Titel: Powermann Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Adventskalender 2018 Erstellt: 30.11.2018 Disclaimer: - "The incredible Hulk" und "Spider-Man" sind Comicfiguren aus dem Marvel-Universum - "Powerman" ist der deutsche Titel eines Hongkong-Spielfilms mit Jackie Chan und Sammo Hung von 1984 - "Superman" ist eine Comicfigur aus dem DC-Universum - "School of rock" ist ein amerikanischer Spielfilm von 2003, der auch eine TV-Serie inspirierte. Hinweis: Silvains und Linus' Geschichte wird in "Schutzengel" erzählt, die kurz vor dieser Geschichte spielt und an Halloween 2018 veröffentlicht wurde. ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ ~*#*~ Powermann Kapitel 1 - Der Mann hinter der Maske "Ich verstehe diese Leute nicht! Da liefern wir ihnen feinste Schokolade für 40 Cent und leckere Kekse: sie beschweren sich! Konsumenten sind so undankbar! Die haben keine Vorstellung davon, welche Anstrengungen wir unternehmen. Was ist denn so schlimm an Palmkernöl? Die Kleinbauern hätten die Felder ohnehin nicht richtig genutzt und das bisschen Regenwald! Überhaupt, die Leute vor Ort, die wissen so was gar nicht zu schätzen. Die Hungerleider essen ja einfach alles." Die Karikatur dazu, ein paar Striche auf dem Papier, rasch eingescannt, gespeichert und hochgeladen. Den Speicherort per Link anonym versandt, für die nächste Ausgabe der Schülerzeitung eingereicht. ~*#*~ Er vermied die spiegelnde Fläche der angelehnten Fensterscheibe. Es dampfte, seine Brillengläser beschlugen. Draußen herrschte eine klamme Kälte, im Verkaufsraum der Bäckerei jedoch waberte Hitze aus der Backstube hinein. Er bremste rasch. Hier stand man immer in der Schlange. Brot-Sommelier, eine kleine Filialkette eines Familienunternehmens, tatsächlich Konkurrenz für den Back-Shop des Supermarkts zwei Straßen weiter. Höhere Preise, dafür lange Gehzeiten der Teige, Angebote für Lebensmittelallergiker, Vorbestellung, wertvolle Rohstoffe und immer ein Schwätzchen. Das hatte man nicht, wenn man an der Selbstbedienungstheke mit klapprigen Gebäckzangen herumhantierte, unbeschädigte Papiertüten suchte, die aus hygienischen Gründen immer zu verwenden waren. Hier bekam man seine Backwaren auf Wunsch in Tüten, Tücher, Brotkästen oder gleich in die Vesperdose gelegt. Auch wenn es betriebsam zuging, ahnte man doch einen Anflug von Frieden. Ganz zu schweigen von dem sehr appetitlichen Geruch frischen, ofenwarmen Brots und aufgebrühtem Röstkaffee. DAS sollte man mal als Parfüm auflegen! Er gab brav seine Order ab, ließ den Brotsack füllen, reichte das Geld über die Theke. Wie immer setzte sich die Disziplin seiner Mutter durch. Nein, er würde das ofenfrische Zwiebelbaguette nicht anknabbern! Nicht mal ein bisschen! Kein Eckchen, nein, nein! Was ihn selbst ärgerte. Die Kapuze hochgeklappt stapfte er zum Supermarkt, um den Rest seiner wöchentlichen Einkäufe zu erledigen. ~*#*~ Paul Pao-Ye Kuchenmeister konnte sich nicht leiden, aus vielerlei Gründen. Einer, oder besser gesagt, zwei spazierten in einiger Entfernung vor ihm auf der anderen Straßenseite. Trotz des ungemütlichen Wetters schienen sie keine Eile zu haben, hielten Händchen. Der eine groß, athletisch, furchteinflößend, der Wikinger, der andere dünn, ein gutes Haupt mindestens kleiner, etwas ungelenk wirkend, Hockeyschulmeister-Saboteur, Leseratte, Bücherwurm, Blindschleiche, Total-Schreck, Panickel... Linus und Silvain, eine Schulstufe über ihm. DAS Gesprächsthema bis vor Kurzem, weil die beiden, obwohl Linus Silvain eigentlich wegen des Unfalls einen (noch einen) Kopf kürzer machen sollte, ein Paar waren. So richtig, mit Küssen, Schmusen, Umarmen, Übernachten... Eigentlich hätte das in eine Katastrophe münden müssen. Silvain galt als Totalausfall, wenn man ihn überhaupt mal zur Kenntnis nahm. Er war lediglich wegen seiner zehn Monate jüngeren, sehr attraktiven Zwillingsschwestern gelitten. Aus unerfindlichen Gründen kam man gegen die beiden nicht an. Wer opponierte oder Kritik wagte, fand sich ganz schnell auf dem Abstellgleis gesellschaftlicher Akzeptanz. Nicht, dass Pao-Ye sich an den beiden per se störte. Was ihn aufbrachte, wirklich ärgerte, war der Umstand, dass sie sich trauten! Sich nicht versteckten, sich nicht verleugneten. Sondern schlicht und einfach (was NIE einfach war) die Personen WAREN, die sie nun mal waren. Er hätte gern mit den Zähnen geknirscht. In Ermahnung der Anpassung einer Beißschiene unterließ er diesen Impuls. Pao-Ye verachtete sich selbst. ~*#*~ Auch dieser Samstag trug nicht dazu bei, Pao-Yes Meinung von sich selbst zu verbessern. Die Einkaufstour gleich am Morgen resultierte aus einer der zahlreichen Heimlichtuereien. Üblicherweise hätte er in der Schulmensa essen müssen. Das wollte Pao-Ye nicht. Er hatte nämlich Prinzipien. Allerdings nur, wenn seine Mutter nicht in der Nähe war. Um sie davon zu überzeugen, dass er sich selbst jeden Tag etwas mit in die Schule nahm, musste eine ausgeklügelte Strategie verfolgt werden. Seine tatsächlichen Beweggründe offenbarte er selbstverständlich nicht. Deshalb enthielt die Argumentationskette Hinweise auf die Unausgeglichenheit der drei Nahrungsgruppen, Hektik, unsauberes Geschirr und drohende Gewichtszunahme. Die Verantwortung für die eigene Ernährung förderte Kostenkontrolle, kulinarische Fertigkeiten, diätische Kenntnisse und Eigenständigkeit. Seine gertenschlanke, höchst disziplinierte Mutter brachte für Essen nur wenig Geduld auf. Sie kochte auch nicht. Das machte die beiden männlichen Mitglieder der Familie Kuchenmeister zu Selbstversorgern bzw. Fremdessengehern. Seinen untersetzten Vater im kritischen Blick schied eine Ablehnung aus. Allerdings durfte er die geschuldeten Aufwendungen für das Mensakostgeld nicht überschreiten, hatte die Küche blitzblank zu hinterlassen! Das erhob Pao-Ye auch zu einem Experten für Reinigung. Man hätte sich freuen können, der mütterlichen Dominanz geschickt ein Schnippchen geschlagen zu haben. Das tat Pao-Ye nicht. Es wirkte ja so, als kümmere ihn sein Erscheinungsbild besonders! Zugegeben, das beschäftigte ihn durchaus, eher in Richtung "Kummer", bot weitere Nahrung für seine Selbstverachtung. Dabei wirkte er nicht bemerkenswert. Durchschnittlich langweilig, die Sorte, die selbst als Statist unterging, in Zeichentrickfilmen nicht mal Gesichtszüge bekam! Von wegen eurasische Mischung, besondere, exotische Attraktivität! Schwere, glatte Strähnen, ein eher dumpf zu nennendes Braun statt seidiger Schwärze, grauenvoller Seitenscheitel. Schlimmer als banal! Brille, natürlich, mangelnde Sehschärfe plus Hornhautkrümmung. Dank der blöden Schlupflider, die er wirklich nicht hätte erben müssen, konnte man das mit den Kontaktlinsen vergessen! Ihm misslang jeder Versuch diesbezüglich. Vielleicht trugen sie auch keine Schuld daran. An der Ursachenforschung war Pao-Ye nicht sonderlich interessiert, wenn das Ergebnis dadurch nicht verändert wurde. Vom Kopf runter schloss sich auch kein Lichtblick an. Plump wirkende Statur, da der Oberkörper fast so lang wie der Unterkörper war. Fleckige Haut, keine Unreinheiten an sich, aber es wirkte so, als käme jetzt schon der Rost durch. Keine O-Beine, durch das Tischtennistraining jedoch recht stramme Waden und Entenfüße! Schmale Ferse, bloß vorne ging's auseinander, als wollte er Wasser treten! Kurzum, er sah nach nichts aus. Nein, schlimmer, wie ein Klischee-Streber-Asiat! Der einzige Trost bestand für ihn darin, dass selbst seine Mutter nicht verlangte, er möge Stoffhosen mit Bügelstreifen und Button-Down-Hemden tragen. Deshalb gab es von Pao-Ye kein einziges Selfie, Porträt oder einen Schnappschuss, wenn er dies unterbinden konnte. Dieser öde Trauerkloß, zwischen allen Stühlen hockend: das WAR er nicht! Leider doch. Zumindest wollte er nicht SO sein! Innen drin wohnte ein ganz anderer Pao-Ye. Der besaß allerdings nicht die Traute, die falsche Hülle abzuwerfen. ~*#*~ Unlängst hatte er es zufällig entdeckt, weil er häufig Pressenotizen, Zeitungsartikel, Dokumentation und Reportagen las. Er sah, dass ein Kompendium von Stücken zur "optimierten" Selbstdarstellung existierte. Anders ausgedrückt: Klavierstücke, die bei nicht eingeweihten Personen den Eindruck erweckten, der Tastendrücker verfüge über mehr als leidliches Geschick. Pao-Ye musste Klavierspielen lernen. Für einen Flügel gab es keinen Platz, auch nicht für ein Klavier. Wozu hatten findige Leute elektronische Keyboards mit Kopfhöreranschluss kreiert? Platzsparend, Tasten vorhanden, plus: man war nicht gezwungen, den endlosen Übungspartien zuhören zu müssen! Seine Mutter hatte sich das in den Kopf gesetzt. Großbürgerliche Kinder mussten ihrer Meinung nach ein klassisches Instrument beherrschen und einen Sport pflegen. Wenigstens entkam er Ballettunterricht als Junge. Fußball galt seiner Mutter als Proletensport. Für einen Kampfsport konnte sie sich auch nicht begeistern, also fügte sie, ganz Klischee, Tischtennis auf seinen Lehrplan. Warum auch nicht?! Nationalsport in China, flink auf den Beinen, flott im Kopf, außerdem bei jedem Wetter möglich, zudem nicht allzu kostspielig. Pao-Ye mochte seinen Klavierunterricht nicht. Ihn schmerzten die Finger unter der Anstrengung, zu der er sich zwingen musste. Verbissen kämpfte er sich durch die Partituren, wohl wissend, dass er gerade mal auf technisch anspruchslose Stücke abonniert blieb. Auch seine Klavierlehrerin erkannte die eingeschränkten Möglichkeiten. Sie wurde bezahlt, die Mutter ihres Schülers hielt an der Meinung fest, dass ihr Sohn unterrichtet werden musste. Dabei hörte Pao-Ye am Liebsten Metal und Hardrock! Er hatte hin und wieder mit dem Gedanken gespielt, sich seine linke, nicht dominante Hand selbst zu verletzen, um der albernen Quälerei temporär zumindest ein Ende zu setzen. Noch ein Grund zur Selbstverachtung: gewagt hatte er es nie! Das Tischtennisspiel fraß Zeit. Ein gewisses Maß an Aggressionsbewältigung sagte ihm zu: so ein Kunststoffball konnte sich ja nicht wehren. Trotzdem verwünschte er das lächerliche Klischee. Er WAR kein halber Chinese! Zumindest nicht innerlich. Äußerlich, wie gesagt, nicht Fisch, nicht Fleisch. Das führte zum nächsten Punkt seiner Verärgerung über sich selbst. Nach dem Ende der Grundschule sollte er die großen Ferien bei den Eltern seiner Mutter verbringen. Die lebten in der Nähe von Shanghai. Da sie noch berufstätig waren, sollte sich der ganze Rest des Clans samt Nachbarschaft um ihn bemühen. Alle wussten durch die Bilder und Nachrichten seiner Mutter, dass SIE ihren Weg gemacht hatte: zwei moderne Autos, eigenes Haus, piekfeine Innenausstattung, Zugehfrau. Unternehmerin, elegante Garderobe, immer ganz Dame... Pao-Ye beherrschte ein sehr rudimentäres Mandarin. Die komplizierten Schriftzeichen konnte er nicht entziffern. Das lag auch daran, dass es hier keine Kurse gab, um sich auf die kommende Wirtschaftsmacht vorzubereiten. Sonst, jede Wette, hätte seine Mutter ihn auch angemeldet! Sie selbst verfügte nicht über die notwendige Geduld, ihm irgendwas beizubringen. Zumindest nicht direkt, eher, sehr einprägsam, subtil durch ihr Vorbild. Angekommen bei der Verwandtschaft formte sich auch Pao-Yes Meinung über die Grenzen seines "halben Erbes". Er verstand die Scherze nicht, schreckte vor der direkten, physischen Annäherung und all den Fragen zurück. Mochte es in Shanghai schon die Zukunft des dritten Jahrtausends geben, so verbrachte er Zeit in der jüngeren Vergangenheit. Staubige Straßen, winzige Läden, schrille Musik, Plastikkram überall. Dazu Garküchen, Schlachtung im Freien samt aller Details. Pao-Ye nahm in den drei Wochen zwischen An- und Abreise fünf Kilo ab, schwor sich, nur noch als Vegetarier zu leben. Das Land und seine entfernte Verwandtschaft (im wahrsten Sinne des Wortes) blieben ihm fremd. Diese Erfahrung erklärte ihm auch, warum seine Mutter derart robust und durchsetzungsstark war. Wer HIER leben konnte, der konnte Granit Ehrfurcht lehren! Dieses Erbe ging Pao-Ye jedoch ab. Das fuchste ihn, ließ ihn zornig werden. Von all den halbwegs nützlichen Eigenschaften seiner Mutter wäre dieses robuste Selbstbewusstsein ein hervorragendes Erbe gewesen! Leider schien er da seinem Vater nachzukommen. Der galt als gemütlich, scheute Auseinandersetzungen, bewunderte seine Frau, beugte sich folgsam ihren Anweisungen. Immerhin war er damit noch nie schlecht gefahren, richtig? Pao-Ye hingegen mochte seine eigene Unentschlossenheit nicht. Anpassung aus Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, Faulheit! Man wusste doch, wo das endete! Schließlich musste man für sich selbst Verantwortung übernehmen, oder nicht? Sonst war man doch nichts mehr als ein Fleischsack auf zwei Beinen, der per Fernsteuerung vegetierte und nur noch ein Zählobjekt darstellte! Pao-Ye verabscheute so eine Perspektive. Da konnte man sich ja gleich selbst den Stecker ziehen, wenn ohnehin im Brägen keine nennenswerten, individuellen Prozesse mehr stattfanden! Er WOLLTE mit feurigen Worten verkünden, dass er keine tierischen Erzeugnisse mehr aß, einen Teil seines Kostgeldes sogar für Vitamin-B12-Supplements einsetzte! Das Keyboard könnte eher gestern als heute verkauft werden, weil er kein Interesse am Klavierspiel hatte, härtere Musikstile vorzog! Grundsätzlich wollte er nicht wie ein fahler Streber aussehen, sondern sich auch eine aparte Frisur mit Undercuts zulegen! Außerdem strebte er NICHT an, schön, reich und berühmt zu werden! Erstens brachte das nur Ärger, zweitens zog es die falschen Leute an und drittens versaute es häufig den Charakter! Vor allem, wenn man sich manche Beispiele anschaute, die offenbar nur durch Ausbeutung, Übervorteilung und Ausnutzung ihrer Mitmenschen an die Pyramide der Wohlhabenden geklettert waren. Klar, Schönheitschirurgie musste sich auch rechnen, die brauchte neurotische Reiche, die an sich herumhantieren ließen! Irgendwer musste ja all den teuren Schnickschnack kaufen, in mehrfacher Ausführung, wo doch das niedere Pack solchen Luxus gar nicht zu schätzen wusste! All seine Frustration, seine Unzufriedenheit mit dem Stand der Dinge (in einer Gesellschaft lebend, die ihm diese Möglichkeit überhaupt bot), fand keinen Ausweg. Seine Mutter hätte das nicht verstanden. Selbst wenn sie in einem schwachen Moment eingestanden hätte, dass "schön" und "berühmt" bei ihm so gar keine Realisierungschance hatten. Alle wollten doch aufsteigen, besser leben, mehr Freizeit genießen, mehr Auswahl! Näher an die "Großkopferten", die "Elite" herankommen! Pao-Ye, der durchaus seine bequeme Lebenssituation begriff, wollte nicht. Nicht um den Preis, irgendwelchen Idolen nachzueifern, hemmungslos zu konsumieren und alle Gedanken verdrängen, die warnten, dass für das eigene Wohlbefinden andere bluten mussten. Klar, wenn alle so dachten, nur noch nach Notwendigkeit wirtschaftete, DANN wäre aber der Teufel los! Die Wirtschaft würde zusammenbrechen, Chaos, Bürgerkrieg, Zombie-Invasion plus Apokalypse mindestens! Man müsse sich eben immer entscheiden: entweder oben schwimmen oder unten untergehen. Typisch, ist es dem Esel zu wohl, geht er aufs Eis, und dank Klimawandel bricht er noch schneller ein, säuft ab. DAS Bild hatte Pao-Ye schon eingesandt. Eigentlich, wenn er nicht gerade wütend auf alles und sich selbst war, hatte er gar keine Vorstellung davon, wie sein Leben, seine Zukunft aussehen sollte. Heimlich wollte er schon "richtiger" leben, weniger Schaden anrichten, Ressourcen schonen, sich nicht wegducken, nicht vor der Angst kapitulieren, dass es tatsächlich nur zwei Möglichkeiten gab: oben schwimmen oder unten bei den Piranhas eingehen. ~*#*~ Wie hatten sie das bewerkstelligt? Was löste so einen Entschluss aus? Klar, Linus, dem Wikinger, kam man besser nicht blöd. Wenn der beschloss, ungeniert schwul zu sein, kommentierte man das lieber nicht. Aber Silvain? Der war unsichtbar, unscheinbar, ohne Freundesclique, total uninteressant! Pao-Ye notierte sich weitere zynisch-sarkastische Mini-Dialoge und Karikatur-Ideen. Das tat er eigentlich immer, wenn er gerade eine Reportage oder Dokumentation gesehen hatte. Ja, gäbe es irgendwo einen roten Knopf für das "Ende der Menschheit-Einläuten", ER hätte beim Schellekloppen assistiert! Waren andere Säugetierarten friedlicher? Wohl nicht, aber sie breiteten sich auch nicht invasiv aus wie die Pestilenz, vermurksten die Natur und gleich auch noch das Universum! Wo sollte ER selbst da seinen Platz finden?! Pao-Ye funkelte das Keyboard an. Eigentlich sollte er üben, schön durchgetaktet in seinem Alltag. Das Lernen bereitete ihm weniger Kummer. Als Schulversager wollte er nicht gelten. So viel Eitelkeit gestand er sich ein. Außerdem half es, eigene Positionen einzunehmen, wenn man halbwegs verstand, was um einen herum so geschah, was man nachprüfen konnte, glauben durfte und bezweifeln musste. Zudem assistierte es der Arroganz, seine anonymen Beiträge zur Schülerzeitung einzureichen. Sie galten als bitter, schwarzhumorig, bösartig-pointiert. Niemand würde sie dem langweiligen Streber Pao-Ye zuordnen! Davon war er überzeugt. Er hatte offiziell keine Meinung. Sein Charakter musste flach wie ein Brett sein. "Ich sollte mir doch die Linke irgendwo einklemmen." Auf diese Weise müsste er nicht triviale Weihnachtsliedchen wieder und wieder klimpern! ~*#*~ "Früher war alles besser! Wann, früher? Ur-Suppe, ist doch klar! Kein Hirn, kein Rückgrat, kein Stress!" ~*#*~ "Jura und Spezialisierung auf Digitalrecht." Pao-Ye konzentrierte sich auf sein belegtes Brot. Das half natürlich nicht. "Du müsstest selbstverständlich eine gute Universität finden. Oder eine technische Hochschule." Nein, er hörte gar nicht hin! "Da solltest du jetzt schon Vorkehrungen treffen. Eine ehrenamtliche Betätigung." NUN dräute tatsächlich Ungemach. "Macht sich gut im Zeugnis und soll wohl bei NC-Studienfächern berücksichtigt werden." Eilig spülte er sich den Mund mit Tee frei. "Nicht Feuerwehr oder Technisches Hilfswerk, viel zu aufwändig. Nein, irgendwas mit Umwelt. Baumpate oder diese Säuberungsaktionen." Widerspruch musste erhoben werden. "Mutter, ich bin zeitlich wirklich ausgelastet. Wozu sollte ich..." "Paul, stell dich nicht dumm! Da draußen existiert eine Schwemme von Konkurrenz um die wirklich guten Studienplätze. Folglich musst du dich jetzt schon in eine gute Ausgangsposition bringen!" Er ballte unter dem Tisch die Fäuste. "Ich bin mir noch gar nicht sicher..." "Eben! Deshalb mache ICH mir ja Gedanken! Also, finde ein passendes Ehrenamt, verstanden? Zeitlich nicht zu aufwändig, nicht umstritten, ohne langfristige Verpflichtungen. DAS sollte ja nun wirklich kein Problem darstellen." Nein, selbstverständlich kein Problem. Nur einen weiteren Grund, warum Pao-Ye sich selbst hasste. ~*#*~ "Immer dieses Geschrei um den Anstieg des Meeresspiegels! Alles halb so wild. Ja, aber im Pazifik werden ganze Inseln überspült werden! Pazifik? Da surfen doch alle, oder? Noch mehr Platz für hohe Wellen, die sollten sich freuen! Es werden aber auch einige sehr exklusive Golfplätze untergehen! Ernsthaft?! Hey, das ist eine internationale Katastrophe! Dagegen müssen wir was unternehmen!" ~*#*~ Gallenbitter dekorierte Pao-Ye seine Karikatur, scannte sie ein, speicherte sie, lud sie hoch und verschickte den Link. Der ganze Sonntag war ihm vergällt. Außerdem musste er ja noch am blöden Keyboard üben! Sich, möglichst gestern, ein dekoratives Ehrenamt aussuchen, für sein Jura-Studium mit Schwerpunkt Digitalrecht! Wenn es das überhaupt gab! Zum Kotzen! Natürlich hatte er nichts weiter gesagt. Von seinem Vater durfte er Schützenhilfe ohnehin nicht erwarten. Der war recht gut situiert in einem Betrieb für Fenster und Spezialverglasungen, wurde NICHT von seiner geliebten Gattin bedrängt, weitere Qualifikationen in der Freizeit an der Volkshochschule zu absolvieren. Zumindest hier witterte der Bluthundinstinkt seiner Mutter bedeutende Gefahren für das eheliche Einverständnis. Er, das einzige Kind, sollte natürlich Karriere machen, viel Geld verdienen, angesehen sein... Von wem?! Und wofür?! Wie jedoch sollte er bloß kontern? DAS stellte Pao-Yes Kernproblem dar, wie er durchaus wusste. Wie sah die Alternative zum drögen, halb-chinesischen Streber mit Klischee-Auftreten aus? Da wurden ihm immer wieder Grenzen aufgezeigt. Beispielsweise, als er sich das letzte Mal verkleidet hatte, mit Umhang, Zauberstab in der Hand (eine Eule wurde ihm nicht zugestanden). Eigentlich wollte er die Titel gebende Figur aus der Harry Potter-Serie kopieren. Alle waren sich jedoch darüber EINIG, dass er den asiatischen Streber aus dem Film "School of Rock" verkörperte. Der spielte ja auch Keyboard und trug beim Auftritt einen Umhang... Danach hatte Pao-Ye auf Fasching/Fastnacht, Karneval, Halloween oder ähnliche Gelegenheiten zum Verkleiden verzichtet. IMMER schien sein übliches Äußeres durchzuschimmern. Ebenso die Angelegenheit mit seinem Vornamen. Zu Hause war er "Paul", darauf bestand seine Mutter. Der chinesische Vorname blieb der Tradition geschuldet, sollte seine Weltläufigkeit illustrieren. Ha, darauf fiel bloß niemand rein, der jemals SEIN Mandarin gehört hatte! DAS brauchten die Kinder gar nicht. Ein Blick genügte, schon am ersten Tag in der Grundschule. Klar, "Paul" gab es häufiger, aber "Pao-Ye" war selten! Außerdem sah er eben so aus, zumindest in größeren Anteilen, Schlupflider, Körperbau, glatte, dicke, schwere Haare, Augenfarbe! Pao-Ye hätte sich mehr nach Pao-Ye gefühlt, wenn er wirklich "Power" hätte. Wie einer mal missverständlich seinen Vornamen gedeutet hatte. Nun, zornig, frustriert, sich selbst verachtend, blätterte er am Computer durch die Angebote fürs Ehrenamt vor Ort. Weil ihm einfach keine Antwort darauf einfiel, WER er sein wollte! ~*#*~ "Oh, willst du aushelfen?" Pao-Ye brachte ein hilfloses Lächeln auf seine flächigen Züge. Ausgerechnet auf Linus, den Wikinger, zu treffen! Der lupfte eine Augenbraue. "Du wohnst doch aber in die andere Richtung, oder?" Eine Antwort musste eilig her. "Das stand gar nicht bei den Bedingungen..." Linus schnaubte. "Nein, Residenz ist keine zwingende Voraussetzung. Du solltest vielleicht wissen, dass es hier fürs Zeugnis keine Bescheinigungen gibt. Nur so ein Tipp, falls das für dich von Bedeutung ist." In der rauen Stimme schwang genauso viel Säure mit wie in Ätznatron. Pao-Ye wäre gern dunkelrot angelaufen. Seine gefleckte Gesichtsfarbe veränderte sich nur selten. "Dickfellig" passte dazu als Beschreibung. "Ah, Linus, prima, ich habe schon was für dich hier! Frau Vogel hat angerufen!" Eine dralle, sichtlich energiegeladene Frau mit einer explodierten Lockenmähne und breitem Lächeln besetzte den Tapeziertisch vor der Pinnwand. "Okay, bei ihr war ich schon mal. Kannst du durchklingeln, Aisha, damit sie weiß, dass ich komme?" "Mach ich sofort, mein Großer! Ab mit dir und danke schön!" Linus grinste, tippte sich salutierend mit zwei Fingern an die rasierte Schläfe unter den kupferroten Locken. Er nickte Pao-Ye tatsächlich zu, bevor er kehrtmachte, den kleinen Raum verließ. "Hallo und willkommen bei der Nachbarschaftshilfe. Bist du ein Klassenkamerad von Linus?" Pao-Ye seufzte stumm, zückte seine schmale Bewerbungsmappe. "Guten Tag. Mein Name ist Paul Pao-Ye Kuchenmeister. Meine Mutter hat mir die Übernahme eines Ehrenamtes ans Herz gelegt." Oder vielmehr eine entsprechende Order erteilt. Die Frau namens Aisha lupfte eine fein geschwungene Augenbraue in die Lockenmähne. "So, so. Nun, ich bin Aisha." Sie zeigte auf ein angeheftetes Namensschild. "Bitte setz dich doch. Unterhalten wir uns ein bisschen." ~*#*~ Nein, die Nachbarschaftshilfe war zu klein für Bescheinigungen. Ah, er hatte also keine Allergie gegen Tierhaare? Ach, so, so, die Mutter, Allergie gegen Umgang mit Tieren, verstehe... Kannte man ja von früher. Ihre Mutter pflegte jahrelang eine Allergie gegen Hosen bei Frauen und fremde Jungs in Kontakt mit ihrer Tochter. Keine politisch kontroversen Engagements... Nur am Wochenende... Erst 15 Jahre alt.... Sieh an, Klavierunterricht und Tischtennis... Nein, nicht aussichtslos, gar nicht! Pao-Ye, der sich in ein Wurmloch wünschte, verließ das winzige Büro mit seiner Bewerbungsmappe und der Zusage, dass Aisha sich bei der Servicestelle für Ehrenamtliche mit seinen Angaben melden würde, man kenne sich da. Er bekäme einen Rückruf, bestimmt auch rasch einen Termin, dort vorstellig zu werden! Pao-Ye, im Schutz seines banal karierten Tuchschals, der kratzte (eine billige Reproduktion eines britischen Tweedmusters), schnaubte leise. In ihm keimte schon lange der Verdacht, dass er zu nichts zu gebrauchen war. Hier würde ihm offenkundig der Beweis frei Haus geliefert! ~*#*~ Eine Chinesin zu heiraten, die als Studentin eingeschrieben war, zusätzlich als Messe-Hostess arbeitete, war das Verrückteste, das sein Vater je getan hatte. Die Großeltern schienen sich zwischenzeitlich damit angefreundet zu haben, auch wenn sie den Verdacht hegten, dass ihre exotische Schwiegertochter erschreckend zielstrebig und ehrgeizig war. Seine Mutter schien ständig Dinge zu tun, die verrückt waren oder besser gesagt, waghalsig-riskant. Neue Geschäfte, neue Jobs, neue Kontakte. Wie ein Brummkreisel, der nicht stillstehen konnte, obwohl ihr alles plausibel, durchdacht und geplant erschien. Pao-Ye hatte NOCH NIE etwas Verrücktes getan. Dazu kam er gar nicht. Oder wagte es nicht. Man kletterte nicht auf Bäume oder sprang in Pfützen. Das machten nur Proleten. Spucken, Kaugummi malmen, Rülpswettbewerbe veranstalten?! AUF KEINEN FALL! Unter strenger Aufsicht hatte er wenigstens das Fahrradfahren gelernt, mit Knie- und Ellenbogenschützern plus Helm. Pao-Ye spielte nicht auf der Straße, kickte Dosen umher, malte mit Kreide auf dem Asphalt, balancierte auf Zäunen oder Gehsteigkanten. Das waren schließlich alles keine vernünftigen Unternehmungen! Dümmlich, nicht originell, lästig, enervierend, banal... Zugegeben, die meisten Streiche oder Mutproben hielt er selbst für blödsinnig. Andererseits markierten sie eine feste Grenze. ER gehörte nicht dazu, konnte nicht herumblödeln, mal albern sein, sich Vertrauen verdienen. Also verfügte er nicht über richtige Freunde. Klar, er hatte Klassenkameraden und Mannschaftskollegen. Man ging in höflicher Geschäftsmäßigkeit miteinander um. Das war's auch schon. Der Abstecher nach China setzte einen weiteren Meilenstein in seine Biographie, förderte verschiedene Beschlüsse. Erstens, er wollte NIE WIEDER nach China. Zweitens, er wollte auch nicht als Halbchinese oder irgendwas in diese Richtung gelten. Drittens, allenfalls unfällig noch Insekten oder Kerbtiere töten (weil man sie übersah), aber keine Tiere verspeisen oder diesbezügliche Handlungen unterstützen. Viertens, in Anbetracht der fortschreitenden Entwicklung, lange Hosen, höchstens halbe Ärmel bei der Oberbekleidung tragen und Fotos vermeiden. Fünftens, weg von dem ganzen Konsum-Terror! Natürlich war es ein Luxus, all diese Vereinbarungen mit sich selbst treffen zu können. Er HATTE nun mal diese Möglichkeit, wollte den ersten Schritt tun, auch wenn er ganz allein vor sich hin kämpfte, unter dem Radar blieb! Andererseits, am Ende war man schließlich immer allein, oder nicht? Innen die eigene Welt, außen die anderen. Das musste man akzeptieren, ging ja gar nicht anders. Wenn man sich selbst schon als Klischee/nichtssagend bis unattraktiv einschätzte, konnte man das Ausmaß des Trauerspiels ja eingrenzen! Manches erwies sich komplizierter als gedacht, forderte zu Notlügen, Heimlichtuereien, Ränkespiel und Spiegelfechterei heraus. Wenn die eigene Mutter ständig auf irgendwelche Marken-Klamotten bestand. Wenn jährlich ein blödes Smartphone der neusten Generation genutzt werden sollte. Wenn Urlaubsreisen in die Ferne gehen sollten, per Flugzeug, in eingezäunte "Erlebnislandschaften". Häufig half Pao-Ye einfach der glückliche Zufall. Das Geschäft ging vor, was ihm vorgeschlagene Fernreisen nach dem China-Albtraum ersparte. Statt der Klamotten gab es Bargeld, sie selbst zu kaufen (was er nicht tat). Das Smartphone trug er deaktiviert mit sich herum, sparte Strom und Nerven (die Vertragsgebühren musste er nicht bestreiten, das oblag seinen Eltern). Außerdem gab es niemanden, mit dem er banale Bilder oder Konversation austauschen mochte, wenn er überhaupt mal in den Genuss solcher Muße kam. Musik hörte er, wenn es ging, per Kopfhörer zu Hause über das Internetradio, längstens mal eine halbe Stunde vor dem Einschlafen. Von all diesen Klimmzügen in seinem Alltag, sich selbst halbwegs ertragen zu können, ahnte niemand etwas. Ewig wollte er dieses Gebaren jedoch nicht pflegen. Nur so lange, bis er wusste, WER er war. ~*#*~ "Verdammt ärgerlich, dass uns das Land ausgeht! Keine unentdeckten Kontinente mehr, wo wir die dortige Bevölkerung ausrotten, die lästige Überbevölkerung hier exportieren können, damit sie dort als Aussiedelnde verhungern. Nichts, um frisches Blut in die Armee zu bringen durch regelmäßige Scharmützel. Keinen Ort mehr, um Aufwiegelnde und die widerlichen 99% abzuschieben. Doch, Moment... der Weltraum, unendliche Weiten!" ~*#*~ Pao-Ye war nicht vollends davon überzeugt, seinen ersten ehrenamtlichen Einsatz richtig verstanden zu haben. Eine Künstler-Kooperative suchte Freiwillige für die nächste Ausstellung oder die Herstellung entsprechender Beiträge. Oder...? Pao-Ye zupfte den kratzigen Schal tiefer, um frei atmen zu können, nicht ständig Fussel im Gesicht zu spüren. Er fand sich pünktlich ein. Der Bestimmungsort passte zur Beschreibung (eine ehemalige Maschinenhalle). Trotzdem hegte er gewisse Zweifel. Bunte Farbmarkierungen auf dem alten Industrieboden wiesen den Weg in abgeteilte Zonen. "Guten Tag?" Wagte er eine Anwesenheitsmeldung, an die angelehnte Tür klopfend. "Herein, herein!" Ein drahtiger Mann in einem Maleroverall kämpfte mit einem Raumteiler. "Guten Tag. Mein Name ist Paul Pao-Ye Kuchenmeister..." "Rollei! Wie die alte Kamera-Marke. Sag mal, wie alt bist du?" Rollei zog eine eckige Brille vom Schopf auf den Nasenrücken, schoss heran. "Ich bin 15." Bekannte Pao-Ye, fragte sich, ob er nicht doch lieber aus der Umhängetasche seine Bewerbungsmappe zücken sollte. "Verflixt, noch minderjährig? Na, macht nichts. Ich erklär dir mein Projekt, du kannst ja selbst entscheiden!" ~*#*~ Unzählige Reihen von Unterleibern, männlichen, mit erigiertem Penis. Es wirkte nicht anstößig, sondern trotz unterschiedlicher Hautfarben und Dimensionen banal, fade, ein wenig bemitleidenswert. Pao-Ye lauschte seit einer Viertelstunde den Erläuterungen des Künstlers, der darauf abstellte, das lächerliche "Schwanz-Vergleichs-Ritual" plakativ zu entlarven. Zudem bewies das Panorama, dass es wirklich eine enorme Bandbreite in der Ausgestaltung durch Mutter Natur gab. Während man, so als Publikum, sich durchaus die Frage stellte: ist das beeindruckend? Oder eher schlicht ein Organ unter diversen, das NICHTS über die Person, ihren Charakter, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten aussagte. Pao-Ye hielt sich nicht oft an öffentlichen Pissoirs auf, duschte nicht in der Schule. Penis-Vergleiche über Beckenränder verstohlen oder direkt in Konfrontation waren ihm nicht vertraut. Andererseits konnte er auch nicht bestreiten, dass Rollei Argumente für seine Demonstration anführte, die treffend schienen. Er befand, dass Geschlecht jedweder Art in der Bedeutung DRINGEND heruntergeschraubt werden musste. Was die Gesellschaft wirklich BRAUCHTE, waren humanistische Werte und entsprechende Taten! Zudem, Pao-Ye fand sich inquisitorisch eingefangen, saß das größte Sexualorgan NICHT zwischen den Beinen! Ohne das Gehirn nämlich, dessen Verarbeitungsprozess von Reizen, würde sich schlichtweg gar nichts tun. Hormone hatten keine Chance, wenn im Oberstübchen das evolutionäre Programm eine Macke aufwies! Rollei bugsierte Pao-Ye vor verschiedene Schautafeln, die wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema präsentierten. Die aktuellen Debatten, das Aufkommen rückständiger Rollenbilder: das schrie förmlich nach Aufklärung und Haltung! Natürlich war es ein wenig heikel, wenn er etwas beisteuern wollte, so minderjährig! Andererseits übertrug die Digitalkamera weder GPS-Daten noch Zeit oder Datum. Die Bilder wurden mit einem Zufallsgenerator betitelt. Man konnte aus den Aufnahmen keine Personenzuordnung konstruieren. Dafür Vielfalt präsentieren, Zweifel, Unsicherheiten, Minderwertigkeitsgefühle reduzieren, die vielleicht in Aggression, Hass und Gewalt umschlugen. "Ich bin dabei!" Verkündete Pao-Ye entschlossen. Zeit, etwas Verrücktes zu tun. ~*#*~ Üblicherweise absolvierte Pao-Ye gewisse Kompensationshandlungen unter der Dusche, pragmatisch und effizient. Rollei fragte jenseits des Raumtrenners, ob vielleicht Hilfsmittel benötigt würden, obwohl er nicht sicher sei, ob das schon unter sexuelle Belästigung falle. Pao-Ye wies die Offerte höflich ab. Ganz sicher wollte er JETZT keine herausgeputzten, super-optimierten Porno-Darsteller sehen, die ihm gleich demonstrierten, wie wenig er zu bieten hatte! Augen zu, ruhige Atmung, lockeres Handgelenk... Das Ablichten ging fix. Aus dem Zellstoffspender anschließend eine milde Gabe. Pao-Ye wurde, zumindest zu gewissen Anteilen, Part eines Kunstprojekts. Es sollte nicht das letzte bleiben. ~*#*~ Kapitel 2 - Das subversive Element und die Folgen "Also, Rollei hat mir von dir erzählt, da dachte ich, ich frage mal." Pao-Ye, dick eingemummelt, keuchte. In dem winzigen Raum herrschten bestimmt 30 Grad! Sein Gegenüber trug Shorts, eine geknotete Bluse ohne Ärmel und einen farbenprächtigen Irokesenschnitt, dazu eine Halbbrille an einer Halskette. "Ich bin Maisie. Am Besten, du häutest dich erst mal. Danach zeige ich dir meine Arbeiten." Pao-Ye stutzte, dolmetschte, entblätterte sich, bis er nicht mehr das Gefühl hatte, einem gekochten Hummer den Rang abzulaufen. "Wie lange wird es dauern?" Erkundigte er sich, reichte das Tablet zurück. "Drei Stunden, denke ich. Hast du so viel Zeit? Sonst testen wir heute erst mal, wie sich die Grundierung und die Farben mit deiner Haut vertragen." Pao-Ye setzte die Brille ab, um den Rollkragenpullover über den Schopf zu zerren. "Kein Problem. Die Zeit nehme ich mir." ~*#*~ Die avisierte Zeit verging wie im Flug oder eher in einem friedlichen Schwebezustand. Maisie hatte ihm fix per Nassrasierer Achselbehaarung und die Ahnung von Körperhaar auf der Brust entfernt. Sie brauchte eine entsprechend große Fläche und die richtige Hautbeschaffenheit. Pao-Ye konnte beides bieten, erkannte zum ersten Mal einen Vorteil in seinen Proportionen. Mit Schlafmaske (aufgrund der schwenkbaren Beleuchtung) und Kopfhörer ausgerüstet streckte er sich aus, befürchtete esoterische Musikberieselung. Stattdessen gab es langsame Atemzüge, niedrig-frequente Pulsschläge. In einer Art meditativer Trance erlebte er die Fertigung eines Meisterwerks. Auf seinem Torso präsentierten sich Wolkenstreifen bei einem farbenprächtigen Sonnenuntergang, so realistisch ausgeführt, dass man an eine Fotografie glaubte. Artig folgte er den Anweisungen, sich für die Aufnahmen zu positionieren. Natürlich würde er anonym bleiben. Einfach phantastisch, dieses famose Bild! Maisie grinste, goutierte seine Begeisterung. "Weißte, ich mache das schon ne Weile, Pao-Ye. Da sollte es nich ganz übel sein." Von wegen! Pao-Ye versprach, ganz sicher die Ausstellung zu besuchen. "Freiheit" wollte er nicht nur auf dem Torso