. Was dir Angst macht, liegt auf der persönlichen Ebene, wo es keine wissenschaftlichen Fakten gibt. Deshalb werden wir die Hardcore-Variante nehmen: unsere Beziehung zueinander. Raus aus dem Wandschrank, mal leger übersetzt, und in die Welt. Immerhin gelten wir ja schon als Pärchen, also ist Schritt 1 bereits erledigt." Ugo japste vor Schreck. Wenn sie so gesehen wurden, wenn sich herumsprach...! Roger blieb stehen, wandte sich ihm zu. "Ich werde nicht aufgeben. Ganz gleich, was andere sagen. Wirst du dasselbe tun?" Beschämender Weise tränten Ugo die Augen hinter den Brillengläsern. Er hatte Angst. Davor, wieder herauszuragen, ein Ziel zu bieten, Angriffsfläche für Spott, Verachtung, Häme... Wenn seine Eltern erfuhren, dass er einen Freund hatte, im Sinne von Liebhaber...! Die "liebe Familie" würde sich das Maul zerreißen! "Hol tief Luft. Nein, sieh mich an, Ugo. Was kann passieren, hm? Wo wir beide doch wissen, dass du mich nicht benutzen kannst." Mit der freien Hand fischte Roger ein Papiertaschentuch heraus, tupfte Ugo übers Gesicht. "Soll ich das so verstehen, dass du mich nicht verteidigen wirst?" Erkundigte er sich dabei sehr leise. DAS konnte Ugo nicht stehen lassen! Ganz gleich, ob ihm die Nase nun auch noch lief, ein Kloß in seinem Hals feststeckte, "Doch! Ich will nicht...! Ich hab...!" Roger ließ ihn schnäuzen. "Angst, klar. Stell dir vor, was du gewinnst. Welche Menschen werden mich ablehnen? Wie bedeutungsvoll ist ihre Meinung für dich? Nicht zu vergessen: du kämpfst nicht allein. Wie ich vorhin erwähnte: ich bin streiterprobt, schrecke nicht vor unfeinen Taktiken zurück." Ugo versorgte sich selbst mit einem zweiten Papiertaschentuch, um die Fluten auszutrocknen. "Entschuldigung, dass ich so anstrengend bin." Murmelte er kleinmütig. Roger steuerte auf einen Müllkorb zu, wo man die benutzten Taschentücher entsorgen konnte. "Scheiße, du bist nicht anstrengend. Ich sag dir, was anstrengend ist: jeden idiotischen Trend durchleuchten zu müssen auf Ansteckungsgefahr für meine Eltern! Dubiose Yoga-Praktiken, seltsame Ernährungsformen, exotische Super-Pflanzen! Du machst dir keine Vorstellung! Als solider 'Spießer' ist es meine Aufgabe, ihre Begeisterungsfähigkeit in erträgliche Grenzen zu limitieren, ihre Aufmerksamkeit mal auf mich zu fokussieren, ohne Hintergrundmusik oder Workflow-Skizze!" Grollte er, nahm ein Flaniertempo auf, hielt unverändert Ugos Hand. "Mal zum Thema: meine werten Erzeugenden wären ziemlich überrascht, wenn ich tatsächlich eine 'verwandte Seele' finden würde. Was irgendwie drollig ist. Eigentümlicherweise ist das Pärchen-Dasein seit der Arche Noah Ausdruck des klassischen 'Spießertums'. Du siehst: mit Logik kann man da nicht ankommen. Außerdem können sie sich als besonders aufgeklärte Fans des Humanismus nicht erlauben, geschlechtsspezifische Vorurteile zu pflegen. Das wäre ja 'spießig' und verklemmt. Vermutlich würden sie damit rechnen, dass ich in Nullkommanichts wieder solitär unterwegs bin, weil mir meine Wut im Weg steht, ich mich aus den Fesseln der Konventionen nicht befreien kann!" Ließ er Ugo wissen, im gewohnt bissig-ätzendem Tonfall. "Oh, Scheiße, ich vergaß: die