Titel: Razorblade Kiss Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Erstellt: 01.07.2001 Disclaimer: Die handelnden Figuren sind frei erfunden. Die Rechte zu "Razorblade Kiss" gehören HIM. ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ ~?~ Razorblade Kiss Kapitel 1 - Überfall >I taste death in every kiss we share every sundown seems to be the last we have your breath on my skin has the scent of our end I'm drunk on your tears can't you see it's hurting every time we touch we get closer to heaven every sunrise our sins are forgiven the only way you can love me is to hurt me again and again your love is a razorblade kiss the sweetest is the taste from your lips.< "Pat!" Patrick schreckte hoch, schob eilig die Kopfhörer von den Ohren herunter um den Hals. "Hey, Frankenstein, bist du taub, oder was?! Mama schreit sich schon heiser!" Ohne viel Federlesens war Marla, seine dreizehnjährige Schwester hereingepoltert, die schweren Plateausohlen bollerten über das Laminat. "Ich komme sofort. Und du könntest die Freundlichkeit besitzen zu klopfen, ja?!" "Klaro, bleib locker!" Die aufwändig geschminkten Augen rollend verließ sie mit Hüftschwung wieder sein Zimmer, schleuderte die langen, dünnen, blondierten Zöpfe auf den Rücken. "Trödle nicht, Phantom!" "Verzieh dich, Beast!", konterte Patrick gelassen, befreite sich von seinem Kopfhörer und klinkte sich aus dem Rollenspiel aus, fuhr den Computer herab. Müde blinzelte er aus dem Fenster, gelinde überrascht, dass es noch hell war. Aber es wurde schließlich Sommer, oder nicht?! Nun, ihm war das egal. Den letzten Song vor sich hin summend strich er sich automatisch die langen, dunkelblonden Strähnen über die linke Gesichtshälfte. Und verließ sein Zimmer, um die Treppe in das Erdgeschoss hinunter zu steigen, der Küche zustrebend. "Tut mir leid, Mama, ich hatte die Kopfhörer aufgesetzt." Seine Mutter wedelte ungeduldig mit der Hand, wehrte seine Erklärung ab. "Pat, ich habe im Supermarkt die Zwiebeln vergessen, und ich wollte heute Abend Spieße machen. Kannst du für mich gehen?" Patrick schluckte, strich unsicher mit den Fingerspitzen über die Seitennähte seiner ausgebleichten Jeans. "Mama..." Seiner Mutter drehte sich herum, legte beide Hände auf seine Schultern. "Marla geht gleich zur ihrer Karate-Stunde, sonst würde ich sie ja bitten." Patrick würgte den Kloß herunter, der seinen Hals blockierte, seine Kehle aufraute. Er blinzelte unruhig, hielt dem wissenden Blick seiner Mutter nicht lange stand. Sie seufzte leise. "Marla, geh für mich beim Edeka vorbei." "Das ist ein verdammter Umweg!! Pat soll's machen, der hängt doch eh nur vor seinem blöden Spiel!" "Marla!" "Nein!! Verdammt, ich gehe nicht! Immer dreht sich nur alles um das Monster, ich habe keinen Bock!" Die kräftigen Hände seiner Mutter verließen seine Schultern. Sorgten für Kälte und Entlastung zugleich. "Marla, komm runter, und zwar sofort!" Maulend trampelte seine Schwester die Treppe herab, eine ausgebeulte Sporttasche über der Schulter balancierend. "Er hat nichts zu tun, warum soll ich immer Rücksicht nehmen?!" Patricks Mutter schoss nach vorn und packte Marla fest um einen Unterarm. Aus den braunen Augen blitzte es Unheil verkündend. "Ich will nicht, dass du deinen Bruder so nennst. Es wird auch in diesem Haus nicht geflucht." Ihre Stimme war leise, aber eisig. "Du hast keinen Grund, dich zu beschweren. Wir bevorzugen keinen von euch beiden." Marla setzte schmollend zu einem Protest an, aber der drohende Blick ließ sie verstummen. "Ich will so etwas nicht mehr von dir hören. Sonst sorge ich dafür, dass du ausreichend Zeit hast, darüber nachzudenken. Haben wir uns verstanden?!" Marla, die nicht länger in die Augen ihrer Mutter blicken konnte, nickte mit abgewandtem Gesicht und schüttelte ihren Arm heftig frei. "Mama... ich werde gehen." Patrick erwiderte die ungläubigen Blicke mit einem halbherzigen Lächeln. "Ist schon okay, ich ziehe mir nur was über." Damit kehrte er in sein Zimmer zurück, ohne sich umzuwenden. ~?~ »Warum habe ich das nur gesagt? Ich will nicht gehen. Ich kann es nicht ertragen, sie streiten zu hören. Ich will nicht... diese Last tragen.« Seine flache Hand klatschte neben den Spiegel an die Wand. Patrick atmete tief durch, hob den Kopf an. Öffnete sein Auge und begegnete seinem Spiegelzwilling. ~?~ Eine laue Sommernacht, Glühwürmchen tanzten zwischen den Büschen durch den Nachthimmel. Ein Grill glühte, köstlicher Geruch von heißen Würstchen, Barbeque-Duft, aufgedrehte Kinder tollten um einfache Holzbänke. Die Erwachsenen unterhielten sich leise. Manchmal schwebte ein helles Lachen wie ein Lichtblitz durch die Nacht. "Schaut mal, ich habe Würmer gefunden!" Ausrufe von Ekel und Neugier. "Grillen wir sie!" Zögerliche Zustimmung, Unsicherheit in der Kindergruppe. Leise näherten sie sich dem Grill, verboten für sie. Die Kohle glimmte noch, spendete Wärme. "Wir müssen anheizen." Glitschige Würmer in einer pummeligen Kinderhand, im Bauch stoben Schmetterlinge der erwartungsvollen Aufregung durcheinander. Eine Gänsehaut jagte über den kleinen Körper, elektrisierte die Kindergruppe. Verschwörerisch schirmten sie den Grill ab, die verbotene Tat verdeckend. Eine Stichflamme. Ein heller Klagelaut. Schwärze. ~?~ »Zehn Jahre.« Patrick drehte sich um und betrachtete wie so oft das Poster über seinem Bett. Es zeigte einige Darsteller aus dem Film "Freaks", der nun über 70 Jahre alt war. [Monster, Frankenstein, Ungeheuer. Freak.] »Es wäre nicht so schlimm, wenn ich nicht allein wäre. Der einzige Freak.« ~?~ Patrick umklammerte die Plastiktüte mit den Gemüsezwiebeln, den Kopf gesenkt, den Blick auf das Pflaster gebannt. Es dämmerte nun schon, und er war erleichtert, dass ihm niemand begegnete. Gerade mussten im Fernsehen wohl die Nachrichten laufen. Seine Beklemmung verdrängend zwang er sich, über sein aktuelles Rollenspiel nachzudenken, mögliche Züge zu erwägen. Nur nicht in dieser Welt zu lange verweilen. Ein helles Ratschen. Patrick starrte weiter hartnäckig auf den staubigen Bürgersteig, beschleunigte aber seine Schritte. Wieder ein metallisches Kratzen. Dann murmelndes Gleiten auf Asphalt, beinahe lautlos. Patrick hetzte um die nächste Straßenecke. Die Wohnstraßen seiner kleinen Heimatstadt waren zu dieser Zeit verlassen. Da war es wieder! Sein Herz raste, in seinen Ohren rauschte das Blut, dennoch hörte er es genau. Eine Gänsehaut zog eine Eisschicht über seinen Rücken. »Abkürzung! Ja!« Zwischen den Gemüsegärten durch. Er wechselte in eine kleine Gasse, atmete tief durch, erfreut über die Eingebung. Hinter den Jägerzäunen reihten sich die Zweit- und Drittwagen auf, den schmalen Streifen Asphalt fast zur Gänze okkupierend. Das Geräusch war nun direkt vor ihm. Patrick blieb wie angewurzelt stehen. Unwillkürlich hob er den Kopf an. Eine Gruppe von fünf Jungen auf Inlinern fokussierte ihn. Und nun erkannte er auch den Ursprung des kratzenden Geräusches: ein Schlüssel schrammte entlang der Fahrertür eines neuen Golfs, entweihte das dunkle Grün der Lackierung. Patrick fuhr auf dem Absatz herum und rannte los. ~?~ Er drehte den Kopf wild, nahm das Kaleidoskop der vorbeifliegenden Häuserwände und Autos in sich auf, schnappte nach Luft, presste eine Hand in die Seite, um den stechenden Schmerz zu bewältigen. »Dumm. Dumm, dumm, DUMM!« Durch diese Kurzschlussreaktion hatte er die Aufmerksamkeit der Bande erst recht auf sich gezogen. Wo waren sie?! Hektisch drehte er den Kopf in alle Richtungen, lauschte konzentriert auf das leise Summen der Rollen auf dem Asphalt. Er wusste, dass sie ihn suchten. Lautlos, blitzschnell und verschwörerisch würden sie ihn jagen, denn er hatte sie schließlich gesehen. Die Schmerzen ließen allmählich nach, auch wenn ein stetes Durchatmen noch nicht möglich war. »Ich muss einen Weg nach Hause finden! Wieso sind sie nicht da?! So einfach habe ich sie nicht abgeschüttelt!« Patrick schleppte sich unsicher weiter, die Bedrohung lähmte seine Glieder zu einem haltlosen Stolpern. »Nicht mehr weit.« Er konnte schon das Hausdach erkennen. »Einen Fußweg als Stichstraße zwischen den Häusern noch...« Zwei Gestalten versperrten den Weg. Sie schienen aus dem Boden zu wachsen, lehnten sich lässig an die verputzten Wände der Mauern. Patrick schleuderte herum und stockte. Auch der Rückweg war abgeschnitten. Er wich an eine Mauer zurück, grub angstvoll die Fingernägel in die grobe Struktur. Drehte den Kopf wild, innerlich laut um Beistand flehend. Ein untersetzter Typ mit schwerer Akne rollte schwerfüßig an ihn heran. "Sieh mal an, wenn das nicht der kleine Scheißer ist, der sich so eilig von uns verabschiedet hat?!" Seine Stimme war ebenso fettig wie das angeklatschte, mausbraune Haar. Der Atem stank nach dem künstlichen Aroma eines Kaugummis. Patrick schluckte und versuchte verzweifelt, die ganze Gruppe im Blick zu behalten. Sein Nacken schmerzte unter der Belastung. "Ist nicht gerade die feine Englische Art, sich zu verziehen, ohne dass man uns bekannt gemacht hat, mein Freund." Ein Schnurren, ölig und moduliert, eine unaufrichtige Höflichkeit wie Hohn verkündend. Patrick biss die Zähne aufeinander, senkte den Kopf leicht, um sich hinter dem langen Haarvorhang zu verstecken. »Vogel Strauß«, schoss ihm für einen Augenblick die Schmähung seiner Mitschüler durch den Kopf. Rumms!! Eine breite Hand klatschte heftig neben seinem Kopf an die Wand. "Tja, leider, leider, warst du zur falschen Zeit am falschen Ort, Freak. Und darum müssen wir dir nun eine Lektion erteilen." Der Rädelsführer kicherte debil, von seiner eigenen Vorstellung begeistert. Pflichtschuldig ertönte leises Lachen, falsch und leblos. "Tja, was machen wir nun mit dir, hm?" Patrick zitterte, er konnte förmlich spüren, wie unkontrollierte, elektrische Impulse durch seinen Körper schossen, seine Glieder wie bei einer Flickenpuppe umherschleuderten. »Bittebittebitte... irgendwer...« "Ich sorge dafür, dass er schweigt." Eine andere Stimme, flach, emotionslos, vollkommen ruhig. Patrick konnte den Sprecher nicht sehen, stand dieser doch zu seiner Linken. Er wagte nicht, den Kopf zu drehen. Ein schwirrendes Geräusch, abrupt gebremst. Erneut tanzte etwas Metallisches in der Luft, zumindest dem Geräusch nach. Der Untersetzte zog sich zurück, grinste viehisch in Patricks fahles Gesicht. In den kleinen, zugeschwollenen Augen glomm etwas, das der Grimasse ihre hämische Freude entzog. Angst. Patrick schloss sein Auge und wünschte sich weit weg. ~?~ Jemand stand direkt vor ihm, er konnte die Wärme spüren, die von dem anderen Körper ausging. Atem wehte in sein Gesicht, leicht gezuckert durch künstliche Geschmacksstoffe, heißer als die Sommerluft. Ein konzentrierter Blick glitt über ihn, trieb das Blut prickelnd in seine Wangen. Sein Herz schlug am Hals, schnell und panisch. »Wieso hat der Dicke so geguckt?! Hat er Angst vor diesem... wer-auch-immer-es-ist?! Wieso hilft mir keiner, wo sind sie denn alle?!