tragen, sondern auch selbst finden! ~*#*~ Pao-Ye wunderte sich hin und wieder darüber, dass seine Mutter ihn nicht zu "Freundschaften" anhielt, wo sie doch selbst alle möglichen Kontakte pflegte, quasi ein eigenes Informationsnetzwerk. Was auf geschäftlicher Basis sicher nützlich und auch notwendig war. Ob sie glaubte, dass er in der Schule über Popularität verfügte oder sich darauf verließ, dass er wie alle der Generation "Digital natives" per Mobiltelefon Beziehungspflege betrieb? Er tat es nicht. Falls es mal etwas zu besprechen gab, erledigte er das direkt in der Schule. Außerhalb der Schule gab es ja keine Kontakte. Worüber sollte er sich auch unterhalten? Fußball, den Proletensport?! Irgendwelche Videos, Serien, "Influencer" oder Musik? MÄDCHEN?! Musik hörte er lieber, als darüber zu reden. Seine Vorlieben passten kaum zu seinem Erscheinungsbild. In sozialen Netzwerken trieb er sich nicht herum, hatte gar keine Zeit für Videos, Chats, Bilder oder sonst was. Serien streamen, das machte sein betagter Laptop nicht mit. Außerdem verlangte das ja Konzentration und Zeit. Konsum-Empfehlungen von irgendwelchen "Beeinflussenden" verachtete er. Blieben "zwischenmenschliche Beziehungen" übrig. Pao-Ye war seit Kindergartentagen angehalten, seinen Gegenüber als Person anzusehen und zu respektieren. Entsprechend den Menschenrechten frei von Kategorien wie Religion, Geschlecht, Sprache, Herkunft, Kultur, Alter... Zumindest sich diesem Ideal so oft wie möglich anzunähern. Außerdem gab es ja immer das Thema sexuelle Belästigung. Keine entsprechenden Kommentare abgeben, die auf das Äußere abzielten, nicht an neuralgischen Stellen anfassen, gesellschaftlich korrekten Abstand einhalten. Deshalb registrierte er "Mädchen", packte diese "Eigenschaft" in die Schublade, verriegelte sie. DAS war eine andere Person der eigenen Klasse/Klassenstufe/Schule. Punkt. Anderweitige Gedanken abschweifender Natur galt es ohne Ausnahme zu unterlassen. Order de Mufti. Zudem, da kannte Pao-Ye keine Illusionen, musste Anziehung ja von ZWEI Polen ausgehen, nicht nur elektrisch-magnetisch betrachtet. Wenn er selbst nichts Anziehendes oder Einzigartiges an sich selbst entdecken konnte, warum sollte man annehmen, dass andere das taten? Von den Scherereien ganz zu schweigen. Die Beziehungshändel einiger Mitschüler empfand er als abschreckend, eine Art Freilichtbühne, deren Aufführungen er nicht beiwohnen wollte. Erst mochte man sich, turtelte, danach Missverständnisse und Streitereien, Parteinahmen. Der totale Zirkus! Wobei er sich manchmal an grottige, quasi unterirdisch schlechte Fernsehdramen mit Ewigkeitsschleife erinnert fühlte. Nicht durch eigenes Betrachten, sondern die Zusammenfassung pro Folge, dem Äquivalent des Klappentextes bei Büchern. Wenn man sich das vergegenwärtigte, wirkte die eigene Realität wie eine banale Kopie, unoriginell, vorhersehbar und öde. Es gab dementsprechend auch kein personenbezogenes Thema zum Austausch mit "Freunden". Die er nicht vorweisen konnte. Andererseits führte er ja auch keinen Geschäftsbetrieb oder Ähnliches! Er funktionierte unauffällig in Lern- oder Arbeitsgruppen. Auf einer sachlichen Basis klappte es also mit seinen Mitmenschen. Wahrscheinlich wäre es auch angezeigt, sich darauf zu beschränken, optionierte Pao-Ye. Sonst erlegte man sich falsche Erwartungen auf, die unmöglich erfüllt werden konnten, deprimierte sich mit Enttäuschung bloß selbst. Täuschte man sich hingegen gar nicht erst über sich selbst, ersparte man sich auch unnütze Aufregung. Außerdem hatte er ja schon alle Hände voll mit sich selbst zu tun! ~*#*~ Dem Ehrenamt wohnte etwas verblüffend Subversives in sich. Gebrauchte, gereinigte Kleidung sortieren, das stellte für Pao-Ye ein Novum dar. Zumindest, wenn es sich nicht um die eigene Bekleidung nach der Wäschetrommel handelte. Hier bekam er gleich noch einen impromptu-Kurs in Textilkunde, Schneiderhandwerk und Historie geboten. Schließlich mussten Größe und Qualität beurteilt werden. Dazu der Zuschnitt eingeschätzt, damit man die gespendeten Kleider zuordnen konnte. Wichtig war auch zu wissen, bei welchem Schnitt man noch Raum für Anpassungen hatte. Was wie zu reinigen war, worauf geachtet werden musste. Dass der Großvater ihres Großvaters ihm noch wie alle Generationen vorher das Strümpfestricken beigebracht hatte. Altes Soldatenhandwerk, sich etwas zu verdienen, wenn der Sold ausblieb, man unterwegs war. Pao-Ye hatte noch nie gebrauchte Kleidung getragen. Zunächst schlicht deshalb, weil er keine älteren Geschwister oder nahe Verwandte hatte. "Erbstücke" schieden da aus. Zum zweiten waren seiner Mutter gebrauchte Kleider ein Horror. Nicht nur vordergründig Zeichen dafür, dass man nicht über entsprechende Mittel verfügte, sich neu einzukleiden, nein! Aus einem Pao-Ye nicht gänzlich offenbarten Grund schien ein gewisser Aberglaube mitzuwirken, der suggerierte, in den ablegten Kleidern hafte noch etwas von Wesen und Leben der Vorbesitzenden. Pao-Ye schüttelte diese Befangenheit entschieden ab. Er war ein aufgeklärter junger Mann des 21. Jahrhunderts, vertraute auch sonst Seife und Essig sowie heißem Wasser. Das reduzierte die marktüblichen Gefahren lästiger Anhängsel doch erheblich! Während er artig seinem Klischee entsprach, sich zurückhielt, durch Beobachten flink seinen Horizont erweiterte, traf er eine Entscheidung. Das "Groschengrab", die traditionelle, monatliche Öffnung der Kleiderkammer an einem Samstag, würde er besuchen, weil es da diese rot-schwarz karierte Hose mit Potential zu britischem Understatement-Punk gab. Und einen ziemlich fetzigen schwarzen Wollpullover, der beinahe ein Eigenleben zu führen schien. Vielleicht hätte er Glück, wenn er ganz früh käme, sich diese beiden Kleidungsstücke zu sichern! ~*#*~ Natürlich hatte Pao-Ye damit gerechnet. Auf seiner "Karte" prangte ja die Notiz, dass er zumindest theoretisch ein Keyboard bedienen konnte. Deshalb bat man den Klischee-Streber mit chinesischem Einschlag, beim Nikolaus-Kaffee in der Seniorenwohnanlage etwas zu spielen. Schlichte Weihnachtslieder, nein, kein Gesang erforderlich. Der würde vielleicht einsetzen wie verlorene Erinnerungen. Wie nett, direkt nach der letzten Unterrichtsstunde gleich zu kommen, sogar das Tischtennis-Training sausen zu lassen! Pao-Ye kostete DAS keine Überwindung. So ein Überflieger war er an der Platte ja nun wirklich nicht. Ihm gefiel jedoch die Vorstellung eines gemütlichen Plätzchen- und Kaffee-Kränzchens. Möglicherweise wäre das Publikum auch nicht allzu streng, wenn er nicht mit technischer Brillanz in die Tasten hieb? Bei ihm selbst bestand nicht die Gefahr, dass er in herausgestellten Stiefeln etwas finden würde. Natürlich hatte er als Kind schon von der Tradition gehört. Als sich jedoch recht zügig herausstellte, dass er, mal wieder mütterliches Erbe, Milchzucker nicht vertrug, wurde der Brauch eilig modifiziert. Seine Mutter hegte nämlich die Auffassung, dass Milchzucker grundsätzlich auch in Vollmilchschokolade enthalten war. Die ihr Filius gar nicht vertragen konnte! Folglich: keine Schokolade, auch nicht im Stiefel, nicht in Adventskalendern oder vom "Osterhasen". Um ihn ganz zu kurieren, gab es mal Bitterschokolade, mit 85% Kakaoanteil. Kein Kind würde das goutieren. Pao-Ye auch nicht. Vollmilchschokolade schied jetzt aus anderen Gründen aus, aber Pao-Ye beließ es bei Kakaopulver im Haferbrei. Hin und wieder. Lektion verinnerlicht. Sein Vater hatte ihm heimlich gelierte Früchte, saure Drops oder auch gebrannte Mandeln zugesteckt, damit das arme Kind nicht an Nikolaus leer ausging. Nach Ende der Grundschule war das Kind kein Kind mehr. Zumindest nicht nach der Definition seiner Mutter. Bis zur Grundschule durfte man an Osterhasen, Christkind und Weihnachtsmann glauben, danach nicht mehr. Da war Schluss mit der Verhätschelung! Geburtstagsfeiern nur noch bis zur Volljährigkeit. Es sei denn, man war aus gesellschaftlichen Gründen (Geschäftsbeziehungen) genötigt, einen Anlass für eine Feier zu finden und der Alterungsprozess bot sich gerade an. Pao-Ye seufzte bloß stumm. Er hatte ja keine wirklichen Freunde. Wenn sein Geburtstag auf einen Wochentag fiel, wurde der Geburtstagskaffee bei den Großeltern aufs Wochenende verlegt. Von der Geschenke-Problematik ganz zu schweigen. In dieser Hinsicht konnte Pao-Ye seiner Mutter gar nicht vehement widersprechen: wenn er etwas brauchte, bekam er es auch. Neue Brille, andere Kleider, von Alltagsgegenständen zum Verbrauch gar nicht zu reden. Dazu noch ständig der dämliche Smartphone-Austausch! Pao-Ye wehrte sich dagegen, mit Besitz zugeschmissen zu werden. Ja, sein Laptop war betagt, lief aber noch! Die externe Festplatte zur Datensicherung brauchte viermal so lange wie moderne Varianten, doch ER hatte die Zeit! Pao-Ye wollte die Dinge wertschätzen, mit ihnen pfleglich umgehen, eigentlich nur besitzen, was er wirklich benötigte. Dabei hatte er selten das Gefühl zu verzichten. Manchmal konnte man nicht bei Gleichaltrigen mitreden. Andererseits unterhielten die sich auch sonst nicht häufig mit ihm. Kein großer Verlust. Sein bemüht reduzierter Lebensstil (soweit er ihn heimlich pflegen konnte) hinderte ihn nicht daran, anderen Feierlichkeiten zu gönnen. Gut, manchmal machte es ihn schon verlegen, wie an diesem Morgen. Der Wikinger hatte Weihnachtsmann-Wecken für die Leseratte mitgebracht. Die präsentierte eine Tüte mit selbst gebackenen Keksen. Die beiden umhalsten sich innig, lachten verschmitzt miteinander. Da wurde einem, schon aus sicherer Entfernung vom Beobachtungsposten, doch unwillkürlich warm ums Herz! Weil die sich einfach freuten, dem anderen eine Überraschung bereitet zu haben. Na ja, auch wegen der kindlichen Knuddelei, zugegeben. Es war nett. Deshalb wollte Pao-Ye auch wohlgestimmt seinem Klischee entsprechen, nämlich am Nachmittag die alten Leute am verhassten Keyboard mit Weihnachtsmelodien unterhalten. ~*#*~ Pao-Ye, vom künstlichen Geruch gewisser Kerzen umnebelt, schulterte die umfunktionierte Sporttasche, in der sich sein Keyboard mit Zubehör befand. Es hatte sich ganz gut angelassen, das konnte man notieren. Später, die Kehlen mit Tee und Kaffee geölt, hatten einige mit zum Teil brüchiger Stimme mitgesungen. Die alten Leute schienen zumindest Spaß gehabt zu haben. Das, wie Pao-Ye befand, belohnte seinen Einsatz. Wobei er ja nicht sonderlich viel geleistet hatte. Technisch gesehen blieb er auf händelbarem Niveau. Allerdings konnte er es ja auch nicht sehr viel besser, richtig?! Der Asphalt schimmerte feucht. Eine ungemütliche Kälte lag in der Luft. Pao-Ye bog aus dem Fußweg auf den Gehweg längs der Straße ab. Von rechts schoss förmlich ein Schatten heran, wirbelte ihn herum, riss ihm die schwere Tasche von der Schulter. Mit einem erschrockenen Aufschrei versuchte Pao-Ye sich abzufangen. Er landete links auf dem Trottoir, registrierte einen heftigen Schlag von der Handfläche bis hoch in die Schulter. Es tat so weh, dass es ihm förmlich den Atem verschlug. Sein Angreifer, der es offenbar auf die Tasche abgesehen hatte, spurtete davon. Etwas huschte in dessen Fluchtroute, holte ihn spektakulär von den Beinen. Pao-Yes Tasche flog weiter, landete mit einem hörbaren Krachen auf der Gehsteigkante. "Räuber! Überfall! Polizei!" Tönte eine Stimme kraftvoll. Pao-Ye blinzelte durch den Tränenfilm. Mühsam rollte er sich auf die rechte Seite, rang nach Luft. "He, bleib hier, du Pappnase!" Es klang jedoch, als gebe der Angreifer Fersengeld. Jemand telefonierte. "Ja, hallo! Genau, ein Überfall! Ja, sieht nach Personenschaden aus. Klar, der ist abgehauen." Der Standort wurde genannt. Jemand näherte sich. Pao-Ye konnte die Rechte nicht heben, um über seine verklebten Augen zu wischen. Er wagte nicht, seinen linken Arm loszulassen, weil es so furchtbar weh tat! "Ja, der Typ müsste ziemlich lädiert sein. Hat sich ordentlich auf die Fresse gelegt. Man soll halt nicht klauen." Verkündete die muntere Stimme. "He, Kumpel, lebst du noch?" Pao-Ye keuchte. Von dem Schreck wurde ihm auch noch übel. Er spürte schleimige Galle auf der Zunge. "Gleich kommt eine Streife. Die schicken auch nen Sanitäter. Da, deine Tasche." Fremde Finger glitten an seinem Gesicht vorbei. Pao-Ye verlor die Brille. Gut, er konnte sowieso nur Schemen erkennen, bei dem Tränenfilm! "Hi. Wo tut's weh?" Pao-Ye unterdrückte krampfhaft ein Würgen. "Ist dir schlecht? Ah, warte mal, das hilft vielleicht!" Der noch unidentifizierte Samariter stopfte Pao-Ye ein sehr trockenes Stück Wecken in den Mund! ~*#*~ Pao-Ye spielte Statist in einem Film, der ohne ihn ablief. Er registrierte trotzdem so Einiges, weil seine Ohren, anders als seine verklebten Augen ohne Brille, noch tadellos funktionierten, trotz heftiger Schmerzen und Schock. Sein Samariter wurde "Hulk" gerufen, nicht wegen der grünen Augen, sondern dem Aufdruck auf dem ersten Board. Das selbstredend nicht das Langboard war, das den Räuber temporär gefällt hatte. "Hulk" quetschte sich neben ihn auf den Asphalt, stopfte ihm Brocken des trockenen Wecken in den Mund. Hart wie sonst was, aber eben stark reduziert, Ausschussware kurz vor Geschäftsschluss. Wenn man was kaute, half das, so "Hulk", der auch schon mal hingefallen war, klare Sache! Deshalb also auf Expertise verweisen konnte, die Tasche aufmachte, mit der Zunge schnalzte. Junge, Junge, das sah nicht gut aus! Pao-Ye war sich nicht sicher, ob er nicht doch heulte. Er konnte einfach seinen linken Arm nicht loslassen. Zuerst kam die Streife, deren Besatzung wohl mit "Hulk" schon bekannt war. Der erklärte munter als Zeuge die Lage, bekannte, "Roddy" schon angerufen zu haben. "Roddy", mutmaßlich Lebensgefährte seiner Mutter, alter Kommunarde, hatte hingegen eine Allergie. Obrigkeit und so. Er versicherte seine Solidarität, wollte bei Bedarf Beistand schicken. Das hielt "Hulk" nicht für nötig. ER hatte ja nichts angestellt! Die altbackenen Waren (soweit nicht verfüttert) waren bezahlt. Containern ging nicht mehr, was ihm wohl die Bekanntschaft mit der örtlichen Obrigkeit eingebracht hatte. Aber ehrlich, war das nicht eine Sauerei?! Dass die großen Konzerne von den kleinen Märkten verlangten, "Bundle" abzunehmen mit Zeug dazwischen, was niemand kaufen wollte?! Es musste weggeschmissen werden! Verschwendung pur! Außerdem Verachtung für den Kundschaft! Die sollte gefälligst fressen und saufen, was die großen Konzerne meinten, das schmeckte! Pao-Ye lauschte hilflos der engagierten Konversation nach der Zeugenaussage. "Hulk" erklärte, in freier Interpretation der Umstände, dass ER gerade auf sein Board steigen wollte, als eben der Räuber herangestürmt sei, schnell wie Usain Bolt! Wie hätte er sein Board vom Gehsteig wegdrehen sollen?! Wenn der Typ sauber einfädelte, sich mit Hechtsprung auf die Fresse legte, war ER ja wohl kein bisschen daran schuld! Pao-Ye, adressiert, bekam überhaupt keinen Satz heraus. Der Krankenwagen traf ein, ohne übermäßige Eile. Behutsam wurde Pao-Ye auf die Liege befördert, Aussage wegen Schock erst in der Notaufnahme. Wo er jetzt hockte, noch immer tränenblind, oben ohne, nach der ersten Schockbehandlung wieder auf dem Rückweg zur Realität. Schwere Stauchung, aber kein Bruch. Dabei wurde seine Tasche geleert, um wenigstens herauszufinden, wer er war und wen man informieren konnte. "Hulk" fütterte ihn mit Bruchstücken eines staubigen Schokoladen-Donuts, während er gleichzeitig das Protokoll diktierte. "Gabriel, wie der Erzengel. Nachname: Heppner. Meine Adresse steht auf dem Personalausweis, Sekunde! Ah, hier!" Erneut ein Durchgang durch die Ereignisse. Dass er den Räuber nicht erkannt hätte. Der würde bestimmt in der Notaufnahme oder bei einer Apotheke oder medizinischem Dienst aufschlagen wegen der Bauchlandung. "Also, ich war auf dem Heimweg, nachdem ich Charlie abgeliefert habe. Ich wollte eben aufs Board steigen, da sehe ich den Typen heranrennen! Der rammt ihn hier, reißt die Tasche an sich. Ehe ich mich versehe, fliegt der über mein Board, rappelt sich auf und haut ab. Ende." Pao-Ye blinzelte. Das Bild wurde nicht besser. "Da fehlt ein i. Okay, soll ich jetzt unterschreiben? Oder ist der Drucker im Auto immer noch kaputt?" Man konnte wirklich den Eindruck bekommen, dass Gabriel "Hulk" Heppner erstaunlich vertraut mit der Streifenwagenbesatzung war. "Na, kein Problem, ich komm morgen vorbei und krakle meinen Otto. Ich kenne ja den Weg." Das Lachen klang unbeschwert. "He, Kumpel, holt dich jemand ab? Oder soll ich dich vielleicht heimbringen? Ist kein Ding, ich hab's nicht eilig." Pao-Ye, dem die Kehle zugeschnürt war, liefen nun richtig die Tränen. Selbst mit den medikamentös in Schach gehaltenen Schmerzen konnte er sich darob nicht allzu böse sein. ~*#*~ Pao-Ye hatte sich eingemummelt, um möglichst große Wärme zu erzeugen. Die sollte dem gestauchten Arm helfen. Die Schule blieb ihm erspart, es war ja Freitag. Außerdem stand er noch immer so weit neben sich, dass es auch keinen Sinn gehabt hätte. Keine Belastungen, Ruhe, aber auch keine Schonhaltung. Sein Vater, der ihn mit dem Auto aufgelesen hatte, fürchterlich erschrocken, hatte sogar angeboten, einen Tag Urlaub zu opfern. Pao-Ye hatte, mit noch immer verquollenen Augen, abgelehnt. Herumvegetieren konnte er auch allein. Die Streifenwagenbesatzung hatte offeriert, am Abend vorbeizukommen, um seine Aussage aufzunehmen. Die vermutlich weniger als nichts wert war. Er hatte den Räuber nicht gesehen. Beim Nikolaus-Kaffee waren ihm auch keine recht fitten Männer aufgefallen. Die hätten ja auch gewusst, dass bloß ein Keyboard in der Tasche transportiert wurde. Das jetzt, man musste Gabriel "Hulk" zustimmen, nur noch als Ersatzteillager fungieren konnte. Das Kunststoffgehäuse war durch den Aufprall an mehreren Stellen gerissen und zersplittert. Ein weniger spektakuläres Ende seiner Klavierstunden hätte Pao-Ye durchaus präferiert. Geschlafen hatte er nicht viel. Mit Nachlassen der Schmerzmittel hatte sich sein Arm gemeldet. Das Pochen hielt ihn wach. Er konnte sich nicht drehen und wenden! Die Leitung der Seniorenwohnanlage meldete sich telefonisch, höchst bestürzt. Auch vom Ehrenamtsbüro erhielt er auf dem Festnetzanschluss seiner Eltern einen betroffenen Anruf. Das war sehr nett und aufmerksam. Pao-Ye ließ keine Gnade gelten: mal wieder erbärmlich peinlich. Ein souveränes Auftreten sah jedenfalls anders aus! So was konnte ja auch nur ihm passieren. Wirklich, wie ein totaler Loser! ~*#*~ Es half alles nichts. Er konnte sich leidlich bewegen, der linke Arm samt Hand in einer Schlinge behinderte nicht bei Schreibarbeiten in der Schule. Tippen ging auch mit einer Hand, oder?! Pao-Ye seufzte stumm. Wenigstens konnte er wieder aus den Augen sehen, auch wenn die wenig kleidsam umschattet waren. Bange machen galt nicht! Obgleich er sich mal wieder entsetzlich peinlich vorkam. Anstelle des gewohnten Rucksacks zog er nämlich einen Trolley hinter sich her, Hackenporsche der Hausbewirtschaftung. Praktisch, selbstverständlich, bloß als Schüler erschien man damit von schwacher Konstitution. Quasi die Einladung, diesen Eindruck noch pragmatisch zu überprüfen, durch die üblichen Quälereien, Herumschubsen, Anpöbeln, Einschüchtern. Ein Fersenhobel verfügte eben nicht über die Prellbockqualitäten eines gefüllten Rucksacks oder konnte wie eine Schlagwaffe geschwungen werden. Die Geschichte vom Überfall hatte sich selbstverständlich schon verbreitet. Nein, der verhinderte Räuber war noch nicht gefasst, aber die Chancen standen ja nicht schlecht. Wie es ihm so ginge, erkundigte man sich. Warum einer so blöd war und ein betagtes Keyboard klauen wollte. Wieso er nicht länger krankgeschrieben sei, wo er doch mit links nichts erledigen könne. Haha, Wortspiel! Pao-Ye fühlte ein vages Mitleid, was ihn nicht gerade aufbaute. Klischee-Strebern passierten eben solche Sachen, tja! Er wollte bloß nach Hause. Die Woche würde schon deprimierend genug werden. Als er, den Trolley mit wenig Elan hinter sich her zerrend, zum Schultor schlich, müde und frustriert, hörte er seinen Namen, von einer munteren Stimme intoniert. "He, Pao-Ye! Warte mal!" Pao-Ye blickte alarmiert auf. Laufgeräusch von Rollen, zwei Personen hielten direkt auf ihn zu, die eine etwas größer als er selbst, schlabbrige Bekleidung, Schal bis zur Nasenspitze und Wollmütze, die andere viel kleiner, aber nicht sonderlich anders gekleidet. "Hallo! Wie geht's dir?" Pao-Ye schaltete: grüne Augen, Longboard. "Hulk". "Danke. Es geht schon." Antwortete Pao-Ye automatisch. Bloß keine Schwäche erkennen lassen, hilfsbedürftig wirken! "Pao-Ye, das hier ist Charlie. Charlie, Pao-Ye." Die kurze Gestalt zerrte den maskierenden Schal unter ein spitzes Kinn, klappte die Skibrille auf die Wollmütze. "Also, der sieht aber gar nicht aus wie Jackie Chan als 'Powerman'!" Pao-Ye registrierte, dass er bereits beim ersten Eindruck durchgefallen war. Und dass die helle Kinderstimme zu einem Mädchen gehören musste. "Hab ich auch nicht behauptet." Konterte "Hulk" gelassen. "Jackie Chan sieht viel knuffiger aus! Wieso heißt du wie er?!" Pao-Ye blinzelte. "Ich heiße Paul Pao-Ye." Stellte er vorsichtig fest. "Was nicht dasselbe ist wie 'Powerman'." Ergänzte "Hulk" launig. "Bist du überhaupt ein richtiger Chinese?!" Nun warf Pao-Ye einen hilfesuchenden Blick in die tatsächlich grünen Augen. "Mütterlicherseits?" Wagte er eine Erklärung. "Boah, was für eine Enttäuschung!" "Jackie Chan sieht heute ja auch etwas anders aus..." "Echt, Hulk, das ist ja wohl egal, oder?! Er ist MEIN Idol!" Pao-Ye erinnerte sich vage an einen Schauspieler dieses Namens. Da er selten fernsah (bestimmt nichts Chinesisches!), schwamm er völlig. Was wollte dieses Mädchen bloß?! "Hongkong-Filme auf Video." Erklärte "Hulk", so, als habe er seine Verwirrung gedeutet. "Charlie hat einen alten Rekorder geschenkt bekommen. VHS, weißt du?" "Magnetbänder, verstehe." Spulte Pao-Ye automatisch ab. Was die Wahrheit extrem strapazierte. "Oh, da ist Linus! Linus!" Das Mädchen namens Charlie stürmte davon. "Charlie steht auf Hongkong-Filme mit vielen Stunts. Als ich ihr von dir erzählt habe, hat sie sich nicht ausreden lassen, dass dein Name vom Film 'Powerman' abgeleitet ist." Pao-Ye starrte. "Aha." Unterdessen hatten sich Wikinger Linus und Leseratte Silvain genähert. "Hulk" beugte sich vertraulich zu Pao-Ye hinüber. "Charlie ist technisch gesehen ein Mädchen, aber sie HASST Mädchenkram. Nur weil Linus Linus ist, toleriert sie, dass er verliebt ist." Weshalb die halbe Portion wohl auch auf den breiten Schultern des Wikingers reiten durfte, während der ganz ungeniert mit Silvain Händchen hielt, das Longboard einfach untergeklemmt. "Charlie?! Was treibst du hier?!" DIE Stimme gehörte Yann, dem Torhüter der Hockeymannschaft. Er ähnelte, fand Pao-Ye, einem dieser schwarzen Scottish Terrier, ein wilder, dichter Schopf, nicht zu bändigen. Und diese angriffslustige Art. "Ich bin mit Hulk hier!" Trompetete es in genau demselben giftigen Ton herunter. "Hulk" tippte sich grüßend in Höhe der Schläfe an den Mützenrand. "Du hast hier nichts zu suchen, klar?! Schulfremde haben keinen Zutritt!" Gestikulierte Yann finster zum Schild am Schultor. "Ich bin gerollt, nicht getreten! Mach nicht so nen Wind, du Beutel!" Dozierte es hochtrabend aus luftiger Höhe von Linus' Schultern. "Quatsch hier nicht rum, du Nervensäge! Mama hat dir gesagt, du sollst direkt nach Hause gehen, klar?!" "Das liegt ja wohl auf dem Weg, du Pappnase!" "Von wegen, du Troll! Jetzt komm da runter, klar?!" "Stopp mal, alle beide!" Intervenierte Linus, bremste die unbestritten verwandten Streithähne. "Charlie, du darfst mich bis zum Fahrradständer begleiten, in Ordnung? Ich habe eine Verabredung mit Silvain." "Uärks, ein DATE?!" "Exakt." "Pah." "Hulks" vertrauliche Einlassungen erwiesen sich jedoch als zutreffend: auf Linus prasselten keine abschätzigen Bemerkungen herunter. Er schien sich wohl knapp hinter "Powerman" Jackie Chan auf der persönlichen Idolliste einzuordnen. "Hallo, was ist hier los?" Silvain seufzte leise, aber vernehmlich. Seine sehr attraktiven Zwillingsschwestern Marielle und Mireille spazierten elegant heran. Sie hegten immer noch die Befürchtung, er könne durch seine grauenvolle Persönlichkeit Linus vergraulen. Deshalb schienen Interventionen wie bei diesem Massenauflauf angezeigt. Daraus machten sie selbstverständlich kein Geheimnis. Kein MÄDCHEN konnte Linus für sich gewinnen, aber wenn man einen passenden (oder eher grässlich unpassenden) Bruder im Rennen hatte, musste man sich voll reinhängen! "Wer sind denn die?!" "Und wer bist du?!" "Meine grässliche Schwester Charlotte." "Mein Name ist Charlie, du trübe Tasse!" "Lies mal deine Geburtsurkunde, du dämliche Gans!" "Das lass ich korrigieren, du Affenhirn!" "AUSZEIT!" Donnerte Linus. "Charlie, festhalten. Ich will jetzt los." "Roger!" "He, willst du sie nicht adoptieren?! Ich schenk sie dir auch!" "Halt die Klappe, du Depp! Warum veradoptierst du dich nicht?!" "Ich war zuerst da, du blöde Schnepfe!" "Da kannst du auch zuerst abhauen, du Primat!" "Hulk" lachte laut heraus, klopfte Yann auf die Schulter. "Nimm's nicht so schwer, Kamerad. Ihr seid, bei räumlicher Trennung, beide schwer in Ordnung." "Pah!" Fauchte Yann, im selben Tonfall wie seine jüngere Schwester. Mireille und Marielle nickten. "Geschwister kann man sich nicht aussuchen. Wer wüsste das nicht besser als wir?" Sie lächelten zuckersüß, drehten elegant ab. "Pah!" Murmelte Yann. "Bring das blöde Gör heim, ja? Sonst dreht meine Mutter noch durch." "Roger!" Salutierte "Hulk" zackig. Pao-Ye blieb stumm. Ohne eigene Anstrengung war er einfach in den Hintergrund, die Kulisse diffundiert. Mal wieder ungenügend. Durchgefallen. ~*#*~ Pao-Ye rollte das alte Strandlaken aus, nahm Platz, leerte systematisch seinen Jute-Beutel: Teelicht, Streichhölzer, gebrannte Mandeln, Popcorn, Thermoskanne mit leicht gesüßtem Instantkaffee, Taschenschirm, noch geschlossen. Er trug die neue, alte, schwarz-rot karierte Hose und den schwarzen Kuschelpullover mit Fellverfilzung unter seinem praktisch-geschmacksfreien Anorak. Gegenüber arbeitete sich, unterstützt von Wassersprengern, eine Baumaschine mit langem Ausleger und Zangenkopf durch einen Rohbau. Es war kalt, aber nicht klamm. Rhythmisch rammte eine andere Maschine in den Boden, löste Erschütterungswellen aus, während ein Bagger den Abraum in Container schaufelte. Natürlich hatte er sich keinen Illusionen hingegeben. Geburtstag wochentags, das konnte ja nicht groß gefeiert werden. Weil man den Großeltern den Schreck mit der noch lädierten Linken ersparen wollte, fiel mit Hinweis auf ungemütliches Wetter der Geburtstagskaffee am Wochenende aus. Man durfte sich nicht beklagen. Popcorn und gebrannte Mandeln, das war nett, nützlich, nahrhaft. Er geriet auch nicht in Gewissenskonflikte. Glücklicherweise nur ein Kärtchen als Gutschein für ein Tablet seiner Wahl, nicht etwa einen Ersatz für das blöde Keyboard! Auch wenn Pao-Ye kein Tablet brauchte oder wollte. Der Laptop lief ja noch, also, was sollte er mit so einem Ding?! Sweet sixteen, das war ja eher Mädchenkram, richtig? Außerdem konnte er keine Freunde vorweisen. Kindergartenpartys bei Filialisten fielen sowieso flach! Wenigstens durfte er morgen seinen ersten Personalausweis abholen. Älter werden war keine Leistung, das passierte schließlich von ganz allein, jede Sekunde. Trotzdem hatte er trotzig entschieden, sich nach der Schule nach Hause zu verabsentieren, seine neuen-alten Kleider anzuziehen und hier mit sich selbst ein wenig zu feiern. Nicht, dass es viel zu feiern gab, aus vorgenannten Gründen, weil er immer noch mit sich selbst sehr unzufrieden war. "Hallo, ist das eine geschlossene Gesellschaft?" Vor Schreck wäre Pao-Ye fast eine gebrannte Mandel in die Luftröhre geraten. Er hustete, wandte sich mit feuchten Augen um. "Hulk". "Alles Gute zum Geburtstag!" Wurde seine Rechte okkupiert, kräftig gedrückt. "Was macht dein Arm? Kannst du schon wieder in die Tasten hauen?" Endlich die Kehle frei gehustet fauchte Pao-Ye. "Seh ich aus wie Liberace?! Das blöde Ding ist hinüber, Gott sei Dank!" "Ach so? Ich dachte, du wärst so ein Virtuose." Gabriel ließ sich einfach neben ihm nieder. "Ja, weil ich so ein blöder, chinesischer Streber bin, oder wie?!" Pao-Ye hörte sich selbst geifern. Er staunte. Das klang so gar nicht nach ihm, oder wenigstens nicht nach dem Pao-Ye, der nach außen auftrat. "Nee, weil du schon so lange Klavierunterricht nimmst. Hat der fliegende Vollhorst dir am Ende einen Gefallen getan?" "Und wenn?!" "Na, da kann man mal sehen, dass auch aus miesen Erlebnissen was Gutes erwachsen kann." Pao-Ye starrte auf das muntere Profil. Hatte der Kerl eine Meise?! Da pampte er ihn an, ließ seinen Frust raus, und der blieb gelassen! "Was willst du hier?" "Zugucken. He, erinnert dich das nicht auch an die großen Dinosaurier? Brontosaurus, Brachiosaurus? Wie das Ding da den Beton knackt? Richtig tapfer, immer von neuem ran und rein in die Staubwolke!" Unerfreulicherweise hegte Pao-Ye genau denselben Gedanken. Man konnte die Baumaschine wirklich für einen "nackigen" Dinosaurier der riesigen Pflanzenvertilger-Gattung halten... "Woher weißt du, dass heute mein Geburtstag ist?" Gabriel zwinkerte. "Von deinem Schülerausweis, als wir deine Tasche gefilzt haben. Weil du nicht zu Hause warst, bin ich ein bisschen rumgekurvt, hab dich hier auf den Hügel steigen sehen." "Was wolltest du bei mir zu Hause?" "Gratulieren, zum Geburtstag. Ich hab ja deine Nummer noch nicht." "Meine Nummer?!" "Telefonnummer. Du weißt schon, anrufen oder SMS schicken oder was dein Gerät so kann. Meins ist schwer antik, kann nicht so viel." Er präsentierte aus der Innentasche seiner überformatigen Jacke ein betagtes Modell, in einem Waschlappen untergebracht. Pao-Ye kniff die Augen zusammen. Er wollte bloß EIN WENIG allein seinen Geburtstag vor einer Baustelle feiern! War selbst das zu viel verlangt?! ~*#*~ Kapitel 3 - Süße Sechzehn und das übliche Programm? Pao-Ye erinnerte sich, wenn auch verschwommen-klebrig, an die milde, staubtrockene Gabe. Vielmehr mehrere. Wecken und Schoko-Donut. Deshalb konnte er unmöglich sein festliches Dinner for one allein verzehren. Er schob möglichst unauffällig Mandeln und Popcorn in die neutrale Mitte. Beim gesüßten Instantkaffee wurde es allerdings schwierig. Seine Thermoskanne trug nur eine Becherhaube. Gabriel bedankte sich beiläufig, plapperte unbeschwert weiter, ganz gleich, welche gewittrige Atmosphäre Pao-Ye auch durch mentale Schwingungen aussenden wollte. "Du bist hoffentlich nicht böse wegen der Powerman-Sache, oder? Charlie hat nichts gegen dich, absolut nicht!" Pao-Ye kaute auf einer gebrannten Mandel herum, unterdrückte eine bissige Bemerkung. Was ein Dreikäsehoch von ihm dachte, war ihm vollkommen gleich! "Sie hat ja den Videorekorder geschenkt bekommen, weißt du? Wir haben nach Kassetten gesucht, die man abspielen kann. Klar, das Bild ist auf nem Flachbildschirm etwas körnig, aber wenn der nicht so groß ist, dann passt das schon. Also, ich habe Dschungelbuch gefunden, den Disney-Klassiker. Roddy, das ist der Freund meiner Mutter, hat einen Karton mit Hongkong-Filmen beigesteuert. Anderes Zeug, was aufgetaucht ist, war eher für die Schmuddelecke. Das interessiert Charlie auch nicht. Großes Highlight: Bud Spencer und Terence Hill-Serien! Aber die konnten wir noch nicht alle durchgucken. Kann ja auch sein, dass die Bänder lädiert sind. Außerdem suche ich noch Chinese Ghost Story und Peking Opera Blues. Du kennst nicht zufällig wen, der noch auf dem Dachboden oder im Keller alte VHS-Bänder aufbewahrt?" Pao-Ye grummelte. Bewahre, dass seine Mutter Unordnung oder Relikte aus der technischen Steinzeit in IHREM Haus duldete! "Bedaure, damit kann ich nicht dienen." Ätzte er hochnäsig. "Tja, schade, hätte sein können. Man weiß nie, wo sich der Trüffel verbirgt, bis das Schwein buddelt!" Gabriel feixte ihn an. Diesen Leitspruch hatte Pao-Ye noch nie vernommen. Er schnaubte, goss gesüßten Instantkaffee nach, nahm einen Schluck, seufzte erneut, rückte den Becher in die Waffenstillstandszone. Prompt bediente sich Gabriel, achtete artig darauf, SEINE Seite des Bechers zu touchieren. Bloß keine indirekten Küsse, nie nie nie! Pao-Ye diagnostizierte sich einen Rückfall in die Kindergartenphase. Er befand, dass er mal wieder für sich selbst eine Zumutung darstellte. "Im Moment steht Charlie ja auf Jackie Chan. Das ändert sich garantiert, wenn ich noch Schwarzweiß-Klassiker auftreiben kann, Oliver Hardy und Stan Laurel, Harold Lloyd, Buster Keaton, Charlie Chaplin, die drei Stooges, die Strolche. Da geht richtig die Post ab!" Pao-Ye grübelte, wider Willen, ob er außer den Namen filmische Erinnerungen aufbieten konnte. Andererseits empfand seine Mutter Slapstick-Filme als Zeitverschwendung. Oder, schlimmer, als Anleitung dazu, sich selbst in Darwinscher Evolutionstheorie erprobend aus dem Verkehr zu ziehen. "Von Powerman gibt's übrigens mehrere Teile. Ich finde, der erste Teil ist ja der Beste. Die reinste Zeitreise übrigens, quasi 'Zurück in die Zukunft', bloß ohne Hund. Und mit mehr Stunts. Echt unterhaltsam!" Während Gabriel munter referierte, nutzte Pao-Ye die Gelegenheit, ihn deutlich studieren zu können, mit Brille, ohne Eintrübung durch Tränen. Wollmütze und Schal rahmten ein gleichförmiges Gesicht ein, dessen prominenter Blickfang die grünen Augen waren, ein wenig schräg, unter schmalen Augenbrauen, dicht bewimpert. Die Nase wies einen leichten Knick am Rücken auf. Der Mund präsentierte sich breit mit dünnen Lippen. Das rief Pao-Ye einen gänzlich unerwünschten Vergleich mit einem Zitat aus einem Gesellschaftsroman in Erinnerung: "Ein Mund, zärtlich geschwungen, die Linien geführt, stets zu einem Scherz, einem Lächeln aufgelegt." Herrje! Was für ein Schund sich im Hirn festsetzte! Das Resultat bestand zweifellos darin, dass "Hulk" trotz des dämlichen Spitznamens in die "Helden"-Kategorie einzuordnen war. Nicht nur wegen des unerschrockenen Einsatzes gegen einen perfiden Straßenräuber. So ein Linus oder Yann, einer von den Prominenten in Sportmannschaften, populär, gutaussehend, talentiert, beliebt! Genau die Gruppe von Jungs, mit denen er selbst nichts zu schaffen hatte außer gelegentlich aus gesellschaftlicher Höflichkeit ausgetauschte Konversation zu Sachthemen. Dass sie einander noch nicht früher über den Weg gelaufen waren, beruhte auf dem Umstand, dass Gabriel eine andere Schule besuchte, die als Fachoberschule auf technisch-mathematische Sparten ausgerichtet war. Gabriel hatte unterdessen seine cinematografischen Ausführungen abgeschlossen. "Ist die Hose neu? Sieht ja scharf aus." "Ist sie nicht!" Fauchte Pao-Ye, fühlte sich gegen den Strich gebürstet, dass ausgerechnet dieser "Hulk" so ein Detail registrierte. "Trägst du sie oft? Ich hatte den Eindruck, dass..." Bevor ihm nun unter die Nase gerieben werden konnte, wie dröge-langweilig-streberhaft sein übliches Erscheinungsbild war, detonierte Pao-Ye übellaunig. "Ich bin KEIN halb-chinesischer Schwiegersohn-Liebling-Streber, klar?!" Man hätte jetzt ebenso aufgeplustert kontern können. Gabriel jedoch entsprach den dünnen Linien um seinen Mund: er lächelte amüsiert. "Ja, vollkommen klar, du hast es schon mehrfach erwähnt. Das ist bloß deine Tarnung. Wie die Brille bei Superman." Es dauerte einige Sekunden, bis Pao-Ye die gesamte Bandbreite dieses Returns verarbeitet hatte. "Ich halte mich überhaupt nicht für einen Superhelden! Ich bin bloß nicht so ein blödes Klischee!" Gabriel nickte verständnisvoll. "Genau. Ich meine, nur weil man gute Noten hat, Halbchinese ist, Klavierstunden nimmt und Tischtennis spielt, ist man ja noch lange..." Er KLANG nicht mal ironisch! Trotzdem. Pao-Ye sprang auf die Beine, die Fäuste vor Wut geballt. "Ich bin nicht SO! Ich bin...ANDERS!" Was noch lahmer ausfiel, als ihm sein Gehirn seine Worte erneut vorspielte. Ein lächerlicher Zwergenaufstand, einfach nur erbärmlich! Frustriert plumpste er auf das Strandlaken zurück, leerte erbost den Becher mit gesüßtem Instantkaffee in einem Schluck. Glücklicherweise in die richtige Röhre, sonst hätte er diese peinliche Situation noch röchelnd auf die Spitze getrieben. Warum zog Gabriel nicht endlich Leine?! Kapierte der nicht, dass er allein sein wollte?! "Schön, du bist anders, das glaube ich gern. Man sieht's eben nicht auf den ersten Blick. Camouflage ist ja nichts Schlechtes." JETZT hätte man ihn erwürgen sollen! Allerdings mangelte es Pao-Ye als Pazifisten und notorisch Körperkontaktscheuen an allen Möglichkeiten, diesem mörderischen Impuls zu folgen. "Ich tarne mich gar nicht! Es ist eben nicht so einfach! Meine doofen Haare zum Beispiel..." Pao-Ye brach ab. Warum plapperte er hier wie ein Idiot alles heraus?! Was kümmerte ihn überhaupt, was der Depp neben ihm von ihm dachte?! Der amüsierte sich doch bloß auf seine Kosten! "Na, ist doch ein klassischer Schnitt, oder? Seitenscheitel, man kann das Gesicht sehen." »Gleich erwürg ich ihn doch!