großzügige Distanz verschiedener Sphären pflege ich sowohl zu meinem Bruder als auch zu meinen Eltern. Das funktioniert ohne Kleinkrieg, weil wir akzeptiert haben, dass es Parallelwelten für das Unsichtbare, die Seele gibt. Die Mehrdimensionalität des Geistes spiegelt sich selbstverständlich auch in der Wahrnehmung unserer Umwelt dar. Der anhängliche Rest, sprich der Fleisch- und Knochenverhau, muss sich eben miteinander arrangieren." Für Ugo eine sehr seltsame Vorstellung. Er fing Rogers grimmigen Blick auf. "So, jetzt komm du mir noch mal mit 'anstrengend'! Ich hab Comic-Verfilmungen gesehen, die schlüssiger waren." Grummelte Roger düster. Ugo fühlte sich, auch wenn er natürlich die Absicht erkannte, getröstet und beruhigter. "Wirst du nicht so viel Ablehnung erfahren?" Versicherte er sich zögerlich. Neben ihm schnaubte Roger vernehmlich. "Scheiße, ein paar Blöde gibt's immer. Was sollten mich deren Auffassungen kümmern?! Ich kann mir selbst im Spiegel begegnen. Klar, immer noch homo sapiens, per definitionem eine evolutionäre Sackgasse, aber zumindest Charakter. Das ist nicht viel, könnte aber noch sehr viel weniger sein." Ugo spürte, wie die schmerzhafte Verspannung seiner Schultern ein wenig nachließ. Wenigstens Roger würde nicht allzu sehr gequält werden. Das reduzierte die Last! Sie spazierten schweigend weiter, eigenen Gedanken nachhängend, bis Roger sich grummelnd räusperte. "Ich habe keine Pläne, keine besonderen Ziele. Ich kann dir zumindest eins versichern: wir werden eigenständig und aufrecht gehen. Ist so ein 'Spießer'-Tick von mir. Selbständigkeit fördern, den zeitlich begrenzten Kosmos im Schädel ermutigen, unabhängig zu sein. Also, wenn es laut wird, bedrückend, anfeindend: an den eigenen Kosmos gelangt es nicht. Dieser Taktgeber funktioniert selbst bei Stocktauben. Der zählt, wenn es hart auf hart kommt." Ugo dechiffrierte die Botschaft. Keine Abhängigkeit, keine falschen Versprechungen, keine unerreichbaren Ideale. Keine Ewigkeit. Dafür Erfahrung, Selbstgewissheit, Courage, vielleicht sogar ein wenig Stolz. "Danke schön." Antwortete er schließlich. Roger schnaubte prompt. "Scheiße, erwarte bitte keine Romantik, ja? Oder grottige Kosenamen! Und gleiche Klamotten, nö. Mir stehen Hemden mit Pullunder so gar nicht!" Ugo hätte nun beleidigt sein müssen, kicherte aber. "Das verstehe ich. Ich bin das bloß gewöhnt, weil meine Mutter jahrelang meine Sachen ausgewählt hat. Es muss immer ein bisschen formell sein. Falls ich bei der Finanzverwaltung anfangen sollte." Neben ihm gluckste Roger kaum kaschiert. "Bloß keine Krawatte ohne Nadel, Kamerad! Die geraten ins Faxgerät oder den Reißwolf." Ulkte Roger unverschämt. Ugo lächelte, drückte behutsam die große Hand. "Du bist wirklich lieb." Wiederholte er leise, entschieden. Der barsch bellende, einschüchternde Roger munterte ihn auf, wich und wankte nicht. Das konnte kein Schrank bieten! Roger zwinkerte. "Ich werde standhaft leugnen, wenn irgendwer anders das behauptet!" Grummelte er grimmig, richtete ihre Schritte auf den Heimweg aus. Q~~~* Ugo hatte angenommen, dass es, nicht nur der mit Frucht-Crem gefüllten Schokolade zuzuschreiben, anders sein würde, sich