Titel: Poppen gegen die Pandemie Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Halloween 2021 Erstellt: 31.10.2021 Disclaimer: alles Meins, weitere Erläuterungen siehe unten! - TOR-Browser: grafische Oberfläche für ein Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten, siehe torproject.org {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} Poppen gegen die Pandemie "Schon wieder." Konstatierte Miles resigniert, studierte das quadratische Päckchen. Kein Zweifel, sein Name, seine Anschrift, sogar das Geschoss und die Nummer der Wohnung. Wie war es auf seine Fußmatte gelangt? Auch der Absender war ihm nicht entgangen, "Inferno Incorporated". Keine Anschrift darunter, natürlich nicht. Kein kryptisches Sendungsverfolgungskürzel, nirgendwo, kein Code, kein Nichts. Nicht das erste Paket, das er erhielt. Seufzend schloss er seine Appartementtür auf, stellte erst mal die Stofftüte mit den Einkäufen ab. Das Hochgefühl, KEINE Süßigkeiten aus den Grabbelkörben für Halloween am nächsten Tag gekauft zu haben, verpuffte. Erst mal Jacke runter (es hatte geregnet) und Schuhe auf die Tropfschale, danach Einkäufe verstauen. Anschließend, wollte er wirklich wissen, was sich dieses Mal im Paket befand?! Weihnachten, Ostern, nun Nummer 3. Selbstverständlich hatte er versucht, den Absender zu kontaktieren. Es musste sich um eine Verwechslung handeln! Er hatte nichts bestellt, wollte auch nichts bezahlen. Im Call-Center, einer modernen Variante der Vorhölle, war man ihm mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet. Das war an sich schon verdächtig, auch, dass er beim ersten Versuch durchkam! Nein, keine Verwechslung. Nein, die Sendung war bezahlt. Nein, niemand vermisste etwas. Nein, keine Namensgleichheit. Kurz gesagt: seine Versuche liefen ins Leere. Soziale Medien, das Internet, Suchmaschinen: schön, auch diese Anstrengungen hatte er unternommen, anonym, über den TOR-Browser, weil, nun ja. Miles säbelte vorsichtig den Verschluss ab, ein ungewöhnliches Siegel, das den Kartondeckel mit dem Rest verband. Wollte er denn wirklich wissen...?! Er atmete tief durch. Überraschend an sich würde es nicht sein, höchstens eine Variante, genau: Kondome mit saisonaler Gestaltung (dieses Mal eine diabolisch grinsende, hohle Rübe!), Gleitgel in passender Farbe (grün-orange, wobei die Farben nicht verliefen, sich nicht vermischten), diese Aufkleber für die Brustwarzen (feixender Halloween-Hokkaido-Kürbis) und, oh lala, schon wieder ein Dildo (Kugelspitze, ein Halloween-Kürbis, wie originell). Dazu ein gefaltetes Blatt Papier (aus Grasfasern, wie er ermittelt hatte. Dieses Material hatte er mal im Unverpackt-Laden gesehen). [POPPEN GEGEN DIE PANDEMIE!], lautete der Slogan, altmodisch Wahlspruch, begleitet von munteren Wünschen für den Reformationstag/Allerheiligen/Halloween. Kein Zettelchen jedoch mit "liebevoll und sorgfältig verpackt von...". Miles seufzte erneut, schnupperte. Nein, kein Plastikgeruch, abgestandene Synthetik von irgendwelchen Frucht-Estern. Wieso bekam er diese Päckchen?! Wer schickte sie ihm?! Richtig, die Inferno Inc., aber jemand musste doch dafür bezahlen, den Auftrag erteilen! Weil der Inhalt ihm ein wenig peinlich war, hatte er deshalb seine Suche anonym gestaltet, erstaunlich wenige Treffer gefunden. Alle suchten ebenfalls nach Antworten, und niemand bot sie, nicht mal halbwegs vernünftige Verschwörungsmythen! Miles ließ das Päckchen samt Inhalt geöffnet stehen, trat ans Fenster. Gerade regnete es langsamer. Ein Blick auf den altmodischen Arm-Chronometer schloss sich an. Er straffte die Schultern. Noch mal raus, jawohl! Sich einen leckeren Schokoladenkuchen für Halloween kaufen, aber hallo! Die Kalorien konnten ihm mal peripher begegnen! (Was sie auch getan hätten, wäre er nicht auf den populären Hula-Hoop-Zug aufgesprungen, ließe den Fassreifen kreisen!) {^...