« Etwas Massives glitt über seine linke Wange, streifte sein Ohr und wischte zeitlupenartig die langen Haare weg, klemmte sie hinter sein Ohr. Patrick wimmerte innerlich, wartete auf das angeekelte Stöhnen, aber es blieb aus. "Sieh... mich... an", wisperte die flache Stimme an seinem Ohr. Patrick schnappte schluchzend nach Luft, wollte widerstehen, so verzweifelt mutig sein, aber hilflose Angst und auch eine wahnwitzige Neugierde verhinderten diesen letzten Akt des Trotzes. Er öffnete sein Auge. Vor seinem Gesicht schwebten Augen aus milchiger Jade, poliert wie Murmeln und vollkommen ausdruckslos. Ihre Leere war beängstigend und faszinierend zugleich, zwang sich dem Betrachter in das Gedächtnis. Weiche Lippen bildeten einen unerwarteten Kontrapunkt in einem klassisch geschnittenen Gesicht, momentan zu einem mikroskopischen, morbiden Lächeln verzogen. "Hi." Patricks Rücken raste eine Gänsehaut hinab, eisig und schwer wie ein Nachtmahr. Die kalten Augen hielten seinen Blick gefangen, aber in seinem Augenwinkel konnte er eine Bewegung der Schultern wahrnehmen. Etwas an seiner linken Wange reflektierte das untergehende Licht. "Lasst uns allein." ~?~ »Sie sind verschwunden, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her gewesen, so erleichtert, von diesem Jungen wegzukommen«, stellte Patrick betäubt fest. Er war sich auf einem entrückten Level durchaus der Möglichkeit bewusst, zu schreien oder sich zur Wehr zu setzen. Aber eine unheimliche Blockade ließ alle Gedanken an Widerstand, an Reaktion erlahmen und einschlafen. Vollkommen passiv. Der Fremde betrachtete aufmerksam Patricks linke Gesichtshälfte. Trotz vieler schmerzhafter Operationen glich seine Wange einer mangelhaft gefertigen Patchworkdecke, vernarbt, fleckig, von zerstörten Muskeln ausgebeult. Er hatte sein linkes Auge vollständig eingebüßt, sein vertrauensvolles Lächeln würde niemals mehr als eine schiefe Grimasse werden. Dennoch war die transplantierte Haut nicht vollkommen unempfindlich. Patrick fühlte, dass der andere etwas an seine Wange legte, aber geschickt genug, um ihn die Natur des Gegenstandes nicht erkennen zu lassen. Sie standen einander schweigend gegenüber, Patrick schluchzend atmend, der Fremde maskenhaft unbewegt und geduldig. Endlich brach er die Stille. "Du wirst niemandem etwas sagen." Eine leise Feststellung, keine Frage. Patrick schluckte krampfhaft, krächzende Geräusche produzierend. Plötzlich funkelte ein Glühen in den kalten Augen. Der Fremde schob sich noch näher an Patrick heran, versengte mit seinem brennenden Atem dessen Haut. "Sag mir... fühlst du den Schmerz?" Ein fast sinnliches, verträumtes Lächeln umspielte die weichen Lippen. Patricks Herzschlag setzte aus, seine Augen weiteten sich, als er die Bedeutung der Worte erkannte. Auf seine Schulter tropfte es schwer. ~?~ Bevor er schreien konnte, hatte der andere eine flache Hand über seinen Mund gelegt und das Springmesser, das Patricks Wange aufgeritzt hatte, direkt unter dem Adamsapfel angesetzt. Die befremdlichen Augen schossen arktische Blitze auf Patricks dunkelbraune ab. "Pscht", fast zärtlich raunte er Patrick zu. Patrick verlor nun vollkommen die Kontrolle über sich, er hyperventilierte, zuckte, rang hektisch nach Luft, das Auge aufgerissen im Schock. "Hör auf!", zischte der andere bissig, enthüllte zum ersten Mal Emotionen, rammte Patricks Hinterkopf fest gegen die Mauer. Patrick schluchzte, konnte die Tränen nicht länger zurückdrängen. Panik überflutete ihn vor diesem mitleidlosen Jungen. Salzige Fluten überspülten die kraftvolle Hand, die seine Kiefer zusammenpresste. Der Fremde zog den Kopf ein wenig zurück, lächelte dann hauchdünn. Und liebkoste mit der Zunge die stählerne Klinge, nahm Patricks Blut auf. "Bis bald", wisperte heißer Atem in Patricks Gesicht, dann sackte er haltlos in die Knie. ~?~ Es konnten nur einige Minuten vergangen sein, aber Patrick empfand sie als Ewigkeiten, die er in einer Hölle aus bodenloser Angst und Selbsthass durchlitt. Als er endlich den Mut aufbrachte, den Kopf zu heben, war die Sonne aus der Gasse endgültig verschwunden. Er war allein mit den Schatten zurückgeblieben. Zittrig stemmte er sich hoch, angelte mit unsicheren Fingern nach der Plastiktüte mit den Zwiebeln, die er völlig unbeachtet im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Fremden fahren gelassen haben musste. In Trance torkelte er nach Hause, um dann auf der Türschwelle rasch die dunkelblonden Strähnen ins Gesicht zu werfen. Geduckt und mit abgewandtem Kopf überreichte er die Tüte und verbarg sich dann in seinem Zimmer. ~?~ »Warum hat er das getan? Bin ich nicht schon gezeichnet genug? Er wusste, dass ich es nicht sehen konnte, nicht erkennen konnte, was er mir antat. In meinem blinden Fleck. Er... Er war so gnadenlos. Abscheulich.« ~?~ Es war kurz nach Mitternacht, als Patrick den Mut fand, das Licht anzuknipsen und vor den Spiegel zu treten. Langsam, mit bebender Hand strich er den Haarvorhang zurück. Drehte den Kopf leicht. Das Auge, das nicht mehr war, mit einem Augenlid, das sich nicht mehr hob. Die verwüstete Landschaft darunter. Ein langer, schmaler Schnitt, kaum wahrnehmbar, entlang einer alten Narbe, diese gleichsam öffnend. Patrick zeichnete die feine Linie mit der Fingerspitze nach, unsicher, ungläubig. Der Fremde hatte ihn nicht verändert. Oder doch? ~?~ Zwei Tage später konnte Patrick dem ständigen Druck kaum noch begegnen, er fühlte sich am äußersten Rand seiner Belastbarkeit. Er hatte nichts verlauten lassen über die unheimliche Begegnung, hatte seine Angst in sich hineingefressen, sich in sein selbst gewähltes Exil zurückgezogen und versucht, in seinen geliebten Rollenspielen der beklemmenden Realität zu entkommen. Wie ein düsterer Schatten des Verhängnisses schwebte das unausgesprochene Versprechen über seinem Kopf, dass man ihn im Auge behalten würde. Aber was konnte er schon sagen?! Außer dem Dicken hatte er die anderen nicht wirklich gesehen. Von dem unheimlichen Jungen konnte er sich nur noch das Gesicht vor Augen rufen, und das war eine Fähigkeit, die er absolut verwünschte. Alle anderen Eindrücke waren schemenhaft, verwischt und nicht mehr zu konkretisieren. Ein lautes Fauchen ließ Patrick hochfahren, aber zu spät, er war schon wieder "gestorben". Frustriert klinkte er sich aus dem Spiel aus. Innerhalb zweier Tage hatte er sämtliche Erfahrungspunkte und dergleichen verloren, weil er sich in Gedanken verlief und die Zeit ihn vergaß. »Wann kommt er mich holen?«, klagte er gequält die Zimmerdecke an. Denn dessen war er sich sicher: der Fremde würde ihn nicht mehr laufen lassen. ~?~ Patrick rieb sich über die bloßen Arme, noch blass, lange der Sonne entwöhnt, die in erstickender Intensität das Pflaster zum Glühen brachte und die Wahrnehmung verwischte. Es war unerträglich heiß, kein laue Brise linderte die brennende Luft. Patricks Blut kochte, seine Gedanken lagerten apathisch in seinem schmerzenden Schädel, als er sich langsam über den Feldweg schleppte. Er konnte das Eingeschlossensein in seinem kühlen, abgedunkelten Zimmer nicht mehr ertragen, das so unbarmherzig seine Gedanken befreite, ihnen das Recht zuwies, ungehindert in Bereiche seines Bewusstseins zu wandern, die er nicht erkunden wollte. »Ich will nicht denken«, stumpfte Patrick sich selbst ab. »In diesem Backofen verglühen, verschmelzen zu einem schwarzen Stück krustiger Kohle.« Er hob den Kopf, um über die üppigen, hohen Gräser hinweg in Richtung des Weihers zu spähen, das Flimmern in der Luft registrierend. Ein Sausen. Seine Ohren nahmen es wahr, aber sein Verstand hielt es für das paranoide Trugbild, das ihn seit vier Tagen langsam in den Wahnsinn trieb. Plötzlich eine intime Welle an Hitze, fremder Energie, ein Körper, der an seinen Rücken prallte, ein Arm um seinen Leib schlang, seine Arme an die Seiten fesselte. Der freie Arm balancierte das Springmesser, das mit tödlicher Präzision aus dem Schaft katapultierte und dann direkt an seiner Kehle anlag. "Hi." Patrick befiel sofort wieder das unkontrollierbare Zittern. Er atmete stoßweise, unfähig, sich bewusst zu artikulieren oder zu bewegen. "Hast du mich vermisst?" In der leisen Stimme schwang Spott, aber so leblos, dass er aufgesetzt und fremdartig wirkte, als versuche sich der Fremde an Verhaltensweisen, die er nicht erfühlen konnte, aber der Situation angemessen erachtete. Patrick drehte den Kopf langsam, bemerkte die skalpellscharfe Klinge, war dennoch von einer tödlichen Faszination dazu verleitet, seinem Peiniger in die milchig-grünen Augen zu sehen. Die Messerspitze bohrte sich in seine Haut, eine ernsthafte Warnung. "Zum Weiher", kommandierte sie leise, dann löste sich der erstickende Arm um Patricks Leib. Und ohne sich umzudrehen, stolperte er auf den Weiher zu. ~?~ Ein Fuß vor den anderen. Staubtrockener Boden, unfruchtbarer Sand. War der Fremde hinter ihm? Patrick konnte es nicht sagen, seine Haut war mit einer klebrigen Schweißschicht bedeckt, die jedes Gespür erlöschen ließ. Ferngesteuert torkelte er auf die hohen Schilfrohre zu, die den Weiher begrenzten, ein moorig anmutendes Gewässer, immer am Rande des Umkippens in eine stinkende, algenverseuchte Kloake. Keine Fische in dem sauerstoffarmen Teich, lediglich ein paar Frösche und Vögel. Trotzdem war es nicht ungefährlich: im Schlamm konnte man problemlos ersticken. War es das, was der Fremde vorhatte? Patrick strauchelte beinahe, kämpfte sich aber wieder in die Senkrechte. Die Schilfrohre neigten sich lustlos, keine Brise modulierte ihre hohlen Klangkörper zum unheimlichen Klagechor, der im Herbst so stimmungsvoll war. Patrick verlangsamte seine unsicheren Schritte. Der Feldweg führte am Weiher vorbei, aber der war unzweifelhaft ihr Ziel. "Den Pfad dort." Die Klinge, ausgefahren, schnalzte zu seiner Rechten durch die Luft, ihr spielerisch beschriebener Radius durch eine lange, grobgliedrige Kette beschränkt. Patrick wankte zögerlich auf dem unsicheren Pfad, verlor den Boden aus den Augen zwischen den hohen Schilfrohren, war sich aber unangenehm einer gewissen Nachgiebigkeit unter seinen Schuhsohlen bewusst. Die Hitze hatte auch dem Weiher stark zugesetzt. Unter dem Schlamm lauerte tückischer Morast, der sich geschickt vor dem Betrachter verbarg. Patrick ballte die Fäuste, wünschte sich verzweifelt ein wenig Entschlussfreude, diesem Grauen die Stirn zu bieten, doch in der Abstumpfung seiner ausgeglühten Gedanken verlor sich jeder Eifer in pathetischer Wirkungslosigkeit. »Warum? WARUM?« Ein Stoß in die linke Seite, -zu schnell!-, im Schutz seiner eingeschränkten Wahrnehmung ließ Patrick zusammenklappen und unbeholfen auf den Boden sacken, der Fremde bereits über ihm. Mit vollem Körpereinsatz presste er Patricks Hüften und seine Arme in Höhe der Ellenbogen in den klammen Boden. Im Schatten der hohen Schilfrohre beugte sich der Fremde über ihn, das Messer mit antrainiertem Geschick zwischen den Händen jonglierend. »Er trägt schwarz wie der Tod«, bemerkte Patrick beiläufig, dann schloss er das Auge und ergab sich seinem rapide abstürzenden Kreislauf. ~?~ »Schmerz.« Dünn, aber beharrlich wisperte ein Nerv die Meldung an sein überhitztes, von Wahnvorstellungen gequältes Gehirn. Adrenalin raste durch seine Adern, nahm wagemutig endlich den Kampf auf mit dem Fremden. Patrick schlug das Auge auf. Der Fremde saß noch immer über ihm, nagelte ihn ungerührt auf dem Boden fest. Lediglich der Ausdruck in den Augen hatte sich verändert, zeigte fast hungrige Neugier, als der ihn belauerte. Die Hand führte sicher und mit Präzision die Messerklinge über Patricks linke Wange. Die weichen Lippen waren geöffnet. Er konnte erkennen, wie der Fremde beschleunigt atmete, als das Messer sich Patricks Unterkiefer näherte. Die Linke lag dabei federleicht auf Patricks Hals, der Daumen streichelte seinen Kehlkopf. »Was... Was tust du?