« Dachte Pao-Ye aufgebracht. "Denkst du, mir gefällt das?! Wenn ich eine andere Frisur will, ist das nicht so einfach!" Bevor weitere launige Retourkutschen ihm in die Argumentationskette grätschen konnten, legte er gestikulierend los. "Ah, der Termin Kuchenmeister richtig? Nimm doch Platz, mein Junge. Und der Mami geht es gut? Die ist immer so geschäftig! Kannst du mal eben den Kittel...? Prima! Ich hätte heute gerne...Oh, Augenblick, da kommt ein Anruf! Bin gleich bei dir, mein Junge! Also, wie ich schon sagte, heute...Momentchen mal, die Haube! Da, sprüh doch schon mal feucht über, ja? So, da bin ich wieder! Also, ich hätte gerne eine andere...Ach du Güte, Gisela, du musst jetzt aber ausspülen! Sonst wird die Farbe zu grell! Wenn man nicht ALLES sagt! Gut, dass es bei dir immer so einfach ist, nicht wahr? Ich würde gerne...Rasch die Schere durch, kämmen, alles fein! Keine Extrawürste..." Während Pao-Ye frustriert sein Leid schilderte, mit teils schriller Stimme, kringelte sich Gabriel neben ihm vor Lachen. "Das ist NICHT komisch!" Schimpfte Pao-Ye grimmig, verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. Er HATTE ja versucht, sein Erscheinungsbild zu verändern, auch wenn er nicht genau wusste, welche Frisur zu seinem eigentlichen Ich passen könnte. Doch selbst der schüchterne Versuch war von den Umständen ausgekontert worden! "Also gut, ich mach es." Pao-Ye wandte den Kopf. "Was machen?" "Deine Haare schneiden! Ich muss ja auch nicht nebenher einen Salon führen." Gabriel grinste noch immer höchst amüsiert. Pao-Ye verengte die Augen hinter der Brille zu grimmigen Schlitzen. "Wann warst du denn das letzte Mal beim Frisör?" Ihm war nicht entgangen, dass hinten jenseits der Wollmütze ein prachtvoller Zopf über die Schulterblätter hinaus lagerte. Braune Lockenstränge, nicht eingeflochten. Eine Mähne, für die Frauen skrupellos töten würden. Gabriel überlegte angestrengt, zuckte mit den Schultern. "Sorry, Pao-Ye, ich kann mich echt nicht mehr erinnern. Andererseits, Schere, Kamm, Rasierer, das ist nicht schwierig." "Klar, damit ich als kahler Eierkopp herumlaufe! Vergiss es!" Gabriel lachte. "Kumpel, du musst schon springen wollen, wenn du neue Ufer erreichen willst." "Was bist du, ne kaputte Glückskeksdruckerei, oder was?!" Fauchte Pao-Ye, kaute lautstark auf Popcorn-Brocken herum. Gabriel bediente sich bei den gebrannten Mandeln. "Mal ehrlich, was kann schiefgehen? Haare wachsen nach, oder? Außerdem gibt es ja Extensions." "Ich soll mir Plastikhaare auf den Schädel kleben?! Spinnst du?!" Pao-Ye grollte aufgebracht, dass seine ästhetischen Bedenken so wenig Beachtung fanden. "Da gibt's auch Varianten mit Echthaar, wie bei Perücken. Du kannst auch Mützen tragen, das tarnt." An diesem, seinem einzigen 16. Geburtstag, beging Pao-Ye eine Premiere: er schubste Gabriel aus erzieherischen Gründen (des argumentativen Notstands) kräftig in die Seite! ~*#*~ Gabriel geriet in schräge Seitenlage, lachte unbekümmert auf. Pao-Ye kam sich EXTREM dämlich vor. Wirklich, heute war ihm aber auch alles verleidet! "Sieh es doch mal so: wenn ich Schere und Kamm anlege, wirst du danach definitiv anders aussehen. Was du ja willst, weil du anders bist, als es jetzt gerade den Anschein hat." Argumentierte Gabriel genüsslich. "Und wenn schon! Was juckt es dich überhaupt?! Leidest du unter einem Helfersyndrom, oder wie?" Kollerte Pao-Ye zornig, die Arme vor der Brust gekreuzt. Am liebsten hätte er noch die Backen aufgeblasen wie ein giftiger Kugelfisch. DAS wäre doch zu kindisch gewesen! Gabriel grinste. "Ich bin notorisch neugierig. Außerdem hast du ja Geburtstag. Für Sex, Drugs und Rock'n'Roll ist es noch zu früh. Eine andere Frisur..." Pao-Ye schnaubte eingeschnappt. Natürlich erkannte er die Herausforderung. Spektakulärer als jetzt würde sein Geburtstag auch nicht mehr ausfallen. Kerze ausblasen, brav die Reste aufsammeln, alles im Jute-Beutel nach Hause transportieren, eine Dokumentation oder Reportage verfolgen und frustriert über den Zustand der Welt allgemein sowie den höchstpersönlichen besonders die Matratze abhorchen. Verdammt! "Komm einfach mit zu mir. Ich leih dir auch ne Mütze, falls du danach eine Tarnung brauchst." Gabriel zwinkerte. In den grünen Augen tanzte der Schalk. Wirklich, absolut unvernünftig und bekloppt! Grimmig blies Pao-Ye der Kerze ihr Licht aus. "Das wird wahrscheinlich eine Katastrophe werden." Prophezeite er düster. "So ist es richtig!" Bestärkte ihn Gabriel, erhob sich schwungvoll. "Die Messlatte nie zu hoch legen. Da kann man sich danach umso mehr freuen!" Pao-Ye fauchte. ~*#*~ Natürlich beschlichen Pao-Ye rasch Zweifel. Warum hatte er sich bloß auf diese Schnapsidee eingelassen?! Er kannte diesen "Hulk" ja gar nicht! Was, wenn der ihm einen fiesen Streich spielen wollte? Ihm tatsächlich den Schädel kahl rasierte? Oder ihn in einen Hinterhalt lockte, damit all die anderen ihn verspotten konnten? Gabriel plauderte unterdessen unbeschwert. "Ich wohne mit mehreren Leuten zusammen in so einem Altbau, weißt du, Gründerzeit. Nicht ganz ne Kommune, eher Richtung Wohngemeinschaft, aber auf Dauer. Wir verstehen uns gut, was ja wichtig ist, wenn man sich Gemeinschaftsräume teilt. Die Nachbarschaft dachte erst, da ziehen Kommunisten ein oder Volksgenossen oder Anarchisten." Er zog kurz die Augenbrauen zusammen. "Wie das alles gleichzeitig zusammenpassen soll, ist mir nicht ganz klar. Jedenfalls gibt es ne Hausordnung. Der Müll wird getrennt. Lautstarke Partys feiern wir auch nicht wegen der Tiere. Die hören ja viel besser als der Mensch." Pao-Ye intervenierte aufgeschreckt. "Tiere?! Was für Tiere?!" Gabriel zählte unverdrossen auf. "Ein Rauhaardackel, drei Katzen, hin und wieder ein Igel, Eichhörnchen, aktuell drei Bienenstöcke. Dazu noch alles, was so im und um den Teich lebt. Wobei ich nicht sicher bin, wie gut die Frösche hören. Ach ja, Wim hat aus Studienzwecken eine Ameisenfarm. Die leben allerdings hinter Glas." Gabriel, das obligatorische Langboard am Rucksack verstaut, warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu. "Hast du Angst vor bestimmten Tieren? Oder eine Allergie?" "Meine Mutter mag keine Tieranhaftungen. Darauf reagiert sie." Nicht im engeren Sinn allergisch, aber ärgerlich. Pao-Ye zog die Schultern hoch. Mit Tieren hatte er keinen näheren Kontakt, vor allem nicht nach dem China-Albtraum. Er ließ sie in Ruhe, hoffte, dass sie ihm die gleiche Höflichkeit erwiesen. Weil mangelnde Erfahrung in Gesellschaft als Makel wirkte, versuchte er, das Thema weiträumig zu vermeiden. "Ach, das wird schon gehen! Wir passen einfach auf und bürsten deine Kleider ab." Gabriel ignorierte offenkundig die Möglichkeit, ihn lächerlich zu machen. "Jedenfalls ist es in Ordnung bei uns, wirst schon sehen!" Pao-Ye schluckte sein mulmiges Gefühl herunter. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen?! ~*#*~ Es verhielt sich nicht so, als wäre Pao-Ye in seiner Heimat(klein)stadt nicht ortskundig. Bloß gab es eben Straßenzüge, in die es ihn kaum je verschlug. Zum Beispiel die Siedlung beim Industriegebiet. Das heißt, die vereinzelten Häuser an einer breiten Straße hatte es schon vorher gegeben, ehemals hochherrschaftliche Anwesen mit viel Platz und Grün drumherum, in bequemer Nähe der "Überlandstraße" für Kutschen zur nächstgrößeren Ansiedlung. Die Industrialisierung kam, danach der Krieg. Abriss und Veränderungen, Ausbau der Straßennetze. Die beinahe Eremitagen vornehmer, reicher Bürgerlicher wurden zu Restposten in der Nachverdichtung, umzingelt von schlichten Industriebauten, eingequetscht, beschnitten, eher nach Geldbeutel als nach Notwendigkeit renoviert. Sie gehörten mittlerweile zur Kleinstadt, lagen nicht mehr exklusiv außerhalb wie Aussiedlerhöfe. LKW donnerten an ihnen vorbei, während Gabriel Pao-Ye mit den Gebäuden und ihren aktuellen Bewohnenden bekanntmachte. Sogar eine Dauercamping-Siedlung gab es, eingezäunt. Nicht einsehbar, dafür hörbar dahinter ein asthmatisches Bellen. Pao-Ye warf einen nervösen Blick auf die Rattan-Matten, die gegen den Maschendrahtzaun geklemmt waren. "Oh, das ist Rosie, eine französische Bulldogge." Gabriel signalisierte eine Schulterhöhe unter seinem Knie. "Klingt schauerlich, nicht wahr? Weil sie kaum Luft bekommt, das arme Ding. Roddy sagt, das ist eine Qualzucht aus dem vergangenen Jahrtausend nach dem Kindchen-Schema, GROSSE Augen und quasi keine Nase, nur ein Stupser, weil das angeblich niedlich aussieht. Er wollte sogar Geld sammeln, damit die arme Rosie operiert werden kann, weil sie garantiert mal tot umfällt. Ihre Besitzerin hat sich geweigert, wollte ihn anzeigen. Was natürlich Quatsch war." Gabriel seufzte, lächelte nicht. Pao-Ye konnte das Gefühl nachvollziehen. "Menschen sind eben Scheißkerle." Stellte er grimmig fest. Neben ihm zuckten Gabriels Mundwinkel. "Hmm, wie formuliert man das geschlechtsneutral? Scheißtussis? Oder besser Scheiß-Humanoide? Bloß, wenn es Außerirdische gibt, die uns in Gestalt ähneln..." Pao-Ye schnaubte vernehmlich. "Falls es außerirdisches Leben gibt, das das Pech hat, uns zu ähneln, sollte es so schlau sein, HIER nicht aufzuschlagen. Da gibt es einen netten Cartoon dazu, wo sich zwei Planeten unterhalten. Menschen sind eine fiese Influenza. Glücklicherweise geht auch das mal vorbei." Zitierte er sinngemäß mitleidlos. Klar, wer sich kannte, hatte eine Vorstellung von seiner "Sorte"! Pao-Ye fühlte sich zeitlebens nicht sicher, dass auf der Waage ein entscheidendes Atom Übergewicht auf "Fortbestand der Existenz" vorhanden war. "Na ja, wir sind wohl sehr viel beschränkter, als uns lieb ist." Bemerkte Gabriel konziliant. "Es besteht Hoffnung. Nach einigen Forschungserkenntnissen der letzten Zeit geht der IQ zurück. Wenn wir uns in großer Zahl auch noch gegenseitig ausrotten, hat der Planet eine Chance." Was der Zyniker in Pao-Ye tatsächlich als Hoffnungsschimmer einstufte. Evolution musste ja nicht schnurstracks in eine Richtung gehen, oder?! "Vielleicht kracht uns aber auch mal der ganze Weltraumschrott auf die Rübe. Da sparen wir uns den Asteroideneinschlag." Das würde eine nette Ironie in sich tragen. Die Dinosaurier zumindest hatten ihren Untergang nicht selbst maßgeblich befördert. Gabriel neben ihm lachte leise. "Ehrlich, jetzt haben wir schon viel herausgefunden, meinst du nicht? Darüber, wie genau du anders bist. Ein optimistischer Zyniker!" Pao-Ye funkelte das feixende Profil an. "Das ist für MICH keine bahnbrechende Erkenntnis! Vielleicht sollte ich mir "No future" mit Ausrufezeichen aufs Revers heften, wie?!" Ätzte er aufgebracht. "Hmm, ist das nicht geklaut? Aus den Achtzigern? Copyright or no Copyright? Oder eher Hommage?" Sinnierte Gabriel neben ihm laut, gab den juristischen Hamlet. Pao-Ye schnaubte ärgerlich. "DU könntest auch zu einer in Kürze aussterbenden Art gehören, wenn du so weitermachst!" Gabriel lachte laut auf, zwinkerte ihm zu. "Ich hab einfach sehr gute Laune, wenn wir uns unterhalten! Macht richtig Spaß!" Nun gab Pao-Ye es auf. Dieser Typ hatte amtlich den größten Meisen-Schaden unterm Pony, den man mathematisch im Raumvolumen ermitteln konnte! ~*#*~ Das Wohnhaus der Nicht-Kommune war leicht auszumachen. Auf dem Dachfirst prangte die regenbogenfarbige "Pace"-Friedensflagge. An Leinen hingen bedruckte Stoffbahnen wie bei tibetischen Tempeln im Wind. Der Außenanstrich gestaltete sich nicht einheitlich, sondern eher nach Verfügbarkeit bei Renovierung. Neben der Außentreppe lehnte eine Rampe aus Palettenpressholz. Jeweils unterm Dachfirst ragten wie bei alten Speicherbauten bewegliche Flaschenzüge heraus. Es gab einen separaten Dienstboteneingang, einen Kellereingang, verschachtelte Räume und Erker. Der ehemals hochherrschaftliche Zaun war durch Holzpalisaden Marke Eigenbau ersetzt worden, wo der Rost sich als Zahn der Zeit durchgenagt hatte. Vor dem Haus ragte der abgeschälte Rest einer Birke als Fahnenmast empor. Dort flaggte das gelbe Unterseeboot der Beatles aus dem Zeichentrickfilm "Yellow Submarine" stolz in die Luft. [Blaumiese haben in Begleitung von Rosen Zutritt], letterte ein Blechschild. Daneben hing ein Warndreieck: [Achtung, wir küssen und umarmen auch Fremde!] »Lieber Himmel!« Dachte Pao-Ye hilflos. Wenn seiner Mutter zu Gehör kam, wo er sich herumtrieb, würde er einen Satz heißer Ohren kassieren! Nicht durch physischen Übergriff, nein, aber DER Vortrag ließe ihn wie einen Hummer dunkelrot anlaufen! Wie erwartet war das gesamte Haus innen drin auch bunt und von Stiegen erschlossen, die nicht mal einheitlich gestaltet waren! Mal Stein, mal Stahl, mal gefliest, mal uraltes Holz, mal Betonguss! "Hier, die Filzschlappen müssten dir passen." Gabriel reichte ein Paar aus einer mannshohen Hängeaufbewahrung. DAS war erstaunlich bürgerlich. Oder eher pragmatisch gedacht. So musste man den Straßendreck nicht quer durchs Haus putzen. Eine gewaltige Katze strich Gabriel um die Beine. Sie ähnelte einem Miniatur-Löwen. "Liebesbedürftig, Salome? Oder soll ich mal lieber nach dem Wasser gucken?" Pao-Ye erstarrte zur Salzsäule. Bloß keine Katzenhaare an seiner neuen-alten Hose! "Willst du lieber hier warten, Pao-Ye? Ich schaue mal gerade in der Küche nach den Näpfen." Hastig nickend beäugte Pao-Ye die mutmaßliche Katze argwöhnisch. Die Gefahr der Katzenbehaarung schied aus. Salome kehrte ihm brüsk die Kehrseite zu, spazierte mit erhobenem Schwanz eine halbe Treppe tiefer, schlüpfte durch einen Stoffvorhang. So was kannte Pao-Ye nur von japanischen Restaurants am Eingang, allerdings nicht bis zum Boden reichend. Gabriel folgte Salome auf lautlosen Filzsohlen, was Pao-Ye den angehaltenen Atem ausstoßen ließ. Nervös blickte er sich um. An einer gewaltigen Kaktee waren Papierstücke aufgespießt, einfache Flyer, Notizen, Gutscheine, Abholzettel von Transportunternehmen. Ein lebendiges "Schwarzes Brett" in saftigem Grün. Der Lichtschacht für Eingang und Treppenhaus wurde mit sehr wenigen Leuchten und sehr vielen Spiegeln ausgekleidet. Er glaubte auch, zwei "Solarblumen" zu erkennen. Der Handlauf bestand seemännisch aus einem Reep. Dazu gab es kleine Blechschilder wie an Wegweisern, damit man sich auch ja nicht verirrte. Kombüse, Kajüte, Kartenraum, Oberdeck, Kesselraum, Warft, Piktogramme für die Toiletten und Waschräume, dazu farbige Keramikschilder mit Namen. Gabriel hieß hier nicht "Hulk". Zumindest sein Schild war giftgrün gehalten. "Schön, oder?" Pao-Ye hätte beinahe einen Satz gemacht, wäre der Filz nicht so innig mit dem alten Läufer verbunden, der auf den rissigen Mosaikfliesen lag. Lautlos hatte sich Gabriel wieder neben ihm materialisiert. "Sehr individuell." Versetzte Pao-Ye betont hochnäsig, wenn auch mit vor Schreck belegter Stimme. "Lass uns mal Segel setzen." Grinste Gabriel frech, stieg voraus die Stufen hoch. ~*#*~ Gabriels Zimmer war bescheiden, ein kleines Fensterchen in einer der Dachschrägen, darunter eine Art Kojenbett, zumindest in die Nische genau eingepasst mit hochgezogenen Seiten. Recht breit, das musste man eingestehen. Eine alte Truhe mit Seebären-Motiven bewahrte offen die Kleidung, im gewölbten Deckel mit Netz gerollte Socken und Unterwäsche. An den gemauerten, nur verputzten Wänden hingen bedruckte Stoffbahnen. Kein Fernseher, kein Computer, keine Musikanlage. Einige Schulutensilien und Kleinkram wurde in einer Art Regal aufbewahrt, das offenbar aus zerbrochenen, nicht mehr einsatzfähigen Skateboard-Brettern konstruiert worden war. Gabriel lud Rucksack und Longboard neben der Tür ab, gestikulierte einladend auf sein Kojenbett. "Mach's dir da gemütlich, ja? Ich hole mal eben Frisörbesteck!" Schon ließ er Pao-Ye allein zurück, der sich linkisch umsah, seufzte. Als lebe man in einem Wandschrank mit Guckloch! So beengt und, nun ja, irgendwie, auf chaotische Art auch gemütlich. Vermutlich schlief Gabriel hier bloß, hielt sich sonst draußen oder in den Gemeinschaftsräumen auf. Er selbst verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer, wenn er zu Hause war. In der Küche wurde nichts geboten, wenn er das nicht selbst übernahm. Gemeinsame Mahlzeiten schieden ohnehin aus. Im Wohnzimmer hätte er seinen Eltern Gesellschaft leisten können, doch mit eigenem Laptop und Fernseher bestand dazu keine Notwendigkeit. Pao-Ye streifte seinen Anorak ab, wählte zögernd einen Kleiderbügel, der an einem Besenstiel baumelte. Den man ohne Bürstenkopf quer in ein paar Dachbalken überkopf eingeklemmt hatte. Seinen Jute-Beutel vertraute er vorsichtig dem Skateboard-Regal an. Er genierte sich, einfach auf das breite Bett zu klettern, studierte lieber das offene Regal: eine zerfledderte Bedienungsanleitung für VHS-Rekorder, ein Faltblatt für Ersatzteile zu Boards samt Preisliste, Programmiersprache Basic, Die 100 besten Filme des 20. Jahrhunderts, Knooking für Dummies. Pao-Ye zögerte, lauschte durch die angelehnte Tür ins Treppenhaus. Er griff zu, von seiner Neugierde getrieben. Was war denn "Knooking"?! Er blätterte eilig durch die Einführung, studierte die Anleitungen. Ein Werkzeug, halb Häkelnadel, hinten mit Öse?! Zog man den Wollfaden etwa durch das Nadelöhr hinten mit?! Konzentriert vertiefte sich Pao-Ye in die Erklärung. Einfaches Überfliegen half nicht, das Rätsel zu lösen. "Ah, verstehst du, wie man das macht?" Erneut materialisierte sich Gabriel lautlos aus luftleerem Raum. Pao-Ye schnaubte. "Schon, aber warum interessierst du dich für so was?!" Es hatte schließlich nichts mit Boards oder Technik zu tun! Gabriel grinste, fischte aus einer geköpften Blechdose zwischen Essstäbchen, Stiften, langen Büroklammern und anderem Krimskrams eine Hakennadel hervor. "Da, die habe ich geschenkt bekommen. Lag zwischen Werkzeug auf einem Flohmarkt herum. Ich wollte herausfinden, was man damit macht." Pao-Ye blinzelte ungläubig. "Du willst Handarbeiten lernen?!" Mit einem Lachen quittierte Gabriel seine Fassungslosigkeit. "Ich will grundsätzlich jede Menge lernen! Man weiß nie, wozu es nützlich sein könnte. Es sieht aus, als wäre es gar nicht so schwer." Mit einem finalen Knurren wandte Pao-Ye sich ab, stellte das kleine, recht lädierte Buch zurück ins Regal. Klar, die "Helden"-Typen, die schreckten vor gar nichts zurück, galten sogar noch als "cool", als bewundernswert! Wäre ihm so was eingefallen, hätte er sich das Etikett "bekloppter Sonderling" gleich selbst klöppeln und antackern können! "Kannst du mal den Teppich zurückrollen, ja? Ich stell den Hocker hierhin." "Ich muss total neben der Kapp sein." Murmelte Pao-Ye. Wirklich, wie irre musste man sein, um sich in diesem Wolkenkuckucksheim einem der Bewohner anzuvertrauen, der auch noch mit scharfem Werkzeug hantierte?! ~*#*~ Gabriel ließ sich von gar nichts beeindrucken, nicht von Pao-Yes grimmig-schicksalsergeben-fatalistischer Kauerhaltung auf dem Klapphocker oder dessen Gebrummel ob der kreativen Lösungen zu altbekannten Problemen. Den Frisierkittel gab ein altes Regencape ohne Kapuze. Zum Auffangen des Schnittguts wurde ein ausrangierter Hula-Hoop-Reifen genutzt, an den man in passenden Abständen Zipfel des Capes mit Wäscheklammern klemmte. Dazu musste man ein wenig Geschick beweisen, der Querschnitt des Reifens überstieg die Spannweite der Wäscheklammerfederung. Es hieß auch, immer schön den Reifen auszubalancieren, damit die frisierende, schneidende, rasierende Person nahe genug herankam. Ohne Brille und Schlimmstes befürchtend senkte Pao-Ye einfach die Lider. Horror und vollständige Entstellung standen zu erwarten. Andererseits gipfelte der Höhepunkt seines Geburtstags darin, allein dem Abriss einer Bauruine zuzusehen, mit einem Teelicht und halbwegs ethisch korrektem Knabberkram. Trist bis absolut finster. Da konnte man schon mal rein aus Trotz ignorieren, welche Folgen Impulsentscheidungen zeitigen würden. Zu seiner Überraschung plapperte Gabriel nicht munter vor sich hin, sondern kämmte hier und da, säbelte, warf schließlich mit Verlängerungskabel einen alten Rasierapparat an, der mit Aufsatz für den angesagten Undercut sorgte. »Ich werde wahrscheinlich das ganze nächste Jahr mit einer Papptüte über dem Kopf herumlaufen.« Vermutete Pao-Ye pessimistisch. ANDERS würde er garantiert aussehen. Gabriel wischte mit einem Tuch auch über sein Gesicht, operierte mit der Reifen-Cape-Kombination. "Bei einem Schaf hättest du jetzt Material für diese komische Hakennadel." Grummelte Pao-Ye. Hinter ihm lachte Gabriel gut gelaunt. "So viel ist es ja auch nicht. Nur noch einen Moment Geduld!" "Ich kann kaum an mich halten." Ätzte Pao-Ye zitronig. Das machte wie gewohnt auf Gabriel keinen Eindruck. Der glitt um ihn herum, setzte ihm behutsam die Brille auf den Nasenrücken, offerierte einen Handspiegel. Am Stiel, auf der Rückseite mit einem Blumenfresko verziert. Pao-Ye blinzelte, drehte den Kopf, wechselte sogar den Handspiegel von rechts nach links und zurück. Unglaublich. Er sah cool aus! Ein bisschen Punk, etwas Rock und ein wenig Glamour! Die gekürzten Seitenpartien ließen sein flächiges Gesicht schmaler wirken. Ohne den dämlichen Seitenscheitel fielen die langen Strähnen gestuft wie ein Hahnenkamm in seine Stirn bis fast zur Nasenwurzel. Am hinteren Wirbel umgekehrt erreichten sie die oberen Knorpel der Wirbelsäule. "Schon anders, oder?" Gabriel grinste schelmisch. Pao-Ye, noch sitzend, starrte zu ihm hoch. "Wie~wie hast du das gemacht?!" Es war heraus, bevor er darüber nachdenken konnte. Wie konnte dieser Typ, der ihn doch gar nicht kannte, etwas ans Licht bringen, das Pao-Ye vergeblich gesucht hatte?! "Na, mit Schere, Kamm und Rasierer!" Zwinkerte der ihm spitzbübisch zu. "Und, was gehen wir als Nächstes an? Sex, Drugs und Rock'n Roll?" ~*#*~ "Spinnst du?!" Pao-Ye kam vom Klapphocker hoch. "Schön, das mit den Drugs muss ausfallen." Gabriel sortierte das Frisierwerkzeug, die Wäscheklammern und den Hula-Hoop-Reifen, während das Schnippelgut im Cape zusammensackte. "Alkohol ist eher nicht so mein Fall. Drogen sind hier im Haus tabu." "Was für eine Erleichterung!" Schnaubte Pao-Ye. "Magst du keinen Rock'n'Roll?" Erkundigte sich Gabriel unverändert hilfsbereit. "Wir haben bestimmt auch andere Musik im Kartenraum. Oder was im Kurbelradio gerade so auf Empfang ist." Pao-Ye entschied, ekelhaft unausstehlich zu werden. "Wie wär's mit Metal oder Hardrock? Ich bin nämlich kein Spülweich-Fahrstuhl-Easy Listening-Streber!" Weil er ja bis vor wenigen Minuten mit Seitenscheitel und Alltagsbekleidung nach bürgerlich-konservativ-heimatlich aussah! "Okidoki! Da lässt sich bestimmt was machen!" Versprach Gabriel unbeeindruckt, verabsentierte sich nach getanem Werk. Für das sich Pao-Ye nicht mal bedankt hatte. Der nun doch auf die Koje sackte (der Klapphocker ging ja wieder zurück), den Kopf in die Hände legte. Allerdings umsichtig, damit seine neue Frisur nicht ruiniert wurde. Was stellte er hier bloß an?! Überhaupt, warum gab sich der gar nicht "Hulk"-artige Gabriel solche Mühe?! Da war doch was faul! Niemand agierte einfach so nett! Gab es hier vielleicht eine versteckte Kamera?! Wollte man ihn mit kompromittierenden Aufnahmen erpressen?! Bevor er zu einem finalen Schluss kam, erschien Gabriel wieder, tatsächlich mit einem Radio, dessen Energie per Handkurbel zu erzeugen war. Er drückte es Pao-Ye in die Hände. "Am Besten suchst du nach Frequenzen, ja? Ich kenne mich bei Musik nicht so gut aus." Er pflanzte sich direkt neben ihn. Mangels Alternativen bediente Pao-Ye den Regler, lauschte in den Äther. "Ist vielleicht noch ein wenig früh, oder? Ich meine, für die Sender. Die bringen tagsüber eher die Hitparaden, oder?" Pao-Ye kurbelte, bis er tatsächlich einen Spartensender eingestellt hatte. Die Qualität nahm sich nicht besonders aus, allerdings wollte er ja auch nicht die gesamte Villa Kunterbunt beschallen! "Wenn du Metal magst, brauchst du wohl doch Extensions." Behauptete Gabriel frech. Pao-Ye winkte lässig ab. "Lange Haare sind längst kein Muss mehr! Das ist ein Klischee von gestern! Die Einstellung zählt, die inneren Werte!" Außerdem war es diskriminierend, Personen mit mangelndem, schütterem oder anderweitig ungeeignetem Haupthaar auszuschließen! "Darüber hinaus wärst du ja wohl auch beleidigt, wenn man dich als Hippie einstufen würde, oder, Rapunzel?!" Versetzte er gehässig. Gabriel warf ihm einen überraschten Blick zu. "Hippie? Ich? Echt? Komisch, das hat mir noch niemand gesagt." Entweder WAR er ein begnadeter Schauspieler, oder...! Pao-Ye musste vor so viel Unbekümmertheit die Waffen strecken. Neben ihm grübelte Gabriel. "Denkst du, ich sollte sie abschneiden und spenden? Allerdings habe ich gehört, dass sie lieber dicke, glatte Haare nehmen, weil man die besser verarbeiten kann." Aus Verlegenheit keilte Pao-Ye aus. "Findet CHARLIE nicht, dass du tussig aussiehst mit der Mähne?!" Gabriel studierte ihn verblüfft. "Also, gesagt hat sie mir so was nie. Ich bin aber auch noch nie für ein Mädchen gehalten worden." Pao-Ye schnaubte aufgebracht. "Kannst du VIELLEICHT mal aufhören, so nett zu sein, ja?! Kapierst du nicht, dass ich meine miese Laune an dir auslasse?!" Nun tanzte wieder ein Funken in den grünen Augen, prägten sich feine Linien um die Mundwinkel. "Sorry, irgendwie bin ich reflexartig nett. Wenn wir jetzt Sex haben, hebt sich bestimmt auch deine Laune!" ~*#*~ Kapitel 4 - Perspektiven oder Abgründe?! Pao-Ye starrte Gabriel fassungslos an. "Sex haben?! Spinnst du?!" Gabriel lächelte unangestrengt. "Rock aus dem Radio, Sex auf dem Bett, das sind zwei von dreien! Keine schlechte Quote, richtig?" Absoluter Meisen-Schaden! Gar kein Zweifel möglich! "Warum sollte ich mit dir Sex haben?!" Explodierte Pao-Ye trotz der Diagnose. "Ich bin verfügbar, willig, stubenrein, kein Überträger der Maul- und Klauenseuche..." Begann Gabriel, an den Fingern abzuzählen. "Die befällt Menschen gar nicht!" Warf Pao-Ye unhöflich ein. "Siehst du, das spricht ja gerade für mich!" Triumphierte Gabriel sonnigen Gemüts. "Ist ja grandios! Dir ist natürlich auch alles recht, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist!" Fauchte Pao-Ye, dem das zweite Schild am Eingang ins Gedächtnis kam. "Oh, das wäre übertrieben." Schmunzelte Gabriel souverän. "Erinnere dich mal, an wie vielen Personen wir vorbeigegangen bin, die ich NICHT in sexuelle Aktivitäten verwickelt habe." "Aber bei mir kennst du keine Skrupel, oder wie?!" Pao-Ye konnte nicht glauben, dass er sich auf diese lächerliche Konversation einließ, anstatt einfach zu gehen! Aber er tat es. Was verrückt und beunruhigend war! Gabriel kicherte neckend. "Aha, du bist also ein Romantiker, hm? Ist ja auch ein optimistischer Gedanke, auf die große Liebe zu warten." "Unsinn! An so einen verquasten Quark glaube ich nicht!" Donnerte Pao-Ye grimmig zurück. Sex nur aus Liebe, haha, so ein Naivling war er ja nun wirklich nicht! "Es ist eben eine gewisse Tradition, die Sache mit den zwei getrennten Hälften." Ergänzte Gabriel verständnisvoll die Vorstellung, die Pao-Ye brüsk von sich gewiesen hatte. "Vollkommener Quatsch! Halbe Eier rollen nicht, wissen alle! Von wegen fehlende Hälfte! Mumpitz!" Pao-Ye jedenfalls hatte keine Geduld mit solchen Phantastereien. Darin ähnelte er seiner Mutter sehr, es herrschte zwischen ihnen ausnahmsweise mal Einigkeit. "So in der Konsequenz auch ziemlich harte Kost, oder? Wenn man sich da verpasst." "Schlicht und ergreifend lebensfremd! Ich bin kein Romantik-Schmalzbubi ohne Verstand!" Beharrte Pao-Ye ärgerlich. Das entsprach typischerweise dem dämlichen Klischee: schlaue Streber, gleichzeitig dümmliche Naivlinge! Wie sollte das zusammenpassen?! Als ob logisches Denken urplötzlich versagte, wenn es um einen nachrangigen Trieb ging! "Fein! Spricht ja nichts dagegen." "Wogegen?!" "Sex." "Hörst du nicht zu?! Kommt gar nicht in Frage! Ich kenne dich ja nicht mal!" "Dem lässt sich fix abhelfen! Was magst du wissen? Frag mich ruhig, nur keine Scheu!" "Warum sollte ich?!" "Ah, also, da waren wir schon mal angekommen, erinnerst du dich? Fähig, willig, verfügbar, stubenrein..." "Nicht zu vergessen barmherzig, allzeit bereit, ganz selbstloser Held, der sich furchtlos in die Bresche wirft!" Ergänzte Pao-Ye ätzend. "Fast richtig, stimmt! Gut erkannt! Bloß, so ganz selbstlos ist das ja nicht, ich meine, ich hab ja auch was davon." Pao-Ye widerstand tapfer der Versuchung, zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit körperliche Gewalt auszuüben. Gabriel bürstete ihn SO gegen das Fell, dass förmlich elektrische Funken flogen! "Das ist nichts weiter als ein albernes Klischee! Süße 16 und weg mit der Unschuld, rein in die Kiste!" Fauchte Pao-Ye, trotzig die Arme vor der Brust gekreuzt, die Unterlippe vorgeschoben. Ehrlich, wer orientierte sich an so einem MIST?! "Hm, da ist was dran." Grübelte Gabriel versonnen. "Klar, das ist schon eine große Hürde. Wir können auch mit Küssen einsteigen!" "Ich soll dich küssen?!" Reflexartig wandte Pao-Ye den Kopf, bot nicht mehr sein betont entschiedenes Profil. "Ich würde dich auch küssen, also gleichzeitig. Gegenseitig, weißt du?" Fie grünen Augen glitzerten vor verschmitztem Schalk. "Wieso?! Wir sind beide Jungs!" Leichte Linien prägten sich um den stets zu einem Lächeln aufgelegten Mund. "Das ist richtig, zumindest würde ich das ohne eingehende Prüfung auch annehmen, also, dass wir Jungs sind. Andererseits ist das beim Küssen nicht so wichtig. Da zählen die inneren Qualitäten." Pao-Ye schnaubte mit geballten Fäusten. "Ah ja, Herpes, Karies, Maulfäule, entzündete Mandeln, Skorbut! DIESE Qualitäten?!" Gabriel kicherte. "Wow, hast du das alles zu bieten? Ehrlich?" "Nein!" Polterte Pao-Ye wie erwartet, funkelte zornig in die grünen Augen. "Aber du vielleicht! Wer garantiert mir, dass mir nicht alle Zähne rausfallen?!" Gabriel nickte verständnisvoll. "Ja, also, garantieren kann ich das nicht, obwohl ich kein SO LAUSIGER Küsser bin. Weißt du was?! Wir benutzen vorher Zahnpasta und eine Mundspülung! Saubere Sache, Problem gelöst." Pao-Ye starrte Gabriel fassungslos an. "Wieso willst du mich küssen?!" Darüber kam er einfach nicht hinweg. Nicht mal er selbst verspürte das Verlangen, sich zu küssen (auch wenn das gar nicht möglich war)! Gabriel grübelte einen Augenblick, bevor er antwortete. "Hm, ich will einfach wissen, wie das so ist. Ich stell's mir schön vor. Also, warum nicht?" Pao-Ye klappte die Kinnlade Richtung Schoß. Voll-Meisen-Schaden! ~*#*~ "Was soll daran schön sein?! Ich schmecke bestimmt gar nicht! Und ich habe einen kantigen Backenzahn, der richtig scharf ist!" Pao-Ye bemühte sich um Argumente. "Oh, du denkst gleich an Zungenküsse! Sehr fortschrittlich, keine halben Sachen!" Lobte Gabriel, zwinkerte amüsiert. Prompt spürte Pao-Ye, wie ihm Blut in den Kopf stieg. Andere hätten jetzt einem Feuermelder geähnelt, ihm sah man diesen Zustand höchster Not nicht an. Dickfellig eben, äußerlich zumindest! "Du wolltest bloß einen Schmatzer?! Wie bei nem Seehund?!" Gabriel grinste. "Vielleicht nicht ganz so feucht und ohne den Fisch. Grundsätzlich stehe ich auch für eingehende Explorationen zur Verfügung." Pao-Ye ballte die Fäuste. "Du tickst ja nicht richtig! Ist es SO lustig, mich lächerlich zu machen, ja?! Das ist PRIMITIV!" Gabriel starrte ihn ungläubig an. "Ich mache mich nicht über dich lustig. Ich möchte dich küssen. Es wäre doch schade, wenn's dir nicht gefällt! Heute ist immerhin dein Geburtstag, da sollte es viele schöne Erlebnisse geben, nicht wahr?" DAS, fand Pao-Ye, war richtig HEIMTÜCKISCH! Weil Gabriel tatsächlich so aussah, als meine er jedes Wort ernst! Dabei klang das alles so spinnert kindlich und zuckersüß-poppig und...und! In großer Verlegenheit, darob vergrätzt, schnellte Pao-Ye vor, dippte einen trockenen Schmatz auf eine Wange. "Da, Kuss! Zufrieden?!" Ätzte er, stur geradeaus blickend. Gabriel lachte amüsiert. "Die Richtung ist schon mal richtig! Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass du keine Übung hast." Prompt schnellte Pao-Ye herum. "Was soll das heißen?! Hältst du mich etwa für übergriffig?!" "Griffig?" Gabriel deutete auf Pao-Yes erneut geballte Hände. "Schwierig, oder? Nein, ich habe mir vorgestellt, dass du gern auf die Wange küsst, wenn du dich bedankst, jemanden magst." Pao-Ye stierte ihn an. Wie kam Gabriel auf diese irre Idee?! "Ich küsse grundsätzlich niemanden einfach so auf die Wange, ja?! Bin doch kein Franzose!" "Das ist aber schade." Bekundete Gabriel unbeeindruckt. "Ich meine die Küsse auf die Wange. Ich finde das eine ziemlich nette Geste. Wobei ich glaube, dass man in Frankreich die Küsse nur andeutet." Er seufzte leichthin. "Verschwendung, oder?" "Bestimmt nicht!" Konterte Pao-Ye entschieden. "Stell dir vor, du musst so irgendwelche raubärtigen Typen grüßen! Unrasiert, ungewaschen, total ungepflegt! IGITT!" Ihn schauderte reflexartig. "Das ist ein Argument." Pflichtete Gabriel ihm bei, beugte sich beiläufig herüber, küsste Pao-Ye auf die Wange. "He!" "Hm?" "Du kannst mich doch nicht einfach küssen!" "Richtig!" Bevor Pao-Ye in Deckung gehen konnte, landete ein zweiter Kuss auf seiner Wange. Dabei grinste Gabriel verschmitzt. Die grünen Augen funkelten. »Das ist ja wie im Kindergarten!