^} Da hatte man einmal im Jahr eine Stunde mehr Schlaf und war postwendend genau eine Stunde neuer Zeit (Normalzeit) früher wach! Draußen stockdunkel, trüb und trist, wabernder Dunst, drinnen eine gewisse Unzufriedenheit mit sich selbst, weil man ja die Gelegenheit zum Ausschlafen hätte nutzen können, aber nun nicht müde war! Miles dachte etwas reuig an das sehr großzügig bemessene Stück Kuchen, das er am Vortag verputzt hatte. Wenn man auf die Vierzig zuging (die NICHT das neue Zwanzig waren!), sollte man kalorische Exzesse nicht allzu oft veranstalten. Da half auch die "Ring-Tournee" mit dem Reifen nicht mehr. Zudem befand er sich, Pandemie-bedingt, häufig im Home-Office, umgewandelt in "Tele-Arbeit" per Betriebsvereinbarung. Das hatte im Laufe der letzten zwei Jahre zur heimischen Aufrüstung geführt (plus Besuch der Arbeitsmedizin zwecks Ergonomie), in Kombination mit sehr viel weniger Bewegung. Deshalb improvisierte Miles mit Schwenkarm für den Bildschirm und Bügelbrett einen "Steh-Arbeitsplatz". Schließlich galt ständiges Sitzen ja als gesundheitsschädlich und so energisch zu bekämpfen wie das Rauchen! Miles lebte allein, schon geraume Zeit, quasi seit Auszug aus der Studierenden-Wohngemeinschaft, die mit erfolgreichem Abschluss geräumt werden musste, weil ja andere auch in den Genuss der subventionierten Unterbringung kommen sollten. Arbeitssuche, berufliche Veränderung, Umzüge: eine Weile war sein Leben etwas unstetig gewesen. "Du bist ein chronischer Work-Aholic!" Verdampfte ihn seine Mutter regelmäßig. Miles protestierte vergeblich, dass er zunächst selbständig gewesen sei! Ein stetes, pünktliches Einkommen war da nicht garantiert. Man musste für Regentage etwas ansparen. Und überhaupt! Seine Mutter hatte leicht reden. Er gehörte zu einer Generation, die sich zu optimieren trachtete. Status quo halten, das reichte nicht aus. Wer stillstand, war schon abgehängt. "Andere haben Frau und Kinder!" Ja, und andere hatten schon die erste Scheidung/Trennung absolviert. Miles hätte ja gar nichts gegen eine feste Beziehung gehabt, wenn sich so was passend in sein Leben hätte integrieren lassen. Im zweiten Jahr der Pandemie stellte er bei sich fest, dass er gar keine Lust mehr hatte, etwas zu unternehmen, überhaupt in ein Gedränge zu geraten, den Abstand zu reduzieren. Wahrscheinlich, dachte er, hatte er sich an das Alleinsein so gewöhnt wie an das Alleinwohnen. Hieß es nicht bei Gewohnheiten, die verstetigten sich nach einem halben Jahr konsequenter Ausübung? Die Welt war extrem von der Spezies Mensch bevölkert, da musste man keinen eigenen Beitrag leisten. Jemanden an sich zu binden für ein paar Minuten am Tag, wo man sich mal ein wenig solitär fühlte, das war ziemlich egoistisch! Miles verabschiedete die tristen Gedanken, stemmte sich aus dem Bett, tappte ins Wohnzimmer mit Küchenzeile. Kaffee, genau, außerdem duftete da irgendwas! Zum Durchlüften war es ihm noch zu kalt. Sein Blick fiel auf den geöffneten Karton. Nein, hier sollte der besser nicht stehen, auch wenn er keinen Besuch erwartete. Deshalb verbannte er ihn kurzerhand in das kleine Badezimmer. {^...