« In Zeitlupe schluckte Patrick, nahm bewusst wahr, wie seine Muskeln zunächst seinen Kopf leicht anhoben, dann den Impuls weiterleiteten, unter dem fremden Daumen hindurchglitten und in der Wärme der fremden Handfläche versanken. Der Blick des Fremden verlor Patricks Auge keinen Wimpernschlag. Nun duellierten sie einander schweigend. Patrick spürte deutlich das Gewicht auf seinem Körper, das seine Arme einschlafen ließ mit prickelndem, letzten Aufbäumen, die Klinge, die sich in seine Haut schob. Der Schmerz war unbestimmt, kaum bemerkenswert, allein der verdichtete Geruch von Blut und das Gefühl der gleitenden Nässe auf seiner Wange machten Patrick klar, dass erneut eine Wunde geöffnet wurde. Er keuchte heftig, wand sich dann hilflos, schloss das Auge, drehte den Kopf auf die rechte Seite und wimmerte leise. "Scht", hauchte die Stimme, nun rau, elektrisiert, an seinem Ohr, während der glühende Atem über Patricks Gesicht fauchte und Schweißperlen auf seiner Haut austrocknete. Patrick kniff das Auge zusammen und atmete stoßweise, eine Anstrengung, die sich durch die aufkommende Hysterie nur noch verstärkte, sich selbst potenzierte. Pfeifend wichen seine Atemzüge in die dichten Schilfrohre, aus dem verbliebenen Auge quollen Tränen. "Fühlst... du?", keuchte die Stimme an seinem Ohr, sengte heftige Hitzestöße über Patricks Haut. "Hmmm....", wimmerte Patrick leise in Antwort, zitternd, der Panik nahe. »Er bringt mich um. Bringt mich um. Mich um. Um.« ~?~ Die Klinge musste wohl verschwunden sein, aber Patrick konnte sich dessen nicht mehr besinnen. Alles, was er fühlte, was den Horizont seiner Wahrnehmung bildete, war die brennende Zunge auf seiner Wange, die Blut und Schweiß ableckte. Der heiße Atem, der über seine verschwitzten Haare fegte, das Gewicht, das sich nach vorne verlagerte, Unterarme, die eng an seinen Armen den Boden eindrückten. Ungläubig, zu verwirrt, um sich zu fürchten, drehte Patrick den Kopf und schlug das Auge auf. Der Fremde blieb über ihm gebeugt, die Lippen leicht gerötet und feucht von seinem Unterfangen, während die grünen Augen aus unergründlicher Tiefe ein sprühendes Funkeln entsandten. Sie starrten einander an, wortlos, für Ewigkeiten. Dann stieg der Fremde mit katzenhafter Eleganz von Patricks Hüften herunter, erhob sich gemächlich und spazierte einige Schritte weg Richtung verdunstendes Wasser, kehrte Patrick sorglos den Rücken. Patrick strich sich unbeholfen mit der Linken die Haare über die Wange, verdeckte die frische Wunde, die nur leicht prickelte, aber nicht besonders schmerzte. Seine Arme zitterten, aber nicht mehr vor haltloser Panik, sondern aufgrund der unterbrochenen Blutzirkulation. Mühsam kam er in die Höhe, schwankte hinter seinem Peiniger her. Nun wieder der unbarmherzigen Sonne mit ihren stechenden Strahlen ausgesetzt, schienen die eigenen Bewegungen nur in Zeitlupe abzulaufen, verzögert, unstet. Torkelnd kam Patrick neben dem Fremden zu stehen, bemerkte betäubt, dass sie gleichgroß waren, der andere ihm nicht einmal körperlich überlegen zu sein schien in dem übergroßen T-Shirt und den ausgebeulten Jeans. Statt eines klaren Wortes kam ihm nur ein heiserer, geröchelter Laut über die ausgetrockneten Lippen. Halt suchend streckte er die Hände nach dem anderen aus, bettelte um Beistand. Tatsächlich fuhr der Fremde herum, gelassen, als habe er Patricks Schwäche vorhergesehen, umfing ihn unerwartet kraftvoll und stützte ihn. In Patricks Kopf hämmerten nun Schmerzintervalle wilde Muster in seinen dröhnenden Schädel, setzten mit Vehemenz ein. »Hitzschlag«, flackerte es ihn ihm auf. Dann wurde es erneut dunkel. ~?~ »Kühle. Wohltuende, barmherzige Kühle. Wollene Textur.« Patrick schlug das Auge auf. Ein Tuch lag über seinem Kopf. Er blinzelte, schickte dann fragende Boten an die Rezeptoren in seiner rechten Hand. Zu seiner Verblüffung reagierte sie tatsächlich und pflückte den provisorischen Sonnenschutz von seinem Gesicht. Es war noch immer hell, der Himmel von einem schwefligen Gelb gezeichnet, das ein heftiges Sommergewitter versprach. Patrick senkte den Blick auf seine Umgebung ab. Er lag zwischen den Schilfrohren, neben ihm, mit dem Springmesser müßig spielend, saß der Fremde. »Hat... Hat er mir geholfen?« Als habe der Patricks Gedanken gelesen, wandte er sich um. Musterte ihn prüfend, ruhig. Erneut fingen sich die Augen ein, verwoben die Blicke ineinander. ~?~ Ein krampfhaftes, staubtrockenes Husten von Patrick zerstörte den Bann. Der Fremde zauberte eine Flasche Wasser aus der von Patrick abgewandten Seite, reichte sie ihm. Patrick stemmte sich mühsam hoch, angelte die Flasche heran und nahm ein paar hastige Schlucke. Die Flüssigkeit schien seine Kehle nur noch mehr zu reizen, ein krächzender, atemraubender Huster folgte auf den nächsten, erschütterte seinen ganzen Leib. Patrick krümmte sich zusammen, sackte auf die Seite und kam schließlich mit einem gequälten Wimmern zur Ruhe. Das Gesicht des Fremden erschien wieder über ihm, verdeckte den eiternden Himmel. Eine glühende, trockene Hand schob sich unter Patricks schweißnassen Nacken, hob ihn an und bettete ihn auf eine harte Masse. Dann nahm der Fremde die Flasche, ließ mit der verblüffenden Präzision, die allen seinen Gesten innewohnte, Tropfen auf Patricks Lippen sickern, verfolgte dabei mit brennendem Blick Patricks Reaktionen. Seine Rechte näherte sich Patricks linker Wange, verschwand aus Patricks Wahrnehmung. Eine Hand strich langsam über die versehrte Wundfläche, kämmte die dunkelblonden Haare hinter das Ohr. Patrick hielt die Luft an, beobachtete den Fremden verwirrt. »Warum... Warum siehst du dir meine Narben so gern an?! Ich bin hässlich. Ein Freak. Warum...« ~?~ Ozon füllte die Luft, erschwerte jeden Atemzug. In der Ferne grollte der Donner, noch trocken, kündigte aber das Sommergewitter an. Der Fremde kam gelassen in die Höhe, streckte dann Patrick die Hand hin, ohne dass der den Kopf drehen musste. Patrick ließ sich aufhelfen, überrascht, dass er trotz bohrender Kopfschmerzen schwindelfrei stehen konnte. Der andere sammelte einen schwarzen, ausgefransten Rucksack auf, unter dem die Inliner lagen. Wickelte sich dann das vermeintliche Tuch um die Taille, eigentlich ein dunkelblaues Sweatshirt. Die Inliner in der Linken schwenkend, während die Rechte beiläufig mit dem Messer jonglierte, ging er voran. Patrick folgte ihm langsam, den Blick auf den dunkelbraunen Schopf fixiert, überlange, glatte Strähnen. Sie wanderten hintereinander durch das Meer der Schilfrohre, dann trafen sie auf den Feldweg. Der Fremde ging einfach weiter, aber Patrick legte einen kleinen Spurt ein, um neben ihm laufen zu können. Eine aufkommende, heiße Brise wirbelte Staub über ihre Turnschuhe, färbte sie gelblich. Patrick legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel, der in den Geburtswehen eines heftigen Gewittersturms mit Temperatursturz lag. Sie erreichten schweigend die Siedlungsgrenze. Noch immer herrschte gespannte Stille, nicht nur zwischen ihnen, nein, die Natur schien sich ebenfalls unter dem drohenden Unwetter zu ducken, den Atem anzuhalten. Patrick taumelte in Trance vorwärts, fixierte die Asphaltspur vor seinem Auge. Der Angriff des Fremden traf ihn vollkommen unvorbereitet. Ohne Gegenwehr ließ er sich gegen eine Garagenwand pressend. Die Klinge tanzte außerhalb seiner Sicht an seiner Kehle. Die grünen Augen brannten lichterloh, die weichen Lippen lächelten geistesabwesend. "Zu niemandem ein Wort, Pat." Patrick schluckte hektisch, nickte kaum merklich. Der Fremde senkte den Kopf noch näher an Patricks Gesicht, flüsterte in sein linkes Ohr. "Jetzt... schließ die Augen." Patricks Herz wirbelte Crescendi, als er seinen Blick verhüllte. Heißer Atem umfing sein Gesicht, brachte seine Lippen zum Beben. Etwas Lebendiges, Vibrierendes brannte ein Zeichen auf seinen Mund, nur Sekundenbruchteile, aber unvergesslich. Dann fröstelte er unter dem eisigem Hauch des Unwetters. Als er das Auge aufschlug, war der Fremde verschwunden. ~?~ Patrick starrte unentschlossen auf seinen Monitor. Eingefroren fratzte ein Ghoul in sein Gesicht, aber Patrick verzog keine Miene. Er wollte doch spielen... oder doch nicht?! Frustriert drehte er sich um die eigene Achse auf dem Bürostuhl, senkte den Kopf, um in den Schatten seiner langen Haare einzutauchen. »Diese verflixte Unrast macht mich noch ganz verrückt! Wieso... Wieso muss ich an ihn denken?! Der Kerl ist doch krank mit seinem Messertick! Mir die Haut aufzuritzen... kriminell ist er auch, sicher war das Zerkratzen der Autos sein Werk!« Verärgert stemmte er sich hoch, schritt unruhig auf und ab. »Wer ist dieser Spinner?! Und... ... was will er von mir?« ~?~ "Patrick? Gehst du raus?" Patrick verknotete eilig seine Schnürsenkel, antwortete über den Rücken. "Nur ein bisschen an die Luft, Mama. Ist ja noch hell und nicht zu heiß." Ohne weitere Kommentare abzuwarten, huschte Patrick zur Haustür hinaus. ~?~ Die Luft war von einer drückenden Schwüle, durch ein kurzes, aber unergiebiges Gewitter nass getränkt. Schon nach wenigen Schritten klebte ihm sein T-Shirt unangenehm an der Haut, wickelte sich die überlange Bermudas um seine Beine. Sein Atem ging stoßweise, als müsste er sich aus dem glühenden Backstein der Atmosphäre für jeden Zug ein Stück herausbeißen. Mit trotziger Entschlossenheit hielt er auf den Feldweg zu, froh, dass niemand seinen Pfad kreuzte, kein anderer Spaziergänger oder Hundeführer in der Nähe war. Auch der Weiher schien verlassen, allein eine dichte Wolke aus Fliegen und anderem Getier formierte sich über der stinkenden Pfütze inmitten des Schilfrohrmeeres. Patrick seufzte, nein, in diese Ungezieferhorde wollte er sich nun doch nicht wagen. Sie würden ihn mit ihrer Masse ersticken und an ihm kleben. Stattdessen entschloss er sich, dem Feldweg weiter zu folgen, beharrlich einen Fuß vor den anderen setzend. Die beklemmende Hitze erschwerte jeden klaren Gedankengang, aber Patrick wollte die Stille um sich herum nutzen, das wenige Wissen über den Fremden zum unzähligsten Mal zu einem schlüssigen Bild zu formieren. »Nicht an meiner Schule. Nicht in meinem Dorf. Nicht im Schulbus. Wenn ich nur mehr Leute kennen...« Ein Kiesel kullerte direkt vor seine Füße. Verwirrt hob Patrick den Blick, als aus der Wildwiese das Objekt seines Interesses emporwuchs. Die Zeit erstarrte. Patrick blinzelte, befeuchtete seine ausgetrockneten Lippen mit der Zunge, schnappte heftig nach Luft. Ein kräftiger Handgriff um sein Handgelenk, dann fand er sich zwischen trockenen Gräsern und versengten Wildblumen wieder, niedergerungen von dem Fremden. Während dieser Patricks Handgelenke überkopf auf das Gras drückte, wurden seine Oberschenkel durch geschickte Verteilung des Körpergewichtes auf den Boden genagelt. Aber Patrick verspürte nicht den geringsten Drang, gegen ihn anzukämpfen. Wieder verflochten sich ihre Blicke ineinander. Dann löste der andere Junge seine Hände von Patricks Handgelenken, setzte sich langsam zurück. Musterte Patrick schweigend, zwirbelte dann sein Springmesser an der Kette heran, begann ein hypnotisierendes Spiel. Wechselte geschickt zwischen beiden Händen ab, fesselte Patricks Aufmerksamkeit vollkommen. Sodass der nicht einmal zuckte, als die blitzende Klinge sich für ihn nur im Augenwinkel sichtbar an seine linke Wange schmiegte. Der Fremde lächelte träumerisch, leckte sich über die Lippen und strich mit der freien Hand federleicht Strähnen aus Patricks Gesicht. Patricks Herz hämmerte, seine Atemzüge hoben seinen Brustkorb merklich. Die warme Hand geleitete die Schneide ohne das minimalste Zittern über seine vernarbte Haut. Patrick versuchte, aus der aufgeladenen Luft zwischen Staub und Ozon den Geruch seines eigenen Blutes zu filtern, aber es gelang ihm nicht. Der Fremde beugte sich zu ihm hinunter, verdunkelte Patricks Horizont, dann tastete sich eine sengende Zunge über die frische Wunde, jagte Schockwellen durch seinen Körper. Er keuchte, ballte instinktiv die Hände zu Fäusten, schloss sein Auge. Als nur noch glühender Atem sein Gesicht umwehte, drehte er den Kopf und sah den anderen an, suchte in den milchig-grünen Augen nach Antworten. Und stellte überrascht fest, dass auch der andere ihn fragend betrachtete. Ein kaum merkliches Stirnrunzeln, dann erhob der sich elegant und starrte in die Ferne. Patrick schüttelte sich, in der vergeblichen Hoffnung, Klarheit in seine Gedanken zu bekommen, kam schwerfällig hoch. Langsam verglühte die Sonne am Horizont zwischen niedrigen Wolkenbänken, tauchte die Landschaft in blutroten Schein. Stumm erwiesen sie gemeinsam dem Feuerball ihre Referenz. ~?