mit Roger in sein Bett zu begeben, um intim zu werden. Er irrte sich. Roger ging exakt so konzentriert, umsichtig und zielgerichtet vor wie zuvor. Obwohl Ugo nicht tanzen konnte, fragte er sich, ob es nicht Parallelen gab, eine abgestimmte Choreographie, ein versierter Austausch, ein Geben und Nehmen. "Lass uns morgen ein paar Strategien entwickeln. Schlagfertigkeit zum Beispiel ist auch Übungssache. Ich meine jetzt keinen Kampfsport." Roger grummelte, weil nach der obligatorischen Blitzdusche der Dutt nicht so wollte, wie es ihm beliebte. "Machst du ihn mal auf?" Ugo wies schüchtern nach oben. Überrascht warf Roger ihm einen Blick zu, löste den Zopfgummi. "Sieht bescheuert aus, richtig? Ich hab da bloß so einen ätzenden Wirbel, der in einen Seitenscheitel münden würde! Was ja nun gar nicht geht!" Erläuterte Roger, strich durch die leicht gewellten Strähnen. Diese Ausführung entlockte Ugo ein Kichern. "Seitenscheitel. Sehr spießig." Bestätigte er amüsiert. "Scheiße, EXAKT mein Gedanke!" Schon raffte Roger die langen Oberkopfsträhnen zusammen, drehte und rollte, bis der Dutt wieder saß. Er beugte sich vor, um Ugo zu küssen, der ihm lächelnd zugesehen hatte. "Also, morgen selbe Stelle, ja? Mach dir nicht zu viele Gedanken, Lockenköpfchen. Ich hab den Eindruck, dass wir ein prima Team sind." Q~~~* Wahrscheinlich gab es keinen guten Zeitpunkt. Ugo wollte die wohlverdiente Abklingphase seiner Eltern nicht stören. Trotzdem setzte er sich dazu, als der Tee ausgeschenkt und das Windlicht angezündet wurde. Seine Eltern blickten weniger verwundert als gespannt. Niemals Poker spielen! Ugo atmete tief durch, bevor er erzählte, dass er sich in Roger verliebt hatte. Q~~~* "Das hatten wir schon vermutet." Ein Satz, den Ugo nicht erwartet hatte. Allerdings ließen die Umstände, zumindest die, von denen seine Eltern wussten, wohl kaum einen anderen Schluss zu. Hastig zählte Ugo die Vorzüge auf, die er mit Roger verband: dessen Klug- und Gewandtheit, die Geduld und Nachsicht, den Humor, ihre Affinität zur Bibliothek, das gemeinsame Kochen. "Ich hab ihn gern, wirklich sehr gern." Schloss Ugo schließlich seine Verteidigungsrede ab, die Wangen dunkelrot. Es blieb ruhig, nur die Kerze rußte leicht, mit einem knisternden Geräusch. "Bitte seid mir nicht böse." Er hörte seinen Vater seufzen. "Der Junge wird erwachsen. Ich weiß nicht, ob ich darauf schon vorbereitet bin." Was keinesfalls ironisch gemeint war. "Ich auch nicht." Seine Mutter zupfte an seinem Pullover herum. "Bitte ihn doch morgen, ein bisschen länger zu bleiben, ja? Nur für ein paar Worte. Damit wir einen Eindruck bekommen, in Ordnung?" Ugo nickte, schluckte den Kloß herunter. "Ich will keinen Ärger machen." Indem er mal wieder aus der Reihe tanzte (ohne dies tatsächlich zu vermögen), den Erwartungen zuwiderhandelte! "Wenn ihr euch gern habt, ist das eben so. Jemanden mögen, das ist wichtig. Man kann sich nicht immer nur nach anderen richten." Sanft streichelte sie ihm über die Löckchen, wie bei einem Kind. "Du wirst mutig sein müssen, Ugolino. Das schaffst du, bestimmt. Wenn du mal eine Auszeit brauchst, sind wir da." "Danke schön." Antwortete Ugo erleichtert. "Mach