^} Katzenwäsche und... Miles schnupperte. Was war das nur für ein Duft? Er hob den Karton auf, platzsparend auf dem Toilettendeckel abgestellt. Grinsende Rüben und feixende Kürbisse. Etwas grimmig fletschte Miles die Zähne. Kondome, okay, Gleitgel, warum nicht, aber wieso ein Dildo?! Seines Wissens nach war er nicht schwul, also... Das Korrektiv in seinem Hinterkopf schritt, dank Koffein aus dem Kaffee, sofort ein. Schließlich wollte man nicht als kleingeistiger Trottel abgestempelt werden! Erstens konnte so ein Dildo (der hier war nicht naturalistisch gestaltet, eher künstlerisch) auch außen angewandt werden. Zweitens war der teil-interne Gebrauch ja genauso geschlechtsunspezifisch wie die Brustwarzenpflaster! Körperöffnungen waren bei Homo sapiens im Bausatz paritätisch vorgesehen und nicht auf ein Modell beschränkt! »Oder haben wir in Anatomie etwa den Unterricht geschwänzt?!« "In Ordnung, in Ordnung, verstanden!" Kapitulierte Miles vor seiner regulatorischen Aufsichtsbehörde, hob beschwichtigend die Arme. Eigentlich sollte er ja nicht neugierig sein, aber... Was zum Geier war an diesen Nippel-Klebern so interessant?! Miles pickte ein Päckchen auf, öffnete es an der perforierten Sollbruchstelle. Klar, ein juxender Halloween-Kürbis, was sonst! Trotzdem, sollte das der Zensur dienen? Schien ein ganz normales Pflaster zu sein... »Das ist KEINE gute Idee! Du weißt nicht, wo es herkommt!« Da konnte er seiner inneren Stimme aber widersprechen, denn es war ja Inferno Inc.! Außerdem hatte er MIT Brille genau inspiziert, was das Objekt ausmachte. Eben ein Pflaster! Die Dinger, die er selbst im Schrank hatte, allerdings mit kleinen (grausigen) Einhörnern drauf, weil er die Kindervariante in der Drogerie erwischt hatte! (Aber wer neue Schuhe einlief und nun mal eine prominente Ferse hatte, musste mit Nebenwirkungen rechnen.) Zudem, wenn diese Dinger speziell wären, hätte er bestimmt irgendwo etwas dazu gelesen, richtig? »Ausgenommen die sind alle so gschamig wie DU!« Ätzte die Doppelgängerin seiner Mutter in seinem Hinterkopf, die dazu neigte, auch als längst erwachsener Mann sein Selbstbewusstsein zu unterminieren. "Pah!" Fauchte Miles empört, applizierte sich tollkühn-trotzig einen Brustwarzen-Aufkleber. "Na ja." Kommentierte er sein Spiegelbild, pappte, weil ihm der Kürbis einsam vorkam, noch einen Zwilling auf die andere Brustwarze. Also, erotisch sah das jetzt nicht aus, eher albern. Es prickelte bloß. Zurückschicken konnte er das Zeug ja nicht, weil es keinen Absender gab, zumindest keinen postalischen! Wenn er es entsorgen musste, ja, dann~dann konnte man auch den Lümmel mit der saisonal gestalteten Tüte ein wenig verwöhnen, bevor man sich eine Dusche gönnte! {^...^} Miles ächzte, hoffte sehr, dass die Schachtwirkung der Badezimmer nicht allzu ausgeprägt war. Sprich, dass man sein lustvolles Stöhnen und Keuchen nicht im gesamten Gebäude vernahm, wenn man das Badezimmer in diesem Flügel aufsuchte! Erst war es ja bloß eine Lümmeltüte gewesen, dann hatte sich irgendein Schalter in seinem Reptiliengehirn unautorisiert umgelegt! Zweimal war er schon gekommen, hatte die grinsenden Rüben gefüllt. Aber es war einfach nicht genug! Dauer-Ständer, Permanent-Erektion, Nippel zum Augenausstechen... Miles fühlte sich so beängstigend hormongesteuert wie noch nie in seinem Leben. Was sollte er tun, wenn DAS nicht wegging?! Einen Notarzt rufen?! Es pochte und prickelte. Heiß-kalte Schauer überliefen ihn immer wieder, ihn schwindelte leicht. In der Notgeilheit hatte er sich sogar mit dem Gleitgel eingerieben. Hautkontakt schien den explosiven Druck temporär ein wenig zu mindern. Ihm war heiß, sein Unterleib kochte förmlich. Obwohl er immer wieder Wasser geschluckt hatte, fühlte er sich ausgetrocknet. Ein Aphrodisiakum? Die gab es doch gar nicht, alles Unsinn! Eine Kontaktallergie, die einen derart rattig machte, dass man nicht mehr ein noch aus wusste?! Wunschdenken, urbane Legende, völliger Quatsch! Miles beäugte den diabolisch-heiter grinsenden Kürbis, auf dem Dildo mit dem Saugnapf. »Wag es JA NICHT!