~ In der Dämmerung gingen sie gemächlich, fast spazierend, den Feldweg zurück, in dichtem Schweigen verbunden. In Höhe der ersten Wohnhäuser zog ihn der Fremde in eine schattige Nische neben einer Mülltonnenbox, das Gesicht im Halbdunkel verborgen. Strich sanft die dunkelblonden Strähnen aus Patricks Gesicht. Und wandte sich ab. Patrick zuckte panisch zusammen, erwachte endlich aus seiner Trance, erwischte den anderen am T-Shirt. "Warte!... bitte..." Krächzend erstarb seine Stimme. Aber er ließ die Hand nicht von dem dünnen Stoff fahren. "Wie heißt du?" Nur ein heiserer Hauch in der Dunkelheit. Eine brüske Geste, dann löste sich der andere, kehrte Patrick unverändert den Rücken zu. Einige Schritte, die Patricks Herz versteinern ließen. Dann stoppte der Fremde. "Robin." ~?~ Kapitel 2 - Wagemut Patrick kämmte sich wie gewohnt die langen Strähnen über die linke Seite und warf einen kontrollierenden Blick den Flur hinab. Sein Vater saß neben seiner Mutter auf der Couch, der Fernseher sonderte eine in der Entfernung nicht verständliche Kakophonie von Geräuschen ab, während die Treppe unter den Bässen aus dem Zimmer seiner Schwester vibrierte. Man würde ihn wohl in seinem Zimmer vermuten, also konnte er beruhigt aus dem Haus schlüpfen. Draußen wehte eine verirrte Brise durch die dampfende Luft, während die Abendsonne in sommerlicher Intensität die letzten Spuren des Regengusses austrocknete. Schon nach wenigen Schritten klebte sein Leinenhemd an der Haut, fiel ihm das Atmen schwer, aber er verschwendete keinen Gedanken daran. »Ob er heute Abend kommt? Robin. Ich weiß noch immer nichts über ihn... nur, dass er mich anzieht wie ein elektrisches Spannungsfeld. Mir meine Energie raubt, meinen Widerstand bricht, meinen Willen auslöscht.« In diesen beunruhigenden und doch seltsam entfremdenden Gedanken versunken erreichte er bald den Übergang von Asphalt zu Feldweg. Sich umsehend verharrte er ratlos, zögerlich. Setzte sich dann auf einen alten Stein, der in früherer Zeit wohl den Feldrain markiert hatte. Und wartete betäubt. ~?~ Etwas schnurrte sanft über den Asphalt. Patrick riss den Kopf hoch, ängstlich, Robin verpasst zu haben, obwohl dieser Gedanke absurd war. Eine dunkle Gestalt in der sich senkenden Sonne glitt scheinbar schwerelos und rasant über den schwarz schimmernden Boden, näherte sich mit überwältigender Leichtigkeit. Patrick stand langsam auf, als fürchte er, eine unziemliche Hast könne diesen finsteren Schemen verschrecken. Robin bremste geschickt, wischte mit dem Handrücken feuchte Strähnen dunkelbraunen Haars aus der Stirn, funkelte Patrick misstrauisch an. Der öffnete den Mund, bereit, eine Entschuldigung zu stammeln, sich zurückzuziehen, aber seine Stimme verlor sich, bevor er Silben produzieren konnte. Unter dem arktischen Eis der grünen Augen schrumpfte er in sich zusammen, wandte den Kopf ab, beschämt, unzulänglich, minderwertig. Während er auf seine schmutzigen Schuhspitzen starrte, schlüpfte Robin gewandt aus den Inlinern, glitt in dunkle Espandrillas, verstaute die Skates in seinem Rucksack. Und betrachtete intensiv Patricks zusammengesunkene Gestalt, die herabhängenden Schultern, das verborgene Gesicht. "Komm", zischte er leise und schlug den Weg durch die Felder ein. ~?~ Patrick trottete hinter Robin her in der vagen Hoffnung, dass der nicht an seiner Gesellschaft Anstoß nehmen würde. Auf die dunkel gewandete Gestalt vor sich blickend fragte er sich, warum es ihm wichtig war. Robin näherte sich dem Schilfrohrmeer, hielt auf den Weiher zu. Um sie herum schwirrte die Luft, Vögel tirilierten, Insekten lärmten, als wollten sie den bevorstehenden Einbruch der Nacht anfeuern. Der spärliche Boden zwischen den Halmen wurde morastiger, jeder Schritt erzeugte schmatzende Geräusche. Robin bremste, setzte seinen Rucksack ab, glitt aus den Espandrillas. Und ließ beides verborgen zwischen den Halmen zurück. Patrick zögerte ratlos. Ihm behagte der Gedanke gar nicht, diesen warmen, nässenden Schlamm unter seinen bloßen Füßen zu spüren, aber Robin schien sich nicht damit aufzuhalten, ob er ihm folgte oder nicht. Mit zusammengepressten Lippen entstieg er seinen Turnschuhen, stellte sie ordentlich neben Robins Rucksack ab. Krempelte die Hosenbeine auf die Waden hoch. Robin schlenderte einem sich windenden Trampelpfad nach an die erstaunlich klare Brühe des Weihers heran. Entengrütze und andere Wasservegetation trieb über die Oberfläche. Mit zur Balance ausgestreckten Armen tastete sich Robin langsam im Wasser vor, das ihm bis an die Knie reichte, den unteren Rand der hochgekrempelten Hose benetzte. Seine maskenhafte Miene war unbewegt, ausdruckslos, nur die Augen schimmerten lebendig. Patrick atmete tief durch, saugte die feuchte, kompakte Luft ein. Mit zittrigen Fingern wickelte er seine Hosenbeine so hoch, wie er konnte, würgte den Ekel vor den schlammigen Tiefen mit ihren unbekannten, aber zweifelsohne glitschigen Bewohnern herunter. Unsicher und unbeholfen stakste er hinter Robin her, der unbekümmert den flachen Weiher durchquerte, sich einer Blumeninsel auf dem Wasser näherte. Die geschlossenen Blüten begannen langsam, sich der Abendsonne zu öffnen, ein Leben im Zwielicht gewöhnt. Patrick rieb sich Schweißperlen von der Stirn, blies heftig seine klebrigen Strähnen aus dem Auge und zerrte an seinen Hemd, das sich unangenehm klamm an seinen Oberkörper schmiegte. Er bemerkte nicht, wie Robin sich herumdrehte und seine Anstrengungen beobachtete. Als Patrick den Kopf anhob und sich einer indignierten Musterung gegenübersah, errötete er bis zu den Haarwurzeln. Seine Finger, die noch immer emsig an den Hemdzipfeln zerrten, erlahmten schleichend. Plötzlich, in einer fließenden Bewegung, versetzte Robin ihm einen heftigen Stoß, der ihn von seinen ohnehin unsicheren Füßen fegte und rückwärts in den Weiher klatschen ließ. Der Schreck über die unerwartete Attacke und ihre Heftigkeit versetzten Patrick in Panik. Er ruderte wild im flachen Wasser herum, während seine Füße im schwammigen Grund, den er aufwühlte und trübte, keinen Halt fanden. Immer wieder geriet sein Kopf unter Wasser, schluckte er laue Brühe, spuckte aus. Endlich konnte er seine Bewegungen soweit koordinieren, dass es ihm möglich war, im flachen Wasser zu knien. Durch an sein Gesicht geklatschte Strähnen sah er zu Robin hoch, der ihm stumm entgegenblickte, unbewegt, statuesk. Patrick kam unsicher auf die Beine, begann durch das Adrenalin hochgepuscht unkontrolliert am ganzen Leib zu zittern. Seine Zähne schlugen unter den Einwirkungen des Schocks aufeinander, während er schluchzend nach Luft schnappte. Robin trat einen gleitenden Schritt auf ihn zu, knöpfte dann mit präzisen Bewegungen Patricks Hemd auf und streifte es von seinen Schultern. Rollte es zu einem kompakten Ball zusammen und warf diesen mit erstaunlicher Zielsicherheit ans Ufer in die hochstehenden Schilfrohre. Patrick presste die nackten Arme an den Körper, schlotterte Mitleid erregend trotz des Treibhausklimas um sie herum. Sein Auge wurde trübe, als die aufgewühlten Gefühle ihn zu überwältigen drohten, doch Robin hielt mit einer simplen Handbewegung diesen Absturz auf. Er legte seine Fingerspitzen unter Patricks Kinn, damit der seinem Blick nicht ausweichen konnte. Dann trat er ein wenig zurück, kreuzte die Arme untereinander und hob das übergroße, dunkle T-Shirt über seinen Kopf. Vor Patrick enthüllte sich ein sehniger, straffer Körper, dessen helle Haut mit im einsetzenden Zwielicht seidig schimmernden, feinen Narben übersät war. ~?~ Patrick bebte noch zu stark, um seine Überraschung für Robin merklich zu machen, aber seine Pupille weitete sich verblüfft. Robin faltete sein T-Shirt leicht, dann tupfte er Wassertropfen von Patricks Gesicht. Strich mit der freien Hand die nassen Haare hinter die Ohren, um dann mit heißem Atem die feuchte Haut trocken zu pusten. Patrick erschauerte, eine Gänsehaut elektrisierte seinen Leib, jagte in seinem Bauch eine grelle Explosion nach der anderen in die Luft. Unbeeindruckt von Patricks stoßweisen Atemzügen strich Robin mit seinem T-Shirt über dessen Brustpartie, langsam, methodisch, mit maskenhafter Miene. Patrick konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, sein Körper stand in Flammen, widersprüchliche Emotionen trieben sein Nervensystem in die endgültige Überlastung. Mit einem erstickten Schrei stürzte er vor und schlang beide Arme um Robins Hals, presste sich eng an die glühende, fremde Haut und vergrub das Gesicht tief in Robins Halsbeuge. Langsam legten sich Robins Arme um Patrick und hielten ihn sicher fest. ~?~ Als Patricks zuckender Leib nach einer Weile wieder seine Ruhe gefunden hatte, löste sich Robin von ihm, wandte sich ab und hielt erneut auf die Blüten zu. Patrick folgte ihm mit Hilfe suchend ausgestreckten Armen, streifte in seinem unbeholfenen Vorwärtsdrang immer wieder über Robins Arme und seinen nackten Rücken. Sie erreichten die flächigen Blätter der Blumen. An ihre Beine trieben in wellenförmigem Rhythmus die langen Wurzeln und Halme im warmen Wasser. Robin verharrte ehrfurchtsvoll, allein die Augen schienen in der Dämmerung lebendig. Sich vorbeugend wölbten sich seine Hände sanft um einen Blütenkelch. Seine Fingerspitzen kosteten von der glatten Beschaffenheit der Blume, dem nachgiebigen Spross der Knospe. Patrick beobachtete die zärtliche Annäherung mit betäubtem Erstaunen. Robin wurde ihm in diesem Augenblick noch mehr Rätsel, als er zuvor gewesen war. ~?~ Der Boden gab federnd nach, als sie zwischen den Schilfrohren hindurch zurückwanderten und die Spuren des Wassers in der schwülen Atmosphäre verdampften, während das Zwielicht der Landschaft die Farben stahl. Robin ging, Rucksack und T-Shirt lässig über die Schulter geworfen, bis zur Grenze des Weihers, überquerte den Feldweg und stapfte durch die kniehohe Wildwiese. Patrick folgte ihm unbehaglich, Hemd und Turnschuhe in den Händen von sich haltend. Er war mit sehr viel mehr "Natur" konfrontiert worden, als er üblicherweise zuließ. Robin setzte seine Last ab, als sie etwa 50 Schritte vom Feldweg entfernt in die Wiese vorgedrungen waren, drehte sich zu Patrick herum. Der blieb zögerlich stehen, suchte in den milchig-grünen Augen nach einem Hinweis, was von ihm erwartet wurde. Robin hielt sich nicht lange auf, er zog Turnschuhe und Hemd aus Patricks widerstandslosen Fingern, warf sie achtlos neben seine eigenen Sachen. In fließender Bewegung umfasste er Patricks Handgelenke, schob ein Bein zwischen dessen Beine und drückte seine nackte Ferse in Patricks linke Kniekehle. Mit einem überraschten Laut brach Patrick in die Knie und wurde sofort von Robins Schwung rücklings zwischen die Gräser gedrückt, wie zuvor die Arme über dem Kopf fixiert. Erregende Erwartung brachte sein Blut zum Kochen, ließ seine Atemzüge in schneller Folge über seine nackte Brust fliehen. Robin richtete sich bequem auf Patricks Hüfte ein, angelte zeitlupenartig das Springmesser aus seiner Hosentasche, die grobgliedrige Kette funkelte. Er beugte sich tief über Patrick, die Ellenbogen dicht an Patricks Schultern in den Boden rammend, drehte mit der freien Linken Patricks Gesicht auf die Seite. Patrick atmete gepresst, mit geschlossenen Augen, erwartete die schimmernde Klinge an seiner Wange, zuckte unruhig unter dem glühenden Lufthauch, der sein Gesicht bestrich. Robin ziselierte exakt die alten Wundränder. Er hinterließ eine dünne Blutspur in den tiefen Narben, das Abbild eines expressionistischen Gemäldes. Patrick verspürte keinen Schmerz, nur die Hitze, den sengenden Atem, die fast unerträgliche Nähe, in der er zu versinken wünschte. Als Robin begann, mit der Zunge die blutige Zeichnung aufzulösen, stöhnte Patrick leise, lustvoll. So viele Emotionen, Eindrücke, Reize auf einmal überrannten seine Selbstbeherrschung vollkommen. Robins Mund wanderte gemächlich über Patricks Wange, von der Schläfe über den Wangenknochen bis hinunter zum Ohrläppchen, immer wieder ein kurzes, glühendes Prickeln hinterlassend. Dann umwehte Patrick nur noch entfernter Atem. Ein Gefühl der Verlassenheit überkam ihn. Sein benebeltes Auge öffnete sich zögerlich. Robin kletterte von ihm herunter, setzte sich zu seiner Rechten, als wünsche er ausdrücklich, dass Patrick ihn sehe. Sich sehr aufrecht haltend zog er die blitzende Klinge langsam, mikroskopischen Schneidezahn um Schneidezahn, unterhalb der letzten Rippe auf seiner linken Seite durch die Haut. Trennte die ebenmäßige Oberfläche mit blutroter Grenze voneinander, tief atmend, seelenruhig. Nachdem er einen etwa fünf Zentimeter langen Riss in seine Haut gezogen hatte, hob er die Klinge an. Wartete. Und rammte sie mit der Schneidefläche tief in die Haut. Ebenso blitzartig entzog er den Stahl wieder, führte ihn zu den Lippen und küsste das Blut von der schimmernden Klinge. Patrick verfolgte gebannt, wie sich Bluttröpfchen bildeten, zusammenfanden und dann innerhalb des langen Schnittes hinunterrannen. In Trance hob er den Arm, bremste den Fall des ersten Tropfens mit der Spitze seines Zeigefingers, betrachtete seine Beute fasziniert. Und schob den Finger in den Mund. Der Geschmack war ein wenig bitter, dünn, nicht zu vergleichen mit der Dichte der Erwartungen, die seine perfekte Form genährt hatte. Robin starrte Patrick unbewegt an. Der sich nun mit Deutlichkeit bewusst wurde, was er gerade getan hatte. Patrick errötete so stark, dass auch die Dämmerung ihn nicht schützen konnte. Er senkte den Blick verlegen und wurde erneut von der blutenden Wunde in ihren Bann geschlagen, die dünnen Fäden, die wie Äderchen über die helle Haut faserten, während der große Riss langsam nachdunkelte, das But gerann. Robin beachtete dies gar nicht, er ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurücksinken und sah in den wolkenübersäten Himmel, der nach und nach die Farbe der Nacht annahm. Patrick tat es ihm zögerlich gleich, rutschte unruhig auf den abgeknickten und niedergedrückten Halmen herum. Unzählige Phrasen durchpflügten seinen Kopf in aufgescheuchter Unordnung, lösten Kopfschmerzen und Müdigkeit aus. »Warum... die Narben...wer... gestoßen...Angst....bist...nicht sprichst... anfühlen....du... fasziniert...« Patrick döste ein. ~?~ Als er von einer kühlen Brise geweckt wurde, schrak Patrick hoch, für einen Augenblick desorientiert. Dann überfiel ihn lawinenartig die Erinnerung. »Robin... der Weiher... die Wunde«, seine Hand fuhr an die linke Wange, »...die Narben...« Aber noch ohne sich dessen vergewissern zu müssen wusste er, dass er allein war. Robin hatte ihn verlassen. ~?~ Die nächsten zwei Tage verbrachte Patrick mit einer Sommergrippe in seinem Bett, im Fieberwahn nicht sicher, was geschah und was sein Gehirn ihm vorgaukelte. Als er endlich wieder klare Gedanken fassen konnte, beschloss er, allem auf den Grund zu gehen. Und der erste Schritt würde darin bestehen, herauszufinden, wer Robin war. ~?~ Zuerst tippte Patrick, wenn auch mit unerklärlich schwerem Herzen, auf einen Jungen, der mit seinen Eltern im Urlaub war. Immerhin befanden sie sich noch in den Anfängen der Sommerferien. Dagegen sprach aber, wie er sich kritisch vorwarf, dass die anderen Jungen ihn gekannt und gefürchtet hatten. In seine Schule ging er nicht, dessen war sich Patrick sicher, da wäre man einander begegnet. Blieb noch die Gesamtschule, die auch seine Schwester besucht hatte, bis sie gewechselt war. Aber auf eindringliche Nachfrage konnte sich Marla an niemanden erinnern, der Robin glich. Und Patrick hatte im Gegenzug Mühe, die Neugierde seiner Schwester unverfänglich zu stillen. Er kannte niemanden sonst, den er um Auskunft bitten konnte. Verlor sich die Spur im Sande? Patrick krakelte enttäuscht auf einem Blatt Papier herum, zeichnete eine grobe Skizze von Robin, die ihm kaum ähnelte, aber einen Funken der Inspiration zündete. »Die Inliner!!« Sie waren einen Versuch wert, gab es doch erst in der Kreisstadt einen Sportausrüster, und soweit er sich vor Augen rufen konnte, hatten Robins Skates nicht gerade billig gewirkt. Mit Enthusiasmus bestürmte Patrick seine Mutter, ihn zum Einkaufen in die Kreisstadt mitzunehmen. ~?~ Zögerlich musterte Patrick das Sanitätsgeschäft, unsicher, ob er auch diesen Schritt wagen sollte. Der Verkäufer im Sportgeschäft konnte sich tatsächlich an Robin erinnern, weil der vor nicht allzu langer Zeit ein paar Ersatzrollen bestellt hatte. Das hatte Patrick natürlich keine weiteren Erkenntnisse über Robin eingebracht, aber dann hatte der Mann erwähnt, dass der Junge ihm deshalb im Gedächtnis geblieben war, weil er eine übergroße Tüte des Sanitätshauses hinter sich her gezogen hatte. Patrick strich sich unbewusst erneut die Strähnen ins Gesicht. »Ich kann mich nicht mehr als blamieren«, munterte er sich bissig auf und drückte die Klinke herunter. ~?~ Die ältliche Frau hinter dem Tresen musterte Patrick mit Raubvogelaugen, als er sein Anliegen schilderte, nämlich einen Jungen namens Robin zu finden, der sein Handy im Bus neben ihm hatte liegen lassen... und der eine Tüte dieses Geschäfts bei sich getragen hatte. Patrick war nicht überzeugt, dass sie ihm sein Märchen glaubte, aber zu seiner Überraschung erwies sich die alte Frau als hilfsbereit. "Ja, den kenn ich, kauft immer hier ein für seine Mutter. Kann mich nur erinnern, dass er diese neumodischen Dinger immer unter den Füßen hat. Die sind ja so gefährlich, und dann fahren die Gören alle noch wie die Verrückten! Da muss man aufpassen wie ein Schließhund. Für uns waren Rollschuhe immer noch gut genug, aber heutzutage..." Patrick musste an sich halten, um nicht vor Ungeduld zu bersten. "Entschuldigung, kennen Sie zufällig seine Adresse?", unterbrach er den elegischen Wortschwall. Die Vogelaugen schrumpften kurz, dann legte sie den Kopf schief. "Ach, der wohnt im Europa-Block", gab sie mit einer abfälligen Grimasse zurück. "Europa-Block", murmelte Patrick stirnrunzelnd, wischte sich durch die Haare, was seine vernarbte Gesichtshälfte freilegte. Die alte Frau zog scharf den Atem ein und wich vor ihm zurück. Als er sich ihrer Reaktion bewusst wurde, strich er eilig die Strähnen glatt und verabschiedete sich knapp. ~?~ Patrick traf seine erhitzte und aufgrund dessen ungeduldige Mutter wie verabredet am Auto und mühte sich, ihr zu erklären, dass er noch gern ein wenig länger in der Stadt bleiben wollte. Große Hoffnungen machte er sich allerdings nicht. Zu exotisch schien die Vorstellung, dass er allein und neugierig durch die Straßen stromerte. Aber zu seiner Verwunderung drückte ihm seine Mutter Fahrgeld für den Bus in die Hand und verabschiedete sich knapp, sie müsse schneller sein als der drohende Migräneanfall. Also wanderte Patrick durch die klebrige Hitze unter bedecktem Himmel zum Europa-Block, in der verschwitzten Hand die Münzen klimpernd. ~?~ Man hatte eingedenk einer wachsenden Zahl an Haushalten, die von staatlicher Unterstützung lebten, eine Siedlung am Rande der Kreisstadt errichtet, mehr oder weniger ein Ghetto bestehend aus vier Hochhaustürmen. Patrick war noch nie zuvor in der Siedlung gewesen, galt sie weder als vornehme Adresse, noch kannte er jemanden, der dort wohnte. Während er langsam ermüdend der vagen Luftlinie zu den Blocks folgte, wunderte er sich über das bisher Erfahrene. Zumindest eins musste er Robin eingestehen: die Strecke bis zu seinem eigenen Wohnort war nicht gerade kurz, was also trieb ihn zum Weiher und in die Felder? Und warum kaufte er für seine Mutter in dem Sanitätshaus ein? ~?~ Wirkten die Türme aus der Entfernung zumindest noch imposant in ihrer Höhe, so waren sie, zu ihren Füßen stehend, nur die verfallenden Überbleibsel einer Stadtpolitik, die sich auf die Isolierung unerwünschter Elemente konzentriert hatte. Verfall und Niedergang atmeten aus jeder geborstenen Platte, verrostenden Stahlträgern, korrodierenden Nieten. Die wenigen Grünflächen waren Unkraut zum Opfer gefallen oder unter der steten Missachtung der Bewohner eingegangen, planiert unter Reifen oder alten Einkaufswagen. Patrick wischte sich mit dem Handrücken Schweißperlen von der Stirn, schwankte in der Schwüle. Klebrig und müde fragte er sich ernüchtert, wie es weitergehen sollte. Sich auf den Platz stellen und Robins Namen brüllen?! Auf einem staubigen Platz bolzten ein paar Kinder mit einem schlaffen Ball herum, schmutzig und mit der verbissenen Energie, sich auf alle Fälle zu amüsieren. Am Rande hockten auf verrostenden Absperrgittern zwei kleinere Jungs, kommentierten das Geschehen. Patrick trat an sie heran. "Hi, könnt ihr mir sagen, wo ich Robin finde?" Die beiden in ihren staubigen Kleidern uniformiert wirkenden Jungen wandten ihm runde Gesichter mit misstrauischen Augen zu. "Warum willste das wissen?" Patrick zögerte. Er war es nicht gewohnt, sich einfach zu unterhalten, seine Scheu vor der Reaktion von Fremden hielt ihn stets davon ab. "Ich will ihn besuchen", versuchte er es mit der Wahrheit. "Ach ja? Warum gehste dann nicht zu ihm?!" »Wenn ich wüsste, wo er wohnt, würde ich das ja auch tun, statt mich hier eines Verhörs unterziehen zu müssen«, seufzte Patrick in sich hinein. "Wenn ich dir zeige, wo er wohnt, was krieg ich dafür?" Patrick blinzelte in das bauernschlaue Grinsen des Jungen, überlegte fieberhaft,was er bieten konnte. Eine dicke Strähne kitzelte ihn an der Nase, sodass er sie frustriert hochpustete und gleichsam für Augenblicke seine verheerte, linke Wange offenbarte. Mit beeindrucktem Schweigen starrten ihn die beiden Kinder an. "Wahuuuu!!! Mann, das is ja ne Fresse!!" "Cool!! Echt, wie n Monster!" Patrick schnappte verblüfft nach Luft, als die beiden Jungs mit einem Seitenblick ihre Wertung absprachen. "Okay, Monsterface, ich zeig dir, wo Robin wohnt. Das is echt ein scharfer Auftritt, Clint Eastwood-mäßig!" Ob dieses unerwarteten Kompliments vollkommen entgeistert stolperte Patrick seinem eingeborenen Führer auf den Fersen zu einem der Wohntürme. In dessen Schatten wurde die Hitze klamm, aber immer noch klebrig. Patrick fühlte sich erschöpft, ihm graute vor dem Heimweg. "Hier, Erdgeschoss, alles hinter Gittern, dritte Tür!" Patrick betrat einen dunklen Hausflur, in dem es nach fauligem Gemüse und Urin stank. "Tschüss, Frankenstein!" Er zuckte bei dem Echo, das sein Begleiter produziert hatte, zusammen, blinzelte, um sich an die Finsternis nach dem grellen Tageslicht zu gewöhnen. "Dritte Tür...", kommandierte er sich leise, schaudernd bei der Vorstellung, hinter Gittern leben zu müssen, damit niemand einbrach. Gab es hier überhaupt etwas zu stehlen? Die Tür hatte weder Schild, noch Fußmatte. Der Klingelknopf wirkte defekt, hing nur noch an dünnem Draht aus bröckelndem Mauerwerk. Patrick atmete tief durch, angesichts der abgestandenen, stinkenden Luft kein guter Gedanke, dann klopfte er. Und lauschte. »Schritte?« Nein. "Robin?" ~?~ Der gelbliche Brei sonderte einen vagen Geruch nach Orangen ab, süß-säuerlich, als Robin ihn mit dem Löffel aufnahm und mit ruhiger Gewalt zwischen die eingefallenen Lippen schob. Mechanisch mümmelten erschlaffende Muskeln, mit Argusaugen kontrollierte er den Weg des Speisebreis in die Kehle hinab. Die braunen Augen waren blank wie schon seit langer Zeit. Er wischte mit einem Lappen sorgfältig die Reste des Mus um die eingekerbten Mundwinkel ab, erhob sich, um Schale und Löffel in die Spüle zu stellen. »Zwei Stunden«, schätzte er, musste sie noch in der Senkrechten bleiben, damit die Nahrung bis zum Magen fand, dann konnte er sie erneut waschen, windeln und ins Bett schaffen. Nicht, dass sie dann wirklich schlief oder ihre Atemzüge noch ruhiger wurden, aber dieser strenge Stundenplan garantierte ihm die Übersicht in der alltäglichen Pflegeroutine. Die Schwüle drückte mit betäubender Ruhe auf sein Gemüt. Selbst der Fernseher in der Nachbarwohnung dröhnte nicht so aufdringlich wie üblich. Er schob den Rollstuhl mit seiner verkümmerten Last langsam in das Zimmer, das sie sich teilten. Mit abgezirkelten Bewegungen kleidete er die schmächtige Gestalt in einen dicken Wollpullover, dessen Muster unter den Wollmäusen kaum mehr kenntlich war. Dann warf er den kleinen Ventilator an, der mit seiner dumpfen Brise ein Windspiel in Schwingung versetzte, winzige Splitter aus bunten Plastik, Vogelfedern, farbigen Bändern und durchlöcherten Muscheln. Robin zog sich einen Klapphocker heran, begann, die strähnigen Haare mit dem Kamm zu durchpflügen, in der Absicht, die dünne Ausbeute in einen lockeren Zopf zu flechten. In diesem Augenblick klopfte es. Robin erstarrte. »Wer...?« Die Pflegerin war vor einer Stunde gegangen. »Eine Behörde?! Ein Nachbar?!« Er durchbohrte das Türblatt mit seinen Blicken, als verfüge er über Röntgenaugen. "Robin?" »Aber... Er??!! Hier?! Wie... wie hat er mich gefunden?!« Robin presste unbewusst die Lippen zusammen, während er fieberhaft den nächsten Schritt erwog. »Ich will ihn nicht hier haben!! Wird er gehen, wenn ich mich nicht rühre?! Was zum Teufel tut er hier?!!« Es klopfte erneut. "Robin, bitte... lass mich rein." Robin kniff die Augen zusammen, lauschte der hellen, sanften Stimme konzentriert. In der Nachbarwohnung begann ein Hund zu kläffen, schrill, sich überschlagend. »Der verfluchte Pekinese wird keine Ruhe geben.« Robin legte Kamm und Haargummi beiseite, stand auf und ging zur Tür. Durch den Spion konnte er Patrick erkennen, der sich mit glühendem Gesicht und schweißfeuchtem T-Shirt am Türrahmen festhielt, heftig atmete. Robin entriegelte die Tür, öffnete sie langsam. Patrick hob den Kopf an, das gerötete Gesicht mit verklebten Strähnen bedeckt. In seinem dunklen Auge spiegelte sich Erleichterung, Freude, Erschöpfung und ein wenig Furcht. Robin streckte die Hand aus, strich die Strähnen sanft aus der nassen Stirn hinter das Ohr. "Mach die Tür zu." ~?~ Patrick stolperte über die Türschwelle, ein wenig abgestoßen von dem Geruch, der ihn empfing. Süßlich und leicht an Exkremente erinnernd. Der dunkle Flur war kurz, von abgetretenem Linoleum bedeckt, drei Räume abzweigend. Robin ging geradeaus voran, barfüßig, in einem verwaschenen Jogginganzug, der so abgenutzt war, dass man an einigen Stellen seine Haut durch die Fasern schimmern sehen konnte. Zögerlich folgte Patrick in das Zimmer, erstarrte auf der Schwelle, als er einen Rollstuhl vor dem Fenster erblickte. Der winzige Raum war zugestopft mit einem Ehebett, einer kleinen Schrankwand ohne Türen, Stapeln von Plastiktüten und Bettwäsche in berstenden Wäschekörben aus Plastik. Er errötete stark, als er sich bewusst wurde, dass er mitten in Robins Leben hineingeplatzt war, das so ganz anders war, als er erwartet hatte. Und nun... sollte er sich nicht vorstellen, für die Belästigung entschuldigen? Aber Robin stieß ihn auf die aufgeschlagene Hälfte des Bettes, drückte ihn an den Schultern hinunter. Die milchig-grünen Augen verbaten weitere Regungen. Dann verließ er das Zimmer, um rasch mit einem feuchten Handtuch wiederzukehren. Ohne ein Wort zu verlieren, drückte er es Patrick in die Hand, verschwand erneut. Unsicher tupfte Patrick sich Kopf und Nacken ab, als Robin sich in seinem toten Winkel materialisierte und ihm ein Glas Wasser mit Eiswürfeln in die Hand drückte. Gehorsam schluckte Patrick das Wasser, Leitungswasser, wie er sogleich bemerkte. Robin umrundete das Bett, nahm wieder auf dem Hocker Platz und flocht die strähnigen Haare in den Zopf. Kontrollierte mit dem Handrücken die Temperatur in dem wachsweißen Gesicht mit der pergamentenen Haut. Patrick beobachtete ihn unsicher, sollte er nicht...?! Robin schob mit einem Fuß den Hocker beiseite, begann dann, die freie Hälfte des Bettes zu beziehen. Patrick sprang hoch, in der Absicht zu helfen, aber Robin wies ihn mit einem Stoß gegen die Schulter zurück. Als er mit seiner Arbeit fertig war, nahm er Patrick das Glas aus der Hand, leerte den verbliebenen Rest bis zur Neige. Seine Augen fixierten Patricks Blick. Robin stellte das Glas neben dem Bett ab, drückte Patrick flach auf den Rücken hinunter. Und legte sich auf die Seite daneben, streichelte sanft die wirren Strähnen von Patricks linker Gesichtshälfte. "Robin?", wisperte Patrick fragend, aber der legte ihm nur gebieterisch den Zeigefinger über die Lippen. "Scht." ~?~ Robin suchte in dem verschlungenen Muster der Narben nach verborgenen Symmetrien, während seine Hand auf Patricks Kehle lag. So nahe nebeneinander konnte er dessen Herzschlag spüren, jede Regung, jeden Atemzug, die pulsierende Wärme seines Kreislaufs. »Wie gehorsam er stillhält, mich ihn ansehen lässt! So lebendig, in jeder Hinsicht! Als ich nach dir fragte, hieß es, ein schrecklicher Unfall mit Feuer habe dich entstellt, zu einem Monster gemacht, das man nicht ansehen könne. Ich kann dich ansehen. Ich will es sogar. Wie viel Mühe es dich wohl gekostet hat, mit diesen zerstörten Muskeln das Sprechen wieder zu erlernen? Wie du trotz all der Ablehnung so ruhig, so freundlich bleiben kannst. Deine Sanftmut schimmert aus jeder Faser wie ein helles Licht, wie eine leise sprudelnde Melodie voll Sonnenschein und Leben. Du trägst deine Narben nach außen, bist ungebrochen, voller Mut. Ich wünschte, ich könnte sein wie du.« ~?~ Robins Atem versengte Patricks Gesicht, als der begann, die Narben mit der Zungenspitze nachzuzeichnen. Patrick schloss sein Auge, grub die Fingernägel in die Matratze und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. »Ich sollte mich fürchten davor, wie wehrlos ich in seiner Nähe bin. Aber ich tue es nicht. Lasse mich fallen, verglühe in seiner Aufmerksamkeit. Gleichgültig, was der Preis sein wird, wie schmerzhaft und quälend das Aufwachen, die Einsamkeit danach. Wer du bist, was du bist, ich will es nicht erfragen. Es zählt nur jeder Augenblick, den wir gemeinsam verbringen, in dem du mich vollkommen usurpierst.« ~?~ Robins innere Uhr meldete, dass es an der Zeit war, seine Mutter zu waschen und die Windeln zu wechseln. Pflichtbewusst erhob er sich, warf einen langen Blick auf Patrick, der neben ihm lag, das dunkelbraune Auge verschleiert von Gefühl. Ohne ein Wort umrundete Robin das Bett, stellte den Ventilator ab, der bereits glühte, schob geschickt den Rollstuhl aus dem Zimmer in den Nachbarraum. Geübt entkleidete er seine Mutter mit ihrer Greisengestalt, entledigte sich der Windel, schob die Arme unter die dürren Beine und um den eingefallenen Rücken, hob sie in die Sitzwanne. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Hitze war erdrückend. Er wärmte das Wasser der Handbrause auf Körpertemperatur, spülte dann mit mildem Waschmittel die trockene Haut ab. Trocknete sorgfältig ab, auch wenn die Schwüle das Wasser verdunsten ließ, cremte mit kreisförmigen Bewegungen ein, wo nur noch spitze Knochen Muskelreste durchbohrten. Wickelte seine Mutter in einen Bademantel, hob sie in den Rollstuhl zurück und brachte sie in ihr Zimmer. Patrick saß nun aufrecht und ein wenig verloren auf dem Bett, musterte sie unsicher. Robin bremste den Rollstuhl neben dem gemachten Bett, breitete ein altes Handtuch über die Decke. Sah zu Patrick herüber. "Warte im Flur." Patrick kam eilig hoch, nickte hastig und stolperte hinaus, die Tür hinter sich schließend. Robin hob seine Mutter aus dem Rollstuhl, legte sie flach auf das Handtuch, begann die Prozedur des Puderns und Windelns. Dann zog er aus dem Stapel der Wäsche einen ausgebleichten Pyjama, den er ihr überstreifte. Sie auf die Seite drehend barg er Bademantel und Handtuch, mit einer Hand den knochigen Rücken in seiner Position haltend. Schlug die Decke zurück und ließ den reglosen Körper hinuntersacken. Die Augen blieben leer. Blicklos starrten sie an die Zimmerdecke, als Robin das Kopfkissen richtete, um ein Ersticken am eigenen Speichel zu verhindern, die Bettdecke feststopfte. Er klebte am ganzen Körper vor Schweiß durch diese Anstrengung. Erhob sich mühsam, suchte ein T-Shirt aus einem Stapel und verließ das Zimmer. Patrick hatte sich in die winzige Küche zurückgezogen, eingeschüchtert einen Berg an Wäsche betrachtend. Robin ignorierte seine Verlegenheit, zerrte sich das Hemd vom Leib und stopfte es wie die Wäsche in die Maschine. Das Handtuch, das er Patrick gereicht hatte, lag neben der Spüle, er musste es nur anfeuchten. Auffordernd drückte er es Patrick in die Hand, drehte ihm den Rücken zu. Patrick blinzelte perplex, dann begann er, mit tupfenden Bewegungen über den sehnigen Leib zu wandern. Schob sich vor Robin, um auch seine Brust abzuwischen. Im künstlichen Licht der winzigen Konsolenlampe zeichneten sich die Narben wie feine Fäden aus schimmernder Seide ab. Er wagte nicht, Robin in die Augen zu sehen, als er vorsichtig die Muskelstränge verfolgte, die Rippen nachzeichnete. Patrick wusste, dass sein Gesicht vor Verlegenheit glühte, sein Atem hastig flog, die Fingerspitzen Mühe hatten, in ihrem Beben das Handtuch zu führen. Schließlich musste er Robins Gesicht in Angriff nehmen, konnte nicht länger die grünen Augen vermeiden, die gedankenschnell ihren Bann über ihn brachten. Strich liebkosend mit den bloßen Fingerspitzen über das glatte Gesicht, nahm zum ersten Mal bewusst die starken Augenbrauen und das kraftvolle Kinn wahr. »Er ist schön. Makellos, ebenmäßig, stark. Ein Wille wie ein Pfeil, gradlinig und treffsicher. Seine Augen... verbergen sich. Bitte... ...bitte verrate mir, was sich dahinter versteckt!« ~?~ Robin verfolgte Patricks tranceartige Bewegungen, den Sturz des Handtuchs auf seine nackten Füße, was sich in dem braunen Auge nicht einmal spiegelte. »Endlos tief kann ich in deinem Auge reisen.« Mit Willenskraft schob er Patrick von sich zurück, zauberte sein Messer aus der Hosentasche. Ließ die Klinge herausschießen. Spürte Patricks beschleunigten Atem über seinen entblößten Oberkörper fliegen. Fing dessen zitternde, rechte Hand mit festem Griff, den Messerschaft in die schlanken Finger pressend. Das dunkle Auge weitete sich. Robin erkämpfte mühsam ein winziges Lächeln in seine ungeübten Züge, nickte Patrick leicht zu. Hob ihre beiden Hände an seine linke Brust, signalisierte mit Fingerdruck, dass er Patrick zur Fortsetzung bereit wünschte. Patrick keuchte, als ihm bewusst wurde, dass Robin erwartete, er solle ihm eine Wunde versetzen. Auf der linken Brust, oberhalb des Herzens, befand sich bereits ein Narbenkreuz, tief, wie ein X geformt. Robin bohrte unterhalb eines Narbenstrichs die Messerspitze in die Haut, deutete die Zugrichtung an. Dann sah er in Patricks Auge, verfolgte wie in einem Spiegel dessen zaghaften Vorstoß, die zuckende Hand in seiner eigenen. Die Wunde war schmal, in der Länge der vorhandenen Linie entsprechend. Erleichtert schloss Patrick das Auge, atmete tief aus, als sei seine Arbeit vollbracht. Als er Robin ansah, lächelte der leicht, fast nachsichtig. Verstärkte den eisernen Griff um Patricks Finger und drückte die Klinge mit der ganzen Schneide in seine Haut. Patrick stöhnte entsetzt auf, als das Blut unter dem polierten Stahl hervorquoll, erste Tropfen sich bildeten. Robin gab nun seine Hand frei, leckte wie immer genießerisch über die Klinge. Als sich Rinnsale zusammenfanden, konnte Patrick dem Bann nicht länger entgehen, beugte sich vor und küsste die Wunde mit bebenden Lippen. Robin lächelte träumerisch, als das dunkelblonde Haar seine Haut streichelte, warme Lippen seinen Herzschlag beschleunigten. Er legte eine glühende Hand in Patricks wehrlosen Nacken, um ihn mit sanfter Gewalt an die Wunde zu binden. Patrick spürte unerwünschte Tränen auf seiner Wange, als er immer vehementer den blutigen Riss mit den Lippen versorgte. »Warum tust du das? Empfindest du Freude bei Schmerzen? Das will ich nicht glauben.« ~?~ Als das Salz die Wunde erreichte, zuckte Robin unter dem Juckreiz zusammen, wich der doch wahrnehmbar von dem erregenden Prickeln ab, das Patrick in seiner Magengrube erzeugte. Er nahm die Hand von Patricks Nacken, legte sie unter dessen Kinn und suchte in dem braunen Auge nach der Ursache seines Kummers. »Warum weinst du? Fürchtest du, mir Schmerzen zuzufügen?« Robin zog Patrick an sich heran, küsste sanft die Tränen auf der rechten Gesichtshälfte weg. Löste sich dann von ihm und streifte das frische T-Shirt über. "Ich bringe dich zum Bus." ~?~ Schweigend gingen sie nebeneinander her, Patrick wie immer den Kopf gesenkt, den Blick auf das Pflaster geheftet. Er wollte nun, da er wieder aus der beklemmenden, fast erstickenden Atmosphäre der winzigen Wohnung in die noch immer schwüle Hitze des Abends eintauchte, mehr wissen. Doch sollte er fragen? Worte schienen zwischen ihnen so ungeschickt, brüsk. Wenn er Robin ansehen wollte, musste er den Kopf drehen, denn der hatte wie zuvor seine linke Seite gewählt. »Ist es Instinkt? Willst du mir ausweichen oder mich beschützen?« ~?~ Die Haltestelle war verwaist, der nächste Bus würde in einer langen Viertelstunde eintreffen. Patrick ließ sich erschöpft und erneut schweißgebadet auf den Hartschalensitz sinken, enttäuscht über die eigene Schwäche. »Ich sollte endlich mal einen Sport betreiben, der meine Kondition verbessert«, trieb ihm träge durch den Kopf. Robin stand neben ihm, spähte augenscheinlich in die Ferne. Dann drehte er sich um, ging vor Patrick geschmeidig in die Hocke. Fing seinen Blick gebieterisch ein. "Warum bist du gekommen?" Patrick blinzelte, suchte in Robins Gesicht nach Hinweisen, ob der wütend war oder abweisend, vielleicht aber auch erfreut? Aber gleichsam wie die Stimme flach und emotionslos gewesen war, so rührte sich auch in Robins Gesicht kein Muskel, gab keine Regung seine Gedanken preis. Patrick grub die feuchten Fingerspitzen in den Saum seiner Bermudas, unfähig, den Blick abzuwenden, stotterte heiser. "Ich... ich... wollte nur...", seine Stimme brach ab, Röte färbte seine glühenden Wangen noch dunkler. Die starken Augenbrauen in Robins Gesicht zogen sich zusammen. Patrick war nicht sicher, ob Robin dies absichtlich tat, um ihm seine Emotionen mitzuteilen, oder ob er tatsächlich die Kontrolle über seine Mimik für einen Augenblick verloren hatte. Diese kurze Unterbrechung genügte ihm, um sich aus dem Bann zu befreien, sein Auge zu schließen und tief durchzuatmen. »Warum ist es in seiner Nähe schier unmöglich, sich zu konzentrieren?!« Er krallte die Finger ineinander. "Ich wollte dich sehen. Ich will wissen, wer du bist." Patrick schlug das Auge wieder auf, ermattet glitten seine Hände voneinander die Oberschenkel herunter und hingen herab. Robins Augen blitzten kurz, dann stand er auf und wandte sich von Patrick ab. Seine Rechte langte in die Hosentasche, fingerte das Springmesser heran, begann mit Kunststückchen, ließ es an der langen Kette durch die Luft flirren. Als Patrick bereits die Hoffnung auf ein Gespräch aufgegeben hatte, ergriff Robin das Wort. "Sie hat MS. Multiple Sklerose. Endstadium." Patrick lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als die hohlen Worte seinen Verstand erreichten. Das hieß, sie würde bald sterben?! Und Robin musste sich allein um sie kümmern?! Eine grauenvolle Vorstellung! Von Mitgefühl ergriffen stemmte sich Patrick hoch, langte unbedacht nach Robins Hand, was den zu einem hastigen Abfangmanöver des Messers veranlasste. Über die eigene Ungeschicklichkeit errötend stotterte Patrick hilflos eine Entschuldigung, verbarg sich unter dem dichten Vorhang seiner Haare beschämt. Robin betrachtete den dunkelblonden Schopf und die Verlegenheit überrascht. Er steckte das Messer weg, schob eine Hand sanft über Patricks linke Wange und kämmte die Haare hinter das Ohr. Bewunderte das unregelmäßige Farbspiel auf der vernarbten Haut, das dunkle Schimmern der winzigen Blutgefäße unter den geschlossenen Augenlid. Robin versuchte sich in einem ungewohnten Lächeln. "Sie ist schon lange nicht mehr da, nur ihr Körper will noch nicht sterben." Patrick keuchte, dann lösten sich wie Perlen Tränen aus seinem Auge. »Wie entsetzlich!« Was musste Robin durchstehen! Impulsiv schlang er die Arme um seinen Hals und vergrub das Gesicht in Robins Halsbeuge. Der verharrte perplex, hatte er doch beabsichtigt, Patrick zu beruhigen, nun aber das komplette Gegenteil erreicht. Überrumpelt suchte er nach Worten, ungeübt durch die Phasen des Schweigens in seinem Alltag. "Es... es ist nicht schlimm. Du musst nicht weinen." Patrick spürte Robins Verwirrung und war erneut beschämt, weil er ihn in Nöte brachte. Hastig löste er sich von ihm und wischte sich mit dem Handrücken über das Auge. "Tut mir leid, das alles", flüsterte er mit belegter Stimme. Robins Hand glitt wieder durch seine Haare. "In zwei Tagen um Mitternacht beim Weiher." Dann zog er die Hand zurück und marschierte ohne Abschiedsblick die staubige Straße zurück. Patrick sah ihm verloren und erfreut zugleich nach. »Er ist wie einer dieser einsamen Cowboys aus den Filmen, wortkarg, ohne Floskeln, wie ein Erdbeben. Erschüttert mich, wirft mich aus der Bahn, unangekündigt und gewaltig, dennoch lebe ich. Und fürchte mich nicht.« ~?~ Kapitel 3 - Sehnsucht Patrick schlich sich mit neuerlichem Geschick aus seinem Elternhaus, wo sich bereits Koffer türmten. Überraschend hatte sich die Möglichkeit ergeben, in die Ferienwohnung eines Verwandten am Bodensee zu fahren. Er war hin und her gerissen zwischen der Freude auf Abwechslung und dem Verlangen, möglichst jeden Abend Robin zu treffen. Drei Wochen schienen wie eine Ewigkeit, dann würde auch schon die Schule wieder beginnen, und ob er sich dann noch mit Robin treffen konnte? Musste der nicht auch für die Schule lernen und außerdem noch seine Mutter betreuen? War es nicht egoistisch, ihn so mit Beschlag zu belegen, Hoffnungen in ihn zu setzen? Patrick wischte die Gedanken erbost beiseite. Das, was ihre Begegnungen bis jetzt ausgemacht hatte, war der Zauber des Augenblicks, einer Einöde fernab der anderen, losgelöst vom Alltag. Und so sollte es auch in dieser Nacht sein, kein Gedanke an das Morgen oder die Zukunft. Als er den Weiher erreicht hatte, hörte er einen leisen Pfiff aus dem Inneren des Schilfmeeres. Wenige Wolken überzogen einen sternenklaren Himmel, dessen unbestrittenes Zentrum der Vollmond bildete. Hastig kämpfte sich Patrick durch den schlammigen Boden, fand Robin im Wasser stehend. Den Oberkörper entblößt trug der nur abgeschnittene Jeans, betrachtete die geöffneten Blumen, während der Mond sanft im schwarzen Wasser schwamm. Patrick streifte seinerseits das T-Shirt ab, legte es zu den Schuhen zwischen die Halme, wo er auch auf Robins Inliner und Rucksack stieß. Mit vorsichtig tastenden Schritten näherte er sich Robin, angenehm berührt von der lauen Temperatur des Weihers. Robin nickte ihm leicht zu, zückte dann das Messer und schnitt präzise ein Zierblatt von einem Stängel. Er streckte die Hand nach Patrick aus, um ihn zu sich heran zu lotsen, strich ihm dann die Haare vom Gesicht und steckte die losen Strähnen mit dem Blatt fest. Patrick kicherte leise, fühlte sich in diesem Augenblick wie eine Südsee-Schönheit mit einer farbenprächtigen Blüte hinter dem Ohr. Robin lächelte hauchzart, ließ seine Finger zwischen Patricks gleiten, um dessen Hände zu ergreifen. So nahe vor einander stehend verwoben sich ihre Blicke, beschleunigte sich beider Atem, die Lippen des anderen versengend. Stumm blieb ihr Duell, bis Patrick die Anspannung nicht mehr ertragen konnte, das Auge schloss, sich ergab. Robins Lippen zuckten einen Kuss auf den schiefen Mund, wagten mehr, verglühten Patricks Lippen, eroberten sich Raum mit leichtem Druck, bis er Robins Zunge Einlass gewährte. Patricks Handdruck wurde fester, als Robins Zungenspitze seinen Mund erkundete, das ungewöhnliche Muskelspiel der linken Seite ertastete und reizte, die Zunge liebkoste, ihm den Atem raubte. Patricks Zunge ließ sich in den unbekannten Vulkan locken, der hinter Robins weichen Lippen lauerte, verbrühte sich an der sengenden Hitze, geriet in Gefangenschaft und ergab sich zuckend der entfachten Leidenschaft. Patrick stöhnte erstickt, als vor seinem Auge farbige Punkte in der Schwärze tanzten, Hormone wild um sich schossen und der Flächenbrand seine Nerven entzündete. Robin beendete sanft den Kuss, fuhr mit der Zunge lockend über Patricks linke Wange. Der kicherte leise, lehnte sich vor, löste seine Hände aus Robins Griff und umarmte ihn innig. Er hatte das Gefühl, zu zerspringen vor Erleichterung und Freude. ~?