« Empörte sich Pao-Ye in Gedanken, obwohl er da nie zu den "Verfolgten" gehörte, die abgeschmatzt wurden. Was ging bloß in diesem Bekloppten vor?! Pao-Ye bekannte verärgert vor sich selbst, dass er aus Gabriel einfach nicht schlau wurde. Der ihn gerade belustigt betrachtete. Um eilig abzulenken, zupfte Pao-Ye an einem Lockenstrang. "Kannst du die mal vorführen?" "Klar!" Gabriel griff in den Nacken, streifte sich einen recht ausgeleierten, altmodischen Haargummi über das Handgelenk. "Schütteln!" Kommandierte Pao-Ye. "Halbe Kehre! Rotation! Pommesgabel!" Brav kam Gabriel mit großem Schwung den Befehlen nach, ließ seine Lockenmähne durch die Luft fliegen. Metal-Anhänger wären durchaus beeindruckt gewesen. "Aua!" Seufzte er jedoch, rieb sich den Nacken, grinste schief. "Schätze, ich muss das üben." Pao-Ye staunte über die wollige Pracht. "Als sie kürzer waren, sah ich aus wie eine Pusteblume." Gabriel ließ sich wieder neben ihm nieder, rollte die Schultern. Dabei grinste er entwaffnend. Neben ihm kniete Pao-Ye sich auf die Matratze, massierte das lädierte Genick. Er kämmte die dicken Lockenstränge rechts und links über die Schultern nach vorne. "Also, damit kannst du noch nicht auftreten." Konstatierte er frech, drückte die Daumen an den Wirbeln entlang. "Ja, da hast du wohl recht." Pflichtete Gabriel ihm bei. Beinahe ein wenig bedauernd fasste Pao-Ye die Locken zusammen, brachte den Haargummi zum Einsatz. "Die sind schon toll." "Ich weiß." Das klang sehr naseweis, hätte zu einem strengen Tadel führen müssen. Gabriel wandte sich jedoch halb zu ihm herum, zwinkerte. "Das höre ich nämlich dauernd. Andererseits ist es ein guter Gesprächseinstieg nach dem Wetter." Pao-Ye schnaubte. Er setzte sich wieder artig hin, die Füße nebeneinander gestellt, zollstockgerade. Gabriel küsste ihn erneut auf die Wange. Sanft, warm. Kein blöder Schickimicki-Schmatzer. "Warum gibst du dir solche Mühe mit mir?" Pao-Ye starrte konzentriert auf seine Hände, die brav auf seinen Oberschenkeln lagen. "Das ist keine Mühe. Ich mag dich." "Einfach so?! Nicht mal ich mag mich ohne größere Anstrengungen." "Das ist schade. Ich finde, wir sollten das ändern." "Ach ja? Wie denn?! Zufällig kenne ich mich sehr viel länger als du mich!" Gabriel lachte neben ihm. "Vielleicht bist du ein klein wenig betriebsblind? Das kann schon mal passieren." Pao-Ye schnaubte mal wieder, drehte sich zu Gabriel um. "Du klingst wirklich wie ein Hippie..." Weiter kam er nicht, weil Gabriel, das Haupt gekonnt gekippt, einen Kuss platzierte. Auf Pao-Yes Lippen. ~*#*~ Die Welt ging nicht unter. Pao-Ye blieb nicht das Herz stehen. Er registrierte eine erstaunliche Hitze auf seinem halb geöffneten Mund, grüne Augen, die ihn musterten, während feine Linien das Lächeln akzentuierten. Gabriel hatte ihn geküsst. Nicht mit der grüßend-freundschaftlich-harmlosen Variante. Man sollte detonieren, ganz Klischee dunkelrot anlaufen, Hand hochreißen, zurückschrecken, Entsetzen proklamieren! »Quatsch!« Dachte eine entschlossene Stimme in Pao-Yes Hinterkopf. Es war ein Kuss, Hysterie nicht angezeigt und im Übrigen nicht die geringste Beschwerde vorzubringen. Gabriel lächelte. Pao-Ye blinzelte. "Bist du sicher?" Eine dumme Frage, aber sie wollte einfach raus, ihn ein wenig blamieren. Damit er nicht aus der Übung kam, selbstverständlich. Das verschmitzte Schmunzeln vertiefte sich, während Gabriel ihm über eine Schläfe strich. Er musste gar nichts sagen. Pao-Ye wich nicht zurück, als Gabriel einen zweiten Anlauf unternahm. Er presste auch nicht wie ein verklemmter, hasenfüßiger Vollidiot krampfhaft die Lippen aufeinander. ~*#*~ Gabriel verfügte über Erfahrung, glücklicherweise. So kam es auch nicht zu Katastrophen, beispielsweise aufgerissener Zunge an gefährlichem Backenzahn oder an zu viel Speichel verschlucken, Ohnmacht durch akuten Sauerstoffmangel. Er schmeckte nach gebrannten Mandeln, Popcorn, gesüßtem Instantkaffee und mehr. Irgendeinem brandgefährlichen Chemie-Cocktail, der SOFORT bei Pao-Ye den Kreislauf auf Touren brachte, die Synapsen beanspruchte, sein Immunsystem in Beschlag nahm. Ein Kampfstoff, gar kein Zweifel! Erstaunlicherweise alarmierte Pao-Ye diese Feststellung nicht im Geringsten, weil er schlichtweg anderweitig vollkommen okkupiert war. Erstens wollte er trotzig nicht zurückstecken, trotz mangelnder Erfahrung. Zweitens war er ja schon infiziert, da konnte er auch richtig ranklotzen! Drittens sagte ihm das ausgelöste Gefühl zu, ein Potpourri aus Herzklopfen, Pulsrasen, Euphorie, Panik, Abenteuerlust, Wettstreit und Kopflosigkeit. Etwas Unerhörtes, nie zuvor Gewagtes. Wenn er sich schon entschlossen hatte, kopfüber hinein und zum Teufel mit den Torpedos! ~*#*~ Irgendwann mussten sie in den "Kampfhandlungen" umgekippt sein. Pao-Ye fand sich auf dem Rücken, Gabriel an seiner Seite, mit einer Hand seine Schläfe kraulend. Ein Lächeln umspielte die polierten Lippen. Pao-Ye blinzelte, was an dem Bild nichts änderte: Gabriel wirkte zufrieden, mit sich im Reinen. Pao-Ye wusste sich keinen Grund, warum ER in Klischees verfallen sollte. Da hatten sie eben eine ausgedehnte Kuss-Session abgehalten! Reue stahl sich ihm jedenfalls nicht ins Gewissen! "Gut, oder?" Gabriel zwinkerte. Pao-Ye studierte sein Gesicht. Definitiv Meisen-Horst unterm nicht vorhandenen Pony! Trotzdem nickte er, rückte ein wenig näher. "Darf ich?" Gestikulierte Gabriel sparsam nach Pao-Yes Brille, der wortlos sein Placet gab, sie abzupflücken, bei der Seemannstruhe abzulegen. Gabriel küsste ihn erneut, verlagerte seine Position ein wenig, was Pao-Ye ein Keuchen entlockte, Gabriel ein leises Lachen. "Nein, das ist kein Taschenmesser in meiner Hose." Bestätigte er neckend. "Wenn er etwas mag, steht er auf, macht Männchen." "Fühlt sich nicht nach Männ-CHEN an!" Stellte Pao-Ye etwas atemlos fest. Eher nach einem sehr soliden Steifen! Kichernd sackte Gabriel an seiner Seite zusammen. "So imposant bin ich dann doch nicht." Lächelte er Pao-Ye an, der eilig den Kopf wegdrehte, sich auf die Seite rollte. Es wäre eine lächerliche Lüge zu behaupten, dass das "Männchen" nicht einen Grußpartner hatte. Bloß. »Bloß bist du mal wieder ein Klischee-Idiot!« Hielt ihm die entschlossene Stimme im Hinterkopf vor. Der sich zierte, als hätte er noch nie einen erigierten Penis erlebt, wenn auch nur aus eigener Anschauung, zum Hausgebrauch! Gabriel rutschte ungeniert heran, löffelte, legte ihm einen Arm um die Taille. "Das war dein Ernst, oder? Das mit dem Sex." "HmHm." Pao-Ye spürte hinter seinem Ohrläppchen sehr warme Lippen. "Obwohl ich ein Junge bin?" Hinter ihm lachte Gabriel leise, unbeschwert. "Das steigert den Wiedererkennungswert, weißt du?" Man hätte aufbrausen müssen! Reichlich frech, oder?! Nur, und Pao-Ye registrierte eine wachsende Hilflosigkeit, Gabriel schien das alles aufrichtig zu meinen! Dass es nicht sonderlich bedeutsam war, wenn sich zwei XY-Chromosomenträger intim austauschten. Der schien darob keine Zweifel zu hegen. Pao-Ye blinzelte. "Können wir das Licht dämpfen?" ~*#*~ Gabriel drapierte über eine Solarblume ein buntes Tuch, was sein kleines Kämmerchen in ein warmes Zwielicht hüllte, streifte sich ganz selbstverständlich die Kleider vom Leib. Pao-Ye ohne Brille tat es ihm gleich, ächzte ein wenig. Ja, SEIN Grüß-August war auch zur Stelle, schien, unverschämterweise, erstaunlich euphorisch zu sein! Dabei konnte es ja nur schiefgehen. Zugegeben, selbst Hand anzulegen, das würde tadellos funktionierten. Fremde Hände, an denen noch ein ganzer Mensch hing?! Gabriel schien solche inszenatorischen Katastrophen nicht zu kontemplieren. Er breitete eine leichte Decke über ihnen aus, übte mit Pao-Ye Küssen, verlustierte sich durchaus südwärts, nicht nur oral. Pao-Ye blinzelte in das Zwielicht, registrierte eine verblüffende Hitze und den Umstand, dass ihm die Situation kein Unbehagen bereitete. Ganz im Gegenteil. Eigentlich hatte er sich als eine Person eingestuft, die auf Körperkontakt nicht sonderlich begeistert ansprang, die es nicht goutierte, unaufgefordert angefasst, gedrückt oder umarmt zu werden. Gabriel hingegen verflocht spielerisch ihre Finger miteinander, hauchte ihm provozierend auf das Schlüsselbein oder in den Nacken! Saugte wie ein Blubberfisch Haut an, kicherte amüsiert, wenn Pao-Ye protestierte. Dabei agierte er nicht grob oder gar herabsetzend, sondern so, wie er sich selbst vorgestellt hatte: neugierig, aufgeschlossen, gutwillig. Pao-Ye gab sein Bestes, die Herausforderungen zu erwidern. Ein bisschen albern verhielten sie sich schon, das musste man wohl eingestehen! Gabriels unerschütterlich gute Laune kontaminierte quasi die gesamte Atmosphäre! Wie sollte man da konzentriert und zielgerichtet die Sache zum Abschuss...Abschluss bringen?! Außerdem küsste der Bursche ihn ständig! Kannte als Kerl die neuralgischen Stellen, wo es...uhmmmm....besonders gut tat! Wenn jemand beherzt zugriff. ~*#*~ Man hätte ja was sagen müssen, weil jemand sich längs bequem auf der eigenen Figur eingerichtet hatte, zufrieden vor sich hin summte! Pao-Ye zwirbelte Locken um die eigenen Finger. All das Getue vorneweg: blödsinnig. Jetzt, nach dem ersten intimen Austausch in Gesellschaft, fand er das ganze Brimborium albern, fühlte eine gewisse Enttäuschung in sich aufsteigen. "Nicht so dein Fall?" Gabriel kuschelte. "Ich weiß nicht." Stellte Pao-Ye verwirrt fest. Natürlich hatte es sich gut angefühlt, der Salut war verschossen worden, das Soll erfüllt. Trotzdem... "Ist jetzt nicht so, dass ich Feuerwerke, Erdbeben oder sonst was erwartet hätte." Knurrte er halblaut, an sich selbst gerichtet. Aber er fühlte sich hohl. "Das tritt, glaube ich, auch eher selten auf." In Gabriels Stimme schwang hörbar ein Lächeln. Er setzte sich auf. "Was kann ich tun, hm? Es ist dein Geburtstag, du kannst dir was wünschen." Pao-Ye grübelte angestrengt. "Du hast das nicht zum ersten Mal gemacht, oder?" "Nein." "Auch nicht mit einem Typen?" "Stimmt." "Was ist aus ihm geworden?" Pao-Ye dankte dem Zwielicht, dass er sich so unverschämt verhalten konnte. Gabriel löffelte, schmiegte sich an. "Wir haben uns getrennt. Er hatte Angst, dass seine Freundin was gemerkt hat." Es klang ruhig, ganz sachlich, doch Pao-Ye benötigte einige Augenblicke, sich zu sortieren. "Magst du ihn immer noch?" In seinem Nacken seufzte Gabriel leise. "Ich mag ihn noch, aber nicht mehr so wie früher." Pao-Ye verflocht ihre Finger miteinander. "Schätze, DU bist ein Romantiker." Murmelte er, bemüht forsch. Gabriel lachte leise, so, als könne ihn recht wenig betrüben. "Wirkt ein bisschen so, nicht wahr?" Warum verspürte Gabriel keine Verärgerung, keine Frustration?! Eine heimliche Beziehung, die einfach auf Verdacht endete?! "Hat dir das nichts ausgemacht?! Wieso bist du so gelassen?" Hakte Pao-Ye grimmig nach, rollte sich herum, sodass er Gabriel konfrontieren konnte, wenn auch nur vage, in der Dämmerung. Gabriel, den Kopf auf einem eingeklappten Arm abgelegt, strich ihm mit der anderen Hand durch die frisch coiffierten Stirnfransen. "Ich glaube nicht, dass man eine gute Beziehung erzwingen kann, weißt du? Wenn ich mich nur darauf konzentriere, traurig zu sein, verpasse ich viele Gelegenheiten, glücklich zu sein. Außerdem sagen mir Mama und Roddy, dass man im Leben vielen Menschen begegnet, die man sehr mögen kann. Wäre doch schade, sich selbst so ein Bein zu stellen, oder?" Der letzte Satz klang derart verschmitzt, dass Pao-Ye laut knurrte. "Du bist wirklich ein Spinner!" Gabriel lachte, dippte ihm einen Kuss auf die Lippen. "Also, was kann ich tun, hm? Was würde dir gefallen?" Pao-Ye ahnte das muntere Gesicht eher, als dass er es genau erkennen konnte. Er wandte eilig den Kopf zur Seite. "Irgendwie fühle ich mich hohl." Bekannte er grimmig. Gabriel rückte näher, streichelte ihm über die rasierten Schädelseiten. Pao-Ye ballte die Fäuste. "Sag mal, hast du auch mehr gemacht? Mit deinem Ex?" "Hab ich." Antwortete Gabriel ohne Zögern. Seine Courage zusammennehmend atmete Pao-Ye tief durch. Er hatte schließlich den gesamten Abend nur verrückte, unglaubliche, ungeheuerliche, ungebührliche Dinge getan, oder?! Da kam es auf ein Pfund nicht mehr an! JETZT wollte er sich auch Klarheit verschaffen, darüber, wer er wirklich war. "Würdest du das auch mit mir machen?" ~*#*~ Gabriel würde. Wollte. Tat. Ganz unangestrengt. Klar, mit Erfahrung näherte man sich eben nicht beinahe dem Herztod vor Aufregung an! Pao-Ye konnte ihm auch nicht ungerecht zürnen, weil Gabriels Ungezwungenheit nicht aufgesetzt war. Der barg aus zwei aufgehängten Socken Kondome und eine Tube Gleitgel, als wäre es keineswegs bemerkenswert, diese Utensilien zur Hand zu haben. In seinen Gesten spürte Pao-Ye das muntere Lächeln, ließ sich küssen und liebkosen. Die Dämmerung und die leichte Decke halfen natürlich. Man fühlte sich nicht gleich so unvorteilhaft exponiert! Auch der Umstand, dass Gabriel nicht zögerte, keine Zweifel zu hegen schien. Pao-Ye hatte selbstredend eine Vorstellung davon, welche technischen Vorgänge er initiiert hatte, theoretisch. Praktisch konnte er, auf allen Vieren, eigentlich nur auf glückliches Geschick hoffen. Verblüffender Weise erhörte es ihn. Er mochte diesen aufreizenden, reibenden Kontakt, schwang ganz selbsttätig die Hüften, musste die Zunge hart gegen den Gaumen pressen, um nicht vor Lust aufzustöhnen. Finger waren nicht genug. Gabriel, der ihn immer wieder in den Nacken küsste, entlang des Rückgrats, explorierte den Gemütszustand. "Gut?" "Hm!" "Mehr?" "HmHM!" Aus Pao-Yes gewohnter Katastrophenerwartung verabschiedete sich längst Selbstreflexion oder schamhafte Überlegungen zu Lautstärke und "Performance". Beinahe boshaft registrierte er Gabriels Luftringen, als er dessen Penis in seinem Muskelring einkerkerte, richtig Schwung aufnahm. Er wollte schlicht mehr! Noch nicht genug, noch nicht befriedigend! Tiefer, stärker! Pao-Ye ließ die bewussten Zügel schleifen. Offenkundig wussten sein Körper und sein Reptiliengehirn EXAKT, was sie wollten. Also, Experten ans Werk! ~*#*~ Pao-Ye kopierte den Plattfisch (ohne die versetzten Augen). Den Kopf zur Seite gewandt, weil man durch ein Kissen nicht atmen konnte. Er HATTE sein Feuerwerk bekommen, elektrisierte Nervenstränge durch den gesamten Körper, bis in die entlegensten Ausläufer. Sex schien ihm vorher eher schweißtreibend, anstrengend, würdelos, animalisch, jedoch ohne die zugehörige Eleganz und Geschmeidigkeit. JETZT kümmerte ihn die Außenwahrnehmung keinen Millimeter! Besser als ein hartes Tischtennis-Training! Durchgängig erhitzt, ganz sicher nicht mehr "hohl"! Nein, eher Kategorie Sauna, heiß, aber keine klebrig hohe Luftfeuchtigkeit und eben das prickelnde Feuerwerk in jedem einzelnen Nervenstrang. Gabriel schmiegte sich an seine Seite. Ein Kuss dampfte in seinem Nacken. "Gut?" "Hm." "Nicht mehr hohl?" "Hm!" "Schmerzen?" Pao-Ye, der NICHT sein Wohlgefühl kohärenten Gedanken opfern wollte, rollte herum. Die Quizstunde würde weitergehen, wenn er nicht etwas unternahm. Beispielsweise seinen Partner in crime in eine enge Umarmung zu ziehen und "pscht!" zu gebieten. ~*#*~ Kapitel 5 - Die Katze ist aus dem Sack Nach diskreten Hygienearbeiten (bei denen sich Pao-Ye ungeniert verführerisch vorkam, auf dem Laken mit gespreizten Beinen aalend), kuschelten sie in der Dämmerung. Das hätte eigentlich Anlass zur Verwunderung geboten, zumindest für Pao-Ye. Sowas sollte ihm ja lästig sein, oder? Zusätzliches Gewicht, fremder Schweiß, kantige Knochen. Er kraulte einfach weiter durch die prachtvollen Locken, während Gabriel ihn hin und wieder küsste, leichthin, zärtlich, nicht herausfordernd. Wirklich, was für ein verrückter Geburtstag! Pao-Ye verspürte weniger Panik als eine ungenierte Genugtuung. Hatte er sich nicht immer selbst verachtet für seine feige Passivität, auf eigene Erleuchtung zu warten, wer tatsächlich hinter dem halbchinesischen Streber-Klischee steckte? Jetzt hatte er einen Strauß an Antworten zu bieten! "Pao-Ye?" "Hm?" "Es geht auf Zehn zu. Willst du daheim Bescheid sagen?" Gabriel. Trotz Meisen-Horst vernünftig und aufmerksam. Pao-Ye seufzte grummelig. "Ich kann dich auch nach Hause begleiten?" Ein Kuss akkompagnierte diesen gutmütigen Vorschlag. Widerstrebend gab Pao-Ye die Lockenmähne frei. "Da muss ich mich wohl aufsetzen." Stellte er knurrend fest. Gabriel lachte leise, rollte zur Seite, richtete sich geschmeidig auf. "Wenn du ungestört sprechen willst..." "Pah!" Kopierte Pao-Ye spontan Charlie und Yann, die streitbaren Geschwister. Er schraubte sich die aufmerksam gereichte Brille auf den Nasenrücken, fahndete nach seinem verschmähten Mobiltelefon. Mit ein wenig Glück ging sein Vater an den Festnetzanschluss. "Ja, ich bin's. Bei Gabriel, du erinnerst dich? Genau. Wir haben gefeiert. Jetzt darf ich hier übernachten. Nein, ich störe nicht. Ja, richte ich aus. Hm, der Rucksack ist schon gepackt. Genau, direkt vor der Schule. Nein, ich bin pünktlich. Ja, ich habe die Vollmacht schon verstaut. Nein, ich vergesse den Termin nicht. Gute Nacht, Papa." Er beendete den Anruf, fand sein Handgelenk rasch umschlossen. "Augenblick, ja? Lass uns die Nummern austauschen, ist doch gerade eine günstige Gelegenheit!" Gabriel präsentierte sein betagtes Gerät aus dem Waschlappen, zwinkerte Pao-Ye zu. "Hast du tatsächlich schon alles für morgen gepackt? Deine Hausaufgaben erledigt?" Pao-Ye, die Solarblume freigelegt, warf ihm einen grollenden Blick zu. "Ja, dieser blöde Streber erledigt erst brav seine Aufgaben und packt, bevor er zur Baustelle aufbricht, um dort zu feiern!" Es stellte sich ein weiterer Gedanke ein, der ihn beschämt den Blick abwenden ließ. "Du bist wohl zu nichts gekommen, oder? Das tut mir leid..." "Ach was!" Gabriel küsste ihn aufmunternd auf die Wange. "Ich schaff das schon! Sag mal, wollen wir uns frisch machen und in die Kombüse gucken?" Pao-Ye, aus der Verlegenheit für sein egozentrisches Gebaren gerissen, lupfte die Augenbrauen fragend. "Störe ich da nicht?" Ein Gedanke, der ihm reichlich spät kam, das musste man zugeben. "Iwo!" Die grünen Augen funkelten fröhlich. "Ich bin neugierig, wie es dir gefällt!" ~*#*~ Die Wegweiser im Treppenhaus hatten es schon angedeutet. Wieder in seine Kleider geschlüpft, auf Filzschlappen an Gabriels Hand geführt, durfte Pao-Ye das seltsame Haus näher erkunden. Über der Küche, die im Halbsouterrain gelegen war, hatte man den Wassersträngen folgend die Nassräume eingerichtet, Toiletten pro Geschoss getrennt. Hier im komplett bis zwei Handbreit unter die Decke kreativ gefliesten Waschraum reihten sich vorne Kulturbeutel auf einem Sims. Handtücher leisteten sich längs der beiden großen Waschbecken Gesellschaft. Davon abgeteilt warteten zwei gemauerte Duschkabinen, groß genug auch für Bewegungseingeschränkte. Statt Duschvorhängen gab es Schwingtüren, Segeltuchstoff auf entsprechende Rahmen gezogen. Auf gesprungenen Fliesen klebten jede Menge Seegetier und Pflanzenbilder. Alles wirkte bunt und verspielt. Gabriel klappte zwei Auflagebretter herunter. "Für die Kleider." Erläuterte er. "Da ist der Wasserkessel, quasi ein Boiler. Man misst das Wasser ab, erhitzt es hier. Über den Hahn läuft es runter." Pao-Ye runzelte die Stirn. Vage erinnerte er sich an Gimmicks für den Campingbereich, Marke Felddusche. "Da hängt man den Beutel in die Dusche. Das heiße Wasser mischt sich mit dem kalten. Sparsamer Wasser- und Energieverbrauch." Gabriel lächelte herausfordernd. "Ich kann dir assistieren. Oder wir duschen zusammen? Was meinst du?" Pao-Ye reckte das Kinn ein wenig höher. "Wenn wir schon sparen, dann richtig! Glaub bloß nicht, dass ich nur ein Luxus-Bübchen bin!" Gabriel lachte laut heraus, küsste ihn frech auf den Mund. "Ehrlich, mit dir habe ich richtig viel Spaß!" "Warte mal, bis ich richtig ANSTRENGEND werde!" Drohte Pao-Ye grollend, verlegen, weil er Gabriels spontane Äußerungen nicht einfach abtun konnte. ~*#*~ Die gemeinsame Dusche ließ sich erstaunlich harmonisch an. Vorher einseifen (ohne massig Schaum, da Aleppo-Seifenstück), anschmiegen und Wasser laufen lassen. Die Sack-Einlauf-Variante funktionierte tatsächlich, auch wenn man sich an die Tropfenbewässerungssysteme aus Gärtnereien erinnert fühlte. Gabriel, die Lockenstränge hochgesteckt, pflegte beste Laune. Er vertraute Pao-Ye an, dass sie auch ein Wannensitzbad hatten, nach japanischer Variante nur vorgesäubert zu benutzen. Drei Personen konnten sich dort gleichzeitig niederlassen, meist in Badebekleidung. Dazu heizte man mit speziellen Steinen das klare Wasser auf, die wiederum im Keller beim Ofen aufbewahrt wurden. "Man muss sich ein wenig vorsehen. Es klappt ziemlich gut. Das Brauchwasser wird für die Waschmaschine gesammelt." Pao-Ye, sein Leihhandtuch apportiert, folgte Gabriel in den "Maschinenraum" im Keller, wo man Wäsche aufzuhängen pflegte. "Ihr müsst einige sehr kreative Bastel-Begeisterte hier haben." Mutmaßte er. Gabriel grinste keck. "Zuversicht und einen Werkzeugkoffer, so lautet hier die Devise." Die Umstände erklärten zumindest einen Teil des Meisen-Horsts, befand Pao-Ye. Jedoch ohne Elan. Eigentlich empfand er das gesamte Haus als ein buntes, verrücktes, anheimelndes Abenteuer. Etwas, das es nur in Büchern oder Filmen gab. "Hier ist die Kombüse. Hmm, riecht noch lecker! Ich glaube, Mo hatte heute Küchendienst." Pao-Ye hatte Chaos erwartet, eine Art WG-Albtraum aus Schmutzgeschirrbergen und aggressiver Bakterienzucht. In dieser Küche herrschte Ordnung. Schraubgläser reihten sich in offenen Regalen. Auf einem alten Ofen standen mobile Induktionskochplatten. Geschirrhandtücher flaggten an einem hochgezogenen Rahmen. Auf dem langen Tisch strahlte ein Blumenstrauß, umringt von unterschiedlichen Stühlen und Hockern. Kissen stapelten auf einer Kiste. In Körben konnte man weitere Vorräte vermuten. Ein doppeltüriger Kühlschrank brummte leise vor sich hin. Gabriel prüfte zwei gewaltige Pumpkannen auf Reste. "Kaffee ist keiner mehr da, aber hier ist noch heißes Wasser für Tee." Er wählte aus einem alten Schrank Becher, tippte auf eine Reihe von Blechdosen. "Such dir eine Mischung aus, ja? Ich schau mal in die Kochkiste." Die sich unter den Sitzkissen verbarg. "Was ist das?" Pao-Ye, der sich für eine Minz-Mischung entschieden hatte, beäugte die Konstruktion. "Darin kann man Speisen warm halten. Wenn etwas übrig ist, räumen wir die Töpfe hier mit dicken Tüchern eingepackt rein." Zwei Schüsseln später löffelte Gabriel eine Mischung aus Getreidekörnern und buntem Gemüse aus einem Topf. "Ich esse nur pflanzliche Produkte." Stellte Pao-Ye leise fest. Gabriel zwinkerte. "Das passt schon, keine Sorge. Wir sind hier zwar ein gemischter Haufen, aber die Basis berücksichtigt das." Er gestikulierte zu einem großen Kasten. "Schaust du mal, ob noch etwas Brot da ist?" Einige Augenblicke später lagerten sie bequem in der großen Wohnküche, kauten genüsslich. "Die anderen sind, wenn sie nicht schon schlafen, bestimmt im Kartenraum. Das ist so was wie unser Wohnzimmer." Pao-Ye nippte an seinem Tee. Entgegen seiner Erwartung schmeckte er nicht beißende Pfefferminze, sondern eine fast zitronig-leichte Note. Kurios. Die gewaltige Katze, Salome, schritt gemächlich hinein. Gabriel fasste sie unter, hob sie auf seinen Schoß, kraulte sie, während er einhändig seine Mahlzeit fortsetzte. "Ich hab schon gehört, dass du dir immer dein eigenes Essen mitbringst." Nahm er den Faden wieder auf. "Kannst du gut kochen?" Pao-Ye zögerte, lupfte die Schultern in einer vagen Ausweichbewegung. "Ich bin nicht gerade ein Koch. Das Essen in der Schulkantine ist nicht vegan, also muss ich das selbst in die Hand nehmen." "Finde ich prima!" Bekundete Gabriel, zwinkerte. "Wir haben reihum Küchendienst. Ich brauche immer jemanden, der mir auf die Finger guckt. So ein intuitives Gespür habe ich nicht. Dafür bin ich aber sehr fix beim Aufräumen und Abspülen." Pao-Ye seufzte unwillkürlich. "Was ist?" Gabriel warf ihm einen verwunderten Blick zu. "Alles!" Bekundete Pao-Ye, hob sogar theatralisch die Arme an, bevor er sie herabfallen ließ. "Wieso ist alles hier so einfach?! Ich muss mich nicht rechtfertigen, nicht diskutieren, nicht kreativ Tatsachen tarnen!" Erneut lachte Gabriel amüsiert auf, nicht spöttisch, nicht boshaft, nicht verurteilend. "Sag nur, du vermisst das? Das könnte ein wenig schwierig sein." Pao-Ye langte über die Distanz, klemmte Gabriels Nasenspitze zwischen seine Finger. "Klugscheißer!" Gabriel grinste. Seufzend gab Pao-Ye sich geschlagen, lächelte schief. "Das ist wohl der verrückteste Geburtstag aller Zeiten!" ~*#*~ Pao-Ye durfte auf einem seltsamen Pflanzenstängel zwecks Zahnreinigung herumkauen. Gabriel lieh ihm T-Shirt und Jogginghosen. Der Wecker wurde eingestellt und aufgezogen, sehr analog. "Außerdem hab ich Hettie eine Nachricht aufgeschrieben." Erläuterte Gabriel leise, kuschelte sich an. "Sie schaut nach, wenn ich den Wecker nicht höre." Pao-Ye spielte mit den Locken in seiner Reichweite. Nur das kleine Dachfensterchen spendete ein wenig Zwielicht. "Du bist schon ein sehr merkwürdiger Vogel." Gabriel kicherte gedämpft. "Kommt das nicht auf die Voliere an?" Returnierte er naseweis. Pao-Ye konnte das nicht widerlegen. Allerdings stand ihm auch nicht der Sinn danach. Er rückte näher, küsste Gabriel auf die Lippen. "Danke. Danke für diesen unglaublichen Geburtstag." Gabriel strich ihm mit der freien Hand über die Schläfe. "Gern geschehen. Ich hatte heute jede Menge Spaß. Ein toller Tag." »Ja.« Dachte Pao-Ye, ließ sich bekuscheln. Auf eine geradezu einschüchternde Weise schien Gabriel über ein beeindruckendes seelisches Gleichgewicht zu verfügen. Sonst hätte all dies nicht funktionieren können. Pao-Ye lauschte auf Gabriels gleichmäßige Atemzüge. Er hatte heute unbestritten eine ganze Menge über sich selbst gelernt. Zu viel, um gleich alle Konsequenzen in den Fokus zu nehmen. Eins war unstrittig: gerade konnte er sich selbst ziemlich gut leiden! ~*#*~ Der Wecker rappelte engagiert, wenn auch sehr blechern los. Pao-Ye, die Wimpern verheddert, die Sicht verklebt, klappte erschrocken hoch. "Ah, Augenblick!" Gabriels warme Präsenz entfernte sich in halber Rolle. Das Getöse endete auch. Reibend versuchte Pao-Ye, ein Bild zu den Ereignissen zu bekommen. "Guten Morgen. Hier, deine Brille! Konntest du gut schlafen?" Ein Kuss landete fröhlich auf Pao-Yes warmer Wange. "Uh." Kommentierte er ausschweifend. "Ist das Steno für 'Guten Morgen, danke, prima'?" Erkundigte sich Gabriel lachend. Pao-Ye klatschte sich zweimal auf die Wangen, eine Angewohnheit, die er von seiner Mutter unbewusst aufgenommen hatte, blinzelte konzentriert. "Machen wir uns frisch und frühstücken?" Gabriel stand bereits, öffnete das Dachfenster, streifte sich seine Nachtwäsche ab. "Ich muss mich morgens erst mal sortieren." Bekannte Pao-Ye, rutschte Richtung Koje-Ausstieg, kam auf die Beine. Prompt wurde er eng umarmt. "Soll ich dich briefen? Oder erinnerst du dich noch?" Neckte Gabriel ihn verschmitzt. Pao-Ye, der sehr lebhafte Reminiszenzen an den Vortag in Zeitraffer durchlebte, seufzte. "Kannst du vielleicht einen Gang zurückschalten? Ich brauche erst ein Frühstück, um auf Betriebstemperatur zu kommen." "Klar, kein Problem! Ich helfe dir auch beim Umziehen, ja?" Bevor Pao-Ye Protest einlegen konnte, fand er sich in eine Runde Freistilringen für Untalentierte verwickelt. Er wurde die Stiegen herunterbugsiert, Waschraum, Toilette, Kombüse. Dort werkelte bereits eine alte Frau, wie eine Bäuerin gekleidet, Schürze, Kopftuch, dicke Wollsocken in Pantinen. "Guten Morgen, Hettie! Hettie, das ist Pao-Ye. Er hat mit mir gestern seinen Geburtstag gefeiert." Gabriel wurde entschlossen umarmt. Pao-Ye, leidlich auf der Höhe dank kaltem Wasser, unternahm Anstalten, höflich die Rechte auszustrecken, wurde jedoch ebenso innig wie Gabriel umschlungen. "Kalt draußen, kalt. Aber trocken. Magst Apfelmus auf den Brei?" "Prima Idee! Ich füll die Kannen, ja?" Pao-Ye, etwas erschrocken ob der ungewohnten Einvernahme, hielt sich im Hintergrund, durfte jedoch Brotscheiben absäbeln, sich ein Geschirrtuch aussuchen, in das man seine Mahlzeit verpacken würde, bekam Zimt auf seinen Anteil Apfelmus zum Haferbrei. Gabriel zwinkerte ihm zu, bückte sich, um die Schüsseln für die Tiere zu füllen. »Was für ein Idiot!« Schoss es Pao-Ye durch den Kopf, während er brav löffelte. Welcher Depp ließ Gabriel für irgendeine Freundin sitzen?! ~*#*~ Pao-Ye trennte sich von Gabriel an einer Kreuzung, so munter und unbeschwert, als wären sie die besten Freunde. Er nahm die Beine in die Hand, hatte ja seinem Vater versprochen, zeitig an der "Abwurfzone" zu warten, wo Eltern ihren Nachwuchs aus dem Auto beförderten. Trotz des tarnenden Anoraks wusste Pao-Ye sofort, dass sein Vater die ungewohnten Hosen und die neue Frisur bemerkt hatte. "Denk an den Termin heute, ja?" Wurde er bloß knapp ermahnt, da wollte schon der nächste Bolide die Fracht abwerfen. Pao-Ye atmete tief durch. Nächste Station: Klassenpranger. Entschlossen schnaubte er in seinen fransigen Pony. ~*#*~ Pao-Ye wartete, rutschte unruhig auf den unbequemen Kunststoffschalensitzen herum. Auch wenn er einen Termin vereinbart hatte. Einfach am Schalter Personalausweis abholen, das lief nicht! Deshalb nutzte er die erzwungene Gelegenheit, die letzten Ereignisse zu kontemplieren. Ad 1) sein verändertes Erscheinungsbild fiel auf. Ad 2) es wurde positiv konnotiert. Was ihm schmeichelte, das konnte er nicht verhehlen. Ad 3) er hatte ein neues körperliches Betätigungsfeld entdeckt. Besser als Tischtennis, gar keine Frage! Ad 4) ohne jeden vernünftigen Zweifel: er war schwul. Ad 5) es stünde eine Diskussion ins Haus, die nicht erfreulich werden würde. Doch vor allem beschäftigte ihn ein gänzlich anderer Aspekt, auch wenn er sich eigentlich auf eine erfolgreiche Strategie für das zu erwartende Streitgespräch besinnen sollte: welcher Vollidiot gab Gabriel den Laufpass?! Und schon vorher! Was für eine ätzende Situation, eine Freundin haben und heimlich noch einen Freund! Spießig hin oder her, das klang nicht so, als hätten alle den gleichen Anteil positiver Erfahrungen in dieser Beziehungskiste gehabt. Gut, man musste eingestehen, dass es Privatsache war. Dass man (er) von den Erfahrungswerten außerordentlich profitiert hatte, weil wenigstens einer von ihnen beiden WUSSTE, was er tat. Und wie! Trotzdem unfair, auch wenn Gabriel einen Meisen-Horst beherbergte. Wobei, ganz ehrlich... Pao-Ye war sich seiner Einschätzung längst nicht mehr so sicher. Gabriel kam ihm wie ein SPINNER vor, allerdings nur, weil er eben die alten Saubermann-Streber-Maßstäbe ansetzte, kombiniert mit einem gerüttelt Maß an bösen Vorahnungen, Klischees und heimlichen Ängsten. Andererseits konnte es auch gut sein, dass Gabriel einfach Traute bewies. Dass er, was er sagte, auch meinte, nicht darauf lauerte, für sich Vorteile herauszuschlagen, andere schlecht aussehen zu lassen. WER war denn dann der Spinner?! ~*#*~ Man hätte sich umziehen können. Pao-Ye verwarf diesen kleinmütigen Impuls sofort und streng. Genug der Heimlichtuereien, der Tarnung und geschickten Vermarktung von Tatsachen! Halbe Eier rollen nicht, und er wollte rollen! Rock'n'roll-en, aber hallo! Deshalb wartete er auch im Wohnzimmer, um den verbalen Schlagabtausch zu erörtern. Seine Eltern trafen nahezu gleichzeitig ein. Er hörte seine Mutter im Telegrammstil den Tag zusammenfassen. Als sie ihn, etwas unerwartet, auf der mondänen "Sitzlandschaft" erblickte, stockten Wortfluss und Vorwärtsdrang. "Paul! Was ist mit deinen Haaren passiert?! Und diese Kleider!" Aha, man näherte sich dem Kriegspfad. "Guten Abend. Ich habe eine neue Frisur, ganz richtig." Schon gelangten mütterliche Arme in gefährliche Greifnähe. "Das ist ja unmöglich! Was soll dieser seltsame Hahnenkamm?! Hat sie etwa einen Azubi rangelassen?!" Pao-Ye fasste zu, bevor sein neues Ich korrigierend attackiert werden konnte. "Es ist genau so, wie ich es wollte. Mir gefällt es. Den blöden Seitenscheitel konnte ich noch nie leiden." Mit einem Ruck befreite seine Mutter die Handgelenke aus seinem Griff. "Aha?! Jetzt rennst du rum wie ein Unruhestifter! Delinquent!" Die Schultern zuckend ließ Pao-Ye sich wieder auf die Polster plumpsen. "Ich find's gut, knackig und mit Pep! Schluss mit dem lahmarschigen Streber-Look." "Wie bitte?!" Der Kampfdrachen posierte, die Hände in die zarten Hüften gestemmt. Man ahnte den Rauch durch die geblähten Nüstern. Pao-Ye weigerte sich, um des lieben Friedens Willen einen Rückzieher zu machen. "Ich habe vorher wie ein Klischee-Streber ausgesehen, Seitenscheitel, Klamotten wie aus amerikanischen TV-Serien. Das bin nicht ich, das war ich nicht und das will ich auch nicht sein." Schnauben, zornig, aufgebracht. "Ach ja?! Hast du die Vorteile vergessen, die dir dieser erste Eindruck bringt, hm?! Was sollen die Leute jetzt denken?!" "Möglicherweise, dass man ein Buch nicht nach dem Umschlag beurteilen soll?!" Pao-Ye funkelte so entschlossen hoch, wie auf ihn herabgefunkelt wurde. "SO kannst du in deiner Freizeit herumlaufen, aber doch nicht geschäftlich! Das ist unseriös. Nicht vertrauenerweckend!" "Warum finden wir's nicht heraus?! Bei den Ehrenamtlichen...!" "Die zählen doch nicht! Die nehmen alle, mach dir doch nichts vor! Ich sage dir, was die entscheidenden Leute denken: der will auffallen. Spielt sich in den Vordergrund. Stellt sich selbst über seine Aufgabe. DAS werden sie denken und jemand anderen auswählen!" Nun ballte Pao-Ye die Fäuste. "Wenn diese Leute so denken, ist das IHR Pech! Sie sind ohnehin mit einer Aufziehpuppe besser bedient! Ich bin ich, eine Person und kein blödes Klischee! Ich werde NICHT wie eine doofe China-Drohne a la Mao herumlaufen!" "Davon war auch nicht die Rede! Für eine seriöse Aufgabe braucht es ein entsprechendes Auftreten und Erscheinungsbild." Wie immer blieb seine Mutter auf gefährliche Weise ruhig, wenn auch pointiert und alert. So, als könne sie gar nicht falschliegen. Das hatte Pao-Ye stets verunsichert, mit Zweifeln geplagt. Dieses Mal jedoch, das schwor er sich, würde er nicht von seinem Standpunkt abweichen. "Ich trete in der Schule auf, und da passt es. Es ist nicht anstößig, sondern praktisch und nachhaltig." "Soll das etwa heißen, dass du gebrauchte Kleidung trägst?!" Einen gewissen Abscheu konnte sie doch nicht vollends maskieren. "Genau." Triumphierte Pao-Ye ein wenig ungezogen. "Es entspricht auch MEINER Haltung. Ich brauche nicht ständig neue Klamotten, möglichst noch mit einem teuren Designer-Label drauf, um anzugeben. Wenn wer damit ein Problem hat, dass ich kein Konsum-Idiot bin, freut mich das besonders!" Nun spießten ihn tiefschwarze Blicke aus geschickt geschminkten Augen förmlich auf. "Ungeachtet des Ursprungs unseres Wohlergehens verspürst du keine Skrupel, deinen Gegenüber zu verurteilen?" "Nein." Pao-Ye reckte das Kinn. "Üblicherweise fallen solche Figuren auch durch andere grenzdebile Verhaltensweisen auf. Da ist das nur noch das Sahnehäubchen. Beispielsweise Protzurlaube in Übersee, ungehemmte Lebensmittelverschwendung, Fleischgrillerei auf Tropenholzgrillkohle, SUV-Schleudern." Seine Mutter verschränkte nun die Arme vor der Brust. "Ah, und du kannst das alles beurteilen, richtig? Damit macht man sich zweifellos viele Freunde. Das reicht mir jetzt. Dein ehrenamtliches Engagement wird ausgesetzt. Du schadest dir damit ja nur selbst." Pao-Ye knurrte. "Fein. Das ändert gar nichts, weil ich meine Meinung nicht erst seit gestern habe. Ich werde mein Leben jedenfalls nicht darauf ausrichten, stromlinienförmig mein Fähnchen in den Wind zu hängen, um Vorteile herauszuschlagen." "Ich erwarte, dass du dich vernünftig verhältst, nichts weiter. Nicht einer Grille nachrennst, weil du seltsame Bekanntschaften geschlossen hast." Vom Polster hoch gefedert stellte sich Pao-Ye auf die Füße. "Das ist KEINE Grille! Das hier bin ICH! Ich ernähre mich vegan, ich liebe Metal und Rock, ich mag den Edel-Punk-Stil. Ich kann Klavierspielen nicht ausstehen und habe dafür kein Talent. Dafür liefere ich regelmäßig anonyme Karikaturen für die Schülerzeitung, die, über die schon mal beim Elternabend lamentiert wurde." Pao-Ye holte tief Luft. "Außerdem bin ich schwul." So, damit sollte jetzt auch wirklich JEDER Sack katzenfrei sein! Im Mienenspiel seiner Mutter änderte sich nichts, wie immer kontrolliert, gefasst. "Ich muss annehmen, dass deine Erklärungen für den Verzicht auf den Kantinengang in der Schule nachrangige Vorwände waren. Dass du unsere Anstrengungen, dir einen Vorsprung im Leben durch exzellente Ausbildung und Förderung zu verschaffen, nicht angemessen würdigst. DAS enttäuscht mich sehr. Das habe ich von dir nicht erwartet." Pao-Ye schluckte den Kloß in seiner Kehle. "Ihr entschuldigt mich bitte. Ich habe noch zu tun." Hocherhobenen Hauptes verließ seine Mutter das Wohnzimmer, schloss lautlos die Tür hinter sich. Pao-Ye kam ebenfalls auf die Beine, verwünschte seine verschmierte Sicht. Vor Publikum wollte er ganz sicher nicht herumheulen! Sein Vater vertrat ihm den Weg. "Ach, Paulchen..." ~*#*~ Pao-Ye fühlte sich getröstet, einen kräftigen Arm um die Schulter, an seinen Vater gelehnt, der die Beine hochlegte (allerdings vorsichtig), sich bequem lümmelte. "Deine Mutter meint das nicht so. Du weißt ja, wenn man aufgeregt ist, sagt man Sachen, die man nicht meint." "Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie aufgeregt ist." Grummelte Pao-Ye, schnüffelte dezent. "Das macht der Arbeitsmodus, weißt du? Manchmal dauert es eine halbe Stunde, bis sie Privatmensch ist." Sanfter Druck auf seine Schultern. "Weißt du, als ich in deinem Alter war, hab ich mich ständig in Schwierigkeiten gebracht. Im Kreis der Freunde probiert man sich aus. Schließlich soll man ja Erfahrungen sammeln. Rauchen, Alkohol, Streiche, Mutproben. Ich hab's bloß schon immer im Ansatz vermasselt, bin gleich erwischt worden." Er lachte leise, klopfte mit den Fingerkuppen auf Pao-Yes Arm. "Das war natürlich für meine Eltern enttäuschend, weil sie ja annahmen, dass ich eigentlich ganz vernünftig bin oder zumindest sein sollte. Trotz allem habe ich immer gespürt, dass sie mich als Mensch, als Person annehmen. Dass ich kein schlechter Kerl bin. Bloß ein bisschen neben der Spur." Pao-Ye wandte prüfend den Kopf. "Davon haben mir Oma und Opa nie was erzählt." Sein Vater grinste breit. "Na, wie sähe das auch aus, wenn sich die Autoritätsperson als jugendlicher Dabbes erweist?" Entwaffnet erwiderte Pao-Ye das Feixen. "Sei deiner Mama also nicht gram, ja, Paulchen? Sie meint es nicht böse. Du hast ja gesehen, wie ihre Leute so drauf sind. Da musste sie immer beweisen, dass sie besser ist, stärker, klüger. Und dann hat sie mich geheiratet! Ich bin ja nicht gerade der Hauptgewinn. Trotzdem. Nicht taktisch klug, aber sie hat nicht gezögert." Pao-Ye wurde enger gedrückt. "Du sollst nicht denken, dass deine Mutter nur Karriere, Geld, Einfluss oder sonst was im Kopf hat. Als wir geheiratet haben, waren wir zwei selbständige Erwachsene, die Fallhöhe nicht sonderlich hoch. Wir haben ja beide gearbeitet, waren, wenn auch recht unterschiedlich, ziemlich erfolgreich. Ein Kind zu bekommen, das war damals eine schwierige Sache. Betreuung, Teilzeitarbeit, das gab's kaum. So ein Kind ist ja kein zeitlich begrenztes Projekt, das ist eine Entscheidung fürs Leben. Deine Mutter hat sie getroffen, sich in Abhängigkeit begeben, obwohl sie so hart für ihre Unabhängigkeit gekämpft hat. Deshalb hat sie auch die Schriftzeichen für deinen Namen ausgesucht, nicht nur wegen des Klangs. Du weißt, ich habe von Mandarin immer noch keine Ahnung, aber es bedeutet, dass sie für dich ohne Zögern alles aufgeben würde. Sie hat dich lieb. Wir haben dich lieb, Paulchen. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind." Sich umwendend umarmte Pao-Ye seinen Vater, schluckte wiederholt. Der streichelte ihm mit einer kräftigen Hand über den Rücken. "Das kommt schon wieder in Ordnung. Wir berappeln uns, richtig?" "...richtig..." Würgte Pao-Ye mit belegter Stimme. "Wegen dem Klavierspielen musst du dir keine Gedanken machen. Das sind bestimmt meine Gene. Ich musste Blockflöte spielen. Eher 'auf dem letzten Loch pfeifen'. Hab das nie hinbekommen. Irgendwie haben sich meine Finger immer verheddert." Pao-Ye kicherte leise. Angesichts der großen Hände seines Vaters konnte er sich die Schwierigkeiten der Koordination lebhaft vorstellen. "Das Zeichentalent für die Karikaturen hast du wohl auch nicht von mir. Ich bin eher der stille Bewunderer. Wir haben früher heimlich Comichefte getauscht. Ich fand's klasse, mit wenigen Strichen prima Geschichten zu erzählen." Nun hielt Pao-Ye gewisse Einlassungen für angezeigt. "Weißt du, Papa, ich arbeite eher an kritischen Szenen." "Hm, wie bei der Zeitung, oder? Zeitgeschehen als Momentaufnahme mit Pinsel. Machst du das eigentlich per Hand?" "Bleistift und Tusche. Dann scanne ich das Bild ein." Erläuterte Pao-Ye, rutschte an die Flanke. "Ich hab ein ganzes Album, wenn du es mal anschauen magst." Sein Vater nickte entschieden. "Das mache ich auch. Für den Fall, dass du mal berühmt werden solltest, will ich nicht wie ein ahnungsloser Dussel aus der Wäsche gucken." Pao-Ye kicherte. "Ich glaube nicht, dass ich berühmt werde. Dazu gibt es viel zu viele talentiertere Karikaturisten." "Man kann nie wissen! Oder hättest du gedacht, dass ne komische Maus mit Schiebermütze mal weltbekannt wird?" Konterte sein Vater bauernschlau, zwinkerte, eindeutig in der Absicht, ihn aufzuheitern. Das erinnerte Pao-Ye an Gabriel. Diese geduldige Gutmütigkeit. Nervös wischte er sich durch die Ponyfransen. "Papa, also, dass ich schwul bin..." "Hm, dachte ich mir fast." Erneut wurde Pao-Ye aufmunternd gedrückt. "Schau nicht so überrascht, Paulchen. Schließlich bin ich ja auch mal ein Junge gewesen! Ganz gleich, wie streng die Aufsicht der Mütter ist: wenn's juckt, dann kratzt man. Oder guckt sich Pornos an, Schmuddelheftchen, was man eben so heimlich kriegen kann. Bei dir habe ich das nie bemerkt. Also gucke ich entweder nicht richtig, oder aus dem falschen Blickwinkel." Pao-Ye staunte über die Seelenruhe seines Vaters. "Macht dir das gar nichts aus?!" Sein Vater legte die Stirn in Falten. "Erstens bist du weiterhin mein Paulchen. Zweitens hoffe ich wie jeder Vater, dass du jemanden Netten findest. Dass du das gleiche Glück wie ich hast und eine Person triffst, auf die du nicht verzichten möchtest, weil das Leben noch lebenswerter wird. Ich kann dir ja auch schlecht Vorträge halten. Ich hätte mir nie träumen lassen, deiner Mutter zu begegnen! Also, das Leben steckt voller Überraschungen. Zu viele Gedanken sollte man sich nicht machen, sonst hat man ja nur Stress." Pao-Ye lächelte versonnen. "Ich hätte nicht gedacht, dass du so gelassen bist. Weil Mama ja immer irgendwas plant." "Hm, sie hat das nun mal gern. Ist so ihre Art. In der Summe gleicht es sich aus." Verschmitztes Zwinkern. Pao-Ye grinste zurück. "Weißt du was? Wir machen uns salonfein, schauen in den Kühlschrank, du zeigst mir dein Album! Heute haben wir schließlich genug geschafft!" ~*#*~ Pao-Ye hatte nicht nur sein gut verstecktes Album präsentiert, sondern auch erzählt. Von der Baustelle mit der Dinosaurier-Maschine, von Gabriel und dem verrückten Haus, von einer ganz anderen Hausgemeinschaft. "Magst ihn ziemlich, diesen Gabriel, richtig?" Nicht mal dieser Umstand schien seinen Vater zu schockieren. "Ziemlich. Nicht wegen der Heldentat oder weil ich etwa doch auf den Kopf gefallen wäre! Er ist bloß so ehrlich. Meint, was er sagt. Gutmütig und geduldig." Sein Vater nickte beifällig. "Dazu natürlich die Locken und diese grünen Augen. Schon ein Hingucker, das ist mir in der Notaufnahme nicht entgangen." Pao-Ye konnte nicht sichtbar erröten, zog verlegen die Schultern etwas höher. "Tja, vom Wesen her sind wir wohl vollkommen verschieden, aber wir verstehen uns trotzdem. ER hat meine Haare geschnitten. Ich wollte bloß anders aussehen, aber ER hat gewusst, wie ich aussehen möchte." Mit einem Schnauben ergänzte Pao-Ye seine Einlassung. "Das hört sich gerade fürchterlich esoterisch an, oder?! Ich hab ihn wirklich nur machen lassen!" Aufmunternd wurde er gedrückt, geborgen in einem kräftigen Arm. "Offenbar kann man ihm scharfe Werkzeuge anvertrauen! Wenn du dir so gefällst, ist es in Ordnung." Pao-Ye widersprach nicht. Er fragte sich, wie viel Gewicht die ausgleichende Meinung seines Vaters so in die Waagschale werfen konnte. "Wird langsam Zeit, dass wir die Matratze abhorchen, oder?" Geschmeidig kam Pao-Ye auf die Beine. "Stimmt. Gute Nacht, Papa...und danke." Erneut wurde er, nun im Stehen, kräftig umarmt. "Gute Nacht, Paulchen. Morgen ist auch noch ein Tag." Ein gutes Motto, fand Pao-Ye. Allerdings traf er vor seinem Zimmer auf seine Mutter, so kühl und gefasst wie zuvor, noch immer in ihrem "Kampfanzug", zumeist Kostüme oder Hosenanzüge. Wenn sie "privat" zu Hause war, präsentierte sie Jumpsuits aus feinen Stoffen, die ihre gertenschlanke Figur perfekt umspielten. "Ich benötige dein Mobiltelefon." Poa-Ye nickte knapp, präsentierte das verabscheute Gerät. "Außerschulische Aktivitäten sind ausgesetzt. Ich erwarte, dass du nach der Schule direkt nach Hause gehst." Stubenarrest also? Pao-Ye verzichtete auf Proteste, hielt dem strengen Blick stand. Wirkliche Strafen waren das kaum. Er hatte außer dem ehrenamtlichen Engagement sonst nur Klavierstunden absolviert. "Gute Nacht." Wünschte er beherrscht. "Gute Nacht, Paul." Pao-Ye schloss seine Zimmertür hinter sich, ließ sich auf der Bettkante nieder. Seine Mutter fiel vor Dritten nie aus der Rolle. Auch zu Hause hatte er keinen Streit, keine emotionalen Ausbrüche erlebt. Zum ersten Mal jedoch registrierte er hinter ihrer beherrschten, souveränen Haltung etwas anderes. Ratlosigkeit. Er seufzte leise, verstaute sein Album. Dass sie auf IHN keine perfekte Antwort wusste, war schon mal ein Zeichen der Hoffnung. Sie konnte nicht mehr enttäuscht sein, oder? ~*#*~ Kapitel 6 - Ein praktischer Stubenarrest Pao-Ye streifte sich ein neutrales Polo-Shirt über das Hemd, klappte den inneren Kragen hoch, ließ die Hemdzipfel über den Hosenbund hängen. Ja, das sah schon mal nicht mehr nach dem notorischen Streber aus! Obwohl er durchaus fand, er könne seine optische Erscheinung sukzessiv noch verbessern. Auch seine neue Frisur ließ sich leicht pflegen. Jetzt schnitt er sich zum ersten Mal am Morgen keine verächtlichen Grimassen im Spiegel. DAS also war der echte Pao-Ye! Gut, die Brille blieb unverändert, doch sonst, gar nicht schlecht! Pao-Ye fühlte sich auch so, als seien endlich Leerstellen in seinem Inneren gefüllt. Er konnte zu seinen Auffassungen stehen, musste nicht mehr geschmeidig Verschleierungstaktiken bedienen. Außerdem erleichterte ihn die Erkenntnis, dass sein körperliches Verlangen eine Adressatengruppe hatte. Keine vagen Vermutungen mehr, sondern eine eindeutige Präferenz mit höchst angenehmer Beweisführung! Er grinste sich selbst schief zu. Gabriel, der Inhaber des größten Meisen-Horsts unterm nicht vorhandenen Pony der Welt. Oder beängstigend authentisch in Meinung und Tat. Ob der wohl wieder mit Charlie vorbeischauen würde? ~*#*~ Auch der letzte Schultag der Woche ließ sich für Pao-Ye ganz gut an. Er fiel nicht unangemessen auf. Man schenkte ihm mehr Beachtung. Er straffte seine Haltung, drückte das Rückgrat durch, stolz, ein Original zu sein, keine Kopie! Auch wenn diese Entwicklung mit einem "Stubenarrest" einherging. Andererseits drohten keine lästigen Klavierstunden mehr. Tischtennis vermisste er auch nicht gerade. Zudem würde das letzte Training in der letzten Schulwoche ohnehin kaum besucht werden. Als er langsam mit den anderen die offenen Treppen der gestapelten Container herunterstapfte, regnete es Bindfäden. Der kluge Mann (gut, gut, Streber) baute jedoch vor, zückte den Taschenschirm aus den Rucksack-Anbauten! "Pao-Ye!" Hörte er durch den nassen Vorhang gedämpft seinen Namen. Den Schirm gelupft, zuvor extra tief gezogen, um den schützenden Umkreis zu nutzen, blinzelte Pao-Ye in die Runde. Tatsächlich! Jenseits des Schulgeländes wartete Gabriel, mit Longboard und ohne Schirm, tropfnass. ~*#*~ "Was tust du hier?!" Pao-Ye bremste spritzend, lupfte den Schirm ausreichend hoch, dass er auch Gabriel einschloss, obwohl dies nach seinem Eindruck keinen Zweck mehr hatte. "Hast du keinen Schirm?! Du bist klatschnass! Wo ist Charlie?!" Feuerte er Fragen ab. Gabriel lächelte ein wenig blass. "Ostfriesennerz trägt meine Mutter, Schirm habe ich vergessen und Charlie ist wahrscheinlich zu Hause." Das gereichte jedoch nicht, Pao-Yes Gemüt zu besänftigen. "Wieso stehst du hier herum?! Guck dich mal an!" Was zugegeben momentan recht schwierig wurde. "Ich wollte reingehen, aber eine Lehrerin hat mich energisch auf das Verbotsschild hingewiesen." Gestand Gabriel ein. "Pah!" Fauchte Pao-Ye, griff selbstherrlich zu. Gabriels Hand war eiskalt. Auch entging ihm ein gewisses Schlottern nicht, das selbst die Aussprache beeinflusste. "Los, komm mit! Du musst dich sofort aufwärmen!" Bellte er kompromisslos, zerrte Gabriel am Handgelenk einfach hinter sich her. "Hätte nicht gedacht, dass du so leichtsinnig bist! Wie lange dekorierst du hier schon die Landschaft?!" Gabriel passte sich seinem raschen Schritt gezwungenermaßen an. "Etwa eine Dreiviertelstunde. Ich wollte dich nicht verpassen." "Du hättest mich...!" Abrupt blieb Pao-Ye stehen, wandte sich herum. Plötzlich krampfte sich ihm in Erkenntnis der Magen zusammen. "Du hast mich angerufen, oder? Weil ich nicht reagiert habe.." Schlussfolgerte er entsetzt. Gabriel zuckte leicht mit den Schultern. "Ich hab mich doch ein wenig gesorgt." "Scheiße!" Konstatierte Pao-Ye laut, unmanierlich und gänzlich gegen seine Gewohnheit. Er atmete tief durch, umklammerte den Griff seines Taschenschirms so fest, dass der Kunststoff hörbar knirschte. "Meine Mutter hat gestern das blöde Telefon einkassiert. Ich hab das ja nur selten in Gebrauch." "Gab es Ärger?" Klang Gabriel wirklich angespannt, oder waren das nur die Auswirkungen seines merklichen Schlotterns? "Na ja, ein bisschen. Ich habe quasi Stubenarrest." Pao-Ye gab Gabriels Handgelenk zugunsten dessen kalter Hand frei, umschloss sie versichernd. "Ehrlich, das tut mir leid! Ich habe nicht mehr daran gedacht!" Ihm gegenüber lächelte Gabriel aufmunternd. "Aach, nicht so schlimm. Ich wollte nur sicher sein, weißt du, weil wir ja..." Er nieste. Pao-Ye begriff auch ohne die recht zögerliche Ausformulierung. Gabriel hatte sich nicht nur um seinen Gemütszustand gesorgt, sondern auch um die körperliche Verfassung. Riskierte hier eine böse Erkältung! "Los!" Energisch nahm Pao-Ye den Marschschritt wieder auf. "Erst mal musst du dich schnell wieder aufwärmen. Dann reden wir richtig." "Und dein Stubenarrest?" Pao-Ye schnaubte. "Es war keine Rede davon, dass ich den allein abbummeln muss!" ~*#*~ Gabriel blieb höflich unter dem überdachten Podest am Eingang ihres mehrstöckigen Hauses stehen. Pao-Ye hielt sich nicht auf. Taschenschirm in Abtropfschale, Longboard und Rucksäcke daneben. Seine Turnschuhe hatten die Feuchtigkeit besser vertragen, nahmen in einer Kunststoffschale Platz. Gabriel, Socken und leichte Stoffschuhe abgestreift, warf ihm einen fragenden Blick zu. "Lass sie ruhig hier, ich kümmere mich gleich darum!" Gebot Pao-Ye, seines Anoraks ledig. "Ich fürchte, ich setze hier alles unter Wasser." Wandte Gabriel aufmerksam ein. "Kein Problem!" Selbstherrlich pellte Pao-Ye ihn aus seiner dünnen Regenjacke, die vollkommen durchtränkt an seinem Leib klebte. "Darum kann sich der Roboter kümmern." Achtlos ließ Pao-Ye alles auf den Boden sinken. Wozu hatte man schließlich durchgehend den Eingang und die Küche gefliest?! Er tippte zum zweiten Mal den Türcode ein, dieses Mal von innen, nahm Gabriels Rechte, steuerte die Treppe nach oben an. "Meine Mutter liebt Technikkram! Wir haben kleine Putzroboter für die Fliesen und Saugroboter für die Zimmer mit Teppich. Die Steuerungsanlage für die Türen und Fenster hast du ja schon gesehen, Alarmanlage, Haustechnikanlage, Streaming quer durchs Haus, ein einziger Technik-Harem! Wenn es diese selbstreinigenden Swimmingpool-Roboter auch für Fenster gäbe, hätten wir die auch schon!" Erläuterte Pao-Ye, bugsierte Gabriel in das große Badezimmer. "Lass deine Sachen einfach hier liegen, okay?" Im Vorbeigehen fischte er eilig zwei Frotteetücher, hängte sie sich über die Schulter. "Die Dusche ist ganz normal, also mit Temperaturregler. Und Stimmungslichtwechsler. Wärm dich richtig auf, ja?" Gabriel nickte, halb belustigt über Pao-Yes schon entschuldigende Erklärungen. "Da, großes und kleines Frotteetuch. Ich bin gleich zurück!" Damit ließ Pao-Ye Gabriel vor dem großzügigen, bodennahen Dusch-Kubus allein. Er hopste eilig die Treppe wieder herunter, fing den jammernden Putzroboter ein. Der hatte schon per Sensor Bewegung und Feuchtigkeit registriert, scheiterte an den hinderlichen Kleidungsbergen. "Jajaja, ich hör dich!" Knurrte Pao-Ye, sammelte seinen Anorak auf, der an der Garderobe abtrocknen konnte. Socken, Regenjacke und Stoffschuhe aufgelesen eilte er in den Keller. Dort reihten sich artig Waschmaschine, Trockner und altmodischer Wäscheständer plus fahrbarer Garderobenständer auf. Sogar ein Bügelautomat fand sich, "Kleiderpresse", allerdings nur mit Bedacht zu bedienen. Pao-Ye hängte die Regenjacke auf einen Kleiderbügel. Er vermutete stark, dass ihre dünne Kunststoffschicht längst nicht mehr imprägniert war. Die Socken kamen in eines der Wäschenetze. Die Stoffschuhe hängte Pao-Ye nach kurzem Überlegen am Wäscheständer per Klammern auf. Ob sich Papier zum Ausstopfen fand? Oder half das gar nicht mehr? In den Trockner wollte er sie lieber nicht räumen. "Bewegung!" Kommandierte er sich streng, warf im Erdgeschoss einen kontrollierenden Blick auf den Putzroboter, der munter blickend, leise summend Pfützen beseitigte. Im ersten Stock vernahm er sehr gedämpft das Rauschen von Wasser. Also noch eine Etage höher, in sein eigenes Zimmer! Pao-Ye ging eilig seine Besitztümer durch. Dicke Socken, Unterwäsche, Pyjama, Bademantel! Beladen mit einer Auswahl, die ihm selbst nun sehr dröge vorkam, hoppelte er die Treppe tiefer, verschaffte sich Zutritt zum großen Badezimmer. Gabriel badete in wechselndem Licht, hinter dem Milchglas eine anmutige Silhouette. Pao-Ye atmete durch, verteilte seine Last. "Gabriel? Ich habe dir hier die Sachen zum Anziehen hingelegt, ja? Ich mache uns was in der Küche!" "...danke." "Lass dir Zeit, ja? Wenn was ist, ruf mich über die Haussprechanlage hier bei der Tür." "Okay." Gedämpftes Niesen. Ein wenig besorgt verließ Pao-Ye den ersten Stock, betrat die Küche. Ob Gabriel das Ambiente missfiel? Pao-Ye war sich durchaus bewusst, dass er sehr luxuriös lebte. Ein Haus, das seinen drei Bewohnern jeglichen Komfort bot, bestückt mit moderner Technik. Auch wenn er sich bemühte, seinen Gewohnheitskonsum so gering wie möglich zu halten, fragte Pao-Ye sich, ob seine Disziplin nicht nachließ. Aber solche Selbstinquisition musste warten! Er entschied sich für Kräutertee, den man auch noch süßen konnte, dazu kernige Haferkekse. Allerdings war sein Vorrat stark geschrumpft. Es stand der morgige Wocheneinkauf bevor. Also lieber rasch noch etwas Haferflockenbrei aufsetzen! Während der Brei sich mit Flüssigkeit vollsaugte, flitzte Pao-Ye erneut in den Keller. "Wäschekorb!" Tadelte er sich selbst. Wie sollten Gabriels nasse Sachen sonst hier runter kommen?! Auf dem Arm, damit sich eine Tropfenspur durchs Haus zog?! Wirklich, als Gastgeber musste er aber noch üben! Gabriel blickte überrascht auf, als Pao-Ye samt Wäschekorb das Badezimmer betrat. "Entschuldige, für deine nassen Sachen, hab ich vergessen!" Verkündete Pao-Ye schnaufend im Telegrammstil. "Danke." Gabriel lächelte, kämpfte mit einem Handtuchturban. "Brauchst du vielleicht einen Föhn?" Schlug Pao-Ye hilfsbereit vor. "Nein, danke schön. Ich werde sie einflechten. Ich wollte deinen Pyjama nicht nass tropfen." Die grünen Augen funkelten vergnügt. "Ich habe noch nie einen Pyjama getragen. Schon schick!" Pao-Ye schnaubte. "Meine Mutter kauft die Dinger immer. Ich hatte schon Mühe, sie davon abzubringen, dass es Seide oder Satin sein müsse! Flanell und Baumwolle mit Seersucker im Sommer, das ist der Kompromiss." Bewahre, dass er wie ein GAMMLER in alten T-Shirts und labbrigen Hosen die Matratze abhorchte! Gabriel lachte auf. "Kann ich dir helfen?" Gestikulierte er auf seine nasse Kleidung. "Nein, das mache ich schon. Zieh den Bademantel über, ja? Dann gehen wir in die Küche!" Ordnete Pao-Ye an, wobei er Gabriel in die Küche sandte, im Keller eilig Wäschenetze bestückte, den Trockner anwarf. ~*#*~ Gabriel nippte an seinem Tee, löffelte schmunzelnd gewürzten, sehr sämigen Haferbrei. Pao -Ye kämpfte mit feuchten Lockensträngen. Theoretisch sollten die sich zu einem lockeren Zopf flechten lassen. Irgendwie ringelten sie sich um seine Finger, leisteten Widerstand! "Wenigstens schlotterst du nicht mehr herum." Brummte Pao-Ye konsterniert, ließ sich neben Gabriel auf einen Barhocker gleiten. "Ja, mir ist schön warm." Bestätigte Gabriel artig, zwinkerte grinsend. Pao-Ye seufzte, nahm einen Schluck Tee, dann Anlauf. "Hör mal, das tut mir wirklich leid! Dass du dir Sorgen machen musstest. Ich hab einfach nicht an das Telefon gedacht, weil ich das kaum benutze." "Du konntest es ja nicht ahnen. Wenn deine Mutter es konfisziert hat." Gabriel signalisierte gutmütig Verständnis. "Konfisziert eher nicht. Sie weiß ja, dass ich keine Freunde habe oder auf dem Ding herumdengele. Wahrscheinlich ist bloß wieder was mit dem Vertrag. Ich kümmere mich da nicht drum." Rückte Pao-Ye die Hintergründe zurecht. Er streckte die Hand aus, kämmte eine entflohene Strähne hinter Gabriels Ohr. "Ich habe zwar Stubenarrest, aber das ist üblicherweise keine Strafe für mich. Zumindest bisher nicht. Ich glaube, sie weiß nicht, wie sie mit mir umgehen soll." Pao-Ye knurrte grimmig. "Allerdings bin ich auch ein echter Idiot, weil ich nicht daran gedacht habe! Ich meine, in der Schule können wir uns ja nicht sehen, also sind Freizeit und Kontakt per Telefon wahrscheinlich die besten Möglichkeiten, oder?! Einfach fürchterlich, wie blöd ich bin!" Ärgerte er sich laut über sich selbst. Gabriel lachte, zupfte ihm frech an den Stirnfransen. "Bis jetzt klappt es doch gut, oder? Gerade zum Beispiel sind wir ja zusammen!" Neckte er Pao-Ye herausfordernd. Der grinste schief. "Schon. Trotzdem, ich habe keine Übung darin, Freunde zu haben. Oder Besuch." Was Gabriel veranlasste, ihn nachdenklich zu betrachten. "Ist es dir zu anstrengend? Sag es mir bitte, ja?" Pao-Ye drückte das Rückgrat durch. "Nein, so meine ich das gar nicht!" Protestierte er entschieden. "Es ist bloß persönliche Unzulänglichkeit, die mich frustriert, weil ich eben eitel bin und nicht blöd sein möchte." Knurrte Pao-Ye verächtlich über sich selbst. Gabriel lachte amüsiert. "Ich finde, du machst deine Sache sehr gut." Was Pao-Ye einen spontanen Seufzer entlockte. "Ehrlich, Gabriel, DEINE Maßstäbe sind schon ziemlich seltsam! Du bist einfach zu NETT!!" An seinem Tee nippend nickte Gabriel, ganz und gar nicht gekränkt. "Ach, das hör ich öfter. Man gewöhnt sich dran." Grinste er breit, zwinkerte Pao-Ye zu. Der streckte die Waffen. Wie sollte man gegen so einen~einen TIEFENENTSPANNTEN Hippie ankommen?! Er entschied, das Schlachtfeld zu wechseln. Beispielsweise durch Bewegung. "Willst du das Haus mal sehen?" Gabriel nickte, rutschte vom Barhocker herunter. "Ich räume nur gerade das Geschirr in die Spüle." Suchend blickte er sich um. Pao-Ye feixte. Lässig erhob er sich, paradierte zum alarmgesicherten Fenster. Per Knopfdruck glitt ein Paneel zur Seite, gab weitere Bedienelemente frei, versenkbare Mischbatterie, abgedecktes, bescheidenes Spülbecken. "Wir haben eine kleinere Spülmaschine, hier, weil eigentlich nicht gekocht wird. Na ja, außer ich tue es." Erläuterte er die gleichmäßig glatten, matt schimmernden Oberflächen von Schränken und Einrichtung. "Meine Mutter kann Krimskrams und Gedöns nicht leiden. Deshalb ist alles abgedeckt. Lässt sich auch leichter reinigen." In die Hocke gehend klappte er einen Schrank auf. Der beherbergte eine kleine Plastikwanne. "Darin wasche ich Obst oder Gemüse. Das Becken ist ja eher ein Mini-Vogelbad." Gabriel blickte sich prüfend um. "Nur zu!" Winkte Pao-Ye gutgelaunt. "Schau ruhig überall rein." Das veranlasste Gabriel, ihm einen prüfenden Blick zuzuwerfen. "Damit löse ich keinen Alarm aus? Oder eine elektronische Mäusefalle?" Pao-Ye grinste. "So radikal ist meine Mutter nicht. Benutzen soll man die Küche schon können. In abgezirkelten Grenzen." Tatsächlich machte Gabriel von seiner Einladung Gebrauch, studierte interessiert die geschickt getarnten Geräte und Apparaturen, auch die Hausrufanlage und das Sicherheitssystem. Anschließend führte Pao-Ye ihn aus der Küche ins Wohnzimmer. Sehr klar strukturiert, mit "Sitzlandschaft" und stilisiertem Kamin. Darüber, nun ein wenig beschämend, ein großes Ölbild, Porträt der Familie. "Ah, das war mal so eine Mode. Wie früher, mit dem röhrenden Hirsch. Oder kitschigen Naturbildern." Erläuterte Pao-Ye hastig. Als ob sie Bonzen oder Adlige wären! Dabei war lediglich ein Studiofoto reproduziert worden, er stand hinter seinen sitzenden Eltern. "Deine Mutter ist sehr schön." Stellte Gabriel fest. "Man gewöhnt sich dran." Erwiderte Pao-Ye lakonisch, Gabriels vorherige Äußerung kopierend. Der lächelte ihn an, die grünen Augen funkelnd. "Das gleiche Kinn. Sehr willensstark." Verglich er Ähnlichkeiten. "Pah!" Konterte Pao-Ye grollend. "SIE hat den Willen! Wir Kerle hecheln bloß hinterher!" Gabriel lachte, tätschelte Pao-Ye tröstend das Haupt. "Das ist, glaube ich, schon in den Chromosomen angelegt." "Wie aufbauend!" Ätzte Pao-Ye, wandte den Blick ab. Draußen übte das Wetter für die nächste Sintflut. Andererseits mussten die Speicher im Grundwasser dringend aufgefüllt werden. Man durfte da nicht ständig lamentieren. Zumal nicht, wenn man trocken und warm drinnen saß. Gabriel nahm seine Hand. "Können wir mal nach meinen nassen Sachen sehen?" "Genau, richtig!" Riss sich Pao-Ye von abschweifenden Gedanken los, übernahm wieder die Führung. Im Keller sorgten sie gemeinsam für die nächste Trocknungsstufe. Allerdings teilte Pao-Ye Gabriels Optimismus bezüglich der Stoffschuhe nicht. "Hast du keine anderen? Da kannst du gleich mit Sandalen herumlaufen! Da rauscht das Wasser direkt durch!" Gabriel grinste gutmütig. "Mit Sandalen kann ich nicht so gut auf dem Longboard stehen. Da fädle ich ein und fälle mich selbst." Bekannte er offenherzig. Pao-Ye schnaubte. "Schön. Du wirst doch andere Turnschuhe haben, oder? Obwohl Gummistiefel vielleicht besser wären." Gabriel schmunzelte. "Vielleicht sollte ich auch das Longboard stehen lassen, hm? Mal sehen." Nun seufzte Pao-Ye. "Regst du dich eigentlich nie auf?!" Echauffierte er sich stellvertretend, weil Gabriel ihm die Einmischung in seine persönliche Lebensführung einfach nicht heimzahlte! Der überdachte die Frage. "Eher selten. Meistens übernehmen das andere für mich. Outsourcing." Grinste er so schelmisch wie entwaffnend. "GRRRR!" Fauchte Pao-Ye, ballte hilflos die Fäuste. "Welcher Depp hat bloß gedacht, dass 'Hulk' zu dir passt?! Reinster Etikettenschwindel!" Beklagte er sich aufgebracht, schnappte Gabriels Hand, stapfte grollend zur Treppe. Gabriel in seinem Schlepptau lachte vergnügt. Pao-Ye entschied, sich nicht weiter wie ein Polterer zu betätigten. Nachdem Gabriel bereits das große Badezimmer kannte, präsentierte er ihm auch die "Nasszellen", angegliedert jeweils an die Schlafzimmer. WC-Kabäuschen, hochmodern mit "Popo-Duschen", davon separiert Waschbecken im Hotel-Ambiente. Unter dem Dach Gästezimmer und sein eigenes, das ihm nun auch sehr strukturiert vorkam. Streberbude eben! Bett, Schränke, Schreibtisch, Fernseher, Laptop, Lesesessel, leicht zu reinigen, alles brav verstaut, Oberflächen matt gestaltet, Altweiß zu dezent cremefarbenem Wandanstrich, keine Vorhänge (Staubfänger), sondern Schiebeblenden. Selbst die Bettauflagen blieben unter einer cremefarbenen Tagesdecke hübsch verborgen. "Todlangweilig, ich weiß." Seufzte Pao-Ye. Gabriel ließ sich auf dem Bett nieder. "Es ist ein großes Zimmer. So kann man es leichter sauber halten, oder?" Pao-Ye plumpste an seine Seite. "Sei nicht so diplomatisch! Es ist praktisch, aber nicht gemütlich. Wie aus dem Einrichtungskatalog." "Das ist die Oberfläche. Wer weiß, was sich darunter verbirgt?" Grinste Gabriel ihn aufmunternd an. Pao-Ye schnitt ihm eine Grimasse, erwiderte das versöhnliche Lächeln. "Wie der Herr, so's Gescherr. Da hat der Volksmund schon recht." Er ließ sich einfach nach hinten sacken. Gabriel tat es ihm nach, obwohl die Zimmerdecke kein spannendes Unterhaltungsprogramm zu bieten hatte. "Warum hast du Stubenarrest bekommen?" Erkundigte sich Gabriel leise, fasste nach seiner Hand. Pao-Ye schnaubte. "Weil meine Mutter von mir enttäuscht ist. Ich hab gestern auf sie gewartet, im Wohnzimmer. Meine Frisur ist offenkundig anders. Da habe ich eben die Hosen runtergelassen, figurativ." Er atmete tief durch. "Dass ich nicht mehr wie ein halbchinesischer Streber aussehen will, Klavierspielen hasse. Dass ich mich vegan ernähre, Metal und Hardrock liebe und heimlich Karikaturen für die Schülerzeitung einsende. Und schwul bin." Gabriel drückte ihm die Hand. "Sie ist nicht wütend geworden. Wird sie nicht, weil das ja ein Mangel an Selbstbeherrschung wäre! Durch die Heimlichtuereien und mein jetzt unvernünftiges Verhalten nach den Einsätzen als Ehrenamtlicher habe ich sie enttäuscht. Unvernünftig aussehen und eine Meinung haben kann ich ja auch privat, nicht wahr? Bloß nicht draußen, weil mich sonst niemand ernst nimmt!" Pao-Ye fauchte verärgert. "Warum soll ich mich aber nach Leuten richten, die geistig solche Dünnbrettbohrer sind?! Ich WILL nicht!" Gabriel drehte sich neben ihm auf die Seite, umarmte ihn halb. Etwas beruhigt strich Pao-Ye ihm über den Rücken, hatte Mühe, sich nicht im wirren Zopf zu verheddern. "Mein Vater war dagegen absolut gelassen. Nicht mal, dass ich schwul bin, hat ihn aufgeregt! Wir haben uns unterhalten. Ich hab ihm sogar das Album mit den Karikaturen gezeigt." Ein halb resigniertes, halb amüsiertes Lachen entfuhr ihm. "Ihr seid euch ein bisschen ähnlich im Temperament. Mein Vater ist auch zu gutmütig." Gabriel richtete sich ein wenig auf, betrachtete Pao-Ye. "Denkst du immer noch, du wärst nicht willensstark?" Pao-Ye grummelte leise. "Eher aus Frustration bis zur Obergrenze Ungeduld gereizt. Ohne dich hätte ich garantiert noch eine Weile vor mich hin geköchelt, wie ein essigsaurer Miesepeter eben. Darum, danke sehr." Über ihm lächelte Gabriel, feine Linien um den breiten Mund und in den Augenwinkeln. "Wenn es der Geschmacksverbesserung dient, bin ich gern zur Stelle." Neckte er Pao-Ye spitzbübisch. Pao-Ye studierte ihn stumm. "Ich mag dich." Stellte er schließlich fest. "Anfangs habe ich zwar gedacht, dass du den größten Meisen-Horst der Welt unter deinem nicht vorhandenen Pony beherbergst, aber das war bloß meine Feigheit. Sich wegducken, hinter einem Klischee verstecken, heimlich herumlamentieren: das habe ich lange genug getan. Wer besitzt also die Meise?" Gabriel zwinkerte. "Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte." Orakelte er amüsiert. Pao-Ye schnaubte, initiierte unvermittelt eine Eskimorolle. "Ehrlich, auch wenn es mich überhaupt NICHTS angeht: dein EX ist ein Vollidiot! Glücklicherweise. Wie kann man so blöd sein, dich für irgendeine Schnepfe abzuservieren?!" Es brach aus ihm heraus, weder diplomatisch noch strategisch geschickt. Die grünen Augen beschlugen leicht. "Tja, Gefühle ändern sich." "Wofür man dankbar sein muss! Ich vor allem, als ungenierter Profiteur! Aber verstehen kann ich's nicht!" Donnerte Pao-Ye ungeniert. Gabriel lächelte schief, schlang ihm die Arme um den Rücken. Das brachte Pao-Ye in unmittelbare Nähe eines hoffentlich geneigten Ohrs. "Hast du Lust, mit mir zu schlafen?" "Jetzt?" "Klar! Immerhin bin ich trotz Novizenstatus lernfähig und hab gestern extra in der Drogerie Material besorgt." Worauf Pao-Ye stolz war. Es zeigte ja wohl eine ungeahnt positive Erwartung an die Zukunft! Er hörte Gabriels Kichern, spürte hautnah die leichten Vibrationen. "Ob wir dann das Licht ein wenig dämpfen könnten?" ~*#*~ Pao-Ye verfügte tatsächlich über eine gläserne Halbkugel, die mit Teelicht bestückt hübsche Winterbilder an die Wände warf. Unter der Überdecke wartete eine gute Matratze mit zwei Kissen und einer üppig dimensionierten Bettdecke. Er deponierte auch das jüngst erworbene Material, Gleitgel und Kondome, in Reichweite, ebenso einen Zellstoffspender. Pao-Ye zog sich rasch aus, glitt an Gabriels Seite, der sich gleichermaßen beschleunigt entblättert hatte, ihn mit einem Lächeln küsste. "Ich mag das." Wisperte er Pao-Ye zu. "Küssen, kuscheln, lachen, das ist schön. Schön mit dir." Pao-Ye suchte anregenden Schmirgelkontakt. "Schon wieder der Hippie!" Detektierte er in ganz eigener Lesart, um dann, getarnt von wirren Locken, zu flüstern. "Ich mag das alles und noch viel mehr mit dir!" Wobei er entschieden auf das "viel mehr" hinsteuerte. ~*#*~ Ja, da gab es keinen vernünftigen Zweifel! Auch wenn Pao-Ye befand, zumindest in einem unterbeschäftigten Bruchteil von Sekunden, dass 50 % Gabriel zuzuschreiben waren. Der verstand schlichtweg sein Handwerk! Auch das anderer Gliedmaßen! Die anderen 50 %... Mache man sich nichts vor! Wer nicht hüftlahm herumwackle, sondern geradezu euphorisch alle Muskeln und Sehnen spielen ließe, Penetration in vollen Zügen mit jedem Stoß genieße...! Pao-Ye spürte Gabriels Gewicht durchaus angenehm erdend auf seinem Rücken, die heftigen Atemzüge. Das seitliche Abrollen, ihn nicht freigebend, sondern mit einem Arm weiter umschlingend, löffeln, auch wenn die intime Verbindung schon beendet war. Pao-Ye sortierte seine Glieder, schob schließlich die Finger zwischen die der Hand auf seinem Brustkorb, arrangierte eine halbe Drehung, bugsierte Gabriel auf die eigene Frontpartie. Er sollte sich sündig vorkommen, von niedrigen Trieben beherrscht, verwerflich. Pao-Ye fühlte sich geschmeidig-erhitzt, von prickelnder Energie durchdrungen, sexy, verführerisch und selbstbewusst. Auch wenn, daran erinnerte ihn das gehässige Stimmchen im Hinterkopf, er ganz gewiss NICHT danach aussah oder jemals aussehen würde. Nicht mal mit Bildbearbeitungsprogrammen oder sehr viel Alkohol! Gabriel schmiegte sich an. Pao-Ye kraulte durch den wilden Wust des lädierten Zopfs. "Können wir es mal so versuchen?" Für einen Moment schien Gabriel zu erstarren, lachte leise, schob sich über Pao-Ye, blinzelte zu ihm herunter. "Das Tischtennis-Training fördert wohl die Kondition, hm?" "Oder ich bin extrem schwanzgesteuert, wenn auch nicht nur vom eigenen." Konterte Pao-Ye so herausfordernd wie zotig. Über ihm kicherte Gabriel, küsste seine Nasenspitze. "Auf ein Neues! Sag mir, wenn es besser werden muss." Pao-Ye nickte eifrig. Klar, von vorne, Winkel anders, am Besten mit Unterlage! Andererseits jubilierten seine Nervenstränge schon in Vorfreude. Sich sexy herumaalen, ausliefern und doch ganz Herr des Geschehens sein, einfach PARADIESISCH! ~*#*~ Nach einer eher ungelenken Aktion zur Hygiene und Entlastung notwendiger Hilfsmittel frönten sie Gabriels Leidenschaft: kuscheln. Pao-Ye versuchte sich daran, beiläufig Lockenstränge zu entwirren. Im Halbdunkel konnte man auch gut dösen. "Du bleibst doch, oder? Deine