« Brüllte die Doppelgängerin seiner Mutter in seinem Hinterkopf, Tyrannosaurus Regina. Miles war das mittlerweile egal. Wenn der Saugnapf in richtiger Höhe an der Wandfliese hielt, würde er ES tun! Um diesen Drang irgendwie zu lindern, sich Erleichterung zu verschaffen, den ultimativen Orgasmus zu erleben. Sonst würde er hier nämlich DETONIEREN! {^...^} Halloween, das war die Verkürzung von All Hallow's Eve, der Vorabend vor Allerheiligen. Deshalb gab es in einigen Bundesländern am Montag einen Feiertag, konfessionell dekliniert. Miles, der notorisch atheistisch eingestellt war, hätte eine temporäre Baptisierung durchaus in Erwägung gezogen. Weil er sich WIRKLICH sehr angestrengt durch diesen Montag schleppte. Nicht mal Tele-Arbeit stand an, sondern Präsenz, Gespräche, Post (physikalisch), Ablage und so weiter. Er EIERTE durch den Tag. "Ach, Muskelkater, hm? Du machst dieses Hoppla-Reifen-Dings, oder? Geht ganz schön auf die Gelenke, wie?" Miles grimassierte bloß hilflos. Man konnte ja nicht entgegnen, dass der Muskelkater nicht von einem Halbmarathon (Fuß oder Fahrrad), Gymnastik oder eine Wandertour herrührte. DAS galt alles als akzeptabel, auch ehrenamtliches Engagement wie Müllsammeln auf Flüssen (Kajak-Tour) oder beim Walking. Sondern seinem sehr ausdehnten Flötenkonzert für einen Solisten im Badezimmer entsprang. Kopulationsabenteuer oder ähnliche Aktionen wurden hier als primitiv-egomanisch und proletarisch-pöbelhaft eingestuft. Damit ging man nicht hausieren. Das zeigte bloß einen sehr kleinen Horizont und einen niedrigen IQ. Solche Attribute wollte Miles nicht mit seiner Person verbunden wissen. Vor allem, wenn die Distanz durch verteiltes Arbeiten noch stieg. Da konnte der persönliche, direkte Kontakt falsche Impressionen und Gerüchte kaum ausgleichen. Miles schleppte sich tapfer dem Feierabend zu. »Hüte dich bloß davor herumzujammern! Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Kleine Sünden bestraft der Liebe Gott sofort!« Miles knurrte sich selbst an, besonders die Doppelgängerin seiner Mutter im Hinterkopf. Schön, für eine Mono-Orgie war er offenbar nicht in Form. Aber es war, um es vulgär auszudrücken, ENDGEIL gewesen! {^...^} "Guten Abend." Wünschte Miles matt, als er das Gebäude betrat. "Oh, guten Abend." Antwortete ihm ein Mann, der vor der Briefkastenwand stand, irritiert eine Karte musterte. Offenkundig hatte er gerade die Wurfsendungen sortiert. Miles räusperte sich höflich. "Entschuldigung, ich möchte gern..." Wies er auf seinen Briefkasten hin, der sich höher in derselben Kolumne befand. "Ah, natürlich, Entschuldigung." Ein Lächeln, die offenbar merkwürdige Karte hin und her wurde gedreht, gemustert. Miles operierte an seinem Briefkasten. Ärgerlicherweise rutschte ihm doch ein in Plastik eingeschweißter Band aus den Händen. "Uh!" Kommentierten seine verwünscht weichen Knie die Anstalten, das Fallobst vom Boden aufzuklauben. Unterdessen war hilfreich der Nachbar eingeschritten, in die Hocke gegangen und ihm zuvorgekommen. "Äh...Muskelkater." Behauptete Miles verlegen, kämpfte sich wieder in die Senkrechte. "Ach, wie unangenehm! Hier, deine Post." Man lächelte mitfühlend, wedelte mit der Karte, blickte an Miles vorbei. "Oh, der Aufzug!" Hastig schloss Miles seinen Briefkasten ab, eierte eilig hinterher. "Ah..." Intonierten sie beide im Chor. Der Aufzug war bereits überbelegt, zumindest nach Pandemie-Vorschriften. Der alte Mann aus dem Fünften mit Rollator und die Mutter mit dem Kinderwagen aus dem Dritten. "Dann eben die Treppe." Miles tappte automatisch hinterher, den blöden Katalog unter den Arm geklemmt. Schön, die letzten Höhenmeter würde er auch noch bestreiten, dann ein lecker