~ Robin zückte das Springmesser, drehte mit der freien Linken Patricks Kopf in Position, um ein feines Muster in die Narben zu zeichnen. Der schmale Streifen Blut verdunstete unter heißem Atem und lieblichen Küssen. Dann gab Robin Patrick die Klinge und das Zeichen, wo der seine Handschrift auf Robins Körper hinterlassen sollte. Aus dem X auf seiner linken Brust sollte ein Doppelkreuz werden. (#) Dieses Mal ohne Zögern vollzog Patrick Schnitt und Wunde, leckte Blut und liebkoste mit den Lippen. Robins Hände durchkämmten seine Haare, strichen über seinen nackten Rücken, bis Patrick von Robins Brust abließ und ihm in die Arme fiel. Sie umschlangen einander eng, mit bebendem Herzschlag und treibendem Puls, stießen glühende Atemwolken in den Nachthimmel aus. Als sich die Erregung langsam verlief, schob Robin Patrick sanft von sich, nahm seine Hand und geleitete ihn umsichtig durch das kniehohe Wasser an den Rand. Wenige Schritte weiter legte er sich auf festeren Boden zwischen schwankenden Halmen, zog Patrick neben sich hinunter. Der folgte gehorsam, legte die linke Wange auf Robins Brust und schloss das Auge, ließ dessen Hände langsam über sein Rückgrat streifen, mit seinen Haaren spielen. Endlich drangen wieder die nächtlichen Laute der Weiheranrainer an ihr Bewusstsein, malten die Geräuschkulisse für ihr Rendezvous. Patrick zeichnete mit der Linken Muster zwischen den schimmernden Narben, während unter seiner Wange die frische Wunde noch prickelte, sich mit der eigenen austauschte über unsichtbare Kanäle. Trotz des Hochgefühls nagte in seinem Bewusstsein die Tatsache, dass er Robin seine Abwesenheit gestehen musste, warf einen Schatten über jeden weiteren Augenblick der Idylle. Schließlich brach der angestaute Druck aus Patrick hervor. "Robin, ich fahr morgen in Ferien für drei Wochen." Patrick spürte, wie der Körper unter ihm hart wurde, unnachgiebig, die Haut zu Keramik, unerreichbar, fern. Robin schob ihn mit gleitendem Schwung von sich und stand auf, ging ein paar Schritte. Blieb stehen. Hastig kämpfte sich Patrick auf die Beine, huschte zu ihm, schob die Arme unter Robins hindurch und presste sich mit dem ganzen Körper an seinen Rücken. Hielt sich an ihm fest, bohrte die Fingernägel in die Haut, hinterließ sichelförmige Eindrücke im Narbenmeer. Eine halbe Ewigkeit in Patricks Empfinden umklammerte er Robin, dann löste sich der aus seinem Griff und wirbelte herum. Funkelte ihn an, während eine Wolke vor den Mond zog und das Licht trübte. Robin schnellte vor, packte mit festem Griff Patricks lange Haare, in die Linke sprang das Messer und trennte mit hungrigem Biss eine ganze Strähne am Ansatz ab. Mit einem erstickten Keuchen wich Patrick zurück, starrte mit weit aufgerissenem Auge Robin in das maskenhafte Gesicht. Der umklammerte in der Faust die Strähne, reckte sie in tragischem Triumph in die Höhe, während sich das milchige Grün seiner Augen trübte. Dann fiel sein Arm tonnenschwer herunter, drehte er den Kopf auf die Seite. Schob in jede Hosentasche jeweils Messer und Strähne. Geschlagen, verlassen. Patrick torkelte ein paar unsichere Schritte auf ihn zu, den Abstand verkürzend, streckte die Hände flehend aus. "Ich komme wieder!", flüsterte er eindringlich sein Versprechen, auf eine Geste des Entgegenkommens hoffend. Nahm die leeren Hände in die eigenen, blies seinen Atem auf Robins Wange, versprühte schüchterne Küsse auf dem abgewandten Gesicht. "Robin..." Endlich wandte der den Kopf, im nun wieder prallen Mondschein feinstes Porzellan mit Nachtaugen. Über die sich helle Lider senkten, dichte Wimpern über Wangenknochen flatterten. Patrick lächelte sein schiefes Lächeln erleichtert und küsste Robin auf den Mund. ~?~ Einander scheu an einem überkreuzten Finger haltend kehrten sie langsam wieder in die menschenleeren Häuserreihen zurück. Robin bremste ihre Schritte, ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und wechselte in die Inliner. Patrick schluckte schwer, es hieß Abschied nehmen. Robin strich sich lange Strähnen aus den Augen, legte dann beide Hände wie Blütenblätter um Patricks Gesicht. Und versuchte sich an einem Lächeln. "Ich seh dich dann, Pat." Patrick blinzelte heftig, als der Kloß in seinem Hals Tränen in seine Kehle drückte, streckte sich hoch und küsste Robin leicht auf die weichen Lippen. "Ich schreibe dir, bestimmt!" Robin löste sich von ihm, nickte leicht und verschwand lautlos und mit schnell wachsendem Schwung wie ein Schatten in der Nacht. Patrick wischte sich zum zweiten Mal an diesem Abend über das Auge, die Hand zur Faust geballt. ~?~ Robin blätterte langsam in den sorgfältig beschriebenen Seiten. So viele Worte, so viele Gedanken, die Patrick ihm mitteilte, angefangen von dem Unfall, der ihn entstellt hatte, bis zu dem Augenblick, an dem sie sich küssten. Den er fürchtete, weil er nicht sicher war, wie seine Muskeln reagieren würden. Welche Befreiung es gewesen war, jemanden gefunden zu haben, der nicht zurückwich, ihn berührte, keinen Ekel zeigte. Sorgfältig schob er die Blätter in den Umschlag zurück, hinter die dunkelblonde Strähne. Und packte seine Tasche. ~?~ Patrick rollte rasch über die unebenen Platten, überwand geschickt die Türschwelle und huschte in der klammen Kühle bis zur dritten Tür, klopfte laut. "Robin! Ich bin wieder da!" Stille. Bevor er erneut gegen das Türblatt schlagen konnte, öffnete sich eine benachbarte Tür. Eine alte Frau in übergroßem Kittel musterte ihn kritisch. "Der wohnt hier nicht mehr." Patrick starrte sie fassungslos an, nahm hastig die runde Sonnenbrille von der Nase. "Wie bitte...?!" Die Frau strich eine graue, fettige Strähne über die Schulter und verschränkte die Arme vor der Brust. "Den hammse abgeholt, wie seine Mutter gestorben is. Is nun sicher in nem Heim." Patrick musste sich an die Wand lehnen, weil ihm die Beine schwach wurden. "Wann... wann ist das passiert?" Die Frau bohrte mit einem kleinen Finger in ihrem Ohr, kratzte sich ungeniert. "Och, letzte Woche, oder wa. Hat noch ordentlich Ärger bekommen, weil er se gewaschen und umgezogen hat, als se schon mausetot war. Und wie die Bullen se einpacken wollten, is er ausgerastet." Patrick keuchte leise. "Wissen Sie zufällig die Adresse des Heims?" "Nö, geht mich ja auch nix an, wa?" Patrick schob die Sonnenbrille auf die Nase, strich wieder die Haare unter dem roten Kopftuch mit den Totenköpfen über die Wange und strebte dem Ausgang zu. "Danke!" ~?~ Er ignorierte die indignierten Blicke der Kunden in der Postfiliale, durchkämmte hastig das Verzeichnis nach Kinder- und Jugendheimen. Prägte sich die Adressen ein und startete seine Suche. ~?~ Robin saß unter dem alten Kastanienbaum und starrte auf seine leeren Hände. Er wusste nicht mehr, was er mit seiner Zeit anfangen sollte, mit den Händen, die keine Ruhe fanden. Sie hatten sein Messer konfisziert, ihm gedroht, wenn er sich eine weitere Wunde zufügen würde, dass er dann in die Psychiatrie eingewiesen würde. Gedankenverloren glitt seine Hand flach über die frische Narbe über seinem Bauchnabel. »Wäre ich doch nur nicht in Panik geraten, als sie sie in den Plastiksack gehoben haben!« Plötzlich war da eine alles auslöschende Furcht gewesen vor der Freiheit, die er erlangt hatte. Einen Tag ohne festgelegte Routinen, ohne die Flucht in den Rausch der Geschwindigkeit auf seinen Inlinern, weg von dem abwesenden Schweigen, dem Geruch. Den bohrenden Gedanken, die verzweifelten an der Erkenntnis, dass die Liebe längst vergangen war, es nur noch galt, ein Stück sterbendes Fleisch zu versorgen. All den Schuldgefühlen, der Entfremdung. Der Einsamkeit, die er auf sich gestellt ertragen sollte. Er lehnte sich eng an den Stamm, legte den Kopf in den Nacken und sah in die Baumkrone hinauf. »Was bleibt mir, nun, da ich frei bin? Nichts.« ~?~ Patrick rauschte schwungvoll dem Tor entgegen, studierte die verwitterte Inschrift des Blechschildes. Hier musste es sein, erste Station seiner Suche. Er drückte die Klingel, erhielt aber keine Antwort. Also rüttelte er versuchsweise am Knauf, als ein Summen ertönte. Das Tor aufschiebend glitt er über eine unregelmäßige Betonpiste auf das Backsteingebäude zu, wo ihn eine mittelalte Frau mit misstrauischem Gesicht entgegenblickte. "Du bist nicht der Postbote." Patrick musste ein Grinsen unterdrücken, schluckte aber seinen Spott hinunter. "Guten Tag. Ich suche einen Freund, Robin. Er ist seit letzter Woche in einem Heim, und..." "Keine Besuchszeiten ohne Ankündigung!" Patrick straffte die Schultern, bremste geschickt die Rollen ab. "Also ist Robin hier? Gut, was muss ich tun, um einen Besuchstermin zu bekommen?" "Das muss mit seinem Vormund besprochen werden, und..." Patrick registrierte, dass er sich in der Bürokratie verheddern würde, wenn er sich hinhalten ließ. Er drehte den Kopf und bemerkte, dass das löchrige Betonband um das Haus herum führte zu einem Garten. Sich kräftig abstoßend sauste er an der verblüfften Frau vorbei, in der Absicht, das Gebäude zu umrunden. "Robin!! Robin!!" "Was soll denn das?! Ich rufe die Polizei!" Patrick ignorierte das Gezeter, wand den Kopf rasch, um sich nichts entgehen zu lassen. Unter einem vereinsamten Baum kam langsam eine Gestalt in die Höhe, in abgewetzten Jeans und einem ausgeblichenen Hemd. Überlange Strähnen verdeckten das Gesicht fast bis zur Nasenspitze. "Robin?!" Patrick riss sich die Sonnenbrille von der Nase, zerrte im Rollen das Kopftuch herunter und schüttelte seine Haare frei. "Robin!!" Er breitete die Arme aus und fing die Gestalt mit den herabhängenden Schultern ein. "Endlich!" Mit einer Mischung aus Jubel und Tränen lachte er Robin in das Gesicht, drückte ihn immer wieder an sich. Beruhigte sich schließlich und hielt ihn fest in seinen Armen. "Es tut mir leid", flüsterte er leise. Robins Finger bohrten sich in seinen Rücken, Erschütterungen durchliefen seinen Körper. Warme Nässe tränkte Patricks Shirt an der Schulter. Robin weinte lautlos in seinen Armen. Patrick streichelte ihm sanft über den Rücken, wiegte ihn leicht. "Hab keine Angst, ich bin hier." Robin hob den Kopf von seiner Schulter und sah ihm ins Gesicht, strich mit zitternden Händen Patricks Haare von der vernarbten Wange. Patrick lächelte, noch immer schief, aber nicht mehr unsicher. "Ich habe meiner Familie von dir erzählt. Wenn es einen Weg gibt, werden sie helfen, besonders jetzt." Robin blinzelte salzige Perlen aus den Wimpern. "Warum?", brachte er schließlich stockend hervor. Patrick grinste schief, zwinkerte. "Weil ich dich mag und du mein Freund bist." Robins Gesichtszüge entblätterten sich zu einer entgeisterten Miene, verloren ihre maskenhafte Fremdheit. Er sonnte sich in Patricks halbseitigem Strahlen, verbannte die Sorgen, die zu erwartenden Schwierigkeiten aus seinen Gedanken. Vielleicht konnte man tatsächlich den Zauber der nächtlichen Begegnungen auf die Realität übertragen. "Alles wird gut?", fragte er halb spottend, halb hoffnungsvoll. Patrick nickte leicht, kämmte sich die Haare hinter das Ohr. "Alles wird gut." ~?~ ENDE ~?~ Danke fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Ein Song von HIM, dazu schier unerträgliche Sommerhitze und keinen Urlaub in Aussicht... das treibt jeden doch in kreative Untiefen ^_~ Mir gefiel die Idee, in einen stickigen Glutofen zwei Jungs aufeinander treffen zu lassen, die eigentlich ganz durchschnittlich sind... mit gewissen Eigenarten. Nachdem ich diesen Beitrag, auf den ich stolz bin, veröffentlichte, hagelte es Proteste, obwohl ich ausnahmsweise einmal niemanden umgebracht hatte... Nein, ich denke nicht, dass Pat und Robin pervers sind und ein schlechtes Beispiel geben, auch wenn sie zweifellos ihre Zuneigungsbekundungen anders gestalten sollten. Ich bewundere Robin für seine Stärke, die sterbende Frau zu versorgen, ohne einen Menschen zu haben, bei dem er seinen Schmerz und seine Einsamkeit loswerden konnte, und Pat hat sich tapfer aus dem Schönheitsterror befreit, der ihn zum Monster gestempelt hat, auch wenn er sicherlich ein leichteres Los bevorzugt hätte. Ich mag den Verlauf der Ereignisse, der sich ein Happyend redlich verdient hat ^_~