Sachen sind garantiert noch nicht alle trocken." "Hm." "Kannst vom Festnetz anrufen." "Hm." "Außerdem regnet's ja immer noch." "Hm." "Ich finde, wir sollten miteinander gehen. Ich weiß, ich bin anstrengend und noch Anfänger, ABER ich habe garantiert keine Freundin!" "..." "Ich würde es auch nicht verheimlichen, außer, du willst das lieber. Ich bin auch lernfähig, weißt du? Denk mal drüber nach, ja?" "..." "Gabriel?" "Hm?" Pao-Ye absolvierte mit steigender Übung eine Eskimorolle, wedelte durch die Luft, was eine Lampe aktivierte. Er setzte sich eilig auf, studierte Gabriels Gesicht. "Hast du etwa Fieber?! Ist dir nicht gut?" Die grünen Katzenaugen blinzelten matt. Handauflage ließ erhöhte Temperatur ahnen, auch wenn Gabriel nicht feucht schwitzte. "Verdammt." Konstatierte Pao-Ye. "Du musst dir was anziehen. Komm, ich helfe dir!" Was sich nicht allzu einfach gestaltete, obwohl es nur um den Pyjama und die Socken ging. Gabriel hatte Mühe, seine Bewegungen zu koordinieren. Eilig zog sich Pao-Ye an, wischte wirre Locken aus Gabriels Gesicht, kontrollierte die festgestopfte Bettdecke. "Ich rufe bei dir zu Hause an, ja? Und mache dir Tee! Bin gleich zurück!" Er regulierte die Lichtstärke eilig, flitzte die Treppe herunter. ~*#*~ Pao-Ye hatte gerade das Telefonat mit Wim beendet, der versprach, Gabriels Mutter zu informieren, als sein Vater eintraf. "Nanu?" Klar, Gabriels Rucksack samt Longboard fiel auf. "Gabriel ist hier. Er war total durchnässt und hat sich erkältet!" Sprudelte Pao-Ye hervor. "Machst du ihm Tee? Wir haben bestimmt noch Medikamente. Ich schau mal nach." Die Ruhe seines Vaters erdete Pao-Yes Sorge ein wenig. Hatte er es vielleicht übertrieben? Warum war Gabriel auch so gutmütig, wies ihn nicht in die Schranken?! Wobei er sich nun auch anteilig schuldig fühlte. Weil er sich großartig fühlte, den Sex genossen hatte. Sehr egoistisch! In der Küche studierten sie gemeinsam die vorrätige Ausbeute an Medikamenten. "Vielleicht die Tropfen hier? Wenn er nicht niest oder hustet..." Pao-Ye nickte, präparierte Kräutertee. "Soll ich das Gästezimmer herrichten?" Sein Vater äugte interessiert auf die Kräcker, die Pao-Ye mit Aufstrich-Häubchen versah. "Ähem, nicht nötig. Gabriel schläft in meinem Bett." Für einen Moment herrschte eine nervöse Spannung. Pao-Ye hegte keinen Zweifel daran, dass sein Vater durchaus wusste, warum Gabriel dort ruhte. Er teilte die Schnittchen auf, schob die Hälfte zu seinem Vater. "Ich bringe das rasch hoch und sehe, wie es ihm geht." "In Ordnung. Wenn er heim möchte, sag Bescheid, ich fahre ihn." Pao-Ye nickte, auch wenn er nicht die Absicht hatte, Gabriel auf diese Option ohne Not hinzuweisen. Beladen mit einem Tablett erstieg er wieder sein Zimmer, erhöhte die Lichtintensität, half Gabriel dabei, sich in eine sitzende Position zu hieven. "Ist dir übel? Kopfweh?" Gabriel blinzelte, lächelte mühsam. "Nur heiß. Und schläfrig." "Ich habe hier Tee und Tropfen gegen Fieber. Außerdem Kräcker. Willst du was davon versuchen?" Guten Willen beweisend kaute Gabriel tatsächlich zwei Kräcker, nippte den Tee, kämpfte gegen Erschöpfung an. "Die Tropfen noch." Drängte Pao-Ye, lehnte Gabriel an sich, stützte ihn mit einem Arm ab. Er kam sich durchaus gebieterisch vor. Nachdem Gabriel nachgiebig die letzte Hürde genommen hatte, durfte er sich wieder ausstrecken. Pao-Ye stopfte die Decke fest, reduzierte das Licht auf ein mattes Funzeln. "Ich komme gleich wieder." Versprach er. "Hm." Selbst sein Kuss verdampfte unkommentiert auf der heißen Stirn. ~*#*~ Kapitel 7 - Ent-Puppung Pao-Ye kaute Kräcker. Er leistete seinem Vater in der Küche Gesellschaft. Der bestand darauf, die Lage kurz zu besprechen. Darauf hinzuweisen, dass Gabriel mit Schlaf am Besten gedient sei! Dabei konnte Pao-Ye nicht assistieren. "Es ist auch meine Schuld. Hätte ich das blöde Telefon nicht rausgerückt...!" "Das war einfach Pech, Paulchen. So nachtragend wird er nicht sein, oder?" Pao-Ye schnaubte. "Nachtragend?! Pah! Keine Spur! Garantiert wird er noch was Positives daran finden! Er spinnt eben." "Wirklich?" Hastig wich Pao-Ye dem amüsierten Blick seines Vaters aus. Der hatte Gabriel ja schon persönlich in der Notaufnahme kennengelernt. Offenkundig musste sich Pao-Ye eingestehen, dass er seinen Vater unterschätzt hatte. Deshalb wich er auf ein anderes Spielfeld aus. "Ich weiß, dass ich Stubenarrest habe. Es war nicht die Rede davon, dass ich allein sein muss! Wir sind auch gleich nach der Schule hergekommen, kein Umweg, nichts!" Er knurrte. "Ging auch gar nicht, bei dem Wetter! Ich konnte ihn ja da nicht einfach so tropfnass herumstehen lassen." Das Schweigen seines Vaters veranlasste zur weiteren Argumentation. "Außerdem haben wir ja Wochenende, richtig? Morgen Früh keine Schule. Alles sehr vernünftig." Fand Pao-Ye zumindest, der gern eine Bestätigung zu hören wünschte. Vielsagend grinsend verstrubbelte ihm sein Vater den Schopf. Mal wieder eine Gelegenheit, dunkelrot anzulaufen. Das versäumte sein Teint wie gewohnt. "Also, ich geh mal nach ihm sehen, ja?" Eilig rutschte Pao-Ye vom Barhocker, zupfte verlegen an den Hemdzipfeln über dem Hosenbund. "Wenn etwas ist, sag Bescheid, Paulchen." Pao-Ye nickte eifrig, machte kehrt. "Danke, Papa!" ~*#*~ Gabriel schlief. Sein Atem schien ein wenig schwerer zu gehen, sonst wirkte er nicht sehr leidend. Pao-Ye flankierte, Kopfhörer justiert, streichelte durch wirre Locken, über die sengende Haut. Musik begleitete seine Kontemplation im Halbdunkel. Er würde sich wirklich anstrengen müssen. Klar, an den ganzen Liebesschmu mit Schmetterlingen, zeitweiser Psychose und anderen Begleitumständen glaubte er nicht! Gabriel war besonders. Jedenfalls jemand, den er nicht einfach so verabschieden wollte! Nicht nur wegen des körperlichen Vergnügens. Oder weil Gabriel so eingehend betrachtet (mit Brille!) sehr attraktiv war. Sondern wegen der verdrehten Gedanken in diesem wirren Schädel! Langweilig würde es einem da nicht! Vielleicht könnte man sich auch direkt unterhalten. Über die Dinge, die Pao-Ye dazu veranlassten, Karikaturen anzufertigen, über die Welt, die Angelegenheiten, die man persönlich beeinflussen konnte, über Erwartungen, Hoffnungen, Träume. Ohne Angst davor, die eigene Offenheit zu bereuen, weil sie sich gegen einen selbst richtete. Pao-Ye schreckte hoch, als das Licht sich verstärkte. Seine Mutter stand in der Zimmertür, warf einen knappen Blick auf das Ensemble, durchquerte den Raum, legte das Mobiltelefon auf dem Schreibtisch ab, machte kehrt und reduzierte an der Tür auch wieder das Licht. Pao-Ye entfuhr ein erleichtertes Aufatmen, was ihn ärgerte. Er würde sich aussprechen müssen. Genug der heimlichen Herumgärerei, weil ihm etwas nicht passte! ~*#*~ Nach einigen Minuten, in denen Pao-Ye das Für und Wider einer direkten Konfrontation erwog, kletterte er behutsam aus seinem Bett, streifte sich den eigenen Bademantel über, warf einen letzten Blick auf Gabriel, der sich nicht gemuckst hatte. "Bin bald wieder da." Wisperte er, küsste eine glühende Stirn. Er begab sich hinunter ins Wohnzimmer, angeleitet von den undeutlichen Stimmen seiner Eltern. Er zweifelte nicht, dass seine Mutter bereits die Hintergründe bei seinem Vater erfragt hatte. Zumindest die, die er ihm anvertraut hatte. Tatsächlich fand er seine Eltern recht gemütlich eingerichtet vor. Im Rahmen des akribischen Sinns für Ordnung seiner Mutter, die einen ihrer Hausanzüge trug, wie eine exotische Blüte wirkte, anmutig und sehr edel. "Ah, Paulchen! Wie geht's Gabriel?" Sein Vater, immer zu Stelle, die Spannungen abzumildern. Pao-Ye ließ sich ebenfalls nieder. "Er schläft. Ich glaube, dass das Fieber zurückgeht. Wahrscheinlich reicht eine Dusche eben nicht, um richtig warm zu werden." "Hier ist er ja in besten Händen. Seinen Eltern hast du Bescheid gegeben, richtig?" Jetzt tat sich ein wenig heikler Grund auf. "Ich habe es einem Mitbewohner gesagt, der es Gabriels Mutter ausrichten wollte. Von dem großen Haus habe ich dir erzählt. Ich habe unsere Nummer hinterlassen, falls sie sich vergewissern wollen." Pao-Ye spürte den inquisitorischen Blick seiner Mutter. Er atmete tief durch. "Mama, ich weiß, dass du enttäuscht bist. Ich bin gerade dabei, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Dieses Zerrbild, das ich vorher dargestellt habe, das konnte ich einfach nicht mehr ertragen. Ich habe es schlicht nicht mehr ausgehalten, mich ständig zu verachten. Gabriel oder die ehrenamtlichen Einsätze tragen daran keine Schuld. ICH muss selbst herausfinden, ob ich nicht als ich selbst mein Leben meistern kann. Ich finde nämlich schon, dass ich auch so akzeptabel bin." Er konnte an der zollstockgeraden Haltung seiner Mutter erkennen, dass es jetzt ans Eingemachte gehen würde. "Niemand hat behauptet, dass du nicht akzeptabel bist. Trotzdem ist es keineswegs unfair, wenn man sich positive Vorurteile zunutze macht." Pao-Ye seufzte. "Unfair nicht, stimmt. ICH bin von mir enttäuscht, dass ich so was nötig habe. Später sind es andere auch, weil ich die hohen Ansprüche einfach nicht befriedigen kann. Angefangen beim Klavierspiel." Der letzte Nachsatz stellte eine geplante Provokation dar. "Denkst du, wir haben dich zum Klavierspielen angemeldet, um dich zu kujonieren?! Eine musikalische Ausbildung soll die geistigen Fähigkeiten bei Kindern erweitern, heißt es. Wir wollten dir so viele Chancen wie möglich zugänglich machen!" Nun grummelte Pao-Ye. "Das hab ich schon begriffen. Bloß sind meine geistigen Fähigkeiten offenbar erheblich limitiert." Seine Mutter schnaubte. "Das konnten wir ja nicht ahnen! Überhaupt, denkst du, Blockflöte wäre besser gewesen?! Ich kann dieses Gepfeife nicht ausstehen. Von der Fiedelei bekommt man eine schlechte Haltung und so hässliche Schwielen unterm Kinn." Pao-Ye blinzelte, spürte, wie sein Unterkiefer herabsackte. "Ich kann die Blockflöte auch nicht empfehlen. Aus eigener Erfahrung." Zwinkerte sein Vater in gemütlicher Spitzbübigkeit. "Außerdem habe ich bereits deinen Klavierunterricht beendet. Deine Lehrerin klang verdächtig erleichtert." Ein scharfer Blick traf Pao-Ye. Der schmunzelnd mit den Schultern zuckte. "Schätze, ihr gingen einfach die Stücke aus, die ich ohne größere Katastrophen meistern konnte." "Darum geht's uns: größere Katastrophen zu vermeiden. Wir sind deine Eltern. Warum sollen wir dir keinen Vorsprung verschaffen? Warum sollst du Energie auf negative Vorurteile verschwenden, weil Leute dein Aussehen, deine Kleidung, deine Frisur für diskutabel halten?!" Bevor Pao-Ye etwas erwidern konnte, hob seine Mutter ihre gepflegte Rechte. "Ich habe durchaus verstanden, dass du das für unehrlich hältst, dass du diese Chance nicht länger nutzen willst. Du kannst uns nicht vorhalten, dass wir es versucht haben! Das ist UNSERE Verantwortung. Zumindest, bis du auf eigenen Füßen stehen kannst." Man hätte nun weiter nörgeln können. Pao-Ye bewies sich selbst, dass er über seine kleinmütige Einstellung hinausgewachsen war. "Dann danke ich euch für den Klavierunterricht und die Unterstützung bis hierher. Ich weiß das zu schätzen, auch wenn es jetzt vielleicht nicht danach aussieht. Ich möchte jetzt nur den Ballast dieser falschen Maske abwerfen. Ich bin meine eigene Mischung. Wenn ich damit auf Ablehnung stoße, ist die wenigstens persönlich gemeint." Zu seiner Verblüffung hörte er seine Mutter seufzen, sehr energisch schimpfen. "Du bist SO STUR!" Auf Mandarin. Während sein Vater ratlos blickte, konnte Pao-Ye ein Grinsen einfach nicht diplomatisch unterdrücken. "Von wem mag ich das wohl haben?" "Pah!" Schnauben, Kinn recken. Das erinnerte Pao-Ye an Gabriels Urteil. Sahen sie sich wirklich so ähnlich? "Dein Telefon habe ich nicht konfisziert. Es musste umgetauscht werden, irgendwelche Probleme mit den eingeklebten Akkus." "Danke, Mama." Ein grimmiger Blick traf ihn. Sie beugte sich vor, erhob einen Zeigefinger mahnend. "Noch was, Paul: benutze Kondome, klar?! Ich habe dich gegen alles impfen lassen, was aktuell möglich ist. Geschlechtskrankheiten sind keine Bagatelle, verstehst du?! Keine dummen Macho-Attitüden!" Pao-Ye blinzelte, schnappte unwillkürlich nach Luft. "Dass ich deine Mutter bin, bedeutet nicht, dass ich nicht wüsste, was los ist. Du hast Verstand, also gebrauche ihn. Wie dieser Spinnenmann gesagt hat. Dummheit ist für dich keine Ausrede für gar nichts." Was Peter Parker aka Spiderman aus dem Marvel-Universum ein wenig anders formuliert hatte. Pao-Ye wollte nicht kleinlich sein. "Meine Eitelkeit wird mir da sicher hilfreich beispringen. Ich bin nämlich nicht gern blöd." Returnierte Pao-Ye frech. Seine Mutter schnaubte. "Stur und vorlaut!" Auf Mandarin. Pao-Ye grinste. Damit konnte er durchaus leben. ~*#*~ Als Pao-Ye wieder in sein Zimmer zurückkehrte, schlief Gabriel unverändert friedlich. Er schlug die Decke zurück, schlüpfte darunter. Als er sie arrangierte, rollte sich Gabriel herum, schmiegte sich an, durchaus mit den Qualitäten eines Heizöfchens. Pao-Ye strich behutsam über die wirren Locken. Ganz schön liebesbedürftig! Er fand nicht, dass dieser Umstand ein Problem darstellte. Nein, daran könnte er sich ganz sicher gewöhnen. ~*#*~ "Tschuldige!" Krächzte Gabriel, der offenbar die Toilette aufgesucht hatte, jetzt über ihn zu klettern versuchte, was nicht so spurlos funktionierte, wie er beabsichtigte. Pao-Ye drehte sich im Aufwachen, holte ihn damit vom aufgestützten Bein, was zu einer fällenden Kollision führte. Pao-Ye ächzte, lachte, blinzelte ohne Brille hoch. "Alles noch dran? Wie geht's dir?" Gabriel ließ sich zur Seite abrollen, kuschelte sofort. "Gut. Bisschen heiser. Ich musste austreten, zu viel Tee." Die Hand gehoben versuchte Pao-Ye, die wirre Lockenmähne zu striegeln. "Ich glaube, deine Haare haben den Zopfgummi gefressen." Postulierte er eine Vermutung. Von einem Zopf konnte man wirklich gar keine Spur mehr entdecken. "Der findet sich meistens wieder." Gabriel rieb ihre Nasenspitzen aneinander. "Wenn ich zu anhänglich bin, sag was, ja?" Fädelte er die Arme unter Pao-Yes, richtete sich auf dessen Brustkorb wie einem persönlichen Kissen ein. Pao-Ye verhedderte sich in Lockensträngen. "Du magst das wirklich gern, hm?" "Sehr." Bestätigte Gabriel ohne jedes Zögern. Für einige Augenblicke lauschten sie nur auf Atemzüge, hingen ihren Gedanken nach. "Ich hatte gestern noch ein Gespräch mit meinen Eltern." Unterbrach Pao-Ye ihre einmütige Kontemplation. "Das Telefon musste wegen eines möglichen Schadens getauscht werden. Der Klavierunterricht ist beendet, mein Stubenarrest aufgehoben." "Klingt gut!" Urteilte Gabriel, leicht gedämpft, an Pao-Yes Halsbeuge. "Außerdem bin ich gehalten, immer Kondome zu benutzen." Ergänzte Pao-Ye mit einer gewissen Boshaftigkeit. "Hm, gute Regel." Pflichtete Gabriel vollkommen ungerührt bei. Das entlockte Pao-Ye ein Grummeln. "Dir ist nicht viel peinlich, oder?!" "Nicht viel." Ließ Gabriel ihn wissen. Pao-Ye seufzte lautstark. Er kraulte durch die wirre Mähne, drehte den Kopf leicht, um Gabriels Stirn zu küssen. "Eine Meise hast du aber doch!" Stellte er grimmig fest. Gabriel kicherte, schmuste innig. Nun ja, Tierliebe konnte Pao-Ye so allergiefrei pflegen, richtig?! ~*#*~ Nach einer Weile Dösen meldete sich Pao-Yes Magengrube. Sie hatte sofort Gesellschaft. "Lass uns aufstehen und frühstücken, okay? Ich muss auch noch einkaufen. Heller wird es heute wohl nicht mehr." Gabriel richtete sich auf. "Denkst du, ich könnte noch mal duschen?" Pao-Ye schmunzelte, setzte sich auch auf. "Wie wär's, wenn ich mit dir dusche? Damit ich sicher sein kann, dass du wohlauf bist?" Schlug er sehr subtil vor. Die grünen Augen funkelten, was Pao-Ye auch ohne Brille erkannte. "Ein sehr ökologischer Gedanke." Lobte Gabriel, kletterte aus dem Bett. "Ob meine Sachen jetzt trocken sind?" Ihm folgend schlug Pao-Ye das Bett zurück, löste die Verriegelungen, damit ein Luftzug sein Zimmer durchquerte. "Schlimmstenfalls müsstest du was von mir anziehen. Grottig fade, aber besser als Feigenblatt und Entenparka." Gabriel lachte, während er seine Lockenstränge geübt durchpflügte, natürlich auch den vermissten Haargummi entdeckte. Pao-Ye, mit Brille ausgerüstet, wischte durch seine Frisur, zupfte zipfelige Fransen zurecht. Er streckte Gabriel die Hand hin. "Wollen wir?" Lächelnd griff der zu. ~*#*~ Bepackt mit frischer bzw. gewaschener Bekleidung betraten sie das Badezimmer im ersten Stock. Angesichts der Uhrzeit vermutete Pao-Ye seine Mutter bereits wieder in geschäftlichen Angelegenheiten unterwegs. Sein Vater hatte keine konkreten Pläne geäußert. Deshalb schien es angezeigt, den Wimpel an der Tür auszuhängen, als Warnung, dass das Badezimmer gerade in Benutzung war. Gabriel drehte seine Lockenstränge ein, justierte den Dutt auf dem Oberkopf. Das rief bei Pao-Ye ein neidvolles Staunen hervor. "Wie hast du das hingekriegt?!" Immerhin hatte der wirre Wust völlig undurchdringlich verklettet gewirkt! In den grünen Augen tanzte der Schalk. "Rechts drehen, links festhalten, dann mit rechts den Gummi..." Schnaubend brachte Pao-Se SEINE Hände zum Einsatz, indem er kitzlige Stellen an Gabriels Torso attackierte. Der lachte gutmütig, schlang ihm die Arme um den Nacken, reduzierte so die Distanz. Pao-Ye wechselte zur Mischbatterie, streichelte Gabriel über den Rücken, ließ seine Stirn als Lehne nutzen. Er angelte nach dem Seifenstück (Plastik vermeiden!), begann, Gabriel mit dem leichten Seifenfilm zu bearbeiten. Sich artig drehend gestattete Gabriel diesen Service, spülte sich mit Wasser den Mund aus, erbat sich wortlos das Seifenstück, Pao-Ye genauso zu behandeln. Ohne Pelzgeschmack auf der Zunge bediente Pao-Ye Egoismen: Gabriel an sich ziehen, ihn unter dem luftigen Tropfenregen ausführlich küssen, während sie in regenbogenfarbigem Licht badeten. ~*#*~ In der Küche fand sich nur ein hohes Glas mit faseriger Neige. "Das Zähne schonende Frühstück meiner Mutter." Kommentierte Pao-Ye. Gabriel lachte, wirkte so vergnügt und munter wie gewohnt. "Viel Auswahl haben wir nicht." Nahm Pao-Ye entschlossen die Herausforderung an, krempelte die Hemdsärmel hoch. "Für einen hohlen Zahn wird es doch aber reichen, richtig? Guten Morgen zusammen." Auftritt Papa, im Pyjama, das Gesicht noch ungebügelt und nicht rasiert, der auf einen Barhocker kletterte. "Wie geht's dir, Gabriel? Kein Fieber mehr?" Gabriel lächelte. "Danke, alles in Ordnung. Ich hab gut geschlafen." "Fein, fein. Paulchen, stopfst du für mich eine Windel in die Maschine?" Für Pao-Ye keine kryptische Botschaft, der einen Kaffeevollautomaten hinter einer Abdeckung bestückte. "Willst du auch Haferflocken? Oder lieber Müsli? Allerdings ist keine Milch mehr da." Pao-Yes Vater seufzte. "Dann lieber Brei für Zahnlose. Müsli mit Wasser, igitt!" "Wer nicht einkauft, darf nicht meckern." Erinnerte Pao-Ye streng, schob Gabriel Kräcker und den kargen Rest Knäckebrot zu. "Übernimmst du das Bestreichen? Ich stelle dir die Gläser aus dem Kühlschrank hin." "So was! Hier müssen Gäste schaffen. Aber Paulchen!" Begleitete Pao-Yes Vater scherzhaft tadelnd diese Aufgabenverteilung. "Papa, vor dem ersten Kaffee solltest du keine scharfen Gegenstände bedienen." Konterte Pao-Ye frech, lupfte die gefüllte Tasse nach dem Signal. "Das ist wahr. Sicherheit geht vor." Schnupperte sein Vater genießerisch den Duft, seufzte gelassen. Gabriel grinste, widmete sich mit Geschick seiner Aufgabe, während Pao-Ye schon laut überlegte, was alles eingekauft werden musste. ~*#*~ "Ist das auch wirklich in Ordnung? Hattest du nichts anderes vor?" Pao-Ye, mit Hackenporsche bewaffnet, schenkte Gabriel einen fragenden Blick. "Nein, alles in Ordnung." Gabriel lächelte. "Ist dir wahrscheinlich noch nicht so aufgefallen, aber ich plane nicht besonders viel. Lebe im Augenblick, das ist so mein Motto. Irgendwas ergibt sich immer." Das entlockte Pao-Ye einen Seufzer. "So viel Vertrauen geht mir ab! Ich plane, um die Unbekannten in der Gleichung möglichst gering zu halten." "Finde ich beeindruckend. So zielstrebig zu sein. Genau zu wissen, wie es laufen soll." Antwortete Gabriel ihm. Man hätte Spott darin vermuten können. Pao-Ye wusste, dass das nicht zutraf. Gabriel meinte, was er sagte. "Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte." Grummelte Pao-Ye deshalb betont grimmig, erntete, wie erwartet, ein munteres Lachen. Das ermutigte ihn, sich auf dünnes Eis zu begeben. "Sag mal, findest du uns zu verschwenderisch? Wegen dem Haus und den Einkäufen?" Weil sein Vater zum Beispiel mit dem Auto zum Getränkemarkt fuhr. Wegen all der teuren Maschinen und technischen Spielereien. Gabriel warf ihm einen nachsichtigen Blick zu. "Weil ich mit vielen Leuten mit wenig finanziellen Mitteln ein wenig provisorisch hause?" Pao-Ye presste beschämt die Lippen aufeinander, konzentrierte sich auf seine Turnschuhe und das Trottoir. "Ich glaube, dass wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten Mühe geben. Ich bin nicht so schlau, dass ich auf Anhieb alle Umstände erkenne und final ein Urteil fällen kann. Liegt vermutlich daran, dass ich kein großer Vorausplaner bin." Zwinkerte Gabriel versöhnlich, ein Lächeln um die Lippen spielend. "Entschuldige." Murmelte Pao-Ye. "Schon in Ordnung, Pao-Ye. Ich kann verstehen, dass wir ein bisschen ungewöhnlich wirken. Roddy würde dir wahrscheinlich auch bestätigen, dass er eine Haltung und eine Botschaft hat. Wir sind ja nicht alle gleich gestrickt." Pao-Ye ließ einige Atemzüge verstreichen. "Dieser Roddy ist nicht dein Vater, oder?" Gabriel nahm keine Frage krumm. "Nein, Roddy ist der Partner meiner Mutter. Mein leiblicher Vater hat nie mit uns zusammen gewohnt. Er ist ständig unterwegs. Das letzte Mal hat er mir eine Nachricht aus Australien geschickt. Ein bisschen ein Abenteurer, weißt du?" Nein, das konnte Pao-Ye nicht von sich behaupten. "Ist das nicht schwierig, so getrennt zu sein?" Neben ihm lachte Gabriel auf. "Wir waren ja nie zusammen, also, meine Mutter, mein Vater und ich. Ich bin Wohngemeinschaften gewöhnt. Da ist immer jemand. Ich treffe ja auch eine Menge Leute. Ich bin nur allein, wenn ich mal eine Auszeit brauche." Pao-Ye ließ diese Erkenntnisse in seinem Kopf rotieren. Er konnte nun wirklich nicht behaupten, dass diese Konstellation seinem gutbürgerlichen Hintergrund entsprach. Gabriel hängte sich bei ihm ein, zwinkerte. "Tun sich da gerade Abgründe auf?" Erkundigte er sich neckend. "Kein bisschen!" Protestierte Pao-Ye etwas zu energisch. "Na ja, es ist nichts, was ich aus eigenem Erleben so kenne. Ich finde es etwas beängstigend. Das liegt auch daran, dass ich kein Talent habe, Freunde zu finden." Knurrte er in Rückwärtsverteidigung. "Ich glaube, du bist zu streng. Wir sind ja zum Beispiel schon Freunde, oder nicht?" Pao-Ye schnaubte. "Ich WUSSTE, dass du das sagen würdest!" Grollte er, kam sich kindisch vor. Gabriel lachte nachsichtig. "Sag mal, habe ich das nur geträumt oder hast du mich gestern gefragt, ob wir ein Paar sein können?" Erkundigte er sich sanft, studierte Pao-Yes Profil aufmerksam. "Oh, ich dachte, du wärst schon eingeschlafen! Ja, ich hab gefragt! Es hätte eine Menge Vorteile!" Betonte Pao-Ye, nun doch sehr nervös. Nicht, dass er einen Rückzieher zu machen beabsichtigte. Allerdings bei, wenn auch sehr trübem, Tageslicht, ohne Hormontaumel und nach Familienkontakt, würde sich nun Vernunft durchsetzen? Respektive eine sehr restriktive Sicht darauf, welche Nachteile zu befürchten standen? "Bist du dir sicher?" Gabriel wirkte nicht so gelassen-souverän wie gewohnt. "Sicher bin ich mir sicher!" Polterte Pao-Ye, brachte abrupt den beladenen Hackenporsche zum Stillstand, nicht nur aufgrund der umgesprungenen Fußgängerampel. Er holte tief Luft, dankbar dafür, dass noch keine anderen Leute auf Grün warteten. "Ich MAG dich, ganz SICHER nicht nur platonisch. Ich habe zwar keine Erfahrung, aber ich bin lernfähig! Ein Vorteil des Strebers." Behauptete er entschlossen. Gabriel lächelte, beugte sich vor, küsste Pao-Ye sanft auf die Lippen. "Ich hoffe, ich bin auch lernfähig. Finden wir's zusammen heraus." ~*#*~ Eine kleine Stimme in Pao-Yes Hinterkopf verurteilte sein Gebaren als unverschämt. Er ignorierte sie geflissentlich. Außerdem machte es einfach zu viel Spaß, mit Gabriel in der Küche zu werkeln. Auch sein Vater schloss sich an, der den Duft von selbst gebackener Pizza (allerdings auf Mürbeteig) frohgemut registriert hatte. Nun pflegten sie Gabriels Hobby, auf der Tagesdecke ausgestreckt kuscheln, während äußerst gedämpft Rockmusik ihre friedliche Stimmung untermalte. Schatten von der abgestrahlten Beleuchtung der Straße dekorierten die Wände. "Charlie wird sauer auf dich sein." Behauptete Pao-Ye, streichelte langsam über Gabriels Rücken. "Glaubst du?" "Bestimmt. Erst Linus, dann du, und Jackie Chan ist ja auch vergeben." Neckte Pao-Ye keck. "Ich glaub nicht, dass ich auf der Liste stehe." Konterte Gabriel, schmuste gemütlich. "Nein? Wieso nicht?" Das kam Pao-Ye seltsam vor. Rein optisch, fand er, machte Gabriel ganz sicher nicht weniger her als Linus, der Wikinger! Zugegeben, eher auf die Hippie-Skater-Öko-Variante. "Ich bin einfach ein Boarder. Ein Hobby-Kumpel. Nicht beeindruckend." "Pah!" Widersprach Pao-Ye dieser selbstgenügsamen Einschätzung. "Immerhin leistest du ihr Gesellschaft! Kann man von ihrem bärbeißigen Bruder ja nicht gerade behaupten!" Gabriel kicherte leise. "Ach, Yann ist schon in Ordnung. Die beiden sind sich bloß zu ähnlich. Da hilft etwas Distanz." Er glitt von Pao-Ye herunter auf den Rücken, okkupierte dessen Hand. "So viele Boarder gibt es hier nicht. Die Jungs, die auf den kürzeren Boards Tricks geübt haben, mögen keine kleinen Kinder. Wenig Platz, die Tretroller auf der Piste, da kommt es zu Konflikten. Charlie wollte ja nur lernen, wie man mit einem Longboard umgeht, also hab ich sie einfach gefragt, ob wir ein bisschen durch die Gegend rollen wollen." Pao-Ye wandte den Kopf. Gabriel schien seine Reaktion erwartet zu haben, zwinkerte lässig. "Über Charlie habe ich andere Leute kennengelernt. Macht Spaß." Pao-Ye rollte sich auf die Seite, streckte die Hand aus, um über Gabriels Wange zu streicheln. "Ich bin froh." Murmelte er leise. "Ja?" Gabriel spiegelte seine Haltung, rückte näher, ein Lächeln auf den Lippen. "Dass dein Ex ein Idiot ist!" Feuerte Pao-Ye grimmig heraus. "Ich werde dich ganz sicher nicht sitzen lassen!" Gabriel betrachtete ihn versonnen. "Das wäre schön." Pao-Ye stützte sich auf, beugte sich über Gabriel, küsste ihn nachdrücklich. "Ich bin extrem stur und egoistisch. Falls dir das entgangen sein sollte." Unter ihm kräuselte ein Schmunzeln die zarten Linien um Gabriels breiten Mund und in den Augenwinkeln. "Da kann ich mich wohl auf was gefasst machen, hm?" "Aber hallo!" Weil Pao-Ye die Beweisführung für erforderlich hielt, versiegelte er Gabriel entschlossen die Lippen. ~*#*~ Gabriel bestand darauf, dass Pao-Ye auf der Hälfte der Strecke umkehrte. Erstens konnte es wieder anfangen zu regnen. Zweitens wäre er auf seinem Longboard auch schneller daheim. Drittens wäre es vernünftig-gerecht. Pao-Ye konnte zu seiner leichten Verärgerung die Beweisführung nicht mit stichhaltigen Argumenten torpedieren. Deshalb stapfte er etwas missmutig solitär nach Hause, die Gedanken kreisend. Er mochte Gabriel, mit rapide steigender Tendenz. Immer noch ohne irgendwelche dubiosen Ausfallerscheinungen oder Teilzeitpsychosen! Andererseits wandelte sich sein früheres Frustpotential nun vermehrt in Groll um. Sich auf später vertrösten, zähneknirschend hinnehmen, was einem nicht gefiel: abgehakt! Der wahre Pao-Ye zeichnete sich durch merkliche Ungeduld aus. Das bedeutete jedoch, dass er aufpassen musste, es sich nicht mit dem gut- und langmütigen Gabriel zu verscherzen! Das Pao-Ye-Management würde sich flott ändern müssen! Er tippte den Code in das Sicherheitspaneel, ließ sich hinein. Gedämpfte Geräusche ließen Fußballspielübertragungen im Fernsehen vermuten. Die Alarmanlage wieder aktiviert entschied Pao-Ye, dass er gründlich nachdenken musste. Ja, ja, Pläne schmieden! Damit sein neues Leben so richtig Fahrt aufnahm! ~*#*~ Kapitel 8 - Unentbehrlich Eine gewisse Unzufriedenheit deutete sich an. Pao-Ye absolvierte gleichzeitig den zweiten Durchlauf einer Kurzlektion über den 1. Weltkrieg als Podcast, während er seine Habseligkeiten sortierte, respektive Oberbekleidung. Capsule Wardrobe, reduzierter Kleidergebrauch, wie auch immer man das limitierte Konzept nennen wollte: er strauchelte dabei! Metaphorisch. Tatsächlich erwies sich sein Bekleidungsreservoir als hochwertig und in tadellosem Zustand. Kein Fall für die Restmülltonne! Andererseits wollte er ja dem angestrebten Prinzip folgen, eine saisonal übersichtlich gehaltene Varianz etablieren. Theoretisch recht simpel, wenn man sich aufs Kombinieren verstand. Praktisch gesehen hatte er gerade mal zwei Stapel gebildet: ZU Streber-Spießig-Klischee-konservativ und Streber-Spießig-Klischee-konservativ. Er konnte die Anordnung ändern: Hemd unter T-Shirt. Aber grundsätzlich gefiel er sich selbst nicht in seiner "alten" Aufmachung! Andererseits konnte er wohl kaum losziehen, beide Stapel der Wohlfahrt anvertrauen, sich komplett neu einkleiden! Vielleicht wäre ein Tausch eine Idee? Kleiderkreisel schienen sich, wie eine eilige Recherche ergab, auf die Damen zu beschränken. Außerdem wäre, da machte Pao-Ye sich nichts vor, ihm NICHT damit gedient, unifarbene T-Shirts gegen solche mit Mustern oder zweifelhaften Sinnsprüchen einzutauschen. Er hätte schon gern die Edel-Punk-Unikate! Deshalb plumpste Pao-Ye frustriert auf sein Bett, federte nach, blickte grimmig ins Ungefähre. Sollte er vielleicht selbst Hand, Nadel und Faden anlegen?! Oder lieber noch weiter nach einem Anbieter, einem Label, einem Geschäft suchen, das seine Vorstellungen abdeckte? Grollend verstaute er die Kleidungsstücke wieder, sorgfältig separiert, falls ihn doch unerwartet ein Geistesblitz treffen würde. In solchen Moment pflegte er, sich eine Dokumentation oder Reportage zu Gemüte zu führen, um so RICHTIG und gründlich schlechter Stimmung zu sein. Jetzt allerdings würgte er den Podcast ab, fischte sein Mobiltelefon heran. Ob Gabriel sich treffen wollen würde? Pao-Ye beobachtete das Konzept des "Chillens" mit einer gewissen Reserve. Für ihn wirkte es immer wie zielloses Herumlungern plus einem Nährboden für dummes Rumgelaber und Imponiergehabe gegenüber Dritten. Faulenzen konnte man auch allein, ohne Publikum! Deshalb hoffte er, Gabriel zu gemeinsamer Zeit mit Unternehmungen einladen zu können. Dessen Mobiltelefon zeigte sich nicht erreichbar. Das begriff Pao-Ye nicht als Hürde, da er entschlossen war, seinen Impulsen (im vernünftigen Rahmen) zu folgen. Er wählte den Festnetzanschluss der Villa Kunterbunt/Yellow Submarine an, wo man tatsächlich noch ein vorsintflutliches graues Modell aus Bakelit mit Wählscheibe hegte! "Fasse dich kurz!" fiel bei dem Gewicht des Apparats bestimmt nicht schwer. Pao-Ye wartete geduldig, bis abgehoben wurde. Eine weibliche Stimme bestätigte ihm im Duktus der Fräulein von Amt des vergangenen Jahrhunderts die gewählte Nummer. Ob das Hettie war? Pao-Ye nannte höflich seinen Namen und bat, Gabriel sprechen zu dürfen. "Ich werde anfragen. Bitte bleiben Sie in der Leitung." Es klang WIRKLICH so, als würde eine uralte Anweisung zur Vermittlung von Ferngesprächen befolgt! Was Pao-Ye als nächstes durch den Hörer vernahm, entsprach auch nicht modernen Gepflogenheiten. Keine grässliche Melodie mit blechernem Klang auf Endlosschleife, nein, er hörte eine Schiffsglocke! Der Klöppel wurde energisch hin und her bewegt. Allerdings schloss sich keine Konkretisierung an. Ob jetzt etwa alle im Haus zum Telefon kamen? Pao-Ye grübelte. Oder gab es wieder eine andere kreative Lösung wie bei den Spiegeln und den Wegweisern im Treppenhaus? Möglicherweise ein Wimpelsystem? "Bitte haben Sie ein wenig Geduld. Ihr Anruf wird vermittelt." Nun konnte Pao-Ye ein Kichern nicht unterdrücken. Da MUSSTE einfach jemand die alten Texte ablesen! Er grinste noch vor sich hin, als er Gabriels Stimme hörte, der sich höflich meldete. "Guten Morgen!" Sorgte Pao-Ye für einen zivilen Einstieg, bevor er aus der Rolle fiel. "Gabriel, ich scheitere hier kläglich an meiner Eitelkeit vor der Bekleidungsfront! Können wir nicht zusammen was Sinnvolles unternehmen?" Gabriel lachte gutmütig an seinem Ohr. "Wenn du keine Angst davor hast, etwas schmutzig zu werden, kann ich mit einem Vorschlag dienen." "Reden wir über schmutzige Sachen? Ich bin dabei! In diesem Bereich habe ich noch großen Nachholbedarf!" Verkündete Pao-Ye entschieden. Das amüsierte Auflachen wärmte ihn wohlig von innen auf. Hatte er sich jemals so bemüht, einen anderen zum Lachen zu bringen? Pao-Ye konnte sich selbst besser leiden, stellte er fest. Weil Gabriel wie ein Katalysator seine Eigenschaften und Eigenheiten filterte. Der klang noch sehr nach Schmunzeln, als er Pao-Ye adressierte. "Ich gebe dir mal eine Wegbeschreibung." ~*#*~ Gabriel traf Pao-Ye ein Stück entfernt von seinem kuriosen Haus. Von der Hauptstraße durch das Industriegebiet ging ein schlichter Asphaltweg ab, landwirtschaftlicher Verkehr gestattet. Pao-Ye, der Gabriel noch während der Begrüßung um den Hals gefallen war, wurde an der Hand genommen. Das störte ihn kein bisschen, weil Gabriel sich sichtlich freute, schon mal eine Kuscheleinheit erhalten zu haben. Die feinen Linien um den breiten Mund und in den Winkeln der grünen Augen prägten sich etwas tiefer. Artig lauschte Pao-Ye den Erläuterungen zu ihrer Destination. Die Hausgemeinschaft war Mitglied in einer Kooperative mit dem Bauernhof, zu dem sie unterwegs waren. Neben Genussrechten an "Früchten" des Ertrags gegen Mitgliedsgebühr leisteten die Mitglieder auch körperlichen Einsatz. Zu ernten gab es nicht mehr viel. Nach dem ergiebigen Regen hieß es Pflege von Sträuchern, Feldern und Wällen. Außerdem sollte die Altgeäst-Hecke aufgestockt werden, da ihr verrottendes Material sie regelmäßig schrumpfen ließ. Pao-Ye verstand nicht sonderlich viel vom Anbau. Permakultur kannte er als Schlagwort. Eine praktische Umsetzung hatte er noch nie besichtigt. Die Freiwilligenmannschaft klemmte sich mit Holzwäscheklammer ein Papp-Namensschild ans Revers. So ausgerüstet wurden die Aufgaben verteilt, mit Anleitung und Erklärungen durch die Familie, die den Hof bewirtschaftete. Zu tun gab es viel. Nasses Erdreich sorgte für Schmutz. Die kalte Luft biss in ungeschützte Hautpartien. Alle bewiesen gute Laune und zupackenden Einsatzeifer. Pao-Ye tat ordentlich mit, auch wenn er sich ein wenig unzulänglich fühlte. Nur Übung macht den Meister! Man arbeitete sich warm, lachte über mangelndes Geschick miteinander, freute sich über erledigte Aufgaben. Zur Stärkung gab es Gemüseeintopf mit frisch gebackenem Brot. Recht schmuddelig, aber glücklich verabschiedete sich Pao-Ye schließlich am frühen Nachmittag. "Und jetzt?" Strahlte er Gabriel an, der zufrieden lächelte. "Jetzt gehen wir zu mir. Bis dahin ist der Dreck trocken, dann klopfen wir ihn ab. Oder musst du schon heim?" Pao-Ye schüttelte so energisch den Kopf, dass seine Stirnfransen flogen. "Nein, ich habe noch Zeit! Unabgeklopft will ich nicht aufschlagen. Meine Mutter hegt eine entschiedene Aversion gegen Dreck. Zumindest, wenn es nicht Peeling-Masken oder Heilbäder sind." ~*#*~ Auch wenn er sich dekadent vorkam, berichtete Pao-Ye Gabriel von den Details seines Bekleidungsdilemmas. Gutmütig lauschte der einer Ein-Mann-Diskussion von verschiedenen Standpunkten aus. "Also, ich kenne mich mit Mode nicht aus, aber wenn du mal skizzierst, was du willst?" "Könnten wir gezielter suchen, richtig?!" Vollendete Pao-Ye in vollem Schwung Gabriels Vorschlag. "Gute Idee! Ich muss ja mal aus dem Quark kommen und WISSEN, wer ich bin!" Verkündete Pao-Ye höchst entschlossen. "Ich könnte planvoll vorgehen, in der Reihe der auszutauschenden Kleider..." Er hielt inne, weil Gabriel an seiner Hand ein Prusten zu unterdrücken versuchte. Mit mäßigem Erfolg. Bevor Pao-Ye irritiert-verärgert-grollend eine Ursachenforschung ansteuerte, bremste er sich selbst. Gabriel agierte nie boshaft oder hämisch. Also, warum...? »Oh.