dir keine Sorgen. Du bist unser Ugolino. Basta." Q~~~* Ugo sprang nervös von einem Bein auf das andere, den Rucksack abgestellt, die kleine Thermosflasche in den Händen. Ja, Handschuhe wären eine gute Idee gewesen! Als er Roger in der Ferne erkannte, setzten die verflixten Symptome prompt wieder ein. Ugo verbannte Anflüge von Panik und Schwindel entschieden. Roger zu mögen, sogar sehr, stellte keinen Anlass für Angst dar! Der lupfte eine Augenbraue, als er sich näherte, mutmaßlich dem ungelenken Tanz auf der Stelle geschuldet. "Guten Morgen. Ist dir bloß kalt oder übst du für einen schottischen Reel?" Ugo, der eine Tanz-Variante vermutete, obgleich er den Begriff noch nie vernommen hatte, stellte das Hopsen ein, drehte stattdessen eilig den Deckelbecher von der Thermosflasche. "Guten Morgen! Wärst du so nett...?" Der Verschluss wollte auch gelöst werden, was sich besser anließ, wenn die 'dritte Hand' den Becher hielt! Roger übernahm die Aufgabe, schnupperte. "Na, das ist mal ein Angebot: Karamell und Schokolade. Hast du was angestellt, Lockenköpfchen?" In seiner Stimme schwang betonter Argwohn, nicht sonderlich heimliches Amüsement. Ugo, der ihn, von kondensierenden Tropfen nach dem Ausschank leicht benebelt, anblickte, errötete. "Also, ich hab es meinen Eltern gestern gesagt. Dass ich in dich verliebt bin. Ich weiß, ich hätte das mit dir besprechen müssen, richtig...!" Nach einem genießerischen Schluck beugte Roger sich leicht vor, küsste Ugo sanft. "Du erinnerst dich daran, dass man dir alles an der Nasenspitze ansieht, ja?" Neckte er herausfordernd, leckte sich die Mundwinkel. Während Ugo noch eine Nuance dunkler anlief, nahm er einen weiteren Schluck. "Scheiße, das ist mindestens galaktisch!" Anerkennend reichte er Ugo den Becher, pflückte dessen Rucksack vom Boden. "Tau dir auch die Zunge auf. Du kannst mir auch erzählen, wie deine Eltern es aufgenommen haben." Ugo nippte folgsam, stapfte neben Roger her, langsam, damit nichts verschüttet werden konnte. "Ehrlich gesagt waren sie nicht sehr überrascht." Gestand er verlegen ein. Das entlockte Roger ein kaum maskiertes Auflachen. "Und, soll ich mich heute vorstellen?" Bemerkte er beiläufig, fing die Thermosflasche ab, die Ugo aus dem Arm zu rutschen drohte. Verblüfft starrte der ihn an. Roger schnalzte tadelnd mit der Zunge. "Scheiße, ist das nicht die zu erwartende Konsequenz? Da du hier vor mir stehst, kann ich davon ausgehen, dass deine Eltern mal jünger waren und nicht phantasielos keusch." Ugo verschluckte sich beinahe, obwohl er nicht vorher am Becher genippt habe. "Das~das ist nicht gerade taktvoll." "Nein, bloß rational analysiert, gewürzt mit ein wenig Menschenkenntnis. Und, soll ich?" Konterte Roger ungerührt, schielte auf den Becher. Das erweckte in Ugo den Verdacht, man könne ihn durchaus mit Schokolade-Karamell verführen. "Ja, bitte, wenn es dir zeitlich passt. Soll ich noch nachschenken? Dann ist die Flasche leer." Offerierte er großzügig, aber auch auf der Pirsch. Schmunzelte, als Roger sofort bremste, um die Neige in den Becher umzulagern. "Vielleicht du zuerst, ja? Ich verbrühe mir leicht die Zunge." Argumentierte Ugo, bemühte sich um einen besonders harmlosen Gesichtsausdruck. Tatsächlich nahm Roger einen großzügigen Schluck, leckte sich erst die Lippen, um Ugo gründlich einen Eindruck der Geschmacksnote zu verschaffen. "Netter Versuch, Lockenköpfchen. Köder mich mit Karamell und Schokolade, da setzt bei mir keine zusätzliche 'Bewusstseinstrübung' ein." Zwinkerte er, selbstredend einen großen Schritt voraus, was die praktische Taktik betraf. Ugo errötete dezent, konzentrierte sich auf den Rest der Flüssigkeit, damit die auch die richtige 'Röhre' hinabglitt. "Ich wollte nicht manipulativ sein..." Flasche mit Becher verbunden im Rucksack verstaut schnalzte Roger tadelnd mit der Zunge. "Scheiße, wieso nicht? Bin ich die Mühe nicht wert? Oh, das kränkt mich jetzt!" Verblüfft studierte Ugo den finsteren Gesichtsausdruck, ein wenig ratlos. "Aber~aber das ist doch unsportlich..." "In welcher Sportart? Hab ich übrigens erwähnt, dass mich Sport NULL interessiert?" Roger kaperte Ugos Hand, setzte sich in Bewegung. Neben ihm rekapitulierte Ugo ihr Gespräch verwirrt. "...ich verstehe nicht...es gibt doch Regeln...?" Man grummelte grimmig. "Scheiße, das ist wahr! Nur gehören mindestens zwei dazu, jetzt mal Solitaire als Kartenlegespiel ausgenommen. UND, wichtiger Einschub!, Horizontalgymnastik ist zwar das Ziel, aber wir befinden uns gerade in der Qualifikationsphase." Ugo stolperte fast, weil er Mühe hatte, dieser Auslegung zu folgen. Roger unterdrückte, was er nach einem Seitenblick feststellte, unvollkommen ein breites Grinsen. "Lockenköpfchen, Qualifikationsphase aka Vorspiel. Da ist Verführung absolut regelgerecht. Außer natürlich, du willst mich im Zustand hormonellen Triebstaus darben lassen." "Nein. Nein, sicher nicht!" Beteuerte Ugo nach einigen hastigen Herzschlägen merklich errötet. "Sag mal, hast du etwa die Flirts in den Schmonzetten übersprungen, hm?" Erkundigte sich Roger streng. Ugo studierte seine Schuhspitzen. "Diese Passagen erschienen mir eher nachrangig, tendenziell repetitiv. Zudem auf Äußerlichkeiten konzentriert. Was doch sexistisch ist, nicht wahr?" Hangelte sich Ugo mühsam durch eine ihn befremdende Welt, mit Fettnäpfchen gepflastert. Roger lachte unterdrückt. "Aha. Da werde ich mich heute ordentlich zusammennehmen müssen. Meine Regeltreue ist ja eher pragmatisch geprägt." Ugo seufzte mit sackenden Schultern. "Ich verstehe das alles einfach nicht. Dabei bemühe ich mich wirklich. Da gibt es Regeln, aber an die hält man sich doch nicht, oder sie sind unlogisch..." Tröstend drückte Roger ihm die Hand. "Lockenköpfchen, man kann nicht immer alles richtig machen, nicht mal, wenn man sich an die angeblichen Regeln hält. Einigen wir uns doch darauf, dass wir beide bestimmte Leckereien mögen und uns gönnen, hm?" Behutsam erwiderte Ugo den Händedruck. "Ja, danke schön. Das habe ich meinen Eltern gestern auch gesagt. Dass du klug und rücksichtsvoll bist. Und lieb." Ergänzte er verschmitzt. Roger grummelte unverständlich, bevor er sich räusperte. "Scheiße, jetzt werde ich doch nervös." Besorgt riskierte Ugo einen Seitenblick. Roger wirkte nicht, als wolle er von seiner Zusage zurücktreten. "Ah, fairerweise sollte ich dir auch was sagen. Meine Leute wissen Bescheid." "Oh." Kommentierte Ugo, spürte, wie seine Schultern schon wieder zu den Ohren wandern wollten. "Irgendwer hat in den asozialen Medien bei meinem Bruder was angedeutet. Der hat unsere Altvorderen gebrieft, weil er nicht gern im Unklaren ist, ganz gleich, welche Dimension gerade ansteht." Knurrte Roger bissig. "Daraufhin bin ich streng ermahnt worden, Gummis zu benutzen, bloß keine Nacktaufnahmen zu machen. Wegen Pornographieverbot bei Minderjährigen. Überhaupt, so ein vornehm wirkendes, vermutlich konservatives Engelchen zu verführen, tsktsk! Sex ist kein Sport und kein Spiel, nein nein! Körperliche Aktivitäten müssen vor allem der Erweiterung des Bewusstseins, der Erhebung der Seele dienen!" Während Roger noch wütend schnaubte, staunte Ugo mit herabgesacktem Kinn. "Ich habe selbstredend versichert, keinen sexuell übertragbaren Krankheiten Vorschub zu leisten und keine Aufnahmen von niemand im Geburtstagsanzug anzufertigen. Der ganze metaphysische Rest muss allerdings warten. Warum es ein Problem ist, dass ein 'Spießer' wie ich sich mit einem 'Spießer' wie dir zusammentut?! Da kommt bei mir keine Anarchie auf!" Grollte er zornig. "Wieso wissen sie, wie ich aussehe?" Hakte Ugo verwirrt ein. Nachdem er entschlüsselt hatte, dass "Engelchen" sich auf ihn beziehen sollte! Roger rollte mit den schwarzen Augen. "Scheiße, Lockenköpfchen, du bist nicht unsichtbar, schon vergessen? Jetzt müssen wir hoffen, dass deine Eltern in DIESER Dimension zu Hause sind und mich nicht für einen kriminellen Hedonisten halten." Diese Entwicklung musste sich einige Spaziermeter erst mal setzen. Ugo murmelte leise. "Entschuldigung. Jetzt hast du doch Ärger." Ansatzlos bremste Roger, funkelte Ugo an. "Scheiße, was für einen Ärger denn?! Also wirklich! Ich glaube, ich muss dich mal mit meinen Eltern bekannt machen, ernsthaft! Damit du verstehst, wie kreativ die ticken. Verabschiede dich aber bloß vorher von Logik, gesellschaftlichen Regeln und Grundlagen der Physik." Erschrocken von dieser Aussicht, präsentiert zu werden und sich gar nicht präsentabel zu fühlen, japste Ugo nach Luft. Roger zog ihn in die Arme, noch immer Ugos Rucksack apportierend. "He, solche Unterhaltungen zählen bei meiner Familie nicht als 'Ärger'. Friedliche Koexistenz, erinnerst du dich? Es ist manchmal bloß zum Piepen, wenn sie MIR vernünftige Verhaltensweisen ans Herz legen!" Er grimassierte gequält. Ugo lächelte erleichtert. "Stimmt, das habe ich gar nicht gewürdigt." Roger zwinkerte, küsste ihn gründlich. Als gebe es doch noch Reste von Schokoladenkaramell zu verkosten. Q~~~* "Der Kartoffelsalat kann jetzt bis morgen durchziehen. Wie sieht es bei dir aus?" Roger deckte die Schüssel mit einem großen Teller ab, wandte sich Ugo zu, der Reisnudeln mit Gemüse in einer Wok-Pfanne schwenkte. "Gleich fertig." Verkündete Ugo konzentriert. Die Pfanne war schwer, er wollte nichts verschütten. Nachdem Roger Teller und Besteck ausgelegt hatte, schenkte er Wasser in Gläser, deponierte einen Untersetzer. "Mjamm, mir läuft jetzt schon das Wasser unter der Brücke zusammen!" Ugo kicherte, balancierte die Pfanne auf den Tisch. "Guten Appetit." Wünschte er, ließ sich nieder. "Dito!" Geübt schaufelte Roger aus der Wok-Pfanne auf die Teller, kostete genießerisch. "Scheiße, das werde ich vermissen, wenn die Schule wieder losgeht!" Seufzte er grimmig. Lächelnd nickte Ugo. "Ich auch. Es macht Spaß, mit dir zusammen zu kochen." Während sie kontemplativ die Teller leerten, verspürte Ugo wachsende Zuversicht. Seine Eltern würden Roger bestimmt auch mögen. Vielleicht nicht gerade dessen Lieblingsvokabel, doch die verabschiedete sich verdächtig prompt, wenn Roger ernst wurde. "Meine Eltern sind nett, wirklich. Sie haben sich Sorgen gemacht, weil ich keine Freunde finde, aber jetzt werde ich mutig sein." Vertraute er Roger an, der ihn aufmerksam betrachtete, was Ugo erröten ließ. "Ich werde mich auch zusammenreißen, Lockenköpfchen. Übrigens, ich wollte mir ja was überlegen. Also, diese lächerliche Strategie, sich nervtötende Schreihälse unbekleidet vorzustellen, bäh. Keine gute Wahl." Vrkündete er abschätzig, stapelte dabei schon das Geschirr. "Ich glaube nicht, dass mir das gelingen würde." Pflichtete Ugo ihm bei, der nicht erneut an sein mangelndes Pokerface erinnert werden musste. "Tja, ICH kann einfach die Lauschkästen abmontieren, was die Informationskette unterbricht." Roger dozierte mit einer gewissen divenhaften Theatralik. "Allerdings schreckt das Bibliotheks-Dinosaurier nicht ab." Seine essigsaure Miene entlockte Ugo ein Prusten. "Du könntest dir demonstrativ Ohrstöpsel einsetzen. Gangbar, aber nicht gerade elegant." Roger streckte Ugo die Hand hin, um ihn vom Stuhl zu ziehen. "Da dachte ich The ANIMAL! Mein Pate, du erinnerst dich? Der war ja nun nicht gerade in einem handzahmen Milieu unterwegs. Hat sich deshalb mit mir den Spaß erlaubt, mir als Ventil was beizubringen: wie man in Gebärdensprache flucht, also Varianten mit den Greifern, aber nicht die offensichtlichen Gesten!" Ugo, auf sein Bett dirigiert, lauschte Roger verblüfft. "Ich soll mit den Händen fluchen lernen?" Fasste er zusammen. "Exakt." Roger nahm seine Hände in die eigenen, großen. "Hintergrundanalyse: Unterbrechen der Reaktionskette. Wird es laut oder beginnt ein Streit, gerät dein Körper in Stress. Schultern nach oben, Herzrasen, Luftnot, das ganze Programm. Wenn du dich jedoch auf etwas anderes konzentrieren musst, wird die Reaktion gestört. Fäuste ballen scheidet zum Beispiel aus. Dass der Mensch Multitasking-fähig ist, zählt übrigens zu den urbanen Legenden. Bewusste Tätigkeiten müssen weiterhin seriell erledigt werden. Bei Gebärdensprache musst du dich folglich bewusst verhalten und konzentrieren. In der Folge fliegen einige der Störimpulse, also Geschrei, aus dem Verarbeitungsraster im grauen Schwamm. Vorteil dieser Taktik: wir können die ohne Streitereien trainieren. Wenn ich mich richtig entsinne, haben deine Eltern eine Musiksammlung, oder? Wir borgen was aus, drehen ein wenig am Regler und du übst." Schloss Roger ernsthaft und sehr konzentriert seine Erläuterung ab. "Das~das ist eine tolle Idee!" Lobte Ugo, lächelte, schlang Roger spontan die Arme um den Hals. "Oh, entschuldige, die Hörgeräte!" Sein Überschwang hatte ein Touchieren nicht vermeiden können. Roger lachte. "Die halten was aus, Lockenköpfchen. Na schön, haben wir also einen Plan, ja?" "Ja!" Bestätigte Ugo begeistert und erleichtert zugleich. Kein Streit, eine logische Lösung, ein etwas subversives Agieren. Eine ganz neue Erfahrung! "Perfekt. Lass mich jetzt die Marzipanschokolade holen." Feixend goutierte Roger Ugos gerötete Wangen. "Ich bin ziemlich gut im Beobachten." Q~~~* "Oh." Stellte Ugo fest, blinzelte. "Genau." Hörte er Roger leise lachen. "Ich bin eingeschlafen, oder?" Erkundigte Ugo sich, durchaus verblüfft. Rogers große Hand wanderte sehr gemächlich über seine Seite. "Das ist schon in Ordnung. Wir waren schließlich sehr eifrig bei der metaphysischen Erweiterung unseres Bewusstseins." Neckte er, küsste Ugo beschwingt. "Richtig. Nur kann ich eigentlich nicht schlafen, wenn..." Versuchte Ugo, seine Verwunderung zu erklären. "Das liegt vermutlich daran, dass von mir keine Gefahr ausgeht und du dich entspannen kannst. Respektive außer erfolgreichen Angriffen auf deine Tugend von mir nichts zu befürchten ist." Schmunzelte Roger, das Kinn in eine aufgestützte Hand gelegt. Ugo hob eine Hand, um behutsam über Rogers Wange zu streichen. Er konnte sich erinnern, dass er erstaunlich aktiv agiert hatte. "Ich glaube, ich sollte dieses Massage-Buch auch studieren." Bemerkte er verschmitzt. Roger grinste, Welten entfernt von seiner konstanten Wut auf sich, alle und alles. "Also haben wir schon zwei Aufgaben für die nächste Woche. Na, da kann das neue Jahr ruhig kommen." Ugo rappelte sich auf in eine sitzende Haltung, angelte nach seiner Brille, um die Sicht erheblich zu verbessern. "Das ist ein bisschen frisch." Warnte Roger, setzte sich ebenfalls auf, schlug die Decke um sie. Ugo räusperte sich, fasste Rogers Hände. Der lupfte bereits eine Augenbraue. Die schwarzen Augen blickten prüfend. "Roger, bitte geh mit mir. Ich möchte, dass du mein fester Freund wirst." Ja, da klopfte ihm wirklich das Herz bis zum Hals! Ugo verspürte dennoch weder Panik noch Schwindel. Über Rogers Gesicht huschte Verblüffung. Er begann, leise zu lachen. "Oha...wirklich...verdammt, Ugo... Scheiße, jetzt geht MIR die Pumpe!" "Ist das ein Ja?" Hakte Ugo schelmisch nach. Roger derart aus dem Takt zu erleben, das hatte schon was! Außerdem wollte er durchaus einige Regeln befolgen, wenn die ihm sinnvoll erschienen. "Bedeutet das, dass wir unsere wilde Ehe aufgeben müssen? Nicht mehr ungeniert Kochen, Spaziergänge, Gespräche und Sex mit Schokolade?" Erkundigte Roger sich frech. Ugo schüttelte, keineswegs erschüttert, energisch den Kopf. "Nein, gar nicht. Es wäre doch nicht 'spießig', wenn ich dich nicht fragen würde, richtig?" Roger grinste beifällig, drückte Ugos Hände. "Absolut wahr! Ja, Ugo, ich gehe mit dir und bin dein fester Freund. Jetzt glaube ich, dass wir noch ein wenig Metaphysik betreiben müssen, sonst kann ich mich nicht respektabel deinen Eltern präsentieren." Ugo kicherte, kletterte Roger auf den Schoß. Während sie einen intensiven Kuss austauschten, entschied Ugo, dass er das Mysterium nicht lüften musste. Die Antwort, die er gefunden hatte, erfüllte nämlich all seine Ansprüche. Inklusive Marzipanschokolade. Q~~~* Ende Q~~~* Danke fürs Lesen! kimera