Käffchen! Als sie gerade das zweite Treppenpodest erreicht hatten, krachte es unerwartet lautstark über ihnen. "Ach du Schande, hab ich mich erschreckt!" Erklärte der Nachbar seinen Ausruf, aber auch Miles zitterten die Knie. Nur teilweise waren die Leuchtkörper im Treppenhaus durch LED ersetzt worden. Bei dem so lautstark und jüngst verschiedenen Leuchtobjekt handelte es sich um eine konventionelle Röhre mit gesondertem Starter, weshalb sie nun in diesem Abschnitt im Dunkeln standen bzw. an der Wand lehnten. "Herrje, du zitterst ja! Komm mit zu mir, okay?" Gestikulierte der Nachbar, dabei seine Briefsendungen fest im Griff. Miles schnupperte etwas merkwürdig Vertrautes. "Äh..." Setzte er an. In seinem Hinterkopf brüllte Tyrannosaurus Regina gegen das Reptiliengehirn mit monothematischen Botschaften an. "Ich bin übrigens Adrian." Lächelte der Nachbar, legte die Hand auf die Brust. Dabei entglitt ihm eine Karte aus dem Briefbündel. Automatisch bückten sich beide, im Dunkeln nur vermutend, wo das Flugblatt gelandet sein musste. Möglicherweise war es auch ein verkappter Schmetterlingsflügelschlag... {^...^} Adrian wohnte ebenfalls in einem Eineinhalbzimmer-Appartement, glücklicherweise schon im nächsten Stockwerk. Sonst wären selbst solide Nähte bei diversen Bekleidungsstücken dem hormonellen Notstand nicht gewachsen gewesen. Über die Einrichtung wusste Miles nichts zu sagen, nahm man das Bett aus. Vielmehr zunächst den kleinen Teppich davor, der die Knie schonte. Was das Übrige betraf: nicht nur die Zeit war relativ, auch gesellschaftliche Gepflogenheiten, tradierte Verhaltensmuster, eingeprägte Erwartungen. Hätte Adrian die Gelegenheit gehabt, mehr als die Leuchte im Eingangsbereich zu aktivieren, wäre wohl ein quadratischer Karton aufgefallen. {^...^} "Das hier ist die Produktion für die Initialzündung unseres Pilotbereichs." Mit ausschweifender Geste wies Kassian auf eine kleine Abfolge von Rollbändern und Maschinen, per Pedale oder Laufband angetrieben. Am Ende wurde eifrig gepackt, strikt nach individueller Vorgabe. "Alles biologisch abbaubar, Naturfarben, personalisiert." Dass Kassian bei dieser Präsentation aufgeregt war, konnte man nur seinem Schwanz entnehmen, der nervös hin und her pendelte. "Wir garantieren Qualität und Nachhaltigkeit." Als Inkubus für ihn gar keine Frage! "Schön, schön." Kommentierte der Große M, spazierte interessiert herum. "Dank der Partnerschaft mit Aeroflott können wir pünktlich und zielgenau ausliefern. Wir haben für unser Start-Up neue Arbeitsmöglichkeiten geschaffen und viele Neu-Beschäftigte." Ergänzte Kassian, zupfte an seinem traditionellen Kilt herum. "Ah!" Eilfertig spulte er eine Erläuterung ab. "Unser Dildo unterliegt natürlich auch der Qualitäts- und Belastungsprüfung, hergestellt aus Rübenabfällen. Da drüben sind die Gussstraßen, beheizt mit Vulkan-Thermik direkt hier an Ort und Stelle. Unsere gesamte Produktionsanlage ist modular aufgebaut, kann auch expandierend errichtet werden. Wir gehen schließlich von einer stetig steigenden Nachfrage aus." Er bleckte gewinnend das ausgeprägte Gebiss, das Karnivoren Respekt abgenötigt hätte. Zumindest, wenn sie nicht gewusst hätten, dass Kassian sich rein pflanzlich ernährte und Karma-technisch der Friedfertigkeit zugeneigt war. Die Aeroflott konnte von einer Zusammenarbeit leicht überzeugt werden. Der Logistik und dem Transport gehörten die Zukunft! Außerdem hatten sie eine recht junge, noch ziemlich kleine In-Spe-Ingenieurin, die geradezu leidenschaftlich Verbesserungen und Neuerungen austüftelte. Warum also nicht auch in der Menschenwelt reüssieren? Immerhin musste so Einiges unterhalten werden, da konnte "Cash" nicht schaden. Der Große M billigte solche Ideen durchaus. Der Zweig "Aus- und Fortbildung" hatte unter der Pandemie gelitten, was das gesamte System auf dieser (der besseren) Seite ein wenig in Mitleidenschaft zog, wenn man nicht auf Pump leben wollte. "Da ist unser Labor mit der Analytik." Kassian winkte Karakal, dessen zugespitzte Pinselohren verschreckt zuckten. Seine schwarzweiße Gesichtszeichnung wies auf Unbehagen hin, die dichten Schnurrhaare zuckten. "Wenn es nichts ausmacht: Karakal ist ein wenig schüchtern." Baute Kassian jedem Besuch im Labor vor. Sein Freund mit den schönen, schwarz gezeichneten Pinselohren gehörte zu einer Daimonensippe, die notorisch einzelgängerisch veranlagt war. Mühsam war es ihm gelungen, den scheuen Karakal zu einer Kollaboration zu überreden, ihm endlich die Freundschaft anzutragen. "Da kommen die neuen Proben unserer Beschäftigten herein!" Lenkte Kassian deshalb vom Labortrakt ab, in dem Karakal analysierte, synthetisierte und die perfekte Mischung erstellte. Düfte, die wie Hormon-Bomben einschlugen! Selbstverständlich biologisch abbaubar. Der Große M beäugte die rege Geschäftigkeit um zwei aufgebockte Holzkästen. "Unsere kleinen Vampire, wie wir sie scherzhaft nennen." Kassian summte sonor, um sich anzukündigen. Die Daimonenmosquitos besorgten die "Stichproben", bescherten Karakal das Ausgangsmaterial, zu dem er personalisiert den perfekten Duft aus seiner Aroma-Orgel (eher einem gewaltigen Reservoir an Duftgrundstoffen) kreierte. Sein feines Katzennäschen war in dieser Hinsicht unschlagbar. "Natürlich werden wir ausbauen, wenn wir expandieren." Erläuterte Kassian. Die Daimonenmosquitos sollten genügend Platz haben, sich heimisch fühlen und gut versorgt sein. Sie erledigten die Probennahme, ohne die man nicht so zielgerichtet den Erfolg garantieren konnte. "Schon stehen wir vor unserer anderen Produktionsstrecke." Kassian deutete in die abgetrennte Sektion. "Die Nachfrage steigt rasant. Wir können in Kürze die Kredite für die Maschinen ablösen. Auch hier gilt beste Qualität, selbstredend! Wir testen mit der Aeroflott ein Mehrwegversandsystem, um die Menge der Kartons zu reduzieren. Wir streben eine dauerhafte Versorgung eines Grundbedürfnisses an." Ergänzte Kassian mit staatstragender Wichtigkeit, aus der Perspektive eines Inkubus gar nicht zu bestreiten. Der Große M beäugte die eifrig Werkelnden. Andere Beschriftung, das sagte ihm zu, nicht aufdringlich, dezent, floral. "Ja, das ist sehr schön. Gefällt mir sehr." Der Große M wandte sich Kassian zu, der vor lauter Erleichterung einen hörbaren Seufzer entlassen hatte. Da rauschte unvermittelt eine Kurier-Fledermaus heran, erkannte das unerwartete Hindernis, wich Fledermaus-haarscharf aus. "Hoppla." Kommentierte der Große M, während Kassian sämtliche Haare zu Berge standen. "Oh, das tut mir leid! Ich werde die Express-Mitteilungs-Flugroute sofort markieren!" Versicherte Kassian, der nun hastig in seiner Gürteltasche nach farbiger Kreide kramte. Verflixt! Dabei hatte doch alles so gut geklappt! Immerhin war aus seiner Abschlussarbeit tatsächlich ein Pilot-Unternehmen entstanden und gefördert worden! "Express-Mitteilungs-Flugroute?" Der Große M beobachtete ungerührt, wie die Fledermaus eine Tafel anflatterte, eine der unzähligen Strippen zog, bevor sie kehrtmachte. "Ja, unser Benachrichtigungssystem." Kassian kam aus der Hocke, sein eiliges Abmarkieren abschließend. "Wenn aufgrund akustischer Signale auf das überwiegende Potential einer temporären Verkupplung geschlossen werden kann, liefern sie den Hinweis. Wir haben ein System installiert, das uns über die Aktivierung den Statuswechsel avisiert. So wird aus der Initialzündung ein Abonnement, also ein Wechsel zu unserer Grundversorgung. Wir schalten die Werbung, um erreichbar zu sein, auch für die Zahlungsvorgänge. Wir bieten maßgeschneiderten Service, personalisiert aufgrund unserer Vorermittlungen. Und diskret!" Kassian war nicht der leicht skeptische Blick ob der Wahlsprüche für ihre Initialzündungs-Offensive entgangen. "Also bedeutet ein Express-Mitteilungs-Kurier im Tiefflug einen Beischlaf in spe?" Konkretisierte der Große M interessiert. Kassian nickte eilfertig. "Unsere Spezialeinsatzkräfte sind entsprechend geschult und werden ständig fortgebildet. 'Zuverlässig und im Schichtdienst, bei Licht oder Dunkelheit, die Antennen immer auf Empfang!'" Zitierte er das Motto, das ihn dazu eingeladen hatte, die Kurier-Fledermäuse zu engagieren. "Famos." Komplimentierte der Große M, strebte die Kantine an. Jetzt wollte er sich höchstpersönlich von der leiblichen Versorgung all dieser eifrigen Beschäftigten überzeugen! Kassian eilte hintendrein, Karakal mit Kralle hoch an der Klaue signalisierend, dass sie die Prüfung soweit gemeistert hatten. Tarantula, die im wahrsten Sinne des Wortes vernetzte, seufzte. Sie konnte auch einen Snack vertragen. Allerdings musste sie zuerst noch bis zur Übergabe die Statusänderungen umsetzen und aus Miles und Adrian Abonnierende in spe machen. Woraufhin zwei Graspostkarten im Transportkorb für die Aeroflott landeten, damit dem Bezug kein Hindernis entgegenstand. {^...^} "Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist." Erklärte Adrian heiser, reichte Miles ein Glas Wasser, das der mit beiden Händen halten musste. Der von sich nicht behaupten konnte, er wisse nicht, was, vielmehr wer in ihn gefahren sei. Adrian ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder. "Jetzt habe ich deinen Muskelkater bestimmt noch ausgeweitet, sorry!" Entschuldigte sich Adrian. Miles entwischte ein verräterisches Auflachen. "Das glaube ich eher nicht." Murmelte er, blinzelte, weil seine Brille im Eifer des Gefechts abgängig war. "Entschuldigung." Adrian küsste ihn auf die Wange, ausgesprochen züchtig verglichen mit ihrem oralen Austausch zuvor. Miles seufzte. "Ich glaube, ich muss deine Gastfreundschaft noch weiter strapazieren. Wenn ich meinen Knien wieder trauen kann, darf ich kurz unter deine Dusche?" Was auch immer Adrian an Massage- und Gleitgel genutzt hatte, erwies sich als anhänglich. Obwohl er den Geruch ziemlich, also eher SEHR mochte. Was die Unfallgefahr und das Potential der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses bis zu seinem Geschoss potenzierte. Dabei sollte der eigene Geigerzähler gar nicht mehr ausschlagen können! "Ich kann dich unter die Dusche begleiten, um häusliche Unfälle zu vermeiden." Schlug Adrian neckend vor, zwinkerte Miles zu. "So weit ist es schon mit mir gekommen, dass ich Assistenz brauche..." Murmelte Miles, riskierte einen kurzsichtigen Blick auf Adrian, der grinste. "Wir könnten danach noch meine Süßigkeiten-Tüte plündern. Auch wenn der Große Kürbis natürlich nicht gekommen ist." Adrian registrierte die Verwirrung in Miles' Miene, raunte vertraulich. "Das erkläre ich dir später." Der entschied, dass er bei all den Anstrengungen für ein paar Süßigkeiten bestimmt keine Extra-Reifen-Runden einlegen musste. Außerdem hatte er jetzt einen Japp, brauchte eine Dusche. Adrian konnte küssen, dass man Himmlische Chöre zu vernehmen glaubte! {^...^} Karakal nagte an einem gegrillten Maiskolben, beäugte Kassian dabei inquisitorisch aus den Katzenaugen. Der drehte Nudeln auf und futterte, weil er sich ausgehungert fühlte. Sie hatten die Prüfung des Großen M bestanden! Ihr Start-Up würde expandieren und zu einer soliden Unternehmung heranwachsen! Da er die Verantwortung für viele Beschäftigte trug (auch, als Inkubus, ihr Klientel samt Wohlbefinden im Auge hatte), keine einfache Angelegenheit. "Ich glaube..." Kassian tupfte sich über die Wangen, "Ich glaube, wir sollten die Werbe-Sprüche noch mal überdenken. Regional anpassen, weißt du? Nicht, dass es direkt Kritik gab, aber so unterschwellig, also, nach meinem Empfinden..." Sein Schwanz mit der Pfeilspitze tanzte alert hin und her. Karakal säuberte die ausgeprägten Schnurrhaare. "Die Karton-Matrizen kann man ändern. Vielleicht sollten wir fremde Expertise hinzuziehen?" Miaute er fragend. Kassian nickte entschieden. "Besser ist das wohl. Ich habe morgen den regulären Austausch mit der Aeroflott. Wenn jemand weiß, wie man regional Erfolg hat, dann diese Vögel!" Dolmetschende würden sie ja auch benötigen. Er fischte aus seiner Gürteltasche eine kleine Notiztafel. Dort fanden sich noch die aktuellen Aufdrucke ihrer Karton-Beileger. - Poppen gegen die Pandemie! - Knattern gegen den Klimawandel! - Ficken für Frieden! - Vögeln für Völkerverständigung! - Rammeln für Romantik! - Schnackseln for Science! - Zapfeln für Zukunft! - Bumsen für Bienen! Er wischte sie aus. "Subtil, hm?" Karakal unterdrückte ein schwarzweißes Schmunzeln, das seine prächtigen Schnurrhaare flauste. Keine leichte Aufgabe für einen leidenschaftlichen Inkubus! "Komm doch zur Inspiration mit zu meiner Duft-Orgel. Voller Magen denkt auch nicht gern." Kassian bleckte sein imposantes Raubtiergebiss, lachte. "Recht hast du! Mir wird schon was einfallen. Außerdem läuft ja bald das Weihnachtsgeschäft an. Nochmal dürfen wir 'Knüppel mit Sack' wahrscheinlich nicht verwenden." Zumindest nicht, wenn sie die Geduld des Großen M nicht überstrapazieren wollten. {^...^} Adrian hatte Miles nach Dusche (sehr schäumend und liebevoll von ihm assistiert) und Süßigkeiten mit einem Kaffee-Karamell versorgt, ihm seinen Bademantel geliehen, ließ nun eine alte DVD abspielen, nicht lange, gerade mal eine halbe Stunde. Miles kicherte, staunte und seufzte bei den Steinen in der Schnappsack-Naschtüte, gebannt von den kurzen Episoden. Während Adrian die Gelegenheit nutzte, sein Heim eilig repräsentabler zu machen. Dazu gehörte es auch, den verräterischen Karton hastig unters Bett zu bugsieren. Wenn Miles jetzt beispielsweise auch noch Comics mochte... Nicht sonderlich unauffällig schmuggelte er in dessen Rucksack seine jüngste Erwerbung, weil er so ein verflixter Romantiker war, der einfach nicht aufgeben konnte! {^...^} Im "Controlling"-Bereich jonglierte Quälla mit den Rückmeldungen der Kurier-Fledermäuse. Sie setzte einen Haken in die Spalte "Erfolgsgarantie". Schon verblüffend, wie ein Duft in Kombination mit einem anderen Duft so intensive Verbindungen erzeugte! Wenn jetzt noch das Bewusstsein dem Unterbewusstsein nicht reingrätschte... Quälla liebte romantische Geschichten und orderte, ganz uneigennützig, eine Nachverfolgung. Weil man ja wissen wollte, wie lange der Effekt anhielt, ob man sich zusammenraufte... Im Einsatzplan poppte ein weiterer Auftrag auf, genaue Ortsbestimmung, dann Objektbezeichnung zur Einordnung. [Adrian und Miles]. Dauer der Beobachtung: vorläufig ohne Endzeitpunkt. {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} {^...^} Danke fürs Lesen! kimera Ergänzung der Andeutungen/Disclaimer: - Der Große Kürbis/It's the Great Pumpkin, Charlie Brown, USA, 1966, Bill Melendez, Charles M. Schulz, Lee Mendelson (das lässt Adrian Miles sehen). - Trotz allem...Liebe von Jordi Lafebre, Splitter-Verlag 2021 (was Adrian Miles heimlich in den Rucksack packt). - Die kleine In-spe-Ingenieurin ist natürlich Nadia aus "Nixerich".