« Pao-Ye verdrehte hinter seinen verstaubten Brillengläsern die Augen. "Schon wieder im Planungsmodus!" Analysierte er den Grund für Gabriels Erheiterung selbst. "Das ist, nun, chromosomonal bedingt! Erbe meiner Mutter! Ich kann gar nicht anders!" Behauptete er deklaratorisch mit Verve. Gabriel beugte sich hinüber, küsste ihn auf die Wange. "Ich mag deinen Schwung, Pao-Ye. Strategien sind bestimmt auch nicht verkehrt." Ließ er Pao-Ye sanftmütig wissen. "Selbst bei so unwichtigen Dingen wie Klamotten." Brummelte Pao-Ye leise. Eigentlich sollte er ja WICHTIGE Dinge ins Auge fassen, oder?! Sich nicht eitel auf nachrangige Petitessen versteifen, die als Feigenblatt dienten, nicht die eigene Komfortzone zu verlassen! "Das ist doch nur eines deiner Vorhaben. Jedes Steinchen macht das Mosaik." Zwinkerte Gabriel. Pao-Ye stöhnte vernehmlich auf. "Hör mal, du kannst mich doch nicht ständig ermutigen und meine Selbstzweifel auskontern! Ich werde bestimmt in Nullkommanichts großkotzig und selbstgerecht und unausstehlich eingebildet!" Gabriel schien diesen Tadel für einige Augenblicke zu kontemplieren. "Das würde passieren? Meinst du? Ist das schon mal vorgekommen?" Nun knurrte Pao-Ye laut, wirbelte Gabriel herum, legte ihm die Arme um den Nacken, funkelte grimmig in die grünen Augen. "Aus erzieherischen Gründen musst du mir immer mal wieder einen auf den Deckel geben, klar?! Wenn du mir fortwährend das Gefühl vermittelst, ein halbwegs anständiger Homo sapiens zu sein, werde ich überheblich! Wer, wenn nicht du, könnte mich ernsthaft dazu anhalten, mich am Riemen zu reißen?!" Gabriel schlang ihm unbeeindruckt die Arme um die Hüften. "Also, ich hab nicht die Absicht, dich zu erziehen, weißt du? Ich glaube, du hast dich selbst ziemlich gut im Blick. Das genügt mir." Mal wieder eine typische Hippie-Meisen-Horst-Antwort! Pao-Ye verzichtete auf eine Auseinandersetzung, lehnte seine Stirn an Gabriels. "Du bist ein totaler Spinner. Trotzdem, ich mag dich, geradezu unheimlich gern." Gabriels leises Lachen vibrierte zwischen ihnen. "Ich mag dich auch, Pao-Ye." Er küsste ihn zärtlich auf die Lippen, um weitere Diskussionen zu vermeiden. Pao-Ye blinzelte in die grünen Augen. Ein Spinner, gar kein Zweifel, aber ein wunderbarer Mensch. ~*#*~ Schmutzige Kleider ließen sich besser abklopfen, wenn man selbst nicht drin steckte. Man konnte die Gunst der Stunde nutzen, gemeinsam zu duschen. Knapp, wegen des reduzierten Heißwasserbeutels. Gabriel eskortierte Pao-Ye in geliehenen Kleidern in den "Kartenraum". Der große Gemeinschaftsraum war mit wandhohen Regalen und Sitzgelegenheiten vollgestopft. Man traf sich dort, wenn man nicht in der Küche werkelte. So lernte Pao-Ye auch die restlichen Einwohnenden der Villa Kunterbunt kennen. Ein ziemlich wilder Haufen, das schon. Wo sonst konnte man sich in die Arme seines Freundes kuscheln, eingehüllt in eine große Decke? Niemand kommentierte dies als ungezogen! Zudem residierte auch noch Salome auf seinem Schoß, ließ sich gemütlich kraulen. Ihr Schnurrmotor versetzte Pao-Ye in eine sehr angeregte Stimmung. Bei den Mitgliedern der Hausgemeinschaft lief gerade eine beliebte Unterhaltung in der Gruppe: kritisches Denken! Einer trug eine Zeitungsmeldung vor, danach wurde debattiert. Welche Fakten fehlten? Wie stand es um den größeren Zusammenhang? Konnte man sich eine Meinung bilden? Pro? Contra? Wie sahen Argumente aus? Erstaunlicherweise verliefen diese Diskussionen lebhaft-friedlich, häufig von Lachen akzentuiert. Alle begegneten sich mit Wohlwollen, mit Aufgeschlossenheit. Um die Welt zu verstehen, benötigte man Wissen, sogar jede Menge! Also musste man tiefer eintauchen, mäandernden Spuren folgen, Quellen erschließen. Pao-Ye studierte heimlich Gabriels Mutter. Die Ähnlichkeit konnte man nicht verkennen: ein beeindruckender Lockenschopf und ebenfalls grüne Augen. Sie wirkte athletisch-unternehmungslustig, ganz und gar ungekünstelt, direkt. Kein Makeup, keine aufwändige Garderobe. Welch ein Kontrast zu seiner eigenen Mutter! Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihm begegnete, gefiel Pao-Ye. Der durchaus nervös gewesen war. Er entstammte einem Milieu, das dieses kunterbunte Haus hier als potentiell unzuträglich für die eigenen Werte einstufte. Nicht der Umgang, den man in seiner Schicht pflegte oder erwartete! Aufgekratzt und wehmütig zugleich verabschiedete er sich, von Gabriel exakt bis zur Mitte der Strecke begleitet. "Das war ein phantastischer Tag heute!" Bekundete Pao-Ye, legte ungeniert die Arme um Gabriels Nacken. "Ja, ich fand es auch sehr schön." Bestätigte Gabriel sehr wohltemperiert, mit schelmischem Lächeln. "Ich hatte so viel Spaß wie lange nicht mehr! Schmutzige Sachen mit dir unternehmen, das ist einsame Spitze!" Revanchierte sich Pao-Ye grinsend. Gabriel schmunzelte, drückte Pao-Ye ein wenig fester an sich. "Wir könnten das wiederholen. Zusammen sein, lachen, kuscheln." "Küssen nicht zu vergessen!" Neckte Pao-Ye, dippte seine Lippen auf Gabriels. "Hmm. Ich mag das." Gabriels schlichte Feststellung jagte einen Fieberschauer durch Pao-Ye. Dummerweise konnte er diesem Verlangen nicht nachgeben. "Ich auch." Bekannte er sehr leise, blinzelte in die grünen Augen aus nächster Nähe. "Treffen wir uns! Ich achte auf mein Telefon, damit ich deine Nachrichten nicht verpasse." Gekonnt hob Gabriel die Stimmung, zwinkerte. "Abgemacht!" Pao-Ye straffte seine Gestalt. Disziplin! Einen Abschiedskuss, und dann aber ab nach Hause! Wobei er den Zählwert sehr großzügig auslegte. ~*#*~ Pao-Ye verwünschte in einem kurzen Moment pessimistischer Schwäche den Umstand, in der letzten Woche noch zahlreiche Prüfungen schreiben zu müssen. Der Anflug von Frustration zog den Kürzeren, weil Pao-Ye sich beeilte, eine weitere Premiere in seinem Leben einzuleiten. Nämlich zum ersten Mal nach der Telefonnummer eines Mädchens zu fragen! ~*#*~ Pao-Ye hielt ungeduldig Ausschau, trippelte von einem Fuß auf den anderen. Wenigstens hatten sie an diesem Mittwoch in der letzten Schulwoche vor den Winterferien Glück mit dem Wetter. Auch wenn der Regen durchaus sehr benötigt wäre, so war er ihm gerade jetzt nicht willkommen. Mit knackig-kalt dagegen konnte Pao-Ye durchaus etwas anfangen. Endlich kamen zwei vermummte Gestalten in Sicht, rollten gemütlich heran. Partnerlook, schlabbrige Hosen, darüber entsprechende Jacken, Schal vor dem Gesicht, Mützen, und die halbe Portion noch eine Skibrille vorgeschnallt. Um Pao-Ye herum trödelten langsam die anderen Schülerinnen und Schüler vom Gelände. Gabriels und Charlies Ankunft erregte nur gelindes Interesse. Nicht jedoch bei Pao-Ye, der sofort eine Diskrepanz in Gabriels Erscheinungsbild registrierte. "Was ist das denn?!" Gabriel, der nicht mal seinen Kuss und eine Umarmung zur Begrüßung erhalten hatte, absolvierte die halbe Drehung, damit er sehen konnte, was Pao-Ye so energisch um ihn herumspringen ließ. "Oh, weißt du, der Haargummi hat heute Morgen den klügeren Weg gewählt und nachgegeben..." Pao-Ye griff einfach zu, hielt ein zylindriges, weißes Kunststoffnetz in den Händen. Üblicherweise zum Einsatz um exotische Früchte herum, die man von ihren Kameraden trennte, um Beschädigungen zu vermeiden. "Hettie hat aus unserer Sammelbox das hier beigesteuert." Gabriel blickte in empört funkelnde, schwarze Augen hinter Brillengläsern. "Das ist ganz grauenhaft! Los, schütteln, richtig!" Sogar seiner Mütze ging Gabriel verlustig. Amüsiert und gutmütig schwenkte er seine Lockenstränge wild herum. Ungebändigt reichten sie weit über seine Schulterblätter. Das erregte Aufsehen, weil die gegen Kälte verpuppte Mumie sich nun als höchst attraktiv erwies. Diese Haare...!!! Pao-Ye genoss das Seufzen und Ächzen ungeniert. Er hatte einen anstrengenden Schultag hinter sich, wollte sich jetzt GANZ ENTSCHIEDEN prächtig unterhalten! "Boah, voll tussig!" Mischte sich Charlie entsetzt ein, um erbost zu ergänzen. "Das machst du doch mit Absicht! Los, Hulk, du musst dich wehren! Der Typ will bloß mit dir angeben!" Sein sauberes Stofftaschentuch gezückt, eine unerbittlich durchgesetzte Angewohnheit seiner Mutter, die ihn reich ausgestattet hatte, nickte Pao-Ye ungerührt. "Gut erkannt. Halte einen Moment still, ja? Ich binde dir eine würdige Schleife." Vor allem nicht mit einem fingerklebrigen Plastikmüllprodukt aus Erdöl! Mit wachsender Übung fädelte Pao-Ye die einzelnen Lockenstränge sanft zusammen, fasste sie in Leinentuch ein. Sogar recht passend: der Stoff zeigte eine lindgrüne Färbung! "Los, Hulk! Das ist angeberische, tussige Schikane!" Ermahnte Charlie empört, auch wenn Gabriel kaum die neidvollen Blicke und Kommentare entgangen sein konnten. Ja, manche Leute mochten eben seinen Schopf! Man konnte es schlechter treffen. Trotzdem grübelte er artig. "Ich soll mich also revanchieren?" Erkundigte er sich bei Charlie, die heftig nickte, finstere Blicke auf Pao-Ye abschoss. Der hatte seine Dekorationsarbeiten abgeschlossen, bot Gabriel wieder die Front. "Ich möchte einen Kuss! Das ist doch tussig und angeberisch, nicht wahr?" Gabriel konsultierte die Beziehungsberaterin an seiner Seite, drei Köpfe kleiner. "Vor allem eklig!" Kommentierte Charlie mit einer entsprechenden Grimasse. Pao-Ye nahm die Herausforderung so, wie sie gemeint war: er fasste Gabriel bei den Schultern, massierte ihm ausgiebig die Mandeln. Vor Publikum und unter Charlies aufgebrachtem Kreischen. ~*#*~ Charlies Groll hielt nicht lange vor, auch wenn sie hinter der Skibrille die Augen rollte. Gabriel, das Longboard am Rucksack eingehängt, hielt Pao-Yes Hand, lächelte friedlich in die Umgebung. IHN tangierte "tussige Angeberei" gar nicht. Außerdem schlenderten sie jetzt über den örtlichen Weihnachtsmarkt. Es roch appetitlich und die Beleuchtung wirkte heimelig. Pao-Ye hielt Ausschau nach "Futterquellen", lose verkaufter, pflanzlicher Ware, die man in eigene Tüten oder Schraubgläser abfüllen konnte. Hin und wieder neigte er ja doch zu ein wenig Süßem, Bonbons oder karamellisierten Nüssen. Wenn man das nicht zu Hause selbst machen wollte (Bonbons ziehen war ihm doch zu heikel), bot sich hier eine gute Gelegenheit. Man musste sich jedoch konzentrieren. Die Düfte und Gerüche vermischten sich. Die einzelnen Stände waren gut besucht, Schlendergang die einzige Fortbewegungsmethode. Außerdem galt es auch, Charlie nicht zu verlieren. Unerwartet fasste Gabriel seine Hand etwas fester, nur für einen Moment, nur ein unkontrollierter Reflex. "Hallo." "Hallo." Ein Nicken, ein lässiger Gruß im Vorbeigehen. Ein Pärchen, er, mit gepflegter Frisur, schwarzhaarig, Wollwalk-Doppelreiher, klassisch-elegant, passender Schal, hochpreisige Marken, sie, einen halben Kopf kleiner, kunstvoll herausgeputzt, in tailliertem Mantel, eng bei ihm eingehakt. Ein Bilderbuchpärchen aus dem Marketing-Katalog. Pao-Ye verstand nach einem rapiden Seitenblick auf Gabriels Profil. "Charlie, suchst du mal nach dem Apfelküchleinstand?" Instruierte er ihre kleinere Trabantin. Rosa Zuckerwatte kam wegen ABSOLUTER "Tussigkeit" nicht in Frage. Bei ausgebackenen Apfelküchlein konnte ein solcher Ruch nicht konstatiert werden. Während Charlie sich energisch in Hüfthöhe nach vorne kraulte, nutzte Pao-Ye die schmale Lücke zwischen zwei Buden, zerrte Gabriel in die Plastik-Tannen. Der traurige Ausdruck hatte sich verabschiedet, natürlich. So leicht ließ Pao-Ye nicht locker, fasste Gabriels Gesicht mit beiden Händen, küsste ihn leidenschaftlich. Während die grünen Augen ihn noch ein wenig träumerisch in den Fokus nahmen, zischte Pao-Ye energisch. "Ich bin die bessere Wahl, das wirst du schon sehen! Ich werd's dir beweisen!" Gabriels Mundwinkel zuckten. "Da halte ich wohl besser beide Augen offen, hm?" Schmunzelte er leise. "Nicht nur das!" Diktierte Pao-Ye grimmig, gab Gabriels Wangen nicht aus seinem Zugriff frei. "Auf MICH gerichtet! Damit du nichts verpasst!" Pao-Ye hatte in Sekundenbruchteilen erkannt, wer der Fremde gewesen war: der berüchtigte Ex! Zugegeben, man musste dankbar sein, dafür, dass der Typ ein Idiot war! Vermutlich auch dafür, dass Gabriel die für ihre bevorzugten Sex-Praktiken erforderliche Erfahrung hatte. Trotzdem hatte es Pao-Ye wie einen Stich in die Seite, direkt in den Nerv getroffen, diesen schmerzhaften Ausdruck auf Gabriels Gesicht zu sehen. Selbst ein Meisen-horstiger Hippie litt unter einer Abfuhr, ganz gleich, wie ungünstig die Ausgangslage gewesen war! Im Vorbeigehen, so lässig-souverän-distanziert mit einem knappen Gruß abgespeist werden, pfuibah! Gabriel beugte sich vor, lehnte den gerollten Mützensaum an Pao-Yes Stirn. "Ich mag dich." Stellte er leise, gewohnt friedfertig und entwaffnend direkt fest. Pao-Ye löste seine Hände, fasste nach Gabriels. "Weise Wahl. Zufällig mag ich dich auch." Knurrte er mit gerecktem Kinn, in der Absicht, JEDE Konkurrenz zu verbeißen, "Jetzt lass uns die halbe Portion aufstöbern. Kann's kaum erwarten, ihre nächste Kritik an meinem angeberisch-tussigen Verhalten zu hören!" ~*#*~ Den Apfelküchleinstand hatte Charlie indessen noch nicht eruiert, dafür aber den besten Wikinger aller Zeiten. Mit gewissen, gerade noch verschmerzbaren Abstrichen. "Linus!" Trompetete sie erfreut, rammte die Skibrille hoch, auf die Mütze. "Charlie! Bist du etwa allein hier?" Ohne viel Federlesen beugte sich Linus über den nicht sonderlich hohen Tapeziertisch, pflückte Charlie ab, lupfte sie hinter die Front. "Oder ist Yann in der Nähe?" Linus' zweifelnder Tonfall garnierte seine skeptische Miene. "Pah!" Schnaubte Charlie, nahm artig auf dem ein wenig wackligen Tapeziertisch hinter der Demarkationslinie Platz. "Mit dem gehe ich doch nicht! Der schleppt bloß blöde Tussis an! So wie die dämlichen Schnepfen..." Sie bremste sich. Silvain tauchte auf, nachdem er in liebevoller Umsicht gespendete Stofftiere in einen schützenden Sack verpackt hatte. "Oh, hallo! Wo ist dein Brett?" Begrüßte er sie kurzsichtig, höflich. "Bei Hulk. Am Rucksack." Grummelte Charlie sparsam. "Ist er mit dir hier?" Linus schob elektrisches Spielzeug ein wenig beiseite, damit der Tapeziertisch nicht durch ein Ungleichgewicht ins Trudeln kam. "Ja. Und der falsche Powerman." Seufzte Charlie geplagt. Da wurde einem wirklich die Petersilie verhagelt! Wenn so ein beklopptes Liebesvirus die besten Kumpel infizierte! "Ob du wohl einen Augenblick bei Linus bleiben und mich vertreten könntest?" Mischte sich Silvain ein, blinzelte hinter der Brille, die Wangen eifrig gerötet. "Ich möchte uns gern etwas zu trinken holen. Zum Aufwärmen. Du bist selbstverständlich eingeladen." Ergänzte er mit einem gewinnenden Lächeln. "Na ja, ich hab schon Zeit, muss ja nicht gleich zum Apfelküchleinstand." Gab sich Charlie konziliant. "Prima! Sehr nett von dir, danke schön!" Vorsichtig schlüpfte Silvain aus der improvisierten Bude, hielt durch die Menge Kurs auf einen anderen Marktstand. "Der ist echt blind wie ein Maulwurf, was?" Kommentierte Charlie die vorsichtige Klippfisch-Methode des Durchschlängelns. "Er schlägt sich immer wacker." Linus lächelte über Silvains Taktik, Charlie versöhnlich zu stimmen, persönlichen Einsatz zu zeigen. Ganz gleich wie schreckhaft Silvain auch war: an seinem Mut, seiner Zuversicht gab es keinen Zweifel. "Du bist auch total verknallt!" Diagnostizierte Charlie grämlich. "Stimmt." Ungeniert bestätigte Linus das Offenkundige. "Was machst du hier überhaupt?" Lenkte Charlie von diesem unerfreulichen Sujet auf ein anderes Thema ab. "Wir nehmen gebrauchtes Spielzeug entgegen. Die Leute können es abgeben. Wir sortieren gleich durch." Linus präsentierte die Ausbeute an elektrischem Spielzeug aller Art. "Schau, die gucke ich durch. Falls Batterien oder Akkus drin sind. Ob es da Verschmutzungen gibt, Korrosion oder Ähnliches." Interessiert spähte Charlie in offene Schächte und Klappen. "Was macht ihr mit all dem Zeug?" Während er geschickt weiter in die technischen Eingeweide der Spenden eintauchte, erläuterte Linus die Gemeinschaftsaktion. "Ein Teil geht an Kindertagesstätten und Horte. Gesellschaftsspiele an das Nachbarschaftsbüro, da kann man sie auch ausleihen. Stofftiere und Puppen werden an die Klinik und an das Kinder-Hospiz weitergegeben, nachdem sie gesäubert wurden." Charlie runzelte unsichtbar unter Mütze und hochgeschobener Skibrille die Stirn. "Was ist ein Kinder-Hospiz? Ein Krankenhaus?" "Nicht ganz." Linus verteilte getestete und inspizierte Spielsachen in Kisten unter dem Tapeziertisch. "Das ist eine Einrichtung, wo man versorgt wird, wenn man sterbenskrank ist. Für die letzte Zeit." Er warf einen prüfenden Blick auf Charlie, die sehr still diese Erklärung verdaute, schließlich eine säuerliche Miene zog. "Sterben ist Schei...ist blöd, wenn man ein Kind ist!" "Ja. Weil es noch so viel zu leben gäbe." Bestätigte Linus knapp, drückte kurz die knochigen Schultern. Er forcierte kein Gespräch, sondern nahm sporadisch überreichte Spenden mit einem freundlichen Dank entgegen. "Ach herrje, da kommt deine Leseratte." Vermeldete Charlie schließlich, die auch Ausschau nach ihren verlorenen Begleitern hielt. Linus lächelte. Hochkonzentriert balancierte Silvain drei Keramikbecher mit sich auflösenden Schokoladenwürfeln am Stiel durch die Menge. Für ihn, den Schreckhaften, Kurzsichtigen, Scheuen eine gewaltige Herausforderung! Endlich hatte Silvain sie sicher erreicht, strahlte erleichtert. "Ich habe Mandelmilch gewählt." Verkündete er fast entschuldigend. Seinen Prinzipien wollte er treu bleiben. "Danke." Murmelte Charlie, die ihren Becher mit beiden Händen umfasste. Linus nutzte Silvains noch beschäftigte Hände, um ihn sanft auf die Lippen zu küssen. Einen Schutzengel für die eigene Gemütsverfassung musste man schließlich (mit großem Genuss) gewogen halten! Silvain zuckte nicht hektisch zusammen, sondern schmunzelte schelmisch, reichte einen Becher weiter. Kaum, dass er sich wieder hinter den Tapeziertisch gezwängt hatte, entdeckte Linus dank Wikinger-Gardemaß ein vertrautes Gesicht. "Ah, deine Begleiter." "Hulk! Hier bin ich!" Machte Charlie energisch auf sich aufmerksam. "Hallo Linus! Arbeitest du heute hier?" Gabriel nutzte geschickt mit entwaffnendem Lächeln kleine Lücken, Pao-Ye an der Hand im Schlepptau. "Wie du siehst. Tritt Roddy wieder morgen mit dem Chor auf?" Linus nippte rasch an seinem Becher, mit einem unbeschäftigten Arm Silvain knuddelnd, der vermutlich trotz Parka wieder fror. "Ich denke schon. So treffen sich alle wieder. Das hat schon Tradition." Grinste Gabriel verschwörerisch. In diesem inoffiziellen Chor versammelten sich viele Angehörige des ehemaligen Empire, die sich in der Fremde niedergelassen hatten. Mit einer Stimme, die jeden Pub füllen konnte, zählte Roddy natürlich dazu. Nicht immer intonierte man aus voller Kehle nur Weihnachtslieder in getragenem Tempo! Der alljährliche Auftritt des Chors zählte zu den Höhepunkten des Weihnachtsmarkts, immer am letzten Donnerstag vor den Feiertagen. Da viele Bekannte auch längere Anreisen auf sich nahmen, wurde die Villa Kunterbunt zum Hostel, herzliche Betreuung inklusive. Pao-Ye brachte sich ins Gespräch, konnte dem anregenden Duft einfach nicht widerstehen. "Was ist das für Schokolade? Kakao? Zartbitter?" Silvain offerierte zwecks Inspektion über den Tapeziertisch seinen Becher. "FairTrade-Kakao in Blockform am Stiel, aufgelöst in Mandelmilch. Nicht sehr süß. Man kann auch Gewürze dazu bekommen." "Klingt gut. Warum soll Charlie allein Schnurrbart tragen?!" Mit diesem rhetorischen Seitenhieb drückte Pao-Ye Gabriels Hand kurz, löste sich, steuerte auf die angedeutete Richtung zu. "Du bist bloß neidisch! Das ist VOLL TUSSIG!" Fauchte Charlie ihm hinterher, fuhr sich gleichzeitig mit der Zungenspitze über die Oberlippe. Gabriel lachte. "Wir können ja testen, wem ein Schnurrbart aus Schokolade am Besten steht!" Schlug er versöhnlich vor, stellte seinen Rucksack mit den kombinierten Longboards ab. Charlie bleckte die Zunge empört. "Klar, jetzt, wo ich fast fertig bin und der Becher leer ist!" Linus lenkte ab. "Was machst du an Weihnachten, Charlie?" Aufmerksamkeit vom Wikinger bot einen willkommenen Anlass, sich nicht weiter mit technischen Fouls bei halbgaren Wettbewerben zu befassen! "Wir fahren weg. Erst Großeltern besuchen, danach Schneewandern im Harz. Grauenhaft!" "Hört sich doch ganz nett an?" Wagte Silvain einen tollkühnen Einwurf, reichte Charlie dabei seinen Rest Schokolade am Stiel, der sich nicht aufgelöst hatte. "Klar, aber DU musst ja auch nicht die ganze Zeit mit meinem blöden Bruder zusammen sein!" Urteilte Charlie gnadenlos, nagte bereits versöhnt am restlichen Schokoblock. "Ich würde dir ja einen Tausch anbieten." Offerierte Silvain schelmisch. Das entlockte Charlie ein empörtes Schnauben. "Etwa deine tussigen Schwestern?! GANZ sicher nicht!" "Ein Versuch war es wert!" Tröstete Linus Silvain, drückte ihn kurz eng an sich, küsste ihn auf den Schopf. "PAH!" Schnaubte Charlie verdrossen. "Was ist mit dir? Was hast du so vor?" Erkundigte sich Gabriel, der amüsiert dem Geplänkel gelauscht hatte. Linus winkte ab. "Ich habe nicht eine freie Minute! Jeden Tag was anderes. Die ganzen Omas müssen zu zig Veranstaltungen, dazu noch ein kleiner Umtrunk. Wahrscheinlich werde ich jeden Feiertag vollkommen erledigt aufs Gesicht fallen, mich nicht mehr rühren." Prognostizierte er in grimmiger Wikinger-Manier. Sollte bloß nicht der Gedanke aufkommen, er sei über die Feiertage ganz allein und vielleicht einsam! Gabriel schmunzelte. "Du bist eben sehr gefragt. Bei uns ist auch sehr viel los, also laufen wir uns wahrscheinlich immer mal über den Weg." Linus zwinkerte. "Sieh da, es naht ein weiterer Transport mit DREI Bechern heißer Schokolade!" Neckte er Charlie, wies mit dem Kinn Richtung Pao-Ye, der weniger schreckhaft mit der soliden Ausbildung seiner Mutter dank spitzer Ellenbogen durchaus seinen Pfad fand. "Da kann der Wettstreit ja stattfinden." Gabriel nickte sehr zufrieden, stolz auf Pao-Yes Friedensangebot. "URKS! Ihr seid so, so VERKNALLT! Horror!" Bekundete Charlie aufgebracht. "Ja, jetzt müssen wir bloß noch jemanden für dich finden!" Schnurrte Linus diabolisch. Charlies empörtes Kreischen konnte nur durch ein beherztes Knuddeln mit einer breiten Wikinger-Brustpartie gedämpft werden. ~*#*~ Gabriel hatte sich einfach Charlies Arm untergehakt, zog sie auf ihrem Longboard mit sich, während er Limericks rezitierte. Nach heißer Schokolade, Apfelküchlein und Dattelkonfekt ging ihr langsam die Energie aus. "Du könntest auch singen. Im Chor. Ist doch Englisch, oder?" Erkundigte sie sich schläfrig, blinzelte wie eine Eule. "Schon. Von Roddy habe ich auch all die Limericks gelernt. Aber meine Stimme ist nicht so gut." Gab Gabriel schmunzelnd zu, zwinkerte zu Pao-Ye, der Charlies andere Seite flankierte. Ohne Protest, obwohl ER nicht an Gabriels Hand laufen konnte. Allerdings apportierte Pao-Ye in Papiertüten und Schraubgläsern auch recht zahlreiche Einkäufe, musste sich seinerseits auf seine Füße konzentrieren. Auch bei ihm forderte der Tag Tribut! "Wenn da mehrere Leute sind, hört man's nicht." Argumentierte Charlie hartnäckig, unterdrückte ein Gähnen. "Es wird's eng für die, die richtig gut singen können, weißt du? Der Platz ist nicht besonders weitläufig." Gabriel steuerte geübt seine rollende Trabantin aus, amüsiert über ihre Patronage. "Vielleicht könnte man Stände auf Rollen stellen?" Charlie rieb sich nun auch noch mit der freien Hand die müden Augen. "Eine interessante Idee." Bekundete Gabriel sanftmütig, bremste vor einem Hauseingang, steuerte das Longboard aus. "Da sind wir, Charlie. Soll ich dich raufbringen?" "Nö! Bin doch keine Tussi!" Grummelte Charlie, stellte geübt ihr Longboard in die Senkrechte. Gabriels Finger auf dem Klingelknopf führten nicht nur zu einem hörbaren Summen, auch die Beleuchtung im Treppenhaus wachte auf. Das Kamera-Bullauge wechselte von Wartebereitschaft auf Aktion. "Also, danke. War echt nett. Obwohl ich nächstes Mal gewinne!" Murmelte Charlie, nickte widerwillig Pao-Ye zu, der den besten Schnurrbart auf seine Oberlippe gezaubert hatte. "Hier. Wegzehrung. Plombenknacker." Geschmeidig reichte Pao-Ye ein kleines Tütchen mit Karamellbonbons weiter. "...uh...danke. Echt nett." "Hauptsache nicht tussig." Neckte Pao-Ye mit ernstem Gesicht. "Pah!" Charlie reckte das Kinn, rammte ihr bescheidenes Körpergewicht gegen die Tür, ließ sich herein. "Gute Nacht, Charlie!" Gabriel winkte munter, trat ein wenig von der Eingangstür zurück. "Nacht!" Verkündete Charlie, stapfte die Treppe hoch. Sie warteten vor dem Haus, bis die Wohnungseingangstür sich im zweiten Stock hinter Charlie geschlossen hatte. Pao-Ye okkupierte sofort Gabriels Rechte. "Irgendwie vermisse ich Geschwister so gar nicht!" Stellte er grinsend fest. Leihweise Charlie dabei zu haben, das reichte ihm völlig. Gabriel lachte nachsichtig, küsste ihn auf die Wange. "Es war sehr lieb, ihr die Bonbons zu schenken. Das wird sie beim Schneewandern trösten." Prognostizierte er die passende Gelegenheit für den geneigten Verzehr mit dankbaren Gedanken an den edlen Spender. "Vor allem pappen sie einem effektiv den Kiefer zusammen!" Negierte Pao-Ye entschieden jeden positiven Aspekt seines Geschenks. Neben ihm lächelte Gabriel, dirigierte ihren Pfad. "Du musst mich jetzt nicht nach Hause begleiten. Immerhin hast du noch so viel zu tun." Grummelte Pao-Ye, durchaus auch verdrossen über sich selbst. Nicht nur Gabriel war eingespannt, auch er selbst hatte noch zu lernen, dies und jenes zu erledigen, und überhaupt! Der reinste Hindernislauf! "Wir können uns auf die halbe Strecke einigen?" Schlug Gabriel versöhnlich vor. "Na schön. Ist ja vernünftig. Sag mal, kennst du auch andere Limericks? Die nicht jugendfreien?" Gabriel prustete gedämpft, merklich amüsiert. "Wie kommst du darauf?" Pao-Ye verharrte einen Augenblick länger auf dem fröhlichen Gesicht mit den strahlenden, grünen Augen. "Nur so eine Vermutung. Britischer Humor, Pub, Exil-Schotte..." Reihte er seine Gedankenkette aneinander. "Ich will nicht unterstellen, dass Roddy sie dir beigebracht hat, um dich auf abwegige Gedanken zu bringen, nein, nein! Nur aus Sicherheitsgründen, weißt du, Wiedererkennungswert, falls man derartigen Zeilen begegnet." Gabriels Kichern verstärkte sich zu einem herzhaften Gelächter. Er fiel Pao-Ye einfach um den Hals, trotz beidseitiger, rückwärtiger Tragelast, umarmte ihn beschwingt. Pao-Ye erwiderte die überschwängliche Geste mit aller Kraft. Tussig oder nicht tussig, solche Fragen mochten Charlie beschäftigen, IHN tangierten sie längst nicht mehr! In Gabriels Gesellschaft fühlte er sich einfach schätzenswert! Ganz gleich, wie moralisch verwerflich es sich ausnahm: er war weder bereit noch Willens, Gabriel einem anderen zu überlassen! Deshalb weigerte er sich auch standhaft, sein Taschentuch zurückzunehmen, das die Lockenpracht im Zaum hielt. ~*#*~ Kapitel 9 - Der perfide Plan des Powermann Pao-Ye marschierte stramm, um nicht zu sagen energisch. Endlich! Nach drei Stunden und einem grässlichen Marathon an Jahresendzeit-Aktivitäten schulischer Natur Freiheit! Ohne großen Trennungsschmerz hatte er sich mit den befreiten Massen vom Schulgelände gedrängt. Auf halber Strecke wollten sie einander treffen. Tatsächlich konnte er Gabriels vermummte Gestalt über den Asphalt schweben sehen. Pao-Ye gab Gas. Gabriel ließ ausrollen, katapultierte geübt sein Longboard in eine aufrechte Haltung. "Hallo! Du hast aber ein Tempo..." Weiter kam er gar nicht. Pao-Ye griff mit Schwung eine Hand, pirouettierte Gabriel herum, fiel in Laufschritt, beschleunigte, immer noch den langmütigen Gabriel im Schlepp, der nun erheblich gezogen wurde. Pao-Ye entschied trotz beißender Kälte, dass er zu langsam vorankam. Ein Sprint musste her! Wozu diente schließlich das (etwas vernachlässigte) Tischtennis-Training sonst?! ~*#*~ "...uh..." Rucksäcke und Longboard achtlos auf den Fliesen, gerade mal die Hausalarmanlage mit fliegenden Fingern beruhigt, umfegte Pao-Ye Gabriel schon in enger Drehung, umhalste ihn, versiegelte die tiefer gelegene Luftzufuhr. Ganz sicher nicht die feine Art, von Zurückhaltung gar nicht erst zu sprechen! Wobei Gabriel diesen Luxus entbehren musste. Andererseits ermutigte Pao-Yes fast getriebenes Vorgehen auch nicht zu leichter Konversation. "...frisch machen..." Warf Gabriel deshalb ein, in vollem Ornat die Treppen hochgezogen, zielsicher das Dachgeschoss anstrebend. Er konnte nicht sicher sein, dass sein hastig hervorgestoßener Einwurf Gehör fand. Tatsächlich jedoch bog Pao-Ye ab, ins große Badezimmer. Tür zu, schon ran an den Mann! Respektive hinderliche Textilschichten und Schuhe, wobei er sich selbst kaum weniger schonend behandelte. Gabriel ließ sich mitwirbeln, hielt Widerstand für verfehlt. Während ein sanfter Regenschauer an ihnen herabperlte (er durfte gerade noch einen losen Dutt aus Locken winden), bereitete Pao-Ye Fischen Konkurrenz, unter Wasser Maulfütterung, ohne Futter (sah man von großzügig geteiltem Speichel und Abwehrkräften ab). Auch ohne Kiemen, was dem Treiben hin und wieder eine Unterbrechung aufnötigte. "Feucht genug!" Konstatierte er schließlich, drehte erst die Brause ab, dann Richtung Badetücher. Oberflächliches Abtupfen wurde gerade noch toleriert. Feigenblatt-frei stieg man unter den Dachfirst gestiegen. Damit Gabriel sich nicht eines anderen Sinnes entschließen konnte, der keinerlei Intentionen in dieser Hinsicht entwickelte. Eilig die Tagesdecke zurückgeschlagen, dort schon deponiert, was an Hilfsmitteln benötigt wurde. Pao-Ye stürzte sich auf seinen gutmütigen Begleiter. Gefangene würde er NICHT machen! ~*#*~ Sehr praktisch! Dass Gabriel sich nicht leicht einschüchtern ließ und begeisterungsfähig war! Pao-Ye genoss die erste Runde ungeniert, nicht gedämpft und mit jeder einzelnen Faser in seinem Leib. Nach einem kurzen Durchschnaufen: Hochfahren des Betriebssystems. Er wollte mehr! Mehr von dieser verzehrenden Hitze, dem Vollkontakt-Sport, Gabriels Stimme in seinen Ohren, dem leisen Rascheln der Lockenstränge auf dem Bezugsstoff! Sich so richtig austoben! Weil Pao-Ye Einiges zu kompensieren hatte, beschloss er, etwas Neues auszuprobieren. Wie nannte sich das noch gleich? Reitersitz? ~*#*~ "...du... meine... Güte..." Stellte Gabriel fest, dankbar für die solide Matratze und die horizontale Position. Er drehte den Kopf leicht, um seinen Teamkollegen bei dieser Mannschaftssportart anzuvisieren. Pao-Ye hatte sich abgerollt, keuchte rücklings, präsentierte jedoch einen gelösten, höchst zufriedenen Gesichtsausdruck. Etwas so Waghalsiges (zugegeben, andere Körperpartien waren involviert gewesen) zu absolvieren, ohne Vorbereitung oder Übung...! "Ich weiß." Auf die Seite gleitend strich Pao-Ye Gabriel durch die wirren, feuchten Locken. "Ich weiß, keine feine Englische Art, egoistisch, notgeil..." Trotz dieser Einschätzung wirkte Pao-Ye keineswegs geknickt oder gar zerknirscht. Er liebkoste die wilden Kringel, Gabriels gerötete Wange. "Ich wollte aber! Unbedingt! Hormoneller Notstand. Unter anderem." Gabriel lachte leise, spiegelte Pao-Yes Haltung, rutschte näher heran. "Dieser ganze Stress die letzte Zeit, der musste einfach raus, weißt du?" Pao-Ye funkelte, auch ohne Brille fokussiert. "Gestern, also, ich zeichne so vor mich hin, die Entwürfe für die Kleidungsstücke, du erinnerst dich?" Schwungvoll holte er zu einer dramatischen Erzählung aus, mit wachsender Empörung. "Meine Mutter sieht das. Prompt hält sie mir einen Vortrag!" Gemütlich auf der Seite liegend konnte man das gesträubte Fell nicht nachvollziehbar demonstrieren. Deshalb stemmte Pao-Ye sich hoch, blitzte auf Gabriel herunter, unbewusst einen Lockenstrang okkupierend, zwischen den Fingern zwirbelnd. "Dass ich so was nie im Laden finde! Ich solle mich bloß nicht entblöden, nach altem Zeug von Alexander McQueen oder Gaultier zu suchen! Wenn ich solche Klamotten haben wolle, müsse ich mal fix maßschneidern und ändern lernen! So was gäbe es nicht von der Stange!" Pao-Ye blies aufgebracht die Backen auf. "Sagt sie mir! Dass sie aufgrund ihrer Figur schon viel mehr Erfahrung im Textilbereich hätte! Unglaublich!" Dabei schwenkte Pao-Ye grimmig Gabriels gekaperte Lockenstränge umher. "Wie findest du das?! Ich wette, DEINE Mutter hält dir keine solchen Vorträge! Demoralisierend, DAS war es! Niederschmetternd!" Gabriel blinzelte aus grünen Augen amüsiert hoch. "Ich glaube nicht, dass ich mal etwas über das Schneiderhandwerk von meiner Mutter erfahren habe." "GENAU! Da sieht man es mal wieder! Wie soll ich das so schnell lernen?! Ich wollte bloß keine Streberklamotten mehr!" Protestierte Pao-Ye über die himmelschreiende Ungerechtigkeit. "Oh, das ist so NERVTÖTEND! Ich kann doch nicht warten, bis ich das hinbekommen habe, oder?! Wie soll ich Kleidungsstücken ansehen, ob man sie passend ändern kann?! Eine echte Zumutung!" Explodierte Pao-Ye, wippte auf der Matratze, atmete tief durch. Er registrierte die ungefragt entführten Lockenstränge in seinen Händen, bevor er sich automatisch auf die Wangen klatschen konnte. "...hoppla. Entschuldige." Gabriel lachte, lupfte einen Arm, Pao-Ye wieder zu sich herunter zu ziehen. "Das ist ein klein wenig beschämend. Mit meiner Ungeduld." Bekannte Pao-Ye selbstironisch, ließ sich von Gabriel bekuscheln, der entschieden Hautkontakt suchte. "Prompt ist nach JAHREN stoischer Selbstverleugnung der Geduldsfaden gerissen, bringe ich das ausgefranste Gelöt einfach nicht mehr zusammen!" Was zu einem gewissen Teil auch den Sturm- und Drang-Auftritt mit den bekannten Folgen erklärte. "Schon lächerlich, ich weiß. Laufe ja nicht gerade Gefahr, nackt herumzulaufen! Obwohl...!" Pao-Ye seufzte. Gabriel prustete an seiner Brust. Gerade noch mit der letzten Unze Selbstbeherrschung verhinderte Pao-Ye, dass ihm herausrutschte, was nun wirklich ZU PEINLICH gewesen wäre. Dass er Gabriel bis ins letzte Atom gewollt hatte! Die munter strahlenden grünen Augen, der breite Mund mit den feinen Linien, von Humor und Lachen geprägt, die faszinierenden Lockenstränge, in denen sich die Finger ganz von selbst verhedderten, die geschmeidige, warme, vertraute Gestalt, die Dynamik und Kraft ihres körperlichen Austausches. Eine überwältigende Ausstrahlung von Zuneigung, Nähe, Wohlwollen, Aufmerksamkeit. Ganz schön beängstigend! Pao-Ye kraulte über Gabriels Rücken, was der mit einem genießerischen Schnurren quittierte. "Du bist ziemlich verschmust." "HmHm." Pflichtete Gabriel ihm ohne Scheu bei. "Irgendwie dachte ich immer, mich würde Körperkontakt nicht sonderlich begeistern. Aber mit der richtigen Person..." Kontemplierte Pao-Ye nachdenklich. Gemütlich angeschmiegt lachte Gabriel leise, friedfertig, aufmunternd. "Du hast bestimmt auch viel zu tun gehabt, oder? Mit den Gästen bei euch." Lenkte Pao-Ye hastig auf ein anderes Thema ab. Bevor ihm irgendein grässlich verkitschter Schmalz herausrutschte! "Schon. Es war auch lustig und schön." Pao-Ye seufzte bis in die Fußzehen. "Sauer wirst du wohl gar nicht, hm? Obwohl ich rücksichtslos über dich hergefallen bin!" Sich aufreizend nach oben orientierend suchte Gabriel Pao-Yes kurzsichtigen Blick. "Ich mag dich. Ich habe Spaß mit dir und ich fühle mich gut." Wie könnte er da aufbrausen, sich ärgern, negative Energie anhäufen? Pao-Ye kämmte Lockenstränge aus dem Gesicht. Gabriel klang mal wieder Meisen-horstig-hippiemäßig und unverstellt ehrlich. Beängstigend. "Schätze, ich hab mich mit dieser verrückten Hippie-Gelassenheit bei dir angesteckt." Brummelte Pao-Ye leicht verlegen, küsste Gabriel kurz auf die schmunzelnden Lippen. Herrje, langsam musste er ins Auge fassen, dass Gabriel für ihn unentbehrlich wurde! ~*#*~ Sich auf seine Gastgeberpflichten besinnend, auch ein wenig um Wiederherstellung der eigenen Würde bemüht hatte Pao-Ye eine zweite Dusche aufgedrängt, inklusive Lichtbad und ökologisch-ökonomisch korrekt geteiltem Wasserverbrauch dank gleichzeitiger Nutzung. Er fragte sich, ob irgendein anderer jemals seine selbstherrlichen Allüren so nachsichtig wie Gabriel aufgenommen hätte. Der wirkte fröhlich, entspannt, ganz im Moment. Gemeinsam werkelte man in der Küche. Die Kalorien mussten aufgestockt werden! "Das Schnippeln braucht am längsten, danach geht es fix. Hier, die Glasnudeln muss man nicht mal vorkochen!" Gabriel zwinkerte, sehr anstellig beim Zerlegen des Suppengemüses. "Ich war gestern nach der Schule noch einkaufen, totaler Horror! Es bleibt einem ja nichts erspart." Pao-Ye spürte, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. "Morgen müssen wir nämlich zum alljährlichen chinesischen Kaufrausch-Trip!" Dabei spürte er schon bittere Galle im Mund. "Gleich morgens früh raus, ein Bus sammelt alle ein, dann geht's zum Outlet, Safari für Überflüssiges!" Grimmig setzte er die Wok-Pfanne auf, stellte zwei Glasflaschen mit Öl daneben. "In China geht's nicht um Weihnachten, da ist Neujahr Großkampf angesagt! Deshalb muss der ganze Mist ja verschickt werden, was in der Truppe günstiger ist. Man muss darauf achten, dass man keinen Plunder zusammenrafft, der aus China hierher exportiert wurde. Wusstest du, dass es bei Geschirr 'China-Artikel' und 'Profi-Qualität' bei derselben Linie gibt? Aussehen, Funktion, alles gleich, nur schlechtere Qualität." Gabriel lauschte gutmütig, schob Schnittgut heran, während Pao-Ye grimmig mit dem Sonnenblumenöl anfing, nacheinander Ballast in die Wok-Pfanne bugsierte. "Ich HASSE diesen Trip! Jedes Jahr derselbe Horror, erst eingequetscht in den Bus, den GANZEN Tag Rennerei für irgendwelches Zeug! Dazu das Gequatsche! Wie sie sich alle freuen, China hier, China da, endlich mal unter sich sein, Erinnerungen teilen, blablabla!" Pao-Ye schnaubte, bewegte mit dem angepassten Pfannenwender energisch den Wok-Inhalt. "Selbst ihre Körpersprache ändert sich, nicht zum besseren! Ich bin jedes Mal erschlagen, wenn wir nachts wieder hier eintreffen." Er tröpfelte gezielt Sesamöl dazu, stellte schon die Energie ab. "Mich nervt es, wenn sie mich nicht auf Deutsch anquatschen. Wir sind hier nicht in China! ICH bin kein Chinese, ich sitze nicht zwischen den Stühlen, ich will NICHT von zwei Kulturen profitieren! An mir ist bis auf ein bisschen Optik NICHTS chinesisch! Daran wird sich nichts ändern!" Aufgebracht atmete er tief durch, die Fäuste um Pfannengriff und Pfannenwender geballt. "Entschuldige. Ich wollte meinen Frust nicht vor deine Füße kotzen." Gabriel, der aufmerksam zwei tiefe Teller verteilt hatte, schob schlicht die Arme unter Pao-Yes Achseln hindurch, schmiegte sich an. "Ich verstehe das. Mit deinen Eltern kannst du darüber wahrscheinlich nicht so offen sprechen." Bekundete er sanft, küsste Pao-Ye auf eine Wange. Der verteilte, um sich nicht noch lächerlicher zu fühlen nach diesem Ausbruch, eilig den Pfanneninhalt auf die Teller. "Manchmal glaube ich, dass meine Mutter denkt, ich lehne sie ab, wegen der chinesischen Anteile. Das tue ich nicht. Sie hat sich hier angepasst und eingelebt. Das brauche ich nicht. Ich bin HIER zu Hause. Das ist meine Kultur, meine Identität. Für mich gibt es einfach keine Wahl, keine Zweifel. Wenn ich inmitten dieser Kaufrausch-Truppe bin, fühle ich mich fremd." Und angespannt, beobachtet, beurteilt, frustriert, verärgert... Pao-Ye stellte die Pfanne ab, drehte sich zu Gabriel um. Der lächelte ihn aufmunternd an. "Mir gefällt der Gedanke, dass auf Samstag ein neuer Tag folgt." Das entlockte Pao-Ye ein Aufstöhnen. "Hippie-Alarm!" Deklamierte er theatralisch, schlang die Arme um Gabriels Schultern, der seine Hüften keinen Augenblick freigegeben hatte. "Du willst mich bloß auf andere Gedanken bringen! Meine Laune heben!" Die grünen Augen funkelten schelmisch. "Und, funktioniert es schon? Wir könnten übrigens auch was essen." "Sehr subtil!" Knurrte Pao-Ye, konnte ein Grinsen nicht lange bekämpfen, küsste Gabriel kurz auf die Lippen. "Was möchtest du trinken? Übrigens, am Sonntag bin ich den ganzen Tag auf Weihnachtsfeier im Betrieb, wo mein Vater arbeitet." ~*#*~ An Pao-Yes Schulter angelehnt, bequem auf dessen Bett eingerichtet, inspizierte Gabriel die Skizzen. Eine gute Gelegenheit zum Katzenjammer über die schnöde Demoralisierung durch die eigene Mutter! Dazu fühlte Pao-Ye sich ganz und gar nicht inkliniert. Sein ungezogener Ausbruch über die mangelnden Brüche im eigenen Selbstverständnis hatte ihn tatsächlich entspannt. Natürlich ließ es sich kleinlich und ungerecht an, so über die anderen Outlet-Reisenden mit China-Versand zu urteilen. Jemand wie Gabriel würde sich nicht echauffieren, Energie auf derartige Bagatellen verschwenden. Dennoch hatte der ihm zugehört, ihn getröstet, ihn ernst genommen, trotzdem mit leichter Hand die Stimmung gehoben. Ein Meisen-horstiges Hippie-Talent! "Glaubst du auch, dass es aussichtslos ist?" Erkundigte er sich mit einem Anflug von Kleinmütigkeit. Gabriel hob den Kopf. Die grünen Augen blickten konzentriert. "Nein, der Meinung bin ich nicht. Es ist vielleicht ein wenig unkonventionell: es könnte helfen, sich bei Damenbekleidung umzusehen. Die Auswahl bei Stoffen und Farben ist größer. Hin und wieder muss bloß etwas abgenäht werden. Ich habe gelernt, mit Stecknadeln einen anderen Sitz zu testen. Passt es, kann man es ändern lassen." Pao-Ye studierte Gabriel ein wenig erbost. "Hast du nicht vorhin gesagt, dass deine Mutter nie mit dir über Schneiderhandwerk gesprochen hat?! Woher weißt du so viel?!" Mit einem Lachen reichte Gabriel das Notizbuch zurück. "Wir haben mal in einer WG mit einem älteren Mann aus Finnland gewohnt. Dort lernen alle, wie man Bekleidung anfertigt. In der Schule." Die Backen aufblasend grollte Pao-Ye. "Eehrlich, du schaffst mich! Ich wette, du weißt auch, wie man näht, oder?! Gibt's irgendwas, was du nicht kannst?!" Er wurde in eine besänftigende Umarmung gezogen, von Kichern begleitet. "Es gibt bestimmt unzählig viele Dinge, die ich nicht kann, von denen ich nichts weiß. Wir könnten es zusammen probieren?" Pao-Ye entschied, dass seine Goldfisch-Taktik ihn nicht kleidete, er gefährlich albernes Verhalten an den Tag legte, weil er sich in Gabriels Gesellschaft so entspannt fühlte. "Na schön, ich nehme dich beim Wort! Wobei du sogar die Stecknadeln stellen müsstest." Schloss er selbstironisch seine Aufforderung ab. "In Ordnung." Flirtete Gabriel mit seiner Nasenspitze, zwinkerte. Pao-Ye ließ sich zur Seite sacken, zog Gabriel mit sich. Bevor der ein Kuscheldefizit erlitt, wollte er sich selbstlos als Beteiligter anbieten. Prompt nutzte Gabriel diese Offerte, schmiegte sich an Pao-Yes Seite. "Sag mal, bist du eigentlich oft umgezogen?" Erkundigte Pao-Ye sich leise, von dem Bedürfnis geleitet, endlich mehr über Gabriels Biographie zu erfahren, die zweifelsohne sehr viel verschlungener, abwechslungsreicher und farbenprächtiger als seine eigene sein würde. "Kommt vermutlich auf den Vergleich an." Neckte ihn Gabriel naseweis, ließ sich lachend die Locken raufen. "Die erste Zeit haben wir ein bisschen vagabundiert, wo es ein Zimmer gab, Arbeit oder etwas zu lernen. Meine Mutter interessiert sich für viele Dinge, will sich immer neue Fähigkeiten aneignen. Erst als ich zur Schule musste, sind wir länger geblieben." Pao-Ye striegelte die Locken nachdenklich. "War das nicht anstrengend? Immer wieder neu anfangen, immer neue Leute, immer Abschied?" Gabriel schmunzelte. "Das wird dir vielleicht wieder Meisen-horstig-hippiemäßig vorkommen. So habe ich das nicht empfunden. Meine Mutter hat mir immer Zuversicht vermittelt. Es hat sich immer etwas ergeben, gab immer etwas zu entdecken, noch mehr Freunde zu finden, Neues zu lernen, Verbindungen zu knüpfen. Ich habe einfach Vertrauen." Trotz der sanft ironischen Anspielung konnte Pao-Ye nicht leugnen, dass Gabriel ihn richtig einschätzte: Es KAM ihm seltsam vor, so ungeplant, ohne große Sicherheiten, von Zimmer zu Zimmer zu Hausgemeinschaft zockeln... "Vertrauen, das kann ich wirklich nicht vorweisen. Ich bin ein notorischer Planer." Bekannte er ehrlich. Allein schon wegen der Vielzahl der Katastrophen, die seine Phantasie ihm in größtmöglicher Auflösung und allen Regenbogenfarben vorstellte! Gabriel strich ihm sanft über die Wange. "Wir kommen gut miteinander aus, richtig? Wären wir alle gleich gestrickt, wie langweilig wäre das!" Er zwinkerte herausfordernd. Pao-Ye rollte mit den Augen, seufzte profund über die Binsenweisheit. Gabriel grinste, zupfte an Pao-Yes Stirnfransen. "Ich bin ehrlich verblüfft darüber, wie andere es schaffen, so konkret zu planen, weißt du? Wie sie ihr Leben als Projekt einstufen, mit Meilensteinen und Zeitstrahl. Kennst du diese Bewerbungsfragen für Karriereplanung? 'Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?'" Er hob den Kopf von Pao-Yes Schulter, betrachtete dessen Miene, die in gewisser Weise ein "Ertapptsein" verriet. "Es gibt wohl eine Menge Leute, die darauf präzise antworten können. Ich nicht. Meine Reaktion würde sich darin erschöpfen zu hoffen, dass ich in zehn Jahren noch etwas 'sehe', weil es ja auch sein kann, dass ich zwischenzeitlich sterbe." Pao-Ye schnaufte unwillkürlich. "Keine hilfreiche Antwort beim Bewerbungsgespräch!" In den grünen Augen tanzte Amüsement. "Stimmt. Wäre aber die ehrlichste, die ich geben könnte. Ich bin unter Menschen aufgewachsen, die keine Lebens- oder Karriereplanung verfolgen, die schauen, was sich ergibt, Möglichkeiten, Chancen, Veränderungen, Entwicklungen. Auch wenn es sich platt anhört: ich bin damit vertraut, das Leben schlicht als Reise mit zahlreichen Inseln zu sehen, an denen ich anlegen oder vorbeisegeln kann. Woher weiß ich heute, was ich in ein paar Monaten erfahren haben werde? Was mein Interesse weckt? Welche neuen Fähigkeiten ich gewinnen kann? Welchen Leuten werde ich begegnen, wer wird mich einen Teil meiner Reise begleiten, wer wird einen anderen Kurs einschlagen? Ich glaube einfach, dass man die Dinge, die mir am Herzen liegen, nicht planen kann. Sie ergeben sich oder sie ergeben sich nicht. Zum Beispiel habe ich am Anfang des Jahres noch nicht gewusst, dass ich dich kennenlernen würde. Wie hätte ich das planen sollen?" Gabriel lächelte, kuschelte sich an Pao-Yes Seite, zufrieden mit der Beweisführung. Pao-Ye hingegen, der einen Lockenstrang um die Finger gewickelt hatte, grübelte besorgt. Tatsächlich nagten in ihm ja Zweifel. Abschluss, Studium, Job, Karriere, Haus, Auto, Familie, Extras wie Reisen, das konnte man sich fest vornehmen. Wäre man wirklich glücklich? Müsste es nicht auch perfekt funktionieren, genau die RICHTIGEN Personen zu treffen? Vordringlicher noch: gäbe es eine Konstante? "Du~du wirst aber doch bleiben, oder? Mindestens bis zum Schulabschluss, richtig?" Platzte nervös aus ihm heraus, was ihn seinem Schädel mit Donnergrollen widergehallt war. Gabriel stemmte sich erneut hoch, warf ihm einen aufmunternden Blick zu. "Ich denke schon. Es gibt im Haus viel zu tun, meine Mutter hat jede Menge Dinge, die sie erproben möchte. Es gibt noch viel zu erfragen und erlernen. Na ja, und da ist auch Roddy..." Für Pao-Yes Gemüt reichte diese Mitteilung nicht aus, war zu karg. "Du würdest doch auch bleiben können, falls...?!" Er wagte es nicht auszusprechen. Gabriel rutschte höher, rollte sich auf die Seite, eng an Pao-Ye gleitend, der seine Position kopierte. "Es ist schwer, etwas für die Zukunft zu versprechen, Pao-Ye. Ich kann dir sagen, wie es sich gerade jetzt verhält. Da haben wir hier, an diesem Ort, gerade viele Möglichkeiten. Es gefällt uns hier, wir können gut und zufrieden leben. Wir haben uns auch ziemlich eingerichtet, im Vergleich zu vorher." Lächelnd kraulte er durch Pao-Yes Hahnenkamm, als müsse er das aufgestellte Fell einer Katze besänftigen. "Bevor wir hierher kamen, haben wir immer zusammen ein Zimmer gehabt. Meine Mutter hörte, dass hier eine Arzthelferin gesucht würde, halbtags. Das ist ihr erster erlernter Beruf, also sagte sie mir, prima, lass es uns hier mal versuchen! Ich kann bestimmt für die anderen Halbtage etwas Neues lernen. Ein Bekannter erzählte, dass es hier eine Hauswohngemeinschaft gäbe, da könnten wir doch mal anfragen. Roddy lud uns zum ersten Gespräch ein. Wir trafen uns da, wo wir damals wohnten, auf einem Aussiedlerhof." Gabriels feine Falten in den Mundwinkeln vertieften sich. "Liebe auf den ersten Blick. Das war richtig faszinierend. Er hat meine Mutter gesehen, war hin und weg, von einer Sekunde zur nächsten. Also hat Roddy uns vorgeschlagen, beim Umbau zu helfen. Da könnten wir jeder ein Zimmer bekommen. Es gäbe Bienenstöcke, Permakultur, viele nette Leute! Er hat sich richtig ins Zeug gelegt, meine Mutter ständig zum Lachen gebracht, weil er so eifrig war. Wir haben also unsere Sachen gepackt. Roddy hat ein Auto geliehen, uns abgeholt. Wir haben während des Umbaus im Sommer draußen gezeltet oder bei Regen drinnen im Kartenraum geschlafen. Bis alles fertig war. Es war richtig toll, ein Abenteuer, bei dem man jede Menge lernt." Pao-Yes Besorgnis half das nicht ab. Gabriel kannte keinen festen Anker, unverrückbare Wurzeln. Zumindest offenbar nicht kartographisch. "Die beiden haben sich sehr gern. Es ist schön hier. Ich mag mein eigenes Zimmer, auch wenn es am Anfang gewöhnungsbedürftig war, allein zu schlafen." Gabriel hob den Kopf leicht, küsste Pao-Ye sanft auf die Lippen. "Entschuldige, wenn ich dich enttäusche." Eine Grimasse ziehend reduzierte Pao-Ye nicht nur die Distanz, sondern rollte Gabriel auf den Rücken, betätigte sich selbst als Ballast. "Du hast ja recht. Was mich echt wurmt! Ich will einfach nicht...!" Ja, er hatte schlichtweg Angst, dass Gabriel die Segel setzte, sich mit fröhlichem Gruß verabschiedete, neue Ufer erhoffte, interessantere, spannendere. Was er, mit seinem fast statischen Lebensentwurf, zumindest bis jetzt, definitiv nicht bieten konnte. "Wir sind beide hier. Lass uns über Lösungen nachdenken, wenn sich das ändern sollte." Versöhnlich küsste Gabriel ihn auf die Stirn, rubbelte ihm kräftig über den verspannten Rücken. "Verdammt!" Stellte Pao-Ye erbost fest, ohne jedoch die privilegierte Kuschelposition aufzugeben. "Wieso bin ich so ein kindischer Depp und du so souverän?! Solltest du nicht Meisen-horstig-hippiemäßig verspinnert sein?!" Gabriel lachte auf. "Ist das nicht beides möglich? Zwei Seiten einer Münze?" Schlug er launig vor, noch immer kichernd. "Ach bah! Möchte bloß wissen, was auf der anderen Seite meiner Münze droht!" Grollte Pao-Ye grimmig, schmuste engagiert. "Ich bin sicher, dass es etwas Wertvolles ist. Weil ich dich mag, so, wie du bist." Raunte Gabriel zärtlich, kuschelte gemütlich. »Schön und gut!« Dachte Pao-Ye entschlossen. »Wenn ich WIRKLICH ein guter Planer sein will, sollte mich DEINE Vorstellung vom Leben nicht aus dem Konzept bringen!« Eine Herausforderung, die es zu meistern galt! Weil Pao-Ye sich entschieden hatte, Gabriel nicht mehr entwischen zu lassen. ~*#*~ Pao-Ye tarnte sich, auch wenn es temporär seiner Frisur abträglich war, mit deutlich sichtbaren Kopfhörern. Die Musikberieselung erfolgte nur sporadisch. Er wollte schlichtweg jedem Konversationsanbahnungsprozess aus dem Weg gehen. Wobei er für eine Weile saß, festsaß, in einem nicht sonderlich komfortablen Reisebus, an seiner Seite, reisefest wie eh und je, im Tiefschlaf sein Vater. Pao-Ye studierte sein Notizbuch. Wenigstens war es ihm zwischenzeitlich gelungen, anhand der aktuellen Maßtabellen eine Vergleichbarkeit herzustellen. Wenn man sich einigermaßen an die gerade ausgefertigten Konfektionsgrößen hielt. Ihm erschien Gabriels Vorschlag, sich zunächst bei Damenoberbekleidung umzusehen, gar nicht zu gewagt. Nach Pao-Yes noch nicht erprobter Vermutung neigten Männer dazu, ihre Bekleidung bis ins Fetzenstadium zu tragen. Die Auswahl hochwertiger, gut erhaltener Männerkleidung, die NICHT Arbeitskluft oder extrem spießig war, würde dementsprechend gering sein. Er selbst wollte Edel-Punk-Rock. Deshalb schien es vernünftiger, sich bei den Damen umzusehen. Mehr Farbe, mehr Muster, größere Auswahl! Wenn man sich auf die richtige Größe einschoss, den Trick mit den Stecknadeln und den Abnähern vollbrachte...! Pao-Ye reckte grimmig das Kinn ein wenig höher. Nach Jahren der drögen Unauffälligkeit würde er nicht einfach aufgeben! Zudem hatte sich Gabriel als Ratgeber angeboten. Davon wollte Pao-Ye ungeniert Gebrauch machen! Überhaupt, einigermaßen abgeschirmt, eingezwängt und in Aussicht auf einen anstrengenden, nervenaufreibenden Tag, dachte Pao-Ye konzentriert nach. Planen, da konnte er sich nicht selbst täuschen, gehörte schon im Reflex zu seinem Naturell. Nein, Zen-Meditation und buddhistisches Mu-Streben, DAS zog chancenlos an ihm vorüber! Er drehte seinen Bleistift rotierend zwischen den Fingern. Eine Angewohnheit, die seine Mutter enervierte, ihm selbst hin und wieder gar nicht bewusst war. Exotisch. Gabriels Biographie nahm sich verglichen mit seiner eigenen sehr exotisch aus, beinahe schon gegensätzlich. Pao-Ye spürte eine ungemütliche Schauerwolke in seinem Nacken bei der Vorstellung, NICHT zu wissen, was als nächstes geschehen würde. Obwohl DAS eigentlich der normale Zustand war. Man konnte nicht alle Wahrscheinlichkeiten im Voraus berechnen, fehlerlos sein Leben prognostizieren. Wie mochte es sein, wenn man nicht sicher war, wo man im nächsten Monat schlafen würde? Welche Leute mit einem wohnten, die Schule besuchten? Gabriel wirkte nicht, als beunruhige ihn mangelnde Konstanz. Alles im Fluss, alles im Wandel. Schön und gut, esoterische Basis, biologisches Geschehen, aber... Pao-Ye orientierte sich lieber an der guten, alten Physik mit ihren Gewissheiten. Zugegeben, auf atomarer Ebene, mit Quanten, Bosom und dem anderen Kroppzeuch verließ ihn auch die Sicherheit. Dennoch! Möglicherweise zählte die individuelle Distanz? Gabriels Wanderschaft mochte abwechslungsreich sein. In Summe blieb sie konstant in ihrer Unstetigkeit! Sein eigenes Leben wirkte gleichförmig, statisch. Jeder Tag verlief nicht exakt wie der davor! Von dieser Theorie ausgehend schienen die Unterschiede gar nicht so groß, mit dem richtigen Rüstzeug. Pao-Ye schob seine Brille auf dem Nasenrücken etwas höher. Genau. Selbstverständlich WAR Gabriel selbstgenügsam, unkompliziert und von sehr ausgeglichener Wesensart. Der konnte auf eine breite Basis an Fähigkeiten und Kenntnissen zurückgreifen, nicht wahr? Während er selbst mit sich haderte, sich sorgte, als nicht gerade wertvolle Existenz einstufte. Was nicht bedeutete, dass Gabriel sich sein Portfolio nicht hart erarbeitet hatte! »Bloß habe ICH nicht viel vorzuweisen.« Dachte Pao-Ye grimmig. Kein schmeichelhafter Vergleich also. Man müsste fragen! Ob man quasi in die Lehre gehen könnte! Dabei wäre es auch möglich zu eruieren, welche Profession...! Pao-Ye rummste seinen Bleistift vernehmlich auf das geschlossene Notizbuch. War er gerade etwa dabei, wie ein verliebter Backfisch aus vorvergangenen Jahrhunderten, seine Berufswahl darauf auszurichten, wie mobil sie ihn machte?! Um mit Gabriel vagabundieren respektive Inseln ansteuern zu können?! Wie bekloppt war das denn?! Die wichtigste Entscheidung in seinem Leben...! Pao-Yes Mundwinkel kräuselten sich selbstironisch. Abgesehen von Star-Pianist hatte er definitiv noch nichts ausschließen können, andererseits dato kein Talent bei sich entdeckt. Verrückte Dinge hatte er auch vor der Begegnung mit Gabriel unternommen. Sollte man sich nicht an ein paar wenigen Gewissheiten im Leben ausrichten? Wenn es gewiss war, dass er keinem zweiten Gabriel mehr begegnen würde, war es wirklich unvernünftig? Darüber nachzudenken, wie er ungebunden und unabhängig sein berufliches Auskommen finden konnte? Welche Kriterien sollte er sonst bemühen, ohne nennenswerte Neigungen oder Talente?! »Außerdem habe ich die Streber-Klischee-Rolle abgelegt!« Bekräftigte er sich selbst entschlossen. Noch hatte er keine Pfunde, mit denen er wuchern konnte, die ihm Vertrauen in die Zukunft einflößten, doch ein erkanntes Problem konnte man lösen. Mit einem Plan. Ganz gleich, welche Art von Insel Gabriel vorstellte: ER würde die stärksten Trossen der Welt auftreiben, um SEINE Insel an Gabriels zu koppeln! ~*#*~ Pao-Ye dröhnte der Kopf. Ganz elend fühlte er sich nicht, trotz eines sehr anstrengenden, überlangen Tages. Weil er sich besonnen hatte, Fragen, Flirt- und Kuppelversuchen brüsk entwischt war. Beinahe schon unhöflich, was ihn nicht über Gebühr kümmerte. DAS waren nicht "seine Leute", das war nicht "seine Community". Sie interessierten ihn nicht. Stattdessen fokussierte er seine Aufmerksamkeit auf seine Eltern. Sehr unterschiedliche Biographien, nahezu die Breite eines Kontinents dazwischen, verschiedene Sozialisation und Kultur. Vor allem beide von gegensätzlichem Naturell. Wahrscheinlich die Blindheit der direkten Nähe, der Verwandtschaft! Pao-Ye hatte es nie als besonders empfunden, dass seine Eltern ein sehr gutes Einvernehmen pflegten, keine lautstarken Auseinandersetzungen, keine Streitigkeiten, keine Erziehungsversuche und keine gewachsene Gleichgültigkeit. Es schien ihm selbstverständlich, dass sie als Team agierten. Schließlich waren sie ja seine Eltern, richtig?! »Pah!« Dachte er über die eigene Ignoranz. Als gäbe es keine Scheidungen, Trennungen, Alleinerziehenden! Deshalb hatte er sie aufmerksam beobachtet, an diesem so stressigen Tag, Geschenke-Marathon für die ferne Verwandtschaft, kurz vor der obligatorischen Übernachtung bei seinen eigenen Großeltern. Sie agierten vertraut, geduldig, mit Humor, umsichtig. Dabei hätte so eine Verbindung gar nicht funktionieren dürfen! (Auch nicht unbedingt sollen, was die jeweiligen Familienangehörigen betraf...) Trotz der Unterschiede in Temperament und Biographie hatten sie genau die richtige Nähe entwickelt. Dass sie einander mochten, das gehörte wohl dazu. »Das hat mich nie überrascht. Für mich war das ganz normal.« Erkannte Pao-Ye. Nun die Transferleistung: wenn seine Eltern reüssierten, warum sollte er dann bei Gabriel keine Chance haben? Ja, einigen Luxus würde er wohl entbehren müssen, sich selbst flott aufpolieren! Wollte er nicht gerade auch nach außen er selbst sein? Bei der kuriosen Mischung seiner elterlichen Anteile konnte er ja gar nicht als Blaupause leben! Deshalb betrachtete Pao-Ye diesen Punkt als abgehakt. Notierte entschlossen: 1) Minimalistischen Lebensstil erkunden 2) Bei Gabriel in die Lehre gehen 3) Passende Klamotten 4) An Unzertrennlichkeit arbeiten. Ja, der letzte Punkt verlangte nach einer besonderen Strategie. Pao-Ye warf einen Blick auf seinen Vater, der auch die Rückfahrt ungestört verschlief. So einige Dinge wusste er schon über Gabriel. Dass der gern kuschelte, küsste, lachte, aufgeschlossen, neugierig war, rettungslos Meisen-horstig-hippiemäßig. Wenn er selbst nun diese Bedürfnisse erfüllte, wäre Gabriel sicher geneigt, sein fester Freund zu bleiben, oder? »Das wird nicht einfach.« Gestand sich Pao-Ye ein. Einfach laufen lassen, sich nicht kümmern, das klappte jedenfalls nicht! Vielmehr bedeutete es ein unaufhörliches Bemühen. »Tja, das schaffe ich!« Munterte er sich selbst galgenhumorig auf. Immerhin galt seine Sturheit ja schon als legendär! ~*#*~ Pao-Ye stieß sich von der Mauer hoch, als er Gabriel munter den Hügel hochstapfen sah. An Heiligabend war die Baustelle gegenüber verwaist. Auch sonst herrschte kein Betrieb. Man konnte bei eisiger Kälte und diffusem Licht durchaus ungestört picknicken. Pao-Ye verlegte sich jedoch zunächst auf eine Attacke: er hielt ungebremst auf Gabriel zu, warf ihm die Arme um den Hals. "Oh, guten Morgen..." Weitere Konversationsversuche erstickte Pao-Ye gründlich und versiert. Er küsste Gabriel so leidenschaftlich und nachdrücklich, dass sie beide schließlich mit weichen Knien japsend taumelten. "Ich freu mich auch..." Grinste Gabriel außer Atem, betrachtete Pao-Ye aufmerksam. Der seinerseits verbissen versuchte, Magier-Geschick an den trüben Tag zu legen. "Du siehst müde aus. War es sehr anstrengend?" Pao-Ye schnaubte. "Mehrere Zentner an Kram bewegt. Danach die Zettel, wer was bekommt, Adressaufkleber, grauenvoll!" Gabriel rieb ihre Nasenspitzen tröstend. "Kann ich dir vielleicht assistieren?" Pao-Ye entfuhr ein frustriertes Schnauben. "Also, außer Star-Pianist kann ich auch Zauberer von der Berufsliste streichen!" Er gab Gabriels Lockenschopf frei, präsentierte widerwillig mit der Rechten die gescheiterte Versuchsanordnung. "Die hab ich gesehen, am Samstag. Hab gleich gewusst, dass sie nur zu dir passt." Grummelte er, bot eine kunstvolle Haarspange dar. Das Paisley-Muster schimmerte in warmen Grün- und Bernstein-Tönen. Eigentlich hatte er sie aus dem Ärmel schütteln, gegen das ausgefranste Flex-Band ersetzen, für den gelungenen Coup Beifall erlangen wollen! "Gummis sollen auch schlecht für die Haare sein. Außerdem fand ich das komische Obstnetz scheußlich." Ergänzte er, ein wenig nervös, da Gabriel die Spange so konzentriert studierte. "Wenn du still hältst, versuche ich es noch mal." Gabriel rotierte artig um die eigene Achse, zupfte sich sogar die Mütze herunter. So konnte Pao-Ye im zweiten Anlauf den zauseligen Gummi entfernen, die Lockenstränge in der Spange einfangen. Wirklich, sie harmonierte perfekt mit Gabriels Mähne! "Vielen Dank. Sie ist prächtig." Gabriel küsste ihn zärtlich auf die Lippen, sein gewohntes Lächeln um den breiten Mund spielend. Pao-Ye zog besorgt die Augenbrauen zusammen. "Denkst du, es passt nicht zu dir? Zu viel Glamour? Na ja, sportlich wirkt sie nun nicht." Bevor er sich in Vermutungen verheddern konnte, fand er sich in Gabriels inniger Umarmung, wurde ausdauernd beschnäbelt, bis er ein Kichern nicht mehr unterdrücken konnte. "Du magst sie schon. Prima! Wir frönen damit MEINEM Egoismus, weil ich natürlich will, dass du sie trägst, weil sie mir gefällt." Argumentierte er grinsend. Gabriel schmunzelte ob dieser Logik. "Ich mag sie. Allerdings flößen mir wertvolle Objekte immer einen Mordsrespekt ein. Ich will sie nicht beschädigen oder verlieren." Pao-Ye löste einen Arm aus Gabriels Nacken, zauste einige Lockenstränge. "Bei dem Putz?! Eher müsste man Angst haben, dass sie darin untergeht!" Neckte er Gabriel übermütig, küsste ihn flugs auf die Lippen, versöhnlich. Der nahm diese Eigenmacht wie gewohnt nicht krumm, sondern lachte bloß leise. "Ich war ein bisschen besorgt wegen deiner SMS. Dass du mich heute unbedingt treffen müsstest!" Sein Lächeln verriet Erleichterung. Pao-Ye sollte sich nun eigentlich schuldig fühlen, tat dies aber nicht. "Ja, ein wenig alarmistisch, aber ich litt nun mal unter einem Notstand!" Deklamierte er theatralisch, wechselte in einen etwas ironischeren Ton. "Erstens das Wochenende, zweitens die beiden Weihnachtsfeiertage bei meinen Großeltern. Das sind fünf Tage hintereinander, wenn wir uns heute nicht getroffen hätten!" Mathematisch nicht zu widerlegen. Gabriel nickte verständnisvoll. "Außerdem!" Pao-Ye schraubte die Umhängetasche von Rücken nach vorne, langte hinein. "Außerdem wollte ich dir die hier geben. Charlie hat mir versichert, dass das die richtigen sind." An einer bunten Schnur aufgezogen reichte er die Rollen weiter. Die Komplizenschaft seines Vaters für den Transport, das Teil-Einlösen seines Geburtstagsgutscheins, Charlies strikte Anweisungen und der viertelstündige Vortrag des Verkäufers gipfelten in dieser Gabe. Erstaunlich kompliziert, der Betrieb eines modellierten Bretts auf zwei Achsen! "Frohe Weihnachten." Ergänzte Pao-Ye brav. Gabriel nahm die Ersatzrollen stumm entgegen. "...die passen doch, oder? Ich hab zwar deinen Notizzettel gesehen, aber..." "...danke...die sind perfekt...danke schön..." Wisperte Gabriel ehrfürchtig, wirkte eingeschüchtert. Nur langsam eroberte das Strahlen seine Mimik und die grünen Augen zurück. Pao-Ye hingegen lächelte hingerissen. Noch nie hatte ein Geschenk so einen Eindruck gemacht! Gabriels Reaktion rührte ihn, verlangte danach, sofort die Arme um ihn zu schließen, ihn hemmungslos durchzuknuddeln! Unterdessen fädelte sich Gabriel die Rollen samt Schnur auf einen Unterarm bis zur Ellenbeuge, fahndete seinerseits in der Tasche der Regenjacke. "Die hier ist für dich." Er zupfte eine Mütze heraus, rot-schwarz gestreift, so dicht verfilzt, dass kein Wasser eindringen konnte. Den Kopf neigend ließ Pao-Ye sich krönen, kippte in Posen. "Hast du etwa diese dubiose Hakennadel gemeistert? Das fühlt sich fast wie Loden an!" Gabriel zwinkerte. "Filzwolle. Bei der Berechnung hatte ich etwas Hilfe. Ich dachte, sie würde gut zu deinem Lieblingsoutfit passen." Keine Frage, die Farben waren perfekt, sie saß auch bequem und war selbst gemacht! "Danke schön! Wenn's mich jetzt hinhaut, ist wenigstens der Eierkopp weich gebettet!" Schlang er Gabriel überschwänglich die Arme um den Nacken, drückte ihn. Das reichte jedoch noch nicht, seine Freude angemessen auszudrücken. Pao-Ye hopste auf der Stelle, steckte Gabriel damit an. Kindergartenkinder hätten nicht ausgelassener sein können! Im Kreis springend, sich dabei im Arm haltend, vor Lachen taumelnd. Pao-Ye zog Gabriel schließlich aufgekratzt zu ihrem Picknickplatz, einer schlichten Mauer mit Deckenbesatz. "Ich habe Tee, ziemlich krümelige Blätterteig-Pummel mit Hagebuttenmarmeladenfüllung, Power-Kekse und Spinat-Senf-Hefestangen." Gabriel lächelte, stellte Rucksack und Longboard ab, ließ sich geschmeidig nieder. "Ein richtiges Bankett!" Kommentierte er begeistert. Eifrig schenkte Pao-Ye Tee in zwei Becher aus, verteilte Transportbehälter. So ließ es sich doch richtig lecker vespern! "Sag mal?" Fühlte Pao-Ye vor, einen Power-Keks zwischen den Fingern drehend. "Ja?" Gabriel spülte mit Tee nach, zwinkerte ihm aufmunternd zu. "Ob du wohl einen Lehrling nehmen würdest? Um praktische Fähigkeiten und Minimalismus zu lernen?" Schmunzelnd strich Gabriel Pao-Ye über eine Wange. "Ich weiß nicht, ob ich irgendwelche nennenswerten Fähigkeiten habe. Wenn etwas darunter ist, dass dir nützlich erscheint?" "Unbedingt!" Pao-Ye saß zollstockgerade aufrecht, nickte eindringlich. "Du weißt jede Menge! Allein schon praktische Dinge rund ums Haus! Und du kommst mit wenig Besitz aus!" Was für ihn konsequent bedeutete, sich von seinem gegenwärtigen luxuriösen Lebensstil zukünftig zu verabschieden, weil er ja Gabriel nicht entschwinden lassen wollte! In Gabriels Mundwinkeln zuckte es amüsiert. "Darf ich fragen, warum dir mein Lebensstil so erstrebenswert erscheint?" Pao-Ye atmete tief durch, legte den Super-Keks ab, fasste nach Gabriels Händen. "Ich habe einen Plan!" Verkündete er tapfer, auch wenn es strategisch nicht gerade empfehlenswert anmutete, sich so ungeschützt zu offenbaren. Andererseits hielt er Gabriel für gefährlich einfühlsam und klug. "Ich mag dich. Sehr. Deshalb werde ich nicht von deiner Seite weichen. Also, wenn wir Inseln sind, metaphorisch, vertäue ich sie zu einer Einheit. So. Das ist meine finstere Absicht. Der Plan sieht deshalb vor, dass ich dich nicht einschränke, genauso flexibel bin. Deshalb muss ich jede Menge lernen." Gabriel betrachtete ihn nachdenklich. "Es ist zu befürchten, dass ich notorisch, wie sagst du immer, Meisen-horstig-hippiemäßig bin." Pao-Ye grinste schief. "Schön, du hegst eben Meisen. Nette Piepmätze. Das schreckt mich nicht ab! Als ungelernter Hippie werde ich eben hin und wieder Mut beweisen müssen." Ein Prusten entwischte Gabriel, dann lachte er frei heraus. "Das ist die schönste Liebeserklärung, die ich je gehört habe!" Lächelte er Pao-Ye an, der zu seiner Erleichterung nicht äußerlich puterrot anlaufen konnte. "Du bist kein bisschen entsetzt über meinen perfiden Plan?" Gabriel grinste, zog an Pao-Yes Händen, bis der sich erhob, rittlings auf Gabriels Oberschenkeln Platz nahm. "Ich habe keine Begabung für die Zukunft. In der Gegenwart bin ich schon recht geübt." Er ließ Pao-Yes Hände los, schlang ihm die Arme eng um den Leib, lehnte die Stirn an Pao-Yes. "Gerade jetzt fühle ich mich phantastisch. Mit dir. Wenn diese Gegenwart sich immer fortsetzt, hätte ich bestimmt nichts dagegen." Pao-Ye legte die Arme um Gabriels Nacken. "Ich glaube, ich kann dieses Gefühl noch steigern." Er küsste Gabriel, definitiv unzüchtig und als Ouvertüre gedacht, bewegte sich leicht, synchron auf dessen Oberschenkeln, in einem treibenden Rhythmus. Das blieb selbstredend nicht ohne die erwarteten Folgen: heftige Erregung. "...Pao-Ye..." "Taschentücher in meiner linken Tasche." "...das andere Links..." Gabriel kicherte an Pao-Yes Ohr, was auch Pao-Ye ein Grinsen aufs Gesicht zeichnete. Er wisperte in die beneidenswerte Lockenmähne. "Du hast doch warme Hände, oder? Dann...benutz sie..." ~*#*~ Gabriel hatte sich an Pao-Ye angekuschelt, ließ sich von dessen Armen umfangen. Öffentliche Freiluft-Unzucht nach einem üppigen Picknick verlangte eine kleine Verschnaufpause. "Gabriel?" "Hm?" "Ich habe dir ein unmoralisches Angebot zu unterbreiten." "Aha?" Pao-Ye schmunzelte, weil Gabriel sich nicht aus seiner Schmiegposition bewegte. Ganz unbestritten: Gabriel liebte wirklich kuscheln, küssen und lachen über alles. "Meine Eltern wollen zum Jahreswechsel wegfahren. Allein. Meine Mutter hegt die undiplomatisch vorgetragene Befürchtung, dass ich mich vollkommen meinem Hormonstau als männlicher Teenager hingebe." Gabriel lachte leise. "Ich möchte ihre Erwartungen ungern enttäuschen. Deshalb wäre mir an deiner Komplizenschaft sehr gelegen." Formulierte Pao-Ye geschraubt, rieb seine Wange an Gabriels. Den Kopf leicht gedreht küsste Gabriel Pao-Ye neckend auf die Wange. "Ich nehme dein Angebot an. Mit dir zusammen sein ist schön." Verkündete er schlicht, rollte die Lider herunter, genoss die fortgesetzte Kuscheleinheit, trotz trübem Wetter und fragwürdiger Örtlichkeit betreffs Romantik. "Danke." Wisperte Pao-Ye, drückte Gabriel ein wenig kräftiger. »Das ist erst der Anfang. Ich werde meine beiden Talente in die Waagschale werfen. Planung und legendäre Sturheit!« Dachte er. Damit sie so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen konnten. »Ganz sicher bin ich nicht DER Powerman. Aber ich werde ein Power-Mann sein!« Der mit Gabriel als Doppel-Insel den Fluss des Lebens bereiste. ~*#*~ ENDE ~*#*~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera