Titel: Heiß-kalte Leidenschaften Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Fan Fiction Serie Rurouni Kenshin von Nobuhiro Watsuki FSK: ab 16 Kategorie: Seifenoper Erstellt: 12.06.2004 Disclaimer: Die Serie Rurouni Kenshin gehört Nobuhiro Watsuki. Die Lieder gehören den zitierten Autoren/Sängern, alle Rechte vorbehalten. Zitate entstammen unter anderem Billy Wilders Film >Some like it hot< von 1959. Hinweis: Die Charaktere sind ca. drei Jahre jünger als im Original. Die Handlung ereignet sich ca. 1991 irgendwo in Amerika... *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* *~i~* Heiß-kalte Leidenschaften Kapitel 1 - Die Party "Kaz, geht's nicht ein bisschen schneller?" Er grinst schelmisch. Die schokoladenbraunen Augen funkeln herausfordernd. Augenblicke lang mit seinem werten Haupt tatsächlich innerhalb meines Wagens, um es sofort wieder aus dem Fenster zu stecken. Die feuerrote Bandana, die seine wirre, dunkelbraune Mähne bändigt, flattert in der warmen Brise des Abends, während wir langsam die Straße hinabgleiten. Sie elektrisiert die wilden Spitzen seines Hahnenkamms, während er ungeniert mit den Cheerleaderinnen flirtet, die in ihrem offenem Jeep neben uns halten. Sponsored by Daddy, natürlich. Sano stört sich an derartigen Kleinigkeiten nicht. Mein wilder, jüngerer Bruder ist ein Womanizer par excellence. Nicht, dass es ihm bewusst wäre, es ist mehr eine Art Reflex. Sein Charme müsste eigentlich unter das ABC-Waffenverbot fallen. Nein, ich bin nicht neidisch, eher ungläubiger Beobachter eines wandelnden Katastrophenherds. Wenigstens hat er nicht eine verdrehte Unart seines derzeitigen Idols übernommen, eines merkwürdiger Punks aus England namens Billy Idol. Wie programmatisch! Er zieht in jedem Fall keine Schnute. Wäre im Augenblick auch schwierig, weil er zum Radio singt. Glücklicherweise hat Sano eine angenehme Stimme. Sie harmoniert mit dem vibrierenden Schnurren meiner rassigen Lady. An der nächsten Kreuzung röhrt ein heißgemachter Firebird auf. Immer wieder wird der Motor hochgejagt, aber Balzgehabe imponiert uns nicht. Ich streichele sanft über das Lenkrad. Meine Lady. Mein ganzer Stolz und das Ergebnis von harter Arbeit, Blut, Schweiß und Einfallsreichtum: ein Original Ford Mustang 1964 Hardtop. Eine kostspielige Leidenschaft, aber eine erste Liebe haben wir doch alle, nicht wahr? Apropos Liebe: mit raschem Griff in Sanos stone-washed Jeans, dekorative Löcher und Sicherheitsnadeln, befördere ich meinen kleinen Bruder in meine Lady zurück, bedeute ihm mit vernichtendem Blick, dass er seine vier Buchstaben gefälligst auf den Polstern parken soll. Lachend lässt er sich neben mir fallen, verschränkt die Arme vor der Brust, sodass sein ärmelloses Netztop sich spannt, die Chicago Bulls zu detonieren drohen. "Okay, alles roger, Chief!" Zwinkert er, um sogleich auf das Armaturenbrett zu trommeln. Typisch Sano. Ein Grund, warum ich ihn auch nicht fahren lasse: Sano explodiert förmlich vor Energie. Leider ist sie selten zielgerichtet. Manchmal erinnert er mich an einen Pinball-Wizard, immer in Bewegung, hin und her schießend, unruhig, viril, Er rauft sich die Haare, kaut Kaugummi, lässt seine Fingergelenke einzeln einrasten, selbstredend mit lautem Knacken. Sano ist das Gegenteil eines Ruhepols. "Erwarten mich heute Abend irgendwelche Schwierigkeiten?" Erkundige ich mich beiläufig. Bei der Party, die wir besuchen, handelt sich nicht um eine schuleigene, sondern um eine der asiatisch-stämmigen Gemeinde, die zu diesem Zweck die Turnhalle von Sanos Highschool angemietet hat. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es gesitteter zugehen wird. Mein kleiner, mich mit unschuldigem Augenaufschlag verletzt bedenkender Bruder pflegt gewöhnlich das Zentrum von Ärgernissen aller Art zu sein. Weiblichen zumeist. "Hey, ich bin sauber, wirklich!" Sofort hebt er die Handflächen anklagend zum Beweis, schmollt für einen Wimpernschlag, bevor ihn etwas anderes in seinen Bann zieht: Hüften schwenkende Damen des horizontalen Gewerbes. Während ich beschleunige, um nicht den Eindruck eines Kunden zu vermitteln, grinst Sano breit, bläst seinen Kaugummi zu einer Mond verdunkelnden Kugel auf, um sie mit Hingabe zu zerdrücken, die rosige Masse genüsslich in den Mund zurückzuschieben. Einfach ekelhaft. "Also keine Mädchen, die hinter dir her sind?" Versichere ich mich erneut, schwankend zwischen Hoffnung und Resignation. Sano übergeht solche Herausforderung üblicherweise einfach. Wie jetzt, zum Beispiel. Feixend und zwinkernd intoniert er den Refrain von Roxy Music, der verwünschter Weise gerade dem Lautsprecher entflieht. "You're just a jealous guy!" Bin ich eifersüchtig? Nein. Nein, wirklich nicht. Manchmal sieht Sanos Leben zwar erstrebenswert und leicht aus, aber ich bin sein Bruder, kenne auch die anderen Seiten, die nur wenige bisher erfahren durften. Vielleicht ist es an der Zeit, mal ein wenig Aufklärung zu betreiben: Sano ist mein jüngerer Halbbruder. Wir haben uns erst vor einem knappen Jahr nach fast zehn Jahren Trennung wiedergesehen. Wie kommt das? Tja, unsere Mutter hatte eine ebenso unruhige Ader wie Sano. Das prägte sich leider darin aus, dass sie es weder lange an einem Ort, noch mit einem Mann aushielt und uns beide, vermutlich Überraschungsprodukte verflossener Beziehungen, mit sich schleppte, wie überzählige Gepäckstücke. Als ich gerade fünf Jahre alt war, traf sie auf Souzou Sagara. Dieser großartige Mann vermochte es nicht nur, unsere Mutter für unglaubliche zwei Jahre von ihrem unsteten Wesen zu befreien: er wurde für Sano und mich zu einem Vater. Wir liebten ihn heiß und innig. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Unser Ziehvater starb bei einem simplen Verkehrsunfall, zur falschen Zeit am falschen Ort. Mit diesem Horror endete unser fröhliches Familienleben. Während ich noch heulend ein Hosenbein meiner Mutter umklammerte, verschwand Sano, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass unser Ziehvater tot war. Nicht mehr wiederkommen würde. Nicht einfach nur gegangen war oder sich getrennt hatte wie die anderen Männer zuvor. Sondern bis zuletzt an uns geglaubt hatte. Unsere Mutter verlor die Nerven. Ihre Flatterhaftigkeit wurde noch schlimmer als davor. Die Schwester meines Erzeugers sammelte mich ein, beantragte, meine Pflegemutter zu werden, was nicht unbedingt grausam war. Meine Tante und mein Onkel sind ruhige, besonnene Menschen, haben sehr viel investiert, um mir ein gutes Leben und eine herausragende Ausbildung zu ermöglichen. Unsere Mutter tauchte mit Sano unter. Sie verwischte ihre Spuren gründlich. Obwohl ich immer nach ihnen suchte, Zeitungen durchforstete, Anzeigen schaltete, blieben die beiden verschollen. Bis ich durch einen Zufall auf eine Randnotiz stieß, die einen Jungen belobigte, der waghalsig genug war, in ein brennendes Haus zu laufen, um dort die geliebte Katze einer alten Frau aus ihrer Wohnung zu befreien. Sanosuke Sagara. Mein kleiner, verlorener Bruder. Ich bedrängte meine Tante so lange, bis sie einwilligte, dass ich an den Ort des Geschehens reisen durfte. Ich fand Sano in einem Haus für Waisen und schwer erziehbare Jugendliche, wobei er gleich beide Kategorien erfüllte. Verunsichert, ob er sich überhaupt meiner erinnern würde, trat ich ihm gegenüber. Es war, als wäre die Dekade spurlos an uns vorübergegangen: das gleiche wild-verwegene Grinsen, die großen, schokoladenbraunen Augen, die wilden Haare. Wir sprechen selten über die Zeit nach dem Tod unseres Ziehvaters. Ich weiß nicht, was mit Sano geschah, oder wann und wie unsere Mutter verschwand. Alles, was zählt, ist unser gemeinsames Leben, in einem alten Lagerhaus beim Hafen. Ein Backsteinbau, der im Winter nahezu unmöglich zu heizen ist, dafür wenig Miete kostet und uns genug Platz bietet, uns einzurichten, wie wir es wollen. Das kostete durchaus Mühen, steht noch immer unter dem Vorbehalt, dass sich Sano absolut nichts zuschulden kommen lassen darf, während ich weiterhin schulische Höchstleistungen abzuliefern habe. Erstaunlicherweise fällt es Sano außerhalb des Umfeldes des Heims in der neuen Highschool viel leichter, sich zu beherrschen. Ich bin zuversichtlich, dass wir nichts zu fürchten brauchen. "Kaz? Kannst du in die nächste Straße einbiegen?" Unterbricht Sano meine sentimentalen Gedankengänge. Stirnrunzelnd leiste ich seiner Aufforderung Folge. Welche Überraschung harrt meiner denn nun? Als ich begreife, welches Ziel er mich ansteuern lässt, kann ich ein Aufstöhnen nicht zurückhalten. "Oh nein, Sano, das ist nicht dein Ernst!!" *~i~* Es fällt mir schwer, nicht lauthals herauszulachen, als ich meinen sonst so stoisch gelassenen Bruder aufjaulen höre. Sehr melodisch zwar, aber der Erfolg dieser Überraschung ist mir sicher. "Komm schon, Kaz, Kama ist cool! Außerdem ist er neu in der Gegend. Da muss man doch helfen, richtig?" Ich kann sehen, wie Kaz eine Grimasse zieht. Er kann es nicht ausstehen, wenn ich in noblen Flötentönen vorgebe, mich an die gesellschaftlichen Umgangsformen zu halten. Er kennt mich eben zu gut. Nichtsdestotrotz fährt er ran. Ich klettere aus dem Mustang heraus, um Kama beim Einsteigen zu helfen, gleichzeitig die Honneurs abzuwickeln. "Kama, das ist mein älterer Bruder Katsuhiro. Kaz, das ist Kamatari, neu in der Gegend." Kaz nickt gravitätisch, weil er es sich nicht gestatten würde, hier die Contenance zu verlieren. Auch, weil es nicht besonders gut zu seinem Outfit passen würde. Man trägt schwarz und zwar Bügelfaltenhose, Rollkragenpulli und Jackett. Sozusagen die dunkle Seite von Miami Vice, allerdings ohne Brusthaartoupet und Goldgehänge. Eben wie ein Bestatter. Aber sagt das bloß nicht Kaz, okay? Kama dagegen ist eine ganz andere Nummer. Das erklärt auch die liebenswerte Schockreaktion meines Bruders. Da wären zunächst mal halbhohe Schaftstiefel mit Verschnürung, dazu kommen Netzstrumpfhosen, Hotpants aus schwarzem Lederimitat, ein transparentes Hemd mit Rüschenausschnitt sowie eine Frackjacke mit langen Flügeln in einem schimmernden Meergrün, das entfernt an Varietee-Kostüme erinnert. Akzentuiert wird Kamas Auftritt mit einer Unmenge an Schmuck aller Art, zum Teil in seine Haare eingewoben, die ihm fast bis zu den Hüften reichen. Einige geflochtene Zöpfe, andere Strähnen in ihrer dunkelbraunen Glätte, einige auch wie Stacheln aufgestellt. Kurz gesagt, mit dem ganzen Plunder, der glitzernd und scheppernd an Kama herumbaumelt, könnte man mühelos fischen gehen. Der Boy George-Look in Reinkultur. Unter uns, Kama sieht verdammt appetitlich darin aus! Nicht zu viel Farbe, keine dämlichen Typewriter-Sackhosen. Kama ist eben Kama. Außerdem ist er wirklich nett, lacht viel und flirtet gerne, auf die niedliche Art eines Hinterwäldlers. Glaubt es oder nicht, der Junge stammt aus irgendeinem Kuhkauf aus dem glorreichen, konservativen, hoffnungslosen Süden! Sie haben ihn zu seiner Großmutter abgeschoben. Die wohl auch 'einen Hau weghaben soll', wie er mir mal beiläufig anvertraute, weil sie darauf besteht, eine eigene kleine Bäckerei zu betreiben. Na ja, man kann sich seine Verwandten eben nicht aussuchen. Ich denke, mit seiner Oma hat Kama das große Los gezogen. Ihre Croissants sind einsame Spitzenklasse!! Zurück zum Thema, richtig? Während Kama sich nach vorne lehnt, um nicht das Geringste zu verpassen, dunkelt es draußen langsam. Ich komme in Partystimmung. Ich will tanzen bis zum Umfallen, keinen Schritt weniger!! *~i~* Ich muss Sano Schläge androhen, um ihn daran zu hindern, aus dem Auto zu springen, bevor ich meine schnurrende Lady überhaupt in die Parklücke positioniert habe. Der Kerl treibt mich noch in den Wahnsinn, Ameisen im Hintern!! An Kama habe ich mich während der letzten fünf Minuten unserer frischen Bekanntschaft dagegen schon gewöhnt. Er ist abgesehen von seinem Äußeren wirklich ein sehr netter Junge, seine Singstimme umwerfend: dunkel, samtig, verführerisch. Barry White sollte sich besser warm anziehen. Dann lacht Kama wieder sprudelnd, zerstört den Zauber, den er mit seiner Stimme wirkt, weil er so ausgelassen und unbeschwert ist. Ich frage mich gleichzeitig, ob er nicht ähnliche Untiefen wie Sano verbirgt. Wie kann man auf dem Land überleben, wenn man selbst hier, in einer Großstadt, für Aufsehen sorgt? Er muss sehr viel zäher sein, als es den ersten Anschein hat. Der Eingang zur Sporthalle ist festlich geschmückt. Sano führt unsere kleine Gruppe natürlich an, bereits johlend und winkend, weil er einen weiteren Bekannten entdeckt hat. Noch so eine Eigenheit: Sano kennt alles und alle. Berührungsängste sind für ihn ein absolutes Fremdwort, wobei er auch wenig Unterschiede nach Ansehen oder Status macht. Wen er mag, den vereinnahmt er für sich. Punktum. Und ich schüttele schon wieder mein Haupt. Der ungläubige Kaz... *~i~* Nachdem Kaz endlich den Mustang eingeparkt hat, sich losreißen kann, halte ich direkt auf den Eingang zu. Wie erwartet hat Kenny den Job des Einlassers übernommen, stempelt artig Handrücken ab, lächelt auf seine merkwürdig ahnungslose Weise. Ich finde ja, dass so ein Ausdruck der konsequenten Harmlosigkeit irgendwie unheimlich ist. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen herauszufinden, wer oder was Kenny wirklich ist. Andererseits ist der kleine Feuerkopf ein wirklich netter, sanfter Kerl. Wenn er seine Vergangenheit nicht auftischen will, kann ich das akzeptieren, auch wenn ich furchtbar neugierig bin. "Yo, Kenny, wie läuft's bei dir? Schon viele da?" Ich lege meine Hand auf seine ausgestreckte, damit er stempeln kann, staune mal wieder über seinen kraftvollen Griff. Würde man bei solch kleinen Porzellanhänden gar nicht vermuten. Kenny zwinkert mir zu, strahlt. "Sehr viele Gäste, eine schöne Feier." "Das sagst du jetzt noch, Kumpel, aber warte mal, was für ein Saustall das später ist!" Grinse ich zurück, dezent auslassend, dass ich vermutlich auch unter die Kategorie 'Sau' fallen werde. "Oh, das ist es wert, dieses Fest, ja!" Perlen meine mageren Versuche, boshafte Scherze mit Kenny zu treiben, an ihm spurlos ab. Ich lächele über seine seltsame Diktion. Liebenswertes Kerlchen! Ich hoffe, dass er bald einen besseren Job findet als den Hausmeisterposten hier. Wahrscheinlich endet er im Waschsalon bei den Kamiyas. Eigentlich ein Wunder, dass Kenny heute ohne das kleine Biest Kaoru ist! Diese Göre hat sich in den Kopf gesetzt, dass der arme Kenny einen ordentlichen Job braucht. Sie verfolgt ihn seitdem hartnäckig damit, dass er ja auch in ihrem Waschsalon arbeiten könne. Dass er zur Untermiete da wohnt, ist auch nicht gerade von Vorteil. Armer Kenny! Aber zurück zum Vergnügen, deswegen sind wir schließlich hier! Mit ein bisschen Geschick findet sich auch eine lauschige Ecke, von der aus auf die Pirsch gegangen werden kann!! *~i~* Sano muss sich natürlich nicht durch die Grüppchen drängeln, um zu den Tischen zu kommen: er teilt die Pulks wie Moses das Rote Meer, Kama im Schlepptau. Ich fahre mal wieder die Ellenbogen aus. Allerdings kommen die beiden auch nicht ohne Hindernis durch die Menge: vor Sano baut sich eine ziemlich aufgedonnerte, junge Frau auf. Meiner Einschätzung nach eine Studentin, also nicht Sanos Altersstufe. Lange, dauergewellte Haare mit hoch geföhntem Pony, zu viel Lipgloss und Lidschatten, ein enges Cocktailkleid und Pumps mit Stiletto-Absatz in Korallenrot. Von allem ein wenig zu viel, was bedauerlich ist, denn sie hat sehr hübsche Züge und eine anmutige Figur. Im Augenblick allerdings gefriert ihr eisiger Blick meinen jovial grüßenden Bruder. "Hey Meg, siehst echt cremig aus heute Abend! Scharfe Kluft!" Er grinst vollkommen unbeschwert, als drohe nicht Ungemach aus den dunklen Augen der jungen Frau. Meg... ah, Megumi, die angehende Ärztin? "Du hast mich nicht angerufen, Sanosuke." Oh~oh! Pures Gift in der Stimme, die aufgestützte Hand auf der Hüfte: das verheißt definitiv nichts Gutes. Allerdings ist mein Bruder entweder zu dickfellig oder wie gewohnt waghalsig bis zur Idiotie. Er ignoriert die Warnzeichen konsequent. "Angerufen? Ach, Meg, ich hab doch gesagt, diese Woche ist total dicht, da hab ich's einfach nicht mehr gepackt! Ist doch auch kein Beinbruch, wir können ja nachher noch ein bisschen quatschen, richtig?" AUTSCH! Sano! Ich bin in Versuchung, ihm schwungvoll in die Hacken zu treten. Meine Güte, bist du so dumm, oder ist das eine sporadische, geistige Umnachtung?! Nicht nur den ungeschriebenen Codex verletzen, indem man einen Anruf vergisst, nein, er hat weder eine gute Ausrede, noch entschuldigt er sich! Und will 'nachher mit ihr quatschen'!! Oh Mann!! "Was denkst du dir eigentlich?! Glaubst du, ich habe es nötig, auf deinen Anruf zu warten? Oder darauf, dass du mir mal wieder an die Wäsche gehst? Ich dachte, dir wäre es ernst mit uns, aber da habe ich mich wohl täuschen lassen." Ihre Bitterkeit könnte einem glatt den Magen verätzen. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie sich Sano aus diesem Schlamassel herausmanövriert. "Meg, Süße, warum bist du so wütend? Hör mal, wenn du meinst, dass wir nicht zusammenpassen, ist das okay für mich. Obwohl ich deine Wäsche immer sehr reizvoll fand." Ich spüre, wie meine Kinnlade Richtung Knie sackt. Sano grinst seiner Opponentin zu, zerwuschelt ihre kunstvoll aufgeföhnte Mähne, spaziert einfach weiter. Ich kann es nicht glauben. Niemand, kein Mensch außer meinem Bruder kann sich so etwas erlauben. Er agiert mit solcher Nonchalance, dass es mir den Atem verschlägt. Was bleibt mir, als seinem Kielwasser zu folgen? *~i~* Ich habe schon den perfekten Tisch als Stützpunkt für den Abend ausgewählt, als Meg mir auflauert, um mir die Leviten zu lesen. Zugegeben, ich habe sie vernachlässigt, aber immerhin nicht schlechter behandelt als die anderen Mädchen, mit denen ich mich sporadisch verabrede. Gut, ich habe sie geküsst, mit ihr geflirtet und die Couch in ihrer Studentenbude eingeweiht. Mehr war da nicht. Ich bezweifle, dass wir jemals miteinander über eine längere Zeitspanne auskommen würden. Außerdem habe ich nicht die Absicht, mich festzulegen, wenn ich gerade mal einen Blick auf das Buffet geworfen habe!! Wer würde das auch schon?! Na also, wir verstehen uns. Inzwischen klebt Kama an meinem Arm, verpasst mir mit seinen lackierten Nägeln eine Akupunktur, bis ich begreife: seine großen Haselnussaugen fixieren einen Tisch unter einem defekten Strahler, demzufolge in dezentes Halbdunkel getaucht. Die Residenz einer ebenso dunkel gekleideten Person. Die Silhouette ist mir vage vertraut. Ich erkenne das Objekt der Faszination, grinse in das vor Aufregung und Freude gerötete Gesicht meines neuen Klassenkameraden. "Was meinst du, Kama, soll ich dich vorstellen?" *~i~* Vorstellen? Vorstellen ist gut, auch wenn mir gerade eine Milliarde anderer Dinge durch den Kopf schießen, die ich vorziehen würde. Allerdings wäre es immerhin ein Anfang. Eigentlich bin ich nur neugierig auf die Person, die dort in der Semi-Dunkelheit hoch aufgerichtet sitzt, eine seltsame Traurigkeit und Selbstkonzentration ausstrahlt. Ich bin eben empfänglich für Schwingungen. Andererseits habe ich eine ausgeprägte Schwäche für Romantik und dramatische Verwicklungen. Diese Szene ist zu verlockend! Hach!! Sano spaziert gemächlich mit mir weiter, hält ruhig auf den Tisch des Unbekannten zu, während er meine Fingernägel aus seinem Arm löst, meine Hände so auf seinem Unterarm drapiert, dass wir wie ein munteres Pärchen wirken. Langsam lässt sich der Unbekannte besser ausmachen. Ich spüre von einem Augenblick zum nächsten ohne Vorwarnung meinen Herzschlag nicht mehr. Stattdessen schießt mir kochendes Blut unvorteilhaft ins Gesicht. Großer Gott .... Ein schmales Gesicht beherrscht von einem dichten Strähnenvorhang, rabenschwarz, glatt und schwer, eine helle Haut und eisblaues Feuer, das aus dem Verborgenen herausfunkelt, mich im Unklaren über die tatsächlichen Gesichtszüge des Fremden lässt. Eine sehnige, großgewachsene Gestalt, in eine schwarze Lederjacke gehüllt, darunter einen hochgeschlossenen Rollkragenpulli und hauteng sitzende Lederhosen über schweren Motorradstiefeln. Allein die Hände, hell, elegant und gepflegt, kontrastieren mit der nächtlichen Erscheinung. "Hey, Aoshi, heute mal in Zivil? Wie geht's dir, Kumpel? Ach, ich schätze, du kennst Kama noch nicht, neuer Klassenkamerad von mir. Aoshi, Kamatari. Kama, das ist Aoshi, er war Student, ist jetzt Geschäftsführer, hat Manieren, Geld und redet nicht viel." Sano feixt neben mir, ich höre es an seiner Stimme, munter, neckend, unbefangen. Er beugt sich über den Tisch, um Aoshis Hand abzupflücken, sie kräftig zu schütteln, ohne Ankündigung meine Hand in die des geheimnisvollen Fremden, Aoshi, zu legen. "Hör mal, Aoshi, ich vertraue dir Kama für eine Weile an. Muss mit Kaz erst mal einen Tisch finden und Treibstoff organisieren, okay?" Schon macht er sich davon, mit wiegendem Schritt, bereits mit einem Mädchen in knappem Mini flirtend. Ich~ich stehe, halte meine Hand auf der Aoshis und sterbe tausend kleine Tode mit jedem Pulsschlag, den wir teilen. *~i~* Während mein unverfrorener Bruder in gewohnter Kaltschnäuzigkeit jegliche Hemmungen schwungvoll überwindet, auf Aoshi zuhält und ihm Kama aufs Auge drückt, beschließe ich, besser die erste Versorgung mit Getränken zu organisieren. Natürlich wird kein Alkohol ausgeschenkt. Das heißt nicht, dass 'Geschmacksverbesserer' ausgeschlossen sind, deren alkoholische Natur mich umtreibt: ich habe schlicht und ergreifend keine Lust, einen stockbesoffenen, jüngeren Bruder mit Kotztüte unzertrennlich verbunden mit dem Auto zu kutschieren und in sein Bett zu zerren. Ich reihe mich also artig ein, um kalifornischen Landwein, also Coke, zu kaufen, als mir Gesprächsfetzen aufgedrängt werden, deren Inhalt mich nachhaltig irritiert. Sorgsam bedacht, mir nichts anmerken zu lassen, sondiere ich das Gelände, entdecke die beiden Mädchen, die voller Abscheu und Rachsucht diskutieren. Ihrer Aufmachung zufolge gehören sie zu den 'Riot Girls', einer Mädchengruppe rund um die berühmt-berüchtigte Yumi, aufgedonnert und stets exklusiv gekleidet. Ein Rudel Hyänen auf der Suche nach reichen, einfältigen oder sehr mächtigen Liebhabern. Mögen sie in ihrer äußeren Erscheinung durchaus differieren (Sano sprach mal von 'Geschmacksrichtungen'), eins ist ihnen gemeinsam: kalte, berechnende Augen. Ich beginne mich zu fragen, ob Sano wohl auch mit einer von ihnen...?! Wäre er auch ein Kandidat für ihre Rachepläne? *~i~* Ein Dieb. Ein Feigling. Ein Flüchtiger. Das bin ich. Erbärmlich, vor einem Kind auf eine belanglose Feier zu fliehen, Argumente zu führen, die die Wahrheit verbiegen, Zeit zu stehlen, die mir nicht zusteht. Hätte ich noch die Energie, meine Unzulänglichkeiten zu verachten, würde ich nicht in stoischer Resignation inmitten dieses Geräuschpegels ausharren. Welche Buße sollte ich mir dafür auferlegen, eine eltern- und arglose Vierzehnjährige betrogen zu haben, indem ich vorgebe, einen verlängerten Geschäftstermin zu haben? Temporär vor einer Perspektive zu fliehen, die mir bekannt ist, deren Wahl niemals in meiner Einflusssphäre stand. Sinnlos, diese Selbstvorwürfe, die kraftlose Selbstzerfleischung. Ich werde gehen, zurückkehren zu meiner Bestimmung. Gerade, als ich mich erheben will, um die Feier zu verlassen, ein belangloser Schatten in kreiselnd bunten Lichtfetzen, nehme ich konzentriertes Interesse wahr, das sich auf mich richtet. Weniger diffuse Neugierde, wie sie mir gewöhnlich gilt, nein, zielstrebig fokussiert sie mich, sucht mich zu ergründen. Ohne Zeitverzug mache ich den Ursprung aus: ein junger Mann, der ein merkwürdiges Wesen untergehakt hat. Der selbstsichere Gang, die Füße ein wenig ausgestellt, um den wiegenden Schritt der Asphaltcowboys zu imitieren, die unbändige Mähne dunkelbrauner Strähnen, die ein rotes Stirnband umfängt: ich erinnere mich. Sagara. Sanosuke Sagara. Wie mir Misao berichtete, kam er erst vor einigen Monaten auf die Highschool, aus einem anderen, sehr übel beleumundeten Viertel dazu, um das letzte Jahr und die Ausbildung abzuschließen. Für einen Neuen recht ungewöhnlich schloss er sofort viele Freundschaften, wurde im Baseballteam, im Basketballteam und bei den Kickboxern aufgenommen, half beim Footballteam aus und nahm am Schwimmtraining teil. Ein sehr viriler, physischer Mensch, dessen Anteilnahme an den übrigen Unterrichtseinheiten sich nach seinem persönlichen Interesse zwischen engagiert und teilnahmslosem Absitzen bewegte. Dazu laut, herausfordernd, von hitzigem Temperament und lockerer Zunge, wie sie naserümpfend Eigenschaften aufzählte, die man ebenso ihrem eigenen Charakter zuschreiben konnte. Aber ich schweife ab. Für mich ist er ein Straßenkämpfer, eines der Ghetto-Kinder, das Faustrecht als Lebensmaxime erkannt hat, hinter der unbekümmerten Fassade durchaus weniger angenehme Qualitäten verbirgt. Wir absolvierten gemeinsame Übungseinheiten beim Kickboxen, sodass ich mir ein Bild seiner Physis machen konnte. Ich gestehe, dass der oberflächliche Umgang mit ihm durchaus erfreulich war. Das gibt ihm wohl die Unverfrorenheit ein, auf meinen Tisch zuzumarschieren, meine Hand zu ergreifen, seinen Begleiter bei mir abzustellen. Den ich nun, da unsere Hände ineinander liegen wie bei einer Segnungszeremonie, genauer in Augenschein nehme: eine schillernde Erscheinung, keine Frage, mit der glitzernden Frackjacke, den Hotpants, Netzstrumpfhosen und dieser seltsamen Frisur. Sein Gesicht, es handelt sich ohne Zweifel um einen jungen Mann, ist außergewöhnlich schön mit anmutigen Zügen und ausdrucksstarken Augen in der Farbe der Haselnuss. Auf eine weniger maskuline Weise ähnelt er Sanosuke durchaus, ohne dass sich in seinen Augen die verborgene Härte des Straßenkämpfers enthüllt. Ein sanfterer Mensch, der eine andere Methode gefunden zu haben scheint, seinen Willen durchzusetzen. Von mir selbst überrascht löse ich endlich meine Hand, schüttle den Kopf minimal, um meine Strähnen noch blickdichter in mein Gesicht fallen zu lassen, meine Augen für jeden Betrachter zu verbergen. "Hallo, ich freue mich, dich kennenzulernen." Seine Stimme ist angenehm wohlklingend, dunkel, fast samtig. Wäre da nicht eine gewisse Unebenheit in seinem Timbre, ein Zittern, das mich aufhorchen lässt. Höflich nickend gestikuliere ich knapp, er möge sich setzen, wie es dem Mindestmaß an Umgangsformen entspricht, studiere ihn unauffällig. Verstohlen gleiten seine Handflächen über die knappen Hotpants, bevor er neben mir auf einen Stuhl sinkt, so, als müsse er eine Schicht Feuchtigkeit abstreifen. Ein Zittern huscht durch seine sehnige Gestalt. Ist er nervös? Konzentriert lese ich in seiner Ausstrahlung tatsächlich Aufregung, einen beschleunigten Herzschlag. Auch seine Körpersprache wird nun deutlicher. Keine 'coole' Pose, wie sie en vogue ist, sondern ein unruhiges Wippen mit den den Absätzen seiner Schaftstiefel, Blinzeln mit den langen, dichten Wimpern, die nach meiner Beobachtung tatsächlich natürlichen Ursprungs sind. "Ich hoffe, ich störe dich nicht zu sehr. Wenn doch, sag es mir einfach, und ich mache mich auf den Weg. Du scheinst ja mit eigenen Gedanken befasst gewesen zu sein, als ich dich mit Sano überfallen habe." Ein kurzes Auflachen, während er die Hände unter seine Oberschenkel schiebt, nun auch mit den Oberkörper leicht wippt, verlegen mit seinem Blick zwischen Tischplatte und meinen Ponysträhnen wechselt. Ein seltsamer Stich durchbohrt mein betäubtes Herz, irritiert mich marginal, bevor ich den Schmerz aus meiner Wahrnehmung verbanne. Wieso konnte er dies erkennen? Oder rät er nur? Ist meine Maske durchlässig geworden? *~i~* 'Unruhestiftend' wäre eine kaum zureichende Beschreibung für die Ausstrahlung, die mich in ihren Bann schlägt, während ich nur wenige Zentimeter entfernt neben ihm sitze, wie ein Jungfräulein verschämt zwischen meinen Oberschenkeln und der Tischplatte, auf der seine gepflegten Hände ruhen, hin und her irre. Seine Augen sind hinter dem dichten Vorhang der rabenschwarzen Strähnen versteckt, wie nahezu die obere Hälfte seines Gesicht. Ein eiserner Vorhang, der keine Zugeständnisse an den Betrachter gestattet. Er will sich nicht ausrechnen lassen, vermute ich. Seine Haltung ist souverän, gelassen, wenn auch von durchtrainierter Spannung, sodass er noch intensiver auf mich einwirkt. Stumm zu bleiben, wenn andere belanglos schwatzen, um der Stille zu entfliehen, sich dem Diktat der Konventionen zu entziehen: man muss stark sein in seinem Innersten, dies zu bewerkstelligen, ohne dass es einer einstudierten Pose gleicht. Diese Stärke zieht mich magisch an. Ich muss ergründen, ob es sich so verhält, wie ich es mir ausmale. Oder ob ich von falschen Pinselschwüngen in die Irre geleitet werde, mein Wunschdenken mir einen Streich spielt! Wie aber agieren, ohne aufdringlich zu werden, sich lächerlich zu machen, ihn gleich gegen mich einzunehmen? Hilflos nage ich an meiner Unterlippe, schmecke erst den fruchtigen Gloss-Geschmack, bevor mir diese kindliche Geste bewusst wird, ich hastig den Mund fest schließe. Wahrscheinlich wäre es besser, ihn rücksichtsvoll allein zu lassen, damit er seine innere Einkehr ungehindert abschließen könnte. Ich bin beinahe sicher, dass er diese kleine Aufmerksamkeit honorieren würde. Allerdings, wie? Wenn ich Sano richtig verstanden habe, ist Aoshi Geschäftsmann, was mir wohl kaum Gelegenheit gibt, zufällig auf ihn zu stoßen und mich mit ihm anzufreunden. Ist dies also meine einzige Chance auf ein Kennenlernen? Wie soll ich höflich und rücksichtsvoll sein, wenn mich Torschlusspanik schon wieder dazu animiert, an meiner Unterlippe zu lutschen?! Mit einem hastigen Seitenblick erkunde ich seine Stimmung. Das Profil ist ruhig, ohne erkennbare Emotion, konzentriert sich auf die Tanzfläche, die sich zweifellos füllt, weil immer mehr Besuch eintrifft, der Geräuschpegel sich steigert. Ein Blitzen lässt mich zwinkern. Entsprang es dem eisblauen Blick, den ich nur Wimpernschläge lang bewundern durfte? Bereitwillig diese lächerliche Entschuldigung annehmend lächle ich, vermutlich ziellos, wende meine Aufmerksamkeit auch dem Tanzboden zu. Woraufhin meine Kinnlade sich meinen Knien annähert. *~i~* Ich weiß nicht, was Kama so an Aoshi interessiert. Der Bursche ist doch eine Art Zombie! Zugegeben, er sieht gut aus, auf eine morbide Weise, ständig hochgeschlossen und in dunklen Farben. Ehrlich, ein defekter Toaster hat mehr Unterhaltungswert! Spricht kaum was, hält sich stets so korrekt, als würde ihm seine Großmutter mit einem Rohrstock drohen, verzieht keine Miene. Nicht meine Vorstellung von 'cool', ohne nein! Cool ist, wer lässig rüberkommt und weiß, wie man sich eine gute Zeit macht, das ist meine Auffassung! Apropos 'gute Zeit': höchste Zeit, die Hufe zu schwingen. Der DJ kommt langsam ins Rotieren, mir kribbeln Ameisen im gesamten Leib, Energie-Bitzel, auch wenn mein ehrenwerter Bruder die Augen rollt und eine Schnute zieht. Ständig versucht er, wenigstens rudimentäre Bildungsfetzen in meinem Schädel zu verankern. Durchaus eine noble Geste, aber mein Kopf entscheidet selbst, was er aufzuheben wünscht. Obwohl die Sache mit den Musikatomen wirklich eine absolut granatenscharfe Geschichte ist! Ich meine, stellt euch das mal vor, grafisch, wie von euren Boxen diese Musikatome als Teilchenregen und Wellenberge auf euren Körper treffen, dort eindringen und weitere Kettenreaktionen auslösen! Sozusagen ein musikalischer Granatenhagel, der elektrische Explosionen auslöst, die durch euren Körper rasen, euer Blut in Wallung versetzen, euch infizieren! Wahnsinn!! Gegen ein paar Einschläge habe ich nie was einzuwenden, wenn sie mich heißmachen! *~i~* Ich sehe Sano, der sich langsam durch die Menge arbeitet, hier und dort Begrüßungen austauscht. An seinem absichtsvoll-verschmitzten Grinsen kann ich deutlich ablesen, dass er gerade auf Eroberungsfeldzug ist, um sich ein Mädchen anzulachen, das mit ihm die Tanzfläche unsicher macht. Wobei sein charmantes Lächeln wirklich die Tatwaffe Nummer 1 ist. Mein Bruder, der Womanizer. Allerdings bemerke ich ebenso rasch, durch das belauschte Gespräch leicht konsterniert, wie sich die Mitglieder der Riot Girls massieren, eine ablehnende Front bilden. Offenkundig zielen die Damen darauf ab, Sano einen Korb zu erteilen, ihn damit vor aller Welt, zumindest vor Sanos Welt, zu einem Ausgestoßenen zu brüskieren. Weder innovativ, noch unerwartet, zieht man ins Kalkül, dass Meg eine von ihnen ist, schwesterliche Solidarität opportun erscheint. Andererseits setze ich alles auf Sano, keine Frage. Mein kleiner, wilder Bruder lässt sich nicht unterkriegen oder einschüchtern. *~i~* Einem fein getunten Sinn für Ärger wie dem meinen, liebes Publikum, entgeht natürlich nicht, wenn sich solcher anbahnt. Bis vor einem Jahr war das für mich die ultimative Aufforderung, vorstellig zu werden und mitzumischen. Nachdem ich mit Kaz zusammenleben wollte und seine Leute sowie das Vormundschaftsgericht einige Bedingungen gestellt hatten, habe ich mir auch dank meines großen Bruders abgewöhnt, jede sich bietende Gelegenheit mitzunehmen. Ich bin, wenn es auch anders lautende Meinungen gibt, kein kompletter Vollidiot. Ich will mit Kaz zusammen sein. Dafür habe ich mir die Prügeleien verkniffen, die mir einen Ruf als Straßenkämpfer eingebracht haben. Ich habe sogar gelernt, nicht ständig zu fluchen und herumzutoben, obwohl ich manchmal sehr schlucken muss. Na, dafür habe ich ja in der Penne ausreichend Gelegenheit, den Druck abzubauen, richtig? Und die Flucherei: da hat Kaz wohl recht, auch wenn ich das nicht freiwillig zugebe. Es klingt, als wenn ein ohnehin untertouriges Gehirn sich mit dieser Stotterei von Schimpfworten einen Aufschub verschaffen wollte, bis es zur Erkenntnis gelangt, dass es retardiert IST. Ich bin KEIN Vollidiot, also keine verdammt-scheiße-verflucht-fuck- und andere Verbalinjurien mehr, wenn ich es unterdrücken kann. Ist ja auch viel cooler, wenn man mit einem souveränen Lächeln einfach eine Beleidigung wegwischt, oder? Ich meine, das ist doch absolut lässig!! Doch zurück zum Ärger, der sich da in Form eines Tiefausläufers mit Sturmfront anbahnt. Irgendwie schade, dass Meg so nachtragend ist, nun auch noch ihre Freundinnen mobilisiert hat. Ich hatte eigentlich schon vor, bei der einen oder anderen mal die Geschmacksrichtungen des Lipgloss zu testen. Vor allem Yumi hätte mich ja brennend interessiert, obwohl dieses Vollblutweib, sorry, Ladies, einen ziemlich verdrehten Geschmack hat: sie hängt mit einem lokalen Bandenboss herum, heißt es. Einem abgedrehten Spinner mit dem Spitznamen >The Mummy<. Was macht der clevere, gutaussehende Held, wenn er sich einem atmosphärischen Störungsherd nähert? Elegantes Ausweichmanöver mit scharfem Blick für die Lücke rechts oder links, je nach Gusto! Folgt mir und lernt! *~i~* Anstatt an unseren Tisch zu kommen, eine Runde auszusetzen, lässt sich Sano nicht einschüchtern, sondern biegt unverdrossen Richtung Einlass ab. Dort kämpft Kenny mit hilflos-eifrigem Gesichtsausdruck, die feinen Augenbrauen in Konzentration gerunzelt, mit einem dieser dämlichen Rubic-Würfel. Überall wird man mit diesem Spielzeug behelligt. Irgendein besonders boshafter Mensch hat dem armen Kenny sein Exemplar zugedacht, was der nun emsig dreht und verbiegt, um mit verdutzter Miene festzustellen, dass die Farben immer noch nicht einheitlich sind. Allein seinem Gesichtsausdruck könnte man stundenlanges Amüsement abgewinnen. Mich beschleicht bei dem zierlichen Kerlchen ein gewisses Unbehagen. Gut, Sano kann ihn gut leiden, hat ihn quasi seit seinem Eintreffen hier adoptiert. Ich traue ihm nicht. Alles an ihm ist ein unbeschriebenes Blatt. Niemand, niemand!, der so alt ist wie dieser Kenshin Himura, kann so unbeleckt harmlos durch die Welt wandern. Er verbirgt etwas. Das macht mich nervös. Wie dieses alberne Würfelspiel. Nur eine Scharade, die verdeckt, was seine tatsächlichen Absichten sind! Sano steht neben ihm, stützt eine Hand über Kennys Schulter am Türrahmen auf, plaudert, scherzt, fast eine Art Flirt. Mich beschleicht eine düstere Vorahnung. Ich kenne Sanos Jagdstil, die Energie, die in jeder gespannten Faser konzentriert darauf wartet, sich austoben zu dürfen, den Rhythmus, zu dem er gerade wippt, das Glänzen in seinen großen Augen. Nein, Kenny, da ist Gegenwehr machtlos. Was sich mein verrückter Bruder in seinen Sturschädel gesetzt hat, das ist nicht zu verhindern! *~i~* Kenny fummelt noch immer mit dem blöden Rubic-Würfel rum, während er mich anstrahlt, noch mal beteuert, wie nett das Fest ist und der zahlreiche Besuch. Was ich bereits im ersten Durchlauf verstanden habe. "Komm schon, Kenny, mach den Laden hier für einen Tanz dicht, okay? Ein bisschen abhotten, die Mädchen mal in Trab bringen!" Grinse ich hinab, registriere sein gewohnt hilfloses Schulterzucken, kombiniert mit dem allgegenwärtigen "ah, ja?!" Seine Standardreaktion, konfus und nichtssagend. Ich lasse ihm das nicht durchgehen, bin ja schließlich sein Freund! "Was ist, Kenny, kein Mädel nach deinem Geschmack dabei? Macht auch nichts!" Schon ziehe ich ihn hinter mir her. Zuerst allerdings schäle ich ihn aus seiner geliebten gesteppten Weste, in der er wie ein Michelin-Männchen wirkt. Die Masse vortäuscht, wo nur eine zierliche Figur ist. Dazu magentafarben! Kennys schulterlange Haare, die er in einem losen Zopf im Nacken zusammengezwirbelt hat, sind feuerrot! Ein beißender Kontrast. Dem kann abgeholfen werden. Jetzt steht unser allerliebster Kenny in seinen weißen Jeans, den winzigen Sneakern und einem weißen Sweatshirt vor mir, blinzelt mich aus seinen großen, blauviolett schimmernden Augen ahnungslos an. "Okay, mein Freund, auf den Song fahr ich total ab!" Fletsche ich mein bestes Zahnpasta-Reklame-Grinsen. "Zeigen wir denen mal, wie man's richtig macht!" *~i~* Mit einem peinlichen Knacken schnappt mein Unterkiefer wieder zu, als ich mich vom ersten, ungläubigen Glotzen (ich glaube, meine Augäpfel sind eingetrocknet) erholt habe. Sano und der Hausmeister Kenny? Um sie herum hat sich ein freier Raum im Zentrum der Tanzfläche gebildet. Das resultiert nicht nur daraus, dass die Riot-Girls eine Front eröffnet haben, um offenbar die Beleidigung ihrer Freundin zu ahnden. Nein, man hält Abstand, um die beiden zu beobachten. Dabei sollte der Anblick eher etwas lächerlich sein. Kenny reicht Sano gerade bis zu den Ellenbogen, was seine Größe betrifft. Nichtsdestotrotz wirken die beiden wirklich harmonisch, wie sie einander umkreisen. Es ist Sano, der initiativ auf Kenny zuschießt, wie in einem kindlichen Hasch-mich versucht, den kleineren Mann zu berühren, über seine flammend roten Haare zu wischen, ein Teil seiner Bekleidung anzutippen. Kenny weicht jedes Mal mit verlegen gerötetem Gesicht um Haaresbreite aus, macht sich offenkundig ein Vergnügen daraus, dem breit feixenden Sano ein Schnippchen zu schlagen. Während der unbekümmert eine Attacke nach der anderen startet, sich dreht im Takt der Musik, hin und her schwingt, den forschen Kavalier markiert. Die beiden sind einfach umwerfend, so auf den jeweils anderen fokussiert, dass sie ihre Umgebung zu vergessen scheinen, nur noch einander im Blick, kämpferisch-freundschaftlich lächelnd, so vertraut wie enge Freunde. Ich beneide sie, ergreife die Gelegenheit, noch ein wenig länger bei Aoshi zu verharren, indem ich Faszination vorgebe. Nein, ich BIN fasziniert. *~i~* Billy Idol schnoddert trotzig seine Herausforderungen in mein Ohr. Ich verliere mich fast darin, genauso angriffslustig und hungrig auf das Leben und die Welt zu sein, die Stacheln aufzustellen, das Kinn hochzurecken, eine Herausforderung in den Ring zu schleudern, mich zu stellen. Oder zu wiegen und zu drehen, hervorzuschießen, um diesen verflixten, wieselflinken Burschen zu erwischen!! Verdammt, Pardon, der kleine Kerl ist sehr viel fixer, als ich erwartet habe! Er entwischt immer Sekunden, bevor ich ihn packen kann, taucht ab oder wirbelt elegant in die entgegengesetzte Richtung, ansatzlos, sodass ich nicht anders kann, als lachend einen neuen Versuch zu starten. Irgendwann habe ich dich, Kenny! Dann werde ich dich packen, Feuerköpfchen, im Kreis drehen, bis du Sterne siehst und unter den Arm klemmen wie ein Schoßhündchen und oben an den Basketballkorb hängen! »Face to face« Jaaaa, funkle mich ruhig an, Kenny, ich sehe doch genau, dass du es genießt! »And back to back« Hey!! Das ist unfair!! Kann man das glauben?! Der Floh ist doch über meinen Kopf saltiert!! Über-Mich-Drüber!! Na warte, jetzt gibt's Saures!! Während meine Fäuste gegeneinander schlagen, male ich mir blitzend aus, wie ich ihn bis ins Delirium kitzeln werde. Strafe muss schließlich sein! »You see and feel my sex attack« Nein, diesen Part lassen wir ganz sicher aus. Attacke: bestimmt; Sex: keine Chance! Das wäre ja, als würde man ein Kleinkind verführen, so scheu, wie Kenny ist! Aber er wird mich zu fühlen kriegen, der Feuerkopf, wenn ich ihn erwische! »Sing it | Flesh, flesh for fantasy | we want | Flesh, flesh for fantasy« Das bleibt wohl eher bei einem 'Flash', Mr. Idol, so fix, wie der Bursche mir ausweicht, so blitzschnell, stehen die Chancen für einen aufreizenden Strip schlecht. Verdammt, er hat meine Bandana erwischt!! Warte nur, Kenny, das schreit nach Vergeltung! *~i~* Die Musik wechselt zum nächsten Lied. Sano und Kenny haben längst ihr privates Kräftemessen zur obersten Priorität erklärt, bedenken sich mit funkelnden Blicken, einer so schnell wie der andere, vorgebeugt, alert, katzenhaft schnell. Ich lehne mich zurück, genieße den Anblick. Ich habe selten Gelegenheit, meinen kleinen Bruder in voller Aktion zu erleben, da sei das College davor, leider. Er strahlt förmlich, wenn er in seinem Element ist, herausgefordert wird und sich mit seinem Gegner messen kann. Wobei diese beiden hier eindeutig Freunde sind. Es findet sich keine Aggression in ihrem nonverbalen Austausch. Ich frage mich, wer wohl dem Spiel ein Ende machen wird, da öffnet jemand die schwere Tür am Eingang. Kenny, ganz pflichtbewusst, fährt herum, um eilig seiner Aufgabe nachzukommen, was Sano natürlich ausnutzt, den kleinen Kerl um die Hüften fasst, wie eine Trophäe über eine Schulter wirft, um wiegenden Schritts höchstselbst den Transport bis zum Eingang vorzunehmen. Kenny protestiert auf seine höfliche, hilflose Weise, ein kleines Gespenst, dessen Kopf in Flammen zu stehen scheint, während mein Bruder wie ein Modellsportler dahinstolziert, in alle Richtungen gravitätisch winkend. Die erste Runde geht mit Tusch an Sano. Damit ist der Kampf noch nicht beendet. *~i~* Kenny klopft mir höflich auf die unteren Lendenwirbel (er würde mir nie auf den Hintern klatschen, was ich sehr anständig finde) und bittet, dass ich ihn wieder auf die Füße stelle, weil ihm so schwindlig werde, wenn er mit Kopf nach unten hänge. Er ist irgendwie niedlich, der gute Kenny! Ich stelle meinen Kumpel nach dieser coolen Tanzeinlage natürlich wieder auf seine winzigen Füße, verwuschle seine feuerrote Mähne, während er mich spitzbübisch angrinst, meine Bandana als Pfand herausgibt. Wenn ich ihn so lächeln sehe, ohne diese Maske des harmlosen Einfaltspinsels mit gutem Willen, könnte ich ihn umarmen, weil er sich für mich aus der Deckung wagt. Versteht mich nicht falsch, meine Priorität ist die Damenwelt, ganz klar, aber Kenny verdient eine Menge an Umarmungen und ich bezweifle, dass er sie bekommt. Ich sollte mich wirklich mal nach einem netten Mädchen für ihn umsehen und das Kaoru-Monster knebeln, fesseln, nach Alaska verschicken, damit er eine Chance hat. Während Kenny artig die Handrücken der Nachzügler stempelt, die unseren Auftritt ein wenig irritiert kommentieren, lehne ich mich an die Wand an, um die Hitze unter meinem Netztop abzukühlen. Über die Menge hinweg, es hat auch Vorteile, größer als der Durchschnitt zu sein, kann ich Kama sehen, der im Halbdunkel bei Aoshi hockt, auf mich wie ein Häufchen Elend wirkt, so zusammengeschrumpft und angespannt. Die Wirkung hat Aoshi, das menschliche Standbild, auf die meisten. Fast bedauere ich es, dass ich Kama bei ihm gelassen habe. Kama ist neu hier, sehr wohlerzogen, da wird er es mit Aoshis stoischem Gleichmut wirklich schwer haben. Wir sind ja hier, um uns zu amüsieren, richtig?! Ich schiebe mich also Richtung DJ, der fingerfertig Song an Song reiht, ordere für den nächsten Umlauf, bevor ich mich ins Getümmel stürze. Ladies and Gentlemen, here comes another shock to the system!! *~i~* Kapitel 2 - Ein ganz mieser Trick! Lauwarme Cherry Coke erinnert mich entfernt an den verwässerten Sirup meiner Kindheit: zu süß und klebrig, um wahr zu sein. Wie eine Idylle mit gleichzeitigem Trauerflor. Trotzdem nuckle ich an meiner Flasche, kratze meine Zunge mühsam vom Gaumen, gedankenverloren und müßig. Ausgenommen von Sanos unzähligen Bekannten und Freunden kann ich niemanden erblicken, der mit mir das College besucht. Wieder einmal muss ich mir eingestehen, dass ich seit über einem Jahr in dieser Stadt lebe, aber von Sanos Talent, Freundschaften zu schließen, zehre. Ich mag es, Menschen zu beobachten, sie zu skizzieren in ihrem flüchtigen Alltag. Die Vorstellung allerdings, sich wie Sano im Zentrum der Aufmerksamkeit zu bewegen, ständig von anderen umgeben zu sein, schreckt mich ab. Wahrscheinlich bin ich Aoshi, dem Zombie, wie Sano ihn gern beschreibt, nicht so unähnlich, wie ich mir einreden möchte. Je mehr um mich herum gesprochen wird, desto stärker wächst in mir das Verlangen zu schweigen. Je dichter die Menschenmenge sich zusammenballt, umso dringlicher wird es mir, in die Einsamkeit meiner eigenen Gesellschaft zu fliehen. Also sollte ich doch besser an meiner Cherry Coke nippen und meine Beobachtungsgabe schärfen, statt tiefsinnig über die Abgründe meiner Natur zu grübeln. Damit komme ich jedoch nicht weit. Sano bricht aus einer Lücke heraus, Kenny im Schlepptau, der wie ein hilfloser Welpe großäugig meine Unterstützung erbittet. Ich kann bereits aus Sanos Haltung herausfiltern, dass der wieder mal einen Entschluss gefasst hat. Sein Sturkopf ist legendär. "Hey, Kaz, lass uns tanzen!" Lächelt er mich an. Die Augen funkeln voller Absichten, die mich schaudern lassen, während er mein Handgelenk umfasst, mich auf die Beine zerrt. "Ihr zwei zusammen, ich sammle Kama ein." Oh, oh. *~i~* Der Tanz ist vorüber, ein neuer beginnt. Die Lücke im Zentrum schließt sich rasch. Ich habe keine Ausrede mehr, noch länger bei ihm zu sitzen. Ich wünschte, ich wäre so wagemutig wie Sano, würde ich... Nein, sinnlos, sich etwas vorzumachen. Dummer Kama! Ich seufze über mich selbst. Ein hoffnungsloser Fall, nicht nur ein Landei, sondern auch noch feige. Ich verrate euch was: es ist das erste Mal, dass ich auf einem Fest bin, auf dem getanzt wird. Eigentlich weiß ich auch gar nicht, wie man tanzt, abgesehen von den tapsigen Schritten rechts-links, die Arme angewinkelt, damit sie nicht lose herumbaumeln. Ich würde es gern versuchen, doch allein auf die Tanzfläche wage ich mich heute nicht, so hasenfüßig bin ich. Wovor habe ich Angst?! Bist du nicht endlich in der großen Stadt, Kama?! Kannst dich frei bewegen?! Hast du es nicht geschafft?! Ja, ich bin hier. Trotzdem fürchte ich mich vor der Ablehnung der anderen, weil ich immer geglaubt habe, dass hier alles anders sein wird, dass hier mein Platz ist. Doch wenn ich mich irre, wohin soll ich gehen, worauf meine Hoffnungen setzen? Die Fäuste geballt zwinge ich mir selbst Ruhe auf. Tanzen oder nicht, was macht das schon! Dabei sein ist auch wichtig. Ich bin hier, jetzt, sitze neben einem geheimnisvollen Mann, genieße den Abend! Während ich mich also entschlossen darauf einschwöre, dass ich es gut getroffen, keinen Grund zum Lamento habe, materialisiert sich Sano vor mir, fasst nach meiner Hand, zieht mich auf die Beine. "Sorry, Aoshi, eure intensive Kommunikation zu unterbrechen. Ich brauche noch einen Tanzpartner!" Schon dirigiert er mich durch die wogende Masse. Einen Tanzpartner?! *~i~* Mir ist durchaus klar, dass die lieben Riot-Girls nicht aufgegeben haben, mich hier vorzuführen. Unter ihrem Kuratel wird sich so schnell kein Mädchen aus der Deckung wagen, mit mir tanzen. Also muss eine andere Lösung her. Das kleine Sparring mit Kenny hat mich erst richtig aufgewärmt. Nun juckt es mich in allen Gliedern, den Musikatomen, die auf mich einprasseln, mal einige Entladungen zurückzugeben. Ein Mann muss tun, was er tun muss und für diesen Job braucht es einen ganzen Mann. Besser gesagt: zwei ganze Männer. *~i~* Es ist ein merkwürdiger Song mit einem verschleppt-lasziven Rhythmus. Mir unbekannt, vermutlich also neu, zu dem Sano sich anschickt, mit unserer Nibelungen-treuen Hilfe einen Skandal zu inszenieren. Zumindest erwarte ich das, weil es nur eine sehr begrenzte Menge an Dingen gibt, die 'Jungs' gemeinsam tun dürfen. Zum Beispiel Headbangen oder Pogo. Oder Kotzen und sich prügeln. Zusammen tanzen, als Paar, gehört definitiv auf die Liste der absoluten Unterlassungsgebote. Das stört meinen ungezähmten Bruder nicht, wenn es seinen Zwecken dienlich ist. Seine blitzenden Zähne mit kriegerischem Grinsen verdeutlichen mir nur zu gut, dass der Wildfang darauf aus ist, die Riot-Girls in ihre Schranken zu verweisen. Linkisch nicke ich Kenny zu, der mit seinem gewohnten Ich-weiß-von-nichts-Blick arglos meinem Bruder hinterherschaut, der durch die Menge pflügt, Kama an der Hand leitend. Sano, hoffentlich ist das kein Fehler! *~i~* Es gibt Songs, zu denen dreht man artig sein Mädchen im Kreis, andere, bei denen man vor Energie explodiert. Und solche, die nur einen Sinn haben: Vorspiel zu horizontaler Betätigung, rhythmisch natürlich. Das hier ist einer davon. Der winzige Prince hat es drauf, meiner Meinung nach. Nichts gegen Barry White: Romantik ist jetzt nicht gefragt! Ich suche mir das Zentrum der Tanzfläche und Aufmerksamkeit aus. Wenn schon einen Skandal verursachen, dann mit allen Schikanen! Ich wende mich Kama zu, der aufmerksam mit seinen großen Haselnussaugen meine Haltung studiert. Grinsend lecke ich mir über die Lippen, verringere den Abstand zwischen uns, auf eine intime Distanz. Bühne frei für den Infight! *~i~* Der Boden schwingt mit unter den Eindrücken der Bass-Line. Ohne bewussten Entschluss wiege ich mich leicht, bis Sano sich mir zuwendet, noch immer meine Hand umschlossen hält. Ganz angenehm, eine kraftvolle, große Hand, warm, nicht klebrig oder feucht, die meine eigene sicher birgt. Sein gewohntes Grinsen verschwindet, weicht einem konzentrierten Ernst, der meinen Pulsschlag beschleunigt, mich verunsichert trippeln lässt. Was hat er vor? Ich dachte, wir tanzen hier, so als Gruppe. Er nimmt den eindeutigen Rhythmus auf, der in Windeseile seinen sehnigen, hochgewachsenen Körper wie ein Bambusrohr biegt, löst seine Hand, um mit ihrem Partner meine ungelenk herunterhängenden Arme hochzufahren. Langsam, als wolle er mich liebkosen, bis er das Revers meines Fracks erreicht, um die Fingerspitzen darunter zu schieben, die Hüften nahe an meinen eigenen schwingend das Jackett über meine Arme zu Boden gleiten zu lassen. Mit dem gleichen intensiven Blick, der keinen Wimpernschlag von meinem Gesicht weicht, streicht er meine Haare über die Schulter zurück, legt die andere Hand dirigierend auf meine Hüfte, um ein Bein zwischen meine Oberschenkel zu schmuggeln. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich kann durch meine zugeschnürte Kehle keinen Sauerstoff einsaugen. Seine freie Hand wandert eine Hitzespur in meine Haut brennend an meinem Unterkiefer entlang. Er zwinkert verschwörerisch, beugt sich vor, haucht an mein Ohr. "Komm schon, Kama, nur keine Hemmungen!" Merkt er nicht, dass ich starr bin vor Hilflosigkeit?! Es ist ein Traum, der sich erfüllt. Ich fürchte mich vor meiner Zaghaftigkeit zu sehr, um wagemutig diese Gelegenheit zu ergreifen. Sano hält sich nicht auf. Seine Handflächen streifen über die Bluse, spielen kurz mit der Rüschenkaskade, während er langsam, sich wiegend, mit halb gesenkten Lidern in die Knie sinkt. Er schiebt sich vor mir, halb unter mir zwischen meine Beine, lehnt den Oberkörper weit zurück, legt seine Handflächen auf meine Oberschenkel ab, wo sie sich durch meine halterlosen Netzstrümpfe brennen. Aufmunternd höre ich seine warme, dunkle Stimme den Refrain summen, eine Aufforderung, mich endlich zu beweisen. »Cream - Get on top | Cream - U will cop | Cream - Don't U stop | Cream - Sh-boogie bop« Ich strecke die Arme über den Kopf, schwinge meine Mähne herum, folge dem Rhythmus, der mich infiziert, konzentriere mich auf seine schokoladenbraunen Augen, die vor Vergnügen glitzern, lächele befreit zu ihm hinab. Wir spielen nur, als Freunde, sodass alles erlaubt ist, nicht wahr? Ein Streich, ein Scherz. Er lockt mich feixend mit gekrümmten Finger, sodass ich mit weit gegrätschten Beinen Folge leiste, mich nach vorne hinabbeuge, meine Haare über meine Schultern gleiten, die Spitzen über seine Brust tänzeln, bevor er wie ein hungriger Tiger knurrt und animalisches Verlangen parodiert. »Do your dance | Why should U wait any longer? | Take your chance | It could only make U stronger« Die Zeilen echoen beiläufig in meinen Ohren. Ich richte mich auf, kehre mit knappen Schwung Sano den Rücken. Das Kinn hochgereckt, die Hände in die Hüften gestemmt: genau, worauf warten?! So lange habe ich ausgehalten, die Zeit heruntergezählt: nun fängt mein Leben endlich an! Sano wiegt sich hinter mir, seine Arme winden sich unter meinen hindurch, umfassen mich behutsam, als sei ich tatsächlich ein widerspenstiges Mädchen, das er gewinnen möchte, bevor er mich herumdreht. »It's your time (It's your time)« Er wirft sich vor mir auf die Knie, drängt das Kinn in meinen Bauchnabel, umschlingt meine Hüften fest. Das Abbild des verzweifelten Verehrers. Würde es in seinen Augen nicht vor Schalk funkeln, weil er mitsingt, dem Text durch seine Gestik eine ganz eigene Bedeutung verleiht! »U got the horn so why don't U blow it (Go on and blow it) | U're so fine (U're so fine) | U're filthy cute | and, baby, U know it (U know it) | Come on« Mir schießt das Blut ins Gesicht, was glücklicherweise meine Mähne verbirgt, während er sich an mir hocharbeitet, mich energisch an sich zieht. Er stemmt herrisch einen Schenkel zwischen meine Beine, damit er mich besser rücklings herumschwenken kann. Meine Haarspitzen streifen nahezu den Boden. »Cream - Get on top | Cream - U will cop | Cream - Don't U ever stop | Cream - Sh-boogie bop« Er hält meine Hand fest in seiner, den anderen Arm um meine Taille gewunden, um mich zu stützen, als ich mich aufrichte, grinst mich triumphierend an, als die Melodie langsam verklingt, deutet einen Handkuss an, als er sich löst. Ich lache, knickse geschmeichelt, kann nicht mehr aufhören zu grinsen, von einer immensen Last befreit. Ich habe es getan. Was immer auch daraus entstehen wird, ich fühle mich endlich am Ziel. *~i~* Ich bin erleichtert, meine 'Buchstützen'-Funktion aufgeben zu dürfen, als das Lied wechselt und Sano seiner Show den krönenden Abschluss verpasst. Nichts gegen Kenny, aber tanzen liegt mir nicht. Mit ihm von einer Stelle auf die nächste treten, als müssten wir "aus"-treten, dürften aber nicht: das liegt auf meiner persönlichen Favoritenliste sehr, sehr weit hinten. Obwohl die Musik spielt, ist es merklich still geworden. Unwillkürlich rücke ich näher an Sano heran. Was wird wohl passieren? Ungläubige, abgestoßene, irritierte, amüsierte Gesichter. Wir sind eingekreist, was im Zentrum der Aufmerksamkeit durchaus die Regel ist, mich mit wachsendem Unbehagen erfüllt. Wird man uns an die Luft befördern, Sano einen Tadel erteilen, als Perverse brandmarken? Mein verrückter, waghalsiger Bruder rauft sich einmal seine stachelartige Mähne, grinst unbekümmert mit aller Strahlkraft seines Charmes in die Runde, streckt die Hand nach einem eher farblosen Mädchen aus. "Hey, wie wär's, wollen wir?" *~i~* Ich würde gern sein Geheimnis ergründen. Ist es Frechheit, Übermut oder Gleichgültigkeit oder einfach absolutes Vertrauen zu sich selbst?! Während ich meinem noch immer fliehenden Herzschlag lausche, hoffe, dass ich nicht zu sehr einem Hydranten in der Gesichtsfärbung gleiche, meine geliebte Frackjacke in den Händen zerdrücke, fordert Sano einfach ein Mädchen aus den Umstehenden auf. Er tanzt weiter, vollkommen desinteressiert an den versteinerten Mienen der Riot-Girls, am bewundernden Murmeln einiger Geschlechtsgenossen. Ich könnte es ihm gleichtun. Ich weiß, ich würde abblitzen, wobei ich nicht einmal sicher bin, ob ich ein Mädchen oder doch einen Jungen...? Sie würden es nicht verstehen. Außer Sano hätte niemand den Mut, mit mir zu tanzen. Ich ertappe mich dabei, in die dunkle Ecke zu blinzeln, in der Aoshi sitzt, obwohl ich ihn natürlich nicht ausmachen kann, von der Tanzfläche aus. Jemand berührt mich an der Schulter: Kaz. "Kama, ich hole noch was zu trinken. Soll ich dir eine Coke mitbringen?" Ich lächle Sanos ernsthaftem Bruder zu, der wie ein distinguierter Dandy in dieser buntgemischten Schar heraussticht. "Vielen Dank. Bitte entschuldige mich einen Moment." *~i~* Das billige Papier der Einweghandtücher ist nicht wirklich geeignet, es zu befeuchten, um sich das Gesicht abzukühlen. Allerdings bestünde die Alternative darin, sich wie ein Waschbär Wasser in das Ponem zu klatschen und mit entsprechenden Trauerringen verlaufenden Kajals belohnt zu werden. Warum erfindet niemand wasserfestes Makeup?! Immerhin schreiben wir das Jahr 1991! Ich muss über meine eigene Entrüstung den Kopf schütteln und lächeln. Das bin ich, Kamatari, der einfach nicht niederzuringen ist! Ganz gleich, wie erdrückend die letzte Selbstanalyse vor einigen Minuten nur ausgefallen ist. Einen Vorteil bietet der dämmrige, erstaunlich saubere Waschraum durchaus: man muss sich nicht in porenfleckiger Blässe studieren. Zudem ist der Spiegel bereits großflächig blind. Meine Zöpfe und langen Strähnen samt klingendem Anhang wieder auf den Rücken geworfen will ich nach meiner Frackjacke greifen, über einer Toilettenkabine deponiert, als die kleinen reflektierenden Flecken des Spiegels einen unerwarteten schwarzen Schatten einfangen. Ruckartig fahre ich herum, erschrocken über meine Achtlosigkeit. Aoshi. Ist eine winzige Brise durch seine langen, rabenschwarzen Strähnen gewischt, oder hat er sie aufgelockert? Seine eisblauen Augen in mandelförmigem Schnitt fixieren mich ohne Blinzeln. Ächzend vor Anspannung umklammere ich das Porzellan des Waschbeckens, spüre glühende Hitze meine gerade erst gekühlten Wangen in Flammen setzen. Was wird er denken nach dem Auftritt mit Sano? War er nicht gegangen, sein Separee leer, als ich zur Toilette strebte? Mein Herz trommelt in Höchstgeschwindigkeit. Erneut ist meine Kehle zugeschnürt, ich begreife mich selbst nicht. Mysteriöser Fremder oder nicht, wohin ist meine sorgfältig trainierte Gleichmut geflohen?! Er tritt langsam auf mich zu, bis uns nicht mal eine Handbreit trennt. Eine einschüchternde Geste, allein durch physische Präsenz den Gegenüber in die Enge zu treiben. Tatsächlich biege ich mich bereits weit über das Becken zurück, zwinkere nervös. Sag was, Kama, komm schon, so wie Sano, einen flotten Spruch, einen Scherz, irgendwas! In der steten, gleichmäßigen Ruhe seiner Bewegungen schält er sich aus seiner Lederjacke, deponiert sie an mir vorbei neben meiner Frackjacke auf der Wand der Toilettenkabine. Sein Blick ruht unverwandt auf mir. Wie kann er bei dieser Hitze nur einen langärmligen Rollkragenpullover...? Weiter komme ich nicht, weil er sich über mich beugt, seine Lippen auf meine legt. Sehr behutsam. Dennoch zucke ich unwillkürlich zurück, die Augen so aufgerissen, dass ich schmerzhafte Stiche in den Schläfen spüre. Seine gepflegten Hände wärmen meine verspannten auf dem Waschbeckenrand, hilflos um Balance bemüht, den Abstand zwischen uns auf einen Wimpernschlag reduziert. Ich keuche. Diese minimale Luftverwirbelung reicht aus, den schweren Vorhang seiner langen Ponysträhnen zu teilen, mir die verführend-verlorene Eiskälte seiner blauen Augen zu präsentieren. Traurig, gestreng, absichtsvoll, hungrig, widerstrebend, kontrolliert: alles in einem fliehenden Sekundenbruchteil, bis sich der schwarze Sichtschutz erneut senkt. Liest er die Verstörung und Betörung in meinem Gesicht? Mein zerrissenes, unerfahrenes Herz, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, zwischen Flucht und flehentlicher Bitte gefangen? Als er mich dieses Mal küsst, fallen meine Lider zu, erlösen mich von meiner Unentschlossenheit. *~i~* Als ich seine Lippen berühre, noch eine Ahnung von aromatisiertem Lipgloss erhasche, weiß ich, dass ich im Begriff bin, etwas Schändliches zu tun. Sein Tanz kündete von einer Leidenschaft und einem Wagemut, die er auf diesem Gebiet noch nicht erproben konnte. Wie mir sein unwillkürliches Erschrecken beweist. Dennoch bin ich entschlossen, meinen Weg zu verfolgen, meinen Hunger, der nicht sein darf, ein wenig zu lindern. Mich schadlos zu halten an diesem hübschen Jungen, der nicht weiß, welche Abgründe ihn umarmen. »Nur ein vorübergehender Schatten!« Mahne ich mich. Eine Sonnenfinsternis, die er überstehen wird. Ich umklammere seine Handgelenke, die verkrampft und erstaunlich kraftvoll das fragile Gleichgewicht auf dem Waschbeckenrand auszutarieren versuchen, dirigiere ihn in die Toilettenkabine, siegle mit Kuss auf Kuss seine Lippen. Er ist nachgiebig, scheu zugleich, als sich seine Arme um meinen Nacken legen, als müsse er guten Manieren zum Gehorsam erst meine Einwilligung abwarten. Ich schließe die Tür, während ich ihn in der Enge gegen eine der Wände presse, beginne ernsthaft, ihn zu erobern, seine Zähne nachzufahren, den Gaumen zu reizen, bevor ich seine Zunge umschlinge. Wie viel Zeit ist vergangen? Der Körper verliert sein Gedächtnis nicht. Er keucht erstickt, tänzelt unsicher auf den Zehenspitzen. Seine Fingernägel graben sich in den Stoff meines Rollkragenpullovers. Es ist noch längst nicht genug: sein Geschmack, sein Geruch, die Wärme, die von seinem anschmiegsamen Körper ausgeht, seine Beweglichkeit, die er erst wenige Minuten zuvor mit Sagara bewiesen hat! Um mich zu bestrafen, weil ich mich vergesse, werde ich meiner Lust Qual auferlegen. *~i~* Ist es Sauerstoffmangel, sein verbotenes, verruchtes Geschick? Ungeachtet geschlossener Lider, mir wäre jedes Licht in diesem Augenblick zu grell, tanzen wilde Schemen vor meinem inneren Auge. Ich stöhne, winde mich, haltlos, unkontrolliert, von einer Heftigkeit, einem Verlangen überrollt, das mich ängstigt. Romantik? Angst trifft es sehr viel eher. Ich bin Wachs in seinen Händen, unter seinen Lippen, verliere mich, den letzten Rest Ratio und Selbstachtung wie ein Fanal im Feuer zerfasernd, das einen Flächenbrand in mir auslöst. Zweigeteilt, ein Zuschauer meiner Verführung, kann ich mich selbst nicht erreichen, nicht Einhalt gebieten. Wie auch, reibt er nicht die beiden geschlossenen Reißverschlüsse seines Pullovers in Brusthöhe über meine transparente Bluse, bis ich glaube, dass mich die Lust schier zerreißt, meine Brustwarzen ihn förmlich aufspießen müssten? Streift er nicht die Hotpants und meinen Slip kundig hinab, hebt mein rechtes Bein, wickelt es um seine Hüfte, um mit der anderen Hand herauszufinden, wie er mich bis an die Schwelle des Wahnsinns aufreizen kann? Seine Haare zerrauft lasse ich ihn fahren, schlage unkontrolliert gegen die Kabinenwand, von seinem Mund, der mich nicht freigeben will, erstickt, eingefangen, perfide geknebelt, bis eine weißglühende Lohe alles hinwegspült. Bis ich mich aufbäume wie ein Wildpferd, gegen seine Hüfte ramme, das Sperrholz in meinem Rücken erzittern spüre, mit diesem Ausstoß meine Kraftreserven verliere. Als habe sich ein Ventil geöffnet, das nicht mehr zu schließen ist, beraubt und leer nur noch eine leblose Puppe zurücklassen wird. *~i~* Ich widerstehe der Versuchung, mir über die Hand zu lecken, reinige sie stattdessen, auch den bewegungslosen Unterleib des Jungen, seine weiche, verführerisch duftende Haut, von Seife und dem Leder seiner Hotpants kündend, auch herbstlich-nussig, was seiner eigenen Geschmacksrichtung entsprechen muss. Halt! Kontrolliere dich! Ihn an die Wand gelehnt wickele ich Slip und Hotpants die sehnig-modellierten Beine hoch, schiebe den Saum der transparenten Bluse wieder ordentlich in den Hosenbund, arrangiere die Ziergürtel wie zuvor. Sein Kopf liegt immer noch weit im Nacken, klebrige Strähnen bepflastern seine glühenden Wangen, die Stirn. Um ihn aus seiner Trance zu reißen, auf die eigenen Füße zu stellen, lege ich die Hände auf seine schlanken Hüften. Ich bereue diese Geste. Das gierige Verlangen kocht hoch, ungehalten und hasserfüllt, weil ich es negieren will, kreiert unerwünschte Bilder, wie ich mit ihm noch andere... NEIN! Ich schiebe ihn beiseite, öffne die Tür, greife nach meiner Lederjacke, wappne mich mit Kälte und Unnahbarkeit, fokussiere meinen Geist auf die Leere. Schicht um Schicht begrabe ich mich. Zurück in die Schatten. In die Hölle. *~i~* Irgendetwas stimmt nicht. Obwohl ich meine Füße sehe, spüre ich sie nicht. Wie kann ich stehen? Stehe ich überhaupt, oder ...?! Hastig greife ich nach der Kabinentür. Fasse ich sie, oder spielen mir meine Augen einen Streich?! Meine Schulter rammt etwas hart, obwohl ich doch alles sehe. In einer Schräglage, als sei meine Welt aus den Fugen geraten, in hohen, unbekannten Wellengang?! Er erscheint wieder, sperrt das grelle Licht aus mit seinem Schattenwurf, fasst mich unter die Achseln, hievt mich auf die Füße, zieht mich an sich. Blitzartig ist alles im Lot, der Boden unter meinen Füßen, die Decke über meinem Kopf, meine Arme eng um seinen Nacken, seine offene Lederjacke ein Schutzschild, vertreibt die schockwellenartige Kälte aus meinem Körper, bis ich in beschämenden Spasmen zittere, in seine Halsbeuge schluchze. Ich bin so durcheinander! *~i~* Ich sollte ihn auf den Boden sacken lassen und gehen. Damit er sich wie eine Hure fühlt, die man benutzt und achtlos zurücklässt? Damit er verkümmert und erstarrt, von Gleichgültigkeit und Nutzwert-Abwägungen vergiftet wird wie ich? Sein Rücken unter meinen Händen ist geschmeidig, von trainierten Muskeln anmutig geformt. Wie ein Tänzer oder Leichtathlet. Ich ertappe mich, wie ich konzentrische Kreise ziehe, ihn zu beruhigen versuche. Wozu die Anstrengung? Heuchelei. Ich habe ihn in diesen Schock getrieben, ihn verführt und mit seinem Körper gespielt, um mir Erleichterung zu verschaffen. Seine Träume zerstört. "Entschuldigung... ich habe deinen Pullover aufgeweicht." Seine angenehm samtige Stimme wispert belegt an meinem Ohr, während er sich bemüht, wieder geradezustehen, sich von mir zu lösen. Sich unter den Augen mit einem Fingerrücken wischt, mir zulächelt, verlegen, die Nase kraus, hilflos nach einem Anknüpfpunkt für eine Unterhaltung sucht, über seinen Unterarm streicht, vermutlich eine Gänsehaut vertreibt. "Ich bin leider nicht mit den Gepflogenheiten 'danach' vertraut." Ein selbstironisches Auflachen. Die Haare über seine Schulter gestrichen in einer ruhigen, keineswegs kokettierenden Geste. "Ich würde dich gern auf ein Getränk einladen, Aoshi." Die Haselnussaugen verschlingen mich in ihrer ernsten Aufrichtigkeit. Ich zwinge mich, nicht verächtlich zurückzuweichen. Was hatte Sagara gesagt, woher der Junge stammte?! Begreift er nicht?! Die Antwort ist offenkundig, als er seine Frackjacke überstreift, die verzierte Mähne über den Kragen lupft, mir mit einer dezenten Verbeugung zulächelt, zwinkert. "Nun, wollen wir?" *~i~* Während Sano sich auf der Tanzfläche zu einem kreiselnden Wirbelwind mausert, was mich ernsthaft daran denken lässt, seinen Koffein-Konsum zu reduzieren, ist Kama wohl auf dem Weg zum Waschraum verschollen. Ich muss meine Unterhaltung eigenständig bestreiten, indem ich Kenny, der wie ein verlorenes Schäfchen an meinen Fersen klebt, nachdem wir unseren 'Tanz' beendet haben, an unseren Tisch bitte, ihm eine Coke aufdränge, an der er mit der Begeisterung eines Kaninchens für ein Salatblatt nuckelt. Während er mir zusieht, wie ich in mein aufgerolltes Skizzenbuch Impressionen dieses Abends verewige. Manche Leute fotografieren, andere arbeiten mit V8-Filmen, andere schießen Polaroids: ich halte alles in Form von Sketchen fest. Es beruhigt mich, meine Hände in Beschäftigung zu wissen und Details auf das Papier zu bannen, meine Umgebung zu studieren. Allerdings sollte man dafür stets genug Flüssignahrung in Reichweite haben. Nachdem ich Kenny versorgt habe, beschließe ich, einen weiteren Gang zu unternehmen, O-Saft zu apportieren. Ich nicke dem Feuerschopf zu, damit er unseren Tisch verteidigt, angesichts der wogenden Massen ein unbedingtes Erfordernis, schlage mich durch den Dschungel der Eitelkeiten und Selbstdarstellung Richtung Tränke. *~i~* Ist es hier heiß, oder bin ich das?! Egal, meine Zunge geht bereits eine intime Verbindung mit meinem Kinn ein. Das ist bestimmt nicht dekorativ. Daher unterbreche ich meinen Marathon, flitze zu unserem Tisch flitze, wo außer dem Skizzenheft meines Bruders und Kennys deformiertem Würfel gähnende Leere geboten wird. Lediglich eine einzige halbleere Flasche Coke lungert verloren vor sich hin. Na, wenigstens amüsieren die Jungs sich, was ja die Hauptsache ist!! Das bisschen Flüssigkeit muss eben reichen. Ich schütte es mit einem gewaltigen Schluck herunter, habe das Gefühl, dass die Temperaturen dem Getränk keineswegs zum Vorteil gereichen. Oder ich habe unbemerkt eine Tennissocke heruntergewürgt. Zu spät für ein Lamento, nachgespült wird eben gleich. Wenn ich der kleinen Blonden meine Aufwartung gemacht habe!! *~i~* Wenn das nicht wieder typisch ist. Da schlängelt man sich mit der hart umkämpften Beute wie ein Akrobat balancierend durch die Masse unkontrolliert zuckender Tänzer und was ist der Lohn der Anstrengung? Niemand da, der Tisch verlassen. Nur mein meuchelmörderischer Blick hindert einige Unverfrorene, sich häuslich niederzulassen. Seufzend lasse ich mich fallen, tröste mich über diese schmähliche Missachtung mit einer Mundvoll flüssiger Vitamine. Wenn Sano so loslegt, wird es wohl eine lange Nacht. Apropos, wo steckt der Schlawiner eigentlich? *~i~* Cremig, wirklich erste Sahne, was meine derzeitige Tanzpartnerin aus ihren zierlichen Maßen von knapp 1,55m Körpergröße gezaubert hat. Dinah, merkwürdiger Name, ich glaube mich vage an eine Blues-Sängerin zu erinnern. Leider gebricht es mir an Konzentration. Würde zumindest Kaz sagen, wie mir durch den Kopf geistert. Weil ich friere, bei einer Raumtemperatur von schätzungsweise 35 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit, während ich mich wie ein Roboter bewege. Das macht mich verständlicherweise nervös, besonders, als ein seltsames Zittern durch mich zuckt, ein klammer Schweißfilm meinen Körper überzieht. Ich weiß definitiv, dass ich keinen Alkohol getrunken habe. Zu viel Koffein vermutlich auch nicht, wieso..?! Ein Krampf frisst sich blitzschnell durch meine Eingeweide. Ich schmecke seifige Galle, muss alle Willensstärke aufbieten, um mich nicht reflexartig zu übergeben. Verdammte Scheiße, was ist los?! Schlagartig fühle ich mich so unsicher auf den Beinen wie ein Füllen, schleiche mit fahlem Grinsen und einer dümmlichen Entschuldigung davon, wie ein Punchingball hin und her geschoben, bis mich die Wogen der Hindernisse endlich an die Ufer spülen, sprich: ich mich an der Wand entlang Richtung Ausgang tasten kann. Kenny ist nicht präsent, dafür ein langhaariger Nerd, der auf einer winzigen Konsole herumfingert, mich keines Blickes würdigt, wofür ich in eingeschränktem Maße dankbar bin. Wenn die frische Luft nicht hilft, kotze ich wenigstens nicht vor allen Anwesenden auf den Boden. Eine kleine Gnade. Was ich von meinem Unterleib nicht behaupten kann, der sich spasmisch zusammenzieht. Ich presse eine Faust in meinen Magen, suche ihn fluchend zu besänftigen. Vielleicht war die letzte Coke schlecht?! Mir ist erbärmlich kalt. Ich schnattere Zähne klappernd, zittere und halte auf den Parkplatz zu, hoffe auf weniger Publikum. Außerdem sind dort Büsche, die ich nötigenfalls zu düngen gedenke. Wobei "denken" ein Euphemismus ist, weil mich langsam Panik erfasst. Ich spüre den Speichel sich in meinem Mund sammeln, eine seifige, widerliche, schaumige Masse, die sich über meine Mundwinkel ergießen will, sich kaum noch zurückhalten lässt. Durch die Nase Luft schöpfend halte ich, wie mit Scheuklappen bewehrt, auf Kaz' Mustang zu, die Hibiskus-Büsche zum Ziel. Nur raus mit der Brühe!! Im Dämmerlicht der wenigen Lampen besprühe ich das unschuldige Gewächs, atme erleichtert auf. Zu früh. Mit einem weiteren rumorenden Grollen rollt eine weitere Welle der gleichen Galle bitter meine Kehle hinauf. Schon wieder krümme ich mich über dem Grünstreifen. Als wäre dies nur der Auftakt für eine ganz neue Erfahrung von Schwäche und Ekel, reagiert sich mein Magen ab: schaumige Blasen quellen mir aus dem Mund. Nun habe ich Angst. Panik. Hat mir jemand was in die Coke gemischt?! Drogen? Gift?! Kaz, wo ist Kaz?! Ich brauche Hilfe, einen Arzt, scheiß auf das Image! Ich taste mich am Mustang entlang, fische nach mehreren Anläufen und einer widerlichen Spur meines vergorenen Mageninhalts (oder meiner Leber oder was auch immer) die Ersatzschlüssel aus meiner Hosentasche. Nur für den Notfall, und wenn das keiner ist... Ich bin schon zu schwach, die Tür aufzuziehen, muss mich an den Griff hängen, schließlich in die kleine Lücke schieben, bevor ich Schweiß überströmt, zitternd wie Espenlaub und kurz vor heulendem Elend endlich sitze. Warum soll ich euch was vormachen? Ich fühle mich beschissen, panisch, ausgeliefert und verlassen. Eben wie jemand, der nie krank wird, nun Naturgewalten gegenübersteht, die sich nicht einfach austricksen lassen. Während ich den stetigen Speichelfluss mit Kleenex aus dem Handschuhfach einzudämmen versuche, beginnt mein Herz zu rasen. Gut, ich bin aufgeregt, aber nicht in dem Maß. Es galoppiert, als wollte es zerspringen. Mir schießen all die Geschichten durch den Kopf, die ich über Drogen und diesen Mist gehört habe. Dass man davon sogar einen Herzinfarkt bekommen kann. »Verdammt, ich will nicht hier allein im Dunkeln verrecken!« Trotze ich meinem möglichen Tod, ignoriere das Wasser, das mir auch noch aus Augen und Nase läuft, lasse den Motor an, blende die Lichter auf. Jemand wird sie sehen, Kaz bestimmt, er wird Hilfe holen! Wenn das nicht schnell passiert, ramme ich die Fäuste auf die Hupe!! Irgendjemand... muss mir helfen... "Hände auf das Lenkrad, Punk! Keine falsche Bewegung!" *~i~* Kapitel 3 - Pakt mit dem Wolf Es hat nicht den Anschein, als ob sich der Aufenthalt hier erfolgreich gestaltet, konstatiere ich, setze das Nachtsichtgerät ab. Das rüttelt nicht an meiner Überzeugung, dass in den nächsten Tagen ein entscheidender Schritt der Gang zu erwarten ist. Alle bisherigen Indizien, die ich in penibler Kleinarbeit zusammengetragen habe, deuten daraufhin, ebenso mein Instinkt. Soll ich mich deshalb mit der lächerlichen Unentschlossenheit meiner Vorgesetzten aufhalten? Nein. Karriere-geiles Taktieren, prestigeträchtige Auftritte in den Abendnachrichten, Pressekonferenzen, Gerangel um Fotografien: erbärmlich. In diesem Augenblick torkelt einer der juvenilen Punks auf den Parkplatz, in die vage Richtung meines Vans, kann sich kaum aufrecht halten, sieht dabei aus wie Buttermilch und Spucke, als er eine Lampe passiert. Ein Junkie oder bloß total besoffen? Ich spüre, wie verächtliches Schnauben sich in meiner Kehle sammelt, meine Zähne sich ineinander verkeilen. Junkies und dämliche Teenager, die sich das Quäntchen Verstand in Alkohol einlegen: Idioten und eine Gefahr für ihre Umwelt. Dieses Exemplar von Disziplinlosigkeit besprengt gerade die Büsche, bevor er es sich hinter dem Steuer eines Ford Mustang gemütlich macht. Ein Klassiker, restauriert, vermutlich vom Vater 'ausgeliehen'. Als der Motor schnurrend zum Leben erwacht, die Scheinwerfer aufblenden, bleibt mir keine Wahl mehr. Meinem Eid Folge zu leisten: zu dienen und zu schützen. *~i~* Ungesteuert treffe ich statt des Lenkrads das Radio. In die Stille summt mein Held Billy Idol "Eyes without a face". Den Eindruck habe ich auch, gurgele hysterisch, als sich schwefelgelbe Augen vor mir materialisieren. Raubtieraugen, mitleidlos, sezierend. Ich blinzele automatisch. Das Wasser aus meinen Augen verschwimmt zu einem schmierigen Film. Das Radio verstummt abrupt. Übersensibel nehme ich einen prägnanten Eigengeruch von Lakritze wahr. Zu dem unheimlichen Paar Augen gesellt sich ein hageres Gesicht, in das vier lange, ebenholzfarbene Strähnen fallen. Der Rest des Schopfs glänzt wie mit Brillatine geölt, als sich der hochgewachsene Fremde über mich beugt, die Linke auf der Waffe, während er die Rechte zurückzieht, die Wagenschlüssel in seiner Gewalt. "Hmmgnnhh!" Protestiere ich, würge eine weitere Ladung in den Kleenex-Ballen in meiner Faust. Ein Ausweis klappt vor meinen Augen auf, schnell, das Blitzen eines Abzeichens. Es verschwindet wieder mit den dunklen Lederhandschuhen. Ein Polizist? In Zivil? "Du bist hiermit festgenommen wegen des Verdachts auf Drogenkonsum und -besitz sowie des beabsichtigten gefährlichen Eingriffs in den öffentlichen Straßenverkehr. Steig aus dem Wagen aus, leg die Hände in den Nacken." Ich starre auf den Torso: ein figurnaher, halblanger Mantel, den Anzug darunter, assoziiere FBI, blende die Anklage, die in einer kalten, knurrenden Stimme auf meinen benebelten Schädel einhämmert, aus. Festgenommen. Kaz wird mich umbringen. Sie werden uns trennen. Eine weitere Welle Magenkrämpfe reißt mich nach vorne, sodass ich mir die Stirn auf dem Lenkrad aufschlage. Sieht der blöde Bulle nicht, dass ich Hilfe brauche?! "Aussteigen." Faucht er guttural wie aufs Stichwort. Während ich noch erwäge, ihm auf seine zweifellos polierten Lackschuhe zu kotzen, was mein gepeinigter Magen hergibt, schnellt er heran, die Hand um meine Kehle gelegt. "Leg dich nicht mit mir an, Punk!" Zischt der freakige Bulle, mit einem Kiefer, der mich an ein Raubtiergebiss erinnert: spitz, scharf, zupackend. Wo ist der gute Cop, wenn das hier der ultimativ Böse ist?! Na gut, Scheißkerl, lass mich verrecken und fülle bis zum Sanktnimmerleinstag Berichte darüber aus! Ich grabe meine klammen Finger in seine offenen Mantelaufschläge, lege alles, was ich noch habe, in meinen Blick, sabbernd, zitternd, oder nicht! *~i~* Ich vermeide es gewöhnlich, Besoffene oder renitente Junkies aus ihren Autos zu zerren. Eine schmutzige, undankbare Aufgabe, vor allem, weil man sie danach wieder aus der Gosse klauben muss. Der hier ist auf Konfrontation aus, obwohl er zu schwach ist, sich aufrecht zu halten. Soll sich die Funkstreife des nächsten Reviers mit dem Streithahn herumplagen! Beschließe ich. Diesen Ärger muss ich mir nicht aufhalsen. Zudem wäre es wohl wieder ein wenig willkommener Anlass, um einen Vortrag über die Zuständigkeiten absitzen zu müssen. Der Punk, noch immer meinen Mantel zerknitternd, blinzelt wie eine Eule, wirft sich unruhig auf dem Sitz hin und her, verliert mein Gesicht aus dem Fokus, brabbelt in blasigem Speichelfluss, bis ich seine Botschaft dechiffriert habe. Vorbei der rotznäsige Widerstand, nun fleht er um Hilfe. Also eine Ambulanz. "Loslassen." Warne ich ihn vor. Er klammert sich an mich wie ein Ertrinkender. Selbst meine Ohrfeigen zeigen keine Wirkung. "Idiot, lass los, sonst kann ich über Funk keine Ambulanz rufen." Blaffe ich ihn an, ringe die Versuchung nieder, ihn k.o. zu schlagen. "Ke--ein-ee Drr-og-nn!" Gurgelt er, ohne mich freizugeben, dreht seine blanken Arme nach außen. Zugegeben, keine Einstichwunden. Seine Nasenschleimhäute sind weder geschwollen, noch blutet er. Aber was beweist das schon? Einer Eingebung folgend beuge ich mich erneut zu ihm herunter, zwinge seine großen, überfluteten Augen, meine zu ihrem Horizont zu wählen. "Sperr die Lauscher auf, Punk. Heute ist dein Glückstag." Schnurre ich frostig. Tatsächlich flackert es in den geschrumpften Pupillen. "Du hast die Wahl: arbeite für mich, und ich sorge für einen Arzt, vergesse die Anklage. Oder du übernachtest in der Arrestzelle mit all den anderen freundlichen Bürgern aus der Hölle, bis wir dir einen netten Zettel an deine große Fußzehe binden." Er hustet. Weiterer Schaum quillt aus seinen Mundwinkeln. Die Augen zugekniffen, als stünde ihm keine andere Möglichkeit der Kommunikation zur Verfügung, nickt er einmal, vorsichtig wie ein Seekranker. "Irgendwelche Ausflüchte oder Tricks, und ich wische mit deinem traurigen Kadaver die Urinale im Bahnhof auf, verstanden?" Säusele ich zuvorkommend, bevor ich ihn unter den Kniekehlen packe, ausheble, auf die Beifahrerseite befördere. Ich verspüre keineswegs den Drang, mir den Van von diesem ärmlichen Einfaltspinsel verdrecken zu lassen. Wenig überraschend ernte ich keinerlei Protest. Das sabbernde Bündel liegt matt neben mir, vegetiert Blasen schlagend und schäumend vor sich hin. Keine Drogen. Oder zumindest nicht die gewöhnlichen, sondern eine Vergiftung, vermute ich. Teenager. Unreife Außerirdische, die ihre eigene Rasse nicht mehr haben will und unter vernünftigen Menschen ausgesetzt hat. *~i~* Ich glaube, dass ich seit einigen Augenblicken erwachsen geworden bin, von haltlos durcheinander zu gelassener Ruhe. Das mag merkwürdig klingen. Die Erfahrung, von einem anderen Menschen begehrt zu werden, attraktiv zu sein, ohne mich verstellen zu müssen: das lässt mich glauben, dass ich meine orientierungslose Jugend überwunden habe. Von einem missglückten Anwärter auf den Kuriositätenzirkus der Monstrosität zu einem Menschen gewandelt bin, der eine Anziehungskraft auf andere ausübt. Ich wende mich herum, um mir zu versichern, dass er mir noch folgt, ignoriere gleichmütig abschätzige Blicke. Sein Gesicht ist wieder eingefangen, verhüllt von den dichten Strähnen. Ein optischer Fangzaun. Er zeigt keinerlei Regung mehr, nicht mal die Ausstrahlung von resignierender Einsamkeit, die ich anfangs spürte. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Habe ich ihn verärgert? Vielleicht ist er konsterniert, weil ich eine ungeschriebene Regel verletzt habe? Immerhin hat er mir Vergnügen verschafft. Hätte ich diese Aufmerksamkeit erwidern müssen? Woher nahm er eigentlich die Gewissheit, dass ich ihn nicht abwehren würde? Wegen des Tanzes mit Sano? Handelt es sich um eine Machtdemonstration, die ich nicht begriffen habe? Er hat zweifellos Erfahrung in diesen Dingen. Ich bin hoffnungslos, nicht wahr? Gerade mal einige Augenblicke erwachsen und jetzt genauso ratlos und verwirrt wie zuvor. So viel zur 'gelassenen Ruhe'. *~i~* Dieser Aoshi ist nicht meine Kragenweite. Die Gerüchte, die sich um ihn ranken, bestärken mich nur noch in meinem Entschluss, Leben und Leben zu lassen. Ich bin froh, dass er mit Kama an unserem Tisch Platz nimmt, weil es mir Gelegenheit gibt, aufzustehen, nach Sano zu fahnden. Möglicherweise gehen sämtliche Gäule mit mir durch, mutiere ich zur Glucke und trage bald Federn im Hintern: wenn ich Sano nicht in Sichtweite weiß, werde ich unruhig. Es gibt genug Unruhestifter, die Sanos Biographie kennen, darauf warten, sich mit dem berüchtigten Straßenkämpfer zu messen. Das könnte das Ende unserer gemeinsamen Zeit bedeuten. Ich entschuldige mich also bei dem Stockfisch und dem auf einem Zopf kauenden Boy George-Anhänger, um meinen kleinen Bruder aufzustöbern. *~i~* Der Wagen läuft gleichmäßig mit angenehmen Geräusch, hinterlässt auch nicht den desaströsen Eindruck so mancher Teenager-Schaukel, die eher einer rollenden Müllkippe mit entsprechendem Aroma gleicht. Abgesehen natürlich von dem Auswurf im Beifahrersitz, der zumindest die Weisheit besitzt, still vor sich hin zu sabbern, wenn ihn nicht unregelmäßige Krämpfe zu einem kompakten Paket zusammenzwirbeln. Die Fahrerlizenz lautet auf einen gewissen Katsuhiro Tsukioka, desgleichen die Wagenpapiere, ordentlich im Handschuhfach mit Folie verpackt. Die Ähnlichkeit mit dem Etwas neben mir beläuft sich auf winzige Parallelen, die man mit geschultem Auge ausmacht. Ich halte sie für verwandt. An einer Ampel winde ich mich herum, zerre ihn an seinem Jeansbund in eine temporär aufrechte Haltung, ertaste Papiere in seiner hinteren Hosentasche. Sieh an: Sagara, Sanosuke, 16 Jahre alt. Ich erinnere mich, diesen Namen schon wiederholt gelesen zu haben. Allerdings ohne eine entsprechende Akte oder ein Bild des Jungen gesehen zu haben. Das ist gleichbedeutend damit, dass er ein potentieller "Kunde" sein könnte, wie sich meine ahnungslosen, gutmenschelnden Vorgesetzen auszudrücken pflegen, ich ihn andererseits nicht als eine Gefahr eingestuft habe. Aber er arbeitet hart daran, dass sich das ändert. Ich studiere ihn aus den Augenwinkeln, vergleiche das Ergebnis mit aktuellen Jugendtrends: ein dezenter Protestler, was den merkwürdigen Hahnenkamm betrifft, Durchschnitt hinsichtlich der Schuhe, Hose und Hemd. Möglicherweise beliebt bei vielen, weil sportlich, nicht übermäßig intelligent, braungebrannt und mit einem schnellen Lächeln. Der All-American-Dreamboy. Eine Übelkeit erregende Vorstellung. Wenn man sich diese Qualitäten nicht zunutze macht. Was ich beabsichtige. Ein Schaf unter die wilden Hunde zu schicken, damit sie den Wolf nicht bemerken. *~i~* Es ist spät, Freitagabend, als ich zuerst das Motorengeräusch, einen lasziven, hochventiligen Bass, in meiner Einfahrt bemerke. Korrekterweise müsste ich wohl sagen, dass es sich um den einzigen Kundenparkplatz vor meinem kleinen Drugstore handelt. Das [Sorry, we're closed] blinkt in sanftem Grün hinter dem heruntergezogenen Fallgitter kontinuierlich auf. Ich darf vermuten, dass es keine gewöhnliche Kundschaft ist, die mich so spät beehrt. An der Hintertür klopft es. Zweimal. Abgezirkelt. Scharf. Es gibt nur einen Menschen, der auf diese Weise Einlass begehrt. Ich öffne, lächle. Hajime Saitou. Nein, Gorou Fujita, nennt er sich jetzt nicht so? "Zieh dir deinen Kittel über. ES sabbert." Bedenkt er mich grußlos mit einer knappen Aufforderung, macht kehrt in der sicheren Überzeugung, dass ich ihm folgen werde. Ein Hauch von Lakritz dringt an meine Nase. Ich spüre den süßen, wehmütigen Schmerz von Melancholie in meiner Brust, greife nach meinem makellosen Kittel, wickele mich darin ein, zupfte ein paar Einweghandschuhe aus einem Spender. Das Auto summt und knackt leise, abkühlend, als ich herantrete, die Gestalt auf dem Beifahrersitz mustere. Der Geruch... Ein Jugendlicher, zusammengerollt, so hastig atmend, als habe er soeben einen Marathonlauf absolviert, während er vor kalten Schweiß starrt, befleckt ist von Speichel und seifigem Auswurf. Ich sinke neben ihm auf die Knie, hebe das spitze, willensstarke Kinn an, registriere in zurückhaltender Freude, dass die großen, von der Anstrengung und Pein dunkel umrahmten Augen mich trotz des glasigen Schimmers wahrnehmen. "Hallo." Beginne ich sanftmütig. "Mein Name ist Souji Okita. Ich möchte dir helfen. Kannst du mich verstehen?" Er nickt fahrig, krallt die verkrampften Finger in einen faustgroßen Ball durchweichter, komprimierter Kleenex, um dem durch die minimale Erschütterung ausgelösten Speichelfluss Einhalt zu gebieten. "Hast du Drogen genommen?" Beginne ich die Routine, kämme einige klebrige Strähnen aus seinem fahl-weißen Gesicht. Er gurgelt etwas, was ich als Negation verstehe, vor allem aber dem agitierten Funkeln seiner Augen entnehme. "Alkohol?" Kopfschütteln, sehr behutsam. "Medikamente?" Wieder eine abwehrende Geste. "Bist du in ärztlicher Behandlung? Kreislaufprobleme, Verletzungen, irgendwas?" Auch hier Fehlanzeige. Das liefert mir zumindest ein Indiz dafür, dass der Junge entweder ausgetrickst wurde oder ein geschulter Lügner ist. "Gehen wir doch hinein, da kannst du dich ausstrecken." Offeriere ich meinen Arm. In der Tat gelingt es uns beiden, schlingernd den Ruheraum mit meinen abschließbaren Schränken zu erreichen. Hajime rührt keinen Finger. Ich spüre seinen lodernden Blick auf uns ruhen, eine distanzierte, kühle Studie. Kaum jedoch, dass der Jugendliche sich auf der Papierunterlage meiner Untersuchungsliege einigermaßen bequem gemacht hat, sehr vorsichtig beginnt, die verkrampften Muskeln zu dehnen, sticht er hervor, mit vernichtendem Funkeln aus seinen Raubtieraugen die Aufmerksamkeit seiner Beute auf sich zu fokussieren. "Hör zu, Sagara, ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Daher erwarte ich, dass du dich an deinen Teil hältst." Er muss nicht drohen oder die Stimme erheben. Seine Ausstrahlung und das gutturale Timbre in seiner Diktion reichen, um allen Anwesenden die Nackenhaare aufzustellen. Eine einschüchternde Präsenz, die darüber hinaus noch von der Gewissheit verstärkt wird, dass Hajime seinen Worten immer, ausnahmslos, Taten folgen lässt. Der Junge, Sagara, zieht die Augen zu Schlitzen zusammen, offenkundig wütend. Das stellt eine tendenziell suizidale Replik gegenüber meinem früheren Partner dar. Ganz zu schweigen von dem kaum verständlichen "ja, verdammt!", das er anfügt. Kann es wirklich sein, dass ein Mensch existiert, der gegen Hajimes Todesbann immun ist?! Mein Grinsen, durchaus schadenfroh, lenkt die Aufmerksamkeit auf mich. Unwillkürlich ziehe ich die Schultern hoch, zwinkere. So fing es stets an. Aber das ist vorbei. *~i~* Was soll ich bloß tun? Hinüberäugend werfe ich hastige Blicke auf sein Profil, das wie gemeißelt ruht, so schweigend, wie er seit unserer Rückkehr an den Tisch ist. Andererseits hat er auch vorher kein Wort an mich verloren. Wäre ich Sano... Ja, Sano würde sicher flirten, vielleicht sogar... Der Gedanke, unterhalb der Tischplatte taktophil auf Erkundungsreise zu gehen, lässt mich beschämt erröten. Sano würde voll aufdrehen. »Ran an den Mann!« Wie er mir zu predigen pflegt, wenn er sich einsetzt. »Alles geben, keine Gedanken an Zweifel und Unsicherheiten verschwenden! Volle Kraft voraus, zum Teufel mit den Torpedos!« In den Videos, die er mir ausgeliehen hat, gehen die anderen, Drag Queens, wie sie sich wohl nennen, richtig offensiv vor, stolz und elegant. Versteht mich nicht falsch, ich flirte durchaus, vor allem mit Sano, weil er mich versteht. Hier, bei Aoshi, fehlen mir die Worte. Was mich bewegt, innerlich verbrennt sogar, ist zu privat, zu intim, um es hier auszusprechen. Und oberflächlicher Smalltalk nach seinen Handreichungen: unmöglich! Allerdings, wenn ich weiterhin wie eine stumme Auster neben ihm herumzapple, wird er bestimmt gehen. Es wäre leichter, wenn er sich beschweren würde! Ein gut erzogener Mensch würde das nicht tun, weil es der Höflichkeit widerspräche. Vielleicht sollte ich es mit einem Kompliment versuchen? Nur, welches? Würde er es als Kompliment verstehen oder missdeuten, als versteckte Häme oder Kritik, oder...?! ARGH!! Ichwerdenochverrücktmitmir!! Während ich mir selbstvergessen und nahezu hysterisch die Haare raufe, laut stöhne, was glücklicherweise in der allgemeinen Geräuschkulisse untergeht, wendet er den Kopf, spricht mich an, ruhig, fast meditativ versunken. "Wie wäre es mit einem Eistee?" *~i~* Nachdem ich einen Abstrich seines Speichels genommen habe, geleitet von dem Geruch, der ihm anhaftet, beobachte ich seinen Puls und den Herzschlag, während die Analysen langsam ihren Effekt zeigen. Meine Vermutung bestätigt sich. Ich verberge einen triumphierenden Gesichtsausdruck, lege stattdessen eine Infusion, um dem Flüssigkeitsentzug zu begegnen, lasse ihn Kohletabletten schlucken, was ihm große Mühe bereitet, da seine Kehle zweifellos wund ist. Hajime belauert uns mit argwöhnisch-verächtlichem Funkeln aus Argusaugen. Wie gewohnt fürchtet er, ich möge mich mit meinen Patienten gegen ihn solidarisieren, weil er sich für das Schlimmste aller Übel hält, die einem zustoßen können. Vielleicht hegt er aber auch andere Sorgen. Ich schmunzle, während meine Finger das fahle Gesicht nachzeichnen, endlich Papiertücher aufnehmen, um die Spuren der Verwüstung aus Sanosukes Gesicht zu tilgen. Schmeichele ich mir selbst, oder folgt er seinem Instinkt, erkennt Reaktionen, die mir verborgen sind, meinem Unterbewusstsein entstammen? "Mein Bruder... anrufen?" Zum ersten Mal spricht Hajimes Beute verständlich, heiser und gequält, dennoch klar artikuliert. "Natürlich. Ich erkläre ihm dann, dass du unter Drogeneinfluss mit seinem Wagen von einer Streife aufgegriffen wurdest." Zischt mein Ex-Partner, zernagt ein weiteres Stück Lakritz. Seine starken, spitzen Zähne blitzen in der Beleuchtung. Der Junge ballt die Fäuste, schluckt schwer an einer vermutlich wenig druckreifen Replik, bevor er den Kopf dreht, sich abwendet. Ich entscheide mich dafür, ihm ein leichtes Sedativum einzuflößen. Er kann Erholung und Schlaf zweifelsohne gebrauchen. Außerdem kann ich dem Wolf ohne Ohrenzeugen besser entlocken, welches Ziel er verfolgt. *~i~* Es ist mittlerweile so tropisch im Saal, dass ich meine Frackjacke bei Aoshi an unserem Tisch lasse, während ich mich erleichtert durch die Menge schiebe, um den gewünschten Eistee zu besorgen. Natürlich ist mir bewusst, dass Aoshi diese Gelegenheit nutzen könnte, sich zu verabschieden. Unsägliche Banalitäten vermeidet, die es abzuhandeln gilt, wenn man gut erzogen miteinander wenig anfangen kann. Ich widerstehe hoffnungsvoll der Versuchung, mich nach ihm umzukehren. Du musst eine Entscheidung treffen, Kama! Er hat dir einen Aufschub verschafft, also triff die Wahl: entweder offenbarst du dich und fragst ihn das, was dich umtreibt, oder du markierst weiter den devot-anhimmelnden Backfisch aus der Provinz! Und gehst vermutlich leer aus, weil der feuchte Traum jeder anwesenden Frau in diesem Saal einen Tod durch Langeweile vermeiden wird. Was mich auf die Konkurrenz bringt. Mag er Frauen? Wenn ja, welche? Hier sind so viele Schülerinnen, Studentinnen, einige progressiv-militante Mütter. Er hätte die freie Auswahl. »Reich, gute Manieren, umwerfende Optik. Wo siehst du eine Marktlücke für dich, Kama?!« Hey, ich bin Optimist! »Klar. Zwangsweise.« Das boshafte Kichern meiner inneren Stimme ignoriert balanciere ich die beiden Becher Eistee an den Tisch zurück. Eine großgewachsene Blondine hat es sich bequem gemacht, schwadroniert mit lispelndem Kieksen und halb gesenkten Lidern Marke Schlafzimmerblick, während sie Aoshis Hosenbein mit lackierten, nackten Zehen hochkriecht. Für einen Augenblick bin ich sprachlos. Wie kommt es nur, dass sich die grässlichsten Vorstellungen so punktgenau bewahrheiten?! Wut brodelt in mir hoch, Sano-eske Wut. Wenn er flirten will, schön, aber nicht an unserem Tisch! Und bestimmt nicht, während ich anwesend bin. Folgerichtig stelle ich, die Blondine mit Gleichgültigkeit strafend, die beiden Becher vor ihm ab, visiere seinen undurchsichtigen Strähnenvorhang an. "Wenn du mich bitte entschuldigst, ich werde ebenfalls nach Sano Ausschau halten." Flöte ich reserviert, drehe mich um, stakse wie aufgezogen in das Gewühl zurück, das ich vor Wimpernschlägen erst durchquert habe. Am liebsten würde ich heulen, weil ich Idiot genug bin, zu hoffen, dass es ihm einen Stich versetzt, mich gehen zu sehen. Dass er spürt, wie verletzt ich bin. Anderseits, verpasse ich mir einen mentalen Tritt, hast du ihm auch nicht gerade übermäßig Zeit gegeben, sich für dich zu entscheiden, oder? Die Versuchung umzukehren ist gewaltig. Da fasst mich jemand an den Fingerspitzen, wie ein Kind es tun würde. "Kenny, nanu? Willst du uns nicht mehr Gesellschaft leisten?" "Doch, natürlich, bestimmt!" Versichert er eifrig. Seine feuerroten Strähnen wippen hastig in die großen, blauvioletten Augen. Ich tätschle ihm den Schopf, grinse, ganz gegen meine eigentliche Stimmung. "Weißt du was? Lass uns Kaz helfen, der sucht gerade Sano! Hast du Sano irgendwo gesehen in den letzten paar Minuten?" Kenny blinzelt zweimal, das Gesicht in Konzentration verzogen. Er schüttelt bestimmt den Kopf. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ein unglaublich guter Schauspieler sein muss: er erweckt die Illusion, man habe es mit einem Kind zu tun. Wie er mit entschlossenen Schritten voranstampft, wie ein kleiner Herold, von der Mission "Finde Sano!" vollkommen durchdrungen. Während ich auf seinen Fersen bleibe, schwöre ich mir, hier Freunde zu finden, weil das allemal die beste Option ist. Vielleicht die einzige. *~i~* Ich kontrolliere den Puls und den ruhigen, tiefen Atem des Jugendlichen. Er ist eingeschlafen, die Krämpfe sind beendet. Ich setze Teewasser auf, hole einige Kekse heraus, bedeute Hajime, es sich in der kleinen Nische mit den winzigen Korbmöbeln bequem zu machen. Seine kalte Miene, die gespannte Haltung: alles kündet von oberster Souveränität. Ich kann mir vorstellen, dass er darauf brennt, in sein Büro zurückzukehren, die Akten nach dem Jungen zu durchforsten und herauszufinden, wie er seinen Plan, der vermutlich schon durch seinen Geist rotiert, in die Tat umsetzen kann. Welche Fäden er bei welchen Marionetten ziehen muss. Hajime ist ein genialer Stratege und frei von Sentimentalitäten. "Also?" Schenke ich ihm Tee ein, lächle in seine Raubtieraugen. "Was hast du mit dem Jungen vor? Ist er ein Köder?" "Das ist eine Polizeiangelegenheit." Zischt er knapp. Ich seufze laut. "Du hast mir noch immer nicht vergeben." Stelle ich fest, nehme mir einen Keks, um daran zu knabbern, eine Wange in meiner Hand aufgestützt, damit ich ihn eingehend studieren kann. Man kann Hajime Saitou nicht einschüchtern, indem man ihn beobachtet. Er lässt sich von niemandem in die Karten sehen. Sein Vertrauen habe ich mir verscherzt. Obwohl es keineswegs ein Scherz war. Was nun auch das Problem darstellt. "Die Ursache?" Schnarrt er kurz angebunden, erwidert meinen Blick ungerührt. "Eine bekannte Kombination aus einem Mittel gegen Kreislaufschwäche und einem Appetitzügler. Meistens sehe ich das bei jungen Frauen." "Keine Drogen? Alkohol? Möglichkeit, dass er sich selbst vergiftet hat?" Ich nippe an meinem Tee. "Für Drogen dauert die Analyse noch an, würde ich aber ausschließen. Alkohol: definitiv nicht in den letzten Stunden. Und eine Selbstvergiftung? Tja, er erholt sich so schnell, dass ich nicht glaube, dass er Bedarf für Kreislaufmittel hat. Jungs mit Appetitzüglern und seiner Figur? Unwahrscheinlich." Urteile ich, lächle, als es in Hajimes Augen blitzt. Was hat er erwartet? Dass ich immun bin gegen die athletische Schönheit dieses durchtrainierten Jugendlichen?! Tsktsk, um mit Hajime zu antworten. "Hör mal." Ich fasse nach seiner Hand, die auf dem Tisch zu versteinern scheint. "Es wird Schwierigkeiten geben, wenn du den Jungen auf diese Weise rekrutierst. Er könnte sich einen Anwalt nehmen und dich verklagen." "Da wird er von seinem Bruder getrennt werden. Außerdem habe ich bereits sein Wort." Hajime zieht seine Hand entschieden zurück, funkelt mich arktisch an. "Deine Sorge ist überflüssig." Ich lächle mit gesenktem Kopf, schwelge in dem Schmerz in meinem Herzen, der Wehmut. "Wenn ich nur wüsste, wie ich deine Verzeihung gewinnen kann, Hajime." Spreche ich aus, was mich bewegt. Nicht einen Augenblick später erhebt er sich lautlos, geschmeidig. Wie ein Schatten streicht er vorüber zur Hintertür. "Ich hole ihn gegen Morgen ab. Lass ihn nicht entwischen." Nein. Natürlich nicht. *~i~* Mir ist schlecht. Mein Magen muss ein einziger Knoten zusammengeballter Eingeweide sein, der langsam fossiliert. Sano ist vom Erdboden verschluckt. Niemand hat ihn gesehen. Er ist nicht auf den Galerien, der Toilette, in den Nischen... Kama und Kenny teilen mir mit langem Gesicht ihre Fehlanzeigen mit. Ich trete schwerfällig auf den Parkplatz hinaus. Sano würde nicht mit einer Tussi in meinem Auto herummachen, Pardon für die profane Wortwahl, weil er weiß, dass er damit meine Gefühle verletzen würde. Eine Spritztour, um irgendwen zu beeindrucken: nein, das ist auch auszuschließen. Mir stellen sich die Haare auf, als ich die Parklücke entdecke, in der meine Lady stehen sollte. Leer. Er würde niemals...! "Was riecht hier so merkwürdig?" Kama rümpft die Nase, inspiziert den Boden im Schein der Parkplatzleuchten. "Das verstehe ich nicht." Brabbele ich hilflos. Mein Mustang muss doch hier sein...und Sano... "Vielleicht ist ihm schlecht geworden." Voluntiert Kama, zerrt mich am Handgelenk zu dem Busch, der einen seltsamen Geruch absondert. "Das könnte jeder gewesen sein." Wende ich mich mit Magengrimmen von dem Auswurf ab. Überzeugt bin ich nicht. Wenn es nun Sano war? Warum hat er mir nichts gesagt?! "Teilen wir uns auf!" Ist das Kenny? Der zierliche Hausmeister wirkt plötzlich reif und erwachsen, während seine Augen mit einem befremdlichen Schimmer glänzen. "Kaz, wenn du nach Hause fährst, kannst du feststellen, ob Sano angekommen ist. Oder ob er sich per Telefon gemeldet hat! Ich suche hier das Schulgelände ab und melde mich bei dir. Kama, denkst du, du könntest das Wohngebiet durchkämmen?" Kama runzelt die Stirn, nickt zustimmend. Vage entsinne ich mich Sanos Hinweis, dass Kama sich noch nicht so gut auskennt. Sonntagnacht in einer noch fremden Stadt herumzustrolchen, das sollte jedem bei Verstand eine kurze Bedenkzeit wert sein. Mir schaudert bereits bei dem Gedanken, in einen der Nachtbusse steigen zu müssen, zwischen erschöpften Arbeitern, Besoffenen und Wohnsitzlosen. "Gut, notieren wir jeder die Rufnummern der anderen und melden uns alle halbe Stunde bei Kaz, einverstanden?" *~i~* Während Kenny mit katzenhaftem Schleichgang das Schulgelände sondiert, sehe ich Kaz nach, der steif auf die Bushaltestelle zuhält. Er wirkt auf mich erschüttert und ängstlich. Das überrascht mich angesichts seiner bisherigen Gelassenheit. Sano ist 16 Jahre alt, nicht der Typ, der sich nicht zu helfen weiß. Andererseits kenne ich ihn ja erst seit kurzem. Die Vermutung drängt sich auf, dass mir Einiges entgangen ist, was die beiden ungleichen Brüder betrifft. Ich trete in den Saal, der auf mich nur noch laut und grell wirkt, nicht mehr wie ein verzaubertes Reich voller Verheißungen, schiebe mich mühsam durch die geballten Körper, um meine Frackjacke aufzusammeln. Die Blondine belagert Aoshi noch immer, der so unverändert stoisch und hoch aufgerichtet verharrt, als habe er keinen einzigen Muskel in meiner Abwesenheit bewegt. Ohne mich der Mühe zu unterziehen, nach seinen eisblauen Augen zu fahnden, deren Anblick mir zweifellos verwehrt werden wird, nicke ich knapp. "Bitte entschuldige, ich muss nun aufbrechen. Noch einen schönen Abend." Rasch streife ich mir den Frack über, schiebe die Zöpfe und Strähnen über den Kragen. Sano ist jetzt wichtig. Ich sollte mich besser darauf konzentrieren, nicht verloren zu gehen, wenn ich die richtige Buslinie erwische. Während ich meinen Weg mit Ellbogen bahne, bemerke ich Paare, die eng umschlungen tanzen, höre Lachen und geflüsterte Gespräche, fühle mich fremd und ausgestoßen. So viel zum 'erwachsenen' Kama, der einen feuchten Film von den Augen blinzeln muss. Manchmal bin ich wirklich eine dämliche Heulsuse! Dabei hat mich meine Oma gewarnt. Hier darf man kein Herz aus Glas haben, es sei denn, es wäre Panzerglas. »Blöd!« Wische ich mir achtlos mit der geballten Faust über die Augen. »Er hätte wenigstens etwas zum Abschied sagen können.« "Meine Maschine steht da drüben." Ich schrecke derart zusammen, als seine ruhige, flache Stimme neben meinem Ohr dieses Angebot vermittelt, dass ich aus dem Tritt komme, beinahe die drei Stufen zum Parkplatz hinabstürze. Seine sichernde Hand ist schneller, umfängt meine Taille. "Tut mir leid." Stottere ich mit verzweifelt steifer Oberlippe. "Ich habe noch zu tun. Ich muss nach Sano Ausschau halten." Ich will nicht allein in der Dunkelheit herumirren, wenn du so fürsorglich und warm direkt hinter mir stehst, dein Atem meine Wange streichelt! "Es wird schneller gehen, wenn wir mein Motorrad nehmen." Stellt er fest, ohne meine Einwände zu beachten, gibt mich frei, schreitet vor mir zu den aufgebockten Motorrädern. Wie ein Welpe trotte ich hinter ihm her, bewundere seine hochgewachsene Gestalt, den abgefederten Schwung seines Gangs, lautlos und geschmeidig. Er bleibt vor einer verkleideten Maschine stehen, die japanischer Bauart ist, nachtschwarz gehalten, ohne Zierrat oder Chrom-Gestänge, zieht den Helm und einen gepolsterten Gurt vom Lenker, legt die Handschuhe auf den doppelten Sitz. Ohne Vorwarnung schlingt er den Nierengurt um meinen Leib, hautnah und Wärme abstrahlend. Ich muss mich an seinen Schultern abstützen, weil mir die Knie zittern. Die Erinnerung an das letzte Mal, als er mir so nahe war, ist zu frisch, zu mächtig. Einem Kind gleich streift er mir die Handschuhe über, rückt den Helm zurecht, unter dem meine Strähnen und Zöpfe wie Kabel zu einem Astronautenanzug herauslugen. "Ich fahre langsam. Wenn etwas ist, zupfe fest an meiner Jacke, verstanden?" Der Jacke, die er schließt, den Gürtel am Saum festzieht. Er hebt das Motorrad aus dem Ständer, sitzt auf, offeriert einen Arm, damit ich auf den Sozius klettern kann. Ganz gleich, wie erbärmlich es wirken mag: ich halte mich an seinen Schultern fest, lasse mir helfen. Schlinge die Arme um seine Taille, obwohl wir noch nicht einmal losgerollt sind, allein sein Schenkeldruck die Maschine austariert. Er legt eine Hand flach auf meine behandschuhten, eine knappe Geste nonverbaler Kommunikation. Aoshi lehnt sich vor, umfasst die Griffe, gibt moderat Gas. Wir schlängeln uns im Schritttempo vom Parkplatz. Mein Herz schlägt Purzelbäume. Mein Magen hat hohen Seegang. Ich zwinge mich ohne Erfolg, nicht jubilierend Chancen auszurechnen. Er ist bei mir und nicht bei Blondie!! *~i~* Ich weiß, dass Sano nicht da ist. Weil unserer Appartement im Dunkel liegt, mein geliebter Mustang sich nicht hinter dem gewaltigen Rolltor findet. Der Anrufbeantworter, unsere teuerste Errungenschaft, rührt sich nicht. Keine Nachricht klebt auf dem Kühlschrank. Ich sacke in die Hängematte, massiere meine Schläfen. Verdammt, Sano, was hast du angestellt?! *~i~* Schon drei Anrufe bei Kaz, und noch immer keine Spur von Sano. Langsam werde ich müde, muss mich an Aoshis Rücken aufrecht halten. Es ist ungewohnt anstrengend, im Schritttempo durch die Gassen und Stichstraßen zu rollen auf der Suche nach einer einzigen Person. Mir ist vorher nicht bewusst gewesen, wie viele Menschen in der Nacht ihr Quartier unter freiem Himmel suchen. Außerdem fürchte ich, dass wir das Missfallen von einigen Jugendlichen erwecken, die Geschäften nachgehen, vor denen man mich eindringlich gewarnt hat. Bei Tageslicht sieht diese Wohngegend so bürgerlich, so friedlich aus! Ich bin dankbar dafür, dass Aoshi bei mir ist. Ohne ihn hätte mich mein Mut bestimmt schon nach der ersten halben Stunde verlassen. Er hält vor einer Telefonzelle nahe eines Abbruchgeländes, wo sich bereits eine Ankündigung für einen Neubau befindet, der die Lücke wieder schließen wird. Ungeschickt klettere ich herunter, stütze mich dabei auf seinen Schultern ab, um steif hinüberzugehen. Ich achte sorgsam darauf, nicht in Glasscherben zu treten oder zu fassen. Kaz klingt so unglücklich, dass ich fast reflexartig in einen aufmunternden Singsang verfalle. Das, was Sano den Südstaaten-Zucker-Slang nennt. Wir hadern einen kurzen Augenblick mit dem Gedanken, die Polizei zu verständigen und eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Kaz weist mit schwerem Herzen diese Option zurück: wenn Sano am Morgen wieder erscheint, würde eine Anzeige die Runde bis zum Vormundschaftsgericht machen. Sein Jugendpfleger würde vermutlich die Akte zücken, das Ende ihres Zusammenlebens wäre eingeläutet. Ein Bruder, der nicht dafür Sorge tragen kann, dass sein jüngerer Bruder zur Sperrstunde zu Hause ist, kann keine Verantwortung für ihr beider Leben übernehmen. Als er das Gespräch beendet, mich damit entlässt, überfällt mich die Mutlosigkeit in der Dunkelheit ebenso stark wie ihn zuvor. Ich stolpere müde mit bleischweren Gliedern zu Aoshi zurück. Der hat die Maschine aufgebockt, sich weit zurückgesetzt auf den Sozius. Mustert mich eingehend, wenn ich nach dem Flächenbrand-artigen Prickeln meiner Haut urteilen darf. Plötzlich durchzuckt es mich kalt: wir sind hier sehr isoliert, wir beide! Ich bin nicht sicher, dass ich allein nach Hause finde. Ich bleibe knapp außerhalb seiner Reichweite stehen. Was, wenn er die Situation ausnutzen will?! Hastig sehe ich mich um. Die spärliche Straßenbeleuchtung zeichnet kein mir bekanntes Bild. Ich weiß nicht mal, in welche Richtung ich laufen sollte, ganz zu schweigen davon, dass er mich mit der Maschine in Kürze eingeholt hätte. "Kama." Seine Stimme ist leise, sanft. Mein Name klingt wie eine Liebkosung aus seinem Mund. Er streckt die Hand aus, ruhig, abwartend. Ich zögere, nage an meiner Unterlippe, weiß nicht, ob er mir nur auf die Maschine helfen will, oder aber... Ich kann einfach nichts aus seiner Haltung herauslesen! Seine Stimmung bleibt mir verschlossen. Ich frage mich, ob ich mir den zärtlichen Klang seiner Stimme nicht nur eingebildet habe. Ist er wirklich so nachsichtig, dass er nicht zornig meinen Gehorsam einfordert?! Es muss doch einige Zeit vergangen sein, in der ich ihn die Hand ausstrecken lasse, ohne die Geste zu erwidern. Oder erscheint meine eigene Unschlüssigkeit mir nur ewig?! Vorsichtig schiebe ich trotzig die Fingerspitzen über seine. Er hält still, bis ich die Handfläche erreicht habe, birgt meine Hand in seiner, wartet darauf, dass ich vor ihm stehe, ihn ansehe. Seine freie Hand kündigt sich in langsamen Bogen an. Er streicht mir Strähnen aus dem Gesicht, kämmt sie über meine Schultern auf den Rücken. Leichte, fürsorgliche Gesten. Trotzig hebe ich auch meine freie Hand, wische eher grob, wie es mir vorkommt, durch seinen Pony, enthülle für Wimpernschläge mandelförmig geschnittene, scharfe Augen in eisigem Blau in einem schmalen, langen Gesicht. Ich will erschrocken zurückweichen, so, als habe ich ein Heiligtum mit einer profanen Neugierde entweiht. Allerdings liegt seine Hand in meinem Nacken. Schon stemmt er sich vom Sozius hoch, erobert meine Lippen. Zunächst sind es nur sanfte, einfache Küsse, die neckend wechselweise an meiner Ober- und Unterlippe zupfen, bis ich nach Luft schnappe, die Passage freigebe, die Arme um seinen Nacken schlinge, mich an ihn presse, damit er mich verführen kann wie zuvor, Blitzlichtgewitter meine geschlossenen Augen blenden, sein Geruch mich einhüllt, sein Geschmack meine Zunge einlegt. »Nun ist alles gleich!« Jagt es wie eine Schimäre durch meine aufgewühlten Gedanken. »Du bist ihm ausgeliefert, willst dich nicht wehren, also...!« Also küsse ich jede erreichbare Stelle, beregne sein Gesicht, seinen Hals, von der Stirn bis zum Schlüsselbein, kann nicht aufhören, ihn kosten zu wollen, gierig jedes Fleckchen zu erkunden. Ohne mein Zutun dirigiert er mich vor sich auf das Motorrad. Seine Fingerspitzen graben sich massierend in meine Kehrseite. Ich stöhne laut auf. Das Echo verliert sich auf dem Abraumplatz. Für Wimpernschläge erstarre ich, über mich erschrocken. »Hast du überhaupt keine Selbstachtung, keine Anstand?!« Faucht es in meinem Kopf, während meine Lippen brennen, ich um Atem ringe, in die eisblauen Augen blinzele. »Ich glaube nicht.« Bescheide ich meinen Mahnern, zerre den Reißverschluss seiner Lederjacke herunter, schmiege mich an ihn, umfasse meinerseits seine muskulösen Hinterbacken. Lieber Himmel, das wollte ich schon immer mal tun! Er fühlt sich herrlich an! Das Leder in meinen Handflächen, darunter sein gestähltes Fleisch.... Er kopiert meine Bewegungen, synchronisiert uns, bis ich ihn nicht mal mehr küssen kann, weil ich den Kopf nach hinten gerissen zu den staubigen Sternen hochschaue, wie ein Verrückter Ur-Laute von mir gebe. Wenn er nicht aufhört, ruiniere ich diese Hose. Und wenn er aufhört, beiße ich ihn in den Hals! Stattdessen fasst er mich unter, um mich auf seine Oberschenkel zu heben, eng zu umarmen. Er leckt dabei meine Kehle ab, als sei ich mit Zuckerguss überzogen. Ich kann den Hunger in jeder Liebkosung spüren, wie ein Fieber, das unter der Oberfläche köchelt, nicht ausbrechen darf, noch versiegelt ist. Seine Hände durchstreifen meine Haare, streicheln meinen Rücken in konzentrischen Kreisen. Ich tauche langsam mit den Fingerspitzen unter seinen Rollkragenpullover. Bevor ich auch nur eine Fingerspanne mit seiner nackten Haut in Kontakt bringen kann, hat er mich förmlich auf die Maschine hinuntergedrückt, meine Handgelenke eingefangen. Wir atmen beide schwer. Ich habe das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, der ihn wieder in seinen arktischen Panzer aus stoischer Gleichmütigkeit treibt. "Es tut mir leid!" Krächze ich hastig, zupfe an seiner offenen Lederjacke wie ein Kleinkind, damit er sich nicht von mir abwendet, wiederhole mea culpa, panisch und verwirrt. Wenn ich doch nur wüsste, wie man sich richtig verhält in diesen Dingen! Hätte ich nicht mein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, meiner Lust nachzugehen, wäre mir sicherlich aufgefallen, dass ich etwas falsch mache! Oder nicht?! Ich weiß nicht einmal, womit ich ihn beleidigt habe! Er fädelt seine Arme um mich, zieht mich hoch, küsst mich sehr sanft auf den Mund. "Sag mir, wo du wohnst. Ich bringe dich nach Hause." *~i~* Er ist gefährlich. Das wird mir klar, als ich an einer Ampel halte, eine Hand über seine auf meinem Bauchnabel gefalteten lege. Von seinem Äußeren zu schließen, diesem rebellisch-wildromantischen Traum eines psychedelischen Prinzen, hätte er leichte Kost sein müssen. So wie seine Vorgänger in ihren konservativen Schuluniformen, die darum bettelten, mit unzüchtigen Worten meine Aufwartung erflehten. ER ist unschuldig auf die bedrohlich-vertrauensvolle Art eines zwanghaften Optimisten. Möglicherweise will ich lediglich meine eigene Zaghaftigkeit begründen. Ich will ihn haben, benutzen und wegwerfen. Ich weiß, dass ich es nicht kann. Eine beängstigende Vorstellung, die ich von mir weise, mich verhärte, Schicht um Schicht. Ich werde ihn absetzen, nie mehr wiedersehen, ignorieren, seine Existenz verleugnen, die Erinnerung modellieren, bis sie nicht mehr als eine weitere, belanglose Episode ist. Profanes 'Fummeln' ohne emotionales Engagement, Triebreduktion zur physischen Reinigung. *~i~* Je enger ich mich an ihn schmiege, umso stärker wird das verstörende Gefühl, dass er verschwindet, wie Nebelschwaden aus meiner Umklammerung verdunstet, obwohl es kaum etwas Realeres geben kann als das gespannte Leder über seinen Muskeln und Knochen. Ich spüre ihn, mit jeder Faser, jedem Nerv, übersensibel. Hinter den Barrieren von Fleisch erhasche ich keinen Hauch seiner Präsenz. Ja, ich gebe zu, das ist absolut verquaster Unsinn. Nach etwas zu fahnden, das man nicht einfangen kann, ähnlich dem Versuch, einen Gedanken in ein Glas einsperren zu wollen. Aber ich habe ihn wahrgenommen, als er in seiner Nische saß!! Ohne jeden Zweifel, ganz sicher! Wenn er sich nun versteckt, kann es nur eins bedeuten: ich bin seine Gegenwart nicht wert. Ein gewaltiger Kloß formt sich in meinem Hals, lässt sich nicht schlucken, klumpt zu einem Hindernis, das meine Muskeln verkrampfen lässt, meinen Brustkorb unter dem Druck mit stechenden Schmerzen traktiert. Ich kann nicht sprechen, nicht einmal mehr richtig atmen. Ist das jetzt noch von Bedeutung?! Was ich auch zu sagen hätte, er wird es nicht hören wollen, es wird wie ein böiger Hauch ohne Spur an ihm vorübergleiten. Kaum bemerke ich den Bordstein, der von einer matten, ehemals markierten Spur zu einzelnen abgetrennten Quadern wird, als die Maschine bereits mit dumpfem Brummen in narkotische Ruhe fällt. Wie rücksichtsvoll. Wenigstens stößt er mich nicht bei voller Fahrt herunter. Bin ich ungerecht und verbittert?! Ja, es geht schnell, dieses Erwachsenwerden. Mir zittern die Knie, als ich ungeschickt herunterklettere, bemüht, mich nur kurz an ihm aufzurichten. Ich sollte etwas sagen. Ein Gentleman bedankt sich für die erwiesenen Gunstbezeigungen, verabschiedet sich höflich. Ich kann ihn nicht ansehen, starre auf meine Schuhspitzen, die Arme um mich geschlungen, als wäre die Temperatur unter den Nullpunkt gefallen. Bringe kein Wort heraus, wage nicht, mich zu räuspern, weil es unnötig Gewicht auf meine verhinderte Aussage legen könnte. Mit jedem verstreichenden Augenblick steigert sich meine Panik. »Jetzt werde ich hysterisch! Ich kann nichts dagegen tun!« Schießt es mir durch den Kopf. Ich hasse diese Hilflosigkeit, den ziellosen Schmerz und die Enttäuschung. Die Angst, mich selbst zu verlieren angesichts einer harschen Ablehnung. »Dreh dich um!« Souffliert ein fremder Choreograph. »Beende diese Farce, mach dich nicht lächerlich, sondern geh hinein!« Ich will diesen Augenblick nicht beenden, will nicht in den Abgrund treten. Nur noch einen Herzschlag lang Hoffnung hegen, nur noch ein wenig... *~i~* Es fügt mir körperlichen Schmerz zu, ihn zu beobachten, seinen verzweifelten Kampf um Stolz und Zuneigung. Ich bin überrascht, dass es mich so tief berührt, dass sich mir die Haare am ganzen Körper aufstellen, prickelnde Schauer mich frösteln lassen. Keine gespielte Szene, kein egozentrisches Drama. Nein, Kama wird seine letzten Panzerungen verlieren, verletzlich und wehrlos vor mir sein. Weil ich ihn verführt habe, seine Sehnsucht ausgenutzt, seine Unschuld besudelt mit meiner kalten Begierde. Wie könnte ich es noch unerträglicher gestalten? Einfach die Maschine anlassen und fahren, dürre Worte wie Almosen fallen lassen, mit falscher Zuversicht gespickt? Er ringt mit sich, vielleicht, um mit den sorgfältig gepflegten Manieren des Südstaatlers einen Dank hervorzubringen, sich ein Lächeln in die Züge zu pflastern, der Höflichkeit genüge zu tun. Ich kann mich nicht mehr hassen für mein Vergehen an dir, als ich es bereits tue. Eingestandenermaßen habe ich nicht mehr genug Emotionen, die ich auf mich selbst verschwenden könnte. Als er die Hand hebt, wünsche ich nahezu, er würde mich schlagen, einen geringen Ausgleich in unsere Auseinandersetzung einbringen. Seine Hände, schlank, fast feminin, umschließen meine Wangen mit erstaunlicher Kraft, bevor er mir lange in die Augen sieht. Wie es ihm gelingt, durch meine Strähnen zu dringen, ist mir ein Mysterium. Seine Lippen, die meine siegeln, nachdrücklich und aus tiefstem Herzensgrund, signieren ihre Botschaft unmissverständlich: ich bin nicht entlassen. *~i~* Ich löse mich, seinen heiß-kalten Geschmack auf den Lippen, sehe ihn ein letztes Mal an, kehre mich um, unfähig zu sprechen, halte wie ein Roboter auf Autopilot auf den Eingang zu, die vier Stufen hinauf. Meine Hände legen sich selbsttätig auf den breiten Griff, drücken die nur angelehnte Tür nach innen. Hineinschlüpfen, ohne bewusste Entscheidung nach dem Schlüssel tasten für die zweite, verstärkte Tür hinter dem einfachen Einlass, drehen, leicht anziehen am Knauf, öffnen, eine weitere, steile Flucht Stufen erklimmen... Es gelingt mir, bis zur Mitte zu steigen. Meine Kräfte verlassen mich. Ich sacke zusammen in die Hocke, kauere mich unter das Geländer an die Wand, umschlinge meine Knie, presse meine Stirn auf sie, wiege mich keuchend. Was habe ich getan?! Wieso habe ich ihn gehen lassen?! Er ist der Einzige, der mich als das gesehen hat, was ich sein möchte: begehrenswert für einen anderen Mann! Keine hübsche Puppe, kein Aufsehen erregender Kumpan, nein, ich will ein Liebhaber sein! »Stattdessen...« Ich beiße mir auf die Unterlippe, um das quälende Schluchzen zu bezwingen. Ich bin ein Häufchen Elend und Selbstmitleid. Von Stolz und Unsicherheit verführt, dem Menschen den Rücken zu kehren, der mich lehren könnte, was mir an Erfahrung gebricht! Die Beleuchtung erlischt, es wird dunkel um mich. Ein winziger, quadratischer Fleck auf den Stiegen kündet von der Straße her. Selbst die Ausnahme der Finsternis, dieser Hoffnungsschimmer, ist vergittert. Ich kann mich kaum noch regen vor Starre und Kälte, als meine Großmutter erscheint, eine alte Decke um mich schlingt und reibt und massiert und rubbelt, um meinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen. In dieser Nacht teilen wir uns ihr gewaltiges Himmelbett ohne zu sprechen, Solitäre mit verwandten Seelen. Der Schlaf lässt unsere ungeweinten Tränen verdunsten. *~i~* Kapitel 4 - Unter Druck Ich studiere die Papiere des Jungen. [Sagara Sanosuke, 16 Jahre alt] Er ist attraktiv, sportlich, gebräunt, von liebenswerter Rebellion gekleidet. Es muss mehr an diesem Jugendlichen sein! Kann man behaupten, Hajime Saitou, oder, wie er sich nun nennt, Gorou Fujita, zu kennen? Eine Anmaßung, die ich mir gestatte. Der Wolf würde sich nicht mit einem durchschnittlichen Jungen abgeben. Obgleich Hajimes Vorgehen wie eine simple, spontane Erpressung wirkt, kann ich doch abschätzen, dass mein Ex-Partner seine grauen Zellen keinen einzigen Herzschlag ohne Absichten beschäftigt. Wäre er ein Jongleur, so könnte man die Bälle nicht zählen, die er kunstvoll in der Luft hält. Wäre er eine Spinne, so würde sein Netz zweifelsohne die gesamte Erdkugel umspannen. Sammeln und Speichern von Informationen, die Kombination aus diesen Erkenntnissen: das ist es, was Hajimes Genie ausmacht. Einige Strähnen aus der Stirn des Jugendlichen gezupft bedauere ich ihn einen Augenblick. »Du hast keine Vorstellung, welche Aufmerksamkeit du auf dich gelenkt hast, Sanosuke. Der Wolf wittert persönliche Leistungsgrenzen, treibt einen mühelos und perfid über diese hinaus.« Er ist einer der wenigen Menschen, denen ich begegnet bin, die tatsächlich nach der Maxime leben und handeln, dass Persönliches nicht gleichbedeutend mit Wichtigem ist. Ich frage mich müßig, ob ich ihn ebenso unmäßig geliebt hätte, wenn er nicht eine derart außergewöhnliche Persönlichkeit an den Tag bzw. die Nacht gelegt hätte. Ich weiß es nicht zu sagen. Nur eins ist sicher: er hat mich nie getäuscht. Ich vermute stark, dass ICH ihn ent-täuscht habe. *~i~* Es ist schon drei Uhr in der Frühe, noch immer so finster, als wolle es niemals wieder licht werden. Noch keine Nachricht von Sano. Meine Finger zittern. Ich umklammere sie nicht, lasse sie beben. Ich erinnere mich wieder an den Tag, als Souzou starb und Sano nicht mehr wiederkam. Hektik, Geschrei und die feste Hand meiner Tante, ihre ruhige entschlossene Stimme. In den Albträumen danach wartete ich noch immer angstvoll auf Sanos Rückkehr, in Panik bei der Vorstellung, er könne wie Souzou einfach verschwinden. Meine letzte Konstante. Merkwürdig, dass mich diese Sorge nie bei unserer Mutter befiel. Vielleicht, weil ich mich für Sanos Wohlergehen verantwortlich fühlte, ihn zu beschützen hatte. Eine Aufgabe, die es mir verbat, meinen Ängsten nachzugeben. Ohne Sano verlor ich mich in Albträumen. Meine Schultern schmerzen von der Muskelanspannung, die mich befallen hat, meinen Körper in ein betonhartes Korsett verwandelt, einen künstlichen Panzer vor dem Schicksal. Ich weiß, dass es mir nicht gut bekommen wird, habe nicht die Kraft, mich zu dehnen und strecken, mir Zuversicht aufzuzwingen. Wenn ich Sano vermisst melde, bedeutet es Ärger, möglicherweise nur ein gelangweiltes Schulterzucken bei der aufnehmenden Polizei. Wenn ich warte, kehrt er vielleicht zurück, erklärt sich. Ich klammere mich an diese Option. Er muss einfach zurückkommen! Was soll ich ohne ihn tun?! *~i~* Fauliges Brackwasser. Ich muss es literweise getrunken haben. Zumindest plakatiert dieser ekelhafte Geschmack meinen Mund. Meine Augen sind verklebt, auch keine schöne Erfahrung. Meine Hände, die ich reibend einsetze, riechen nach Übelkeit und Schweiß. Widerlich! Blinzelnd richte ich mich auf. Die Umgebung ist mir fremd. Im Halbdunkel ist nur ein kleines Fenster zu erkennen, durch das die Straßenbeleuchtung ein schwaches Glimmen beisteuert. Die Wände sind bis zur Decke mit Schubregalen eingefasst. Dann erinnere ich mich, auch wenn der Geruch bereits aufschlussreich genug sein müsste: ich bin im Lager/Hinterzimmer eines Drugstores. Bei Souji Okita, genau, dem Verbündeten des Höllen-Cops! Der mich verschleppt und zu einem Deal erpresst hat, der mir garantiert nicht gefallen wird. Rasch finden sich Bilder ein, die mich aufstöhnen lassen. Verdammte Scheiße! "Ah, du bist aufgewacht. Wie fühlst du dich, Sanosuke?" Okita. Wieso lächelt er stets? Wie das Klischee eines servilen Asiaten. Seine Augen sind mitfühlend und traurig. Was bildet der sich ein?! Zugegeben, ich habe mich wie ein Wickelkind aufgeführt und jeder hysterischen Diva Konkurrenz bereitet. Deshalb muss man mich nicht wie ein Zuckerpüppchen behandeln!! Während wohlbekannte, wenn auch sorgsam unterdrückte Wut in mir aufsteigt, gegen ihn und die Umstände, gegen meine Dummheit natürlich auch, versuche ich eilig, das Schadenspotential auszuloten. "Wie spät ist es? Kann ich meinen Bruder anrufen? Wo ist der Wagen?" Feuere ich wie ein Schnellfeuergewehr Salve um Salve ab. Das entlockt Okita ein amüsiertes Lächeln. Er lehnt sich bequem auf dem kleinen Hocker zurück, die Arme um ein Bein geschlungen zur Balance. "Zunächst ist es kurz vor vier Uhr." Beginnt er mit seiner modulierten, sanften Stimme. "Das Telefon steht auf dem Tisch und der Wagen noch immer in meiner Auffahrt." Rasch schäle ich die dünne Decke von mir, springe auf die Beine, sacke auf den Boden, weil sich meine Knochen scheinbar in eine breiige Masse verwandelt haben, während ich eine Auszeit nahm. Ach ja, der vergiftete Drink... Mir steigt eine Welle Übelkeit hoch, als ich mich entsinne, was genau mich hierher geführt hat. Okita steht schon, gerade mal so groß wie Kenny, hilft mir auf die Füße. Verdammt, der Kerl hat Kraft! Ich murmele einen Dank, schleiche zum Telefon, einem Nostalgie-Gerät mit Wählscheibe und gewaltiger Gabel, bevor ich unsere Nummer anwähle. Kaz, geh ran! Er nimmt ab, schon beim ersten Klingeln. Ich stelle mir vor, wie er neben dem Apparat kauert. Jetzt fühle ich mich erst richtig mies. "Sano!? SANO?!" Dringt sein heiseres Krächzen an mein Ohr, noch bevor ich mich melden kann. ...verdammt... "Kaz, ich bin's, mir geht es gut und deinem Wagen auch." Ich breche ab, weiß nicht, was ich sagen soll, weil Schluchzen an mein Ohr dringt. "Wo bist du?" Bringt er nach krampfhaftem Atemringen stoßweise heraus. Ich schließe die Augen. Was soll ich sagen? Soll ich versuchen, hier rauszukommen, bevor der Psycho-Cop erneut erscheint? Wird sein Komplize mich aufzuhalten versuchen? Könnten sie ihre Drohung wahr machen? Verdammte Scheiße!! Meine Fäuste ballen sich ganz automatisch, dann registriere ich Kaz' besorgtes Krächzen, "Sano? Sano?!" Ich entschließe mich zu einer Antwort. "Kaz, ich kann noch nicht weg, aber ich komme sobald wie möglich zu dir, okay? Mach dir keine Sorgen, hörst du, ich werde dir alles erklären, ja? Bitte..." »Hör doch auf zu weinen!« Will ich flehen, weil mir sein Kummer das Herz zerreißt. Meine Kehle ist zugeschnürt vor Zorn. Ich verblödeter Idiot hätte bloß nicht an der Flasche nippen sollen! Alles wäre immer noch in Ordnung! Verdammt und zugenäht! Kaz weint an meinem Ohr. Okita beobachtet mich mit seinem Cheshire-Katzenlächeln. Ich fühle mich elend. Versteht mich richtig, ich bin nicht der abergläubische Typ, aber in diesem Moment habe ich den Eindruck, dass mein Fehler ein fataler war, nichts mehr so sein wird wie zuvor. *~i~* Man kann an seinem Gesicht unschwer erkennen, dass sein Gesprächspartner die Nachricht sehr emotional aufgenommen hat. Wird er Hajime dafür die Quittung servieren, oder sich selbst die Schuld zuweisen? Behutsam legt er den Hörer auf die Gabel, kehrt sich um, setzt sich aufrecht auf die Kante meiner Liege, nimmt mich aufs Korn. Seine großen, schokoladenbraunen Augen sind konzentriert, ernst, dunkeln merklich. Seine Haltung suggeriert mir das, was Hajime wohl sofort bemerkt hat: das ist nicht irgendein Punk aus dem Mittelstand. Der Junge kann gefährlich werden. "Wo ist dieser verdammte Cop? Wenn er seinen Deal haben will, sollten wir es schnell abwickeln." Ich zucke mit den Schultern, dehne und strecke mich, um die Müdigkeit abzuschütteln. "Er wird wiederkommen. Wo er ist oder wie man ihn erreichen kann, das weiß ich leider nicht." "Wer sind Sie? Doch kein Cop, oder?" Er belauert mich auf die misstrauische Weise eines Menschen, der bereits Erfahrung in Auseinandersetzungen mit der Polizei gemacht hat. "Nein, ich bin der Inhaber dieses Drugstores." Weise ich mit einer abgezirkelten Handbewegung auf mein kleines Reich hin. Das tut er mit einem Schnalzen ab. "Behandeln Sie mich nicht wie einen Einfaltspinsel. Der Kerl würde nicht hier auftauchen, wenn Sie ihm nicht was schulden würden. Also?" Ich zucke lässig mit den Schultern. "Ich war mal sein Partner." Bestätige ich das, was Sanosuke wohl vermutet. "Ach. Wieso haben Sie den lukrativen Bullenjob an den Nagel gehängt?" Schnarrt er in dem spöttisch-abweisenden Jargon der Straßengangs ohne in einen Slang zu verfallen. Quasi die Elite des Ghettos. Hajime hat wirklich ein erstaunliches Gespür. Wenn man den Jungen flüchtig betrachtet, gibt er den All-American-Dreamboy asiatischer Abstammung. Meinen Freund entgeht wenig, was sich hinter der kunstvollen Fassade seiner Mitmenschen verbirgt. Wahrhaftig ein Wolf, Instinkt und Intelligenz zu einer gefährlichen Mischung gepaart. Ohne mich auf seine mokierende Diktion einzulassen, knöpfe ich das weiße, steif geplättete Hemd auf, das ich stets unter den Kitteln zu tragen pflege. Eine Lichtgestalt, wie Hajime unlängst ironisch bemerkte. Diese Lichtgestalt wirft einen Schatten. Meiner präsentiert sich in Form einer gewaltigen Narbe, die mäandernd meine rechte Brustseite markiert. Seine Augen verfinstern sich. Die Brauen ziehen einen harten Strich unter der Bandana. "Wie ist das passiert?" Erkundigt er sich, ruhiger, vorsichtiger, als erwarte er eine Falle. Ich verstehe sein Misstrauen. Emotionale Erpressung ist eine der Missetaten, die stets und ständig in Benutzung ist, um durchzusetzen, was man nicht zu begründen weiß. "Eine Verkettung unglücklicher Umstände." Antworte ich leichthin, verberge meine Blöße wieder. Unglückliche Umstände, die mit einem kleinen Auftrag begangen, der wie ein winziger Kiesel eine gewaltige Lawine in Gang setze, die mich unter sich begrub. Noch immer lagern Steine auf meiner Seele. Meine Brille justiert lächle ich ihn an, weiß, dass er in meinen Augen lesen kann, warum ich Hajimes Partner war. Trotz der weißen Gewandung: kein Engel, kein Gott. *~i~* Eigentlich sollte ich mich mit meiner ausgesprochen desaströsen Lage befassen: von einem arroganten Cop erpresst, von einer eifersüchtigen Studentin fast vergiftet, klebrig, miefend und übellaunig in einem winzigen Drugstore kaserniert. Von den Sorgen um Kaz ganz zu schweigen! Doch kann ich nicht anders, als dem schmächtigen Mann mit der sanften Stimme und der gewaltigen Narbe lauschen. Er erinnert mich an Kenny. Seine Augen sind groß, klar und strahlend, ein wenig entrückt, was sich in Blitzes' Schnelle ändert, mir bedeutet, dass ich ihn besser nicht unterschätzen sollte. "Als dieser Vorfall sich ereignete, war ich mit meinem Partner, den du bereits kennengelernt hast, bei der ATF. Wir kooperierten mit dem FBI. Die Details sind nicht von Bedeutung. Entscheidend war, dass wir Dienstschluss hatten, als uns auf dem Heimweg ein Hilfeersuchen anfunkte. Ein unübersichtliches Gelände, Sprechfunk wurde gestört durch Überspannungsmasten, gleißende Sonne, glühende Schrottteile. Es war, als ob man durch eine post-apokalyptische Müllhalde patrouillierte." Während er spricht, liegt auf seinen Lippen ein amüsiertes, distanziertes Lächeln. Das irritiert mich bis zur Gänsehaut. Seine feinen, zierlichen Hände beschreiben in beredeten, doch sparsamen Gesten den Fortgang der Ereignisse. "Wir blieben zusammen, ohne genaue Kenntnis, wie viele Leute zu stellen waren, ob sie bewaffnet waren oder nicht. Als wir weiter vordrangen, entwickelte sich plötzlich ein Schussgefecht. Einer der beteiligten Agenten verwechselte eine Spiegelung auf einer der blendenden Metallflächen, jagte eine Salve in sie. Die Kugeln wurden abgelenkt, trafen mich. Auch meine kugelsichere Weste half nicht sehr viel." Vom eigenen Mann beschossen. Kein Ruhmesblatt. Er erhebt sich, beginnt damit, Tee aufzubrühen. "Als ich wieder bei Bewusstsein war, fehlten mir ein Lungenflügel, einige Liter Blut und ein wenig Fleisch auf den Rippen. Das Übliche eben." Er zwinkert mir zu. Das Grauen wird in dieser abstrakten Darstellung noch monströser. Unwillkürlich reibe ich mir die Oberarme, massiere meine Muskeln. "Natürlich bot man mir einen Arbeitsplatz im Innendienst an. Ich wollte nichts Halbherziges tun. So bin ich nun hier, folge einer neuen Bestimmung." Mich beschleicht das Gefühl, dass diese Ansprache weniger mir gilt als einem anderen Adressaten. Jemandem, der diesen Schritt nicht gebilligt hat oder sich die Beweggründe nicht anhören wollte. Vermutlich der berühmte Ex-Partner, Mr. Psycho-Cop. "Sieht nicht so aus, als hätte Ihr Partner begriffen, dass Sie nicht mehr bei der Truppe sind." Stochere ich taktlos in der Wunde. Er lässt sich Zeit, zelebriert die Teezubereitung, bevor er zwei dampfende Tassen auf dem kleinen Hocker abstellt, sich so vertraulich neben mir auf der Kante der Liege niederlässt, dass ich unwillkürlich abrücke. "Er hat sehr gut begriffen." Bemerkt er leise, nippt mit einem aufmunternden Nicken, ich solle seinem Beispiel folgen, an seiner Teetasse. "So viel Lakritz. Nur für mich." *~i~* Sanosuke ist instinktsicher, was das Ausloten von Untiefen betrifft. Meine Beziehung zu Hajime ist eine solche. Wir sind so Vieles füreinander gewesen. Einiges davon hat diese Wende in unserem Leben überstanden. Ich weiß noch immer nicht, wie Hajime tatsächlich über mich denkt. Vielleicht fürchte ich seinen Urteilsspruch auch. Vor seinen Augen zu versagen, in Ungnade zu fallen: das könnte ich nicht ertragen. Ich bewundere ihn für seine Fähigkeit, er selbst zu sein, keine Kopie, sondern ein Unikat. Ich vermisse ihn schmerzlich, meinen Liebhaber, meinen Gefährten. Sein Freund zu sein, sein Vertrauen zu genießen: manchmal ist es nicht genug. Der Verlust brennt in meinen Augen und meinem Herz, wie sich der Geruch von Lakritz in meiner Nase festsetzt. Ich weiß nicht, ob er sich die Schuld gibt. Nicht genug auf mich geachtet zu haben, mich nicht genug gefordert zu haben, nicht bemerkt zu haben, dass mir sein Instinkt abgeht. Objektiv gesprochen hätte er nichts tun können, gar nichts. Es war einfach Schicksal, Pech. Wahrscheinlich irre ich mich in meiner Annahme. Hajime ist nicht der Mensch, der sich mit Reue oder Bedauern aufhält, eine tatsächliche oder eingebildete Schuld nicht sühnt. Vielleicht ist es schlimmer. Vielleicht war dieses Unglück nur der Schlussstrich unter unsere besondere Beziehung, den wir nicht selbst setzen konnten. Seltsam, es ist schon fast drei Jahre her, noch immer kann ich meine eigenen Fragen und Zweifel nicht befriedigen. Ich bin zufrieden, manchmal sogar glücklich mit meiner neuen Existenz, befreit von der Vergangenheit mit ihren Lasten und erdrückender Verantwortung. Gleichzeitig beschämt mich der Gedanke, dass dieser fatale Fehler notwendig war, um endlich einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Möglicherweise ist es das, was Hajime vor mir verschließt: unsere Pfade verlaufen nicht mehr parallel. ICH habe den Kurs geändert, bin ausgeschert, habe ihn ziehen lassen wie einen Pfeil, der nie mehr eingeholt werden kann. Voneinander lösen können wir uns allerdings auch nicht vollständig. Er besucht mich, natürlich in Erfüllung seiner eigenen Berufung, bietet mir seine Nähe und taucht wieder ab. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, die Zweifel nicht von uns nehmen. Auch nicht für den Mann, der von einem auf den anderen Tag das Rauchen aufgab, um meine Lunge zu schonen. *~i~* Die Akten über Sagara zusammenzuführen stellt sich zeitaufwändiger dar, als ich erwartet habe. Obgleich ich ihn als einen geborenen Magneten von Schwierigkeiten eingestuft habe, Marke Troublemaker. ICH bin vom Stamm Peacekeeper, sodass mich seine schillernde Vergangenheit nicht beunruhigt. Im Gegenteil, sie fügt sich hervorragend in das kleine Szenario, das ich entworfen habe. Die Fäden sind gezogen, die Figuren geraten in Bewegung. Es gilt ab sofort, die Dynamik zu studieren, den gewünschten Effekt anzusteuern. Eine einzigartige Gelegenheit, einen wuchtigen Schlag gegen die Waffenhändler und kriminellen Vereinigungen zu führen. Besonders, da aufgrund der Feiertagsdichte das Kollegium meines Teams nicht im Dienst ist. Ich bin kein Teamplayer, wenn ich Zweifel an den Fähigkeiten eines Teams hegen muss. Das TUE ich. Soll etwas getan werden, ist es zweckmäßig, es selbst zu erledigen. Die Rechtfertigungen lege ich mir nach erfolgreichem Abschluss zurecht. Das ist ohnehin nur ein Feigenblatt für die bürokratischen Absteiger lobbyistischer Vertreter, die man 'eingepflanzt' hat, um jahrelanges Klinkenputzen zu belohnen. Während ich meinen Van durch den spärlichen Verkehr lenke, der in den Außenbezirk gleitet, erwäge ich die Wahrscheinlichkeiten, dass Souji aus dem Nähkästchen geplaudert hat. Vielmehr aus der Büchse der Pandora, will man unserer Vita gerecht werden. Seine Gesellschaft ist mir eine ärgerliche Qual. Ich sehe seine Entwicklung, von meinem Partner zu diesem Gespenst in lichtem Weiß, mit diesem friedlichen Lächeln. Es widert mich an. Es ist nicht zu ertragen, dass er sich für den Durchschnitt entschieden hat, das Mittelmaß, die lähmende Kleinbürgerlichkeit eines Außenbezirks. Für die andere Seite. Die Disziplinlosigkeit meinerseits, seine Entscheidung nicht annehmen zu können, mich an Sentimentalität zu stören: sie ist mir ein Gräuel. Ich hatte eigentlich eine höhere Erwartung an mich, sehe mich nun mit lächerlichen Trotzgefühlen gestraft, wie ein Kleinkind, das keine Einsicht in die Realität zeigen will. Beschämend und überflüssig. Höchste Zeit, Sagara zu konditionieren und die Jagd zu eröffnen. *~i~* Keine Ahnung, wie der Psycho-Cop das angestellt hat. Urplötzlich, von einem Wimpernschlag zum nächsten, steht er im Hinterzimmer. Jetzt erst realisiere ich das wahre Ausmaß seiner unerfreulichen Erscheinung: hochgewachsen, eher sehnig als schlank, hageres Gesicht mit ebenholzschwarzen, zurückgeklebten Haaren, vier widerspenstige Strähnen wie Narbenschatten über dem Gesicht, das nicht nur aufgrund der Bernsteinaugen fatal an einen Wolf erinnert. Seine Bewegungen sind lautlos, geschmeidig. Selbst der dunkle, matte Stoff von Anzug und Halbmantel gibt kein Geräusch von sich. "Zum Geschäft." Knurrt er guttural, ohne Begrüßung, spießt mich förmlich auf. Bei dem Gedanken, eine Partnerschaft mit diesem unheimlichen Freak einzugehen, schüttelt es mich unkontrolliert. Diese beiden Männer waren Partner und noch mehr?! Vielleicht ist es eine Missinterpretation des wehmütigen Glimmens in Okitas Augen. Ich bin versucht, dieses Unglaubliche anzunehmen: dass irgendjemand verrückt genug sein könnte, mit diesem gefühlskalten Raubtier eine Beziehung einzugehen. Selbst wenn es sich um die Liebe- oder Hass-Option handelt: kann man diesen Kerl überhaupt lieben?! "Sagara!" Ätzt er harsch. Ich schrecke zusammen. Wie beschämend, in Spekulationen zu verfallen, während der unheimliche Bulle mich beobachtet! "Von heute an wirst du Ohren und Augen offen halten und mir alles berichten, was sich in deiner Gemeinde und auf deiner Schule tut, verstanden? Keine Ausreden, sonst findet sich deine nächtliche Eskapade in den Akten des Vormundschaftsgerichts wieder." Unwillkürlich fauche ich ein "Scheißkerl" heraus. Der normale Reflex auf jede Art von Einschränkung oder Drohung. Was den notorischen Psycho-Cop kaltlässt. "Ich kontaktiere dich. Verrätst du unsere Abmachung, betrügst du mich, warnst du Delinquenten: ich sorge dafür, dass du bis zur Volljährigkeit in einer geschlossenen Jugendanstalt Nummernschilder stanzt." Ist das nicht herzallerliebst?! Anstatt an mein Verantwortungsgefühl als Bürger zu appellieren, zückt dieser Drecksack gleich die Peitsche! "Sie tragen verdammt noch mal nicht dazu bei, das Ansehen der Polizei bei den Menschen zu fördern!" Fauche ich verärgert, konzentriere mich auf die vier starrsinnigen Strähnen, um nicht in die Wolfsaugen sehen zu müssen. Er verzieht die schmalen Lippen zu einem boshaften, arroganten Lächeln. "Ich glaube kaum, dass die Meinung eines kleinen, hitzköpfigen Streithahns, der sich kleidet wie ein Lumpensammler, von irgendeinem Interesse ist." Bescheinigt er mir süffisant, macht kehrt, löst sich auf. Allerdings definitiv nicht in Wohlgefallen!! Was für ein Wichser!! Wer gibt ihm das Recht, mich so zu behandeln?! Er ist selbst nicht mehr als ein blöder, plattfüßiger, hässlicher Cop, sozusagen die Darmspülung dieser verkorksten Gesellschaft! Wie kommt er dazu, auf andere mit dem Finger zu zeigen?! Ich wende mich Okita zu, der stumm und erschöpft unserer 'Unterhaltung' gelauscht hat. "Damit bin ich entlassen, oder wie?" Mit einem müden Lächeln kommt er auf die Beine, gestikuliert, ich solle ihm zum Hinterausgang folgen. "Ich fahre dich nach Hause, Sanosuke." Kündigt er leise an, resigniert. Allerdings bin ich nicht sicher, von welchem Schauplatz er sich zurückgezogen hat. *~i~* Mein Kopf fühlt sich leicht an, irgendwie losgelöst. Das beruht vermutlich auf dem übermäßigen Konsum von koffeinierter Cola. Habe ich eine Überdosis Zucker zu verarbeiten? Ich kann es nicht über mich bringen, auf mein Bett zu sinken oder die Couch. Stattdessen kauere ich in der Fensternische, fixiere meine verklebten Augen auf die Straße. Die Straße, die einen entscheidenden Makel hat: das Tor im Erdgeschoss ist offen, wartet auf meinen Mustang, meine wilde Lady und meinen kleinen Bruder. Er wird zurückkommen. Er hat es mir versprochen. Danach werde ich endlich beruhigt schlafen können. Nicht mehr auf und nieder wippen, umherschreiten, Melodiefetzen summen... Warten auf Sano ist eine hyperaktive Angelegenheit, zumindest, was mich betrifft. Es kommt einem Trugbild gleich, als mein Mustang die Straße hinabgleitet, vor dem Haus hält. Ich kann mich kaum rühren, bewege mich in Zeitlupe, verzögert, als befände ich mich unter Wasser. Stimmen verschwimmen zu einem unverständlichen Brei. Mein Blick wird unscharf. Jemand hat Sano nach Hause gebracht. Als seine hochgewachsene Gestalt mit dem unverkennbaren Hahnenkamm aus den Schemen heraussticht, die meine Augen mühsam ausfiltern, falle ich in seine Arme. Jetzt wird alles gut. *~i~* Okita steht wie ein braver Oberschüler neben mir, als ich den Lastenaufzug öffne, der uns in den ersten Stock, unsere Wohnung, befördert. Nur noch ein Taxi rufen! Danach bin ich diesen seltsamen Ex-Cop los mit seinem unheimlichen Lächeln! Kaz taumelt mir entgegen, fahl-bleich, die Augen aufgerissen, wie unter Schock, brabbelt Unverständliches, bevor er gegen mich sinkt, kurzerhand jede Betriebstätigkeit einstellt: er wird ohnmächtig. Nicht zu fassen! Allerdings nur metaphorisch. Tatsächlich habe ich meinen Bruder unter den Achseln gut im Griff. Okita springt mir unaufgefordert zur Hilfe, sodass wir Kaz auf der Couch ablegen können. "Das sind vermutlich die Übermüdung und die Aufregung." Okita zählt bereits Pulsschläge, während ich Kaz' Schopf streichele, mich elend fühle. Ich habe noch nie erlebt, dass mein souveräner, stets gelassener Bruder derart gründlich die Kontrolle verliert. Es macht mir Angst. Natürlich ist es schmeichelhaft, wenn man einem anderen Menschen so viel bedeutet. Die Verantwortung lastet schwer. Ich traue mir nicht zu, dem unruhigen Geist unserer Mutter vollends zu entsagen. Das ist im Augenblick zweitrangig. Nachdem Okita per Taxi entschwunden ist, zurück in die Hölle, aus der er und sein 'sauberer' Partner gekrochen sind, schaffe ich Kaz in sein Bett, mache es mir neben ihm bequem, halte ihn in meinen Armen, bis die Erschöpfung den Sieg davonträgt, er fest einschläft. Wenn er aufwacht, werde ich ihm die Wahrheit erzählen müssen. *~i~* Es ist das erste Mal in diesem Schuljahr, dass ich die ersten Stunden verpasse oder vielmehr den gesamten Vormittagsunterricht. Das bekümmert mich nicht sonderlich, da ich ohnehin andere Gedanken wälze. Während Kaz noch in tiefem Schlummer komatös darniederliegt, sorge ich für den Brunch. Außerdem denkt es sich mit friedlich gestimmtem Magen leichter. Der Kaffee tropft munter in die Kanne. Orangensaft wartet neben dem gekochten Ei, dazu Toast, Erdnussbutter, Cornflakes, Marmelade und Honig: ein Frühstück für Helden. Ein wohliges Gefühl beschleicht mich, ich umarme es grinsend: mir macht dieser kleine Exkurs in Haushaltstätigkeiten Freude. Wenn man eine sehr lange Zeit damit aufgewachsen ist, im Spurt irgendwelche Nahrungsmittelreste, die man sich erkämpft hat, zu verschlingen und dabei kalkuliert, ob es wohl eine Chance auf ein Mittagessen gibt, weiß man diesen Luxus zu schätzen. Ich will damit nicht behaupten, dass in den Heimen nicht gut für mich gesorgt wurde. Es sind eben immer zu viele Mäuler zu stopfen und zu wenige Erwachsene, sodass das Gesetz des Dschungels herrscht. Summend beschäftige ich mich damit, die Wartezeit bis zum endgültigen Durchlauf des Kaffees zu überbrücken, indem ich die Topfpflanzen gieße, die Kaz nach und nach arrangiert hat. Vom Gummibaum bis zum Kräutertopf findet sich in seiner kleinen Sammlung einiges Eigenartige. Die 'grünen Kumpels' tragen viel zum Raumklima bei, heben die Stimmung. Zumindest meine, wenn ich Kaz beim Dialog mit ihnen belausche. Schlurfend-schlappende Sohlen nähern sich. Mein Bruder umarmt mich fest. Seine schulterlangen, glatten Haare gleiten über meine linke Schulter, während er konzentriert atmet. "Es tut mir leid, Kaz." Wiederhole ich betroffen, streichle über seine Hände und bloßen Arme, die mich umschlungen halten, als könne ich jeden Augenblick entwischen. Er schweigt. Noch immer wärmt mich sein steter Atem auf meiner linken Schulter. Ich taste über seine schlanken Handgelenke zu seinen Fingern, löse die Umklammerung sanft, um mich umzudrehen, in sein fahles, ermattetes Gesicht zu sehen. Seine tiefschwarzen Augen sind von dunklen Ringen eingekreist wie ein Stummfilmstar, auf mich jedoch wirkt er wie ein Gespenst, ein Schatten seiner selbst. Unwillkürlich hebe ich die Hände, streiche über seine Wangen, als könne ich Leben und Farbe in diese zaubern, suche nach scherzenden Worten, um ihn abzulenken, aufzumuntern. "Hey, Kaz, großer Bruder, ich bin hier! Alles ist wieder in Ordnung. Ich kann es sogar erklären!" Füge ich mit einem schiefen Grinsen hinzu. Er blinzelt nicht einmal. Was bleibt, als die Hände fest auf seine Schultern zu legen, ihn Richtung Frühstückstafel zu dirigieren? Kaz sinkt artig auf seinem Stuhl nieder, registriert meine hauswirtschaftlichen Anstrengungen nicht. Er wirkt geistesabwesend, obwohl ich überzeugt bin, dass er wach ist. Eine bedrückende Atmosphäre, die mich postwendend aufstachelt, meine Energie herausfordert. "Trink erst mal einen Kaffee, Kaz. Hier, ein Toast mit Honig. Ich erzähle dir inzwischen, was gestern so passiert ist." Verkünde ich betont launig mit gefülltem Mund. Nicht, weil ich Manieren für Glückssache halte, sondern aus der Überzeugung heraus, dass die saloppe Vorgehensweise Kaz am Besten auftauen lässt. Ich schildere meinen Werdegang, vom aussichtsreichen Balztanz um eine hübsche Blondine, den dämlichen Schluck aus der falschen Pulle, den Zug durch das Straßenbegleitgrün, tendenziell eher horizontal, die Bekanntschaft mit dem Psycho-Cop, die Entführung in den Drugstore des Ex-Kumpans und Kupferstechers des irren Drecksacks und schließlich als vorläufiger Höhepunkt, den Showdown. Natürlich versuche ich, den Handel mit diesem arroganten Stinkstiefel Fujita dezent auszublenden. Allerdings gehört Kaz nicht zum Trupp der geistig Unterbelichteten. Seine Augenbrauen zucken konzentriert, während er an seinem Toast knabbert, mir aufmerksam lauscht. Sie gewinnen wieder an Glanz. "Wie geht es jetzt weiter?" Stellt er die entscheidende Frage. *~i~* Eigentlich hatte ich erwartet, dass Sano die ganze Angelegenheit herunterspielt. Mit einem verschwörerischen Schulterzucken und munteren Scherzen übergeht, dass ich mich so habe gehen lassen. Beinahe wünschte ich, er würde es tun. Nicht, weil ich mich meiner Sorge um ihn schäme, nein, der Knackpunkt verbirgt sich an anderer Stelle: Sano ist bemerkenswert ruhig. Üblicherweise wirbelt er umher, ein viriler, quecksilbriger Typ, schier berstend vor unbändiger Energie. Nun sitzt er mir gegenüber, gelassen, selbstsicher und hellwach. Wenn mich nicht alles trügt, gefällt es ihm, von diesem merkwürdigen Polizisten engagiert worden zu sein. Nicht etwa die Umstände oder die Konditionen: nein, es fokussiert sich auf die Aufgabe, von der er selbst präzise Vorstellungen hat. Konzentriert entwirft er ein Bild vor mir, das sich aus seinen Vermutungen gründet, ein schlüssiges Schema, das mich keineswegs beruhigt. Wenn Fujita weiterhin, wie sein Ex-Partner Okita andeutete, bei der ATF ist, also der Behörde, die gegen Waffen, Alkohol und Tabak vorgeht, gilt sein Interesse wohl der aufstrebenden Gang, die das Viertel zu unterwandern sucht. Verblüfft lausche ich seinen Ausführungen zum Drogenhandel, den Spitznamen der einzelnen bekannten Bandenmitglieder, ihren Absichten und möglichen Berührungspunkten. Ich kann nicht glauben, dass er aus dem Stehgreif eine Expertise zu Drogenmissbrauch an seiner Highschool liefert. Meine Erfahrungen auf diesem Gebiet rekrutieren sich ausschließlich auf 'Hörensagen'. Ist mir so viel entgangen, während ich mit Lernen abgelenkt war? "Ich will nicht, dass du dich mit diesen Leuten einlässt." Stelle ich kategorisch fest. Cornflakes schaufelnd zwinkert mir Sano zu. "Das wird ohnehin kaum zu bewerkstelligen sein." Spült er die gewaltige Ladung Trockenfutter hinunter. "Niemand würde MIR abnehmen, dass ich mich plötzlich für Drogen interessiere. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten." Mir behagt das Leuchten in seinen großen Augen gar nicht. "Warum lassen wir es nicht darauf ankommen? Vielleicht vergisst dieser Fujita die Sache?" Er bedenkt mich mit einem langen, ernsten Blick. "Keine Chance, Kaz. Der Typ ist ein humorloser Freak. Du müssest ihn sehen: der hat etwas richtig Archaisch-Animalisches an sich." "Ein Neandertaler?" Rate ich irritiert. Sano schnaubt. "Nein, eher die Kategorie Tyrannosaurus Rex. Du erinnerst dich, das Vieh mit den Zähnen so lang wie mein Unterarm?" Ich seufze, rühre Zucker in meinen Kaffee. Endorphine wären jetzt gut. "Gibt es keine Alternative? Ich will nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst nur wegen dieses verdrehten Cops." Hadere ich mich dem Schicksal. Feixend präsentiert mir Sano sein Gebiss. "Hey, Kaz, ich bin Schwierigkeiten in Person, also geboren für diesen Job!" Eine Grimasse verunglückt auf meinem Gesicht. *~i~* Unsere Fahrt verläuft ungewohnt schweigend, als mich Kaz vor meiner Schule absetzt. Wir hängen beide unseren Gedanken nach. Auch wenn es Kaz nicht gefällt: ich gedenke, mein Wort zu halten, dem Lakritz fressenden Saurier Informationen zu liefern. Dass an unserer Schule die Varianz von Drogen erhältlich ist, verwundert mich nicht weiter. Tatsächlich gibt es nicht so viele Unterschiede zwischen einer Brennpunkt-Highschool und einer der Mittelklasse, wie man gewöhnlich annimmt. Die Gesetze der Marktwirtschaft gelten schließlich überall, Angebot und Nachfrage. Versteht mich nicht falsch, ich halte nichts von Drogen, ich bestimme meine Laune lieber selbst. Zudem bin ich Leistungssportler, darauf stolz, alles aus eigener Kraft zu bewältigen. Kein Anabolika-Steroide-Fresser! Was mich ins Grübeln bringt, ist Fujitas 'Club', die ATF. Das bedeutet, dass irgendwo Waffen im Spiel sind. Dieser Gedanke ist beängstigend. Allerdings muss ich meine Aufmerksamkeit zunächst mal auf meine Mitschüler fokussieren, die mich begrüßen, nach meinem Verbleib fragen. "Na ja, auf der Pirsch vergisst man schon mal die Zeit." Prahle ich brünftig. Die sicherste Methode, ein paar Lacher zu ernten, das Thema einzumotten. Einige Meter vor mir im Gang entdecke ich Kama, heute mit kariertem Hemd, dessen Zipfel wie ein Minirock unter seinem dicken Pullover herausragen, darunter hautenge Stretch-Jeans mit dekorativen Rissen und Fransenbesatz kombiniert mit halbhohen Cowboystiefeln und einem partiellen Dutt, aus dem Stifte und ein Lineal staken. Dieser Junge ist ein Phänomen. "Hey, Kama!" Rufe ich hinter ihm her, dränge mich grinsend durch den dichten Verkehr der Jugendlichen, hake mich einfach bei ihm unter. Er sieht kurz zu mir hoch, starrt weiter auf seine spitzen Stiefelenden, die Hände in den Hosentaschen versenkt, die Schultern hochgezogen. Klasse, noch ein Fall von Depressionen! "Ich habe gehört, du hast mit Aoshi nach mir gesucht gestern Nacht?" Plaudere ich unbeeindruckt weiter, schiebe Kama die Treppe hoch, Richtung Labortrakt. Er brummt etwas Unverständliches. Das reizt mich, einen Scheit nachzulegen, das Feuer wieder anzufachen. "Wie lief es mit dem Zombie? Fährt eine ultra-coole Maschine, findest du nicht?" Kama stoppt mitten in unserem kombinierten Lauf, baut sich vor mir auf, die Haselnussaugen ernst und leicht entzündet. "Sano, lass bitte den Smalltalk. Wenn du mir erzählst, was gestern wirklich passiert ist, werde ich über Aoshi sprechen. Verzeih meine Grobheit, mir ist heute nicht nach Kurzweil." Knrssschhhh. Meine Kiefer, die zuschnappen, sich verkeilen. Ich lasse wohl nach. Selbst Kama zieht sich lieber von mir zurück? Es schrillt durchdringend nach Sklavenfron. Ich verbringe die nächste Stunde in physikalischer Ahnungslosigkeit. *~i~* Zwischen den Kursen, die mich beschäftigen sollten, verabsentiere ich mich in die Bibliothek, um dort bei den Mikrofiche zu recherchieren. Alles über Drogen, die Behörden, Strafmaß bei Verkehrsverstößen und Hintergründe über die ATF: die Ausbeute ist nicht sonderlich ermutigend. Wenn ich doch nur etwas über diese beiden Agenten herausfinden könnte!! *~i~* Ich lasse mich auf der kleinen Tribüne nieder, verfolge das halbherzige Training der Footballmannschaft, während ich im Geiste die Kontakte durchgehe, von denen ich mir Chancen verspreche, mit 'Mummy's Leuten in Verbindung zu treten. Kein Zweifel, dass der Psycho-Cop auf Yumis verrückten Liebhaber abzielt. Zumindest ist er der einzige Irre in Reichweite, der versucht, das Viertel zu erobern. Gesehen habe ich Mak 'The Mummy' Shishio noch nie. Was man von ihm hört, ist allerdings wenig erfreulich: ein totaler Paranoiker, paramilitärische Erfahrung, pervers und gewalttätig, dazu extrem gerissen. Laut Gerüchten hat er eine absolut saubere Weste, keine einzige Vorstrafe, nicht mal eine Verwarnung. Selbst jemand wie 'Mummy' benötigt Leute, die sich auskennen. Wen könnte er aus der Schulgemeinde rekrutiert haben? Wie könnte ich mich für sie interessant machen? Während ich im Geiste eine Liste erstelle, setzt sich Kama eine Reihe tiefer vor mir auf die Bank, lehnt sich zurück, sodass ich die Arme um seine Schultern schlingen kann. "Alles okay mit dir, Kama?" Dieses Mal verstecke ich mich nicht hinter meiner jovialen Maske. "Nicht wirklich." Seufzt er leise. Seine langen Strähnen wehen in der Abendbrise auf. "Warum hast du mit mir getanzt?" Schreckt er mich nach einer Schweigeminute auf, so leise, dass ich ihn bitten muss, seine Frage zu wiederholen. "Tja, warum?" Sinniere ich laut. "Du bist gelenkig, sehr sexy, du hast Humor und ich dachte einfach, es wäre eine Gaudi." Bilanziere ich meine spärlichen Erwägungen schulterzuckend. "Dir ist aber bewusst, dass Männer, die mit Männern tanzen, einen ganz bestimmten Ruf haben, oder?" Lässt er nicht locker, legt den Kopf weit in den Nacken, um in meine Augen sehen zu können. "Ich tanze, mit wem ich will. Was andere denken, ist mir schnuppe! Soll ich vielleicht vorher einen Gesinnungstest durchführen, oder wie?!" Ich belauere sein regloses Gesicht angespannt. "Moment mal, Kama, hat dich etwa jemand deswegen angegangen?! Wer?!" Tatkräftig schlage ich meine geballten Fäuste gegeneinander. Na warte, wenn hier einer diskriminiert, stopfe ich das Loch in seinem Schädel. "Darum geht es nicht, Sano." Winkt Kama müde ab, richtet sich enger in meinen Armen ein. "Ah nein?" Brumme ich konfus. Auf was zielt er ab? *~i~* Ich hadere mit mir, unentschlossen, ob ich mich wirklich Sano anvertrauen soll, oder doch lieber meine Unzulänglichkeiten und Zweifel mit mir selbst ausmache. Vielleicht wäre es ihm unangenehm, über Gefühle und Schwächen zu sprechen, sich meine Probleme anzuhören. Dennoch würde ich gern mit jemandem reden, der Konfusion systematisch zuleibe rücken. Das ist natürlich nicht 'cool', aber in diese Sparte werde ich wohl nie fallen. "Kama?" Sano fasst in ruhigen Gesten meine Haare zusammen, streicht besorgt durch die Strähnen, die ich nicht auf den Kopf gesteckt habe. Meine Lider senken sich schwerfällig herab, wie ein stotternder Rollladen. Die Versuchung ist groß, zwischen seinen aufgestellten Beinen, seine Arme um meine Schultern gelegt, einzuschlafen. Mich fallen zu lassen, vorzugeben, im Dämmerzustand zu sprechen, meiner Verzweiflung die Not zu nehmen. Leichthin etwas auszuspinnen. Sano wird sich kaum derart simpel hinter das Licht führen lassen. "Willst du wissen, was gestern Nacht passiert ist?" Dringt seine warme Stimme sonor an mein Ohr. Er lehnt tief über mir. Sein Atem wärmt mein Gesicht wie eine freundliche Brise. "Erzähl es mir." Hauche ich matt. Ein Aufschub, der mir Zeit gewährt, meine Entscheidung zu treffen. "Als ich zum Tisch zurückkam, war niemand da. Ich habe kurzerhand aus einer der Flaschen etwas getrunken, bevor ich mich wieder in den Trubel gestürzt habe." Sano klingt verändert, selbstironisch, obgleich mir noch nicht begreiflich ist, worin der bittere Scherz dieser Situation gelegen haben mochte. "Nach kurzer Zeit wurde mir furchtbar schlecht. Da ich nicht vor allen Leuten mein Abendessen auf den Teppich legen wollte, bin ich nach draußen, habe es gerade noch bis zu Kaz' Mustang geschafft. Es wurde aber immer schlimmer, also habe ich mich rein gesetzt und gedacht, wenn alle Stricke reißen, haue ich auf die Hupe, blinke SOS. Dummerweise tauchte ein Cop in Zivil auf und wollte mich festnehmen wegen Drogen am Steuer, oder so ähnlich." Das genügt, mich aufzuschrecken. Ich winde mich widerwillig aus meiner geborgenen Lage, drehe mich herum, sehe Sano in seine schokoladenbraunen Augen. Die blicken mir ernst entgegen. Eigentlich ein Widerspruch, allerdings entsprechend Sanos optimistischer Grundeinstellung nur natürlich. Er bläst feixend einige Strähnen hoch, die tief über der Bandana in seine Sicht ragen. "Der Typ war ein echter Freak. Als ich so vor mich hin würgte, machte er mir das Angebot, er würde mir Hilfe holen, wenn ich für ihn arbeite, als Informant. Die Alternative bestand darin, dass er mich zum nächsten Revier schleift, mir dort eine Anzeige verpasst." Stand Sano nicht unter der Aufsicht des Vormundschaftsgerichts? Sorgenvoll drücke ich meine Fingerkuppen in seine Knie, mustere ihn bang, von sehr egoistischen Motiven überschwemmt: wenn Sano die Schule hier verlassen muss, werde ich vollkommen allein sein! "Keine Sorge." Er wischt neckend durch meinen Pony, als könne nichts auf dieser Welt einen Sanosuke Sagara aufhalten. "Ich habe mit dem Psycho-Cop die Abmachung getroffen, ihm ein paar Hinweise zuzuspielen." "Über wen?" Platze ich heraus, stemme mich hoch, um neben ihm Platz zu nehmen. "Ich vermute, er wird sich für die Mummy-Bande interessieren." Sein Blick reicht weit über das Spielfeld heraus, voller Konzentration und Entschlossenheit. Von dieser Person habe ich flüchtig sprechen hören, und zwar nichts Gutes, sodass mir Sanos Engagement Sorgen bereitet. "Was hast du vor? Gibt es hier Leute, die zu dieser Gang gehören?" Wispere ich unruhig, ziehe unwillkürlich die Schultern hoch. Sano dreht den Kopf, lächelt mir aufmunternd zu. "Es wird nicht reichen, einfach jemanden anzuhauen, um die Dinge zu erfahren, die den Mistkerl interessieren. Nein." Er richtet sich auf, schiebt die Hände in die ausgefransten hinteren Hosentaschen, kreist mit den Schultern. "Ich muss mich anbieten." "Was?!" Bricht es aus mir heraus. "Du willst in die Bande einsteigen? Das kannst du nicht machen, Sano! Sie werden dich zu Straftaten zwingen!" "Und Drogen schaden meiner Gesundheit." Konterkariert Sano mit spottendem Tonfall meinen Ausruf, der zugegebenermaßen wie eines dieser lächerlichen Plakate in den Schulfluren belehrt. Sein Blick schweift wieder in die Ferne. Ein absichtsvolles, gefährliches Lächeln umspielt seine Lippen. "Ich denke, einen Streetfighter würden sie nicht ablehnen. Wenn ich meine Karten richtig ausspiele." Den Kopf schüttelnd versuche ich, diesen Gedanken abzuwehren. Als könne meine Verweigerung, ihn zu akzeptieren, Sano von der Realisierung seines Vorhabens abhalten! "Weiß dein Bruder davon?" Ziehe ich mich am letzten Strohhalm hoch. Sano zerstört meine fragile Hoffnung sofort, nickt knapp. "Natürlich ist er dagegen. Die Alternative besteht darin, dass der Mistkerl die Anzeige erstattet. Man wird uns voneinander trennen. Das lasse ich nicht zu!" In diesem Augenblick zeigt mir Sano die Seite, die er geschickt zu verbergen sucht: die angespannten Muskeln, die alerte, gefährliche Kampfbereitschaft eines zu allem entschlossenen Mannes. Er wirkt älter, gerissen, kaltblütig und ruhig. Wie jemand, der die Konsequenzen seines Tuns überblicken kann, aus Erfahrungen schöpft. Mir wird bewusst, wie wenig ich über Sano, meinen besten Freund, weiß. Aus einem Impuls heraus fasse ich nach seinen geballten Fäusten, erzwinge seine Aufmerksamkeit, halb vor ihm kniend, weil die Bänke so schmal sind. "Sano, bitte sei vorsichtig, okay? Geh keine Risiken ein! Ich will nicht, dass dir was passiert!" Bedränge ich ihn, schäme mich für meine selbstsüchtigen Hintergedanken. Er bemerkt seine eigene Anspannung, schüttelt sie mit einem tadelnden Grinsen ab, kneift ein Auge zu, um mich zu mustern. "Also wirklich, Kama, hast du gar kein Vertrauen in mich? Ich schaffe das schon!" "Ich werde dich unterstützen!" Verspreche ich ernst, um meine Schuldgefühle zu lindern, auch wenn ich gewisse Zweifel hege, dass ich von Nutzen sein könnte. "Danke." Raunt er verschwörerisch. Er setzt seinen Verführerblick auf, um mit einem Wimpernschlag wieder in den gutgelaunten Sano umzuschalten. Wer ist er wohl wirklich, hinter den Masken? *~i~* Es ist richtig nett, dass Kama sich um mich sorgt, obwohl ich seine Bestürzung beunruhigend finde. Vielleicht liegt es aber auch an den Ereignissen der letzten Nacht, dass er seine gewohnte, höfliche Gelassenheit verloren hat. Dabei fällt mir ein, dass ich noch gar nicht in Erfahrung gebracht habe, wie es ihm mit Aoshi ergangen ist! »Typisch Sano!« Würde Kaz wohl sagen. »Kreist ständig um sich selbst.« Hey, ich arbeite an mir! Da es kühl wird, das Training endet, fasse ich Kama an der Hand, um ihm von der Bank zu helfen, gehe voraus zu den Stiegen. "Und, wie war DEIN Abend gestern?" Erkundige ich mich betont locker, drehe mich nicht um, damit eventuelle Verlegenheit nicht sofort aufkommt. Schließlich muss sich etwas ereignet haben, das auch Kama aus der Ruhe gebracht hat! Während wir nebeneinander vom Schulgelände schlendern, ich meinen Rucksack lässig über eine Schulter geworfen, er eine Umhängetasche über der rechten Schulter balancierend, verwickeln sich unsere Finger, bis sie ineinander verschränkt innehalten. Ich höre Kama leise lachen, drehe mich zu ihm um, neugierig, was seine so gedrückte Stimmung gehoben haben könnte. Mit der freien Hand streicht er einige herumfliegende Strähnen aus seinem Gesicht, lächelt spitzbübisch. "Weißt du, dass du der einzige Junge bist, mit dem ich Händchen halte?" Provoziert er mich mit gespielt schmachtendem Blick. Was ich mit einem breiten Grinsen kommentiere. "Ich schätze, ich bin auch der Einzige, mit dem du tanzt." Gebe ich prahlerisch zurück, blase meine Brust wie ein Gockel auf. Also macht es ihm zu schaffen, wie man ihn behandelt oder schneidet. Was vermutlich die meisten tun. Allerdings halte ich nichts davon, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Kama hat sich in seiner nicht gerade liberalen Heimatstadt zu einem warmherzigen, vertrauensvollen Menschen gemausert. Unterstützung würde wie Bevormundung wirken. Außerdem, ungeachtet der äußeren Erscheinung, sind wir beide Männer, Männer der Tat. Jawoll! Während ich noch den Kopf über diese dämliche John Wayne-Parodie schüttle, erreichen wir die Barrieren, die das Schulgelände von der Straße trennen, lehnen uns an sie an. Kaz wird mich abholen. Ehrensache, dass Kama uns begleitet. "Ich habe mir vorgestellt, dass es hier in der Stadt leichter wird, meine Umgebung mit mir in Einklang zu bringen." Beginnt er leise, den Kopf in den Nacken gelegt, sodass die langen, losen Strähnen über seinen Hintern spielen, sinniert versonnen. "So langsam wächst in mir der Verdacht, dass ich mich getäuscht habe. Vielleicht passe ich nicht an einen bestimmten Ort." "Aber bestimmt zu einem besonderen Menschen." Ergänze ich nachdrücklich, schlage meine Faust in die offene Hand. "Komm schon, Kama, es macht mich ganz kribbelig, wenn du so niedergeschlagen bist! Wir sind ein Team, schon vergessen?! Und Trauerklößchen ist nicht angesagt!" Trample ich elefantös im Porzellanladen, absichtlich und ungeniert. Kama reagiert glücklicherweise wie von mir erhofft: er lacht. Eine dunkle, samtige Kaskade, die nichts Gezwungenes an sich hat. Er lächelt mir verschmitzt zu. "So sei es, großer Bruder Sano!" Er tippt vorwitzig auf meine Nasenspitze. "Erzähl mir doch mal, wie das mit dieser Flasche gestern Abend war." Umpf, das hätte ich eigentlich kommen sehen sollen! Er dreht eine dunkelbraune Strähne um einen Finger, zwinkert mir erwartungsvoll zu, mit der Gewissheit, dass er mich in die Do or die-Ecke manövriert hat. Und zwar unter meiner tätigen Mithilfe! Ich lehne mich mit beiden Ellen schwer auf den Querholm der Barriere, starre in die kleine Oase 'Straßenbegleitgrüns', die die Zufahrt zum Schulgelände von der Straße abtrennt. "So, wie es mir dieser verdrehte Ex-Cop erklärt hat, handelt es sich vermutlich, das heißt, nach den Reaktionen zu urteilen, um eine Kombination aus Mitteln gegen zu niedrigen Blutdruck und Verstopfung. Oder so ähnlich." Meine Stirn mit dem Handballen reibend versuche ich, die Situation herunterzuspielen. "Er sagt, so was passiert bei Mädels häufiger. Wollen schlank bleiben, haben einen schwachen Kreislauf, kippen beides runter, wumms! Tada! Liegen sie mit Schaum vorm Maul wie ein tollwütiger Köter flach." Ich drehe mich, versuche seinen Gesichtsausdruck zu erhaschen, der sehr besorgt wird. Die feinen Augenbrauen ziehen sich missmutig zusammen. "Dein Bruder könnte also recht gehabt haben, nicht wahr? Ein Racheakt einer der Mädchen, mit denen du herumpussiert hast." Bemerkt er scharf. Meine Schultern zucken automatisch hoch, während sich ein dumm-dreistes Grinsen auf meinen Lippen verankert. "Hey, außer ein wenig Spaß verspreche ich keiner etwas!" Konstatiere ich schwächlich. Ich könnte nicht einmal sagen, wer in die engere Wahl käme, um mir auf diese Weise eins auszuwischen. Meg ist ja nur die letzte einer stolzen Reihe von Bekanntschaften, die ich pflege. "Vielleicht solltest du dein Verhalten modifizieren?" Bemüht sich Kama tapfer um eine schonende Kritik. Im Klartext: ich soll nicht das Macho-Chauvi-Arschloch markieren. Sorry für die Ausdrucksweise, Leute. Tatsächlich unternehme ich einen seriösen Versuch, meine Beweggründe zu analysieren. "Das ist nicht so einfach. Sieh mal, ich sehe eine, spreche sie an. Wir unterhalten uns, verabreden uns, lachen, tanzen, essen was, ein bisschen küssen und tätscheln. Und das war's dann." Korrigiere ich den Eindruck des Aufreißers leise. "Also bist du nicht der Hengst, der gleich alles begattet?" Erkundigt er sich halb ungläubig, halb amüsiert. Knurrend ziehe ich die Schultern hoch wie eine Schildkröte. "Was denkst du?! Ich bin vielleicht scharf und sehe auch so aus, aber wenn ich Sex haben will, nur mit jemandem, bei dem ich sicher bin." Wedele ich meine Unfähigkeit davon, mich verständlich zu machen. "Jemandem, dem du vertrauen kannst." Ergänzt Kama meinen Gedanken. Was wir beide nicht aussprechen: jemand, der den Druck nimmt. Bei dem ein Versagen, aus welchen Gründen auch immer, nicht lebenslange Verachtung zur Folge haben könnte. Leistungsdruck in der Schule ist nichts gegen den Druck, der beste Liebhaber der Welt zu sein! "Suchst du nach der Richtigen?" Tippt mich Kama mit einem Ellenbogen in die Seite, aufrichtig interessiert. "Naaahh!" Schnaube ich gedehnt, ziehe eine verächtliche Schnute. Ehrlich, ich habe keine konkrete Vorstellung, nach der ich planmäßig zu Werke gehen könnte. Ohne Plan ist man im Dating-Geschäft definitiv aufgeschmissen. Außerdem würde mich eine Fixierung total verkrampfen. Das hieße auch Goodbye zum illegitimen Spross Casanovas, richtig? "Wie sieht's bei dir aus?" Lenke ich von meinen eigenen Unzulänglichkeiten ab, mustere Kamas Profil. "Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es jemand sein soll, der mich mit Respekt behandelt und niemals Anstalten unternimmt, mich zu ändern." Gibt er in seiner höflichen Diktion zurück. Wenn man die Augen schließt, könnte man sich Kama leicht als Dandy vorstellen, mit dieser kultivierten Aussprache, seiner Wortwahl und der musikalischen, samtigen Stimme. "Du solltest zum Radio gehen!" Platzt unvermittelt ein Gedanke laut aus mir heraus. Kama wendet sich mir zu, amüsiert über meine Sprunghaftigkeit. "So?" "Klar!!" Nicke ich enthusiastisch. "Bei deiner Stimme könntest du das Telefonbuch vorlesen, und die Leute würden Orgasmen kriegen!" Er lacht in sich hinein, schüttelt den Kopf. "Das wäre mir unangenehm. Stell dir das im Auto vor. Unverzeihlich!" Grinsend umschlinge ich seine Schultern, drücke ihn kurz an mich. "So ein bisschen Handarbeit hat noch niemandem geschadet!" Frotzle ich zotig, zwinkere ihm zu. Die Erwiderung meines Lächelns blättert rasch von seinem Gesicht, als eine Erinnerung in seinen Haselnussaugen aufzieht. Er wendet sich unbehaglich ab, weil ihm wohl bewusst wird, dass mir diese Reaktion nicht entgangen ist. "Wolltest du mit mir über Aoshi sprechen?" Wähle ich den größten Fettnapf in Reichweite, um mich bis zu den Haarspitzen in ihn zu stürzen. Die Arme um seine schlanke Taille geschlungen heftet er den Blick auf das Pflaster. "Er hat dir doch nichts getan, oder? Oder?" Wiederhole ich lauter, beuge mich vor, damit Kama mir nicht ausweichen kann. "Ich kann darüber nicht sprechen." Wispert er, die Wangen ein Wechselspiel aus fahler Blässe und fiebrigem Rot. "Verdammt!" Fauche ich wütend, schlage dröhnend gegen das Geländer. "Ich hätte dir diesen Zombie nicht vorstellen sollen! Ich kenne ihn nicht mal richtig! Scheiße!" Brülle ich, schlage meine Fäuste so hart gegeneinander, dass die Knöchel knirschen. "Schon gut!" Unterbricht Kama meinen Wutausbruch, legt seine gepflegten Hände auf meine großen Fäuste, zwingt ein flackerndes Grinsen auf seine Züge. "Es hat nichts mit dir zu tun. Oder mit ihm." "Nein?!" Blöke ich verblüfft. Diesen Eindruck habe ich mit großer Sicherheit gewonnen. "Ich glaube, es ist meine Unsicherheit." Winkt er mit einer eleganten Geste diskret das Problem ab, das ihn bereits den ganzen Tag mühlsteingleich niederdrückt. Bevor ich jedoch in die Details dringen kann, da mich Kamas Vorstellung keineswegs überzeugt hat, biegt Kaz' geliebter Mustang in die Zufahrt ein. Auch mein Bruder wirkt nicht gerade wie das blühende Leben selbst. "Hallo Kamatari, Sano. Bitte steigt doch ein. Sano, wir müssen noch einkaufen." Erinnert er mich gelassen. Seiner Stimme fehlt die gewohnt selbstsichere Farbe. "Okay, Chief!" Necke ich ihn behutsam, falte meine Hände fest auf meinen Schoß. *~i~* Sano sitzt so ruhig neben mir, dass er an den Sphinx erinnert. Kein viriles Herumzappeln, kein Fingern an den Knöpfen des Radios, der Kopf bleibt im Auto. Er bemüht sich um gutes Benehmen, will mir eine Freude machen. »Niedlich.« Seufzt es ihn mir. »Er ist so eifrig wie früher, wenn er glaubt, etwas wiedergutmachen zu müssen.« Ich bin allerdings zu der Überzeugung gelangt, dass es eine Verkettung dämlicher Zufälle war, die uns dazu zwingt, mit dem ATF zusammenarbeiten zu müssen. Obgleich meine Suche in den Mikrofiche recht wenig über diesen Gorou Fujita, seinen Partner Souji Okita oder die Aktivitäten der ATF in dieser Stadt zutage gefördert hat, genügte die Lektüre der Lokalzeitung für einige düstere Wolken, die hartnäckig durch meinen Kopf treiben. Sanos unbeeindruckte Schilderung des Drogenhandels haben mich wachgerüttelt, zwischen den Zeilen suchen lassen. Prompt wurde meine Sorge bestätigt. Ungeachtet aller Beteuerungen, dass diese hässlichen 'Drogengeschichten', wie ein Lokalpolitiker sich ausdrückte, hauptsächlich in der Stadt selbst und in den Ghettos stattfinden, kann man wohl nicht von der Hand weisen, dass sie auch hier zunehmen. Nicht nur die neureichen Yuppies in ihren schicken Lofts konsumieren Drogen, sondern auch jene, die diesem Image folgen, einer Wunschvorstellung vom glamourösen Leben der Stars und Macher. Vielleicht fallen die Opfer durch das Raster der Wahrnehmung, weil sie nicht mehr hier, im Vorort, leben können, in die Ghettos ziehen, dort die Statistiken anschwellen lassen? Die Idylle, in der wir zu leben glauben, ist sie nicht durch Zweifel an ihrer Existenz am Stärksten gefährdet? Wird man daher nicht repressiver handeln? Sano und ich hatten Glück, am Hafen eine Unterkunft zu finden. In der Arbeitergegend akzeptiert man unsere Selbstständigkeit. Wie ergeht es zum Beispiel Kama? Würde man ihn dulden, wenn seine Großmutter nicht wäre? Hier gibt es doch schon einen mittleren Skandal, wenn jemand seinen Vorgarten nicht sorgsam hegt und pflegt, den Müll nicht raus stellt oder den Wagen am Wochenende wäscht. "Wir sind da." Tippt mich Sano rücksichtsvoll an, sodass ich gerade noch abbiegen kann, um Kama abzusetzen. "Vielen Dank!" Beugt er sich lächelnd herunter in das Beifahrerfenster, verwüstet Sanos ohnehin wirren Schopf neckend, bevor er sich aufmacht, um die Bäckerei seiner Großmutter zu betreten. »Eine energische Frau.« Wie Sano mir versichert. Knapp 1,50m groß, aber furchtlos und temperamentvoll. »Außerdem die wohl einzige Frau, die eine kirschrot gefärbte Perücke mit künstlichem Perlenschmuck in die Strähnen gewebt wie einen Turban auf dem runzligen Kopf balanciert.« Fügt er mit ehrfurchtsvollen Staunen zu. "Fahren wir." Sano schmiegt sich tiefer in den Sitz, schenkt mir ein schläfriges Lächeln unter halb gesenkten Lidern. »Alles wird gut!« Ermahne ich mich mit zusammengepressten Lippen. *~i~* Kapitel 5 - Herausforderungen Es sind schon zwei wertvolle Schultage verstrichen, ohne dass es mir gelungen wäre, einen entscheidenden Kontakt zu knüpfen. Ich kann zwar mit sicherem Blick die Drogenkonsumenten herausfiltern, einige Händler kenne ich auch, doch die verziehen sich rasch, wenn ich ins Bild komme: mein Ruf ist eben Donnerhall. Na, es war ja auch nicht zu erwarten, dass ich über die Drogen-Schiene den Einstieg finde. Trotzdem wurmt es mich, keinen Schritt vorangekommen zu sein. Ständig blitzt unerwünschter Weise das feixende, arrogante Gesicht dieses Psycho-Cops vor mir auf, der bestimmt darauf setzt, dass ich nicht in der Lage bin, etwas Nützliches für ihn auszugraben. Das fuchst mich gewaltig, treibt mich wirklich die Wände hoch!! "Hey, klasse, Sano!!" Dringt es an mein Ohr, als ich einen weiteren Korb versenke. Eine meiner besseren Eigenschaften: mein Körper funktioniert auch ohne Gehirntätigkeit hervorragend. Hey, das Lachen habe ich gehört, Leute!! Kama sitzt wie immer auf der Bank, trampelt vergnügt, wenn mir etwas gelingt. Er wird selten in eine Mannschaft gewählt, weil die meisten meiner unterbelichteten, feigen Mitschüler Angst haben, sie könnten ihn berühren und etwas könnte überspringen! Ich würde eher das Umgekehrte fürchten! Idioten! Der Coach pfeift ab. Ich habe noch keine Lust, eine Pause zu machen, ich brauche Bewegung, um die aufgestaute Frustration loszuwerden. Außerdem will ich nicht ständig darüber nachdenken, in was für ein Schlamassel ich mich nun wieder geritten habe. "Hey, Kama, schwing deinen süßen Hintern hierüber, leiste mir Gesellschaft!" Kama springt elastisch auf, hält grinsend auf mich zu, die Hüften so ausgestellt, als sei er eines dieser Supermodells auf dem Laufsteg. Feixend stoße ich ihm den Ball in Brusthöhe zu, den Kama locker abfängt. Ich erwähnte ja schon, dass er Kraft hat? Während wir gegeneinander spielen, dribbeln, springen, abfangen, werfen, bewundere ich ihn für seine Eleganz und Anmut. Seine Körperbeherrschung ist vorbildlich. Er kollidiert nicht mit mir, dreht sich geschickt, tritt mir nicht auf die Füße oder rempelt mich an: das komplette Gegenteil zu meinen Mannschaftskameraden. Mit dem weißen T-Shirt und den kurzen, dunkelblauen Hosen wirkt er frisch und sportlich. Die langen, dunkelbraunen Haare sind in einen festen Zopf gebunden, der munter über seinen Rücken schwingt. Allein der hochtoupierte Pony mit den Spikes erinnert an seine gewöhnliche Aufmachung. Sonst unterscheidet ihn nicht das Mindeste von uns anderen. Wieselflink weicht er mir aus, lacht triumphierend, wenn es ihm gelingt, mich auszutricksen, jubelt bei jedem Korb, den er erzielt. Seine Spielfreude ist einfach ansteckend. Dass er so durchtrainiert ist, konditionell herausragend, erleichtert es mir, das Tempo anzuziehen, ihm Paroli zu bieten. "Runter jetzt vom Feld!" Weist uns der Coach an. Ich schnappe Kama, werfe ihn mir wie eine Jagdbeute über die Schulter, spaziere breitbeinig an den Seitenrand zu den schmalen Tribünen, ignoriere die säuerlichen Gesichter meiner Mitschüler. »Kümmert mich nicht, ob es euer mageres Selbstbewusstsein nicht zulässt, dass ihr mit einem Jungen gesehen werdet, der ein Paradiesvogel ist!« Ich setze Kama ab, sinke neben ihn auf die Bank, wische mir mit den Schweißbändern an meinen Handgelenken über das Gesicht. "Gutes Spiel." Lobe ich grinsend. "Was meinst du, gehen wir danach auf ein Eis ins Akabeko?" "Musst du dich etwa abkühlen nach den heißen Infights mit mir?" Spottet er anzüglich, wedelt sich mit dem Ende seines Zopfs die stickige Hallenluft zu. "Mmmmrrrrrrrrrr!" Schnurre ich, beuge mir vor, wispere an seinem Ohr. "Nicht mal die kalte Dusche könnte dieses Feuer löschen." Raune ich pathetisch, schmachtend. Kama grinst so breit, dass sein Gesicht sich zu halbieren droht, kämpft mannhaft gegen ein sprudelndes Gelächter an: so viel zu meinen Verführerqualitäten. Ich lache mit, beginne, seine Schultern zu massieren. *~i~* Eigentlich treibe ich gern Sport, am Liebsten Baseball. Die meiste Zeit verbringe ich auf der Reservebank. Die Gründe sind offensichtlich. Es gibt gar nichts, was ich dagegen tun kann. Meine Leistungen sind gut, aber die Lage ist nie verzweifelt genug, um mich einzusetzen. Selbst das Maskottchen hat größere Chancen. Daran könnte man wirklich zugrunde gehen. »Andererseits gibt es so viele wichtigere Dinge, bedeutendere Ziele! Was für eine Rolle spielt es schon, dass ich nicht aufgestellt werde?« Rede ich mir ein, wenn mich der Kloß der Enttäuschung in meiner Kehle zu ersticken droht. Ich weiß, wie gut ich bin. Hier an der neuen Highschool gibt es sogar jemanden, der sich einen Teufel um all die lächerlichen Vorurteile und Befürchtungen schert: Sano. Manchmal möchte ich ihm um den Hals fallen, nicht mehr loslassen dafür, dass er so selbstverständlich mit mir umgeht, mich nicht anders behandelt als seine anderen Freunde. Ihm allein verdanke ich, dass ich nicht vollkommen ausgeschlossen werde. Er setzt sich über den Gruppendruck einfach hinweg. Dafür bewundere ich ihn. Ob er nie an dieser Entscheidung zweifelt? Er könnte es viel einfacher haben, reibungsloser in seinem Alltag. Wie jetzt zum Beispiel, als sich alle aus den Duschen verziehen, weil ich eintrete. "Geh dahinten in die Ecke, Cinderella! Da kannst du mit deinen Filzläusen und den Zotteln den Abfluss verstopfen!" Zischt mir einer zu, während ein anderer nach meinem Handtuch greift. Ich weiche aus, kenne diese wenig subtilen Drohungen zur Genüge, während Sano unvermittelt ausholt, einen der Verbalerotiker kräftig in den Hintern tritt. "Ich bin nicht taub, David. Wenn du diesen Mist noch mal abziehst, schauen wir mal nach, warum du einen Ständer hast, wenn du Kama anmachst. Alles klar, Sportsfreund?" Proklamiert er in falschem Plauderton. Auf eine freie Dusche an der Wand zuhaltend, die einigermaßen manierlich wirkt, drehe ich mich nicht um. Ich will gar nicht wissen, ob Sano geblufft hat oder David wirklich...?! Nein! Ich stecke ich meine Haare hoch auf den Hinterkopf. Der Gedanke wäre zu verstörend, von einem Mitschüler begehrt zu werden! Das ist wie der Einbruch der Realität in diese abgeschlossene Schulwelt, hier, wo ich noch ein Kind sein kann. Meine Begegnung mit Aoshi war schließlich beängstigend genug. "Stimmt was mit der Dusche nicht?" Hilfsbereit orgelt Sano an den altmodischen Armaturen, missversteht meine Reglosigkeit. "Ah, geht ja doch. Na los, mein Traumprinz, einschäumen, runter mit der Brühe!" Kommandiert er launig, kehrt mir den Rücken zu, um seinen sonnengebräunten, muskulösen Körper energisch einzureiben. Sano erscheint mir wenig schamhaft. Das liegt vermutlich daran, dass Privatsphäre in Heimen kaum vorhanden ist. Zumindest stelle ich es mir so vor. Es bleibt nicht aus, dass ich unsere Erscheinung vergleiche, seine geballte Kraft in dieser warmen Tönung, die geschmeidigen Bewegungen und die unbewusste Selbstsicherheit, mit der er sich Schmutz und Schweiß vom Leib spült. Ich würde mich gern an seinen Rücken schmiegen, herausfinden wollen, ob seine Haut so samtig ist, wie sie aussieht... Röte schießt mir in die Wangen, als mir meine Gedanken begreiflich werden. Wir sind Freunde, und über einen Freund sollte man nicht so denken!! "Hey." Sano streicht mir eine nasse Strähne von der Wange, mustert mich besorgt. "Kama, ist alles in Ordnung?" "Nein!" Würge ich heftig hervor, drehe mich um, zerre mein Handtuch von der Säule in der Mitte des Raums, bevor ich im Laufschritt in die Umkleide fliehe. *~i~* Ich starre auf meine Hand, die noch in der Luft verharrt, wo Wimpernschläge zuvor Kama halb eingeschäumt tropfte. Verdammt, was habe ich angestellt?! Möglicherweise hätte ich das mit David nicht herausposaunen sollen. Unentschlossen nage ich an meiner Unterlippe, drehe die Duschen ab, frottiere mich kurz, wickle mir mein Handtuch um die Hüften. In der Umkleide ist Kama bereits damit befasst, sich hastig anzukleiden, seinen verschwitzten Dress in eine Tasche zu stopfen. Ganz gegen seine Gewohnheiten ohne Rücksicht auf Verluste. Neben ihm auf die Bank geplumpst stöhne ich laut auf, lehne mich gegen den Spind. "Was auch immer ich angestellt habe: es tut mir leid." "Nicht deine Schuld!" Bringt er knapp über die Lippen, weigert sich, mich anzusehen. Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen. "Hey." Usurpiere ich ein Handgelenk. "Lauf nicht vor mir weg, Kama. Das ist unsportlich, nachdem du mich so ausgelaugt hast!" Bemühe ich dumm-dreist einen Scherz, versuche, die Situation ins Lächerliche zu ziehen. Er legt den Kopf in den Nacken. Die freie Hand wischt unter seiner Nase, eine Geste, die Tränen verbannen soll, presst die Handfläche fest auf den Mund. Ein Zittern durchläuft ihn. Ich stehe auf, ziehe ihn in meine Arme, wiege ihn behutsam. "Lass es raus, Kama, ich bin ja hier." Tröste ich ihn leise, registriere die Feuchtigkeit auf meiner Schulter, während er vor Schluchzern bebt, die sich einfach nicht unterdrücken lassen wollen. Ich frage mich, während ich über sein Sweatshirt streiche, wie lange er wohl ohne körperliche Zuneigung existieren musste, wenn jede flüchtige Berührung schon in den Ruch gerät, homosexuell oder pervers zu sein, drücke ihn enger an mich. Es ist nicht fair! *~i~* Es ist so beschämend: eine freundliche Geste, und ich verliere vollends die Beherrschung! Heule wie ein Säugling los, bemitleide mich selbst. Wofür es nun wirklich keinen Anlass gibt: all das nur, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Belüge ich mich selbst?! Endlich kann ich Sano freigeben, setze mich auf die Bank, warte matt, bis er angekleidet ist. "Pizza?" Schlägt er vor, streckt die Hand aus, um mir aufzuhelfen. Ich nicke, obwohl ich Zweifel habe, dass ich überhaupt etwas schlucken kann. Der Kloß in meinem Hals residiert bombenfest. Sano forciert kein Gespräch. Wir laufen nebeneinander her, bis wir das Akabeko erreichen, wo er sogleich mit Tae, der Tochter des Besitzers, zu flirten beginnt, eine Pizza mit gewaltigen Ausmaßen zum Mitnehmen ordert. Das überrascht mich. Eigentlich hatte ich befürchtet, er würde mich in eine der Nischen dirigieren, wie wir es manchmal tun. Im Augenblick ist mir gar nicht nach Publikum. Eine große Pappschachtel mit durchfettendem Inhalt später geht Sano voraus, zu einer Grünfläche neben einem Spielplatz. Er ignoriert die Blicke der Mütter, die hauptsächlich auf seinem Hinterteil ruhen, ebenso wie die indignierten der Rentner, die mich als Trabant in seinem Schlepptau bemerken. Überall wohlgelitten, ja. Neben Sano gesunken fühle ich mich plötzlich flau, ziehe die Beine an, um die Stirn auf die Knie zu legen, durchzuatmen. Der Geruch der Pizzaschachtel verursacht mir Übelkeit. "Musst du dich übergeben?" Sano reibt über meinen Rücken, fädelt Strähnen aus meinem Gesicht, während ich geräuschvoll Luft austausche. "Leg dich mal flach." Kommandiert er, dreht mich leicht, umfasst meine Schultern. Ein schwindliges Blinzeln später liege ich auf seinem Schoß, die Beine auf seiner Sporttasche hochgelegt. "Muss ja etwas Furchtbares sein, wenn es dir so schlecht geht." Murmelt er betroffen, die großen Schokoladenaugen verhangen vor Sorge. "Es wird dir unbequem." Weiche ich beschämt aus, versuche, mich aufzurichten, weil es keineswegs angenehm ist, mit ausgestreckten Beinen für einen anderen das Kopfkissen zu geben. "Oh, kein Problem!" Grinst Sano hintergründig, kontert mein Ablenkmanöver aus, indem er meinen Oberkörper kurz lüftet, die Beine in einen Schneidersitz kreuzt und einen Oberschenkel als meinen Ruhepunkt auswählt, auf den er mich wieder sinken lässt. Seine Finger tasten über meinen Hals, meine Schlüsselbeine. Er knöpft den Steg meines Sweatshirts auf, streicht über mein Brustbein, mit kritischem Blick, während ich dunkelrot anlaufe, das Blut in meinen Schläfen trommelt. "Du bist vollkommen verspannt, Kama. Kein Wunder, dass du kaum Luft bekommst!" Tadelt er unbeeindruckt von der Impression, die die Leute von uns haben könnten. "Das ist nicht gut, nein, nicht gut." Seufzt er kopfschüttelnd, parodiert Kennys hilflosen Gesichtsausdruck samt Gestik, bevor er auf mich hinablächelt, versöhnlich. "Es ist okay, wenn du nicht mit mir darüber reden willst, Kama, aber ich rate dir, friss es nicht in dich hinein, okay?" "Ich möchte ja reden!" Fahre ich auf, um wieder beschämt herunterzusinken, den Kopf zur Seite zu drehen. "Aber..." "Aber?" Hakt Sano erwartungsgemäß nach. Seufzend gebe ich meine fieberhaften Bemühungen nach einer glaubhaften Ausrede auf, schließe die Augen. "Ich schäme mich. Es ist intim." "Hmmmmmmmm." Kommentiert Sano grübelnd. Mich umweht der Duft der Pizza, deren erstes Stück Sano gekonnt einrollt, teilweise in seinem Mund versenkt, konzentriert kaut. Ich beobachte seinen Appetit, die noch feuchten, unbändigen Strähnen, die wie ein Hahnenkamm von seinem Kopf abstehen, das spitze, eigenwillige Kinn, die langen, dichten Wimpern. Wie man Sano nicht lieben könnte, ist mir ein Rätsel. Aber ob er sich lieben lässt? »Bestimmt nicht von dir!!« Faucht die schrille Stimme in meinem Kopf. Ich verteidige mich sofort wütend. »Ich habe gar nicht die Absicht, Sano auf eine andere Weise als einen Freund zu lieben!« Er wischt sich unterdessen die Finger an einer Papierserviette ab, massiert behutsam meine Kehle, meine Schulterbeugen, lächelt mich einfach an, als sei es ganz normal, was er für mich tut, vor aller Augen. Schon laufen wieder die vermaledeiten Tränen! Bevor ich mich abkehren kann, tupft er sie mit einer Serviette ab, schnalzt tadelnd mit der Zunge. "Was soll ich nur mit dir anfangen, hmm? Du magst meine Pizza nicht, du lachst nicht, wenn ich dir Grimassen schneide, sondern tränkst hier den Rasen. Ist das eigentlich erlaubt?" Sein Kopf fliegt herum, als er nach Schildern Ausschau hält. Ich kann mir nicht helfen, lache leise, was eher wie ein gedrücktes Quieken klingt. "Schon besser." Wendet er sich mir zu, zwinkert nachsichtig, rollt geschickt eine weitere Scheibe der triefenden Pizza, um sie an meinen Mund zu halten. "Runter damit. Ich will dich nämlich nicht auf den Buckel nehmen, wenn unser Bus kommt." Verkündet er kriegerisch, stopft nach, bis ich die Hände hebe und die Gabe zerpflücke, während er zufrieden an einem weiteren Stück schmaust. Langsam kauend bedenke ich Sano mit einem langen Blick. Wenn ich mich ihm nicht anvertrauen kann, wem sonst? *~i~* Kama mümmelt noch immer an der ersten Scheibe, während mein Magen bereits die Hälfte der Pizza in freudiger Erwartung begrüßt. Es muss ihm wirklich etwas Schreckliches auf das Gemüt drücken. Sein gesunder Appetit steht meinem nämlich nicht nach. Als ich in seinen Augen die Entschlossenheit lese, mir etwas anzuvertrauen, klappe ich die Schachtel beiläufig zu. Bloß nicht in Versuchung geraten! "Sano." Er feilt an einer Formulierung. Die Augenbrauen kräuseln sich konzentriert. "Wenn du jemanden triffst, der sich für dich nur aus einem Grund interessiert: würdest du ihn wiedersehen?" "Na ja." Schinde ich Zeit, während ich mich zurücklehne, zu analysieren versuche, was genau Kama mich eigentlich fragen will. "Wenn es zum Beispiel dieser Saurier-Cop ist, würde ich 'no way!' sagen!" Grinse ich, als mich eine energische Faust in die Seite trifft. "Sagen wir mal, es wäre ein Mädchen, das nur mit mir angeben wollte: klar!" Spinne ich ungerührt weiter, setze mich auf, feixe auf ihn herunter. "Weil ich das Beste bin, was ihr passieren kann. Sie weiß es bloß noch nicht! So ein bisschen Überzeugungsarbeit schüttele ich locker aus dem Handgelenk." Zu meiner Überraschung erwägt Kama meine Einlassung ernsthaft, zieht die Nase unschlüssig kraus. "Es geht um Aoshi, nicht wahr?" Beuge ich mich zu ihm herunter, mustere ihn fragend. Ausgerechnet der Zombie! Ich hätte es wirklich besser wissen sollen! Man traut niemandem, der so frostig und stumm wie dieser Bestatter ist! Kama seufzt, schließt die Augen. "Es ist alles nicht so einfach." Flüstert er müde, hilflos. "Vielleicht sollten wir mal ein wenig nachforschen, wer der gute Aoshi eigentlich ist. Was hältst du davon?" Biete ich eine partielle Lösung an. Kenne deinen Feind und erkenne dich selbst, oder so ähnlich. "Und wie?" Kama blinzelt mich alarmiert an, stemmt sich hoch auf die Ellen. "Hmmm." Massiere ich mein Kinn. "Besuchen wir Miss Rose!" *~i~* Es gibt wohl niemanden, den Sano in unserem Vorort nicht kennt. Sein Lausbuben-Charme ist legendär, besser als jeder Dietrich: er findet einfach zu jedem Menschen Zugang. Das Gebäude, in dem Miss Rose eine Wohnung innehat, ist eines der ältesten am Ort. Liebevoll restauriert suggeriert es eine Vergangenheit, die bis zur Jahrhundertwende zurückreicht, von Traditionen und Werten kündet. Miss Rose, eine verhutzelte Dame 'irgendwo zwischen 80 und scheintot', wie Sano mir anvertraut, begrüßt uns bereits, bevor wir das Haus betreten haben. Ihr bevorzugter Aufenthaltsort scheint der Erker des kombinierten Ess- und Wohnzimmers zu sein, von dem sie aus den Überblick über alles in den sich kreuzenden Straßen hat. Ein gut gepolstertes Kissen für die Arme, ein eleganter Überwurf gegen die Zugluft, ein dezentes Opernglas und ein bequemer Sessel: Miss Rose ist zweifellos für ihre ehrenamtliche Aufgabe als Aussichtsposten gerüstet. Während sie uns staubtrockene Kekse und mit Sahne angereicherten Tee anbietet, erzählt sie munter, von Sano mit neugierigen Fragen angeregt, von ihrer Vergangenheit, als der Vorort noch eine eigenständige Gemeinde war, ihrer Arbeit in einem Kolonialwarenladen, der sich in eine Poststation mit Schreibwaren wandelte, ihrem Leben in diesem Haus, das sie seit ihrer Kindheit bewohnte. Ich bin nicht sicher, ob sie Sanos Ausrede, wir arbeiteten an einem Schulprojekt über die Entwicklung des Orts, wirklich Glauben schenkt. Allerdings ist ein Vorwand schließlich so gut wie der andere, wenn man sich mit Klatsch und Tratsch versorgen will! Natürlich interessiert uns die Gebäudefront gegenüber am Stärksten, die Residenz der Makimachis. "Oh, früher sah das nicht so aus wie das Weiße Haus. Ihr versteht schon, all diese Zäune und Kameras und Alarmanlagen! Da stand das Herrenhaus frei, umgeben von einem großen Park wie heute auch. In der kontinentalen Weise, mit vielen Bäumen und Rasenflächen. Das Haus gehörte ursprünglich einem sehr reichen Holländer, einem Kaufmann, stand nach dem Bankrott der Nachkommen zum Verkauf, als sich die Makimachis Anfang des Jahrhunderts, mit dem Boom der Goldsucher und der Eisenbahnen zur Übersiedlung entschlossen. Sie hatten einen Partner hier, der für sie die Seidenprodukte und allerlei andere Dinge verkaufte, besondere Schreibtusche und Farben, die dem Regen standhielten. Eine Menge kurioser Dinge, wenn ich mich recht entsinne. Kaum trafen sie ein, schon investierten sie in andere Geschäftszweige. Ja, diese Familie hatte wirklich ein Gespür dafür, sich als Teilhaber und Partner in lukrative Unternehmungen einzukaufen. Bald folgten ihnen auch andere japanische Familien. Das nahm erst ein Ende, als der zweite Weltkrieg kam. Durch eine geschickte Unternehmenspolitik gelang es ihnen offenkundig, einen Teil ihres Vermögens zu retten, sodass sie nach dem Ende des Kriegs und der Internierung erneut ihre Geschäfte aufnahmen und dieses gewaltige Anwesen halten konnten. Allerdings redeten sie wenig über Geld. Wir anderen staunten nur immer, wie viele Leute auf dem Gelände arbeiteten, alles in Schuss hielten. Alle von den Makimachis waren sehr zurückhaltend, blieben zumeist für sich, spendeten zwar großzügig für die Gemeinde, aber ganz schlau wurde man nicht aus ihnen!" Miss Rose zupft an einem Ohrring, die alterstrüben Augen auf das Stickwerk gerichtet, das die Fensterbank bedeckt, während wir wie die Buchstützen neben ihr artig auf weitere Enthüllungen lauschen. "Manchmal denke ich, dass ein Fluch auf ihnen lastet! Wie bei den Kennedys!" Sie funkelt mich vertraulich an. Während ich hilflos nicke, weil ich keinerlei Vorstellung habe, auf was sie sich mit dieser bewusst kryptischen Andeutung beziehen mag, schlägt Sano demonstrativ die Faust auf die offene Handfläche. "Sie meinen die Geschichte mit Misaos Eltern, nicht wahr, Miss Rose?!" Meine Augen irren zwischen den beiden hin und her, die sich einander im Einverständnis zuneigen, die Beweise ihrer Theorie bewerten. Das entwirft ein eher bruchstückhaftes Bild für mich: es scheint, als springe eine Art Unglück über eine Generation hinweg, um dort Leben zu fordern. Die jüngsten Opfer seien nach dieser Idee die Eltern der letzten der Makimachis, Misao, gewesen, die ein Flugzeugabsturz getötet hat. "Das arme, kleine Ding verliert auch noch den Großvater!" Miss Rose schüttelt mitfühlend ihr rosig getöntes Lockenhaupt, knabbert an einem ihrer mürben Kekse. Ich beginne daran zu zweifeln, dass jemals die Sprache auf Aoshi kommen wird. "Das heißt, sie ist das Familienoberhaupt? Da ist sie ja eine sehr attraktive Partie, oder nicht?" Sano geht in seiner Rolle als Mitverschwörer auf, steckt mit Miss Rose den Kopf zusammen, als gelte es, Lebensperspektiven anderer Menschen auf dem Reißbrett zu bewerten. "Oh, da ist definitiv viel Geld!" Bestätigt Miss Rose mit blitzenden Augen. "Einen Kronprinz hat sich der alte Makimachi auch schon ausgesucht: Aoshi Shinomori." *~i~* An Kamas Blick, seiner plötzlichen Anspannung, dem feinen, kühlen Lächeln, kann ich erkennen, dass diese Eröffnung ihn mitnimmt. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen ist: dieser Part blieb wohl unerwähnt. "Was ist über Aoshi bekannt? Er muss der Familie ja sehr nahestehen, wenn sich Makimachi für ihn entschieden hat! Der ist seit einigen Jahren tot. So alt kann Aoshi doch gar nicht sein?" Fordere ich Miss Rose heraus. Ich spekuliere laut, das Kinn in eine Hand gestützt, als würde ich über die Motive des alten Makimachi grübeln. Miss Rose hilft mir natürlich auf die Sprünge. "Der Junge müsste Mitte Zwanzig sein. Der alte Makimachi ist seit zehn Jahren bei den Engeln, also hat er schon damals eine Menge Gottvertrauen aufwenden müssen." Nickt sie gewichtig. Die weiteren Informationen, die sie aus ihrem Fundus ans Licht befördert, sind so dürftig, dass sie selbst über ihre Nachlässigkeit verärgert ist. Aoshi ging nach diesen Quellen wohl auf ein Internat. Jedenfalls blieb er seit dem Tod von Misaos Eltern verschwunden, erschien erst wieder, als er den größten Teil seines Studiums bewältigt hatte. "Er führt die Geschäfte der Makimachis, weil Okina, der schlaue Fuchs, so langsam aussteigen will." Bröckelt sie weitere Krumen auf unseren Weg. Okina, so erfahren wir, ist der gesetzliche Vormund Misaos. Er hielt sozusagen die Stellung, bis Aoshi in der Lage war, seine Aufgabe anzutreten. "Sind nicht mehr viele von den Makimachis übrig. Wie bei den Kennedys." Beschließt Miss Rose ihre Auskunftstätigkeit. Kama zupft mich am Ärmel. Zeit zu gehen, weil gleich das Fernseh-Bingo beginnt: eine Muss-Veranstaltung für Damen gewissen Alters. "Tja!" Beginne ich, als wir auf die Straße treten. "Sehr viel mehr haben wir nicht erfahren." Kama wirft sich den Zopf auf den Rücken, bedenkt mich mit einem ruhigen Blick. Ich spüre, dass mir etwas entgangen ist. "Die richtigen Ansatzpunkte waren dabei." Versichert er mir mit einem knappen Lächeln, steigt auf die Zehenspitzen, um mich auf die Wange zu küssen. "Vielen Dank, Sano." Verabschiedet er sich mit festem Blick, während ich mir unwillkürlich den Nacken kratze. Irgendwas ist mir definitiv entgangen. *~i~* Ich habe mich lange genug davor gefürchtet, meine Vermutungen und Ängste zusammenzutragen, mich ihnen zu stellen. Durch Sanos Einsatz für meinen Seelenfrieden fühle ich mich verpflichtet, der Wahrheit ins Auge zu blicken: sie ist nicht angenehm, bewirkt aber die Ruhe, die mich erfüllt, während ich mit gemäßigtem Schritt die Straße abschreite. Aoshi Shinomori, der dunkle Unbekannte, ist kein Märchenprinz, der mir beistehen wird, einen Platz in dieser Welt zu finden, ohne mich selbst zu verraten. Unsere Intimität auf der Party resultierte wohl nur aus meinem Tanz mit Sano, der ihn glauben ließ, ich sei männlichen Partnern nicht abgeneigt, darüber hinaus bereits so erfahren wie er selbst. Für ein flüchtiges Vergnügen der richtige Widerpart. Deshalb verabschiedete er mich nach der Suche nach Sano so reserviert: ich konnte seine Erwartungen nicht erfüllen. Ehrlich gesprochen: ich würde das auch nicht wollen. Dazu bewerte ich körperliche Intimität einfach zu hoch. Andererseits sind meine Erfahrungen auf diesem Gebiet sehr spärlich. Vielleicht kommt ja der Appetit mit dem Essen? Ich verziehe mein Gesicht bei diesem Vergleich. Einen Teil meines Dilemmas habe ich vor mir offenbart. Das löst das grundsätzliche Problem nicht: wäre ich wohl bereit, Aoshis Ansprüche zu akzeptieren, um nicht weiterhin unerfahren und einsam zu sein? Unwillkürlich ziehe ich die Schultern hoch, schaudere. Sein forsches, selbstsicheres Vorgehen ängstigt mich, auch wenn ich eigentlich froh sein sollte, jemanden zu finden, der sich auf die Technik versteht. Brrrrr, wie das sich anhört! »Toll, Kama, du willst kein Angsthäschen sein, fürchtest dich aber vor allem, was über Kuss und Gruß hinausgeht!« Maßregele ich mich selbst resigniert, bleibe stehen, schließe die Augen, atmete tief durch. Es gibt einen weiteren Punkt, der mir körperliches Unbehagen bereitet, meine Kehle zuschnürt: Aoshi ist quasi verlobt. Ganz gleich, was seine sexuellen Präferenzen sein mögen, seine Zukunft steht bereits fest. Seufzend lasse ich die Luft entweichen, senke den Kopf, kreise die Schultern. Hätte er diesen Part nicht erwähnen können, bevor ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt habe?! Verliebt bin ich. Meine Gedanken kreisen um ihn. Meine Bereitschaft, mich zu überwinden, wächst mit jedem verstreichenden Tag. Allerdings eine hoffnungslose Liäson, das wäre nur Verbitterung und Leid. Ich hebe den Kopf, straffe meine Haltung, nehme mein Tempo wieder auf. Eine Entscheidung muss getroffen werden. Ich werde sie in Aoshis Hände legen: seine Reaktion soll das Urteil für mich sein. *~i~* In meinem Käfig spielt das Wetter keine Rolle. Die Aussicht ist belanglos. Das Ambiente in dezenter Ausstrahlung mit hochpreisiger Qualität berührt mich nicht. Meine Aufgabe fesselt mich, konsumiert mich, bis nichts mehr übrig ist als eine Maschine, die unermüdlich Informationen verarbeitet und Reaktionen produziert. Natürlich bin ich ausführlich, strikt und intensiv auf meine Aufgabe vorbereitet worden. Der Zweck meiner Ausbildung seit der Grundschule bestand ausschließlich darin, das Vermögen der Makimachis zu wahren, möglichst zu mehren. Eine diffizile Aufgabe, bewegen sich die Makimachis doch in einem komplizierten Netz aus zahlreichen Firmenbeteiligungen, die in unterschiedlicher Position wahrgenommen werden müssen. Man könnte einen Anwalt, einen Wirtschaftsprüfer und einen Stiftungs- und Steuerrechtsexperten beschäftigen. Da jedoch alles in der Familie bleiben soll, muss sie selbst das 'Menschenmaterial' stellen. Mir gebührt die Ehre, den Makimachis zu dienen. Dafür werde ich die Erbin dieses Vermögens ehelichen dürfen. Eine Atemübung später ist mein Blick wieder klar, scharf. Ich habe kein Recht, mehr zu sein als eine Marionette. Es gibt nichts, was ich entgegensetzen könnte. *~i~* Ich spiele meine Rolle besser, als ich es mir vorgestellt habe. Mit traumwandlerischer Sicherheit, als existiere die Möglichkeit gar nicht, dass man mich abweisen könne: Kama, der seriöse Bekannte, der ein privates Anliegen an Mr. Shinomori richten möchte. Kama, das Chamäleon, das nicht wirklich eine gesteppte Weste über einem Sweatshirt und Jogginghosen trägt, patriotisch in den Farben Blau, Weiß und Rot. Vor meinem inneren Auge trage ich einen anthrazitgrauen, glänzenden Dreiteiler, die Weste auf Figur geschnitten, die Haare lässig im Nacken mit einer schweren Silberspange zusammengefasst, eine randlose Brille auf der Nase, eine exklusive Uhr am Handgelenk. Die junge Frau am Empfang bleibt freundlich-zurückhaltend, führt mich in einen Raum, bittet mich zu warten, während sie 'Shinomori-sama' meine Anwesenheit meldet. Ich frage mich flüchtig, ob diese Verankerung japanischer Umgangsformen zu einem bestimmten Zweck erfolgt, oder ob sie der persönlichen Disposition der Bediensteten der Makimachis entspricht. Rekrutiert man noch immer in Japan, oder wendet man sich Amerika zu? Wie wenig ich doch weiß über diese Familie und über den Mann, der eine wichtige Entscheidung zu treffen hat, ohne dass ich diese aussprechen werde. »Du könntest auch an den Knöpfen deiner Jeans abzählen, wie deine Chancen stehen!« Beschwert sich meine innere Stimme. »Oder Blütenblätter abzupfen.« »Wohl wahr.« Gebe ich zu, sinke in die silbergrau gehaltene Sitzgarnitur, bewundere die distinguierte, schnörkellose Eleganz des Raums, dessen Zentrum eine Nische mit einer geschmackvollen Vase bildet, in der als farbiger Blickfang Blütenzweige arrangiert sind. Mit der Ruhe, die durch die schalldichten Wände einkehrt, verabschiedet sich auch meine Nervosität. Ich lasse mich in meditativer Versunkenheit einfach treiben, schließe mit mir selbst den Pakt: was auch immer geschehen wird, ich werde mich nicht verraten. Meine Unsicherheit und Zweifel akzeptieren. Nimm mich, wie ich bin oder lass es. *~i~* O-Masu kündigt einen privaten Besuch an, überreicht mir mit einer Verbeugung ein Kärtchen mit den Namen, den sie in gestochen scharfer Schrift notiert hat. »Honjou, Kamatari.« Ich nicke knapp, signalisiere ihr, dass ich über die Entscheidung, wie mit diesem Vorgang ohne Termin verfahren werden soll, beschließen werde. Die Zahlenreihen und Schemata vor mir verlieren ihre Bedeutung. Wie ein Fanal ziehen mich die wenigen Buchstaben in ihren Bann, suche ich nach der Entsprechung seines Namens in Kanji. Wie bemerkenswert. Mein Umgang mit Teenagern beschränkt sich auf Misao, sodass ich im unangenehmsten Fall eine Szene erwartet hätte, einen trotzenden, heulenden Schüler. Für die dramatische Inszenierung ist Kamatari zu unerfahren. Natürlich geht es um das Intermezzo während der Party, vermutlich fordert er eine Aussprache. Wie ermüdend. Besser, es gleich abzuhandeln, dieses lästige Kapitel zuzuschlagen. *~i~* Als die junge Frau lautlos die Tür öffnet, mit höflichem Räuspern meine Kontemplation unterbricht, bewege ich mich in zähflüssiger Langsamkeit, kehre nur zögerlich in die Gegenwart zurück. Dieser Zustand des inneren Friedens ist so angenehm. "O-Masu, vielen Dank. Bitte notieren Sie eingehende Anrufe." Seine Stimme ist kühl, leise, kündet von der Gewohnheit, immer Gehör und Beachtung zu finden, ohne dies forcieren zu müssen. Ich stutze, lächle reflexartig, als ich ihm gegenüberstehe, durch die massive Schreibtischfront getrennt. Ein Dreiteiler, natürlich in Schwarz gehalten, selbst das Hemd glänzt in schwarzem Seidenstoff. Allein seine Haut blitzt kontrastierend hervor. Er wirkt weniger wie ein distinguierter Geschäftsmann als wie ein professioneller Attentäter, aus Hongkong-Filmen entsprungen. "Bitte, nimm doch Platz." Knapp weist er mir einen Platz in den Stühlen vor dem gewaltigen Rund seines Schreibtischs zu. "Vielen Dank." Winke ich höflich ab. "Ich möchte lieber stehen. Es wird auch nicht viel deiner Zeit beanspruchen." Seine Augen verbergen sich hinter den rabenschwarzen Ponysträhnen, eingefangen, unleserlich. Die Andeutung eines Nickens, damit auch der Abschied von weiteren Floskeln, mein Anliegen zur Sprache zu bringen. Ungeniert studiere ich ihn, lasse meinen Blick über seinen Körper wandern, goutiere jedes Detail. Er zeigt kein Anzeichen von Ungeduld, verharrt so reglos, als habe das Eis seiner Augen seinen gesamten Körper erstarren lassen. "Ich möchte mein Bedauern ausdrücken, einen missverständlichen Eindruck erweckt zu haben." Formuliere ich förmlich. "Danke für deine Unterstützung in dieser Nacht." Tief durchatmen. Fertig. Das letzte Wort ist gesprochen: wie zivilisierte Menschen die Unvereinbarkeit von Hoffnungen und Erwartungen akzeptieren, ihren Weg solitär fortsetzen. Ich bin Kama, letztes Jahr Highschool, kleide mich ausgefallen, fühle mich zu Männern hingezogen, auch wenn ich noch unerfahren bin. Ich weiß nicht genau, was ich suche, aber mein Herz werde ich nicht außer Acht lassen. *~i~* Er lächelt nachsichtig, so, als amüsiere ihn eine persönliche Unzulänglichkeit, nickt mir zu, zieht den Reißverschluss seiner Steppweste höher, um zur Tür zu gehen. Das ist wirklich unerwartet. Sollte ich nicht erfreut sein, dass er mir geradezu in die Hand spielt, mein Plansoll erfüllt? Ich bin es nicht. Den Spieß umzudrehen, mir keine Gelegenheit zu offerieren, ihm zu beweisen, wie oberflächlich mein Interesse ist, einem Wettstreit unserer Willensstärke auszuweichen: das kann ich nicht akzeptieren. Über den Schreibtisch hinwegsetzend lande ich leichtfüßig und geräuschlos, gleite hinter ihn, bevor der Luftwirbel sein Misstrauen erwecken kann, reiße ihn an einem Arm herum, ersticke seinen Ausruf mit meinem Mund. Eine Hand fest in den Ausschnitt der Steppweste gegraben schiebe ich ihn zurück zu meinem Schreibtisch. Die andere Hand beschäftigt seinen Schritt, betont grob, wie ich seinen leisen Wehlauten entnehmen kann. Die aufgerissenen Augen, ein wundervolles, klares Haselnussbraun, fixieren mich fassungslos, dass ich einen solchen Bruch aller guten Sitten und Umgangsformen begehen kann. Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. Fordere mich nicht heraus, Schneewittchen, wenn du der bösen Stiefmutter nicht gewachsen bist! *~i~* Mir bleibt die Luft weg. Ich kann mich nicht wehren gegen ihn, winsele hilflos nach mehr, weil er sein Geschick perfid einsetzt, mich auf die Platte drückt, eine Hand fest in meinem Schritt, wo sie unzüchtige Spiele treibt. Selbsttätig schlingen sich meine Arme um seine Schultern, schließe ich die Augen, will nicht den Triumph in den Eisseen lesen. Ich kann meine Lippen nicht von seinen lösen, aus Scham, man möge hören, welche Reaktionen er heraufbeschwört. Vage registriere ich die Richtung, in die er mich dirigiert, ein seltsamer Pas-de-deux. Da trifft mich auch schon die unnachgiebige Tischplatte knapp unter dem Gesäß. Das Signal für ihn, mich mit einem Stoß auf sie zu befördern, ohne dass er mich in irgendeiner Weise freigibt. Als er meine Weste loslässt, durchläuft mich ein erleichtertes Zittern. Zu voreilig, wie mir mit Wimpernschlag klar wird, als er mit der freien Hand den Reißverschluss herunterzieht, den gesteppten Stoff von meinen Schultern schiebt, genau auf Höhe meiner Ellenbogen abbremst. Er verlagert sein Gewicht auf mich, sodass unsere Beckenknochen sich schmerzhaft ineinander graben. Er hebt mich kurz an, einhändig, wohlgemerkt!, zerrt die Weste tiefer. Ich bin geknebelt! Obwohl meine Hände frei sind, hindert mich der gesteppte Stoff unmissverständlich daran, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Er streift ohne eine sichtbare Gemütsregung meine Jogginghose herunter, lässt sogleich meinen Slip folgen. Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. Was wenig Effekt hat, da seine Lippen meine unnachgiebig versiegeln, er mir nicht gestattet, mich zu verlautbaren oder eigenen Atem zu schöpfen. In mir steigt Panik auf. Von meiner guten Stimmung bleibt nicht mal eine Erinnerung. Ich bin ihm wirklich ausgeliefert. Wie er in der Toilette bewiesen hat, weiß er nur zu genau, wie er vorgehen muss. Was er umgehend in die Tat umsetzt, mein ungeschicktes Zappeln und Winden ignoriert, seine kühlen Finger fest um meine Erektion legt, während er mein Sweatshirt hochrollt, mit den Fingernägeln Streifen über meine Brust zieht. Ich kneife die Augen zusammen, versuche, gegen den Mahlstrom aus Hormonen und Emotionen anzusteuern, eine Entscheidung zu treffen, ob ich zulassen soll, was er offenkundig beabsichtigt. Eine unnütze Erwägung, weil ich keine Möglichkeit sehe, ihn abzuschütteln, mein Körper nur zu willig unter seinem Zugriff schwelgt und anschwillt. Ich winsele in seinen Kuss, tippe die Zunge an, die meiner ein Gefecht liefert, schlinge ein nacktes Bein um seine Taille, als er meine Beinkleider auf den Boden herunter tritt, mich weiter über die Tischplatte schiebt, bis mein Kopf wie ein überflüssiger Ballast über die Kante ragt, mir ein magerer Rest meines Blutes in das Gesicht schießt, die Welt ihre Achsen verkehrt. Mir bleibt nichts mehr, als ihn gewähren zu lassen, sich an mir auszutoben, bis er befriedigt ist. Meine Lider senken sich fest. Ich falle in die Schwärze dahinter, die von Explosionen zerrissen wird. *~i~* Sein Widerstand ist mühelos unterminiert. Ein Novize, wie mir nicht entgehen konnte angesichts unseres initiierenden Aufeinandertreffens. Ich lasse ihm keinen Raum, halte ihn unter mir fest, bestimme seinen Luftvorrat, ersticke die Laute, die aus seiner Kehle an die Oberfläche dringen wollen, zwinge ihn auf die kalte Schreibtischplatte herunter, wenn er sich Erleichterung und Zuflucht bei mir verschaffen will. Es kostet wenig Zeit, ihn an den Rand des Selbstverlusts zu treiben. Geschickter Einsatz kundiger Griffe, meine Erinnerung an die Stellen seines Körpers, die besonders empfänglich sind. Sein hilfloses Winden reizt mich noch stärker, seine Qual zu vervielfachen. Ich kann meine eigene Erregung leichter verdrängen. Ich habe nicht vor, mich von ihm besiegen zu lassen. Natürlich könnte ich die Situation ausnutzen, wenn er noch ermattet ist, mich an ihm schadlos halten. Nachholen, was mir am Sonntag versagt blieb. Der Gedanke sagt mir erstaunlicherweise nicht zu. Ich will seine zuckenden Augenlider nicht aus meinem Blickfeld verlieren, die Sehnen, die sich abzeichnen, weil sein Kopf überstreckt ist, als ich ihm gestatte, frei zu atmen, das Aufbäumen seines trainierten Körpers unter mir. Auf diese Weise entblößt, zu einem Lustobjekt degradiert, an dem nur die Geschlechtsmerkmale von Interesse sind, halte ich inne, studiere ihn, lausche beiläufig seinen fliehenden Atemstößen, eine Hand hart um seinen Penis geschlungen. Er wirkt nicht abstoßend in dieser Position, der Kontrast zwischen Hautfarbe und Sexualorganen gering. Ich erwache aus meiner Starre, als er den Kopf angestrengt anhebt, mich ansieht. Unschlüssig streiche ich mit dem Daumen über die Eichel, entlocke ihm ein tiefes, melodisches Stöhnen, versuche, die Haselnussaugen zu ergründen, die sich bemühen, meinen Blick unter den Strähnen zu finden. Ich sollte ein Ende machen. Nein, ich muss ein Ende finden! Er ist mir ausgeliefert, verdient eine Lektion darüber, was er für mich ist! Nämlich nicht mehr als ein namenloser Snack, an dem ich meinen Trieb abbaue. Nichts anderes ist für mich von Interesse. Für persönliche Beziehungen habe ich keine Verwendung. "Aoshi?" Trotz der Erregung, die ihn sichtbar zittern lässt vor Verlangen, klingt seine Stimme sanft, warm, wie das sehnsüchtige Wispern einer Sommerbrise. Niemand hat mich auf diese Weise angesprochen, soweit meine Erinnerung reicht. Langsam öffne ich den Gürtel, lasse meine Hose auf meine Füße gleiten, schiebe meinen Slip hinunter, umfasse seine muskulöse Kehrseite, um ihn hautnah an meinen Schritt zu ziehen. Ich beuge mich vor, umschlinge seine Schultern, richte ihn auf. Er keucht. Ein Lächeln huscht über seine Lippen, als sich unsere Erektionen berühren: warmes, feuchtes Fleisch über einem angespannten Muskelstrang. Ich kann nicht sagen, warum ich die Steppweste von seinen Armen streife, ihn befreie, an mich ziehe. Vielleicht, weil er mich auf eine zärtliche Weise küsst, die meiner Begierde diametral entgegensteht, über meinen Rücken streicht, als gelte es, einen Trost zu spenden. Mir ist es gleich. Ich schließe die Augen, akzeptiere meine Niederlage, erwidere seine Liebkosungen, bewege mich in einem aufreizenden Rhythmus langsam gegen ihn, bis meine Geduld ihr Ende erreicht und ich mit einer Hand den Abschluss beschleunige. *~i~* Ich kann nicht aufhören, ihn zu küssen, seine Lippen zu necken, um ihnen ein winziges Lächeln zu entlocken. Ist Sex wirklich so eine ernste Sache, die äußerste Konzentration erfordert? Nicht, dass ich ein Urteil fällen könnte. Die manuelle Befriedigung, die er mir, nun auch sich selbst verschafft hat, zählt meines Erachtens eher in die Sparte 'Vorspiel'. Während ich die Arme um seine Schultern geschlungen halte, heimlich die kalte Schreibtischplatte unter meinem Hintern verwünsche, greift er an mir vorbei zu einer dekorativ in Silber verkleideten Kleenex-Dose, beseitigt die Spermaspuren, die wir an einander hinterlassen haben. Mit seelenruhiger Routine, die mir Bewunderung abnötigt. So stelle ich mir die souveräne Selbstsicherheit eines Mannes von Welt vor. Andererseits würde ich im Augenblick seine eisblauen Augen bevorzugen, nur arktische Schimmer hinter dem eisernen Vorhang aus rabenschwarzen Strähnen. Ich frage mich matt, warum er mir dieses Zugeständnis gemacht hat. Ich hatte den Eindruck, dass meine Angst nicht vollkommen unbegründet war. Dass er wirklich beabsichtigt hatte, mich zu unterwerfen, zu demütigen, nichts von sich selbst preiszugeben. Verachtet er mich vielleicht insgeheim und gestattet sich deshalb die eigene Befriedigung nicht? Mein Kopf schmerzt angesichts des steten Stroms von Mysterien, die Aoshi umgeben. Ich würde mich gern auf seiner Schulter einrichten, mich sammeln. Seine gespannte, straffe Körperhaltung kündigt mir an, dass seine Phase des Nachgebens eindeutig abgeschlossen ist. Ebenso wie die Leichtigkeit, mit der er meine Arme abstreift, sich wieder korrekt bekleidet, um seinen Schreibtisch geht, an diesem Platz nimmt, einen Notizzettel aus einem ebenfalls in Silber gehaltenen Spender nimmt, mit kontrollierter Eleganz und schwarzer Tinte einige Worte festhält. Mit einem Seufzer gleite ich von der Schreibtischplatte, schlüpfe in Slip und Trainingshose, streife die Steppweste wie eine Panzerung über. Bei einem Abschied, wie er mir vorschwebte, wüsste ich nun, woran ich bin. Was soll ich aus Aoshis Reaktion schließen, nachdem er mich zurückgehalten hat? Oder irre ich mich und dies war in seinen Augen eine weitere Belanglosigkeit? Kama, schalte einen Gang zurück, du wirst noch paranoid! Er schiebt den Notizzettel zu mir, erhebt sich in der geschmeidigen Eleganz, die ich nicht mit einem Bürojob verbinde, sondern einem Athleten. Noch ein weiteres Rätsel. Seine Handschrift ist akkurat, gestochen scharf, ohne Schnörkel. [Freitagabend, 7 Uhr, Ecke Broadway und Park Lane], entziffere ich mühelos. Eine Verabredung?! Mein Kopf fliegt so schnell hoch, dass es vernehmlich in meinem Nacken knackt, während ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, meine Augen flöhen ihren Höhlen vor Unglauben. "Du~du willst mich treffen?!" Platze ich schließlich heraus. Seine Miene ist so kühl und unbewegt wie ehedem, als er mir antwortet. "In der Tat. Plane das Wochenende ein." Uoh... Ich schlucke. Das bedeutet, wir sind über Nacht gemeinsam unterwegs. Ameisen marschieren über meine Haut. In meinem Magen kocht Unbehagen auf. Das geht ein wenig schnell für meine Begriffe. Außer seinem Namen hat er mir noch nichts über sich anvertraut, demnach interessiert ihn nur mein Körper. Sollte ich nicht besser...?! Als ich wieder aufsehe, erneut das vergebliche Unterfangen auf mich nehmen möchte, nach seinen Augen zu fahnden, steht er bereits neben mir. "Ich muss dich nun bitten zu gehen. Mein nächster Termin wartet." Mir verschlägt es die Sprache. Mein Kiefer sackt herab, während ich sein Gesicht fassungslos anstarre. Bin ich nur ein 'Termin' gewesen, den man einfach hinauskomplimentieren kann?! Den Notizzettel in meiner Hand zerknüllt will ich diesen mit Grandezza auf den makellosen Schreibtisch feuern, eine vernichtende Absage erteilen, seine Manieren zur Sprache bringen, als er mein Vorhaben geschickt unterläuft, meine geballten Fäuste umfasst, mich gleichzeitig auf den Mund küsst. So einem simplen Knebel ergebe ich mich selbstredend nicht, sondern belagere seine Lippen, bis er mir Einlass gewährt, ich ihm energisch demonstrieren kann, wie verärgert ich bin! *~i~* Okina steht in der Tür, Distanz in seine faltigen, hageren Züge geschrieben. Er erspart uns die gewohnten Vorhaltungen: dass es bereits nach Mitternacht ist, dass ich meine anderen Verpflichtungen vernachlässige, meine eigene Person eingeschlossen. In diesem Punkt irrt er. Eingedenk meines Intermezzos mit Kamatari Honjou, dem Jungen, der nicht mehr als ein Einweg-Spielzeug sein sollte. "Du hattest unangekündigten Besuch." Stellt er knapp fest. "Gibt es etwas, dass ich wissen müsste?" Ich hebe den Kopf, erwidere seinen kalten Blick ungerührt. "Niemand von Bedeutung." Bescheide ich kurz. Er nickt abgehackt, einziges Zeichen seiner Verärgerung und seines Misstrauens, was meine Einschätzung betrifft, bevor er sich abwendet. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er jemals meine geschäftlichen Entscheidungen in Frage gestellt hat. Nicht einmal im privaten Rahmen. Was meine Urteilsfähigkeit in den Belangen betrifft, die mich als Person berühren, kümmert mich seine Ablehnung nicht sonderlich. Was immer ich auch wähle: mein Lebensweg ist bereits festgelegt. *~i~* Kapitel 6 - Cinderella Ich kann gar nicht erwarten, Sano zu treffen, als ich aus dem Schulbus steige. Mein Kopf dröhnt vom Geräuschpegel. Ich zögere, bleibe stehen, um sofort angerempelt zu werden. Soll ich Sano DAVON berichten? Andererseits wäre es wirklich wichtig, eine zweite Meinung einzuholen, um einzuschätzen, ob ich langsam den Verstand verliere, oder Aoshis Verhalten gar nicht so exzentrisch ist. "Morgen, Kama." Sano teilt den Strom der anderen um mich, indem er vor mir innehält, mich mit einem zusammengekniffenen Auge inspiziert. Ich grinse ihm entgegen, hake mich vertraulich bei ihm unter. "Sano, treffen wir uns in der Pause bei den Tribünen? Ich brauche deinen Rat!" Sprudele ich hervor, bevor mir meine Zaghaftigkeit in privaten Dingen einen Strich durch die Rechnung machen kann. "Roger." Nickt er sichtlich beruhigt, grüßt beiläufig einige Mitschüler, die verunsichert eine Erwiderung murmeln, weil sie nicht wissen, wie sie Sanos Sympathie behalten und mich mit Verachtung strafen können. Mit Verve werfe ich den überlangen Schal in exaltierter Geste über meine Schulter, stolziere neben Sano die Treppen hinauf. "I am what I am and I don't need no excuses!" *~i~* Ich lausche Kamas Dilemma, kaue dabei nachdenklich an einem Croissant, das der Wundertüte von Kamas Großmutter entsprungen ist. Beim dritten Date gleich aufs Ganze gehen, ohne dass man mehr als den Vornamen kennt? Eigentlich fühle ich mich gar nicht kompetent, irgendeine Empfehlung auszugeben, weil ich diese Situation noch nie durchgestanden habe. Der Vorteil des Machos, der bestimmt, wann man wie weit geht. Wie ich ja beiläufig erwähnte: die letzte Hürde habe ich noch nicht genommen. Für ein bisschen Kuscheln und Kaugummitauschen ist es wesentlich, sich den Namen der Kleinen zu merken, an den richtigen Stellen zu nicken, wenn sie über Gott und die Welt plappert. Ansonsten habe ich keine größeren Hindernisse zu bewältigen. Schon gut, ich gebe zu, ich bin nicht an einer substantiellen Beziehung interessiert. Ich will lediglich ein wenig Spaß haben. Bei Kama sieht das wohl anders aus, urteile ich nach einem knappen Blick auf das konzentrierte Profil neben mir. Oder er lässt Einiges aus. Worauf ich wetten würde, wenn Kaz nicht strikt dagegen wäre. "Sag mal, wir reden doch hier von Aoshi, richtig?" Strecke ich meinen Kopf in die Schlinge. Kamas Reaktion ist eindeutig: sein Körper friert mitten in seiner Rede ein, die Wangen färben sich dunkel, während er rasch die Augen auf seine Füße richtet. Oh weia.... Kama und Aoshi.... Ich atme hörbar aus, verlautbare meine gemischten Gefühle. "Junge, du hast Mut." Kama zieht die Schultern hoch. "Das weiß ich leider noch nicht genau. Ich bin neugierig, aber ich fürchte mich auch." Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Wir wissen wohl beide nicht, wie wir fortfahren sollen. Ich möchte keine Details erfahren, wenn ich ehrlich bin. Kama macht auch nicht den Eindruck, als wolle er diese Intimitäten mit mir teilen. Trotzdem kann ich nicht aufhören, ihn von der Seite zu mustern. Wirklich albern, doch die Vorstellung, Aoshi und Kama zusammen... »Sano!!« Rufe ich mich selbst zur Ordnung. Erstens geht es mich nichts an. Zweitens bin ich längst der pubertären Entwicklungsstufe entwachsen, in der man sich unbedingt mit der Idee befassen muss, gewisse Personen im Adamskostüm zu imaginieren! Na, habe ich das nicht wirklich maßgeschneidert formuliert? Kaz wäre sicher stolz auf mich. "Ich denke, ich werde mich mit ihm treffen und verschwinden, wenn es mir zu viel wird." Legt sich Kama fest, stößt mich mit der Schulter neckend an. "Okay, Sano, du kannst jetzt damit aufhören, mich wie einen Marsmenschen anzustarren." Blinzelnd schneide ich ihm eine Grimasse. Was soll das denn heißen?! Immerhin hat er sich das Etikett umgehängt, es möglicherweise am Wochenende...!! "Wie steht's mit deinem Undercover-Job?" Erkundigt er sich zwinkernd, offenbar über meine Reaktion amüsiert. Brummend zucke ich mit den Schultern: keine Fortschritte. Was sehr ärgerlich ist. Genau genommen habe ich Zweifel, dass ich als Hitman in die Bande einsteigen könnte. Eine Verwicklung in Gewaltakte für Drogenhändler: das ist zu schmutzig, um es durchzuziehen! Ganz zu schweigen vom dem Risiko. Soll ich dem Höllen-Cop mit leeren Händen gegenübertreten?! "Vielleicht sollten wir mal seinen Ex-Partner befragen? Der könnte uns ja Hinweise geben, was genau so ein Tipp bringen soll." Kama dreht eine Strähne um seinen Finger. Kein schlechter Gedanke, auch wenn ich keinesfalls darauf brenne, diesen merkwürdigen Drugstore-Besitzer wiederzusehen. "Dir ist es wohl ernst damit, mir zu helfen?" Richte ich mein Augenmerk auf einen anderen Aspekt, zupfe ebenfalls eine lange Strähne aus Kamas Schopf, um mit ihr meine Finger zu beschäftigen. "Natürlich! Wir sind Freunde: du stehst mir bei und ich stehe dir bei." Erklärt er gelassen. Unsere Blicke treffen sich, wir grinsen wie Verschwörer, tauschen einen geheimen Händedruck aus. Selbstredend ungeschickt und unter Kichern. *~i~* An das ständige Busfahren muss ich mich erst gewöhnen. Früher habe ich die Strecken mit dem Fahrrad bewältigt. Das wäre zugegebenermaßen in dieser Metropole eher ungewöhnlich. Sano verschafft sich rasch einen Überblick, sondiert den richtigen Bus in die richtige Richtung, kümmert sich keinen Deut darum, wie man unser merkwürdiges Gespann beobachtet. Das könnte natürlich an meinem äußeren Erscheinungsbild liegen. Dabei habe ich mich wirklich um Seriosität und Dezenz bemüht: wadenhohe Schaftstiefel, darüber eine Reiterhose mit hohem Bund, eine makellos weiße Bluse mit Peter-Pan-Kragen und Verschnürung. Meine Haare sind artig zusammengebunden, abgesehen von einigen Spikes am Oberkopf. Das Ganze wird ein wenig konterkariert von Sanos Collegejacke, die um meine Schultern hängt, da es leicht zu nieseln beginnt. Er fürchtet, dass eine durchweichte Hemdbluse bei der vermuteten sexuellen Überzeugung dieses ominösen Ex-Partners falsche Vorstellungen beschwören könnte. Es ist zu niedlich, seinen Beschützer-Allüren zuzusehen! Also wickele ich mich artig in die blau-gelbe Lederjacke mit unserem Schulemblem und dem markigen Schriftzug, lehne mich an das Fenster, wo zögerlich erste Tropfen hinab perlen. Ein weiterer Umstand, der mich mit Wärme erfüllt: selbstverständlich nimmt Sano die Kavaliersposition im Gang ein. Es ist wunderbar entspannend, sich einfach fallen zu lassen, seiner Obhut zu überantworten. Eine regelrechte Versuchung! Ich mustere sein Profil, registriere die verborgene Anspannung unter der täuschenden Maske des 'Kumpeltypen von nebenan'. Warum lässt er sich auf diesen Handel ein? Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit? Vielleicht werde ich bei der Konversation mit diesem Okita mehr erfahren. Durch die unausgesprochenen Dinge. *~i~* Ich hatte schon mit ihm gerechnet, Hajimes neuestem Späher. Allerdings nicht in einer so bemerkenswerten Begleitung. Der Junge, Sanosuke, bietet das gewohnte Bild eines trotzigen Teenagers: die kräftigen Fäuste tief in den Jeanstaschen versenkt, die ein künstlich zerlumptes Dasein fristen, die Schultern hochgezogen, die großen, köstlichen Augen hinter den herabhängenden Strähnen seines Hahnenkamms nahezu unsichtbar. Eine Pose, um sein fragiles Gesicht zu wahren, die mich erstaunt, da er ja nicht allein gekommen ist. Was eine solche Scharade erspart hätte. Während er uns kurz bekanntmacht, reiche ich dem Neuankömmling, als Freund und Klassenkamerad vorgestellt, die Hand. Kamatari, ein hübscher Name für ein Wesen, das, sobald es die unförmige Collegejacke abgestreift hat, wie die Venus aus der Meeresmuschel erstrahlt. Ich starre bewusst, weil ich mir keinen subtileren Weg weiß, meine Neugierde zu dokumentieren: sind die beiden etwa ein Paar? Merkwürdig. Üblicherweise erkenne ich sofort an den minimalen Hinweisen, wie Menschen zueinander stehen, welchem Geschlecht sie den Vorzug geben. Bei Sanosuke bin ich unschlüssig. Dessen Miene umwölkt sich düster, weil er mein konzentriertes Interesse an seinem Begleiter wohl fehlinterpretiert. Eine faszinierende Erscheinung. "Können wir reden? Über den Auftrag von Fujita?" Brummt er sonor, schiebt sich brüsk vor Kamatari. Eine optische und physische Schutzmauer. "Bitte, gehen wir doch nach hinten." Führe ich die beiden in den Raum, den Sanosuke bereits kennengelernt hat. Der hält sich nicht unnötig lange mit Präliminarien auf, sondern geht direkt auf den Kern der Angelegenheit zu. "Ich habe versucht, an die Leute heranzukommen, die den Höllen-Cop interessieren. Mit meinem Ruf funktioniert das nicht. Niemand würde mir abnehmen, dass ich Drogen nehme, ebenso wenig an krummen Geschäften teilhabe. Außerdem will ich nicht in Straftaten reingezogen werden, die alles noch schlimmer machen, als es bereits ist." Schließt er knapp seinen Vortrag. Verständlich. "Möchtest du aussteigen?" Erkundige ich mich ruhig. Ich bezweifle, dass Hajime ausgerechnet auf seine Mitarbeit baut. "Ich will nicht kneifen!" Stellt er sofort rigoros klar. "Ich weiß nur nicht, wie ich mich einladen soll! Wenn der Psycho-Cop mich dabei haben will, hat er doch sicher eine Idee gehabt, oder nicht?!" Hmmmm... Bemerkenswert, dass er Hajime diese kalkulierende Voraussicht zuspricht. "Ich werde mit meinem Ex-Partner Kontakt aufnehmen, die Situation übermitteln, wie du sie mir geschildert hast, einverstanden? Danach rufe ich dich an." Er wirkt bei diesem Aufschub nicht gerade zufrieden, schickt sich stumm in die Notwendigkeit, nickt mir zu, verabschiedet sich knapp. Sein Begleiter schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, schließt sich ihm an. Was für eine ungewöhnliche Entwicklung. Ich bin gespannt, Hajimes Reaktion zu erfahren. *~i~* Die Nachricht, die mir der Auftragsdienst, den ich Souji genannt habe, übermittelt, kommt nicht unerwartet: der kleine Punk hat sich demnach entschlossen, die Herausforderung anzunehmen. Wie vorausgesehen ist er aber nicht in der Lage, sich ein Entree zu verschaffen. Aus Soujis blumiger Beschreibung geht hervor, dass er in Begleitung erschienen ist. Allerdings nicht mit seinem Bruder, sondern 'einem himmlischen Geschöpf', einem Klassenkamerad namens Kamatari Honjou. Während ich den üblicherweise nutzlosen Rookie beauftrage, mir weitere Informationen zu diesem Jungen zu beschaffen, reift bereits mein Plan, meinen neuen Köder in Stellung zu bringen. *~i~* Freitag ist normalerweise der beste Tag der Woche: die Fron in der Schule neigt sich ihrem Ende zu. Das Wochenende verspricht Erholung und Entspannung, Spaß und Abstand. Der mir heute, verständlicherweise, fehlt. Ich zähle die träge dahinfließenden Stunden, spüre meine Nervosität anwachsen, bis ich nahezu in jeder Pause die Toilette aufsuchen muss. Das entlockt Sano ein süffisantes Grinsen. Wahrscheinlich werde ich ein Nervenbündel sein, wenn die Schultore uns in die Freiheit entlassen: keine schöne Aussicht. Ich fühle mich allerdings gerechtfertigt durch mehrere Aspekte: meine erste Verabredung, Aoshi Shinomori, die mögliche Übernachtung, Aoshi Shinomori... Fracksausen ist noch das Mindeste, was meinen Zustand beschreibt, als Sano mich an der Hand fasst, sie energisch reibt. "Mann, Kama, komm runter! Du siehst aus, als würdest du gleich den Löffel abgeben!" Bescheinigt er mir mit mahnendem Blick in sehr charmanter Ausdrucksweise. Vor dem Erstkontakt mit einem Spiegel an diesem Tag habe ich mich feige gedrückt, weil ich die Horde der Zweifel fürchte, die in meinem Hinterkopf auf der Lauer liegen, ihre Chance abwarten. Was soll ich anziehen? Was mit meinen Haaren machen? Parfüm, oder lieber doch keins? Makeup? Pyjama einpacken? Wahrscheinlich detoniert gerade ein Krater neben dem anderen in meinem Gesicht, eine Akne-Landschaft erblüht, um mich vollends in ein Ungeheuer zu verwandeln!!! "Hey!" Seine Fingerspitze tippt auf meine Nase. "Hörst du mir eigentlich zu? Deine Augen sind so glasig. Du hast doch nicht was Falsches eingeschmissen?" Ich blinzele, presse besonders viel Luft in meine Lungen hinunter, lockere angestrengt meine verspannten Muskeln. "Ich bin einfach furchtbar nervös." Erkläre ich überflüssigerweise das Offensichtliche. "Wird schon schiefgehen!" Muntert mich Sano auf. Seine Faust tupft auf meinen Oberarm, während er mir sein breitestes Patentgrinsen schenkt. Wir schlendern, Hindernisse im Strom der fliehenden Schulgemeinde, langsam dahin. Ich umklammere meine Schulmappe mit beiden Armen wie einen Schutzschild vor der Brust, während Sanos Rucksack locker über einer Schulter baumelt, er auf einem Zahnstocher herumnagt. "Hör mal, du hast meine Nummer, Kama, richtig? Ich werde heute mal Zuhause bleiben, um Kaz zur Hand zu gehen. Also kannst du mich jederzeit erreichen, wenn es Probleme gibt, okay?" Artig nicke ich, wiederhole seine Telefonnummer laut, um den besorgten Ernst aus seinem großen Schokoladenaugen zu vertreiben. Ich möchte nicht, dass er sich zu viele Gedanken macht. Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Zumindest hoffe ich das. *~i~* Kama verabschiedet sich mit aufmunterndem Winken, stolziert langsam davon. Die hochgeschnürten Stiefel mit den Pfennig-Absätzen unterstreichen seinen anmutig-wiegenden Gang. Wäre er eine Frau und noch ein wenig größer: der Laufsteg würde ihn anbeten! Ich kann seine Nervosität gut begreifen. Mir wäre auch mulmig zumute, würde ich gleich nach dem ersten Date schon aufs Ganze gehen müssen. Und das mit einem anderen Typ! Auf meinem Zahnstocher nagend sinniere ich, sicherheitshalber den Kopf gesenkt, die technischen Notwendigkeiten. Ehrlich gesagt habe ich keine wirkliche Vorstellung, was wie vonstatten gehen soll. Visualisieren will ich das auch nicht: es macht MICH nervös! So nüchtern man alles betrachten mag, Sex ist ja nicht gerade eine hygienische Angelegenheit, wie jeder Flüssigkeitsaustausch, mich blockieren die antrainierten Tabus. Ob es Kama ähnlich geht? Mit einem verdrießlichen Schnaufen betrete ich das alte Lagerhaus, das Kaz und ich bezogen haben, klettere über die geschraubte Treppe in den ersten Stock. Wenn alles nichts hilft, man zu viel aufgestaute Energie hat, gibt es nur ein wirksames Mittel: Hausputz!!! Hey, ich wette, ihr habt was anderes erwartet! ^_~ *~i~* Natürlich legt die Zeit einen höchst unerfreulichen Sprint ein, sobald ich der Dusche entsteige, eingewickelt in flauschige Handtücher ratlos die Magazine wälze, in verzweifelter Suche nach einer Inspiration. >Für ein festliches Diner wählen Sie eine besondere Robe. Achten Sie darauf, dass Ihr Makeup mit Kerzenschein korrespondiert. Wählen Sie helle sanfte Farben oder Gold-Nuancen.< >In der Disco ist freiluftige, legere Mode akzeptiert. Das Makeup kann ruhig kräftig sein, aber Vorsicht bei weißer Wäsche: sie kann fluoreszieren!< >Eine Bar und er an Ihrer Seite? Wählen Sie ein Cocktailkleid, das das elegante Besteigen von Barhockern erlaubt. Lipgloss wirkt beim Verzehr der Maraschino-Kirsche besonders erotisch!< >Die Oper bedeutet große Gala: sparen Sie nicht an Dramatischem! Für den Schmuck gilt: wenig, aber exklusiv!< >Ein Nachtclub mit Separees? Tragen Sie tanzbare Bekleidung, dunkle kraftvolle Farben! Unser Erotik-Tipp: Verzichten Sie auf die Strumpfhose und lassen Sie das dezente Fußkettchen locken!< Mit wachsender Frustration schiebe ich den Stapel beiseite, sinke geschlagen darnieder, erwäge tatsächlich für lange Sekunden, das Ganze zu vergessen und den Aufsatz über die Auswirkungen der Französischen Revolution auf die Entwicklung des Bürgertums anzufangen! »Er hätte ja wenigstens eine Andeutung fallen lassen können, wohin wir gehen werden!!« Bedenke ich ihn mit einem wütenden Knurren. Soll bloß wagen, sich über meine Bekleidung zu äußern!! Wenn ich eine passende finden würde! Ich stoßseufze ein weiteres Mal. Will er mich eher als Mann oder als Frau? Frech oder zurückhaltend? Glamourös? Unschuldig? Herausfordernd? Mein Magen knurrt vernehmlich. Ich ergreife die letzte Ausflucht, bevor ich mich dem Kampf mit dem Kleiderschrank und meinem Image stelle: runter in die Backstube, um etwas für Leib und Seele zu stibitzen! *~i~* Misao ist mit einigen Klassenkameradinnen unter Aufsicht im Kino, sodass ich ohne lästige Kontrollen mit der gemieteten Limousine in den Abend entkommen kann. Der Himmel dämmert im letzten Aufbäumen sonnenuntergangsroter Farben. Wolken ziehen auf. Der Fahrer begreift erstaunlich schnell, dass ich nicht an Konversation interessiert bin. Heute Nacht bin ich auf der Jagd. *~i~* Obwohl ich eine scheinbare Ewigkeit vor den entmutigen Bergen aus dem Kleiderschrank herausgezogener Artikel gekauert habe, um mich wie ein Derwisch hastig anzuziehen und fertig zu machen, erreiche ich unseren Treffpunkt eine Viertelstunde zu früh. Eine sehr lange Viertelstunde. Ein eisiger Wind pfeift durch die Häuserschluchten, frisst sich durch Mark und Bein, auch meinen taillierten Stoffmantel. Außerdem behagt mir der Blick der Passanten nicht, die mich mustern. Einige mit Abscheu, andere mit einem Interesse, das mir keinen Zweifel darüber lässt, welche Offerte sie mir anbieten wollen, wenn ich lange genug hier ausharre. Meine angespannte Laune sinkt mit jedem Augenblick. Ich bin abwechselnd wütend auf mich selbst, auf Aoshi, wieder verzweifelt auf der Suche nach ihm, um mich aus dieser elenden Situation zu befreien. Vielleicht sollte ich in den kleinen Diner gehen, von dort aus die Straße im Blick behalten, auch wenn der äußere Eindruck eher an eine heruntergekommene Kaschemme erinnert? "Hey, Schatz, wie viel?" Packt mich unversehens ein Kerl an der Schulter, von zweien seiner Kumpane begleitet, in abgewetzte Jeanskombinationen gestopft, die seinem überquellenden Bauch nur mühsam Paroli bieten. Sofort reiße ich mein Handgelenk los, weiche zurück, die Fäuste geballt. Auch mein Gegenüber verliert seine trunkene Jovialität, als ihm bewusst wird, dass er vor seinen Begleitern einen Jungen statt einer Frau angehauen hat. Mein grünes Hemd mit der schwarzen Weste darüber liegt ausreichend eng an meinem Körper an, um jeden Zweifel zu vertreiben. "Scheiße, das ist ein Typ!" Mokiert sich grinsend ein Begleiter, während sie mich anstarren. Ich erwäge, mich einfach abzuwenden, um ihnen keine Gelegenheit zu geben, sich zu alterieren. "Was will so ein Lackaffe hier? Hey, bist du n Matrosenliebchen?" Wie eine massige Mauer rücken sie nach, zwischen banaler Neugierde und steigender Aggression unschlüssig, vermutlich in der Hoffnung auf eine Auflockerung ihres Alltags. Auf wessen Kosten auch immer. Was tun? Ich entscheide mich dafür, die Straßenseite zu wechseln, als ein dunkles Horn durchdringend neben uns aufstöhnt. Unisono zucken wir zusammen, wenden uns der Limousine zu, die ungeniert eine Fahrspur blockiert, als der Fahrer bereits herausspringt, um die Haube sprintet, den hinteren Schlag öffnet. "Bitte, Mr. Honjou, steigen Sie ein." Fordert er mich auf, assistiert mir mit einer blütenweiß behandschuhten Geste, während ich eilends in den Fond klettere, aufatmend in die gepolsterten Ledersitze sinke. "Guten Abend, Kamatari." Rinnt seine Stimme wie ein Lavafluss durch meine Adern, jagt mein Adrenalin in ungekannte Höhen. *~i~* Wir fahren im Schweigen. Ich blicke, einen Ellenbogen lässig aufgestützt, auf den Feierabendverkehr durch die verspiegelten Scheiben hinaus, schenke ihm keine Aufmerksamkeit. Natürlich habe ich seine Erscheinung bereits im Detail in mir aufgenommen. Die schlank geschnittenen, schwarzen Hosen über den dezenten Schaftstiefeln, die schwarze Weste über dem Hemd, der taillierte Mantel, die reserviert am Hinterkopf zusammengefassten Strähnen, die glatt und ohne Zierrat über den Rücken auf seine Hüften gleiten. Die langen Spikes auf seinem Kopf sind in eine dezente Föhnwelle gezwungen, wie es der Mode entspricht. Er duftet nach Gebäck und einem Hauch von Parfüm: eine eigentümliche Mischung, die meinen Hunger anfacht. Es wäre zu einfach. Er war stolz genug, mir die Stirn zu bieten. Ich werde ihm beweisen, dass das ein Fehler war! *~i~* Ich soll mich wohl unbehaglich fühlen, eingeschüchtert, weil er mich geflissentlich ignoriert. Das Gegenteil ist der Fall: im Inneren der Limousine ist es angenehm warm. Die Ledersitze sind so bequem gepolstert, dass ich in ihnen versinken möchte! So ein Luxus! Die Augen geschlossen, da ich ohnehin keine Vorstellung habe, wohin genau wir uns bewegen, ziehe ich den eigentümlichen Geruch des gewaltigen Gefährts ein, speichere ihn ab. Ich weiß ja nicht, ob ich in meinem Leben jemals wieder ein solches Auto betreten werde. Lasterhafte Dekadenz! Die moderne Variante der Märchenprinzessinnen reist auf diese Weise, stelle ich mir grinsend vor. Werde unerwünscht an die drei Kerle erinnert, die sich ungefragt einblenden, die Märchenprinzessin meiner Vorstellung in ein Callgirl verwandeln. Sanft summt der Motor, treiben wir dahin, während ich an den Wagen von Kaz denke, ihn mit dieser Limousine vergleiche: eine rassige Raubkatze auf der einen Seite und hier ein distinguierter Wal. So gewaltig, dass sich ihm niemand in den Weg zu stellen wagt. Just in diesem Moment reduziert sich die Reisegeschwindigkeit, ein elegantes Abbremsen ohne Ruck. Wir halten. Wie zuvor springt der Chauffeur hinaus, um den Wagen zu umrunden, beim Aussteigen zu assistieren. Aoshi nickt mir auffordernd zu. Ich klettere hinaus, invahiere einen dezenten Lichtpool auf dem Bürgersteig. Der gehört zu einem in einer exklusiven Mall eingerichteten Bekleidungsgeschäft, dessen Schaufenster lediglich der Namenszug, [Black Mint Lingerie Lounge], ziert. "Holen Sie uns bitte in einer Stunde ab." Aoshis zweite Äußerung an diesem Abend. Er steht hinter mir, ohne mich zu berühren, weist mit einer Hand auf den Eingang. Aha! Begreife ich, halb ungläubig, halb enttäuscht. Meine Aufmachung trifft seinen Geschmack wohl nicht, also geht es zuerst zur Generalüberholung! Das Innere des Geschäfts ist mit nachtblauem Samt verkleidet. Winzige Spots beleuchten wie Sterne den labyrinthischen Raum. Direkt dem Eingang gegenüber befindet sich ein Tresen, aus einem dieser edlen Naturhölzer gefertigt. Eine Frau, in ein einteiliges, flaschengrünes Kostüm gekleidet, begrüßt uns in freundlicher Zurückhaltung. Aoshi tritt an mir vorbei, tauscht wenige Worte mit ihr aus. Offenkundig ist er Stammkunde. Sie nickt kurz, lächelt mir zu, um uns durch das Geschäft zu führen. Eine Treppe weist in das Untergeschoss, ebenso ausgeleuchtet wie die obere Etage. Dort, auf Kleiderständern und an die Wand drapiert, findet sich jede Form von Accessoire und Leibwäsche, die ich mir vorstellen kann. Ungläubig wende ich mich zu Aoshi um. Was hat das zu bedeuten?! "Kamatari, Lilia wird dich für diesen Abend einkleiden." Ich klappe meinen Kiefer wütend zu, der mir auf unerklärliche Weise abhanden gekommen war, wende mich ruppig ab. Was glaubt er, wen er vor sich hat? Eine Puppe? Ein Spielzeug? Als Lilia meine Hand berührt, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, durchfährt mich der eisige Schauer der Erkenntnis: du Idiot, war das nicht der Grund, warum du von ihm Abstand halten wolltest?! *~i~* Seine gute Erziehung arbeitet mir zu: er wagt es nicht, in Gegenwart einer ihm Fremden eine Szene zu machen, meine kühle Haltung zu kritisieren. Ich lasse mich bequem nieder, genieße das Halbdunkel dieses exklusiven Geschäfts, von Lilia gegen eine angemessene Summe nur für mich in dieser Stunde reserviert. In meiner Position ist das äußere Erscheinungsbild von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In diesem Geschäft versteht man sich auf jede Form des gesellschaftlichen Auftritts. Meine Instruktionen sind klar und eindeutig, die Diskretion Ehrensache. Ich warte gelassen ab, wie Lilia mir meine Beute verpacken wird. *~i~* Lilia, die nicht von meiner Seite weicht, bittet mich in ein Separee, ausgestattet mit einem Zweisitzer, einem Kleiderständer samt Spiegel und regulierbarer Beleuchtung. Sie notiert meine Maße unangestrengt, sodass ich meine Scheu rasch verliere. "Bitte entkleiden Sie sich freundlicherweise. Ich werde eine Auswahl treffen. Wenn Sie meine Hilfe benötigen, drücken Sie bitte diesen Knopf im Paneel." Mit einem Seufzer leiste ich ihrer Aufforderung Folge. Was würde es nützen, sich zu widersetzen? Ist es nicht wirklich wie im Märchen: aus dem Kürbis wird eine Limousine, aus Fetzen ein prächtiges Kleid? »Hoffentlich hält der Zauber länger als Mitternacht!« Dröhnt eine Stimme sarkastisch in meinem Hinterkopf. Ich stimme ihr besorgt zu. Andererseits habe ich keine Wahl: entweder ich lasse mich fallen und genieße diese Nacht rückhaltlos, oder ich plage mich mit Befürchtungen und Zweifeln, die sich wie eine selbst erfüllende Prophezeiung über mich legen werden! *~i~* Die Zeit vergeht in angenehmer Stille. Lilia bewegt sich einige Male an mir vorbei, danach in das Erdgeschoss, schlägt ein Accessoire vor, das ich mir sogleich einpacken lasse. Endlich führt sie Kamatari zu mir. Sein Anblick erfüllt meine Erwartungen perfekt: ein nougatfarbener Zweiteiler, Hemd und Hose aus transparentem Gaze, dessen seidiger Glanz die nächste Garnitur darunter erkennen lässt. Ein passender Mantel aus strapazierfähigem Leinenstoff beschichtet mit Teflon verhüllt die Kreation ausreichend, bis wir unser Ziel erreicht haben. Auch sein Gesicht ist in entsprechenden Farben dezent geschminkt worden: auf den Lippen schimmert warme Schokolade. Ein frivoler Mandarinenton bedeckt seine Augenlider, die halb gesenkt nicht wagen, mir zu begegnen. Die langen, dunkelbraunen Haare hält eine goldfarbene Schleife. In seinen Ohren glitzern die Kreolen, die ich ausgewählt hatte, mit unauffälligem Durchmesser und bemerkenswertem Goldgehalt. "Hervorragend." Fälle ich mein Urteil, folge Lilia, die Kamataris Kleider in einer Papptüte mit Emblem verpackt transportiert, zu meinen Erwerbungen hinzufügt, die auf den Chauffeur warten. Ich begleiche meine Außenstände, während Kamatari mit scheuen Fingern über den Stoff gleitet, sich in einem Spiegel studiert. Er ist noch nicht überzeugt, meine Falle nicht vollends zugeschnappt. Mit meinem nächsten Schritt ist der Triumph mir sicher. *~i~* Mein Magen ist in heftigen Turbulenzen, während ich mich krampfhaft aufrecht halte, um nicht eine falsche Bewegung zu verursachen. Der Stoff meiner neuen Unterwäsche reibt genau über meine Brustwarzen. So perfid, dass ich beim ersten Mal aufstöhnte! Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Das heißt, ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Aoshi sich verspricht: er hat mich ausstaffiert, um mich auszuführen, danach das zu tun, was er damals bereits vorhatte, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Soll ich nun besser aussteigen, Sano zur Hilfe rufen? Auch wenn er schweigt in seiner souveränen Kälte, so verstehe ich die Absicht dahinter, nämlich mir zu beweisen, dass ich nicht mehr als ein Zeitvertreib bin. Er amüsiert sich damit, mich zu verführen, anschließend fallen zu lassen. Ich betrachte mich in der Fensterscheibe, mein neues Erscheinungsbild. Ich gefalle mir, edel, vornehm, sexy. Ich mag das sündige Reiben des Stoffs auf meiner Haut, die Macht, die ich habe, wenn mich mein Mut nicht verlässt. Vielleicht meint er, leichtes Spiel zu haben. Dazu gehören zwei! *~i~* Zu den zahlreichen Aufgaben eines Geschäftsführers gehört es auch, für jede Gelegenheit den passenden Ort zu kennen, die einflussreichen Menschen, die machtvollsten Beziehungen spielen zu lassen. Ich habe nicht vor, mit Kamatari zu tanzen. Ich will nicht smalltalken. Sondern ihn in DIE Stimmung einweben wie in ein Spinnennetz, die Stimmung, die ihn unter meinen Händen zerfließen lässt. Konsequent wähle ich daher einen Nachtclub der gehobenen Klasse, spärlich beleuchtet, luxuriöse Separees, eine kurzweilige Show mit Varietee, köstliche Speisen: ein Ambiente, das verführt, die Sinne benebelt. Man führt uns auch sogleich an den reservierten Tisch, lediglich von einer roten Tischleuchte illuminiert. Hohe Ledersitze eines Separees trennen uns von unserer Nachbarschaft, die nicht mehr als Silhouetten in der Dämmerung ist. Auf der Bühne, dem einzigen hell beleuchteten Part der Lokalität, zaubert eine in einen Smoking gewandete Frau Tauben aus Taschentüchern. Ich lasse Kamatari den Vortritt, verzichte auf jede Geste, die darüber hinaus unsere Beziehung markiert, insbesondere eine Berührung. Er setzt sich, zunächst eingeschüchtert, die Hände verlegen unter seine Oberschenkel geschoben, wendet den Kopf, um sich kein Detail seiner Umgebung entgehen zu lassen. Zu dem erstklassigen Service dieses Etablissements gehört der persönliche Assistent an jedem Tisch, der meine knappen Anweisungen aufnimmt: wann er welche Drinks zu servieren hat, welche Speisen ich wünsche. Ich bin sicher, dass Kamatari diese Absprache entgeht. Seine Augen hängen gebannt an der Bühne, wo sich nun ein artistisches Paar mit schlangenhaften Verrenkungen produziert. Unwillkürlich streicht er glatte, lange Strähnen auf seinen Rücken, richtet sich bequemer auf den Lederpolstern ein. Merklich legt sich Entspannung auf seinen Körper unter meinem lauernden Blick. *~i~* Ich komme mir wirklich wie in einer modernen Aschenputtel-Verfilmung vor, ertappe mich dabei, mich ungeachtet der Wirkung lasziv zu räkeln, an dem süßen Getränk zu nippen, das magischer Weise vor mir erscheint. Süß trifft es eigentlich nicht richtig. Am Gaumen perlt es trocken. Der Alkoholgehalt ist vermutlich nicht gerade gering. Vielleicht eine Art Sherry? Natürlich könnte ich fragen, aber nach Konversation steht mir überhaupt nicht der Sinn. Alles scheint um mich zu kreisen: die wechselnden Darbietungen auf der Bühne nur für mich in Szene gesetzt, der pikante Vorspeisenteller, von dem ich mich mit den Fingern bediene, allein für mich kreiert, der jazzige Hintergrundteppich für mich drapiert. Und Aoshi? Seine Gegenwart ist potentiell in meinem Bewusstsein vorhanden. Er unternimmt keine Anstalten, in meine intime Distanz einzubrechen, lehnt in seiner seltsam-alerten Art in den Polstern. Wie ein Raubvogel, der geduldig auf seine Beute wartet. Ich verbanne jeden Gedanken an ihn, konzentriere mich auf den Luxus, lache mit dem Publikum über die unglaubliche Jonglage, picke von meinem Teller, sodass sich auch die Turbulenzen in meinem Magen legen. Auch wenn es nur eine Illusion ist: ich fühle mich geborgen und akzeptiert, genau so, wie ich tatsächlich bin. *~i~* Es geht auf halb Elf zu, als ich erste Zeichen von Trunkenheit bei Kamatari erkenne, er die Grenze überschritten hat. Er agiert gelassen und gelöst. Seine Wangen sind sanft gerötet. Er strahlt, amüsiert sich über die Show. Seine dunkle, samtige Stimme schmiegt sich in die musikalische Untermalung. Mir wird bewusst, dass er Aufmerksamkeit auf sich zieht, allein durch sein Lachen, seine Ausstrahlung. Weder Lautstärke, noch übertriebene Gestik: seine unverfälschte Erscheinung ist becircend. Ein Zauber, gegen den ich immun sein werde. Sein muss. *~i~* Als Aoshi nach meiner Hand fasst, möchte ich gern protestieren. Ich fühle mich so wohl, dass ich dort verwurzeln könnte. Allerdings ist mir klar, dass ich ihm folgen muss, auch wenn mir der Grund gerade entfallen ist. Ich lasse seine Hand, so kühl und fest in meiner warmen, nicht los, als er mich sicher durch den abgedunkelten Raum führt. Wie schade, dass so ein Vergnügen immer ein Ende hat! Im Gang, der geradezu grell ausgeleuchtet scheint, obwohl weinrotes Samt und imitierte Kerzenleuchter warmes Licht spenden, dirigiert er mich auf einen Aufzug zu, dessen Doppeltüren so geschickt verkleidet sind, dass ich ihn auf den ersten Blick für eine Art Wandschrank halte. "Gehen wir schon?" Spreche ich ihn das erste Mal an diesem Abend an, versuche die eisblauen Augen hinter dem dichten Vorhang rabenschwarzer Ponysträhnen zu erkennen. In diesem Augenblick öffnen sich die Türen wieder, entheben ihn einer Antwort. Artig folge ich ihm. Wir werden bereits erwartet. Ein Mann im Smoking weist uns eine Tür in einem Flur, der wie in einem Comicstrip aus identischen Eingängen zu bestehen scheint, so gleichförmig, dass ich mich frage, wie sie die Pforten unterscheiden. Zählen sie jedes Mal vom Aufzug ab? Hinter der Tür verbirgt sich ein merkwürdiger Raum. An der Frontseite schimmert die Beleuchtung des riesigen Aquariums durch, das diese Seite von Fußleiste bis zur Decke einnimmt. So etwas habe ich noch nie gesehen!! Ich lasse also seine Hand fahren, taste mich im Halbdunkel rasch bis zur Trennscheibe vor, bestaune ungläubig die Unterwasserlandschaft so weit über der Erde. Die Bewohner dieser künstlichen Heimat ignorieren mich vollkommen. Ich werfe keinen Schatten auf ihre Welt, bin Zaungast, der fasziniert der Strömung folgt, Muscheln und Gewächse bestaunt, die Vielfalt von Farben und Formen der Fische, die sich dort in lebhaftem Treiben tummeln. "Wunderschön." Wispere ich andächtig, verdränge die Frage, wie viel Aoshi wohl investiert haben muss, allein, damit wir bis zu diesem Punkt kommen. Ist es wirklich möglich, dass man so viel ausgibt, wenn man seine Begleitung für den einmaligen Konsum präpariert? Das will ich nicht glauben! Als ich mich widerstrebend umkehre, immerhin kann ich nicht einfach meine Manieren in den Wind schießen, hat er es sich bereits in einem mit Samt beschlagenen Sessel bequem gemacht, starrt mich im azurfarbenen Schimmer auffordernd an. Was mich ratlos zucken lässt. Was erwartet er?! "Sing etwas." Seine sonore Stimme durchbricht die Stille. Sein gerades Kinn weist auf die Wand, in die ein Monitor eingelassen ist, daneben ein Paneel mit allerlei Knöpfen und Mikrophonen. Eine Karaoke-Maschine? Auch etwas, was ich nur aus Erzählungen kenne. Prüfend inspiziere ich die Anlage, will mir keine Blöße geben, während ich meine Verwirrung verdränge. Was für eine seltsame Anwandlung, dass er mir beim Singen zuhören möchte. Das ist romantisch?! Endlich gelingt es mir, die Maschine unter Strom zu setzen. Sogleich blendet sich ein Menü ein, bietet mir eine Auswahl an Titeln. Schön, singe ich ihm ein Ständchen. Welches? *~i~* Eine Hand mit dem Mikrophon auf die Hüfte gestützt fliegen seine Finger über das Paneel, halten inne, zögern, erwägen. Er lässt sich Zeit, will offenkundig die Stimmung mit seinem Vortrag unterstreichen. Ich spüre ein Lächeln in meinen Mundwinkeln zucken. Eine ungewohnte Empfindung, die ich hinter meiner Hand verberge. Mein Gewinn wird sich maximieren, wenn ich nach und nach seine Hemmungen löse, bis es nichts mehr gibt, das seine Hingabe hindern könnte. Je höher der Flug, desto tiefer der Fall. *~i~* In der Auswahl finden sich populäre Songs, die jede Party bevölkern, die gewohnte Menge an romantischem Schmalz für die traute Zweisamkeit. Nachdem ich mich an 'Big spender' versucht habe, das ich eigentlich nur von Shirley Bassey kenne, wähle ich Elvis Presley mit 'you're so square, baby, I don't care', in der Hoffnung, eine Reaktion von ihm zu ernten. Zugegeben, nicht gerade subtil meine Referenzen. Wenigstens ein Lächeln könnte er sich abringen! Wobei mir bewusst wird, dass ich ihn noch niemals ungezwungen und herzlich erlebt habe. »Ganz so 'cool' und souverän sollte mein Traumpartner eigentlich nicht sein.« Stelle ich mit einem schiefen Grinsen fest. Vielleicht sollte ich bei meiner Großmutter in die Lehre gehen, mir einen backen. "Noch etwas, Kamatari." Fordert er in meine stumme Zwiesprache mit meinen Erwartungen, reicht mir einen zähflüssigen Drink, der wie Honig über meine Zunge gleitet. Ich nicke, mir ist definitiv nach Action. Die Hitze des Alkohols steigt in mir auf, glüht aus mir heraus, sodass ich fast erwarte, in einer Dampfwolke zu stehen. Er möchte, dass ich für ihn singe? Er wird eine Show bekommen, die er so schnell nicht vergisst! *~i~* Ich verstehe mich nicht auf populäre Titel, obwohl wir anteilig an einem Label beteiligt sind. Für mich ist die Stille der bevorzugte Zustand, befreit von der Banalität der Töne, der wortreichen Selbstdarstellung, der aufgeblasenen Wichtigkeit der eigenen Wahrnehmung. Letztlich ist alles nur Eitelkeit. Lächerlich in Anbetracht der Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz. Kamatari hingegen funkelt mich hintergründig an. Die großen Haselnussaugen glitzern in agitierter Vorfreude, lassen den Rückschluss zu, er glaube, eine besonders hervorstechende Wahl mit seinem nächsten Vortrag getroffen zu haben. Nicht, dass ich dem Text Aufmerksamkeit widmen möchte. Ich konzentriere mich auf die Vibrationen seiner samtigen Stimme, die sich aus ihren Fesseln löst, wenn er sich selbst gestattet, aus der Deckung zu kommen. Für ein lohnendes Ziel, mich nämlich zu provozieren. Er will sich beweisen, mir beweisen, meine Entschlossenheit als trügerisch widerlegen. Er wird scheitern. Ich werde jeden Augenblick genießen. *~i~* Er sitzt so geschmeidig-gespannt wie ein Raubvogel in dem Sessel, auf eine Art und Weise, die mir kalte Schauer über den Rücken jagt. Jeder andere würde sich vermutlich lümmeln, weil diese Sitzgelegenheit geradezu einlädt, sich gehen zu lassen. Nicht Aoshi. Wachsam und mysteriös wie der Sphinx ruht sein eisblauer Bannstrahl auf mir, was mich prickelnd anficht, doch nicht ausbremst. Ich spüre den Alkohol, ein fiebriger Film auf meiner Haut und meinen Sinnen, fühle mich wie ein Feuerspucker, aus dessen Poren Flammen schlagen müssten. Im Halbdunkel spreize ich die Beine, eine Hand mit aufgefächerten Fingern beschattet mein Gesicht, während ich mich mit der anderen des Mikrophons versichere. Die ersten Takte erklingen, ein schleifendes Schlagzeug erinnert an City-Highways. Ich blende die Stimme des Leadsängers von Kiss aus, wähle meine eigene Stimmlage, stöhne summend, bevor ich mich in den Text stürze, wiege mich zum Chorus, nähere mich ihm breitbeinig, seine Augen mein stetes Ziel. "Tonight I wanna give it all to you | In the darkness | There's so much I wanna do." Meine freie Hand fächert meine Haare über den Kopf. Ich schwinge die Hüften, winde mich lasziv vor ihm, lasse mich von der Ernsthaftigkeit meiner Herausforderung mitreißen. Ich flüstere und raune, beuge mich zu ihm hinab, hauche an seinem Ohr, ohne dass er eine Regung zeigt. "I was made for lovin' you baby | You were made for lovin' me | And I can't get enough of you baby | Can you get enough of me?" Mit einem Lächeln richte ich mich auf, streife kühn mit der Hand durch seine rabenschwarzen Strähnen, funkle meine Erwartung in seine Augen, schnurre die Worte feucht-warm auf seine Lippen. "Tonight I wanna see it in your eyes | Feel the magic | There's something that drives me wild" Das richtige Stichwort. Ich gebe, endlich!, dem Verlangen nach, über meine Brust zu streichen, verstärke und lindere meine Lustqual, verursacht durch den perfiden Schnitt meiner neuen Leibwäsche, strapaziere die Elastizität der Stoffe, erwäge, mich wie eine Lapdancerin auf seinem Schoß niederzulassen. Verwerfe den Gedanken wieder. Wenn er mich will, soll er mich holen. *~i~* "I was made for lovin' you baby | You were made for lovin' me | And I can't get enough of you baby | Can you get enough of me?" Zu behaupten er sänge, käme einem Missverständnis gleich, obwohl seine Stimme ihre Qualitäten beweist: er lockt, mit dunklen, vibrierenden Tönen. Ein aufreizendes Muster, mit exakt den Resonanzen, die jeden Bass in den Unterleib fahren lassen. Ein Verführer, der keines tatsächlichen Kontakts bedarf. Ihm genügt die Ahnung, die Möglichkeit der Berührung, um Phantasien zu wecken. Er liefert wirklich eine attraktive Show. "I was made for lovin' you baby | You were made for lovin' me | And I can give it all to you baby | Can you give it all to me?" Er neckt, gibt sich verspielt und rätselhaft zugleich. Ich sollte ihn warnen. Mir bedeutet derlei frivoles Spiel nichts, auch wenn ich keine Einwände hege. Ich bin nicht hier, um jemanden zu lieben. Ich bin hier, weil ich ihn haben will, er mich herausgefordert hat, mir zu trotzen wagte. Im Augenblick windet er sich mit dem Rücken langsam am Glas des Aquariums hinab, keucht in vorgeblicher Atemnot den Ausklang des Songs, dankbarer Weise in seiner Tonlage, nicht in dem heiseren Kieksen des Originals. "Oh, can't get enough, oh, oh | I can't get enough, oh, oh | I can't get enough | Yeah, ha" Er sinkt auf den Boden, während die Melodie verklingt, den Kopf in den Nacken gelegt, die freie Hand ruht auf seiner Kehle. Ein Bild der sehnsüchtigen Hingabe. Eine nette Pose. Ich werde ihm den Gefallen erweisen, mich geben, als habe er sein Ziel erreicht, mich zu verlocken. Es wird ohnehin Zeit, die Hatz ernsthaft in Angriff zu nehmen. *~i~* Er erhebt sich aus seinem Sessel. Eine Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln verfolge. Er tritt zu mir hin, eine Hand ausgestreckt, das Signal, ich möge mich erheben. Ich ergreife die Offerte, lasse mich auf die Beine dirigieren, noch immer an das schwere, kühle Glas des Aquariums gelehnt, das meine Rückenpartie mit Schauern überzieht. Eigentlich müsste die Scheibe beschlagen, so stark vermute ich den Kontrast zwischen meiner Körperwärme und der Zimmertemperatur. Wenigstens ist es nicht zu hell, sonst würde der Alkohol meine kleinen Ausfallerscheinungen noch augenfälliger machen. Ein Kichern perlt in mir hoch, ohne Veranlassung, also schlucke ich energisch dagegen an, blinzele, um seine Augen unter dem Stirnvorhang nicht aus dem Fokus zu verlieren. "Wir sollten aufbrechen." Bemerkt er ruhig, entzieht mir auf eine höfliche Weise, den Notwendigkeiten geschuldet, seine Hand, wendet sich zur Tür. Mit einem übertriebenen Seufzer hefte ich mich an seine Fersen, spüre eine wohlige Müdigkeit, gleichzeitig den kindlichen Trotz, ihr nachzugeben, möchte explodieren vor Aktionismus, allerdings ohne Vorstellung, was genau ich umsetzen will. Der Gang empfängt uns wieder mit seinem Smoking-gekleideten Führer. Ich kneife die Augen zusammen, taumele eher ungeschickt in den sich öffnenden Aufzug, als Aoshi bereits zugreift, einen Arm um mich legt, die Fingerspitzen auf meine Hüfte presst. "Mir ist so heiß." Murmele ich, von einem leichten Schwindel übermannt, als er sich zu mir beugt, seine Lippen auf meinen Hals legt, als wolle er auf diese Weise mein Fieber messen. Auf seine Stärke vertrauend lege ich den Kopf in den Nacken, begleite seinen forschenden Kurs von Hals zu Schlüsselbein mit leisem Ächzen der Zuneigung. »Es sind die kleinen Gesten, die den Unterschied ausmachen.« Wischt es durch meine verzögerten Gedanken. »Er liebkost mich auf diese Weise! Was er doch nicht tun würde, wenn ich nur ein Snack wäre, oder?« Eine Antwort erhalte ich nicht, da sich die Aufzugtüren öffnen, wir nach wenigen Metern bereits durch die Kältedusche der Nacht geschritten sind, uns in der Limousine wiederfinden. Ich sinke in die Polster, gebe der Versuchung nach, meine Stirn gegen die kühlende Fensterscheibe zu lehnen, bemühe mich angestrengt, meine Gedanken zu fokussieren. Es wäre nicht gut, sich einfach gehen zu lassen, wenn ich Aoshi beweisen will, dass er keinen einfachen Triumph einfahren kann. Der thront neben mir, vollkommen unbeweglich, auf seine majestätisch-distanzierte Weise stets Herr der Lage. Was wird wohl unsere nächste Station sein? Den Nachtclub hatten wir bereits. Ich bezweifle, dass der reservierte Mann neben mir sich ausgelassen in einer Disco tummeln würde. Oder? Ein unglaublicher Zweifel durchschießt mich wie ein Blitzschlag, sorgt für kurzfristige Ernüchterung: hat Aoshi vielleicht entschieden, dass ich doch nicht seinem Geschmack entspreche und wird mich zu Hause absetzen? »Oder möglicherweise hält er sich an die Faustregel aller Dates: beim ersten Mal nicht aufs Ganze zu gehen!« Versuche ich mir zu schmeicheln. »Lächerlich!« Tadele ich mich selbst mit sarkastischem Schnauben. »Hier geht es schließlich nicht um eine Romanze!« Sondern um eine weitere Kerbe in seinem Bettpfosten oder wo auch immer. Der Gedanke daran stimmt mich melancholisch, auch wenn er nicht an meiner Entschlossenheit rütteln kann, mich Aoshi anzuvertrauen. Ich bekomme das, was ich erwartet habe. Also steht kein Grund zur Klage an! Dennoch lasse ich mich zur Seite sinken, lehne mich an seine Schulter, berge meinen Kopf dort, schiebe meine Hand in seine. Spiele meine Rolle aus, um mir ein wenig Trost und Wärme zu sichern. Bis die Seifenblase zerplatzt, kann ich genauso gut in meiner Zauberwelt agieren. Mir vorstellen, er liebe mich tatsächlich. *~i~* Kapitel 7 - In der Höhle des Löwen Sein Gewicht an meiner Seite ist erstaunlich angenehm, nicht zu einschränkend oder lästig. Seine Finger, die sich forsch zwischen meine schieben, zittern nur minimal. Ich begreife sein Unbehagen. Mir ist keineswegs entgangen, dass seine Courage der größte Aktivposten seines Engagements ist. Während die Limousine nahezu geräuschlos dahingleitet, plane ich meine nächsten Schritte. Obgleich ich durchaus Verkehr mit jungen Männern pflege, wickle ich meine Befriedigung nicht in meinen eigenen vier Wänden ab. Sondern stets an Orten, die ich nach Abschluss der Handlungen ungehindert verlassen kann. Das Internat, danach die Universität: ein Mikrokosmos, der Auswahl und Gelegenheiten bot, mir Ablenkung zu verschaffen, mich gleichzeitig aber nicht preiszugeben. Manchmal vermisse ich diese Zeiten. Nicht etwa wegen der willigen, gelegentlich aufdringlichen Sexualpartner, sondern aufgrund meiner Freunde dort. Allesamt von ungewöhnlichen Qualitäten und Fähigkeiten geprägt, jedoch durch ihre äußere Erscheinung zu Außenseitern verdammt, schöpften wir unser Selbstbewusstsein aus unserem gemeinsamen Schicksal, fremden Absichten zu dienen. Aus unterschiedlichen Milieus und Ländern von kriminellen Vereinigungen oder Interessengruppen ausgewählt, um für unsere Aufgaben ausgebildet zu werden, leisteten wir einander Gesellschaft, verbrüderten uns. Als ich zurückkehrte, von meiner Verpflichtung ohne Pardon eingeholt, verabschiedete ich mich knapp von ihnen, überzeugt, sie wiederzusehen. Was niemals geschah, da sie rasch nach meiner Abreise zu Tode kamen, von ihren Organisationen geopfert, durch Unfälle starben oder in Ausführung ihrer Bestimmung aus dem Leben schieden, sodass ich der letzte Lebende unseres Bündnisses bin. Das minimale Knirschen von Kies unter den schweren Reifen reißt mich aus meinen sentimentalen Betrachtungen, die ihren Ausgang dabei nahmen, wie ich meine erste Eroberung in mein Haus einzuführen gedenke. Wäre es besser gewesen, ein Hotel anzusteuern? Zu riskant, bedenkt man sein Alter. Außerdem verspüre ich bereits seit einiger Zeit diesen unwiderstehlichen Drang, den Beweis zu erbringen, dass ich unter dem Joch meine Willenskraft nicht verloren habe. "Sir?" Erkundigt sich der Chauffeur sehr höflich, wartet meine Instruktionen ab. "Der Code lautet auf 3425. Bitte biegen Sie danach in den rechts abzweigenden Weg ein." Gebe ich Anweisungen, wende den Kopf, studiere meine Jagdbeute, die vertrauensselig an meiner Schulter döst, vollkommen untangiert von den Ereignissen. Wir biegen ein, folgen dem schmalen, einspurigen Weg, der die Nebengebäude des weitläufigen Herrenhauses ansteuert. In selbigem residiert seit dem Erwerb die Familie Makimachi, der ich diene, derzeit einzig vertreten durch die Enkelin Misao Makimachi, unter dem Vormund von Okina, dem Verwalter des Familienvermögens, bis sein Mündel die Volljährigkeit erreicht. Ich ziehe es dagegen vor, wie auch meine Eltern im ehemaligen Haus des Gärtners in den Nebengebäuden zu wohnen. In Reichweite, aber nicht unter ständiger Beaufsichtigung. Ich verzichte auf das Personal, das im Haupthaus seine Dienstleistungen erbringt. Der schwere Wagen kommt mit dezentem Schnurren zum Stand. Ich beuge mich leicht herunter, raune dem Jungen an meiner Seite zu, dass wir unser Ziel erreicht haben. *~i~* Ich bin tatsächlich eingenickt, fühle mich noch benommen, sodass ich Aoshis Hand nicht freigebe, mich an ihm festhalte, als ich aus der Limousine klettere, in der Nachtluft fröstle. Der Chauffeur hält bereits auf einen kleinen, mit Säulen versehenen Eingang zu, drei Stufen. Er öffnet eine altmodisch wirkende Eingangstür mit Glaseinsatz, stellt für mich nicht einsehbar die Papptüten mit den Einkäufen ab, um sich mit einer tiefen Verbeugung zu empfehlen. Mir bleibt nichts weiter, als hinter Aoshi stolpernd über den gepflasterten Weg und die Stufen zu schreiten, in das gedimmte Licht zu blinzeln, das uns empfängt. Das Interieur weicht erstaunlich vom äußeren Eindruck des Hauses ab: keineswegs nostalgisch gestaltet, sondern kühl und sachlich, spärlich ausgestattet, in schwarzem Leder und Chrom, Glasfronten und Spots. Auch der Zuschnitt ist ungewöhnlich: von der Diele aus führen einige Stufen hinab in einen offenen, großen Wohnraum mit Couchgarnituren, einem gewaltigen Kamin sowie einer imposanten Schrankwand. Sie verbirgt offenkundig die technischen Einrichtungsgegenstände. Zumindest stelle ich es mir so vor. Rechts davon geht eine Treppe in das obere Stockwerk hinauf, die Stufen und Absätze offen, von Stahlverstrebungen abgesehen. "Bitte leg doch ab." Unterbricht er mein neugieriges Ausspähen, die Hände bereits auf meinen Mantelkragen gelegt, aus dem er mich galant schält, ihn ordentlich auf einen Bügel in einen versenkbaren Garderobenschrank in der Diele hängt. Hastig hebe ich die Hand vor den Mund, um ein eventuell heruntergesacktes Kinn zu justieren. Sein Haus ist einfach erstaunlich! Meine Müdigkeit und der leichte Schwindel sind wie weggeblasen. Unaufgefordert halte ich auf das offene Wohnzimmer zu. So eine große Fensterfront, nun teilweise mit schweren Rollos abgeschirmt! Es muss an einem sonnigen Tag wie im Paradies sein, umgeben von dem herrlichen Park, den Bäumen und Büschen um die Terrasse, sich in eine Couch zu lümmeln und müßig in Magazinen zu blättern, einen farbenfrohen Cocktail auf dem gläsernen Beistelltisch abgestellt. Während ich noch in Phantasien schwelge, eröffnet mir Aoshi zumindest eines der Geheimnisse hinter der verchromten Schrankfront. Er schenkt zwei weitere Drinks ein, der goldenen Farbe nach zu urteilen wieder Sherrys. Zumindest hoffe ich das eingedenk der Warnung meiner Großmutter, ja nicht unterschiedliche Alkoholika durcheinander zu trinken. "Beheizt du den Kamin im Winter tatsächlich?" Erkundige ich mich wissbegierig, stütze eine Hand auf der Einfassung ab, um hoch in den Schornstein sehen zu können. Gewaltig! "Manchmal." Antwortet er gleichmütig, durchquert den Raum, um mit mir anzustoßen. Ich nippe an meinem Getränk, spüre wieder Anflüge von Nervosität, drehe mich unruhig, trete an die Glastür heran, studiere die Terrasse, auf der eingehüllte Silhouetten von Möbelstücken künden, die wohl gelegentlich benutzt werden. "Das ist wirklich wunderschön! Für ein Barbecue nach einem Spiel perfekt!" Lächle ich, werfe einen Blick über die Schulter auf meinen Gastgeber. "Gehört das Haus dir?" "Es ist Teil des Familieneigentums." Weicht er kühl meiner Frage aus, entnimmt einer Schublade eine Fernbedienung. Sogleich dringt klassischer Bar-Jazz distinguiert-unaufdringlich aus verborgenen Lautsprechern, verändert die Atmosphäre. Ich erkenne, woran mich dieses Wohnzimmer erinnert hat: an einen Hitchcock-Film, "Der unsichtbare Dritte", dessen Showdown sich in einer ähnlich mondänen Einrichtung abspielt, bevor die Helden auf den Präsidenten herumklettern, also am Mount Rushmore. Die Ausstattung ist geprägt durch lässige Eleganz und eine kühne Formstrenge: könnte ich mich hier wohl fühlen? Ein ziemlich lächerliches Spiel. Wie bei Mädchen, die den Nachnamen ihres ersten Dates in ihre Collegeblocks malen, um festzustellen, wie es sich anhören und lesen würde, Mrs. XY zu sein. So stilsicher dieser Raum auch eingerichtet sein mag, stelle ich mit leisem Bedauern fest: hier würde ich nicht wohnen wollen. Um mich abzulenken, nehme ich weitere Schlucke von der herb-süßen Flüssigkeit, betrachte Aoshis Silhouette im Fensterglas. Der mich seinerseits eingehend und unverwandt studiert. "Gehen wir nach oben." Entscheidet er ruhig. Ich frage mich, ob er mein Unbehagen wohl registriert hat. Eine Antwort wäre jedoch müßig. 'Nach oben' hätte unser Weg ohne Zweifel immer geführt. *~i~* Ich führe ihn die offene Treppe hinauf, spüre seine Verwunderung über die Galerie, die zu drei Räumen Zugang bietet, an der Brüstung mit einer Glas-Chrom-Kombination ausgestattet, Stühlen und einem Tisch, insgesamt eher an ein mondänes Diner erinnernd. Die Tür zu meinem Schlafzimmer geöffnet warte ich ruhig, bis er zögerlich über die Schwelle getreten ist. Seine Irritation wird offenkundig, als lediglich eine Batterie Spots aufleuchtet, hinter einer Konsole an der Wand verborgen. Wenige Schritte nur, da hält er bereits inne, dreht sich suchend zu mir um, die Finger ineinander verschlungen, Ausdruck seines Unbehagens. »Mein hübscher Zeitvertreib, fühlst du dich deiner Sache immer noch so sicher, hmm?« Triumphiere ich gelassen. *~i~* Das ist kein Schlafzimmer, das ist... Ich kann es nur beschreiben, stelle ich verwirrt fest. Man sollte nicht meinen, dass wir uns im ersten Stock befinden. In diesem Raum ohne sichtbare Fenster ist wirklich alles entweder schwarz oder gläsern, ausnahmslos. Eine schwarze Ledergarnitur rechter Hand mit Glastisch und einer Schrankwand, vermutlich ein verborgenes Pantry, linker Hand an der Wand eine ebensolche Kombination, davor ein gewaltiges Bett, natürlich schwarz bezogen. Lediglich an der Kopfwand gegenüber der Tür befindet sich eine Konsole, hinter der gleißende Spots Beleuchtung bieten. Lampen kann ich in diesem merkwürdigen Interieur nicht ausmachen. Wirklich, kann man sich hier wohl fühlen, in diesem exklusiven Schwarzen Loch?! Beinahe klaustrophobisch schlägt die Beklemmung über mir zusammen. Mit einer Drehung um meine eigene Achse habe ich sogar Schwierigkeiten, die Tür zur Galerie auszumachen, meinem letzten Fluchtweg. »Andererseits wirkt es auch behütend, die schwarze Seide verboten verführerisch. Ein geheimes Laster in einer entsprechenden Höhle.« Spuren der herb-süßen Flüssigkeit von meinen Lippen aufnehmend muntere ich mich selbst auf. »Oder einem hochpreisigen Bordell.« Zwitschert boshaft eine Stimme in meinem Hinterkopf, die sich offenkundig angestrengt bemüht, meine Trunkenheit auszunüchtern. Das lasse ich nicht zu. Okay, ich bin angetrunken, mir ist herrlich warm, ich fühle mich leicht und beschwingt. Ganz gleich, was für ein seltsames Haus das auch ist: ich bin mit Aoshi hier, dem Prinz, der das Aschenputtel heute Nacht ausgeführt hat. Sollte um Mitternacht der Zauber enden, soll es eben so sein. Obwohl ich darauf hoffe, ihn von dem Gegenteil zu überzeugen. *~i~* Das dezent eingesetzte Paneel bedient aktiviere ich die Musik, die nach meinen persönlichen Vorgaben komponiert wurde. Ein Klangteppich mit Herzschlagrhythmus, nicht einlullend, sondern gerade einen einzigen Impuls stärker. Endlose, sanfte Melodiefolgen darüber gemischt, deren Ziel darin besteht, die Stille zu bemänteln. Wenn ich ehrlich sein soll, ziehe ich es vor, nur harte Atemzüge und andere unwillkürliche Lustäußerungen zu vernehmen. Allerdings schreckt die Kommunikationspause die meisten anderen Menschen ab. Für sie ist Ruhe ein Zustand, der ihre Halteseile im Universum auflöst, hektische Betriebsamkeit und Geschwätzigkeit erforderlich macht. Als ich mich ihm zuwende, steht er noch immer unschlüssig in der Mitte meines Schlafzimmers, streicht gedankenverloren mit der rechten Hand über das linke Ellenbogengelenk. Geht er gerade die anstehende Entwicklung innerlich durch, stählt sich für diese Unternehmung? Vergeblich versuche ich mir, ohne der Nostalgie anheimzufallen, in Erinnerung zu rufen, wann ich mein Debüt hatte. Es hat keinen memorablen Effekt hinterlassen. Möglicherweise darin bedingt, dass es mir nichts bedeutete. Allerdings befindet sich mein Zeitvertreib in einer anderen Position. Ich habe nicht vor, Abstriche zu machen. Außerdem ist es bereits spät. Ich will nicht länger müßig meine Zeit verschwenden, trete hinter ihn, lasse meine Fingerspitzen über die durchscheinenden Ärmel gleiten. Meine Körperwärme durchdringt seine Intimsphäre. "Entschuldige mich einen Augenblick, bitte." Wispert er heiser, löst sich von mir, die Wangen mit rosiger Röte überzogen. "Wo finde ich das Badezimmer?" *~i~* Noch eine verborgene Tür in diesem seltsamen Raum. Sofort befinde ich mich im nächsten Kuriositätenkabinett. Aoshis Badezimmer ist, natürlich!, schwarz gekachelt und gefliest. Armaturen glänzen in Chrom, selbst die ausliegenden Handtücher warten in schwarzer Färbung. Allein zwischen den Fugen bildet das Weiß ein Raster, das das Schwarze Loch hier beherrschbar macht. Ich sinke auf die Toilette, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, beide Hände gegen die Schläfen, die ich mechanisch massiere. In seiner direkten Nähe scheint sich mein Alkoholpegel zu verdoppeln. Wie benommen schwindelt mich, werden meine Beine weich. Wirklich beschämend, aber über diesen Punkt bin ich wohl hinaus. Mein gewöhnlich unbestechliches, zweites Ich schweigt sich aus. Keine Stichelei oder Gehässigkeit: das sollte mich beunruhigen. »Los, Kama, reiß dich zusammen, steh auf!« Feuere ich mich selbst an, komme schwankend auf die Beine, erreiche das Zwillingswaschbecken, klammere mich an der Einfassung fest, studiere mein gerötetes Gesicht hilflos. Wie soll es weitergehen? Sollte ich vielleicht...? Unentschlossen strecke ich meinem Zwilling die Zunge raus, kehre mit gestrafften Schultern zurück zur Toilette, lasse die Hosen herunter, erleichtere mich gründlich, wahre die Standards der Hygiene sorgfältig. Ich habe es so gewollt, also ziehe ich es auch durch!! *~i~* Es ist eine Erleichterung, keine Geräusche der Übelkeit oder Hysterie zu vernehmen. Somit kann ich zumindest die Erwartung hegen, dass ich endlich zu meinem Vergnügen komme. Langsam ermüdet mich meine rücksichtsvolle Geduld. Ich atme die Unruhe hinweg, ein wenig verwundert, dass ich mich so intensiv danach sehne, diese Nacht 'abzuhaken'. Möglicherweise hätte ich doch in einem Hotel Unterkunft suchen sollen? »Einerlei.« Ich entkleide mich rasch, wechsle in einen bodenlangen, mitternachtsschwarzen Kimono, kontrolliere den hochgeschlossenen Sitz, schlage die Laken zurück. »Genug getändelt.« *~i~* Als ich in das Schlafzimmer zurücktrete, die Tür hinter mir zuziehe, um mir einen winzigen Aufschub zu verschaffen, steht er in einen langen, dünnen Mantel gehüllt vor seinem gewaltigen Bett, einen Arm verschränkt, während der andere ein bauchiges Glas mit golden schimmernder Flüssigkeit transportiert. Er mustert mich ungerührt, nimmt einen weiteren Schluck, um in einer fließenden Bewegung sein Glas abzustellen, auf mich zuzugleiten. Ich höre mich keuchen, weil er mir so unwirklich erscheint, ein schwebender Geist in einer sternenlosen Nacht. Sein Blick ist ernst, unverwandt, als er mich an beiden Händen fasst, langsam vor sein Bett führt, meine Handgelenke auf seinen Nacken drapiert. Ich verbinde sie automatisch, suche seine eisblauen Augen unter dem dichten Vorhang rabenschwarzer Strähnen. Vage spüre ich seine Finger, die Knöpfe öffnen, Verschlüsse lösen. Die Hitze, die sein Körper ausstrahlt, übt ihren desaströsen Effekt auf mich aus: mir schwindelt, ich ringe nach Luft, blinzele, während sich mein Gesichtsfeld auf seine Augen verringert. Ich sinke gegen ihn, murmele Unverständliches, als mir bereits die Hosen auf die Knöchel sinken, er mich an den Hüften umfasst, anhebt, auf seine eigenen setzt. Die Beine um seine Hüften schlingend lasse ich mich bis zum Bett transportieren, dort ablegen, aus der Jacke wickeln, von allen Kleidungsstücken bis auf die perfide Miederwäsche befreien, starre betäubt mein Spiegelbild in der Decke an, so hilflos und ausgeliefert. Will diesen Anblick nicht länger ertragen müssen! Ich stemme mich hoch, ignoriere das infernalische Reiben der Spitze über meine Brustwarzen, grabe meine Fingernägel in Aoshis muskulösen Nacken, küsse ihn gierig. *~i~* Als er zurücksinkt, eine minimale Speichelspur auf den geröteten Lippen, breiten sich seine gelösten Haare wie eine Korona um sein Gesicht aus. Eine perfekte Kombination von vanillefarbener Haut und dunkelbraunen Strähnen. Die mit bronzefarbener Spitze besetzte Zierkorsage bildet eine gerade Linie in Höhe seiner bereits erregten Brustwarzen, die raffiniert gekreuzten Stäbe mit nougatfarbenem Stoff überzogen. Eine elegante V-Schnittform, die seine schlanken Hüften betont. Die verspielten Halter hüten noch artig die seidigen Strümpfe, die ich langsam löse, indem ich mir zuerst sein rechtes, dann sein linkes Bein auf die Schulter lege, behutsam den dünnen Stoff nach oben rolle, bis ich diesen über seinen Fuß heben kann. Lilia hat wirklich eine hervorragende Wahl getroffen. Selbst die kleine, goldene Fußfessel glänzt an seinem rechten Knöchel verführerisch, während Kamatari mich selbst unter halb gesenkten Lidern betäubt betrachtet. Mit den Fingern ziehe ich die hervortretenden Sehnen seiner gespreizten Beine nach, massiere mit leichtem Druck ihren Schnittpunkt mit seinem Schritt. Dort, wo die Haut eine leicht dunklere Tönung annimmt, besonders weich und empfindlich ist. Ich lausche seinen fliegenden Atemzügen, delektiere mich an den geöffneten Lippen, die unwillkürlich Silben formen. »Warum nur bin ich so geduldig mit ihm?« Überrasche ich mich selbst. Um mich selbst Lügen zu strafen, fasse ich ihn an Hüften und Schultern, rolle ihn auf den Bauch, um ihn sogleich auf alle Viere zu ziehen, was er willig geschehen lässt. Er klettert auf meinen Schoß, umfasst meine Arme, verschließt sie vor seinem Bauch, schmiegt sich an mich, sodass die Korsage über meinen Kimono schabt. Eine gute Ausgangslage. Allerdings sind wir noch längst nicht an dem entsprechenden Punkt angelangt. Das veranlasst mich dazu, kurzerhand zwischen seine Beine zu greifen, dort mit der flachen Hand Reibungselektrizität zu erzeugen. Bald windet er sich auf meinen Oberschenkeln. Seine langen Haare wischen mit kaum hörbarem Rascheln über den glatten Seidenstoff meines Kimonos. Er versiegelt mit einer Hand seine Lippen, während die andere meine Hand zu energischeren Bemühungen antreibt. Ich lasse mich nicht anspornen, fahre in meinem höchst eigenen Tempo fort, bis er vor Verlangen leise Wehlaute winselt, bevor ich sein spitzes Kinn umfasse, zu mir drehe, sein Flehen in meiner Kehle verhallt, sein verlockender Geschmack in mir aufgeht. »Champagnertrüffel.« Schießt es mir durch den Kopf. So hell und zart wie seine Haut, so dunkel und verführerisch wie seine Haare, prickelnd und delikat wie das Haselnuss seiner Augen. Ich will ihn vernaschen, mir danach die Finger lecken. Darauf verzichte ich im Augenblick, löse geübt die Haken in seinem Schritt, befreie den eingesperrten Spielkameraden aus der Fron der Korsage, bestreiche ihn behutsam in seiner geballten Länge. Allerdings hege ich nicht das Verlangen danach, seinen Samen auf meinem Laken zu finden. Ich lehne mich mit meinen stöhnenden Gefährten ein wenig zur Seite, bis meine suchende Hand die kleine Lade ertastet, in der sich bereits das Zubehör zu unbeschwerten Spielstunden tummelt. Schwarz, feucht und mit unaufdringlichem Geschmack, reißfest: genau das Richtige, um Kamataris Erektion zu ummänteln, bevor ich ihn über den Höhepunkt treibe. *~i~* Diese vermaledeite Spitze und die einengenden Stäbe! Ich kann mich nicht der unwillkürlichen Gegenwehr enthalten, obwohl die Reizung meiner Haut dadurch noch verstärkt wird. Innehalten lässt mich dagegen Aoshis geschickt durch einen langen, intensiven Kuss überspieltes Überziehen eines Kondoms. Ich reiße die Augen auf, verschlucke mich nahezu an meiner eigenen Zunge, stöhne mit geschlossenen Augen auf, als er sich sogleich daran macht, mich zu massieren, bis ich glaube, dass der Gummi perforiert sein muss. Schon schiebt er mich, hochempfindlich und nahe am Zusammenbruch, von seinem Schoß, dirigiert mich auf gewaltige Kopfkissen, bevor seine aufgefächerten Finger von meinen Knien innen entlang meiner Oberschenkel streicheln. Natürlich lindert dies mein Verlangen ein minimales Quäntchen, aber nicht ausreichend genug. Ich lege automatisch selbst Hand an, komme allerdings nicht weit, weil er blitzartig meine Handgelenke einfängt, neben meinen Schultern in die Kissen presst. Eisblaue Funken schlagen aus den unergründlichen Augen hinter ihrem eisernen Vorhang aus rabenschwarzen Strähnen. Meine ehrfurchtsvolle Atempause ausgenutzt senkt er den Kopf zwischen meine aufgestützten Beine, beginnt, mit der Zunge über meinen Penis zu gleiten. Ich glaube, ich sterbe, bevor er fertig ist. *~i~* Es gefällt ihm, so viel ist sicher. Seine Augenlider zucken, er stöhnt leise, eine erdige, hilflose, flehentliche Melodie, so samtig wie seine Gesangsstimme, während sich unsere Finger ineinander verschränken, ich den Geschmack meines Gins mit dem künstlichen Aroma des Kondoms vermische. Ein wenig zu feucht für diese Zwecke, aber es bekümmert mich nicht sonderlich. Ich nehme seinen Penis langsam in meinen Mund, atme betont warme Luft aus, genieße sein Erschauern, ziehe mit den Zähnen eine Spur. Vorsichtig selbstredend. Ich lasse Streicheleinheiten folgen, nehme ihn wieder geduldig Millimeter um Millimeter tiefer ein, bis ich entspannt genug bin, trotz der kauernden Haltung eine Schluckbewegung zu initiieren, die wie ein Sog seine Erektion massieren soll. Ich scheine Erfolg verbuchen zu können: Kamatari windet sich unter mir, bäumt sich auf. Seine Hüften lösen sich von der Matratze. Das veranlasst mich, mich aufzurichten, zu erproben, wie weit es mit seiner Beweglichkeit bestellt ist, wie sehr er meiner Aufmerksamkeit bedarf. Er ist tatsächlich ausgesprochen agil, stemmt sich in eine Brücke, bis ich Einsehen signalisiere, meine Finger von seinen löse, seine appetitlich-muskulöse Kehrseite umfasse, auch dort meinen Rhythmus einstanze. Bis er mit einem erstickten Seufzer in das Kondom eruptiert, bebend auf die Matratze zurücksinkt, mit verschleiertem Blick meine Einschätzung sucht. Tastende Fingerspitzen gleiten zögerlich, fragend, über den seidigen Stoff meines Kimonos. Zeit, die Lichter zu löschen. *~i~* Unerwartet, zu schnell für mein benebeltes Wahrnehmungsvermögen wird es dunkel. Nicht vollkommen: ein einziger Spot in der Konsole an der Wand verbleibt. Alles andere verwandelt sich in Silhouetten, die Schattenspiel treiben. Wie sehr ich auch die Augen aufreiße: ich kann der Dunkelheit nicht mehr als vage Schemen entlocken. Beinahe verwunderlich, dass er das Licht so reduziert, erwägt man das Blitzen seiner Eisaugen unter dem schweren Vorhang aus rabenschwarzen Strähnen. Ich hatte den Eindruck, dass er mich gern studiert. Mit den Augen verschlingt, wenn ich offen sein soll. Er gleitet neben mich, führt mein Handgelenk auf seine Hüfte, sodass wir einander gegenüberliegen, auf der Seite balancieren. Sein linker Arm windet sich geschmeidig unter den Kopfkissen hindurch, greift in meinen Nacken, massiert dort unaufgefordert Sehnen, lässt mich leise schnurren vor Genuss. Ich rücke näher heran, dirigiere wagemutig ein Bein zwischen seine, was mir gestattet wird. Erst jetzt begreife ich, was mich unterbewusst irritiert hat: ich spüre seine Haut. Nicht, dass sie absonderlich wäre: angenehm warm, muskulös, straff über den Knochen. Nein, es ist die Erkenntnis, dass er wirklich ist. Wie dumm von mir, ihn für unnahbar, für einen Schemen, eine marmorne Phantasie zu halten! Müsste er nicht verletzlich sein, so unbekleidet? Löscht er aus diesem Grund das Licht? »Eine lächerliche Idee!« Verspotte ich mich selbst, suche nach seinen Augen in der Silhouette seines Kopfes auf dem Kissen. Aoshi Shinomori ist auch unbekleidet niemals schwach! Bevor ich jedoch weitere Kontemplationen anstellen kann, drückt er zwei schmale Verpackungen in meine Linke, die ich ohne eingehende Prüfung identifiziere: Präservative. Das heißt, ich soll...? Allein der Gedanke, ihn so intim zu berühren, jagt heiß-kalte Schauer über meinen Rücken. Sogar meine Zähne schlagen merklich aufeinander. Das entgeht ihm perfider Weise nicht, da er den minimalen Abstand überwindet, mich auffordernd küsst, sich zurückzieht, als ich lasziv rücklings in das Kissen sinken will. Nun denn, ich werde mich nicht so rasch ins Bockshorn jagen lassen! *~i~* Er ist beschäftigt, rollt sich auf den Bauch, die Ellenbogen aufgestützt, um die Verpackung aufzureißen. Seine Silhouette wirkt androgyn mit den langen Haaren, die ich nachlässig von jeder vorgegebenen Form befreie, sie auffächere, dabei ausreichend Abstand halte, um ihm keine Zuflucht in Streicheleinheiten zu gewähren. Ich will sehen, wie er sich schlägt. Ob ihm die Finger zittern. Wie geschickt er sich darum bemüht, mich auszustatten. Als er sich auf die Knie schiebt, komme ich ihm bereits zuvor, gleite auf den Rücken, sicher unter dem Laken und der Dunkelheit, dass kein verstreuter Lichtstrahl meine tatsächliche Beschaffenheit offenbart. Natürlich will er mich liebkosen, mit der flachen Hand über meinen Torso streicheln. Als ob die Notwendigkeit bestünde, mich zu entspannen! Ich fange sein Handgelenk nachdrücklich ab, dirigiere seine freie Hand in meinen Schritt, schließe seine Linke Finger für Finger um mein Glied. Er atmet schneller. Jeder Hauch weht rascher über meine nackte Brust. Im Schattenspiel können meine scharfen Augen erkennen, wie er sich unbewusst mit der Zunge die Unterlippe befeuchtet, bevor er sich vorbeugt, dichte Haarvorhänge meinen Blick auf sein Gesicht einschränken. Mit beiden Händen kleidet er meine erwartungsvolle Erektion ein, vorschriftsmäßig von der Spitze abgerollt, auf eine rührende Weise konzentriert. Ein unwillkürlich erleichtertes Lächeln huscht über seine weichen Lippen. Er spreizt seine Knie weiter auseinander, um sich selbst beschleunigt eine schützende Hülle angedeihen zu lassen. Ich kann in seiner Körpersprache ablesen, dass er sich der Länge nach auf mir einrichten, seine Expedition über meinen nackten Leib in Angriff nehmen will. Das ist nicht in meinem Sinn. Ich packe rasch ein Handgelenk und eine Hüfte, fege mit einem Bein seine Knie unter ihm weg, lasse ihn auf die Seite fallen, im Spiegelbild zu meiner aktuellen Position. Das Bedürfnis nach Konversation ist in diesen Momenten meinerseits nur sporadisch vorhanden. Außerdem will ich ihm unmissverständlich verdeutlichen, dass es für ihn keinen Spielraum gibt: er ist hier, um mir in dieser Nacht meine Bedürfnisse zu erfüllen. *~i~* Wenn ich an meinem Urteilsvermögen vorher gezweifelt habe, so weiß ich nun, woran ich bin, als ich auf die Matratze schlage. Die Korsage mich so infernalisch reizt, dass ich ein Stöhnen verschlucken muss. Er will seine Macht demonstrieren. Das bedeutet für mich: keine Kuschelstunden, sondern zielgerecht zur Sache zu kommen. So geschäftsmäßig, wie dieser ganze Abend verlaufen ist: einkleiden, ausstaffieren, füttern und nun flachlegen. Ich sollte mich ärgern. Leider überfällt mich eine weitere Welle von Benommenheit, die wohl mit meinem ungewohnten Alkoholkonsum zusammenhängt. Ich werde weich, schwer, rolle mich auf den Rücken, grinse vermutlich debil, bin dankbar, dass es so dunkel ist, dass mir nicht auffällt, wie sich der Raum um mich dreht. Warum darf ich nicht ein wenig nett zu ihm sein? Ich würde so gern einmal seine Muskeln mit den Fingerspitzen kartographieren. Ob sie so ausgeprägt wie Sanos sind? Sano... was er wohl gerade.... oh Himmel! *~i~* Zu viel Alkohol? Für eine Sekunde verdächtige ich ihn der Koketterie, sich schmollend in die Kissen sinken zu lassen. Ich bemerke die Schluckbewegung, die seinen kaum sichtbaren Adamsapfel unter der samtigen Haut hochgleiten lässt. Also Schwindel. Hoffentlich keine Übelkeit. Ich lehne mich auf einen Ellenbogen über ihn, streiche mit der freien Hand Strähnen aus Schläfen und von seinem Gesicht, studiere es im Halbdunkel eingehend. Er lächelt, orientierungslos, blinzelt mit offenen Augen, seine Fingernägel graben sich in die Matratze. Wie unerfreulich. Wenn ich meines Vergnügens nicht verlustig gehen möchte, muss ich wohl eingreifend tätig werden. Ich ziehe mich zurück, entführe aus der verborgenen Lade ein Fläschchen mit japanischem Heilöl, wische damit langsam unter seiner Nase. Bis er zu husten beginnt, sich krümmt, von mir auf die Seite dreht, leise stöhnt. "Uuhhh... mir dreht sich alles." Verkündet er mit hilflosem Amüsement, während ich meinen olfaktorischen Helfer verstaue, die Distanz überwinde, seine Taille packe, ihn eine halbe Rolle vollführen lasse, sodass er mir zugewandt liegt. Seine Rechte am Handgelenk gefasst dirigiere ich sie unter ein Kopfkissen, wo sie sich festklammern kann, während ich seine Linke um mein vernachlässigtes Glied winde, spiegelgleich meine Rechte seine unschlüssige Erektion in Beschlag nimmt. Genug Kindereien. Ich gebe Streichrichtung und Rhythmus vor, was er erstaunlich geistesgegenwärtig kopiert, sich unter meinem Zugriff anspannt. Seine Silhouette wird weich, verliert ihre starre Nervosität. Die Vorteile von Wärme und verlangsamter Reaktion durch Alkohol greifen endlich. Während ich das Tempo steigere, zucken seine Oberschenkel bereits heftig, biegt sich sein Rückgrat durch. Ich dirigiere ein Bein zwischen seine, halte ihn davon ab, zu schnell zum Abschluss zu kommen. Er windet sich hilflos. Sein Handgriff verliert das Geschick, krampft sich mehr als einmal schmerzhaft um meine Erektion, heißt mich Beherrschung zu üben. Bedauerlich. Ich hatte mir eigentlich erhofft, ein Paradiesvogel wie er würde die eigene Lust mit handwerklicher Kunstfertigkeit bis zur Vollendung hinausschieben, süße Folter beherrschen. Möglicherweise hindert ihn ein religiöses oder anderweitig begründetes Tabu? Das ich zu brechen gedenke. Mit der freien Linken greife ich unter seinem Hals hindurch, gleite an gespannten Sehnen vorbei, fasse Haare und Muskelstränge in seinem Nacken, die ich kraftvoll massiere im Rhythmus unserer Anstrengungen, bevor ich ihn heranziehe, auf den Mund küsse. Einlass begehre, auch mit der Zunge imitiere, was ich Nacken und Erektion bereits zugedenke. Sein Winseln durchdringt meinen Körper. Er windet sich in Spasmen. Die Wimpern flattern. Mit jedem Augenblick, den ich beschleunige, empfinde ich selbst Mühe, mich unter Kontrolle zu halten. Längst stören mich seine kleinen Defizite im Handwerk nicht mehr. Seine Lust durchspült mich, potenziert meine eigene, treibt uns beide weg in einen Ozean aus jubilierenden Lichtfunken. *~i~* Großer Gott... Ich weiß, Blasphemie, aber... so ist es noch nie gewesen. Nicht, dass ich ein absoluter Experte für meine eigenen erogenen Zonen wäre, auch wenn ich schon gewisse Übung vorweisen kann. Wir verstehen uns, nicht wahr? Es detonieren noch immer Sterne vor meinen Augen. Ich bin nicht mal sicher, ob ich sie geöffnet oder geschlossen halte. Wahrscheinlich staune ich mit offenem Mund wie ein Kleinkind, schnappe ungläubig nach Luft, während meine Glieder noch immer zucken. Nun bin ich froh, dass es dunkel ist. Irgendwie peinlich, so vollkommen die Selbstkontrolle einzubüßen! Ich will vorsichtig den Kopf drehen, um herauszufinden, ob in Aoshi Vergleichbares vorgeht, als er sich über mich lehnt, seine Ellenbogen die Matratze um meinen Kopf eindrücken, meine Wangen in seinen Handflächen eingefangen. Jetzt sind meine Augen aufgeschlagen, definitiv, um gleich wieder zuzufallen, als er mich sturmreif küsst. So dämlich ich diese Metapher immer fand, als ich sie in den Liebesschnulzen meiner älteren Schwester las: nun kenne ich ihre Bedeutung. Oben und unten verlieren sich. Mein Herzschlag wird zur allgegenwärtigen Buschtrommel. Mir geht der Atem aus. Ich hänge an seinen Lippen, vollkommen abhängig von ihm, ersticke, wenn er ruht, nur sanfter Druck meinen Mund versiegelt, fühle mich erschlagen und matt, bis er erneut seine Zunge kreisen lässt, einen weiteren Sturm auf mich bläst. Mir ist egal, ob ich mich vergesse, winsele, stöhne, mich an ihn klammere, bettle, schluchze, solange er nicht von mir lässt. Und das beim Küssen. »Du bist rettungslos verloren!« Schießt es mir in das Blitzlichtgewitter in meinem Kopf. *~i~* Das Mieder reibt erregend über meinen Torso. Das bringt mich endlich zur Vernunft, bewegt mich, von ihm zu lassen, mich zurückzuziehen. Wie nachlässig von mir, ihn so zu küssen, als empfinde ich nicht nur einen temporären Appetit, sondern Leidenschaft! Tadelnswert. Allerdings verspüre ich keine Reue, während ich ihn studiere, mit den Fingerspitzen seine Brustwarzen massiere, die knapp über den eingefassten Rand der Korsage hinwegblinzeln. Er stöhnt leise, eine samtige, kehlige Melodie, ohne die künstliche Rolligkeit vieler meiner vorangehenden Bettgefährten. Darin beweist sich auch der Vorteil, trotz der intensiveren Betreuung vorab, einen Debütanten zu wählen: er arbeitet instinktiv, ohne Tricks und doppelten Boden. Erfrischend. Zu längerer Kontemplation fehlt mir allerdings nun die Zeit. Er ist entspannt, noch mitgenommen von seinem zweiten Erguss. Eine attraktive Spielwiese, auf der ich mich tummeln werde. Wir haben noch nicht mal die Halbzeit erreicht. *~i~* Er hört nicht einen Augenblick auf. Mir scheint es fast, als benötige er überhaupt keine Pause. Unheimlich... Seine Hände wandern schon wieder zielgerichtet über mich, arrangieren meine Glieder, streicheln hier, liebkosen da. Absichtsvoll, in abgezirkelter Perfidität, genau dann zu enden, wenn ich bereit bin, mich vollkommen hinzugeben. Gleichzeitig tauscht er die Kondome aus, was ohne Komplikationen vonstatten geht, beiläufig, um die nächste Erektion zu begrüßen. Was hat er vor?! Mein Kopf ist benebelt. Mein Körper glüht. Ich könnte mir ein Fieber eingefangen haben. Wie oft will er denn....?! Dazu dieses dämliche Korsett, das mich so einschnürt! Ich will mich aufrichten, herumdrehen, die Verschlüsse öffnen. Seine Antwort ist eindeutig: meine Handgelenke werden überkopf in ein Kissen gedrückt, während er energisch meine Erektion bearbeitet, so gründlich, dass ich mich winde wie ein Aal, Gedanken auseinanderstoben, ich förmlich von der Matratze abhebe. Die Erlösung bleibt mir versagt. Plötzlich sind meine Handgelenke frei, ebenso mein Unterleib. Keine Fingerspitzen, die meinen Penis ummänteln oder dahinter auf Forschungsreise gehen. Ich öffne schwerfällig meine klebrigen Lider, vorbereitet, eine ganze Weile nur mit Blinzeln ausgelastet zu sein, bis meine Linsen ausreichend geschärft sind, in der Dunkelheit Details auszumachen, als unerwartet Körperwärme mein Fieber überlagert, ein kraftvoller Arm sich um meine Taille schlingt. Muskelstränge spannen sich an, eine erregende Massage. Ich verliere die Sicherheit der Matratze unter mir, werde herumgerollt, auf alle Viere herabgelassen, nachdem ein kühler Luftzug mich erfrischt hat. Ist das Laken verloren gegangen? Meine aufgestützten Arme zittern unsicher. Ich schwanke benommen, versuche, auf die Fersen zu gleiten, schlucke automatisch, weil Speichel meinen Mund ausfüllt. Ich würde wirklich lieber liegen. Besonders sicher fühle ich mich nicht. Da schmiegt er sich an mich, von den Fersen, die meine an den Knöcheln berühren, über glühende Oberschenkel, einen gewölbten Torso an meinem krummbuckligen Rücken, zu den Armen, die an meinen hinunter greifen. Sein Atem weht dezent, seltsam höflich in meinen Nacken, von meinen Haaren nahezu absorbiert. Mit einem heiß-kalten Schauer von Angst-Lust begreife ich: er will wirklich bis zum Äußersten gehen. Ich erschauere in Panik, zittere gegen ihn, der meinen Brustkorb umfasst, über das Mieder zu streichen beginnt, während seine andere Hand meine Haare zusammenfasst, über eine Schulter kämmt. Obwohl ich Anflüge von Hysterie erwarte, geschieht nichts weiter. Nicht mal mein Körper verspannt sich: ich bin einfach noch zu wohlig ermattet, vermutlich auch zu angeheitert, um wirklich in Angstzustände zu geraten. Verdammt gerissen, der Kerl! Trotzdem sollte ich jetzt etwas sagen. Er weiß zweifellos, dass ich ein Novize bin. Ist deshalb sicherlich behutsam. Oder nicht? Mir geht langsam die Luft aus. Seine unerwartete Nähe, die Hitze, seine Finger, die meinen Unterleib zu ihrem Experimentierfeld erwählen: ich glaube, ich falle gleich um. Schlimm genug, dass ich mir ständig über den Mund wischen muss, Speichel meinen Handrücken benetzt. Etwas prickelt in mir, so, als erwarte dieses merkwürdige Gefühl eine Antwort, die mich ratlos macht. Was willst du eigentlich?! *~i~* Entsprechend meiner Einschätzung ist er nervös. Sein Körper ist bereits zu erregt und enthemmt, um mich am Fortgang zu hindern. Ich kann mich komplikationslos zwischen seine Oberschenkel schieben, seine Erektion mit einer Hand bearbeiten, während die andere den Zugang zu seinem Unterleib weitet, bis ich mit der Spitze meines Penis seinen Muskelring durchstoße. Ein automatischer Reflex verengt den Eingang. Er zittert, sein Rückgrat biegt sich geschmeidig durch, als er versucht, seinen aparten Hintern von meinem Unterleib zu entfernen. Das verhindere ich durch ein neckendes Zupfen an der Eichel. Sein Stöhnen mischt sich in meinen Ohren zu einer anregenden, erdigen Symphonie, untermalt meine Anstrengungen, mich Zentimeter für Zentimeter in seinen widerstrebenden, seufzenden Körper einzuführen, bis wir wirklich bis zum Ansatz miteinander verbunden sind. Unsere Atemzüge verschmelzen, eine gleichförmige Bewegung uns beherrscht. Die Ruhe vor dem Sturm. *~i~* Er ist in mir. So seltsam... bekomme kaum noch Luft. So heiß, so schwindelig. *~i~* Ein gelehriger Schüler begreift ohne viele Worte. Bei ihm muss ich keines verschwenden, als ich mich aus ihm löse. Sein Unterleib folgt mir unaufgefordert. Ich verkürze die Pause, die ich ihm verschaffen wollte. Es wäre grausam, mit ihm zu spielen. Durch seine Erektion in meiner absoluten Gewalt kann ich ihn zwingen, nicht mit mir zu schwingen, sondern langsam eine Gegenbewegung aufzubauen, die ihren Höhepunkt darin findet, in seinem Unterleib zusammenzuprallen, im Fixpunkt unserer Lust. Nach den ersten Stößen reagiert er ohne Direktive, beugt sich hinab, katzbuckelt, wie es ihm das größte Vergnügen bereitet, seinen Lustgewinn erhöht, stöhnend, heiser keuchend. Ich verlasse ihn niemals ganz, gleite über das Mieder seinen Rücken entlang, grabe meine Fingerspitzen in seinen Nacken, beutele die kleine Raubkatze ein wenig, die ich mir ins Bett geholt habe. Seine Haare fliegen wie Peitschen, schlagen auf Kissen und Matratze. Er bäumt sich auf, selbstvergessen, absorbiert. Wunderschön. Ich komme nur Wimpernschläge nach ihm. *~i~* Ich kehre mühsam aus der Versenkung an das Halbdunkel zurück. Er liegt neben mir ausgestreckt, auf die Seite gestützt. Seine freie Hand spielt mit einer langen Strähne, die andere stützt sein markantes Kinn. Unter den langen Ponysträhnen vermute ich die eisblauen Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet, warm und fürsorglich: ich fühle mich geborgen durch seine unmittelbare Nähe, unsere Haut, die sich anschmiegt, fest und gegenwärtig. Kein Traumgespinst. Sollte ich etwas sagen? Besser nicht. Mir fehlen die Worte. Wenn ich das beschreiben würde, was mich durchwandert, wäre es furchtbar kitschig. Ich habe nicht gewusst, dass es einen Punkt in meinem Körper gibt, der so lange im Verborgenen geschlummert hat, nun geweckt wurde. Die Muskeln und Sehnen in meinem Unterleib zittern und summen noch immer, geben ein Echo von dem, was er ausgelöst hat. Ob es wohl immer so ist? Ob ER wohl immer so ist? Eine Welle von Melancholie überkommt mich, post-koitale Depression vermutlich. Ich würde mich am Liebsten auf die Seite rollen, die Knie anziehen, wenn ich das könnte. Bis jetzt habe ich nichts bewirken können, dass ihn davon überzeugt, in mir mehr als einen One-Night-Stand zu sehen. Während ich ihm mit jedem verstreichenden Herzschlag absoluter verfalle, was man nicht mal erklären kann. Es ist eine Empfindung jenseits von Ratio oder Realität. Er muss nicht sprechen, es ist mir gleich, womit er sein Leben verbringt, was seine Träume, Sehnsüchte und Ziele sind, solange ich ihn ansehen, spüren kann. Erschreckende Vorstellung. Mich schaudert. Also handele ich wie ein verängstigtes Kleinkind, drehe den Kopf weg, kneife die Augen zu, in der vergeblichen Hoffnung, auf diese Weise Ungemach zu entkommen. *~i~* Er wirkt erschrocken, was mich nicht sonderlich überrascht. Wenigstens bricht er nicht in Tränen aus, überfällt mich mit hysterischen Liebesschwüren oder zerstört auf andere Weise mit Banalitäten die Regenerationsphase. Noch einmal, danach verlangt mein Körper, ich bin regelrecht ausgehungert. Das Objekt meines Lustgewinns wirkt dagegen erschöpft, was ich nicht verdenken kann. Allerdings ist meine Wildkatze ein athletischer Mensch, somit belastbar. Bis an seine Grenzen. *~i~* Ich muss wohl weggedöst sein, glücklicherweise. So sind auch die merkwürdigen Anwandlungen verdunstet in dem Fieber, das mich noch immer angenehm wohlig und geschmeidig in die seidigen Laken bettet. Sein Arm ist um meinen Oberkörper geschlungen, halb aufgerichtet, als er mich bereits aufsetzt, meinen Nacken überstreckt, auf diese Weise meinen Kopf auf seine Schulter platziert, um mir etwas Süßliches einzuflößen. Eigentlich sollte ich genug Flüssigkeit intus haben. Seltsam, dass meine Blase sich noch nicht gerührt hat. Habe ich etwa alles ausgeschwitzt? Der Geschmack richtet sich auf meiner Zunge ein, vermutlich Alkohol. Oder etwas anderes? Nachdem ich artig die mir zugedachte Menge verkostet habe, lässt er mich behutsam auf die Matratze sinken, wo mir sogleich die Augenlider zufallen. *~i~* Gewöhnlich dauert es nicht sonderlich lange, bis die Mischung aus Koffein und Potenzmittel ihre Wirkung tut, darauf ausgerichtet, sofort von der Mundhöhle den Körper zu durchdringen. Etwa eine halbe Stunde später flattern seine Augenlider. Die wie eine Korona ausgebreiteten Haare schlagen unruhige Wellen, als er aus leichtem Schlaf auftaucht. Sein Geist und Verstand werden ermattet sein, doch sein Körper schreit fordernd nach mir. Perfekt. *~i~* Wenn mir vorher schon schwindlig war, so ist dies gar nichts dagegen. Mein Verstand ist im Dämmerzustand. Mein Herz rast, meine Glieder zucken unruhig, als wollten sie zu einem Marathon antreten. Unglaublich! Er findet das wohl keineswegs, stört sich nicht daran, dass ich ihn nicht ansehen kann, weil meine Augenlider die Kooperation eingestellt haben, sondern löst geschickt die furchtbare Korsage. Ich bin frei, um von seinen Händen nachdrücklich bestrichen zu werden. Eine verlangende Liebkosung, unnachgiebig und zärtlich zugleich, beinahe eine Massage. Dass dies nicht sein primäres Ziel ist, dringt selbst durch den Bodennebel in meinem Verstand, als er meine Beine auseinander schiebt, sein Atem über meinen Bauchnabel Taifune von prickelnder Erwartung in meinem Unterleib auslösen. Noch einmal? Ich weiß nicht. Mein Körper reagiert bereits, die Wünschelrute unbeirrt auf ihn ausgerichtet. So sei es denn. *~i~* Er ist so willig und geschmeidig in meinen Armen, wie ich es mir vorgestellt habe. Glühend von der Hitze, ohne merklichen Schweißfilm, die attraktiven Züge entspannt. Ich kann ihn invahieren, an den Hüften fassen, auf meine Oberschenkel heben, ihn auf meinem Schoß tanzen lassen, mal schnell und hart, mal langsam und zärtlich. Der Vorteil eines durchtrainierten Sportlers: er lässt sich von kundiger Hand nach Wunsch formen, schlingt locker seine Arme um mich, den Kopf weit in den Nacken gelegt. Seine Haare fliegen um uns. Er gewährt mir jede Freiheit. Ich kann ihn auf den Bauch gleiten lassen, in seinen Leib eindringen, wie mir gefällt, bis ich die geeignete Position ermittelt habe, in der wir beide über den Abgrund schreiten können. *~i~* Kapitel 8 - Aus, der Zauber! Ich erwache zur gewohnten Zeit, meine innere Uhr unbeirrbar, auf reduzierten Schlafbedarf optimiert. Ich rufe mir mit Augenaufschlag Datum und Tagesprogramm ins Gedächtnis, bevor ich behutsam den Kopf drehe, obgleich es wenig wahrscheinlich ist, dass er mich beobachtet. Rücklings ausgestreckt liegt er über Kissen und Matratze drapiert, in nahezu der gleichen malerischen Pose, in der er das Bewusstsein verloren hatte. Die Arme locker um den Kopf gelegt, von einer ungebändigten Korona aus dunkelbraunen Haaren umkränzt, eine heidnische Gottheit, zweigeschlechtlich, die mit Unschuld und Verletzlichkeit lockt. Ich widerstehe der Versuchung. Ein wenig überrascht es mich, dass ich trotz seiner Anwesenheit so ruhig schlafen konnte. Nicht, dass er eine potentielle Gefahr darstellen würde, dennoch erwarte ich den instinktiven Alarm meiner feinjustierten Sensoren. Bedenklich. Lasse ich etwa nach? »Wie dem aus sei, es ist nicht von Vorteil, Spielzeug mit in das eigene Heim zu bringen.« Resümiere ich das Experiment. Es schränkt mich ein, bedarf der Obhut und Fürsorge, nötigt mir Gastgeberpflichten ab, die dem kurzweiligen Austausch von körperlichen Gefälligkeiten unnötige Tiefe verleihen könnten. Allerdings hätte es wohl keinen Sinn, ihn unbekleidet bei seiner Großmutter abzuliefern. Ich erhebe mich schwungvoll ohne das Auslösen von leichten Erschütterungen der Matratze, die ihn wecken könnten. Eine gute Massage, ungeachtet der Umstände, befinde ich, wische kurz durch meine Haare. Die Muße des Augenblicks, ohne Pflichten oder fremde Kontrolle, ausgekostet verlasse ich mein Schlafzimmer, wechsele in das Erdgeschoss, einen fensterlosen Raum, der meine Trainingsmaschinen birgt. Disziplin und Perfektion, in Körper und Geist. Meine Zuflucht. Meine Vergeltung. Mein Schicksal. *~i~* Eine Stunde später zwinge ich mich, meine Einheiten, die mich von der Profanität meines Alltags befreien, zu beenden. Ich reibe meine Glieder mit einem groben Handtuch ab. Der traditionelle Lendenschurz, den ich zu tragen pflege, ist durchtränkt mit meinem Schweiß, während ich mich sauber und entlastet fühle. Tee im Wohnzimmer nach einer kalten Dusche, oder doch...? Mein Schlafzimmer zu betreten ist eine unumgängliche Notwendigkeit, dem Mangel an angemessener Bekleidung geschuldet. Die Verführung seines wehrlosen Schlummers findet mich. Ich halte inne, betrachte ihn im Zwielicht der spärlichen Beleuchtung: seine gelösten Glieder, die winzigen Sprenkel auf der champagnerfarbenen Haut, die dichten Wimpern, die geschmeidigen Muskeln. Unaufdringlich athletisch, ein Akrobat oder Tänzer, der selbst im hohen Alter seine schlanke, straffe Gestalt nicht verlieren würde. Das Bedürfnis, eine Abkühlung mittels eiskalter Dusche zu erlangen, verfliegt mit wenigen Pulsschlägen. Ich knie auf der Matratze, schlage das Laken zurück, massiere mit einer Hand meine vorwitzige Erektion. Natürlich bin ich noch hungrig. Die selbst verordnete Askese komprimiert ein gewaltiges Verlangen, das sich nun Bahn brechen kann. Ich gleite über ihn, die Arme im Stütz, reibe meinen Unterleib fordernd an seinem, bis sein Körper auf mich reagiert, mir mit rollenden Bewegungen wie ein Wogenkamm entgegen schwingt, kehliges Stöhnen zwischen seinen Lippen entflieht. Mich kümmert nicht, ob er wach ist, ob der spezielle Cocktail seine Schmerzen ausblendet, er bereits wund ist: ich will ihn, so, wie er jetzt ist: im Traum gefangen, geschmeidig und gleichzeitig schlafesschwer. Sein linkes Bein ruht auf meiner Schulter. Mit beiden Händen verschaffe ich mir Zugang, bevor ich in ihn eindringe, seine Hüften und Kehrseite umklammere, um ihn noch enger an mich heranzuziehen, tiefer in ihn einzudringen. Träge windet er sich, die Augenlider flattern. Der betäubte Schlaf geht als Sieger hervor, lässt mich ungestört in seinem Leib marodieren, kraftvoll zupacken in das pralle Muskelfleisch, Wellen von Lust durch ihn treiben. Ich lasse nicht eher von ihm, bis ich atemlos auf der Matratze kauere, meine Munition in seinen Körper entladen ist. Ich breite das Laken über ihm aus, trete in meine Nasszelle ein. Werde ihn mir vom Leib spülen. Aus meinem Gedächtnis streichen, um wieder meiner Aufgabe zu entsprechen. *~i~* Dieser Samstagmorgen beginnt mit einer unerwarteten Überraschung: als ich mich noch schlaftrunken herumdrehe, gewöhnlich in meinem eigenen Bett, damit die Kante überwinde, unsanft auf dem Boden aufschlage, bleibt diese Weckmethode aus. Was mir einiges an Kontemplation abfordert. Bis ich mich entschließe, nach ungeschicktem Herumtasten die hauseigenen Rollläden vor meinen Augen zu lüften. Das ist nicht mein Zimmer! Alles schwarz, nur ein winziger Spot... Blitzartig schieße ich hoch, um mit einem beschämendem Röcheln in mich zusammenzusacken. Uuuuhhhh... Jetzt erinnere ich mich wieder, zugegeben ein wenig verschwommen. Mit einem Seufzer der Erleichterung quittiere ich Aoshis Abwesenheit. So bleibt mein peinlicher Auftritt unbemerkt, lässt Raum für die nächste Woge persönlicher Unzulänglichkeit. Der Morgen danach. Was sieht der moderne Knigge vor? Wegschleichen, sich am Frühstückstisch breitmachen oder mit Händedruck ein schönes Wochenende wünschen? Meine Augen mit beiden Handrücken wie ein Säugling reibend stöhne ich leise. Wie gut, dass ich mir diese Gedanken erst jetzt mache. »Toilette!« Funkt das summende, nur mit Vorsicht zu bewegende Körperteil südlich der Gürtellinie hoch, unterbricht meine verhaltenstechnischen Erwägungen. Es dauert bestimmt ganze zwei Minuten, bis ich es vollbracht habe, auf wackligen Beinen stehend die Wand abzutasten, nach drei Fehlversuchen auch die Nasszelle zu öffnen und nicht in einen Kleiderschrank zu treten. Ich lasse mich auf dem Thron des gemeinen Mannes nieder, registriere erleichtert, dass der Exzess der letzten Nacht nicht den grauenvollen Warnungen entspricht, die man munkelt: weder Blut, noch entsetzliche Schmerzen. Auch wenn meine Muskeln zwischen Betäubung und Spasmen schwanken. Nach solchen körperlichen Höchstleistungen nicht ungewöhnlich, oder? Muskelkater kenne ich schließlich, wenn auch nicht in diesen Körperpartien. Da ich bereits die sanitären Anlagen besetzt habe, beschließe ich, Benimm-Regeln hin oder her!, unter die Dusche zu klettern (meine Gelenke geben rheumatische Laute von sich), Zuflucht unter dem beruhigenden Wasserstrahl zu suchen. Dabei bediene ich mich unverschämt an Aoshis Körperpflegemitteln. Wenig überraschend, dass sie einer exklusiven, unaufdringlichen Herren-Linie entstammen. Die Haare schamponiert, von einem milden Seifenfilm eingeschäumt, treffen verstreute Gedanken ein, die sich in meinem Kopf angriffslustig zusammenrotten, um einen Lynchmob zu formieren. »Was ist denn nun?« Nörgelt mich die erste Auskopplung aus dem Chorus meines Gewissens an. »Wie soll es weitergehen? Ist dir endlich klar, dass du für ihn nur ein Naschwerk warst, oder bist du immer noch dämlich verknallt?« Zugegeben, mit einem eisigen Schauer rieselt post-koitale Depression in meine Blutbahnen, ich habe nicht gerade mein Punktekonto erhöht, um Aoshi davon zu überzeugen, dass es mir ernst mit ihm ist. Noch präziser, ich habe nicht mehr als eine vage Vorstellung davon, was ich mir eigentlich erhoffe: jemanden, der mich liebt, sich um mich kümmert, mir vertraut, sich für mich interessiert, der mich fasziniert und herausfordert, der sich von mir lieben lässt, sich mir anvertraut. »Klasse, Einstein!« Feixt der Erynnien-Chor. »Dein Galan entspricht selbstredend bis ins Detail dieser Beschreibung! Du weißt ja auch so viel über sein Leben, seine Biographie und seine Pläne, nicht wahr? Ach, abgesehen natürlich davon, dass er es schnell auf einem Schul-Klo treibt!« »Schnauze!« Antworte ich dem letzten süffisant vorgetragenen Einwurf. »Was denkst du denn, wie ein Mann einen anderen Mann kennenlernen soll, ohne sich gleich das Etikett [schwul] umhängen zu lassen?!« Ich darf nicht in die Clubs. Kontaktanzeigen scheiden aus. Auf den Prinzen warten, das ist ebenfalls nicht mein Stil! »Ich werde ihn von mir überzeugen, wart's nur ab!!« Solcherart in Rage geraten staune ich über mich selbst, der mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen in einer Duschkabine seinen eigenen Schatten Herausforderungen zuschleudert. Aoshi ist mein erster Liebhaber. Er hat sich um mich bemüht, mich ausgewählt. Möglicherweise klebt mir die rosarote Brille Verliebter und notorischer Romantiker auf der Nase wie ein Blutegel. Ich vertraue auf meinen Instinkt: da ist etwas an ihm, das mich anzieht, unwillkürlich und übermächtig. Noch kann ich es nicht benennen, werde vielleicht nie dazu in der Lage sein, aber ich spüre es bis ins Mark. Aufgeben steht nicht zur Debatte. Folglich frottiere ich meine Haare, flechte sie zu einem schweren Zopf, von meinen nun herabgesunkenen Strähnen eingerahmt, strecke meinem Zwilling die Zunge im Spiegel heraus. Ich wechsle in das Schlafzimmer, halte in der Dunkelheit nach meinen Kleidern Ausschau, die säuberlich in der Papptüte des Bekleidungsgeschäfts verstaut sind, mit Seidenpapier umhüllt, das dezent duftet. Nett. Mit einigem Ächzen gelingt es mir, mich anzukleiden. Ich lasse mich auf der Bettkante nieder, um meine nächsten Schritte zu erwägen. Soll ich das Bett machen? Abziehen? Was ist mit den Kleidern, die er für mich gekauft hat? Ich lasse mich auf den Rücken sinken, verschränke die Arme im Nacken, studiere die Zimmerdecke, mein eigenes Spiegelbild. »Komische Konstruktion.« Durchwandert es meinen müßigen, unterzuckerten Verstand. »Wieso montiert man eine Spiegelfläche an der Decke, wenn der Raum so dunkel ist, dass man sich nur durchtasten kann, dann noch stets unter einem Laken agiert? Mag er vielleicht den Anblick nackter, verschwitzter Leiber? Aber...« Eine bedrückende Erkenntnis gefriert meine Glieder. Ich~ich kann mich nicht erinnern, wie er aussieht, nackt. Sein Gesicht, die schweren, rabenschwarzen Strähnen, die Ahnung von eisblauen Augen, der feingeschnittene Mund mit den schmalen Lippen, aber der Rest? Sein Torso, Beine, Rumpf? »Unglaublich.« Eine deprimierte Mattigkeit befällt mich wie Mehltau. Das gibt es doch nicht... »Andererseits, hat er nicht darauf geachtet, dass deine Hände immer auf Abstand blieben, deine Handgelenke festgehalten, dich abgelenkt, wenn du ihn unterhalb des Kinns küssen wolltest?« Eine perfide Stimme aus den Untiefen meiner Paranoia meldet sich zu Wort. »Er hat.« Bestätige ich dumpf. Also ging es wirklich nur darum, sich zu erleichtern? In mir? *~i~* Seine Gegenwart, obwohl ich ihrer in reduziertem Maße bewusst bin, bekümmert mich nicht weiter. Er ist nicht mehr als ein noch nicht abgewickeltes, minimales Störpotential in meiner Realität. Ein lästiges Überbleibsel einer vergangenen Aktivität. Es ist Einiges zu erledigen, wie stets. Das Geschäft, unseres besteht aus vielgestaltigen Zweigen in den unterschiedlichsten Branchen, ruht nie. Es ist ein pulsierender, gieriger Organismus, der mir langsam Lebenskraft aussaugt, sich parasitär von seinen Hütern ernährt. Ein schwarzes Bild, das mir gefällt. Ich schweife ab. Leichte Schritte, das Blinken der zweiten Sicherheitseinrichtung, die ich konzentrisch um mein kleines Domizil angeordnet habe. Ich kann den Besuch ohne diese Hilfsmittel identifizieren: Misao Makimachi, die vierzehnjährige Vollwaise, die mich aus mir unerfindlichen Gründen gegen alle Vernunft und Bekehrung verehrt und anhimmelt. Das Mädchen, für dessen Wohlergehen ich mein Leben opfere, deren Willen mir Gebot sein wird, wenn sie die Volljährigkeit erreicht. Ich öffne ihr, bevor sie ungestüm klopfen kann. Schon wirbeln ihre langen Zöpfe munter durch die Luft, als sie sich mit ihrer zierlichen Gestalt und erstaunlicher Kraft an mich drückt, ihre dünnen Arme meine Taille umschlingen. "Ich habe dich so vermisst, Aoshi!" Halb sehnsüchtig, halb tadelnd sprudelt ihre helle Stimme an mein Ohr, strahlen ihre großen Kornblumenaugen mich an. Meine Hand hebt sich ferngesteuert, streichelt beruhigend über ihren Hinterkopf, während ich sie unverwandt ansehe. Ich habe sie gern, meine kleine Herrin. Ganz gleich, wie sehr mir ihre kindliche Launenhaftigkeit und Anhänglichkeit zusetzt: dieser Zuneigung kann ich mich nicht erwehren. Da sie ohnehin wie eine Klette an einem Bein und einem Arm hängt, als könne ich bei der nächst bietenden Gelegenheit entfleuchen, bleibt mir wenig anderes, als sie in das Wohnzimmer zu geleiten, in der Hoffnung, meine Beschäftigung möge ausnehmend langweilig sein, um sie rasch wieder in das Herrenhaus zu treiben. Es wäre nicht angemessen, sie mit meinem nächtlichen Logiergast zu konfrontieren. Ihre Eifersucht, obgleich ich ihr wenig Gelegenheiten dazu geboten habe, ist legendär. Zudem wäre Okina wohl kaum erfreut zu erfahren, dass ich unnötigerweise meine perversen Neigungen in Reichweite seines Mündels auslebe. Unterdessen übersprudelt sie mich munter mit den wichtigen Ereignissen der vergangenen Tage, angefangen mit der eindringlichen Forderung, mit ihr auszugehen, gefolgt von diversen Offerten, sich "erwachsener", "weiblicher" zu gestalten, abgeschlossen von der bitterbösen Klage über unreife Mitschülerinnen der exklusiven Privatschule, der sie Okina anvertraut hat. So lehrreich der Besuch einer öffentlichen Schule auch sein mag, unsere Befürchtungen decken sich in dieser Hinsicht: weniger Qualität, zu viele Sicherheitsrisiken, wenig aussichtsreiche Kontaktmöglichkeiten. Von nichts anderem profitiert das Unternehmen "Makimachi" seit seiner Gründung: Spinnennetz-artige Verbindungen und unzählige Informationskanäle. "Warum gehen wir nicht in einen Nachtclub, Aoshi? Ich trage ein Schlauchkleid mit diesem Zauber-BH und Sling-Pumps. Da müssen sie uns einfach reinlassen!" Ihr sehnsüchtiges Strahlen nimmt ihr noch kindlich rundes Gesicht ein. Die kornblumenblauen Augen visieren mich unverwandt an, Ozeane von strahlender Hoffnung. Es fällt mir leicht, einen sanften Tonfall zu finden, auch wenn meine Gesichtszüge unfähig sind, ein akkompagnierendes Lächeln zu formen. "Misao, das wird nicht möglich sein. Die Gesetze sind eindeutig. Außerdem habe ich noch sehr viel zu erledigen, bestimmt bis Mitternacht." Statt eines Wutausbruchs, wie ihn wohl jeder Teenager inszenieren würde, besteht ihre Reaktion auf die Zurückweisung darin, das Gesicht gegen meine Bauchdecke zu pressen, die dünnen Arme fest um meine Hüften zu schlingen. Behutsam lege ich meine Hände auf ihren knochigen Rücken, reglos, abwartend. "Komm wenigstens morgen zum Brunch vorbei, ja? Du fehlst mir." Erklärt sie bedrückt, reibt ihre Wange am gekämmten Stoff meines Blazers, den ich anstelle des Anzugs trage. "Das werde ich." Verspreche ich feierlich, nehme ihre Hand in Meine, wie man ein kleines Kind führt, um sie zum Herrenhaus zurückzubringen. Danach werde ich mein überfälliges Spielzeug entsorgen, mich meinen Pflichten widmen. *~i~* Da liege ich, nachdem ich die Zimmertür einen Spalt geöffnet hatte, um den Besuch der berühmten Misao Makimachi zu verfolgen, resümiere nüchtern die Ergebnisse meiner Bemühungen, "erwachsen" zu sein: ich war in einem Nachtclub, ich habe sehr exklusive Kleider getragen, ich bin verwöhnt, danach "entjungfert" worden, habe in einem gewaltigen Bett genächtigt. Warte jetzt darauf, wie die Überreste einer Party in den Abfall überführt zu werden. Bittere Enttäuschung steigt mir in die Kehle, schnürt mir langsam die Luft ab, während sich das gallige Brennen in Form von Tränen in meinen Augen bemerkbar macht. »Was hast du erwartet?!« Beschimpfe ich mich lautlos. »Du bist leicht zu haben gewesen, hast artig mitgespielt. Denkst du, er hat eine Wiederholung mit dir nötig? Wohl kaum. Also, wo siehst du in seinem Leben eine Lücke für dich, hmm? Ist deine rosarote Brille endlich zerbrochen? Hat er irgendwas, was ihn unwiderstehlich für dich macht?« »Ja. Das hat er.« Diese eisblauen Augen, die so still sind. Seine dünnen, leicht geschwungenen Lippen, die schweigen, niemals lächeln wollen. Die verzweifelte Energie, mit der er mir zusetzt. Er bleibt ein Mysterium, das ich nicht ergründen muss, solange ich nur an seiner Seite sein, über seine Wange streicheln kann. Auch wenn er glauben mag, dass es eine überflüssige Geste ist. Wieso kann ich mich nicht erinnern, wie er aussieht?! Mit einem Knurren rolle ich mich vom Bett, werfe meinen Zopf ärgerlich auf den Rücken. Hier kann ich heute nichts mehr ausrichten. Penetranz führt selten zu langfristigem Erfolg. Ich weiß, wo er wohnt, wo er arbeitet und wie er es gern hat. Also muss es einen Weg geben, ihm nahe zu sein! Was ich brauche, ist festen Boden unter den Füßen und einige Puddingteilchen mit viel Vanille und Maraschinokirsche, um meine Strategie zu erwägen. Hat es nicht Stil, nonchalant hinaus zu spazieren, sich selbstsicher zu geben? *~i~* Gerade als ich mein Haus betreten will, weicht seine Hand von dem Knauf zurück, huscht für Sekundenbruchteile Schrecken über seine Züge, bevor er mich in gewohnter Weise freundlich begrüßt, lächelt. "Bitte entschuldige, ich habe verschlafen und sicherlich deinen Tagesablauf durcheinander gebracht. Ich werde jetzt gehen, wenn es dir nichts ausmacht, ja? Ist das Tor offen?" Schon schiebt er sich mit dem ebenmäßigen, sanften Strahlen an mir vorbei. Kein Gedanke an Verführung oder schmollende Vorwürfe. Im Gegenteil, er agiert, als sei es ihm ebenfalls nur um eine bereits im Vergessen befindliche Episode seines Lebens gegangen. Was mich Wunder nimmt, da ich nicht glauben kann, dass er alles so einfach abstreift. Habe ich mir nicht genug Mühe gegeben, oder versucht er sich in hochtrabender Arroganz? "Wenn du einen Augenblick erübrigst, könnte ich dich mit dem Motorrad zu Hause absetzen." Lautet meine Replik. Ein subversives Minenfeld, um meine Vermutungen zu belegen. "Ach, das ist doch nicht nötig! Ich habe deine Gastfreundschaft ohnehin schon überstrapaziert." Zirpt er mit samtiger Stimme, so gleichförmig wie Glockenklang in einem buddhistischen Tempel. Kein heftiges Blinzeln, kein Zucken in Mundwinkeln: wenn er schauspielert, verfügt er über Talent. "Es bereitet keine Mühe." Bescheide ich knapp, überrascht, dass er mir derartig viele Worte abnötigt, waren es doch gestern nur wenige Sätze, die der Verständigung dienen mussten. "Mein Motorrad steht in der Garage zur linken Seite." Weise ich an, bevor ich selbst mein Haus betrete, durch die kleine Verbindungstür zu schlüpfen beabsichtige, nachdem ich die Sicherheitsvorkehrungen aufgehoben habe. Das Garagentor gleitet lautlos nach oben, enthüllt langsam seine schlanke, anmutige Gestalt, die unbewusst posierend in das Grün starrt. Er trägt seine eigenen Kleider. Ist es der Höflichkeit geschuldet, dass er Wäsche, Anzug und Mantel als Leihgabe einschätzt, oder will er einen Eklat provozieren? Was sollte ich wohl mit maßgeschneiderten Kleidern eines anderen? Wie dem aus sei, wenn ich ihn vor seiner Haustür absetze, kann ich gleich im Büro meine vernachlässigte Arbeit wieder aufnehmen. Was kümmern mich auch seine Grillen? Vergangenheit, ohne Relevanz. *~i~* Seltsam, dass mein Herz so ruhig schlägt, mein Puls nicht rast, meine Stimme sicher bleibt. Als hätte ich mich selbst mit dieser kleinen Scharade überzeugt. Ein Vorteil der Kindheit als Außenseiter auf dem Land ist der Trost der alten Filme im Fernsehprogramm. Gerade schweben die unterkühlt-vornehmen Damen und Herren der Schwarzweiß-Streifen aus den Vierzigern vor meinen Augen: immer cool bleiben, wie Philipp Marlowe. Wenn ich ihn damit verunsichert habe, so lässt er sich nichts anmerken. Er kleidet mich in geschäftsmäßiger Routine in Nierengurt und eine einfache Motorradjacke, bevor er mir einen Helm reicht, den ich über den Kopf streife, dankbar, dass meine Haare ohnehin in einen Zopf gebunden sind. Mein Mantel wird umsichtig zusammengerollt, in einer Plastiktüte auf dem winzigen Gepäckträger vertäut. Während sich automatisch das Garagentor senkt, rollt er bereits die sich windende Strecke zur Hauptzufahrt hinunter, bevor wir das gewaltige Tor erreichen, von dort das Reich der Makimachis verlassen. *~i~* Ungeachtet seiner unbekümmerten Attitüde schlingen sich seine Arme eng um meine Taille, schmiegt er sich an mich. Ich kenne die Antwort auf meine Fragen: er wollte sich wohl keine Blöße geben, mehr zu fordern, als ich ihm zugedacht hatte. Einerlei, ich habe, was ich wollte. Er wird das zu akzeptieren haben. *~i~* Aoshi hält direkt am Bürgersteig vor der Bäckerei, stellt höflich den Motor ab, während ich mich von ihm löse, hinabklettere, meinen Kopf aus dem gepolsterten Gefängnis befreie, aus Jacke und Gurt schlüpfe. Eigentlich ist es gar nicht so kalt, doch mich fröstelt unerwartet. Ich entrolle eilig meinen Mantel, kuschle mich in den glatten Stoff des Innenfutters. "Also dann! Ich habe ja deine Nummern. Du kennst meine sicherlich. Tata!" Flöte ich leichthin. Ein jovialer Abschied ohne Versprechen einer Zukunft. Plötzlich werden meine Knie weich, durchläuft mich ein Zittern, das ich nicht erwartet habe. Verflixt, wenigstens bis zu seiner Abfahrt wollte ich mein Laienspiel aufrechterhalten! Seine Linke schießt heran, umklammert meinen linken Unterarm bis zum Ellenbogen, stabilisiert mich. Eine Böe weht meinen Mantel auf, während ich nach Worten suche, meine Maske zerbricht. Seine rabenschwarzen Strähnen tanzen für Wimpernschläge unter dem hochgeklappten Visier, enthüllen seine eisblauen, mandelförmig geschnittenen Augen. Hilflos knittert ein Grinsen über mein Gesicht. Ich habe wirklich nicht beabsichtigt, eine Szene zu machen. Da drückt er mir den zweiten Helm mit Jacke und Gurt in die Hand, schiebt das Visier herunter, das vernehmlich trotz des Straßenlärms knackt in meiner Wahrnehmung. Um die Maschine anzuwerfen, sich mühelos, ohne Abschied, in den Verkehr einzufädeln. Da stehe ich nun, umklammere einen Motorradhelm und weiß gar nicht mehr, was ich denken soll. *~i~* Kapitel 9 - Heiße Jungs und heiße Öfen "Sano? Sano!" Kaz' Stimme reißt mich aus meiner Versunkenheit, während ich versuche, dem chaotischen Innenleben des alten Cougar eine funktionstüchtige Ordnung abzuringen. Was für ein Cougar, werdet ihr euch fragen. Das Wrack stand bereits hier, als wir uns eingemietet haben. Da es niemandem zu gehören schien, habe ich mir einfach einen Spaß daraus gemacht, an ihm herumzubasteln. Yepp, ihm! Das ist definitiv keine Lady, sondern eine Raubkatze, die dazu geschaffen wurde, den italienischen Rennwagen das Wasser abzugraben. "Komm hoch, Telefon! Es ist Kama!" Kama? Während ich mir jahrzehntealten Schmutz mittels Lappen von den Händen reibe, nehme ich die Wendeltreppe im Sprint, neugierig auf Kamas Erlebnisse der letzten Nacht. "Hey, Tiger, wie geht's dir?" Trompete ich in den Hörer, strecke Kaz die Zunge raus, der mir mit Stirnrunzeln signalisiert, dass ich nicht besonders sauber geworden bin auf meinem Weg in den ersten Stock. Kama klingt ein wenig ratlos, lehnt es natürlich ab, mit mir am Telefon zu konferieren, sondern schlägt vor, dass wir uns in der Bibliothek treffen, um unsere Hausaufgaben gemeinsam zu erledigen. Ich handele ein paar Leckereien aus der Bäckerei heraus, hey, ich muss schließlich noch wachsen!!, als Kaz demonstrativ einen prallen Sack Schmutzwäsche vor meinen Füßen ablädt. Mist! Also nichts mit heimlicher Völlerei in der Bibliothek, sondern Fron im Waschsalon. Glücklicherweise gibt es einen direkt in Kamas Nachbarschaft! Gesagt, getan: meine Pläne für den Tag stehen. Ich grinse Kaz an, der wenig heimlich den Kopf schüttelt über mein Talent, meinen Willen zu bekommen, male ihm einen langen Streifen öliger Schwärze auf die Nase. "Du fährst mich doch, oder, Kaz? Hmm? Hmm?" Ich plinkere ihm wie ein Blumenmädchen zu, ignoriere seine geschwungene Faust souverän. Diese Hände sind einfach nicht für Gewalttätigkeiten geschaffen. *~i~* Ich nage an meinem zweiten gefüllten Croissant, nippe an der speziellen Sirup-Mischung, die meine Großmutter vor mich platziert hat, bevor sie mit einem strengen Blick meine verwüstete Frisur getadelt hat. »Wirklich irre!« Kichere ich plötzlich ungehemmt. »Ich komme erst gegen Vormittag nach Hause, sehe nach dem aus, was ich getrieben habe und sie macht mir ein spätes Frühstück!« Keine Lektionen, keine Strafe, kein Tadel. Natürlich hatte ich ihr gesagt, dass es spät werden könnte. Dennoch. Ihr Vertrauen in mich lässt mich gerader sitzen, hebt meine Laune merklich. In diesem Augenblick quillt Sano in unsere Bäckerei, er selbst so agil und schlank wie immer. Das kann man jedoch nicht von dem gewaltigen Sack behaupten, den er hinter sich her zieht. Er begrüßt uns gut gelaunt, nimmt seinen Anteil an Backwaren entgegen, beugt sich hinunter, um meine Großmutter auf die Wange zu küssen, mit ihr zu flirten, auf seine gelassene, gutmütige Art, bevor er neben mir auf den Barhocker klettert, über meinen Rücken streicht. Ich glaube, er ist der einzige Junge in meiner Schule, der keinen Gefallen daran findet, andere in die Oberarme zu boxen oder ihnen ins Kreuz zu springen. Nicht, dass er mir nicht zutrauen würde, Schläge oder Gewicht auszuhalten. Sano ist einfach sanft, wenn andere grob werden. Für ihn besteht keine Notwendigkeit, seine Kraft auf diese plumpe, geistlose Art unter Beweis zu stellen. "Wie geht's dir?" Seine Schokoladenaugen inspizieren mich kritisch und aufmerksam zugleich. Er hat noch nicht mal einen Bissen genommen. Wow! Seine Sorge beschämt mich ein wenig. "Ich bin okay." Signalisiere ich mit herausgestellter Brust. Das trifft zumindest den körperlichen Part meiner Erfahrungen. Zugegeben, ich bin gut trainiert und beweglich. Außerdem war Aoshi sehr fürsorglich, was diesen Aspekt betrifft. "Ach ja?" Er fischt grinsend meinen zerrauften Zopf von meinem Rücken, drapiert ihn feixend über meine Schulter auf die Theke zwischen uns. "Lass uns oben reden, wenn ich mich umziehe, ja?" Lenke ich ab, verunsichert durch mein aufkeimendes Bedürfnis, meine Konfusion mit Sano zu teilen. Eigentlich spricht kein Gentleman über derartige Dinge. "Okay." Nickt er Konsens, kaut vergnügt, zwinkert mir zu, die Botschaft offenkundig: solange es etwas Gutes zu essen gibt, ist das schon die halbe Miete. *~i~* Obwohl es ziemlich egoistisch ist, stopfe ich mir zunächst mal den Bauch, bevor ich Kama die Treppe hoch in die kleine Wohnung folge, sein Zimmer betrete. Mann, ich könnte schwören, ich habe ein Loch, wo andere einen Magen haben! Irgendwie bin ich immer hungrig! Kama überlässt es mir, die Tür hinter uns zu schließen, knöpft bereits seine Weste auf, um ihr zu entschlüpfen, gestikuliert mit dem Kinn auf eine Kommode. "Suchst du mir bitte ein Sweatshirt heraus?" Seine Stimme wird gedämpft durch das Hemd, das er sich über den Kopf zieht. "Ist das nicht ein bisschen warm?" Bemerke ich, rüttle bereits an der Lade. Ich bin im Muscle-Shirt und meiner um die Hüfte gebundenen Lieblingsjacke unterwegs. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, bei der Farbenpracht ratlos, bemerke ich, wie Kama sich die Handgelenke reibt, in der auf seine Knöchel gesunkenen Hose stehend. "Welche Farbe?" Zwitschere ich in der Absicht, ihn zu überzeugen, dass ich noch immer mit dem Rücken zu ihm geschäftig das Angebot sondiere, während ich tatsächlich fast seine Intimsphäre berühre. Er wischt herum, bemerkt mich und erbleicht. Vielleicht, weil ich nicht mehr lächle, sondern unaufgefordert seine Handgelenke studiere. Die blutunterlaufenen Male stammen nicht, wie ich zuerst vermutet habe, von Seilen oder Handschellen, sondern von starken Händen. Von einem Mann, der ungewöhnlich viel Kraft in seinen Fingerspitzen verbirgt. Als ich an ihm herabsehe, fallen weitere, dunkle Stellen in meinen Blick. Zeugnisse der nächtlichen Beschäftigungen, besonders aber die dunkle Kolorierung seiner Brustwarzen, als wären sie aufgeraut worden. Ich wage nicht, ihn zu berühren, platze aber heraus. "Tut das nicht weh? Was hat er mit dir angestellt, verdammt?" Röte schießt in seine Wangen. Er schlägt hastig die Augen nieder, zupft nervös an meinem Griff um seine Hände. "Creme es wenigstens ein." Entlasse ich ihn nach kurzem Gezappel. Sinnlos, ihn zu quälen. "Die Haut ist ganz rissig." Sofort schlingt er die eigenen Arme schützend um sich, zieht die Schultern hoch, als erwarte er eine Attacke. Seufzend wende ich mich ab, wähle das nächstbeste Sweatshirt, das ich greifen kann, in einem angenehm dunklen Grün, durch häufige Nutzung gebleicht. Kama ist unterdessen auf sein Bett gesunken, wiegt sich leicht, starrt ins Leere. Ich lasse mich neben ihm nieder, lege behutsam einen Arm um seine Schultern. "Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht möchtest." Murmele ich ungelenk, will ihn in den Arm nehmen, den grässlichen Zopf auflösen, seine Haare durchkämmen. Nicht, dass Kama ein derangiert-wilder Look nicht stehen würde. Im Augenblick erinnert er mich an ein kleines Haustier, das seinen Weg verloren hat, zerzaust durch den dunklen Wald geirrt ist. Er schüttelt den Kopf neben mir. Ein nachsichtiges Grinsen verwackelt auf seinen Zügen, bevor er sich energisch hoch federt, den Schrank öffnet und eine gefaltete Jeans herauszieht. "Bitte gib mir doch ein Paar Socken aus der Lade dort, ja, Sano? Danach gehen wir los." *~i~* Ich nehme einen letzten, metallisch schmeckenden Schluck aus meiner Dose, bevor ich sie ordentlich zerdrücke, Sanos Profil studiere. Die letzten Minuten habe ich mit der Schilderung der Nacht und des Morgens ausgefüllt, während wir in den Schalensitzen lümmeln und unsere drei Maschinen im Waschsalon bewachen. Glücklicherweise ist im Augenblick kaum Betrieb, sodass ich ohne Scheu sprechen kann. "Wenn er dir den Helm und die Jacke überlässt, bedeutet das, dass er dich wiedersehen will." Gibt Sano schließlich stirnrunzelnd sein Votum ab. "Ist es wirklich so einfach?" Werfe ich meine Zweifel in die Waagschale. "Er hat nicht wirklich mit mir gesprochen. Er hat mich nicht an sich herangelassen und mir vertraut..." "Wenn er nur einen Fick gewollt hätte, hätte er den leichter und schneller bekommen." Knurrt Sano ungehalten, lässt meinen Kiefer ungläubig herabsinken. Sanos Wortwahl ist üblicherweise nicht so profan, auch wenn er in der Sache kaum zu widerlegen ist. Andererseits ist Aoshi Shinomori ein Mann mit teurer Erziehung, Stil und Klasse. Möglicherweise wollte er nicht wie ein Freier wirken. "Könntest du mit ihm schlafen, wenn du herausfindest, dass es nur darum geht? Nur um Sex?" Er lässt sich wie ein Fährtenhund nicht beirren, führt mich unerbittlich durch die konfusen Erwägungen dieses Morgens. Ich bin nicht sicher, dass mir meine Antwort gefällt. Ich fürchte, ich würde es ihm nicht verweigern, um zumindest einen winzigen Teil in seinem Leben einzunehmen. Bedrückend, so wenig Selbstbewusstsein. "Ich könnte doch über die Schiene versuchen, ihn für mich zu gewinnen?" Piepse ich eingeschüchtert. "Er hat mich schon mit zu sich nach Hause genommen!" "Ist weniger gefährlich, als mit einem Minderjährigen im Motel gesehen zu werden." Schmettert Sano meinen Einwand ab, wischt durch seine Stacheln. "Hör mal." Wendet er sich mir zu, die Ellen auf den Oberschenkeln abgelegt, die rechte Faust mit der linken Hand umschlossen, ernst und ruhig. "Ich will mich nicht als Experte aufspielen, Kama. Wenn er schon hat, was er wollte, denkst du wirklich, er interessiert sich für was anderes? Ist es nicht so, dass die meisten Typen den Abgang machen, wenn es persönlich wird?" Ich erinnere mich an Sanos zahlreiche "Väter" und neige dazu, ihm zuzustimmen, auch wenn es mich nicht aufbaut. Die Augen auf die rotierende Wäsche gerichtet, die ebenso herumirrt wie ich augenblicklich, nage ich an meiner Unterlippe, massiere mir die Handgelenke. "Ich gebe nicht auf. Ich werde das Beste sein, was ihm jemals begegnen wird!" Unwillkürlich schlage ich die Rechte geballt in meine linke Handfläche, knirsche entschlossen mit den Zähnen vor Anspannung. Mag sein, dass er glaubt, er könnte mich so einfach abhaken. Vielleicht habe ich mich ein wenig einschüchtern lassen. Aber jeder Schritt zurück bedeutet einen neuen Anlauf auf das Ziel! Sano grinst neben mir breit, schlingt einen Arm um meine Schultern, zerzaust mit der freien Hand meine ohnehin desaströse Frisur noch weiter, strahlt mich funkelnd an. "So ist es richtig, Kama! Ran an den Mann!" Ich blinzele ob der Doppeldeutigkeit, pruste heraus, lache mit Sano so laut, dass wir wie Hyänen klingen müssen. Was für eine Vorstellung, dass ich Aoshi dominieren soll!! Andererseits... Während Sano feixend einen Schokoriegel in seine Backen parkt, beginnt in mir ein verwegener Plan zu keimen. Was wäre, wenn ich Aoshi wirklich herausfordern würde? *~i~* Kama lächelt wieder, lässt mich sogar seine Haare auskämmen, zu zahlreichen, dünnen Zöpfen flechten, was einer Zen-Übung sehr nahe kommt, während wir darauf warten, dass der Mount Dreckwäsche der Familie Sagara/Tsukioka sich auf eine unappetitliche Erinnerung reduziert. Eigentlich sollte ich den gereiften, verantwortungsbewussten Schüler herauskehren (ich habe kein Interesse daran, wegen zu schlechter Leistungen bei der Fürsorge vorsprechen zu müssen), aber mein ausgeprägter Schweinehund, der sich lieber auf einem Sportfeld suhlt, geht aus der Auseinandersetzung siegreich hervor und bestimmt, dass wir einträchtig die Ausbeute zusammenfalten und in den Wäschesack stapeln. Ich fische einige Münzen aus meiner Hosentasche (die verdammten Jeans laufen ein, obwohl ich sie nach Anweisung wasche!!), bimmele Kaz aus seinem Studium irgendwelcher bedeutenden Menschheitsleistungen und arrangiere unsere Abholung. "Was hast du morgen vor?" Wie der Weihnachtsmann einen gewaltigen Sack buckelnd schlendere ich neben Kama her, der gut gelaunt die Zöpfe wirft, hocherhobenen Haupts neben mir spaziert. "Ich schätze, ich sollte mich mit dem befassen, was wir eigentlich heute ausarbeiten wollten." Ein Ellenbogen stippt mich in die Seite, von einem verschwörerischen Zwinkern begleitet. "Und wenn du zu mir kommst? Wir könnten bei uns arbeiten." Schlage ich uneigennützig vor. Kama kontert mich aus. "So, wie sonst auch, indem wir bis zu den Ellenbogen in den Eingeweiden von diesem Wrack hängen?" Schulterzuckend markiere ich den Unschuldigen. Ich bin eben praktisch bildbarer, als stundenlang über Büchern zu brüten. Wenn der Inhalt aufstehen, vor mir lebendig ablaufen würde, könnte ich mich sicher mehr begeistern. Kaz' heißgeliebte Lady schmiegt sich an die Piste, schnurrt herausfordernd, als wir aufschließen. Die Wäsche wird im Kofferraum deponiert. Ich klettere nach hinten, weil wir Kama zuerst rauslassen werden, hänge eigentlich zwischen den beiden, meinem ruhigen Bruder, der es tapfer erträgt, dass Kama und ich aus vollem Hals zu Hardrock mitgrölen. Nun gut, soooo schlecht sind wir auch nicht! "Ruf mich an!" Vereinbare ich mit Kama. Vielleicht überlegt er es sich noch mal, und ich komme von der trüben Aussicht einsamen Büffelns weg. "Sano, während du weg warst, hat jemand angerufen. Ein gewisser Okita. Du möchtest dich bei ihm melden." Kaz' Seitenblick ist eindeutig. Ich muss wohl nicht erklären, dass ich mal wieder, oder noch immer, in der Klemme stecke. Meine Laune sinkt Richtung Fußzehen. Kaz ignoriert meine innere Einkehr, reduziert die Dezibel der Musikbestrahlung, feuert Fragen wie Bombenschrapnell auf mich ab. "Kama hat wohl mit Aoshi ernst gemacht, oder? Was ist mit seinen Handgelenken passiert? Hast du die Flecken bemerkt? Hoffentlich lässt er sich nicht zu sehr ein!" "Kaz, mach dir keine Sorgen, okay? Wir kriegen das schon wieder hin." Bremse ich seinen sorgenvollen Katalog aus, obwohl mir klar ist, dass er sich zurückziehen wird, weil ich ihn nicht in alles einweihe. Das kann ich nicht. Jedenfalls nicht so, dass es nicht weiteren Erklärungsbedarf gäbe, der an Dingen rührt, von denen ich nicht will, dass er sie erfahren muss. *~i~* Wenn Sano diese finstere, entschlossene, abweisende Miene aufsetzt, weiß ich, dass ich gegen Mauern blutig laufe, sollte ich ihn bedrängen. Manchmal möchte ich ihn erwürgen. Im Augenblick ersticke ich an einem Seufzer. Bin ich vielleicht eifersüchtig auf die Vertrautheit zwischen Kama und ihm? Ehrlich gesprochen, ein wenig. Gleichzeitig stachelt es einen ungesunden Ehrgeiz in mir an, der unbedingt herausfinden will, was genau so furchtbar ist, dass Sano es so eisern in sich eingeschlossen hält. Hat es mit unserer Mutter zu tun? Oder Souzou? Es könnte auch etwas sein, was nicht in den Akten des Jugendamtes geführt wird. Wer ist Sano wohl wirklich? Wen versteckt er vor mir? *~i~* Hätte mich auch gewundert, wenn dieser verfluchte Mistkerl von Psycho-Cop mich vom Haken gelassen hätte! Ich warte ab, bis Kaz stumm in sich gekehrt in der Küchenzeile etwas zusammenbrutzelt, wähle die Nummer an, die er artig notiert hat. Was mir wohl der Lakai seiner verwanzten Großkotzigkeit zu melden hat? "Okita." Säuselt es moduliert an mein Ohr. Eine Gänsehaut überzieht mich unwillkürlich. Echt widerwärtig, diese samtpfotige Freundlichkeit! "Sano." Melde ich mich knapp. "Sie haben eine Nachricht für mich?" "Oh, wie nett, dass du dich meldest! Hier ist der Hinweis, um den du gebeten hast." Als ich auflege, bin ich noch verwirrter und wütender als zuvor. Das ergibt alles gar keinen Sinn!! *~i~* Natürlich lässt mich Kama nicht hängen, sondern ruft pünktlich nach dem Mittagessen an, ob er nicht zwecks Studium rüberkommen kann. Ich räume die staubigen Stapel Bücher auf die andere Seite, ziehe meine älteste Jeans an, breite die Eingeweide des Cougar wie ein großes Puzzlespiel um das Chassis aus, bereit, mich mit Kamas Unterstützung an das Abenteuer heranzuwagen. Kaz lupft sparsam eine Augenbraue, windet sich so wie ich eine Bandana um. Ein schwarzer Overall, und mein Bruder wird zur fleischgewordenen Friedenspfeife. Er hat mich nicht verdient, so viel ist klar. Wir albern schon herum, als Kama ankommt, vorausschauend in ausgewaschenen Jeans und einem alten Doppelripp-Unterhemd, das so überdimensioniert ist, dass er vorne einen Knoten hineingewunden hat. Die Haare unter einem Kopftuch auf den Rücken gezwungen steht er mir ebenfalls für die Schandtat zur Verfügung. Wir sind bald ernsthaft in unsere Aufgabe vertieft: feilen, polieren, zusammenschrauben, auseinandernehmen, Ölstreifen auf uns verteilen, garniert mit rußschwarzen Ablagerungen von Abgasen und Staub. Ich bin fast sicher, dass es uns nach drei Stunden gelungen ist, die Lichtmaschine wieder in Gang zu setzen, als das Telefon unsere Session vehement unterbricht. Kaz, der nur unwesentlich beschmutzt ist, nimmt den hartnäckigen Ruhestörer ab, ruft nach Kama. Besorgt wechsele ich einen fragenden Blick mit Kaz. Es wird doch nichts passiert sein? Seine Grimasse irritiert mich. "Es ist Aoshi." Wispert er angewidert, als er sich neben mich über den Motorblock beugt. "Der Typ ist unheimlich." "Yupp." Pflichte ich bei, keine Frage. Seltsam, ich hätte nicht gedacht, dass Aoshi zu einem normalen Menschen mutiert und erkennt, wie wundervoll und einzigartig Kama ist. Der gerade die Wendeltreppe herunterspringt, vergnügt strahlend, bis er unsere Mienen sieht, die vermutlich den lächerlichen Versuch unternehmen, ahnungslos und ganz bestimmt nicht wissbegierig in die Gegend zu stieren. "Aoshi bringt mich nach Hause." Verkündet Kama, als sei es ganz und gar nicht bemerkenswert, dass der Geschäftsführer eines gewaltigen Familienunternehmens sich extra die Mühe macht, einen Teenager ein paar Blocks weiter bei seiner Großmutter abzuliefern. "Sieht so aus, als hättest du den Joker gezogen." Bemerke ich herausfordernd, was mir ein verschwörerisches Zwinkern einträgt. Wenn er jetzt schweben würde, mich wunderte es nicht, so glückstrahlend, wie er dahingleitet und selig Schmutzstreifen über seine Stirn zieht! Liebe ist unheimlich. *~i~* Ich könnte die ganze Welt umarmen und mich wie in einem Musical trällernd im Walzerschritt wiegen. Kaz scheint das zu ahnen, er dreht die Musik auf, damit ich mitsingen kann, nicht vor Glück explodiere. Was ist bloß passiert?! Ist Aoshi in mich verliebt, ein Funken übergesprungen? Kichernd reibe ich mir über die Stirn. Die Metapher passt so richtig! Ich bin ganz froh, dass die beiden das Telefonat nicht mitgehört haben. »Klar, ich bin bei Sano, wir ölen gerade die Kolben. Kerzen polieren, und so weiter...« Zählt das schon zum oralen Vorspiel? »Machen wir uns nichts vor!« Dämpfe ich mich selbst. »Vermutlich hat Aoshi seit meinem Abgang gearbeitet wie ein Besessener, den Lunch mit Misao eingeschoben und weitergemacht, woraufhin jetzt etwas Entspannung fällig ist. Mein Programmpunkt auf seiner Tagesordnung.« »So dramatisch ist das gar nicht.« Argumentiere ich vor den Tiefausläufern einer aufkeimenden Selbstwertkrise. »Wir teilen die positiven Aspekte, bewahren unsere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.« Sehr erwachsen. Sehr unglaubwürdig. *~i~* Sano wirkt irgendwie irritiert. Kama-chan tänzelt um den Cougar, intoniert jeden Song, den die Oldie-Station über den Äther jagt. Ich wundere mich. Man glaubt es kaum: Aoshi Shinomori, der Sphinx in Menschengestalt, fährt mit einem schweren Motorrad vor, in einen eisblauen Overall gekleidet unter der schmucklosen Lederjacke, statt eines Helms mit Sonnenbrille und Ledertuch maskiert, grüßt mit einem sonoren Brummen und gesellt sich zu unserer Spielwiese. Ohne Worte. Also werkeln wir zu viert herum, bis die Sonne sich hinter den Horizont quält und der Aufbruch drängt. Selbst Sano steckt auf. Rom wurde schließlich auch nicht in einem Tag erbaut. Bei diesem Chaos wird es wohl noch sehr viel länger dauern, bis der Cougar fahrtüchtig ist. Wenigstens haben wir einen Großteil des unbrauchbaren Schrotts aussortiert und einen Überblick darüber, was an Ersatzmaterial zu beschaffen ist. Mein lieber Bruder wird sich einen Job suchen müssen. Im Augenblick jedoch, so unwahrscheinlich mir das vor Tagen erschienen wäre, belauert mein ungestümer, stets gut gelaunter Bruder wachsam seinen vermutlich besten Freund und dessen Liebhaber. Kama sprüht noch immer vor Vergnügen, obwohl er mittlerweile von öligen Schmierstreifen starrt, plaudert unbekümmert, sorgt im Wesentlichen für die Unterhaltung. Es mutet sehr merkwürdig an, ihn wie Aoshi maskiert mit einem weiteren Tuch, Aoshis Lederjacke umgewunden, auf dem Sozius thronen zu sehen. Allein die Haselnussaugen funkeln fiebrig. Nach meiner bescheidenen Meinung ist er nicht ganz so sicher, wie er vorgibt, obwohl seine Nervosität wirklich gut überspielt wird. Trüge ich einen Hut, würde ich ihn verehrungsvoll ziehen. Mit diesem stocksteifen, sinistren Kerl in einem Zimmer... Allein diese Vorstellung jagt mir eisige Schauer über die Haut. Ich zweifle nicht, dass Sano ebenfalls einige Vorbehalte hat. Er drückt Kamas Hand fest, verzichtet auf Abschiedsworte oder munteres Geplänkel, studiert lediglich eingehend das halb verhüllte Gesicht seines Freundes. Merkwürdigerweise prickelt eine Gänsehaut über meinen Körper. Ist das wirklich Sano, mein wilder, kleiner Bruder? Für Sekundenbruchteile könnte ich schwören, die Körperfresser hätten ein neues Opfer gefunden. Oder Sanos Zwilling ist ein beherrschter, gerissener Kämpfer ohne Furcht oder Rücksicht. *~i~* Mir gefällt nicht, was ich unwillkürlich empfange. Eigentlich will ich überhaupt nicht auf diese Erfahrungen und Eindrücke zurückgreifen, aber bestimmte Fähigkeiten nutzen sich nicht wirklich ab. Sie lauern unter der Oberfläche, brechen ungebeten hervor, wenn sie es für notwendig erachten. Kama strahlt eine verzweifelte Bereitschaft aus, sich jeder Herausforderung zu stellen. Aoshi... Abgesehen von der emotionalen Kälte, die wie ein Eispanzer um seine schlanke Gestalt jede Reaktion gefriert, registriere ich ungefilterten Hunger, animalische Begierde. Es würgt mir im Hals, juckt in meinen Fäusten. Allein schon die Vorstellung, der Mistkerl könnte über Kama herfallen... Ich muss mich tatsächlich abwenden, damit Kama nicht von meinem Gesicht ablesen kann, was mir die Galle hochschießen lässt. Wann muss ich mich einmischen? Darf ich es? Liegt es an meiner Wahrnehmung, bin ich zu misstrauisch, oder, schlimmer noch, eifersüchtig?! Dämliche Fragen kreiseln chaotisch durch meinen Kopf. Mit geballten Fäusten verfolge ich ihre Abfahrt: Kama, der sich eng an Aoshi schmiegt, die unzähligen Zöpfe im Wind aufwehend. Im Augenblick kann ich nichts tun, aber ich werde sie im Auge behalten. *~i~* Ich weiß, warum ich es tue, den Jungen auflese: für mein Vergnügen, um den Druck zu mindern. Ein williger, sauberer, anspruchsloser Partner. Nein, ein Objekt des Stressabbaus, jederzeit entsorgbar. *~i~* Ich liebe Motorradfahren, zumindest auf einer schweren, großen Maschine mit ausreichend Platz auf dem Sozius. Das Tempo muss gar nicht gewaltig sein, nein, es reicht diese tiefe, sonore Vibrieren zwischen meinen Beinen, während ich gleichzeitig die Arme lösen, weit in den Himmel strecken kann. Ein Kribbeln von quietschbunten Ameisen durchzieht mich. Bevor ich laut aufstöhnen kann, schlinge ich die Arme fest um seine Taille, schmiege mich eng an ihn an, lache über meine eigene Schamlosigkeit. Es ist beinahe verwerflich, sich selbst so rückhaltlos und ungeniert gehen zu lassen. Es mangelt mir einfach am Verlangen, mühsam moralische Standpunkte verteidigen zu sollen, die mich eigentlich nicht im Geringsten berühren. Meine Weigerung, die Realität und die Konsequenzen anzuerkennen, reicht sogar so weit, dass mich Sanos ungewöhnliches Gebaren nicht verschreckt. Ja, ich schmeichle mir selbst mit der Vorstellung eines Kintopp-Sexgottes, der sich lustvoll seinem Verlangen hingibt. Eingebildet bis in die Haarspitzen, nicht wahr? Vielleicht sind diese Illusionen, an denen ich mich hartnäckig festklammere, das einzige Fangnetz, mein Puffer gegen die panische Angst, die nicht weit lauert, nur darauf wartet, mich zu lähmen, mir jedes Quäntchen Mut aus den Knochen zu saugen. Ich weiß, was er erwartet. Ich weiß, was ich mir wünsche. Wenn es einen Weg gibt, uns zu verbinden, finde ich ihn. Und wenn ich ihn ER-finden muss!! *~i~* Beunruhigend, meine Bereitschaft, mein perverses Laster der Entdeckung preiszugeben, obstinent mit einem Minderjährigen auf das Grundstück zu fahren und mein Heim aufzusuchen. Bin ich doch nicht so unerschütterlich, wie ich mich wähne? Wen will ich verletzen, wen provozieren? Lächerliche Anwandlung, fürwahr. Final schade ich mir nur selbst. Ein Funken abenteuerlichen Risikos hat ein Feuer entzündet, das ich nicht mehr löschen mag. Es nährt sich aus einer versteckten Wut, die tief in mir schlummert, eingefroren, aber nicht vergessen. Das Garagentor hebt sich automatisch, als ich langsam darauf zurolle, die Beine bereits auf dem Beton, um über die Bodenschwellen zu balancieren, bevor ich den Motor verstummen lasse, meine Maschine aufbocke. Quirlig und unruhig wippt er neben mir von Zehenspitzen auf die Fersen, schlüpft aus meiner Lederjacke, das Tuch vor seinem Mund bereits in die hintere Hosentasche seiner ausgebleichten, abgewetzten Jeans verbannt. Durch die gefärbten Glühbirnen wirkt die Beleuchtung nahezu sonnig, lädt ihn ein, herumzustrolchen, bewundernd vor einem Oldsmobile stehen zu bleiben. Ein Buick, gewaltiger Straßenkreuzer aus vergangenen Zeiten, schwarz wie die Nacht, mit glänzendem Chrom, Weißwandreifen, wie eine Festung, nostalgisch, von einer Zeit kündend, als alles noch ungetrübte Hoffnung auf die Zukunft versprach. Ich benutze den Wagen selten, zumeist bei Feierlichkeiten, worin letztere häufig aus Prozessionen zu Beerdigungen bestanden. Wissbegierig tänzelt er auf Zehenspitzen in den ehemals weißen Sneakern um das Chassis, beugt sich weit über das mächtige Blech, inspiziert das Interieur. Beiläufig greife ich in meine Hosentasche, halte auf einen verschlossenen Schrank auf einem Bord zu, entnehme das, was mir spontan ins Auge fällt, kehre mich um, um hinter ihn zu treten. Ob er weiß, wie appetitlich sich die Jeans über seinem Hintern spannt? Wie sich die öligen Schmierstreifen auf seiner champagnerfarbenen Haut ausnehmen, akzentuiert von diesem grässlichen Doppelripp-Shirt? Kalkül oder unschuldige Verführung: es kümmert mich nicht. Hart greife ich zwischen seine Beine, schiebe die Hand nach vorne zum Hosenschlitz. Ein samtiges, fast schnurrendes Stöhnen entfährt ihm. Seine Handflächen stützen sich auf der Motorhaube ab, die er zuvor so sorgsam vermieden hat. Ich drücke seinen Oberkörper flach auf das verstärkte Blech, schiebe den gerippten Stoff an seinem Rückgrat hinauf, wohlweislich grob genug, um sicher zu sein, dass an der Vorderseite der gerollte Saum hart über seine Brustwarzen reibt. Seufzend windet er sich, doch ich habe ihn sicher eingeklemmt, kann mir Zeit nehmen, den Reißverschluss des Overalls herunterzuziehen, das lose Oberteil auf meine Hüften gleiten zu lassen. Die kleine Dose ungerührt auf seine unteren Lendenwirbel abgestellt knöpfe ich seine Jeans auf, während mein Oberschenkel hoch in seinem Schritt marodiert. Ich will nicht viel Geduld aufwenden, um ihn vorzubereiten. Mit einem Ruck zerre ich die Jeans auf halbe Höhe, trete sie zwischen seinen Kniekehlen auf den Boden, klemme die Hacken seiner Sneaker ein, um sie gleichsam grob von seinen Füßen zu ziehen. Die Linke in den Eingriff seiner Boxershorts sorge ich nachdrücklich dafür, dass er keine Gedanken an Protest verschwenden kann. Angesichts seines heiseren, wohligen Keuchens ohnehin wenig wahrscheinlich. Nach wenigen Augenblicken der konzentrierten Massage verschaffe ich auch den Boxers Freigang, grabe meine Finger tief in das muskulöse Fleisch seiner Pobacken. Sie sind perfekt, rund, austrainiert, die Haut weich, lediglich marginaler Flaum über dem hellen Teint. Ich presse ihn tief auf die Motorhaube, reiße das Kondompäckchen auf und versorge mich selbst. Hunger. Ur-Trieb gepaart mit bewusster Aggression. Der Tiegel entgleitet beinahe meiner Hand. Ich habe mich wieder in der Gewalt, schiebe zwei Finger tief in die schmierige Masse, verteile das Vaseline um seinen Anus, streife Reste an meiner pochenden Erektion ab. Ich kann die verdammten Konvulsionen schon spüren, wie eine Rute, die ausschlägt, wenn sie eine Wasserader findet. Ich hasse diese verdammte Auslieferung an meine niederen Instinkte! Also bündle ich meinen Zorn, meine Verbitterung, meine Unzulänglichkeiten und mein Versagen, schmiege meine Oberschenkel an seine, spreize seine Körperöffnung und dringe hart, forciert in ihn ein. Seine Fingerspitzen ziehen Streifen über das von seinem Atem beschlagende, polierte Metall. Er stöhnt vernehmlich, versucht, seinen Atem zu kontrollieren, um der Lustqual Herr zu werden. Das werde ich verhindern. Er soll unter mir zittern, zucken, sich winden, bis ihn Besinnungslosigkeit erlöst! *~i~* Mir bleibt kaum Luft. Eine leichte Übelkeit befällt mich, weil er sich so schwer auf mich presst, obwohl ich bereits erregt bin durch die Vorstellung, was er tun wird. Dass er so ungestüm und schnell zustößt, treibt mich rasch an die Grenze meiner Leidensfähigkeit: ich klatsche mit den flachen Händen auf die Motorhaube, versuche, ihn abzuschütteln, den Oberkörper durchzubiegen, mich unter ihm herauszuwinden. Natürlich kontert er mich aus, zerrt mich an den Hüften hoch, sodass allein unser Größenunterschied, aufgerichtet, dafür sorgt, dass er bis zum Ansatzpunkt vordringt, ich mich schreien höre. Das erschreckt mich so sehr, dass ich um mich schlage, in Panik verfalle, wie ein kleines Kind hysterisch schluchze. *~i~* Als er hektisch und aufgelöst zappelt, mit dem Kopf stößt, spiele ich einen Augenblick mit der Option, ihn einfach fallen zu lassen, mit Schwung, um mich an seinem betäubten Körper gütlich zu tun. Ich weiß nicht, was mich abhält. Möglicherweise nur eine Laune. Ich löse mich, fange ihn an den Hüften ab, drehe ihn auf den Rücken, winde seine Beine um meine Taille, um wieder in seinen Körper einzudringen. Dieses Mal klammere ich seine Handgelenke jedoch fest auf die Motorhaube, beuge mich zu ihm herunter, jede Sehne bis zur Tortur gedehnt, um seine atemlosen Lustlaute zu ersticken. Meine Zunge windet sich zwischen seinen Lippen hindurch, ringt mit seiner gelenkigen. Er entspannt sich unter mir, rollt in einer Bewegung, die mich zuvor an einen bestimmten Schwimmstil erinnert hat, wellenförmig zu mir hoch, um mit abebbender Kraft hinunterzusinken. Der Rhythmus ist langsamer, gleichmäßiger als das Stakkato, das ich vorzugeben pflege. Eigentlich sollte ich ihm einstanzen, wer das Ruder hält! Tatsächlich im Augenblick niemand, da ich seine Finger zwischen meinen finde, während sein Penis erigiert die Narben um meinen Bauchnabel liebkost. Prickelnd zieht Lust in mir auf, eine bitter-süße, atemraubende Woge an Verlangen. Nein, es ist Appetit! Während ich ihn leidenschaftlich küsse, komme ich in seinem Unterleib. *~i~* Ich bin nicht sonderlich überragend in Physik, leider, aber beschleunigte Kettenreaktionen, die winzige Teilchen bestehend aus Licht und Wellen impulsgesteuert gegen andere katapultieren, um eine gewaltige Detonation nach der nächsten auszulösen: diesen Part begreife ich nur zu gut. Die Muskelkrämpfe, die sich konvulsivisch entladen, sein Orgasmus: er trifft mich mit der Wucht einer Explosion. Ich reagiere so heftig, dass ich kurz das Bewusstsein verliere. Das kann ich daran ermessen, dass ich völlig ausgepumpt und entspannt auf der Motorhaube liege, nackt, besockt, blinzelnd, während er halb über mir kauert, nach Atem ringt. »Wenn es immer so ist, wird er mich nicht mehr los.« Schwöre ich mir benebelt, als die Lichter über uns aufflackern. Unsere Augen treffen sich. Die schweren Strähnen wehen auf. Er umklammert mich hart an Schultern und Kniekehlen, zerrt mich von der Haube, balanciert mich in Lichtgeschwindigkeit zum Kofferraum des Straßenkreuzers und lagert mich dort ein. *~i~* »Es ist spät, Misao sollte längst das Bett hüten!« Schießt mir durch den Kopf, während ich rasch in das Haus wechsle, die automatische Beleuchtung aktiviere, blitzartig im Obergeschoss einen selten genutzten Bademantel überwerfe. Mit ein wenig Nachdruck werde ich meine kleine Herrin überzeugen, sich nicht ungebührlich lange aufzuhalten, sondern artig dem Schönheitsschlaf zu frönen. Die gesamte Situation steigert sich in enervierende Untiefen. Naturgegeben schmollt sie kindlich, um sich besorgt zu erkunden, ob mich mein Arbeitspensum nicht übermäßig in Beschlag nimmt, weil ich so selten in meinem Haus residiere. Ich kann ihr nicht beipflichten, da ich meine Unterkunft nicht sonderlich wertschätze, meine Arbeit umso stärker: was mich beschäftigt, herausfordert, ablenkt, das ist mir willkommen. Wie die kleine Zerstreuung, die ich mir unbotmäßiger Weise gestatte. Wenn er nicht im Kofferraum in Hysterie verfällt. Nach einer gemeinsamen Tasse Tee lässt sich Misao erweichen. Hochgestimmt, da ich sie trotz Bademantel am Arm wie eine elegante Dame zum Herrenhaus geleite, in Okinas Obhut überstelle. Ich kann seine Missbilligung spüren. Nicht unerwartet, da er in vielerlei Hinsicht mein Ausbilder war, bevor ich in die geschlossene Unterbringung wechselte. Allerdings bleibt meine Erwiderung stählern und unbeeindruckt. Für einen Mann, der die Frauen liebt, mag es ein Gräuel sein, der Gipfel des Abnormen, ich aber akzeptiere meine Begierde, die sich an jungen Männern stillt. *~i~* Ich bin so wohlig matt und müde, dass die Dunkelheit und Enge mir zunächst nicht sonderlich zusetzen. Mit jedem endlosen Augenblick, den ich nicht abmessen kann, steigert sich meine Nervosität. »Ruhig bleiben, flach atmen, Herzschläge zählen!« Dröhnen Ermahnungen durch meinen Kopf. Allein, sie kehren meine tatsächlichen Handlungen in das Gegenteil. Gewaltig wächst mein Verlangen an, aufzuspringen und herumzutoben, Luft zu trinken, bis ich schier überquelle, an die Sonne und das Licht zu drängen. Jemand muss zu Besuch gekommen sein, daher das Signal. Ich erinnere mich vage an spezielle Vorkehrungen für Gehörlose, flackernde Unterbrechungen bei Lampen, um bestimmte Mitteilungen zu markieren. »Grüble nicht darüber nach, frag dich lieber, woher seine Narben stammen!!« Belehrt mich meine plagende Wissbegierde energisch. Ein immenses Geflecht überzieht seinen sehnigen, austrainierten Körper. Raue Linien unter meinen Fingerspitzen, die ich zum ersten Mal sehen und fühlen konnte. Schämt er sich der Spuren seiner Vergangenheit, wollte deshalb nicht gestatten, dass ich ihn berühre, ansehe? Seltsam, diese Anwandlung bei einem Mann, der so ungerührt und souverän seinen Weg beschreitet. Irre ich mich in seinen Motiven? Woher sie wohl stammen? Auf seiner hellen, kaum getönten Haut bilden sie weiße Streifen, wie eine primitive Tätowierung, zusammengeschrumpfte Linien eines Albtraums. Vermutlich ein Unfall. Wie alt war er? Wie überlebte er? Ich zupfe einige dünne Zöpfe ungelenk vom Rücken nach vorne, lutsche an ihnen, um mich von der Beklemmung des Eingesperrtseins abzulenken, erwäge Möglichkeiten und Risiken. Ist es zu persönlich, eine direkte Frage nach der Herkunft der Wunden zu stellen, oder müsste man es als grobe Unhöflichkeit betrachten, das gerade nicht zu tun? Wenn ich fragte, wie würde sich dies auf unsere Verbindung auswirken? Bin ich nicht ein kurzweiliges Spielzeug für ihn? Würde er sich belästigt fühlen, wenn ich in ihn dringe, mich interessiere? Das Nagen an Haaren ist der Auflösung dieser bohrenden Ungewissheiten nicht dienlich. Ich versuche mich unruhig herumzudrehen, reiße meine Knie an der Kofferraumdecke auf, von einigen ungeschickten Stößen ganz zu schweigen. Warum lässt er sich so viel Zeit?! Ich könnte hier ersticken!! Oder ist das wieder ein Machtspiel? Wenn ich nur eine Haarnadel oder etwas Ähnliches hätte! Ich will hier raus!! *~i~* Endlich allein wechsele ich in die Garage hinüber, spüre bereits aus der Distanz die Zusammenballung von Emotionen, bevor ich an den Buick trete, den Deckel lüfte. Er liegt auf dem Rücken, die Beine und Arme mit aller Kraft gegen den entfernten Kofferraum gestemmt, ringt nach Atem, von rosigem Schimmer überhaucht, die Knie aufgeschürft. Als ich die Hand ausstrecke, ihm aufhelfen will, immerhin müssen seine Glieder vor Anspannung nahezu gelähmt sein, rast sein trommelnder Pulsschlag ungefiltert durch meinen Körper, infiziert mich seine Erregung. Ich vermute, dass er mich anschreien oder gar handgreiflich werden würde, wenn ihm sein Leib gehorchte. Tränen gleiten glitzernd über seine Wangen, künden vom überstandenen Schreck und der Ungewissheit. Sein Atem stürmt in mein Gesicht, schnell, ruckartig, so grob wie die Züge, die seinen Brustkorb hochreißen. Ohne bewusste Entscheidung gleitet meine Hand zum losen Gürtel, verabschiedet den Knoten, flattern die Seiten auf, als ich herantrete, eine Hand in seinen Nacken schiebe, die Zöpfe und Strähnen umklammere, während die andere gezielt unter seine prallen Pobacken gleitet, ihn hautnah an meinen nackten Leib presst. Ich küsse ihn, gierig, großzügig, teile meine Atemzüge mit ihm, ertrinke in seiner verzweifelten Leidenschaft, dem Hunger eines Erstickenden. Seufzer wie Wehlaute dringen vage an mein Ohr. Er gibt nicht nach. Seine Arme kraftvoll um meine Schultern geschlungen tröste ich ihn mit leidenschaftlichen Küssen, streichle ihn besänftigend. Merkwürdig, Trost zu spenden, obgleich doch keine Veranlassung dazu besteht. Niemand ist körperlich beeinträchtigt worden. Eine Gefahr droht nicht. Trotzdem halte ich ihn fest, schlinge seine Beine um meine Hüften, transportiere ihn auf diese Weise nach oben. Erst, als ich ihn in der Duschkabine absetze, zieht er sich ein wenig zurück, gibt meine Lippen frei. Den Bademantel abgeworfen streife ich auf Knien die Strümpfe von seinen Füßen, exiliere sie, bevor ich das Wasser aufdrehe, ihn unter die Strahlendüsen ziehe. Fest umschlungen perlen die Tropfen an uns herab und beruhigen unsere jagenden Herzen. *~i~* Wenn ich sagen würde, dass ich total durchgedreht bin, wäre das eine zutreffende Beschreibung meiner Situation. Von einer Panikattacke in seine Arme über passioniertes Endlosküssen bis zur Entspannung unter der Dusche mit Massage. Ein Wechselbad der Emotionen und nicht nur dieser. Nein, er schäumt mich fürsorglich ein, zupft und reibt an Druckpunkten, bis ich das Gefühl habe, eine haltlose Puddingmasse vorzustellen, die aus unerfindlichen Gründen noch nicht auf den Boden gesackt ist. Viel fehlt allerdings nicht, was seiner Aufmerksamkeit keineswegs entgeht, sodass ich frottiert, gekämmt, frisiert und in ein Hängerchen gesteckt werde. Man könnte meinen, dass seine Gesten mütterlich wirken. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Angefangen bei dem Seidenhemd mit schmalen Trägern in warmem Nougatton dient jede Bewegung der erotischen und auch sexuellen Anspannung zwischen uns. Der Stoff, der glänzend an meiner Haut hinabgleitet wie ein Windhauch, vermittelt mir das Gefühl der Exklusivität und lustvollen Extravaganz. Welcher Mann trägt schon ein Nachthemd? Ohne Hose wohlgemerkt. Aoshi gleitet vollkommen unbekleidet in sein Bett, schiebt das Hemd hoch über meine Hüften, um mich auf sich zu ziehen, ein Bein demonstrativ in meinem Schritt. Ich rutsche verlegen herum, kontaktiere unversehens seine Genitalien mit meinen Pendants. Erneut schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ein Hundertmeterlauf ist nichts gegen meinen fliehenden Atem, als ich sein Gesicht studiere, nur Wimpernschläge von meinem entfernt. Glaubt er wirklich, so könnten wir einschlafen? Er scheint zumindest entschlossen, die Arme um mich gelegt, sowohl mein Gewicht zu tragen als auch in dieser sexuellen Erregung Nachtruhe zu finden. Einfach unmöglich! Kein Auge werde ich schließen können! Vor allem mit dem Gefühl unserer warmen, feuchten Semi-Erektionen in trauter Nachbarschaft: ein Kreislaufkollaps ist mir sicher! *~i~* Er entspannt sich langsam, bis in die letzte Sehne, wie ein mächtiger, warmer, lebendiger Teppich, der sich Energie spendend über mich ausbreitet. Während ich den massiven Zopf müßig durch die Finger gleiten lasse, kann meine andere Hand nicht aufhören, über die seidig weiche Haut seiner prallen Kehrseite zu gleiten, mit den Fingerspitzen seine Hoden zu reiben. Ein schläfriges Schnurren entsteigt tief aus seiner Kehle, löst in meinem Unterleib Turbulenzen aus. Erstaunlicherweise bin ich zu friedlich gestimmt, um mir Erlösung zu verschaffen. Gewöhne ich mich an ihn? *~i~* Ich erwache aus tiefem Schlaf, gemächlich, einem Auftauprozess vergleichbar, schlage die Augen auf, finde mich ihm gegenüber. Einige wenige Strähnen verwehren noch den direkten Blick in seine eisblauen Augen, die mich mustern, unbewegt, unleserlich, während er selbst unzweideutig meine Nähe okkupiert, als sei dies absolut normal. Wir liegen auf der Seite, sein Arm halb unter meinem Kopf, damit er meinen Hinterkopf mit den wirren Strähnen kraulen kann. Ein Bein wie üblich in meinen Schritt geschoben, die andere Hand spaziert über meine Hüften, meinen Hintern, die Oberschenkel. Augenblicklich, praktisch mit dem Moment des Realisierens seiner Gegenwart, beginnt mein Herz zu rasen, trommelt der Puls in meinen Ohren. Ich erwarte, dass er mich küsst, auf den Rücken dreht und die pochende Unruhe in meinem Unterleib kundig zerstoben lässt, streichle mit meiner Hand über seinen Ellenbogen, den Arm entlang, schnappe bereits nach Luft, noch bevor er sich mir wirklich genähert hat. Die Kraft der Einbildung ist nicht zu unterschätzen! Tatsächlich studiert er mich weitere Wimpernschläge, erfüllt meine Phantasien, bedeckt mich mit fordernden Zärtlichkeiten, bis ich mehr als willig die Augen schließe, mich ihm hingebe. Eigentlich besorgniserregend, wie gehorsam ich auf ihn eingehe, er in mir auf!, aber ich kann mir nicht helfen: mit ihm zu schlafen ist meinem Instinkt, meinem Körper, meiner Seele ein Naturgesetz, dessen Beweis ich bereitwillig erbringe. Mein Verstand mag vage protestieren: die kehligen Laute, die sich mir entringen, verdrängen jede Anwandlung von Emanzipation gründlich. Ich kann mich gar nicht verspannen oder versteifen. Vielleicht auch deshalb, weil er nie grob wird, sondern auf eine erstaunlich ruhige, souveräne Art genau die Reizpunkte in mir anspricht, die mich dahinschmelzen lassen, hemmungslos. Dabei berühre ich kaum mehr mit den Schulterblättern die Matratze, habe sogar gierig die Fersen hart in seine Oberschenkel getrieben, als gelte es, einem Gaul die Sporen zu geben. Sehr bedenklich. Oder nicht? Nein, nicht wirklich. Ich will es, ihn! so sehr, dass mir Zweifel oder Prinzipien wie Pappmaschee-Tiger erscheinen, die die Glut unseres leidenschaftlichen Intermezzos einfach zu Asche zerstoben lässt. Einen Triumph erringe ich ganz unbeabsichtigt: mein Enthusiasmus berührt ihn, erkennbar daran, dass seine Fingerspitzen zögerlich hauchzart über mein glühendes Gesicht gleiten. Als wüssten sie nicht, ob das Risiko eingegangen werden sollte, zärtlich zu sein. Ob er sich ausliefern würde mit einem Eingeständnis der Zuneigung. Nachdem ich die Augen öffnen und mehr als Sterne enträtseln kann, erhebt er sich in seiner gloriosen, von Narben versehrten Attraktivität, streckt mir die Hand hin. Ein Befehl, in Puffer von Höflichkeit gebettet, gut konditioniert. Mangels Einspruchsgründen greife ich zu, folge ihm. Dusche mit gegenseitigem Einschäumen schließt sich an, rasches Frottieren der Haare. Er dirigiert mich wortlos zurück in die Semi-Dunkelheit seines Schlafzimmers, sparsam mit einer Leuchte versorgt, öffnet einen der Wandschränke, teilt mir Bekleidung zu. Kurzfristig mäandern Vermutungen über das Schicksal meiner eigenen Sachen durch mein hormonell zerpulvertes Gehirn. Ob er sie wohl eilig entsorgt hat, als der Besuch drohte? Allerdings, solcherart von Ölspuren geziert, vermisse ich sie nicht wirklich. Wie stellt sich gegenwärtig die Motorhaube dar? Habe ich Spuren "in Öl" hinterlassen? Bereits angekleidet, Ärmel und Hosenbeine bei mir aufgrund des Größenunterschieds gekrempelt, steigen wir die Treppe hinunter in das Erdgeschoss. Er führt mich an der Hand, um ein hastiges Frühstück zusammenzustellen. Ein Hoch auf die nonverbale Kommunikation muss ich bei dieser Gelegenheit aussprechen. Wir haben es in der Tat vollbracht, mit Ankunft in der Garage kein einziges Wort zu wechseln. Ob er nicht gerne spricht oder Konversation für ein müßiges Laster erachtet, kann ich nicht beantworten. Allerdings vermisse ich die Unterhaltung noch nicht sonderlich. Möglicherweise darin begründet, dass mit jedem Blick, den er mir schenkt, Wellenberge in mir aufschäumen, mein Herz sich überschlägt. Sexuelle Spannungen: ich frage mich, ob man die elektrischen Felder um mich messen sollte, um festzustellen, welch verheerende Wirkung er auf mich hat. »Egal!« Bescheide ich mir, als wir das Haus verlassen, durch die Verbindungstür in die Garage schlüpfen. »Ich bin froh, dass es ist wie es ist.« Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich vollkommen akzeptiert, im Einklang mit meinem Körper, meinen Sehnsüchten und meinem Verlangen. *~i~* Er irritiert mich, was mich zwingt, meinen Ausdruck verstärkt zu kontrollieren, damit die Unsicherheit sich nicht in Gestik oder Mimik widerspiegelt. Ich hatte schon einige Sexualpartner, doch dieser Debütant ist der erste, der sich mir ohne Koketterie oder Zweifel vollkommen überantwortet, so unverblümt den Akt mit mir genießt, dass ich eingeschüchtert bin. Ist seine Nachgiebigkeit Schwäche oder Stärke? Dominiert er mich, ohne dass ich mir dessen bewusst bin? Ist es zu gefährlich, ihn weiterhin als Liebhaber zu benutzen? Oder benutze ich ihn gar nicht? Die Vorstellung, es könnte mehr als ein rhythmischer, freiwilliger Austausch von Energien und Flüssigkeiten sein, ein entspannender Zeitvertreib, stellt mir unwillkürlich die Haare am ganzen Körper auf. Eine solche Maßlosigkeit, ein Wanken in der absoluten Panzerung meiner Disziplin und Selbstkontrolle wäre nicht nur unverzeihlich, sondern auch gefährlich, für meine zukünftige Herrin, das Unternehmen, die Familie und letztendlich für mich selbst. In mir tanzt der Egoismus einen diabolischen Veitstanz, versetzt mir nonchalant Stiche, nach dem Motto "Wo kein Ankläger, da auch kein Richter". Als bestünde tatsächlich ein Anrecht darauf, so fahrlässig zu agieren. »Nein.« Weise ich ihn zurück, lasse die schwere Maschine aufjaulen. »Niemals!« Er ist nur ein Spielzeug, Saisonware, ohne Bedeutung. Ich kenne meinen Platz, mein Lebensweg, meine Bestimmung ist vorgezeichnet. Dies ist nicht mehr als ein letzter Frühling vor dem ewigen Winter. *~i~* Kapitel 10 - Tanz mit dem Teufel Ich traue kaum meinen Augen, als ich mich vom Rasen löse, gemächlich dem Haupteingang entgegen schlendere: Aoshi Shinomori, der arktische Sphinx, hält direkt vor dem Portal, stellt sogar den Motor ab, während Kama vom Sozius klettert. Offenkundig in geliehenen Kleidern, die Schultasche quer über den Torso gehangen. Motorradjacke und Helm werden übergeben und verstaut. Ein freundliches Lächeln. Wortlos verschwindet das Phantom der Finsternis wieder. Mann, so ein stoischer Stoffel wäre wirklich nicht mein Fall!! Generös warte ich, bis Kama zu mir aufgeschlossen hat, mich fröhlich strahlend begrüßt. "Hey, du Schwerenöter, sag mir nicht, dass du schon wieder auswärts genächtigt hast!" Provoziere ich zwinkernd, verstecke einen winzigen Stich von Eifersucht. Kama streicht sich eine lose Strähne, die nicht zu dem unordentlichen Wust an winzigen Zöpfen gehört, hinter ein Ohr, schmunzelt vielsagend vor sich hin. Ich bin nahezu sprachlos. "Ist das nicht ein bisschen anstrengend?" Wage ich mich unverschämt auf intimes Parkett, stelle die Schultern aus, damit das Gedrängel auf dem Flur Kama unbehelligt passieren lässt. Er hält inne, stellt sich auf die Zehenspitzen, um mir Vertrauliches auch entsprechend in die Gehörgänge zu platzieren, von einem samtigen Kichern begleitet. "Ehrlich, Sano, ich kann gar nicht genug kriegen, so gut ist es!" Ja, spottet ruhig, aber ich bemerke, wie mir siedend heiß Blut in den Kopf schießt. Unangenehmes Gefühl, direkt unter Kamas Augen! Ich will mir ja gar nichts vorstellen! Trotzdem kann ich es fast spüren, diese sexuellen Schwingungen, diesen Hunger, der zwischen den Zeilen aus seiner gesamten Körperhaltung hervorbricht. Er lacht großmütig, bläst mir bösartiger Weise sanft in die Ohrmuschel!! Das schreit nach Rache! Der Unterrichtsbeginn bremst mich aus. *~i~* Fairerweise sollte ich unserem bemühten, wenn auch chancenlosen Geographie-Lehrer meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Seine guten Absichten sind so verzweifelt spürbar, dass eine Woge von Mitgefühl jeden Aktionismus überspült, ich mich stets dabei ertappe, von einer grausamen Faszination gefesselt zu verfolgen, wie er mit regelmäßiger Gründlichkeit an den eigenen Ansprüchen scheitert. Das tue ich heute nicht. Mich beschäftigt die letzte Nacht. Und Aoshi. Und meine Großmutter. Und mein neues Leben. Ein munterer Reigen, den ich zu ordnen versuche. Meine Großmutter tadelt mich nicht, obwohl ich wieder eine ganze Nacht aushäusig war, ohne Nachricht. Sie vertraut mir, packt mir ein Mittagessen ein, tätschelt meine Wange und fragt nach, ob ich zu meinem Geliebten ziehen will. Wenn ja, würde sie ihn gern kennenlernen, um meinen Geschmack zu testen. Soll man da nicht verrückt werden?! Ehrlich, könnt ihr euch vorstellen, dass jemand in eurer Familie so reagiert? Ein wenig verunsichert bin ich doch. So schön und aufregend es ist, als verantwortungsbewusster und autonomer Erwachsener betrachtet zu werden: ein Teil von mir wäre auch gern weiterhin Kind, behütet und verhätschelt. Diese Untiefen von Selbstzweifeln führen mich zum Dilemma des "Geliebten". Was ist, wenn Aoshi wirklich wollte, dass ich bei ihm einziehe? Bequem wäre es, jede Nacht das Spielzeug in Reichweite zu haben. Bin ich zynisch? Überzeugt bin ich von dem Szenario keineswegs. Wenn es so notwendig ist, mich zu verstecken, wird Aoshi kaum riskieren, mich als Logiergast einzumieten. Tut er es doch, würde ich wahrscheinlich mit einem spontanen Orgasmus in Ohnmacht fallen. »Schritt eins: sprich mit ihm!« Notiere ich müßig neben die Grobskizze von Afrika. Genau, Informationsbeschaffung zur fundierten Basis der Urteilsfindung! Will ich riskieren, dass er mich fallen lässt, wenn ich unnötigerweise über dem Hals existiere? Besonders gerade jetzt... nach dieser Nacht... Es prickelt südlich des Äquators. Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl herum, beschwöre hastig Gedanken an besonders widerliche, abstoßende Dinge. So kann ich nicht denken. Mein Körper reagiert, bevor ich mich entschließen kann, hebt den Arm, erlangt Dispens. Eilig eiere ich über den Flur zu den Toiletten. Hormone sind die Hölle!! *~i~* Ich kann kaum die Pause abwarten. Nach Kamas Abgang brennt mir eine beißende Mischung aus penetranter Neugierde und quälender Sorge im Gaumen. Kurzerhand fasse ich ihn an der selbigen, pflüge durch das Gewühl, rase durch die Cafeteria, entführe Kama samt apportierter Happen an die frische Luft. Gut, dass es sehr sonnig und angenehm lind ist. Ein schöner Spätsommertag. "Setz dich!" Belle ich auffordernd, breite die erbeuteten Speisen und Getränke aus, zu denen Kama wie gewohnt die Leckereien aus der Bäckerei packt. Grazil sinkt er nieder, die Knie angeklappt, jeder Zoll anmutige Haltung, lächelnd, unbeeindruckt. Daraufhin werde ich mir der Lächerlichkeit meines Auftretens besonders bewusst. "Habe ich dich blamiert?" Fragt er samtpfotig, reicht mir ein Buttercroissant, die Haselnussaugen still und unbewegt. Ich seufze. Wie soll ich ausdrücken, was für ein Gemenge unterschiedlicher Emotionen mich durchlaufen hat? Spielt es eine Rolle? Ich fahre mir verlegen durch den Hahnenkamm. "Ich war nur überrascht." Er nickt, wischt aufgewehte, lose Strähnen über die Schultern. "Ich auch, glaub mir. Es ist ganz ungewohnt, so direkt auf Gedanken zu reagieren." Verschmitzt zwinkert er mir zu. Ich feixe verschwörerisch. Gut, unter uns: ich habe die Schultoiletten auch schon in hormonellen Notständen aufgesucht. Bei mir erwartet man so was schließlich auch, oder nicht?! "Hat die Zeit heute nicht mal gereicht, dass du dich umziehst?" Mümmle ich zwischen einigen Happen, zupfe an dem schwarzen Rollkragenpullover aus Kashmir. Bei den Temperaturen! Aber ich bin ja auch ein hitziger Typ! "Wir hatten andere Dinge mit höherer Priorität zu behandeln." Grinst mir mein bester Freund und Gentleman aus dem Süden anzüglich zu. Ich kann nur in spielerischem Entsetzen den Kopf schütteln: diese Jugend! Wir beenden in einträchtigem Schweigen unsere Mahlzeit. Kama schiebt mir einen Hefter rüber, der einen Teil Hausaufgaben enthält, den ich ausgelassen habe. Was niemand zu erfahren hat, verstanden? Unterdessen bemüht er sich um seine langen Haare: erst werden die noch intakten Zöpfe gelöst, danach arbeitet sich der Kamm geduldig durch die hüftlangen Strähnen, um die glänzenden Stränge erneut einzuflechten und partiell aufzustecken. Ein wenig Wachs in die Ponysträhnen. Kamas Boy-George-Adaption ist auferstanden. Ein ungewohnter Kontrast zu der einfarbigen, klassischen Aufmachung von Hose mit Bügelfalte und Rollkragenpullover. "Sag mal?" Tippt er mich an, ein wenig ungelenk, da die Schuhe offenkundig mindestens eine Größe zu viel aufweisen. "Was hat dieser Okita dir gesagt? Du hast doch zurückgerufen, nicht wahr?" *~i~* Sanos Miene verändert sich blitzartig. Als ob über eine Sonne düstere Wolken ziehen, die sich massiv zusammenballen, nach Unwetter aussehen. "Ziemlicher Blödsinn." Kommentiert er die kryptischen Anweisungen knapp, zuckt verärgert mit den Schultern. Mir wird erst in diesem Augenblick bewusst, wie bedeutsam es für ihn ist, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Ich helfe ihm natürlich. Ganz gleich, was notwendig werden sollte. Vorsichtig zottle ich durch seinen spitzen Hahnenkamm, strahle besänftigend in seine großen, schokoladenbraunen Augen unter den stark gefurchten Augenbrauen. "Wir schaffen das schon, Sano. Bestimmt." *~i~* Schule kann die Pest sein. Eine der chinesischen Höllen, der Ausbund organisierten Wahnsinns. Manchmal rettet es den eigenen Verstand vor ungesunder Grübelei. Mir gelingt es ausnehmend gut, das Problem des irren ATF-Mistkerls und seines dämlichen Ex-Kollegen zu verbannen, wenn ich beschließe, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich weiß, ich werde die Kontrolle verlieren, wenn ich es tue. Mein Gefühl ist durchsetzt mit grauenvollen Ahnungen. *~i~* Die Woche vergeht, ohne dass wir beide besondere Fortschritte machen, was unsere gegenwärtigen Sorgen betrifft. Zumindest kann ich das mit Fug und Recht von mir behaupten. Während die Schule uns mit allerlei Tests, Prüfungen, Hausarbeiten und anderem Kleinkram in Beschlag nimmt, verbringen wir nahezu den gesamten Tag miteinander. Mir wird verstärkt bewusst, wie sehr ich Sano als Freund liebe. Gäbe es ihn nicht, ich wäre verzweifelt. Das Gefühlschaos, das ich durchlebe, will sich nicht einfach einsperren lassen. Er versteht es, im richtigen Moment zu schweigen oder zu sprechen und mir zuzuhören. Dass es ihm ähnlich geht, vermag ich lediglich zu vermuten. Die Gewalt und verbissene Ausdauer, mit der er in dieser Woche Sport betreibt, spricht für mich Bände. Er vertraut mir genug, um sich nicht zurückzuhalten. Dieser Sano, der so hart und aggressiv, beinahe rücksichtslos agiert, ist mir unbekannt. Trotzdem verspüre ich keine Furcht, da seine Kontrolle noch obsiegt. Wie lange allerdings seine Geduld mit der verfahrenen Situation reicht, möchte ich lieber nicht aus nächster Nähe erkunden. Was mich betrifft: ich schlafe jede Nacht bei Aoshi. Dabei fällt die tatsächliche Ruhephase nicht sonderlich intensiv aus. Weiter bin ich zu meiner eigenen Scham noch nicht gedrungen. Ich kenne seinen Körper so gut, dass ich mit verbundenen Augen seine Linien zeichnen könnte, bin morgens so heiser, dass ich einen Schal trage und Halsbonbons lutsche. Eine Unterhaltung haben wir noch immer nicht geführt. Ein Armutszeugnis. Wenn ich analysieren müsste, was ich nicht sonderlich gern tue, würde ich behaupten, dass das Bedürfnis danach, mehr zu erfahren, in dem Moment, in dem er mich ansieht oder berührt, plötzlich verpufft. Gibt es temporäre Amnesie durch Hormonüberdruck? Selbst meine Großmutter schnalzt bereits tadelnd mit der Zunge, weil ich mich so gehen lasse: verbringe Nächte außer Haus, ohne das Objekt meiner Begierde vorzustellen. Bodenloser Seufzer der Verzweiflung. Natürlich ist mir klar, dass es nicht so weitergehen kann. Ich muss mit Aoshi sprechen, einen Weg finden, für ihn wichtig zu werden, abgesehen von meiner körperlichen Verwendbarkeit. Dazu auch noch die ungelöste Spannung, die Sano förmlich die Wände hochtreibt! Ein anstrengendes Programm mit ungewissem Ausgang. Der Startschuss, eine Veränderung mit lawinenartiger Entwicklung zu initiieren, besteht in Aoshis knapper Mitteilung, dass er für das Wochenende geschäftlich verreisen muss. Das teilt er mir am Freitagmorgen zwischen Croissant und nassen Küssen mit. Ganze drei Tage ohne. Ich starre ihn ungläubig an. Plötzlich ist mein Hals zugeschnürt, mein Mund trocknet aus, weil er sich zwischen meinen Kniekehlen eingerichtet hat. Oder ist meine Zeit schon abgelaufen?! Es ist natürlich nicht sonderlich diplomatisch, um einen Tisch herum zu spurten, auf einem fremden Schoß Platz zu nehmen, in arktische Eisaugen zu flehen, die diesen Ausbruch mit milder Verstimmung verfolgen. In diesem Augenblick habe ich archaische Verlustängste nicht unter Kontrolle. Allerdings bringe ich kein Wort über die Lippen. Mein Herz schlägt bis zur geknebelten Kehle. Ich kann nicht mehr, als ihn ansehen, hilflos und kleinmütig. "Sprich mit deiner Großmutter. Ich werde dich am Sonntag abholen. Es wäre also ratsam, dass du einiges an Wäsche zum Wechseln einpackst." Hättet ihr es gedacht?! Er will, dass ich bleibe!! Es funkelt hinter den schweren Strähnen, ein Anflug sadistischen Spotts. Mir ist es gleich: ich falle ihm um den Hals, triumphiere jauchzend vor Erleichterung, küsse ihn völlig enthemmt. Meine Zukunft ist auf Rosen gebettet! *~i~* Freitagabend, eigentlich zum Ausgehen und Amüsement bestimmt. Sollte man zumindest meinen. Ich bin nicht in der Stimmung. Das heißt, ich bin in einer Stimmung, die eher für Unruhen sorgt. Es ist sehr lange her, dass ich dieses mächtige Gefühl unterdrückt habe. Kaz hat sich an die Küchenzeile zurückgezogen, brutzelt irgendetwas zweifellos Appetitliches zusammen. Genug, um auch Kama zu versorgen, den ich kurzerhand eingeladen habe. Ich sollte mich schämen oder mir den Schädel einschlagen. Die Wahl zwischen den beiden Alternativen steht noch aus. Einem Teil von mir tut jeder einzelne Knochen bis in das Mark weh, so sehr, dass ich den Schmerz zu hören glaube, einen schrillen Sirenenton. Weil ich zwei Menschen verletze, weiterhin verletzen werde, die mir sehr am Herzen liegen. Dem anderen, stärker werdenden Part sind solcher Kleinmut, Schuldgefühle, Zweifel verhasst, widerwärtig im Geschmack wie Essigsäure. Manchmal möchte ich aufspringen, das Haus verlassen und wie eine Bombe dort einschlagen, wo der verfluchte Psycho-Cop von ATF-Scheißkerl herumvagabundiert. Oder wo diese verdammten Idioten ihr Quartier haben, die ich ausspähen soll. Ganz gleich, wie sehr ich mich anhalte, kühlen Kopf zu bewahren, geduldig zu sein: ich kann es nicht. Ich will nicht mehr zurück zu dem, was ich war. Das Ich, das ich heute habe, hat keine Chance in diesem Kampf. Ich hasse diesen verfluchten Scheißbullen!! *~i~* Eigentlich mache ich mir nicht sonderlich viel aus Küchenarbeit. Ein notwendiges Übel, bis man sich vor der Alternative sieht, in einem Zimmer mit einer menschlichen Naturkatastrophe Hausarbeiten zu verfassen. Ich liebe Sano, ich bewundere ihn und würde alles tun, um ihn glücklich zu sehen. Es gibt einen Teil in seinem Leben, der mich das kalte Grausen lehrt. Manchmal tanzen Funken in seinen Augen, die mich an Russisches Roulette erinnern, ist seine Haltung so herausfordernd, dass sie an Hybris grenzt, sein Selbstvertrauen derart überbordend, dass man es mit Arroganz gleichsetzen könnte. Möglicherweise würde es uns beiden helfen, wenn wir offen über die Situation sprechen könnten. Wenn ich nicht zu feige wäre, hartnäckig zu hinterfragen, was ihm geschehen ist, nachdem wir getrennt wurden. Wir wollten beide ein neues Leben anfangen, die Vergangenheit hinter uns lassen. Ich fürchte, dass wir an diesem hochgesteckten Ziel scheitern werden. Während ich nicht wage, ihn anzusprechen, versteckt er sich hinter aufgesetzter Fröhlichkeit. Mit jedem verstreichenden Augenblick wird die Distanz größer zwischen uns. Sprachlosigkeit, die uns isoliert, aggressiv stimmt. Da ich meine eigene Reizbarkeit abstoßend finde, schweige ich mich lieber aus. Sano befleißigt sich darin, seinen Zorn in körperlicher Aktion zu kompensieren. So sehen wir uns noch seltener. Der Teufelskreis zieht die Schlinge um unsere Zukunft zu. Ich zerteile langsam, in gleichmäßiger Bewegung das Gemüse, spüre die Verspannungen in meinem Nacken. Es gibt Augenblicke, da bin ich versucht, zu ihm zu stürmen, ihn anzubrüllen und mit Vorwürfen zu überschütten, bevor ich anfange, ihn mit meinen Fäusten zu traktieren. Erbärmlich, diese Anwandlungen. Niemand kann so blauäugig sein und glauben, dass wir ewig im Paradies leben, ein ungleiches Brüderpaar mit einer so ungewöhnlichen Vergangenheit. Trotzdem hatte ich gehofft... Ich will nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn wir uns trennen müssen. Die bloße Idee lässt mein Herz stolpern, ich schnappe nach Luft. Womit ich nicht gerechnet habe, ist Sanos Anwesenheit, nur eine Armlänge entfernt. Ich habe ihn weder kommen hören, noch wahrgenommen. Ich quietsche wie ein verschrecktes Huhn auf, schneide mir beinahe in die Handfläche. Sano sagt nichts, er sieht mich nur an, so still, so konzentriert, als lausche er auf Dinge, die ich selbst von mir nicht weiß. Er tritt auf mich zu, schlingt behutsam die Arme um mich, hält mich fest. Ich könnte heulen, wäre meine Kehle nicht zugeschnürt. *~i~* Während des Landeanflugs schiebe ich meinen Ärmel hoch, um auf die Uhr zu sehen, erblicke eine dunkle Verfärbung an der Innenseite, maskiere mein Gesicht. Er glaubt, dass meine Offerte aus Liebe geschieht. Ich benutze ihn lediglich. Nicht nur seinen Körper, wie ich es bei anderen getan habe, nein, er ist der Keil, der Köder, das Instrument, um mir Klarheit zu verschaffen über Dinge, die überaus bedeutend sind. Von existentieller Wichtigkeit. *~i~* "Girls just wanna have fun!" Trällere ich laut im Einklang mit Cindy Lauper, während ich vor dem Spiegel noch rasch meinen Pony aufstelle, um mit Sanos Hahnenkamm mithalten zu können. Ich könnte über den Boden schweben, wie in einem Musical beständig in Gesang ausbrechen, so beschwingt verliebt bin ich. Natürlich erscheint es mir ein wenig seltsam, dass Sano allein mit mir ausgehen will. Andererseits ist Kaz auch nicht unbedingt der Typ, der Underground-Clubs etwas abgewinnt. Kritisch kontrolliere ich mein Erscheinungsbild. Bin ich mit transparenter überlanger Bluse und hautengen Hosen nicht ein wenig overdressed? Zu viel Silberschmuck an Hüften, Ohren, Hals und in den Haaren? Sano steht hinter mir, seine geliebte Jacke übergestreift, nur ein Muscle-Shirt darunter, weiße Slacks und die Boxerstiefel, Nietenhandschuhe an den Fingern und die blutrote Bandana um seine Stirn gebunden. Eher wie ein Streetfighter. In diesen Clubs soll es ja auch sehr bodenständig zugehen, stelle ich mir zumindest vor. Den Kajal erneuert, schon zwinkere ich ihm aufmunternd zu. Das wird zweifellos ein Abenteuer. Heute kann mich nichts erschüttern!! *~i~* Wir steigen aus dem Bus, wandern langsam durch die weniger gastfreundlichen Viertel hinter der Schule, säuberlich separiert durch einen hohen Zaun. Zwei getrennte Welten, je eine Hölle. Abraumhalden, Bauschutt, Häuserruinen, Auffahrten zu Autobahnen, Beton-Fossile, Brachland: es sieht aus wie das Ergebnis eines Bürgerkriegs oder eine apokalyptische Zukunft urbanen Wahnsinns. Für das Publikum, Erlebnis-freudige Yuppies, Dealer, notorische Kriminelle, jugendliche Delinquenten, Motorradrocker und Gangs die perfekte fin de siecle-Atmosphäre, herrlich dekadente Morbidität. Ich habe nicht die Absicht gehabt, mich in einer solchen Gegend wieder herumzutreiben. Es weckt schmerzhafte, verhasste Erinnerungen. Trotzdem gelingt es mir ohne Weiteres, den wandernden Underground-Club zu finden. Einlass ohne Probleme, dank Kamataris Attraktivität, meiner Haltung und einiger Scheine. Ja, ich spüre Kamas Seitenblick, weiß, dass ich mich binnen Augenblicken verändert habe, ein anderer geworden bin. Ausgestellte Schultern, breithüftiger Gang, unermüdliches Scannen der Umgebung, zusammengezogene Augenbrauen unter einem angriffslustig gesenkten Kopf. Selbst meine Stachel reagieren auf den nonverbalen Befehl, strecken sich drohend in alle Richtungen. Drinnen eine mir bekannte Mischung: aufgetakelte Yuppies, die sich daran ergötzen, wie die unteren 90.000 sich amüsieren, dabei noch gleich Party-Proviant kaufen, Rocker auf Braut- oder Kampfschau, Dealer, Zuhälter, ihre Kunden und Ware, dazu verirrte College-Typen samt Oberschicht-Mädchen, die sich abenteuerlustig fühlen. Und... Kenny? Tatsächlich, trotz der miserablen Beleuchtung und der wummernden Bässe zu hysterischer Musik steht er allein an einer Säule, wärmt eine vermutlich schon schale, nicht angetastete Dose Bier. Seine langen, flammend roten Haare sind am Oberkopf zusammengebunden. Trotzdem wirkt er keineswegs weiblich oder lächerlich, eher wie ein Zeit-springender Krieger aus einer finsteren Vergangenheit. Natürlich nimmt er mich auch wahr, begrüßt uns freundlich mit dem nichtssagenden Lächeln, das selbst einen Buddha die Wände hochtreiben könnte. Kaum stehen wir, ist Kama bereits in Beschlag genommen. Sein offenes, ungekünsteltes Auftreten hat einige Mädchen ermutigt, ihn auf die Tanzfläche zu ziehen, wo das geboten wird, was in den Köpfen nach den Videos von Prince passiert. Allein der Stoff hindert am Vollzug. Gehören die Mädels zum Haus, Animierpersonal, oder kritische Konkurrenz? Ich versuche, mir Details einzuprägen, sondiere das Publikum eingehend. »Brrrr!« Schüttelt es mich. »Was für eine Visage!« Offenkundig hat der spindelige Typ in Feuerrot mit der blonden Strohbürste Billy Idols Coolness zu kopieren versucht. Allerdings bietet er statt rebellisch gelupfter Lippe ein hängendes Augenlid und den generellen Eindruck eines unterbelichteten Eckenstehers. "Was tust du hier, Kenny?" Beuge ich mich hinunter, brülle in ein Ohr. "Ist nicht gerade karrierefördernd." Er lächelt unbeirrt. Seine Augen in einem ungewöhnlicher Violettton schimmern irritierend hell trotz der schlechten Beleuchtung. Der Blick ist laserscharf, hochkonzentriert. Keine Ahnung, wer er ist, aber er ist nicht der dämlich grinsende Landstreicher, für den ihn die Kamiyas halten. So viel ist sicher! "Und du?" Spricht er mich an, ruhig, in gedämpften Ton. Dennoch verstehe ich jedes Wort. "Dies ist auch kein Ort, den man ohne Rückendeckung betreten sollte. Hier kann man leicht in ernsthafte Schwierigkeiten geraten." Sein Lächeln ist definitiv gefährlich. "Hmpf." Zucke ich betont mit den Schultern, hebe das Kinn arrogant in die Luft, schlage meine Faust in die Hand. "Keine Angst, ich kenne mich mit ernsthaften Schwierigkeiten aus." Oh ja. Leider. Kenny hebt seinen Arm an, unter der berüchtigten, ärmellosen Daunenweste ein weißes Sweatshirt, das schon bessere Tage gesehen hat, sich aber nicht mehr daran erinnern kann. Er zupft einen Faden, sieht zu mir auf, noch immer in diesem alarmierenden Zustand der souveränen Entschlossenheit. "Siehst du das? Wir glauben, nur ein Faden zu sein. Zieht man daran, so ist ein ganzes Netz mit einem Faden versponnen." Der Beweis folgt. Eigentlich kann ich Gleichnisse und Weisheiten dieser Art nicht ausstehen. Seine diplomatische Kritik ist treffend: ich bin hier, obwohl ich weiß, dass mein Faden andere Fäden in eine hässliche Geschichte ziehen wird. Wie den einen Faden dort, der ausgelassen tanzt, lacht, strahlt, von Liebe beseelt die Welt umarmen will. Fast bin ich versucht, mich Kenny anzuvertrauen, um seine Unterstützung zu bitten. Natürlich tue ich es nicht. Bisher habe ich es immer allein geschafft. Solange ich noch nicht das Gelände ausgekundschaftet, die Mitspieler herausgefiltert, ihre Absichten ergründet habe, solange agiere ich auf meine Art. "Passt auf euch auf. Es liegt Schwefel in der Luft." Er nickt, freundlich, fast wie ein Mönch, verschwindet spurlos in der Menschenmenge. So, als sei er verschluckt worden oder könne sich unsichtbar machen. Ich wende mich wieder Kama zu, blinzle. Was ist das denn? *~i~* Er ist fast einen halben Kopf kleiner, sehr schlank, mit einem gestuften Pagenschnitt und eingeflochtenen, silbernen Streifen. Sein Lächeln wirkt einschüchternd, beunruhigend. Weil es gleichbleibend ohne Veränderung in die Welt gestrahlt wird, ohne innere Beteiligung. Dazu noch diese seltsame Aufmachung: schwarze Satinhosen, eng, gerade mal auf den schmalen Hüften reitend, ein durchsichtiges Hemd aus schwarzem Organza, das Gesicht weiß gepudert, die Augenpartie von den Schläfen mit einem durchgehenden, schwarzen Balken eingerahmt. Erinnert mich frappierend an eine der Figuren aus dem Film "Blade Runner". Bei ihm wirkt es dramatisch und aufreizend zugleich. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wann er dazugestoßen ist, aber er bewegt sich in Hochgeschwindigkeit, elegant und verführerisch, webt Figuren ein, wirbelt umher, als befände er sich in einer Art Trance, wie ein Derwisch. Die Musik wechselt, ein langsamer Takt. Schon liegen seine Arme um meinen Hals, spielen mit meinen langen Haaren, während er sich hautnah an mich schmiegt, mit seinen Hüften die Metallketten auf meinen zum Klingen bringt. Vorbeugend raune ich in sein Ohr. "Hi, ich bin Kamatari." Um der Höflichkeit genüge zu tun, lächle in sein Gesicht. So gruselig ist er gar nicht. Vielleicht ein wenig älter als ich? "Soujirou." Formen seine Lippen, ein höfliches Nicken, bevor er sich aus unserem Tanz löst, wieder das Tempo steigert, mich herausfordert, ob ich wohl seine Vorgaben übertreffen kann. Bald haben wir einen kleinen, freien Ring, in dem wir uns bewegen können. Mein Körper glüht, ich spüre vermutlich winzige Schweißperlen, als unsere Darbietung akrobatische Züge annimmt. Ich gebe mich nicht so einfach geschlagen! *~i~* Kama kann mit dem leichenblassen Gruftie mithalten, er strahlt vor Begeisterung, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Nicht, dass ich das nicht erhofft hatte. Die Stimmung heizt sich auf, brodelt, weil es in dieser Umgebung nicht unbedingt von Vorteil ist, wenn zwei Jungs keine Berührungsängste haben. Auch der blonde Strohkopf wirkt plötzlich hellwach. Dealer tauchen ab, dafür treten die üblichen Unruhestifter in den Vordergrund. Ich beschließe, dass es wohl besser wäre, ein Ablenkungsmanöver zu starten, traditionell, in Western gern aufgegriffen: man nehme einen nichtigen Anlass, pöble einen ebenso aggressiven, geistig tieffliegenden Schläger an, lande den ersten Treffer. Einige Wimpernschläge später ist eine Massenkeilerei im Gange. Testosteron braucht ein Ventil. Als Punk ist es nicht sonderlich mühsam, durch pure Existenz einem Motorradrocker zu beleidigen. Der mir gleich zeigen will, was eine Harke ist. Eine Luftnummer in seinem Fall. Ich treffe besser, erledige gleich noch einige Anwärter auf den Darwin-Award mit. Prügeleien haben eine Sogwirkung, ziehen schnell Publikum an. Ich beteilige mich nur kurz, bis sichergestellt ist, dass alle Spaß und später Schmerzen haben, fische Kama aus der Menge ab, ziehe ihn an der Hand Richtung Ausgang. Drinnen brüllt die Horde ohne Musikuntermalung wie in Mad Max beyond Thunderdome: "Zwei gehen rein, einer kommt raus!" Sie trommeln, klatschen, johlen, trampeln, eine mordgierige Sippschaft, die ihre Arena gefunden hat. Höchste Zeit zu verschwinden. *~i~* Sano schiebt mich umsichtig durch die wogende, drängende Masse, bis er offenkundig der Ansicht ist, dass es zu langsam vorangeht, selbst rücksichtslos durch die Reihen pflügt. Erst an der Nachtluft erkenne ich, wie warm es in dieser Räuberhöhle war. Sofort stehen mir Perlen kondensierender Flüssigkeit auf der Haut. Ich unterdrücke mühsam ein Schaudern. Sano, promovierter Unruhestifter, zieht mich eilig weiter. Da es kaum intakte Beleuchtung gibt, stolpern wir durch die Kraterlandschaft eines Abraumgebiets, geduckt, darauf lauschend, ob sich irgendwo dumpfes Motorengrollen bemerkbar macht. Wir werden nicht enttäuscht: bald schon schwärmen Lichtkegel aus. Unsere Flucht nimmt an Tempo zu. "Sano!" Zupfe ich schließlich energisch an seiner Hand. "Bleib stehen." Obwohl es ihm sichtlich hart ankommt, hält mein punkiger Freund inne, während ich mich bemühe, die richtige Wortwahl zu finden. "Sano, also, ich glaube, wir sind bereits das dritte Mal hier unterwegs." Entscheide ich mich schließlich für die mildeste Version, die mir in den Sinn kommt. Den widerspenstigen Schopf im Nacken reibend flattert ein schiefes Grinsen entschuldigend über sein angespanntes Gesicht. "Du hast recht." Gibt er unumwunden zu. Ich blinzle, reibe mir über einen Arm. Langsam friert mich doch, als er mich in den Schatten einer Ruine zieht. Natürlich ist Sano wie jeder andere Mensch auch exkulpiert, sich in einer fremden Gegend im Finsteren zu verirren. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese Orientierungslosigkeit nicht vollkommen zufällig ist. Sucht er etwas? Mir wäre lieber, wir könnten das verschieben. Das Donnern der aufgemotzten Motoren kommt uns bedrohlich nahe. Ich höre etwas Anderes, folge Sanos Beispiel, der aus unserem temporären Unterschlupf späht. Die Maschinen umkreisen anhand ihrer Lichtkegel eine Person, zierlich, nahezu ununterscheidbar von der Nacht. "Das ist Soujirou!" Platze ich heraus, balle beide Fäuste, unterstützt von Sanos hartem Griff. Die Wortfetzen, die über die Mondlandschaft treiben, sind nicht gerade ermutigend. Den Jungen seinem Schicksal überlassen?! *~i~* Ich spüre Kamas Zorn, seine Verzweiflung, stähle mich entschlossen. Es bleibt keine Wahl. Bisher hat meine Vorstellung den gewünschten Erfolg gebracht. Mir wäre bedeutend lieber, Kama wäre nicht in der Nähe. Sie schreien Beleidigungen, ziehen ihre Kreise immer enger um die Beute, tilgen die Schwärze mit aufwirbelndem Staub, schwingen Ketten und Baseballschläger. Was Kamas Tanzpartner betrifft, der wie eine Motte in dem Lichtreigen umherirrt, so wirkt er auf mich absolut hilflos, bricht in die Knie, ohne bereits getroffen worden zu sein, hält sich den schmalen Leib. "Entschuldige, Sano!" Raunt mir Kama zu, reißt sich los, stürzt pfeilschnell in den Kreis hinein. *~i~* Ich kenne das Spiel. Bevor mich Sorge, Furcht, gesunder Selbsterhaltungstrieb lähmen können, fliege ich in die Nacht. Ein weißer Schemen, der in den Sand greift, um ihn einem alarmiert herumfahrenden Rocker in die Augen zu schleudern. Mit Übung katapultiere ich mich vom Boden, treffe seine Maschine, die ohne Führung umstürzt. Räder drehen ins Leere, während ich mich rasch gebückt seiner Waffen bemächtige. Ein Baseballschläger und eine lange Kette mit einem schweren Schloss. Vermutlich dazu bestimmt, das geliebte Zweirad vor übelwollenden Entführern zu schützen. Da stehe ich schon neben Soujirou, der auf allen Vieren kauert, Speichel erbricht und leise Wehlaute von sich gibt. So verloren und schwächlich wie ein neugeborenes Kätzchen. "Keine Angst!" Übertöne ich das aufheulende Wutgebrüll, die hochgerissenen Motoren. "Ich helfe dir." Rasch schmiegt sich die Kette um den Griff der Keule. Ich schwinge sie malerisch über meinen Kopf in wechselnden Figuren, halte die weniger Ignoranten auf Distanz. Ja, ich kenne das Spiel. *~i~* »So viel also zum zurückhaltenden, wohlüberlegt handelnden Südstaaten-Gentleman.« Konstatiere ich zähneknirschend, klaube einen gewaltigen Balken auf, schultere ihn. Allerdings, wie Kama elegant die Kette wirbeln lässt, das spricht für Fachkenntnis, Übung und eine gewisse Leidenschaft. Es ist an der Zeit, meine Visitenkarte anzubringen. *~i~* So sehr mich Soujirous Gebaren aufwühlt: ich kann ihm nicht beistehen, ohne die wutschnaubende Horde Barbaren aus den Augen zu lassen. Ich erblicke aus den Winkeln heraus mit freudiger Erleichterung eine sehnige, weiß gekleidete Gestalt, lässig, zielbewusst heran schlendernd, nonchalant einen gewaltigen Balken apportierend. Als handele es sich um eine unbedeutende Zaunlatte. Mit der gleichen täuschend unbekümmerten Haltung umfasst Sano den massiven Prügel. Ein gefährliches, hungriges Lächeln blitzt in seinen Zügen auf. Mit der gutgemeinten Empfehlung sich vom Acker zu machen, eskortiert er höchstpersönlich einige Rocker aus der näheren Umgebung. "Lass mich raten!" Schnaubt er an meiner Seite zynisch. "Das hast du mit der Sense auf den Baumwollfeldern geübt, richtig?" Ich erwidere seinen kriegerischen Blick mit entsprechendem Lächeln. "Auf dem Land herrschen raue Sitten, Großstadtcowboy. Du wärst überrascht." Kontere ich großspurig, obwohl mich Erleichterung wie Labsal durchfließt, dass er nun bei mir ist, meinen Rücken deckt. "Schau mal nach, was unser Prinz hat." Weist er mich an, während der Balken in Kopfhöhe eine Runde nach der anderen dreht, von Sanos gewaltigen Körperkräften und der unglaublichen Beherrschung kündet. In der Hocke hebe ich behutsam Soujiros von Speichel nasses Kinn an. Sein flackernder Blick in diesem dauergrinsenden Gesicht hat kaum noch etwas Menschliches vor Qual. "Soujirou, was fehlt dir? Bist du verletzt? Brauchst du Medikamente?" Er umklammert mich so schnell, dass ich das Gleichgewicht verliere, hintenüber auf den Staub pralle. Er kauert über mir, produziert drängende Wehlaute, die halb in schleimigem Keuchen und Husten untergehen. Medikamente. Oder wohl eher Drogen. Auf diesem Gebiet kann ich nicht mit intimer Kenntnis glänzen. Eins ist augenfällig: mit Soujirou stimmt etwas nicht. Sano wagt unterdessen Ausfallschritte, lässt seine Waffe hart und wuchtig auf den Boden schlagen, wirbelt mehr und mehr Staub auf. Allein die Erschütterungen sind gewaltig genug, einige Rocker von ihren Motorrädern zu hebeln. "Wenn du den Kleinen nimmst, sorge ich für das Geleit." Spöttelt er. Zum ersten Mal kann ich sehen, wie er mühsam sein Verlangen unterdrückt, sich rückhaltlos einem Kampf zu überantworten, tollkühn voranzustürzen. Es kostet ihn wohl größere Anstrengung, sich zu kontrollieren, als seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. "Okay." Signalisiere ich hustend Zustimmung. Die Sicht wird durch den Staub immer schlechter, Augen und Nase setzen sich zu. Allerdings lässt sich Soujirou kaum bewegen. Er klammert stocksteif, taumelt, bohrt die Fingernägel so tief in meine Haut, dass ich ihn wie ein lästiges Insekt abstreifen möchte. "Komm schon, Soujirou!" Versuche ich an den winzigen Rest wachen Verstandes zu appellieren. "Wir müssen hier weg. Ich stütze dich auch." Mein Flehen zeigt keine Wirkung. Möglicherweise hindern ihn aber auch die Krämpfe nachhaltig am Fortkommen. "Sano?!" Krächze ich in Ratlosigkeit, als er mir über die Schulter Anweisungen erteilt. "Zieh ihn an den Haaren hoch, Kama. Los!" Mir widerstrebt die Misshandlung. Sanos Tonfall, hart, konsonantisch gezischt zwischen bleckenden Zähnen lässt keinen Raum für zimperliche Einwände. Zudem, ich gestehe es, wird mir Soujiros erstickender Klammergriff lästig. Also reiße ich kräftig. In der Tat, Soujirou steht, zwar unsicher, doch aufrecht, sodass ich ihn um die kindlich schmalen Hüften fassen kann. "Wohin?" Bemühe ich mich um Sanos Instruktionen. Ein geschützteres Gelände wäre von Vorteil. Wir würden weniger Angriffsfläche bieten. Unsere beabsichtigte Fluchtrichtung ist wenig innovativ, gibt es doch nur die Häuserruinen und Abraumhalden. Die können die motorisierten Rocker simpel mit einer Phalanx blockieren. Es wäre, würde uns ein Durchbruch gelingen, ein Wettlauf mit der Zeit. Ich bezweifle, dass ich Soujirou ohne Sturz so behände mit mir ziehen könnte. "Kama, übernimm." Sano spaltet den Boden nahezu mit einem Hieb, nutzt das Staubgewölk, um Soujirou einen sehr präzisen Schlag zu versetzen. Der sinkt bewusstlos in Sanos linken Arm. Glücklicherweise habe ich einen wachen Moment, schwinge sogleich wieder die Stahlkette, um unsere Gegner auf Abstand zu halten. "Ich Vorhut, du Deckung." Ohne weitere Präliminarien sprintet Sano los, Soujirou über die Schulter geworfen, als handele es sich um eine leichte Jacke. Einige der Rocker bremsen. Die bulligen Maschinen haben keinen geringen Wendekreis. Mit einem Zickzack-Kurs gelingt es uns, wenigstens die Hälfte der Strecke zu überwinden. Mein Arm beginnt zu schmerzen, weil ich die Stahlkette am Baseballschläger höher schwingen muss als gewohnt, um Sano nicht zu treffen. Der bahnt sich wie eine Urgewalt seinen Weg, überspringt locker, unerschrocken die erste Hürde, bevor er eine weitere lahmlegt, indem er schwungvoll vom Boden abfedert, ihren Besitzer oberhalb der Hüften erwischt. Eigentlich müsste ich ihm nur folgen, doch das Glück ist uns nicht hold. Um zu verhindern, dass man uns kurzerhand in die Zange nimmt und überrollt, visiere ich den Kranz des Vorderrads an, lasse das Vorhängeschloss an der Stahlkette herausschnellen. Einen Ruck später lasse ich eilends los. Die Kette geht eine verwickelte Beziehung mit der Radnabe ein. Der dazugehörige Rocker steigt extrem beschleunigt über den Lenker ab, erwischt den zweiten Duellanten mittschiffs. Die Lücke genutzt, von dem Wutgebrüll in unserem Nacken angetrieben hasten wir auf die unwirkliche Ruinenlandschaft zu, massive Schatten in unregelmäßigen Formen, die in die samtige Schwärze der kaum beleuchteten Nacht ragen. Wir suchen uns einen Weg in die Abraumhalden, wo die Passagen eng genug sind, um unseren Verfolgern die Jagd zu erschweren, verbergen uns hinter umgestürzten Mauern, um einen weiteren Haken zu schlagen. Soujirou beginnt, sich auf Sanos Schulter zu regen, winselt und hustet so erbärmlich, dass mich erneut der Wunsch durchzuckt, Sano möge ihn noch einmal ausknocken. Was er wohl auch getan hätte, wenn nicht von einem gewaltigen Trümmerberg in unmittelbarer Nähe eine Leuchtspurmunition in die Gruppe unserer ausgeschwärmten Verfolger geschossen wäre. *~i~* Langsam werden die Schmeißfliegen lästig. Ich hadere mit mir, ob ich nicht doch den Rückzug antreten soll. Kama hat sich so tapfer und ausdauernd gezeigt, dass ich beschämt bin. Was meiner Frustration nicht gerade einen Dämpfer verpasst. Wenn das hier nicht funktioniert, Gnade Gott dem verfluchten Cop. ICH werde keine kennen! Die Leuchtmunition trifft mich unvorbereitet. Ich hatte nicht mit dieser Art von Öffentlichkeitsarbeit gerechnet. Andererseits ist sie recht stilvoll. Auf eine plakative Weise. Auf dem Trümmerberg ist nur eine Silhouette zu erkennen, schlank, nur wenig kleiner als ich, mit einem punkigen Haarschopf, die hörbar durchlädt. Ein Geräusch, das eindeutig an eine Pumpgun erinnert. Von dem Aussichtspunkt aus müsste es wie Tontaubenschießen sein. Unwillkürlich schiebe ich Kama hinter mich, auch wenn das wenig Erfolg hat. Ich bin ebenso hell gekleidet. Eine leichte Zielscheibe wie er. Unser unbekannter Retter, wenn er die Anforderungen an diesen Status erfüllt!, verliert keine Worte, sondern feuert mit einer blitzartigen Bewegung erneut Leuchtmunition ab. Dieses Mal allerdings in den Himmel. In blutigem Licht erscheint ein bösartiger, unversöhnlicher Racheengel mit platinblonder Stachelfrisur, einer Sonnenbrille mit runden Gläsern und einem asiatisch anmutenden Trainingsanzug. *~i~* Kapitel 11 - Waffenbrüder Wer auch immer das ist, er ist bewaffnet, in einer sehr guten Ausgangslage und offenkundig entschlossen, unsere Angreifer zu vertreiben. Ohnehin wird man zweifellos in dem nächsten Polizeirevier Alarm schlagen, weil der rote Lichtschein durchaus mit einem Feuer verwechselt werden könnte, sodass wir in Bälde nicht mehr allein die lauschige Nacht zu Räuber- und Gendarm-Spielen nutzen. Die Motoren heulen trotzig auf. Es ist nur eine Verlegenheitsgeste. Ihr grollender Bass reduziert sich schnell, während der Unheilbringer auf dem Hügel sicher und mühelos zu uns hinabsteigt. Sano baut sich drohend auf wie ein Schutzschild. Das lässt mich unwillkürlich lächeln. Er ist so ritterlich! Endlich steht er vor uns. Ich kann ihn nur über eine Schulter erspähen. Tatsächlich von ähnlicher Statur und Größe wie Sano, einen ebensolchen Schopf wilder, ungebändigter Stacheln auf dem Schädel. Ein kaltes, herausforderndes Lächeln auf den Lippen. Er schiebt, lässig die Pumpgun geschultert, mit der freien Hand die Brille auf die Nasenspitze, entblößt hinter dem dunklen Glas der Sonnenbrille nahezu schwarze Augen. Wachsame, gefährliche Augen. "Gib ihn mir." Weist er Sano an. Eine ruhige, nicht weiter bedeutsame Stimme, vielleicht ein wenig zu flach, zu moduliert. Als bemühe sich ihr Besitzer, einen beiläufigen, "normalen" Sprachton zu imitieren. Sano zieht die Augenbrauen zusammen. "Gehört er zu dir?" Erwidert er ebenso kühl, belauert die Herausforderung, stellt Soujirou auf die Beine. Der taumelt glückstrahlend direkt in den einladend geöffneten Arm, winselt, seufzt, beginnt wie ein Hund über die ihm zugewandte Gesichtshälfte des Fremden zu lecken. So hungrig, so gierig, dass ich Röte in meine Wangen steigen spüre. "Der Typ mit dem Hahnenkamm. Nennt man dich nicht Zanza?" Seine kalten Augen fixieren sich auf Sano, der die Arme vor der Brust geballt kreuzt. "Das ist lange her. Mein Name ist Sanosuke." Korrigiert er knapp. "Und du bist?" Wieder dieses arktische Grinsen. "Ich bin Enishi." Deutet unser vermeintlicher Retter eine knappe, spöttische Verbeugung an. Er starrt mir geradewegs in die Augen. "Du musst wohl Kamatari sein, Sanos Liebhaber. Enchantee." Bevor ich mich von meiner Überraschung erholen kann, gibt Sano eine weitere Vorstellung als Trutzburg, die mich verbirgt. "Wir kennen uns nicht, aber du scheinst ja sehr hellhörig zu sein." Auch Sano kann Stahlspitzen in jeden Laut verpacken. Ein nonchalantes Schulterzucken, das von fernem Sirenengeheul untermalt wird. "Ah, die Hüter des Gesetzes. Wir sollten uns nicht aufhalten lassen." Schon hebt er Soujirou wie einen Säugling auf eine Hüfte, stolziert ungehindert davon. "Los, ihr beiden Turteltauben!" Provoziert er unsere Gefolgschaft. Sano fasst meine Hand, nimmt seine Spur auf. *~i~* Ist das die Zielperson? Ich bin ziemlich sicher. Der widerliche, perverse, manipulative Scheißkerl hat es sauber eingefädelt. Meine Zähne knirschen so laut, dass ich es durch das heran dringende Sirenengeheul vernehmen kann. Diesem Enishi ist nicht zu trauen. Mir stellen sich förmlich die Haare auf bei diesem Irren samt seinem Schoßhund mit dem manischen Grinsen. Woher kennt er meinen alten Straßennamen? Hat er mich beobachtet? Wieso glaubt er, dass Kama und ich...? Es ist definitiv keine gute Idee, dem Kerl zu folgen. Mir bleibt keine Wahl. *~i~* Langsam, sehr bedächtig, fallen einzelne Mosaiksteine an ihren Platz. Ich beginne zu begreifen, auch wenn mir wenig behagt, was ich erkennen kann. Also war Sano tatsächlich nicht zufällig in dieser Gegend, unser "Date" ein Lockmittel, um an diesen Enishi heranzukommen. Woher wusste er, dass die Rocker es auf Soujirou...? Moment, gefolgt waren sie zunächst uns, die wir Hand in Hand den Club verließen. Auch wenn ich es eher dem Gedränge zugeschoben hätte. Soujirou war zu dem Zeitpunkt bereits auf Entzug, zu langsam, um zu verschwinden, nachdem er mit mir getanzt hatte. Perfid. Ein wirklich bösartiger Plan. Hatte der verschlagene Drogist Sano diesen Hinweis gegeben? Spontan fällt es mir schwer zu entscheiden, wer mir mehr Abscheu entlockt: Enishi oder der geheimnisvolle Polizist. Möglicherweise liegt Sano mit seiner Einschätzung des psychopathischen Sadisten doch nicht so falsch. Ich schmiege mich enger an seine Seite, ignoriere sein Erstaunen. Ich habe mein Wort gegeben, meinem besten Freund beizustehen. Wenn wir vorgeben müssen, ein Paar zu sein, ist das nicht wirklich ein großes Opfer. Rede ich mir ein. *~i~* Es fällt mir in der Dunkelheit sehr schwer, mich zu orientieren. Enishi bewegt sich schnell, sicher und kennt Schächte, Tunnel und Durchbrüche, die ich vermutlich nicht mal mehr am helllichten Tage finden würde. Sein Revier, so viel ist unmissverständlich. Nach etwa zehn Minuten strammen Marsches, teils unterirdisch, kehren wir an die Oberfläche zurück, stehen vor einem alten Bürgerhaus mit ungepflegtem Vorgarten. Hinter den Fenstern brennt allerdings sporadisch Licht. "Tritt ein, bring Glück hinein." Grimassiert Enishi, von seinem Anhängsel ausgiebig beleckt, besabbert und mit feuchten Küssen eingedeckt. Zwei Stahltreppen später, eine massive Tür weiter, stehen wir in Enishis privatem Refugium. Wo sich zwei Gestalten erheben, die besser unterhalb des Rasens eingelagert wären. Der eine mit langen, glatten Haaren, in tuntige Zöpfe abgeteilt, dramatisch geschminkt, trägt Rock und Kaftan, was absolut lächerlich wirkt, während sein Kumpan sofort den Eindruck geistiger Limitation erweckt, Rasta-Zausel in Pseudo-Army-Klamotten, ein aufgeblasener Muskelprotz mit flächigem Gesicht und Schlagdrauf-Attitüde. "Enishi, wir haben... oh, Soujirou!" Blöken/flöten sie unisono, bevor Enishi blitzartig ausholt, beide zu Boden streckt. "Ich habe euch dämlichen Wichsern schon mal gesagt, dass ihr Souji nicht aus den Augen lassen sollt. Ihr habt es wieder vermasselt." Seine Stimme ist so leise, dass man sie kaum hören kann, das Zischen jedoch akzentuiert genug, um Gänsehaut auszulösen. "Wie soll ich euch bestrafen, hm? Was wäre angemessen? Eure Schwänze in eure hohlen Schädel stopfen?" Kamas Fingernägel bohren sich tiefer in meinen Oberarm, den er wie ein ängstliches Mädchen umklammert hält. Sein Gesicht, so attraktiv es auch wirkt, kündet von Anspannung und Abscheu. Ich möchte ihm gern zuraunen, dass er keine Scharade spielen muss. Die holde Maid vorgeben, nur weil Enishi glaubt, wir seien ein Paar und er offenkundig darin einen Pluspunkt sieht. Mir bleibt die Ermunterung im Halse stecken, als der Platinblonde unvermittelt zutritt: es knackt, ein widerliches, schauderhaftes Geräusch, unmissverständlich in seiner Bedeutung. Während der Rastalockige die Zähne ineinander verkantet, um nicht aufzuschreien, als Enishi seine Rippen bricht, fällt sein Kollege sofort in Ohnmacht. Vermutlich hätte er noch eine weitere Lektion angeschlossen, wenn das Winseln seines Liebhabers nicht seine Prioritäten neu geordnet hätte. Er bückt sich, rät mit freundlich-eisigem Ton, sie mögen besser in den nächsten zwei Tagen nicht mehr in Erscheinung treten, sonst würde er Löcher in andere Körperteile stanzen. "Ah!" Winkt er uns zu. "Ignoriert das einfach, kommt mit." Ungerührt steigt er über die beiden hinweg, tauscht dabei Küsse mit Soujirou aus, von denen mir beim Zusehen die Kehle eng wird. Die beiden massieren sich gegenseitig die Mandeln. Kamas Hände rutschen von meinem Arm. Eine schiebt sich in meine Hand, als habe er sich nunmehr entschlossen, von Täuschungen abzusehen. Möglicherweise die bessere Variante. Auch wenn dieser Enishi wie ein gefühlskalter Irrer wirkt, funkelt in seinen Augen eine hellwache Intelligenz. Es wäre vielleicht tödlich, ihn zu unterschätzen. *~i~* Ich mag diesen Enishi nicht. Seine Methoden sind despotisch. So etwas wie Mitgefühl scheint ihm völlig abzugehen. Allein Soujirou ist für ihn von Interesse. Die Art, wie beide ineinander verschlungen sind, noch während wir das Haus durchqueren, lässt mir Farbe in die Wangen steigen. Trotzdem begreife ich es nicht. Wir haben Soujirou beigestanden. Es bestand keine Notwendigkeit, uns mitzunehmen. Will er uns zu Mitwissern machen? Noch eine Stahltür. Eine Zimmerflucht empfängt uns, vergrößerte Türbögen von mindestens vier Zimmern, die mit Matratzen, Kissen, Sofas und Sesseln üppig ausgestattet sind. Auf den Beistelltischen liegt allerlei herum: Munition, Waffen unterschiedlichster Kaliber, Zigaretten, Kondome, Tütchen mit Pulver, Joints, Pillen, dazu Tüten mit Fast Food. Alkohol und Softdrinks ergänzen das Szenario. Ich kann nicht glauben, dass es so etwas gibt: eine richtige Lasterhöhle. "Macht es euch bequem, Sano, Kama, bedient euch. Ihr seid meine Gäste!" Hoffentlich liegt ihm die Gastfreundschaft wirklich so sehr am Herzen! Sano zieht mich auf eine etwas stabiler wirkende Couchkombination. Nervös, wie ich bin, greife ich blindlings in die bunte Pracht. Glücklicherweise ist Sano schneller, verhindert, dass ich mir die poppigen Drogen wie Erdnüsse in den Mund fallen lasse. "Hier." Schiebt er mir eine Tüte mit Schoko-Linsen zu. Ich frage mich, warum er so unbeeindruckt bleibt. Bei der Hälfte der Artikel wüsste ich nicht einmal ihren Verwendungszweck auszumachen. Ich laufe erneut dunkel an, als Sano gleichgültig eine Reihe von Sexspielzeugen dezent unter den Tisch kehrt. Dieser Enishi: ist es ihm egal, ob man ihn erwischt? Fürchtet er sich gar nicht? *~i~* Von dem zu urteilen, was hier dekorativ die Zimmer gestaltet, ist Enishi kein kleiner Fisch. Allein die Munition und die Waffen haben zweifellos einen immensen Wert auf dem Schwarzmarkt. Dazu noch jede Menge Pharmazeutika, Narkotika, Drogen in rauen Mengen. Fehlt nur noch Prostitution. Was mich auf ein anderes Thema bringt: Soujirou, der auf Enishis Schoß kauert, von ihm entkleidet wird. Das enthüllt ein Bündel Mensch ein Vogeljunges, mit einer nicht sonderlich gesunden Hautfarbe. Anders ausgedrückt: der Junge ist leichenblass, wenn man von den zahlreichen Einstichen absieht, die bläulich-rot seinen Körper markieren. So, wie Enishi jetzt, der einen Oberschenkel abbindet, eine Ader findet, sorgsam eincremt, bevor er das Heroin erhitzt, in eine Spritze zieht und dem mageren Jungen injiziert. Normalerweise kann ich den Anblick von Spritzen nicht leiden. Diese Handreichungen sind so liebevoll, dass ich den Blick nicht abwende. Was auch immer Enishi für und zu anderen Menschen ist: Soujirou bedeutet ihm sehr viel. Der ruht in Enishis Armen, lässt sich mit geschlossenen Augen, immer lächelnd, feucht abreiben, liebkosen, zärtlich tadeln. Keine Spur mehr von dem durch Entzug geplagten Hysteriker. Ob Enishi Soujirou zu den Drogen brachte? Ich kann es mir nicht vorstellen, vor allem nicht bei Heroin. Das ist eine Fahrt ohne Rückkehr. Eine Menge Fragen rauschen durch meinen Kopf, Spekulationen, Erwägungen. Kurz, ich hätte dem alten Psycho-Cop sicher Konkurrenz gemacht. Wenn die beide nicht angefangen hätten, wirklich intim zu werden. Zu behaupten, dass ich ein unbescholtenes Blatt in dieser Hinsicht bin, wäre dreist gelogen. Vor Zeugen meinen Partner auf den Schoß heben, ihm die Stange ölen, während er mit gespreizten Beinen testet, ob er den rektalen Höhlenforscher tiefer eindringen lässt: keine Chance!! Ich spüre Enishis Blick, der uns seziert, schneidend scharf. "Na los, ihr beiden, feiert mit uns! Lasst euch so richtig gehen!" Orgiastisches Tummeln? Das geht nicht! Sein Vertrauen hängt davon ab, dass wir uns anschließen. Aber das steht nicht zur Debatte! *~i~* Ich erkenne an Sanos Profil die elektrisierten Stacheln, die zornig zusammengezogenen Augenbrauen. Die Wahl, die wir haben, ist keine: wenn Enishi uns nicht vertraut, wird Sano den Psycho-Cop nicht zufriedenstellen. Der Kerl zeigt ihn an, er verliert Kaz und ich verliere meinen besten Freund. "Bist du in Rom, handle wie die Römer." Gebe ich meine Entscheidung preis, schlinge die Arme um seinen Nacken, lecke über sein Ohrläppchen, um meine Worte zu tarnen. "Nein!" Brummt er dumpf in meiner Halsbeuge. Seine Hände auf meinen Schultern sind so kräftig, dass ich leise stöhne, ausreichend, ihn zurückweichen zu lassen. Wenigstens ist die Beleuchtung nicht so gnadenlos, meine Beschämung allzu deutlich hervorzuheben. Wie dämlich! Er wird annehmen...!! Sano weicht meinem Blick aus, strahlt eine konzentrierte, in sich zurückgezogene Aura aus. Er sucht wohl fieberhaft nach einem gangbaren Ausweg, einer Alternative. Ich kann keine erkennen, auch wenn ich die Konsequenzen nicht unterschätze. Im Augenblick erscheinen sie mir weniger bedrohlich als die launische Tyrannei Enishis. Vielleicht gefällt ihm unser Zögern nicht, er ballert einfach mal eben los?! Geschichten aus diversen Nonsense-Gazetten mischen sich mit den zugeraunten Horrormeldungen aus der "großen, molochartigen Stadt". Ich stemme mich eilig hoch, wechsele zu einer Anrichte hinüber, inspiziere das Angebot. »Wir werden das gemeinsam durchziehen.« Beschließe ich fest, greife nach unterschiedlichen Flaschen, beginne, einen Longdrink zu kreieren, der Tote zum Tanzen bringen könnte. Synaptischer Overkill durch Zuckerbombardement: Kirschsirup mit Bananensaft auf einem Cola-Extrakt, absolut grauenvoll, die Waffe der Verzweifelten. Ich schrecke zusammen, als Soujirou neben mir aus dem Boden wächst, neugierig in mein Glas späht, auffordernd ein leeres zu mir schiebt. Sich bei mir unterhängt, vollkommen nackt, noch leicht erhitzt vom intimen Nahkampf mit Enishi. Allerdings sind die großen Augen nun erstaunlich klar und schön. Wenn er nicht drogensüchtig und so erschreckend mager wäre, könnte man ihn wohl nicht ansehen, ohne dass einem das Herz stolpern würde. Nachdem ich sein Glas artig befüllt habe, küsst er mich wie selbstverständlich auf die Lippen, kehrt zu Enishi zurück. Der lagert in einer Pascha-Haltung nackt auf der Matratze, lässt uns nicht aus den Augen. Kaum dass der zierliche Junge, ich bin gar nicht so sicher, dass er wirklich noch so jung ist, balancierend auf seine Hüften geklettert ist, liebkost er sanft die fahlen Wangen, konzentriert seine Wahrnehmung auf Soujirou, leckt ihm überschüssige, zuckersüße Tropfen von den Lippen. Ich wende mich ab, schlucke peinlich berührt. Mein Plan ist eigentlich simpel: Sano mit dem mörderischen Gebräu ein wenig entspannen, ihn zum Mitspielen überreden, mit heiler Haut aus dieser Vorhölle entkommen. Das erste Hindernis besteht bereits darin, dass Sanos sturmkündender Blick wenig Hoffnung auf Verhandlungsaufnahme birgt. Es widerspricht wohl seinem Ehrgefühl, eine solche Scharade aufzuführen. »Mut, Loyalität, Aufrichtigkeit!!« Feuere ich mich selbst mit den Maximen meiner alten Schule an, lächle ihm offen ins Gesicht, nehme den ersten Schluck. Eine Stärkung habe ich bitter nötig. Betrachten wir es doch als Spiel: legen wir die Regeln fest und treten in Wettbewerb! *~i~* Ungeachtet Kamas Lächeln kann ich seine Entscheidung aus seiner Körpersprache ablesen: er ist bereit, das Opfer zu bringen. Das ich nicht einfordern will. Ich kann das nicht tun mit meinem besten Freund, unmöglich. "Hier." Hält er mir ein abscheulich grell gefärbtes Getränk hin, aus dem er sich bereits bedient hat. Allein der sich absetzende Zucker dreht mir die unteren Gefilde um. Während ich noch argwöhnisch das Gemisch studiere, hockt er sich rittlings auf meine Oberschenkel, legt die Arme locker auf meine Schultern. "Sano." Formen seine Lippen ohne Laute. "Öffne meine Haare." »Sichtschutz.« Kombiniere ich, erkenne an dem ernsten Ausdruck in den Haselnussaugen, dass auch Kama Enishis totaler Fixierung auf Soujirou nicht traut. Nach einem tapferen Schluck der Bonbon-klebrigen Flüssigkeit, die meine Zähne quietschen lässt, wechselt das Glas wieder in Kamas Hände. Ich löse den Gummi aus seinem Haar, streiche durch die Strähnen, lese in seinen Augen: Zuversicht, Aufmunterung, Vertrauen. Ich presse die Lippen zusammen. »Auf keinen Fall!!« Die freie Hand auf meiner Schulter fächert mit den Fingern durch meine elektrisierten Stacheln. Seine Knie arbeiten sich auf der Matratze vor mit dem Zielpunkt des Stoffkontakts in Schoßhöhe. Die Versuchung, ihn wegzuschieben, anzuzischen, ist gewaltig. Sein Lächeln hindert mich. Er zwinkert herausfordernd, flirtet. Als ginge es nur um einen weiteren unserer gemeinsamen Scherze. Darunter blitzt Mitgefühl hervor. Den Kopf weggedreht grabe ich die Finger in das Laken, weigere mich schlicht, ihn zu umarmen. Wut gärt in mir, was gallig mit dem widerlichen Getränk in meiner Kehle köchelt. Mir ist klar, dass er mich gut genug kennt, all die Argumente und auch meine Furcht. Das kann ich nicht tun. Das DARF ich nicht tun. Ich hasse es, mich zu fürchten! Ich hasse dieses Ausgeliefertsein an wankelmütige Emotionen! Wenn ich nur...!! Draufschlagen wäre die Option gewesen. Sie entfällt, auch, weil ich zusammenzucke, als Kamas Zungenspitze mein Ohr erkundet, seine Lippen zupfen. Um mich aus der "Gefahrenzone" zu begeben, wende ich den Kopf, werde durch Enishi unterbrochen, der mit ruhiger Stimme auf Soujirou einpredigt, wie ein geduldiger Freund. "Maus, nicht ohne Gummi." Lektioniert er, streicht unter das spitze Kinn seines schier unersättlichen Liebhabers, fingert aus der bunten Vielfalt an Präservativen einen heraus, bohrt mit spitzen Eckzähnen ein Loch in die Verpackung, um diese aufzureißen. "Das ist nicht gut, das weißt du doch." Ermahnt er, streicht begütigend durch die mit silbernen Strähnen verzierten Haare, während er es den zerbrechlichen Fingern Soujiros überlässt, seine Erektion wie gewünscht zu verpacken. Der beugt sich eifrig über den menschlichen Lutscher, vermutlich Kirschgeschmack. "Na, Mann oder Maus?" Wispert Kama mit samtiger Stimme an meinem Ohr, haucht einen Kuss hinterher. *~i~* Ich kann mich nicht erinnern, Sano jemals verzagt, unentschlossen oder verschreckt gesehen zu haben. Sein plötzliches Zittern irritiert mich. Es ist keines der Angst. Wie ich rasch feststelle, als ich in seine Bitterschokolade-farbenen Augen blicke, die mörderische Wut hochbrodeln. Ein Zorn, der sich gegen ihn selbst richtet, weil er sich im Kreis dreht, ohne zufriedenstellende Lösung. Dass ich ihn halb scherzhaft necke, trägt vermutlich wenig zur Erleichterung bei. »Was soll ich dir sagen? Stell dir vor, ich sei ein Mädchen? Jemand, den du heimlich liebst?« Den Kopf in seine Schulterbeuge geschmiegt weise ich das von mir. So etwas kann ich nicht über die Lippen bringen. Wenn er mich küsst, wenn er mit mir schläft, will ich, dass er mich sieht, mich spürt und niemanden anderes. Ja, so eitel und selbstsüchtig bin ich. Wirklich ein schöner Freund!! "Kama." Er nimmt das Glas aus meiner Hand, leert es zu einem Drittel mit abschätzigem Grimassieren. "Verzeih mir." Verunsichert durch seinen schmerzvollen, wehmütigen Tonfall hebe ich den Kopf. Weit gelange ich nicht: seine Hand liegt in meinem Nacken, mit losen Strähnen verwoben, während sein Körper sich mit mir aufrichtet, die Distanz überwindet. Einen Wimpernschlag treffen sich unsere Blicke, die Lider verhangen. Er küsst mich zum ersten Mal nicht mehr wie ein Freund. *~i~* Alle meine Gedanken fokussieren sich darauf, Kama nicht die Galle schmecken zu lassen, die ich in mir spüre. Süß und liebevoll soll der erste Kuss sein. Nicht zu feucht oder gar Speichelfäden ziehen. Also lecke ich hastig über seine Lippen, ignoriere mein gewaltsam randalierendes Herz. Der Zucker steigt mir konzentriert in den Kopf. Seine Hände liebkosen meine Schläfen beiläufig, setzen eine Serie fort, die ich tollkühn begonnen habe. Allerdings mit einem Geschick, dass ich in kürzester Zeit einen zweiten Impulsgeber spüre. Kama vermutlich auch. Seine unwillkürlichen Bewegungen auf meinem Schoß werden zielgerichteter, reiben den Stoff aufreizend aneinander. Er versucht es mit spielerischem Locken, trägt Gefechte mit der Zunge aus, zwirbelt Strähnen um seine Finger, lacht sanft in unsere Küsse, neckt mich mit zärtlichen Bissen. Ich schäme mich, es ihm so schwer zu machen. Warum nehme ich es nicht einfach als freundschaftlichen Wettstreit hin? Wenn er, der in einen anderen verliebt ist, so mutig agieren kann, warum ich nicht?! Ich blinzele über Kamas Schulter, erspähe einen Auszug aus dem Kamasutra oder einer anderen Fibel für praktischen Intimverkehr. Eine Lektüre, die Enishi und Soujirou zu pflegen scheinen. Ausgeschlossen, dass ich so etwas tue! "Sano." Wispert Kama an meinen Lippen. "Wir schaffen das. Vertrau auf mich." Wieder dieses Lächeln, herausfordernd und mitfühlend zugleich. So liebevoll, dass es mir die Kehle zuschnürt. Für wen wage ich es? Für Kaz... für mich selbst ...oder ...für ...Kama?! *~i~* Sanos Augen nehmen diesen stillen, befremdlichen Ausdruck an, der mir immer wieder bedeutet, dass ich keine exakte Vorstellung davon habe, was der stets fröhliche, unerschrockene Freund in den Schatten verbirgt. Es ist nicht der Augenblick für Spekulationen. Kurzerhand übernehme ich die Orchestrierung, drücke ihn hinunter, um mir langsam, möglichst ohne peinliche Verstrickungen und Ungeschicklichkeiten, Schmuck und Hemd abzustreifen, meine Haare auszuschütteln. Sano nutzt die Gelegenheit, sich aufzurichten, sein Muscle-Shirt aufzurollen. Ich lasse mir die Chance nicht entgehen, es selbst über seinen wilden Schopf zu streifen, ihn lange zu küssen, während ich die Slacks öffne, ein wenig tiefer schiebe. Zwischen seine Beine knien, einen Gummi... Mein planmäßiges Vorgehen wird gestoppt: er hält mich auf seinen Hüften. Fingerrücken bestreichen zärtlich meine Wange. Naturgemäß gerate ich vollkommen aus meinem Konzept, »Hirn aus, Trieb an«, starre in Sanos Gesicht, das ohne siegessicheres Grinsen ungewohnt fremd wirkt. Ich verliere die Umgebung aus dem Blick. Nur diese stillen, bodenlosen Augen werden mein Horizont. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Endlose Ewigkeiten später erlöst Sano mich. *~i~* Ich muss mir nicht einreden, dass Kama attraktiv ist, wohlriechend, anschmiegsam, erotisch und erregend. Gewöhnlicherweise hake ich solche Eindrücke bei Freunden einfach ab. Festgestellt und als irrelevant befunden. In dieser Situation, sein entspanntes, aufmunterndes Lächeln, treten diese Eindrücke an die erste Stelle, erinnern mich: zu küssen, zu streicheln, zu tasten, zu schmecken, zu betrachten, zu belauschen. Was ich tue, als wäre es nicht mein bester Freund, der sich unter mir windet, den ich langsam, genüsslich ausziehe, unter einem dünnen Laken mit Zunge und Lippen erkunde. Auf dessen Reaktionen ich begierig lauere, um seine erogenen Zonen und Bedürfnisse zu ermitteln. Kama ist atemberaubend, geschmeidig in seiner Erregung, pulsierend vor Leben, wärmend, durchdrungen von samtigen Seufzern. Auch wenn ich noch nie mit jemandem geschlafen habe, bin ich kein Waisenknabe, was den Weg bis dahin und die Theorie betrifft. Es ist wie bei einem sehr guten, hochklassigen Kampf: die Zeit verliert sich, alles verschwindet, wird unwichtig. Nur der Austausch von Energie zählt. Einer Energie, die man nicht verlassen darf. Deshalb liebkose ich Kama unentwegt, lasse nicht von ihm. Irgendwann erreicht man in einem Kampf den Punkt der absoluten Erfüllung. Sieg oder Niederlage sind bedeutungslos. Dieser eine Augenblick des Friedens mit sich und der Welt, den gilt es anzustreben. Solche Kämpfe sind selten. Wenn man mal einen erfahren hat, vergisst man das Gespür, den Instinkt dafür nie wieder. Sex kann man genauso handhaben. Beschließe ich knapp. *~i~* Ich habe nicht erwartet, dass Sano tatsächlich den aktiven Part übernimmt. Immerhin ist er noch "unberührt". Sein Einfühlungsvermögen wird mir beinahe unheimlich. Er geniert sich weder seines Körpers, noch der Reaktionen aufeinander, filtert mit perfider Geschicklichkeit genau die Punkte an meinem Leib heraus, an denen ich besonders empfänglich bin. Schon bald kann ich keinen zusammenhängenden Gedanken mehr fassen, ertrinke in seinen Küssen, reibe mich wie ein rolliger Kater an ihm, stöhne vor Verlangen. Alles wird gleichgültig, relativiert sich: Enishi, die Vorhölle, Intrigen, Psycho-Cops... Ich will, dass er mich auf alle Viere dreht und endlich die quälende Leere in meinem Unterleib ausfüllt! *~i~* Kama ist überall, auf meinen Lippen, feuchter Film auf meiner Haut, fliegende, lange Strähnen, feste, glühende, geschmeidige Muskeln, ein unvergleichlicher Lockstoff aus Zucker, Parfüm und ihm selbst. Er löst sich nahezu gewalttätig von mir, rollt sich auf die Knie, eine eindeutige Aufforderung, atemlos, vertrauensvoll. Der Gummi trieft bereits, in meinem Kopf pocht eine Ader synchron. Ich will den Druck ebenfalls ablassen. Ich zögere. Ich will nicht, dass es weh tut, nicht mit mir. Selbst mit der Gleitcreme, die der aufmerksame Gastgeber dekorativ zu den Kondomen auslegt, traue ich der Sache nicht. Mein Atem kondensiert auf seinem Rücken, nass glänzenden Strähnen und beperlter Haut. Sein Ringen um Luft ist flach, rasch, fast qualvoll. Eine Anstrengung, die den ganzen Körper vereinnahmt. "Sano... bitte..." Dringt sein Flehen heiser an mein Herz. Ich schließe die Augen, ertaste meinen Weg. *~i~* Er ist groß, glühend heiß. Ich schluchze vor Hilflosigkeit. *~i~* Kamas Schließmuskeln zucken ebenso unkontrolliert wie sein Atem flackert. Ich kann nicht mehr tun, als langsam vorzudringen, die Finger tief in sein Fleisch zu bohren, seine Erektion zu massieren, bis ich ihn mit einem verzweifelten Ruck auf meinen Schoß ziehe. Ein ersticktes Stöhnen, Frieden für einen Wimpernschlag, bevor ich mich bewege, vor-zurück, seine Muskeln Widerstand leisten, der Rhythmus schneller, forcierter dahinrast. Er ist kaum zu halten, ein nackter, glorioser Derwisch, windet sich, wiegt sich, wischt mit den Haaren über meinen Rücken, mein Gesicht. Wie ein einzigartiger, prachtvoller Schmetterling, den ich aufgespießt habe. *~i~* Er wird immer schneller. So treffsicher, dass alles schwarz wird. *~i~* "An der Landung müssen wir noch arbeiten." Brumme ich mit rauer Kehle, sortiere Gliedmaßen, drehe Kama behutsam auf die Seite. Ekstase an sich ist nicht zu verachten. Dass er mir kollabiert, war nicht vorgesehen. Schon flattern seine Augenlider, während ich Strähnen von seinem Gesicht lese. Es dauert einige Herzschläge, bis sich seine Augen klären. Er lächelt vorsichtig, sondierend. Ich lasse mich neben ihn sinken, schmiege mich an, grabe den Kopf in seiner Schulterbeuge ein. Wenn es immer so ist, brauche ich eine Packung Tempos im Bett, weil mir Tränen aus den Augen rinnen, meine Muskeln in Spasmen zucken. »Nur die Erleichterung, du Esel, nun hör schon auf!« Ermahne ich mich selbst, aber ich finde keine Ruhe. *~i~* Wow. Im letzten Moment in einem Karussell detonierenden Sternen entgegen, in nächsten Augenblick flach auf der Seite, Sano an mich gepresst. Der vor auflösender Anspannung weint, lautlos, zwischen wütend zusammengepressten Zähnen. Ich kann mich nicht enthalten, die Arme um ihn zu legen und ihn zu streicheln, sanft zu wiegen. Wir haben es geschafft. *~i~* Eigentlich sollte ich mein spärliches Gehirn wieder eiligst in Gang setzen, Enishi ausspähen. Oder zumindest sichergehen, dass er keine hässlichen Überraschungen in petto hält. Ich handele nicht vernünftig und vertrauenswürdig. Nein, ich schließe die Augen, lasse mich von Kama halten, labe mich an seiner Wärme, seinen gleichmäßigen, beruhigenden Atemzügen, dem einlullenden Herzschlag, seiner eleganten, schmalen Hand, die meinen Rücken bestreicht. Obwohl es furchtbar banal ist, würde ich gern mit ihm reden. Wie es war, ob er Schmerzen hatte, wie er sich nun fühlt. All diese Dinge, die man nicht anspricht, weil man fürchtet, das wenige Selbstbewusstsein, das man mühsam aufrecht hält, bei einer negativen Auskunft vollends zu pulverisieren. Vielleicht schnürt mir auch meine Verantwortung die Kehle zu. »Mann, Sano, du bist wirklich ein verblödeter Softie! Kuschelrockhörer!« Bevor ich meine kreative Selbstbeleidigung fortsetzen kann, werden Kamas massierende Bewegungen meiner Kehrseite eindeutig. Ich stemme mich auf die Ellenbogen, studiere sein ruhiges lächelndes Gesicht, dieses Mal ohne verführende Herausforderung. "Ich will noch mal." Formen seine Lippen langsam, entschlossen. Ein nervöses Grinsen flackert über meine Mundwinkel. Nicht, dass ich nicht wieder könnte, nur dachte ich.... »Dumpfbacke, ER ist ja kein Anfänger mehr!« *~i~* Es ist nicht fair zu vergleichen. Wir tun es ständig, einfach, weil es zum Überleben notwendig ist, Erfahrungen einzubringen, um die eigenen Maßstäbe auszutarieren, auf neue Situationen angemessen zu reagieren. Ich sollte meinen Liebhaber nicht meinem besten Freund gegenüberstellen. Meine Neugierde geht siegreich aus dem Kampf mit meinem Gewissen hervor. Ja, ich möchte wissen, wie es ist, mit jemandem zu schlafen, den man so gut kennt, der einem vertraut ist wie der eigene Körper, zumindest äußerlich. Einem Menschen, der selbst beim Sex ein Lachen auf den Lippen hat. Mit Aoshi ist alles Wettstreit, ernst, bedeutungsvoll. Selbst wenn er dies nicht so ansehen würde, weil ich ja nicht wirklich mehr bin als eine angenehme Abwechslung. Ich bin nicht so blauäugig, seine Gesten überzuinterpretieren. Aber Sano.... Sano könnte es leicht machen, spielerisch, komplizenhaft, wie einen privaten Scherz, den nur wir beide teilen, der sich nicht gegen Dritte richtet. Sein Gewicht, halb auf mir verteilt, ist angenehm real, seine gebräunte Haut weich und so warm, dass mein Puls Tempo aufnimmt. Ich wollte schon immer mal all diese Muskeln und Sehnen erkunden, die Lippen um seine gebräunten Brustwarzen schließen, sie mit der Zungenspitze kitzeln, bis sie angeschwollen gegen meinen Mund pressen. Seine Arme über den Kopf schieben, die Muskelstränge entlanggleiten, die Nase in seine Achselhöhle vergraben und seinen unverwechselbaren Geruch aufnehmen. Rümpft ruhig die Nase, doch Sano riecht einfach würzig. Er erinnert mich an exotisches Gebäck, eine Prise von etwas Geheimnisvollen, Unbezwingbaren. Seinen Schweiß von der Oberlippe lecken, das Salz auf meiner Zunge zergehen lassen, langsam, bis zur Lustqual. Seine Finger in meinen Körper schieben, damit ich ihn gleichzeitig vom einen Ende bis zum anderen spüren kann, ihn küssen, tief und feucht, während er lacht, die Vibrationen durch seinen Brustkorb und den Unterleib wandern. So viele Sehnsüchte. Denen ich nachgebe. Was kümmert mich ein schlechtes Gewissen oder etwa die Moral?! *~i~* Dass Kama keineswegs so zerbrechlich und wehrlos ist, wie es den Anschein hat, beweist mir erneut die mühelose Leichtigkeit, mit der er uns herumrollt, sich auf mir einrichtet. Mit einer Hand zahllose Strähnen auf seinen Rücken befördert, die mich wie ein Vorhang beschattet haben. Aufgefächerte Finger gleiten langsam über meine Arme, dirigieren sie um meinen Kopf wie einen losen Kreisrund. Er bestreicht meinen Brustkorb bis hinunter zu den Beinen, prägt nahezu massierende Intensität mit jeder Bewegung aus. Er weiß, was er tut. Es fühlt sich herrlich an, warm, entspannend, gleichzeitig prickelnd erregend. Keuchend verwirre ich seine Strähnen, als er über mir kniet, meine Brustwarzen bearbeitet, leise lacht, seinen heißen Atem direkt auf meine hochsensibilisierte Haut bläst. Es ist verdammt gut, ich fühle mich wie in einem Fiebertraum. Ich frage mich, ob meine rotglühenden Finger wohl Brandspuren auf seiner makellos hellen Haut hinterlassen, gehe zum Gegenangriff über, erkunde ihn gierig, während er schmunzelnd an meinen aufgestellten Haarspitzen zupft. "Irgendwie fühle ich mich nicht ernst genommen!" Knurre ich gekränkt an seinem Ohr, beiße in das weiche Fleisch, um mir,natürlich!, die Schneidezähne an einem Ohrring zu schaben. Das entlockt ihm ein Prusten. "GGGRRRRRRRR!" Ich bin ungehalten, presse die Lippen auf sein Herz, lasse Atem austreten, was sie flattern lässt, ein blubberndes Geräusch erzeugt. Eigentlich ein alberner Spaß für Kleinkinder. Kama umklammert mich lachend, rollt angriffslustig mit mir herum, reibt seine Faust in meinem Nacken. Mehr herumrollen, schnaufen, zappeln, kichern. Bald balgen wir uns in Hautkontakt wie junge Welpen, bis wir atemlos auseinander gleiten, uns zugrinsen. Kama kopiert eine übertrieben laszive Pose, legt mir kurzerhand einen Knöchel auf die Schulter, die Lider auf Schlafzimmerblick herabgesenkt. "Na, Loverboy, wie ist dein Handicap?" Schnurrt er samtig mit einem Timbre, das an verhangene Kellerbars und künstlich blondierte Vamps erinnert. "Zum Einlochen stets zu Diensten, Zuckerpuppe!" Kopiere ich den lakonischen Tonfall mehrerer Generationen Privatdetektive, streiche mit der Hand über seinen Hintern, Oberschenkel bis hoch zum Knöchel auf meiner Schulter. Je langsamer, leichter meine Berührung wird, umso intensiver scheint er sie zu empfinden. Das kecke Grinsen verblasst, seine Wangen färben sich rosig. Er atmet schneller, bewegt die Hüften unwillkürlich. Wie eine Einladung, einen ganz bestimmten Rhythmus anzustimmen. Ich kann nicht aufhören, will ihn ansehen, verfolgen, wie seine großen, schönen Augen dunkler werden, von Leidenschaft bewölkt, seine Lippen sich teilen, Atemstöße feucht auf ihnen kondensieren, seine Fingerspitzen in der Matratze verhaken. Zur Innenseite gewechselt reiben meinen Daumen über die weiche Haut zwischen seinen Schenkeln, tauchen ein in die glänzende, seidige Behaarung in seinem Intimbereich. Bevor ich mich ein wenig entferne, auf der Matratze nach hinten rutsche, um gleichzeitig Schabernack mit seinem Bauchnabel zu treiben. Er fühlt sich so gut an... Mit der freien Hand verschränke ich unsere Finger, massiere Genital und Hoden, zwirbele sehr vorsichtig die Schamhaare, drücke gleichzeitig die Zähne in seine Bauchdecke, um das Flattern der Erregung darunter zu spüren. Mehrere Adern pochen lautstark unter dem Nabel gegen meine Lippen, noch weiter südlich gegen meine forschenden Finger. Ich mag es, ihn leise stöhnen zu hören, so melodiös, so erwartungsvoll. Den Kopf angehoben lächle ich unwillkürlich hinüber, wo seine freie Hand Perlen von der eigenen Stirn vertreibt, bevor er mich ansieht. »Ach, Kama...« Impulsiv überwinde ich die Distanz, beuge mich hinunter, küsse ihn lange, versichernd. Er ist so schön und so furchtlos. *~i~* Wir spielen miteinander, umkreisen den Höhepunkt neckend. Mal übernimmt er die Führung, mal bin ich an der Reihe. Eigentlich ist es nicht von Bedeutung, ob er noch einmal in mich eindringt. »Eine glatte Lüge!« Brüllt meine Libido hysterisch. Das ist darin begründet, dass ich nicht aufhören will. Hat es jemals so viel Spaß gemacht, sich gegenseitig Kondome überzustreifen und wechselweise den Geschmack zu testen? Sich herumzudrehen wie verrückte Kreisel, damit man den Geschmack mischen kann? Meine Bauchmuskeln schmerzen vor Lachen so sehr, dass ich ihn abhalten muss, mit sorgsam eingeschmierten Fingern mein Rektum zu erobern. Wir einigen uns schließlich auf ein Duell: jeder schreitet gleichzeitig voran, es wird gezählt, es kommt ein Begleiter dazu... dann noch einer... Das Zählen fällt schwer, wenn man die Lippen zusammenpressen muss, um nicht guttural vor Erregung zu grunzen. Daraufhin räche ich mich, krümme in Sanos unberührtem Hintereingang die Fingerspitzen perfid. Natürlich werde ich nicht verlangen, dass er die passive Rolle übernimmt. Da fürchte ich schlichtweg mein Ungestüm, das ihm Schmerzen verursachen könnte. Seine Bereitschaft, alles zu wagen, nimmt auch diesen Part nicht aus. Die Nasenspitze an seiner reibend lächle ich ihn entschuldigend an. "Ich will dich in mir genießen, sorry, Darling." Necke ich halb scherzhaft, halb ordernd, streiche verlangend über seine muskulösen Hinterbacken. Göttlich... Mindestens. Selbstvergessen kämmt er durch meine langen Strähnen, dippt Küsse auf mein Gesicht. "Wie willst du es denn haben?" Raunt er an meinem Ohr. *~i~* "'Dass sich mir die Zehen aufrollen'?!" Blinzele ich, wiederhole die Aufforderung. Kama grinst siegessicher, lehnt sich zurück, die Arme unter dem Hinterkopf verschränkt. »Na gut!« Schlage ich eine Faust in die offene Hand. »Ich gehe keiner Herausforderung aus dem Weg!« *~i~* Sano ist in mir und über mir, um mich herum, auf mir... als würde die Zeit stillstehen. Der Rhythmus ist so langsam, dass er mich an die Gezeitenwechsel erinnert. Sein gewölbter Oberkörper über mir ein glühender, Schatten spendender Himmel, seine Arme um meine Schultern ein unzerstörbares Band, sein Atem der Weltenwind, der mein Herz zum Stocken bringt, wenn er eine Pause einlegt. Es ist so intensiv wie selten. Wie eine besondere Übung, in der man jede einzelne Faser in einer Gliedmaße erspüren soll, sie mit Kraft aufladen, unter Spannung setzen, bis man sie absolut, bis in die Nervenspitze, kontrolliert. Ich kann ihn nicht antreiben, mir den Orgasmus zu schenken, den er auf diese Weise verspricht. Ich bin ohne Worte, kann nur von seinen Lippen trinken, ihm völlig untertan. Wenn er seinerseits die höchste Konzentration erreicht, diesen einen Punkt in der Spitze vollkommen beherrscht, sich nur noch eine Winzigkeit ausdehnt... werde ich in Abertausende Bruchstücke detonieren. *~i~* Wir liegen einander gegenüber, atemlos, blinzelnd. Tupfen mit zitternden Fingern Perlen ab, pflücken klebrige Strähnen weg, streichen über Wangen, Lippen, Schläfen. Ich habe nicht einen Augenblick lang ein schlechtes Gewissen gehabt. Es war einfach alles bedeutungslos, abgesehen von diesem Gefühl, dieser Verbindung auf archaischer Ebene. Langsam kehrt das Lächeln wieder, bis wir beide höchst albern feixen. Kama richtet sich wacklig auf, klettert von der Matratze. Während ich mich herumdrehe, ihn verfolge, gesellt sich Soujirou zu ihm, deutet auf eine Flasche, schiebt mit quecksilbriger Beweglichkeit einen kleinen Teller in Kamas Hand. "Ihr seid wohl noch nicht lange aus der Kuschelphase, wie?" Dringt Enishi spöttelnd an mein Ohr. Das lässt mich grimassieren. "Qualität vor Quantität." Gebe ich Kontra. Vielleicht meint er, er müsse mit seinem Junkie-Floh einen Rekord im Stechen einfahren. Ich jedenfalls halte das für lächerlich. Kama reicht mir unterdessen die Flasche. Creme-Likör, nicht gerade ein Durstlöscher. Er sinkt neben mich, winkelt die Beine an, platziert auf seinem Schoß den Teller. "Das ist feinste Konfiserie." Klärt uns Enishi ungefragt auf. "Wie die Inkas ihre Schokolade schätzten, nämlich mit feurigen Ingredienzien." Vorsichtig knabbern wir beide an den Pralinen, spülen mit Likör nach. Kama legt einen Finger auf den Mund, angelt nach den Schoko-Linsen. Vollmilch-Schokolade passt doch besser zu uns beiden! *~i~* Als ich erwache, finde ich mich zusammengerollt auf Sanos Schoß wieder, der sanft über meine Haare streicht, gedankenverloren in die Ferne sieht. Hier drinnen in dieser verbarrikadierten Zimmerflut gibt es keinen Weg zum Tageslicht. Eine altmodische Standuhr verrät im abgedimmten Lichtpegel die Zeit: bald müsste die Sonne aufgehen. Enishi tritt aus dem Nachbarzimmer ein, noch immer nackt, in das Studium loser Blätter vertieft. "Wenn ihr nach Hause wollt, sagt Bescheid, ich bringe euch raus. Dusche ist dahinten, neben der Toilette." Gestikuliert er vorgeblich abwesend. An Sanos unwillkürlicher Anspannung kann ich erkennen, dass auch er dieser täuschenden Jovialität, soweit es jemandem wie Enishi möglich ist, nicht traut. "Gehen wir zu mir." Schlage ich leise vor, küsse Sano auf das Ohr, um meine Aktion zu kaschieren. Ich will nicht hier duschen. Plötzlich habe ich es eilig, aus diesem Bau an die Luft zu kommen, wieder frei zu sein. Sano nickt Konsens. Bald sind wir wieder bekleidet, wenn auch zerzaust und geruchstechnisch diskutabel unterwegs. Als wir ein Zimmer passieren, kommen wir an Soujirou vorbei, der zugedeckt und zusammengerollt schläft, eine Infusion an seinem Arm befestigt. "Was fehlt ihm denn?" Platze ich dummerweise heraus. Das trägt mir einen arktischen Blick von Enishi ein, gefolgt von einem eisigen Fauchen. "Nichts, wenn er bei mir ist." Zu meiner Verlegenheit laufe ich schamrot an. Sano legt beschützend den Arm um meine Schultern, funkelt zurück. Eine nonverbale Drohung. Enishi grinst auf diese kalte, gespenstische Weise. Offenkundig gefällt ihm Sanos Souveränität. Er geleitet uns durch ein wahres Labyrinth an Gängen, Treppen und Kellerräumen an die Oberfläche zurück, erstaunlicherweise in der Nachbarschaft der Wäscherei der Kamiyas. Eigentlich könnten wir hier auf einen Bus warten. Mir ist nicht nach der Gesellschaft an der Bushaltestelle: Schichtarbeiter und Obdachlose, Verwirrte und Vereinsamte. Sano geht es wohl ähnlich. Er verschränkt unsere Finger miteinander, lächelt mir zu. "Kleines Wettrennen?" *~i~* Kapitel 12 - Grenzüberschreitung Kama keucht neben mir, die Hände auf den Oberschenkeln aufgestützt, vornübergebeugt. Das dünne Hemd, elegant überdimensioniert, schmiegt sich aufreizend an seinen bebenden Körper. Mir gehen Dinge durch den Kopf, die da definitiv nicht erwünscht sind. Impulsiv schäle ich mich aus meiner Jacke, hänge sie ihm um. Ich weiß, dass er nicht so verletzlich ist. Warum verspüre ich den Drang, ihn vor verbalen Attacken zu beschützen, vor missbilligenden Blicken zu verbergen? Doch nicht etwa...?! "Alles okay?" Erkundigt er sich bei mir, lächelt, von unserem Wettlauf rosig erstrahlt. Nein, nichts ist in Ordnung, gar nichts. "Komm." Er fasst ungezwungen meine Hand, zieht mich weiter. "Ich kann schon den Vanillepudding riechen!" Ich folge, betrachte seinen Hinterkopf, die zerzausten, wild fliegenden, langen Strähnen, seinen anmutigen Vorwärtsdrang. Ist er wirklich so unbekümmert? Fürchtet er nicht, dass er sich verlieben könnte? Bin ich nicht attraktiv in seinen Augen? Mit der freien Hand massiere ich mich rasch die Nasenwurzel, um Verspannungen zu lösen. Wie dumm von mir zu hoffen, dass mein Leben auf Messers Schneide abgeschlossen ist. *~i~* Meine Großmutter begrüßt uns nachsichtig, setzt uns in eine Nische, zu warmen Plunderstückchen mit heißer, süßer Schokolade. Ich schlinge so gierig, dass ich mich vor mir selbst schäme. Andererseits brüllt in mir ein Ur-Hunger, der befriedigt werden will. Ein existentielles Bedürfnis nach Trost und Selbstbestätigung, zu Hause zu sein, sicher zu sein, einem Albtraum entronnen. Sanos Blick suchend entdecke ich in seinen großen, dunklen Augen verworrene Schattenspiele, die von Sorgen künden. Mir ist gleich, wer uns beobachten mag: ich strecke die Hand nach ihm aus, streiche über seine Wange. "Gehen wir nach oben." Schlage ich vor, lächle ihn konzentriert an. Eine Dusche und Schlaf werden uns guttun. *~i~* Kamas Großmutter gestattet mir mit einfacher Geste, das Telefon in Beschlag zu nehmen, um Kaz zu informieren, dass ich weiterhin mit Kama zusammen bin. Seine Stimme klingt angestrengt freundlich, bemüht, mich nicht merken zu lassen, dass er sich gesorgt hat. Dass er gern den Samstag mit mir verbringen würde. »Wenn alles überstanden ist, werden wir viel Zeit miteinander verbringen. Vielleicht werde ich dir sogar erzählen, was du nicht zu fragen wagst.« Verspreche ich lautlos, Im Augenblick kann ich mich selbst nicht begreifen. *~i~* Als Sano sein Telefonat beendet hat, lege ich bereits Handtücher aus, suche in meinen Kleidern nach einem Hemd und einer Hose, die ihm passen könnten. "Möchtest du...?" Will ich ihm den Vortritt lassen. Er fasst mein Handgelenk, zieht mich in die schmale Duschkabine, befreit mich von den letzten Resten Textil, die er mit großer Geste über die Kunststoffwände exiliert. Er lächelt, weniger verspielt und herausfordernd als früher, wenn wir nach dem Sportunterricht gemeinsam duschten, uns neckten. Wir stehen zu nahe voreinander, schwankend zwischen groben Scherzen aus Verlegenheit und verbotenem Vorspiel zu weiteren Zärtlichkeiten. Ich drehe das Wasser auf, greife um ihn herum, um die Tube mit Duschgel aus der Ablage zu fischen, verteile die stark parfümierte Schaummischung auf seiner Haut, gründlich und ohne Übergriffe. Mit der Absicht, ihm die Situation zu erleichtern. Sein Blick brennt Löcher der Unsicherheit in meinen Schädel, verlangt nach einer eindeutigen Erklärung, die ich lediglich mit meinen Handreichungen beantworten kann: im Augenblick möchte ich wirklich nicht weiter planen und denken als bis zu meinem Bett. Müdigkeit umfängt mich wie ein sich verdichtender Gaze-Schleier. Die überstandenen Strapazen fallen auf mich zurück, sodass ich Sano kurzerhand umarme, mich anlehne und die Augen schließe. *~i~* Manchmal verfehlt mein Herz einen Schlag, stockt mir für einen Wimpernschlag der Atem, wenn ich mir bewusst werde, wie sehr mir sein Körper bereits vertraut ist. Wie selbstverständlich es mir erscheint, die helle, glatte Haut einzuseifen, Shampoo behutsam in die langen Strähnen einzukämmen. Kama lehnt schwer an meiner Brust. Ich teile seine Erschöpfung durch diese unmittelbare Nähe. Schlaf ist die Medizin, der wir beide bedürfen. *~i~* Sano verschmäht wortlos die mühselig herausgefilterte Wäsche, klettert langsam in mein aufgeschlagenes Bett. Für einen Moment erwäge ich, die Zimmertür zu verschließen, unterlasse es. Offenkundiges auf solch durchsichtige Weise verbergen zu wollen, ist schlichtweg lächerlich. So krieche ich an Sanos Seite, schmiege mich an seinen warmen, ruhigen Leib, richte mich bequem bei ihm ein. Er breitet behutsam die Decke über unsere Schultern, fängt meinen feuchten Zopf, den er selbst geflochten hat, in seiner Hand, wie ein sicherndes Tau zu mir. *~i~* Als ich aufwache, ist es bereits später Vormittag. Das Leben von der Straße dringt selbst zu Kamas Fenster Richtung Hinterhof hinauf. Es erstaunt mich ein wenig, dass ich so ruhig schlafen konnte. Es ist sehr lange her, seit ich einem anderen Menschen so nahe war. Kama liegt halb über mir. Seine tiefen Atemzüge gleiten wie eine linde Brise über mein Schlüsselbein, während ich die Länge seines Zopfs entlangstreiche. »Also, Sano!« Ermahne ich mich selbst. »Stell dich und ergründe deine Lage genau: -ich muss dem Psycho-Cop von ATF-Kotzbrocken zuarbeiten, wenn ich nicht von Kaz getrennt werden will -Enishi ist ein Einstieg in die Szene, obgleich ich dem Schein nicht traue -Kama und ich sind Freunde!?« Ich strecke mich tarierend aus, will ihn nicht wecken, aber auch lässig die Arme unter dem Nacken kreuzen, während ich die Zimmerdecke studiere. Es fühlt sich perfekt an, so viel ist sicher. Kama ist mein bester Freund, ohne Abstriche. Aber ist das auch Liebe, was mich so verwirrt? Etwas anderes als Freundschaft? Ich wische einige lose Strähnen aus seinem Gesicht, betrachte die Partien, die mir zugewandt sind. Er ist schön, weil er mein Freund ist, so vertraut, so liebenswert, so lebhaft in seinem Ausdruck. Er ist er selbst, unverfälscht und offen. Das kann nicht dasselbe sein wie Liebe, oder? Verdammt, wenn ich nur Erfahrung hätte! Meine unwillkürliche Anspannung aus Wut muss Kamas Schlaf gestört haben. Er regt sich, räkelt sich grazil, blinzelt mich an. "Hmmmm, Morgen." Schnurrt er, noch in Morpheus' Umklammerung, küsst mich auf den Mund, schmiegt sich entschlossen in meine Halsbeuge. "Es ist schon fast Mittag." Korrigiere ich leise, drehe mich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. "Hmmm." Ein Bein schiebt sich als Botschafter zwischen meine. Er kuschelt sich erneut an, sucht meine Körperwärme. "Kama?" Versuche ich es erneut. "Hmmm?" Dringt es gedämpft an mein Ohr. "Liebst du mich?" *~i~* Es ist nicht Aoshi. Soviel ist mir beim Aufwachen sofort klar. Kuscheln fällt bei meinem kühlen Liebhaber aus. Zudem steht er immer vor mir auf. Sano also, muskulös, gebräunt und wohlriechend. Es ist wie Sonnenbaden an einem friedlichen Tag, so geborgen in seinen Armen zu liegen. Seine Stimme dringt zwar vage durch die wonnigen Wuschelwolken von Wohlbefinden, aber ich hangele mich mit nichtssagendem Grunzen durch, bis seine letzten Worte wie ein Fanal die Idylle ausräuchern. »Liebst du mich?« Keine verspielte, flirtende, flehende oder kapriziöse Frage, sondern Sano-typisch direkt und ernsthaft vorgebracht. Ich stemme mich mühsam auf die Knie, blinzle so lange, bis meine Sicht auf ihn klar ist. Wenn er sich nun doch verliebt hat...!! »Einerlei!« Rufe ich mich zur Ordnung. Eine aufrichtige Antwort ist noch immer die beste Wahl. "Ich liebe dich wie einen besten Freund." Stelle ich ruhig klar. "Nicht wie einen Liebhaber." "Was ist der Unterschied?" Erkundigt er sich gewissenhaft, mit der Konzentration eines Mannes, der mit einem Mysterium konfrontiert wird, nicht aufstecken will. Ich strecke mich neben ihm aus, erwäge ich meine Antwort sorgfältig. "Es sind gegensätzliche Entwicklungen." Eröffne ich schließlich den Diskurs. "Bei einem Freund beginnt alles mit Vertrauen und gegenseitigem Kennenlernen. Das Gefühl wächst langsam bis zur Liebe an. Bei einem Liebhaber ist das Gefühl sofort da, manchmal übermächtig. Erst nach und nach lernst du den Menschen dahinter kennen." "Ein Beispiel: wenn ich das mit dir mache, ist es eine normale Geste, ein Zeichen von Vertrautheit." Erläutere ich, fange seine Hand ein, verschränke unsere Finger ineinander. "Mit Aoshi dagegen würde sofort alles in Brand stehen. Es ist eine Herausforderung, der Auftakt für andere Kampfhandlungen." Sano schweigt so ausdauernd und brütend neben mir, dass ich mich auf die Seite mühe, sein Gesicht inspiziere. »Er hat sich ganz sicher nicht verliebt.« Wiegle ich ab. »Ich bin gar nicht sein Typ! Wir sind uns viel zu ähnlich. Das grenzt ja fast an Inzest!« Seine Hand wölbt sich sanft um meine Wange, streicht langsam durch Haare an meinem Hals hinab. Mein Herz legt einen Kavaliersstart vor, rast urplötzlich. Ich ringe nach Luft, kann mich nicht von ihm abwenden, starre geweitet in seine schönen, schokoladenbraunen Augen. »Tu das nicht!« Die Worte wollen einfach nicht meine Lippen überspringen. Es nützt wenig, dass ich mich von der Matratze erhoben habe, zumindest partiell. Er folgt mir einfach, zieht mich so mühelos wie sanft auf seinen Schoß, liebkost unentwegt meine Wangen, gleitet mit den Handflächen langsam von Stirn bis zu meinen Schritt. Ich weiß nicht, wie er das so schnell lernen konnte, stöhne zu meinem eigenen Entsetzen verlangend auf. Da grenzt es wohl an die Notwendigkeiten des höflichen Umgangs, dass er die unziemliche Geräuschkulisse oral verdeckt, mich systematisch sturmreif küsst. *~i~* Ich lasse mich einfach davonwirbeln, so, wie es Kama vorher getan hat, voller Vertrauen meiner Gnade und Geschick ausgeliefert. Natürlich sollte ich das nicht tun, meinen besten Freund absichtlich und vorsätzlich verführen, mein Wissen um seine Vorlieben ausnutzen, um auf eine so niederträchtige Weise eine Antwort zu finden. Das hält mich jedoch nicht davon ab, damit fortzufahren. Gerade weil Kama so perfekt ist, ich ihn bewundere und verehre, liebe, muss ich jetzt, hier, herausfinden, wie genau meine Gefühle beschaffen sind! In diesem Sog Trance-artiger Reflexe, einem Erfahrungsschatz, den ich gar nicht bei mir vermutet habe, verschlinge ich unsere Glieder miteinander, berühre jeden einzelnen Fleck seiner Haut, den ich erreichen kann, markiere ihn, schmecke ihn. Alles ist so paradiesisch! Der Eindruck jagt mir einen eisigen Schrecken ein. Nichts stört mich, im Gegenteil, je mehr ich seinen Körper erkunde, seiner Stimme lausche, ihn betrachte, mit allen Sinnen erfahre, umso größer wird mein Verlangen, diesen Weg bis zur Explosion fortzuschreiten. Kein Kondom in Reichweite, keine Gleitcreme zur Hand?! Kümmert mich nicht, die Natur wird's schon richten... Mit einem Ruck schiebe ich Kama von mir, rücke um Atem ringend von ihm ab, massiere meine Schläfen mit den Fäusten. Ich will mich nicht so verlieren, die Selbstbeherrschung schleifen lassen, ihm sogar weh tun! Das ist es, was falsch ist. Erleichtert atme ich tief aus. Mit Kama will ich lachen, Scherze treiben, nichts so ernst nehmen, wie ich es müsste. Liebe in Verbindung mit Lust und Leidenschaft ist dagegen Russisches Roulette, ein extremer Wettstreit. Ich begreife ein wenig besser, was er mir vorher zu erklären versucht hat. "Sano, alles okay?" Vorsichtig schiebt er sich gebeugt in mein Blickfeld, beäugt mich verunsichert. Ich richte mich auf, lehne mich gegen die Wand, kann endlich wieder frei lachen. "Alles bestens!" Dröhne ich, ziehe ihn in meine Arme, knuddle ihn wie ein übergroßes Stofftier. *~i~* Eigentlich sollte ich wahlweise beleidigt oder enttäuscht sein. Meine eifrige Erektion wird schnöde ignoriert! Erstaunlicherweise kann ich aber gar nicht anders, als in Sanos befreites Lachen einzustimmen, mich bequem an ihn zu kuscheln. Es ist, wie ich es in der Nacht schon bemerkt habe: ob wir wirklich miteinander schlafen, ist nicht von sonderlicher Bedeutung, solange wir gemeinsam lachen können, einander vertrauen. "Ist wohl besser, wenn wir uns mal anziehen und schauen, ob meine Oma noch ein paar Krümel vom Frühstück aufgehoben hat." Lächle ich schließlich, richte mich auf, wandere zu meinem Schrank hinüber, wo noch die Kleider warten, die ich für Sano herausgelegt hatte. "Oh verdammt!" Dringt es halb betroffen, halb verärgert an mein Ohr. Ich sende einen irritierten Blick über die Schulter. Mein zerzauster, wilder Freund starrt in unmissverständlicher Kompromisslosigkeit auf meine Kehrseite, um sich durch den stachligen Schopf zu fahren. "Ähm.... Kama, wir haben ein Problem." Stellt er fest, sein Ton ungewohnt leise, ohne den optimistischen Enthusiasmus, den ich kenne. "Aha?" Murmele ich, bemühe mich gleichzeitig in Verrenkung, den Stein des Anstoßes zu entdecken. Ich werde fündig. Nicht nur einmal, sondern in durchaus bemerkenswerter Anzahl: dunkle Flecken, die Sanos Forscherdrang bekunden. "Das ist nicht gut." Brummt er staubtrocken, tritt hinter mich, geht in die Hocke, streicht über die verfärbte Haut mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Ist nicht tragisch." Tätschle ich tröstend seine rebellische Haartracht. "Das vergeht doch wieder." "Sicher." Knurrt Sano mit verärgertem Augenaufschlag. "Bis wann? Bis morgen Abend?" Oh~oh. Ich muss mich setzen. *~i~* Da hocken wir nebeneinander wie die Hühner auf der Stange, starren auf unsere nackten Zehen, zerbrechen uns hilflos die Köpfe. Ein törichtes Unterfangen. Natürlich könnte man Makeup auftragen, Body-Painting erwägen, einen Overall nehmen und den Reißverschluss zerstören. Wir wissen beide, dass es sinnlos ist. Eigentlich kann ich mir auch nicht vormachen, geglaubt zu haben, dass Aoshi von all dem nichts erfährt. Der Eisheilige hört die Mücken atmen und die Flöhe husten. Wie sollte ihm das Gerücht entgehen, dass Enishi gestern so nonchalant zitiert hat? "Was wirst du tun?" Erkundige ich mich endlich, weil mich Kamas unruhiges Hin- und Herwippen reizt. Ich möchte am Liebsten losschlagen, habe jedoch leider kein Ziel. "Ich weiß es nicht." Bekennt er versonnen. "Ich denke, ich werde ihm die Wahrheit sagen, wenn er fragt." Er schaut auf, hält mit seinen nervösen Bewegungen inne, studiert mich prüfend. "Ich darf doch erzählen, dass du von dem ATF-Typen erpresst wirst?" "Klar." Signalisiere ich Einverständnis. Das ist wohl der kleinste Beitrag. den ich leisten kann. Wir schweigen wieder, nun Schulter an Schulter. "Er wird dir nichts antun, oder?" Quäke ich undiplomatisch. Obwohl mir eine weitaus traurigere Perspektive vor Augen steht: dass Aoshi Kama den Laufpass gibt. "Ich habe keine Vorstellung, wie Aoshi reagieren wird." Antwortet Kama mir leise, schlingt die Arme um meinen Nacken, klettert halb auf meinen Schoß. Wie ein Kind, das dringend des Trosts bedarf. Ich seufze laut, verfluche meine Dummheit. Idiotisch, über verschüttete Milch zu klagen. Die Schuld daran zu tragen, dass Kama möglicherweise seine große Liebe verliert... "Vielleicht ist es ganz gut so." Erstaunt mich mein willensstarker Freund, funkelt mich entschlossen aus seinen Haselnussaugen an. "Es wird Zeit, dass Aoshi Farbe bekennt. Mach dir keine Sorgen." Schon zaust er zärtlich meine wirren Stachel, verpasst mir einen Eskimo-Kuss. Bevor ich mich zu einer lahmen Antwort entschließen kann, springt mein Magen in die Bresche, reklamiert laut das Ausbleiben der gewohnten Mahlzeiten. Kama schnellt hoch, zieht mich an der Hand mit sich, lächelt wieder in seiner spitzbübisch-charmanten Weise. "Komm schon, Streithahn, Fütterung der Raubtiere!" *~i~* Obwohl ich zugegebenermaßen neidisch vor mich hin schmolle, kann ich Kama nicht absprechen, stets attraktiv zu sein. Auch in alten Jeans-Hotpants und Espandrillas mit Blümchenmuster. Sano sinkt lächelnd neben mir in den Sitz meiner geduldigen Lady, spielt mit Kamas Strähnen, der sich herausfordernd in das Beifahrerfenster rein lehnt, scherzend Nichtigkeiten aus dem Schulalltag bespricht. Mit dem Gelöbnis, morgen unbedingt gemeinsam die Arbeiten für die nächste Woche anzugehen, kann sich mein gut gelaunter Bruder endlich losreißen. Ich steuere unsere Wohnung an. Sano verspricht mir Obstsalat, den er mit viel Geschick zusammenstellt, während ich andere Hausarbeiten erledige. Soll ich seine gute Laune nutzen und mich erkundigen? "Sano?" Spieße ich Ananas auf, äuge sondierend über den Tisch in die schokoladenbraunen Augen, die vertieft das Karomuster der Plastikdecke fixieren. "Kaz..." Beginnt er, schreckt auf, als er registriert, dass ich den ersten Schritt gewagt habe. "Öh..." Synchrones Stammeln und Blinzeln. Wir benehmen uns wirklich wie ausgesprochene Idioten, wobei "aussprechen" wirklich notwendig wäre. "Kaz, ich muss dir Einiges erzählen." Sano tippt einen raschen Rhythmus auf den Tisch. "Was etwas peinlich ist." Meine Augenbrauen ziehen sich automatisch zusammen. Ich unterbreche ihn nicht, sondern signalisiere ungeteilte Aufmerksamkeit. Haben wir endlich den Dialog wiedergefunden? *~i~* Wenn ich Kaz so betrachte, ganz in Schwarz, mit seinem einfachen Zopf und dem klassisch-schönen Gesicht, wirkt er wie eine Mode-Ikone auf mich. Sehr viel erwachsener und weltgewandter, als ich es jemals sein könnte. In meiner gegenwärtigen Situation flößt es mir die Courage ein, nicht der Versuchung nachzugeben, wenig schmeichelhafte Details auszulassen. Ergo berichte ich von den nächtlichen Ereignissen, dem Zusammentreffen mit Enishi und seinem drogensüchtigen Liebhaber, von der Feuerprobe, die belegen soll, dass Kama und ich ein Paar sind. Kaz schweigt, lauscht, schweigt weiter. Ich frage mich, ob er sein Bild von mir revidiert. Als einem Typen, der mit seinem besten Freund ins Bett steigt, um sich selbst aus der SchXXXe zu ziehen. "Sano." Beginnt er endlich, nachdem ich beim nervösen Stuhlwippen einem Absturz gefährlich nahe komme. "Da ist doch was faul. Wenn du auf die Bande vom Mumienmann angesetzt bist, was soll dieser Abstecher zu diesem Enishi? Wenn der noch nicht so lange in der Stadt ist, woher kennt er sich mit den ganzen Tunnels und Gängen aus? Wieso lässt dich dieser beschissene ATF-ler in ein Lager dackeln, wo es vor Drogen und Schusswaffen nur so wimmelt?! Wie kommt er darauf, dass du da mit Kama eine Eintrittskarte gezogen hast?" Gute Fragen, die ich mir auch schon gestellt habe. "Tja." Zucke ich mit den Schultern. Die Antworten, die ich mir selbst gegeben habe, gefallen mir überhaupt nicht. Ein tiefschwarzer Blick wie hochprozentiger Mokka fängt mich ein, nagelt mich fest. "Weich mir nicht aus, Sano. Wieso glaubt der Cop, dass du mit solchen Kalibern umgehen kannst?! Du bist doch nur ein kleiner Highschool-Boy mit einer rachsüchtigen Freundin." Exakt das ist mein Problem. Eigentlich bin ich ein ganz anderer. *~i~* Es ist ein komisches Gefühl, wenn man zusehen kann, wie Schicht um Schicht die Technicolor-Farben der Hollywood-reifen Idylle meines Lebens abblättern. Ein Lack, den ich so verzweifelt behalten wollte. Nein, wir sind nicht zwei Jungs, die zusammen den Einstieg in das Berufsleben meistern wollen. Angefangen mit unserer Mutter und ihren selbstzerstörerischen Beziehungen, über unsere Trennung: da ist gar nichts "normal". In Sanos ausdrucksstarken, offenen Schokoladenaugen kann ich Dinge lesen, die überscharfe Kontraste und Grautöne mit Anwandlungen von Purpurrot in meine Welt transportieren. Sano versteht einiges von Schusswaffen. Er kann Drogen identifizieren, kann ihren Marktwert beziffern. Nein, ein durchschnittlicher Ermittler hätte niemals einen gewöhnlichen Highschool-Schüler auf eine solche Mission angesetzt. "Ich vermute, dass Enishi tatsächlich mal in der Gegend gelebt hat, sonst wüsste er nicht so gut Bescheid. Die Fragen lauten, a) warum hat er uns so einfach reingelassen? b) wie passt er in das Bild?" Schreckt Sano mich aus abgründigen Befürchtungen. "Will er den Bezirk an sich reißen?" Wage ich eine Vermutung. "Oder vielleicht dem Mumienmann das Geschäft verderben?" "Weißt du, was komisch ist?" Sinniert mein kleiner Bruder mit konzentrierter Miene. "Ich habe nicht den Eindruck, dass Enishi am Geschäft interessiert ist. Er selbst nimmt auch keine Drogen. Das ist kein typischer Dealer." »Sano, woher weißt du, wie ein typischer Dealer agiert?! Was bedeutet dieser intensive Ausdruck in deinen Augen? Ist das Jagdfieber?« "Wie geht es weiter?" Ich erhebe mich, um aufzudecken und meine Bestürzung zu verbergen. Sano, dieser Sano, erinnert mich an Dinge, die ich vergessen wollte, Schemen aus meiner Kindheit. Den wilden Schopf gerauft streckt er sich ächzend, verzieht den Mund. "Rapport beim Mittelsmann. Das ist jetzt mein geringstes Problem. Wie soll ich an den Mumienmann herankommen, wenn ich mich mit Enishi assoziiere? Für Verhandlungen schickt der keinen Fremden! Und noch die Sache mit Aoshi." "Ist es wirklich nichts Ernstes zwischen euch?" Hake ich spitz nach, kann meine Eifersucht nicht unterdrücken. Sano zieht die Schultern hoch, mümmelt in sich gekehrt Obststücke. Das habe ich noch nie gesehen: eine Geste des Selbstschutzes. "Tut mir leid." Bekunde ich beschämt mein schlechtes Gewissen. Er hat mir nicht verschwiegen, dass die Situation mehr als verwirrend ist. "Ich stecke in dieser Scheiße drin, Kaz, und ich muss andere hineinziehen, auch wenn ich das nicht will. Es geht hier nicht mehr um die dämliche Sache beim Fest. Das ist eine gewaltige Lawine." *~i~* "Kama, gibt es Akten über dich?" Da sitzen wir in der spätnachmittäglichen Sonne, tatsächlich aller Aufgaben ledig, weil wir ausgesprochen emsig waren. Und nun so was. Verblüfft starre ich Sano an, der auf einem alten Autositz lümmelt, regelmäßig die ausrangierte Hollywoodschaukel anstößt, in der ich liege. "Was denn für Akten?" Schnoddere ich überfordert zurück. Meine Gedanken kreisten nämlich bei einem ganz anderen Thema: wie sag ich's Aoshi?! Sano setzt sich auf, stützt die Ellen auf den Oberschenkeln ab, lehnt sich vor, zählt an den Fingern auf. "Akten, denen man zum Beispiel entnehmen kann, dass du ein guter Einzelkämpfer mit Fahrradketten bist. Akten, die Hinweise darauf geben, dass du auf Jungs stehst. Unterlagen, die andeuten, dass du es mit einer gefährlichen Bande von Waffenhändlern und Drogendealern aufnehmen kannst." Oha. Daher weht der Wind. Ich seufze theatralisch, decke meine Augen mit einem Unterarm ab. Eigentlich ist der Tag viel zu schön, um ihn mit solch hässlichen Erwägungen zu belasten. Sein Gewicht drückt die Schaukel tiefer, als er sich auf die dünne Matratze setzt, sich über mich beugt. Einen Schatten wirft, der mein wohliges Sonnenbad unter gemustertem Leinensegel beendet. "Natürlich gibt es Akten." Beantwortet er leise, scharf die eigene Frage. "Du lebst nicht bei deinen Eltern, Ich gehe jede Wette ein, dass man oft genug versucht hat, dich zu verprügeln." Langsam ziehe ich meinen Arm herunter, studiere sein ernstes Gesicht mit dem entschlossenen, scheinbar draufgängerischen Blick. Ich will über diese Dinge nicht sprechen. Sie sind Vergangenheit, gehören einem anderen Leben an. Meine Hände entwickeln ein Eigenleben, streichen flach über seinen muskulösen Brustkorb, reiben begehrlich über die Brustwarzen, schlängeln sich über seine Schultern, seinen Nacken. Bis er mich hochzieht, festhält, nicht fest genug, dass es mich hindert, ihn zu küssen, über seine Wangen zu wandern, seinen Geschmack immer wieder in mir aufzunehmen. Warum sollte ich auch aufhören? Ich brauche Zuspruch. Ich will den Beweis, dass hier alles anders wird. *~i~* Stirn an Stirn gelehnt sitzen wir eng beieinander, Kamas Beine über meinem Schoß. Ich schätze, dass es schwierig wäre angesichts dieser Intimitäten zu erklären, dass wir "nur" Freunde sind. Das kümmert mich auch nicht sonderlich. Wichtiger ist, dass wir einander vertrauen. Auch ohne seine ausdrückliche Antwort weiß ich, dass ich recht habe mit meinen Vermutungen: Kama ist nicht irgendein Boy George-Anhänger, sondern ein Kämpfer, ein Überlebender. So wie ich. *~i~* Es ist bemerkenswert still, als sich die beiden verabschieden. Das löst bei mir Beklemmung aus, diese nervöse, flatterige Stimmung in der Erwartung eines Unglücks. Als ob statische Elektrizität in der Luft liegt. Sano reicht mir einen Zettel, der ein flüchtiges Diagramm enthält. "Vielleicht kannst du in der Bibliothek etwas herausfinden. Ich checke unsere in der Schule." Er fasst mich an der Schulter, drückt sie eindringlich. "Kaz, beobachte deine Umgebung. Sie werden sicher Spitzel auf uns ansetzen." Ich will etwas von Paranoia murmeln, unterlasse es. Er könnte recht haben. *~i~* Ich kann nicht frank behaupten, dass ich darauf brenne, Aoshi gegenüberzutreten. Auch wenn ich ihn vermisst habe. Mein Gefühl schwankt in absoluten Grenzbereichen: in der einen Minute fühle ich mich eiskalt und siegessicher, na gut, soll er eben Schluss machen, ist ja nicht der einzige Kerl auf der Welt!, in der nächsten glaube ich zu ersticken, weil mir Panik den gesamten Brustkorb einschnürt. Wieso schäme ich mich bloß nicht? Wieso kam es mir nicht falsch vor, mit Sano zu schlafen?! Nicht nur einmal, nein, ich habe ihn verführt! Bevor ich beginne, mir wie ein griechischer Tragöde die Haare zu raufen, kämme ich sie lieber aus, verziere sie mit Metall. Kann nicht schaden, ein wenig wehrhaft zu wirken. Wenn ich Sano richtig verstanden habe, beruht unser fragiles Verhältnis zu Enishi darauf, dass beide Jungs lieben. Oder Sano es zumindest vorgibt. Trotzdem ist Enishi mir unheimlich. Ich will nicht wieder in seinen Bau kriechen müssen, wo Drogen wie Plätzchen herumliegen, ich nicht sicher sein kann in meiner naiven Arglosigkeit, mich versehentlich mit irgendwas dort umzubringen. Was die beiden ATF-Vögel betrifft: ich hätte wissen müssen, dass es Ärger gibt. Gleich, als ich die Augen von dem Drogisten sah, sanft und lieblich wie ein Rehlein, dahinter gespickt mit Stahldornen und Stacheldraht. Ich kenne diesen Ausdruck von mancher Frau, die mir in meiner alten Heimat begegnet ist. Wo häusliche Gewalt kein Thema ist, weil niemand den Mund aufmacht. Das Vorspiegeln einer heilen Welt mit sanften, hübschen Südstaaten-Ladys und wahren Gentlemen. Traue keinem. Wenn ich Sano nicht begleitet hätte, wäre er vielleicht nicht so tief in die Sache hineingerutscht, das alles nicht passiert. Verschüttete Milch! Sinnlos, sich darüber zu beklagen. Ein Klaps auf meinen Hintern. Rasch kehre ich in die Gegenwart zurück. Meine Großmutter erwartet meine tatkräftige Hilfe. Noch immer keine Nachricht von Aoshi. *~i~* Ich bin nicht in dieser Gegend aufgewachsen, sondern weit genug weg. Eine Stadt wie die hier ist ausreichend gewaltig, um sich nicht überall auszukennen. Folglich wäre es ausgesprochen hilfreich, jemanden zu finden, der mir etwas über das Viertel und seine schwarzen Schafe erzählen kann. Jemand, der vertrauenswürdig ist. Aus verständlichen Gründen will ich nicht die beiden ATF-Mistkerle fragen. Es muss also jemand anderes her. Jemand, von dem ich relativ sicher bin, dass er auch ein waches Auge auf die Entwicklung der Gegend hat. Ich gehe im Geist alle Freunde und Bekannte durch. Einige von denen will ich nicht wiedersehen, bei anderen hoffe ich, dass sie sich schon die Radieschen von unten betrachten. Immer wieder lande ich bei Kenshin. Der sanft- und gutmütige Hausmeister, die freundliche Seele mit dem Kindergesicht. Der mir im Club zur Vorsicht geraten hat. Niemand scheint etwas über ihn zu wissen, als ob er, wie ich, irgendwann hier gestrandet ist. Keine Familie, dafür die klebrige Aufmerksamkeit von Kaoru Kamiya. Eine ziemliche Strafe! Trotzdem beschließe ich, Kenny zu befragen. Vielleicht weiß er eine zuverlässige Quelle. *~i~* Es ist schon ziemlich spät, als Aoshi vorfährt. Mit dem Motorrad, was gleichbedeutend damit ist, dass er sich zu Hause zunächst umgezogen hat, um mich aufzulesen. Wieder bei Nacht und Nebel. Da ich mit dem Einnicken kämpfe, verzichte ich beklommen auf irgendwelche Kommentare zu seinem Erscheinen, lasse mich artig mit Helm und Schutz versorgen, bevor ich hinter ihm auf den Sozius klettere, mich anschmiege. Er fühlt sich gut an, stark und sicher. Der Geruch seiner Lederjacke lullt mich beinahe ein, bis sein harter Griff um mein Handgelenk mir deutlich macht, dass ich Gefahr laufe, während der Fahrt unfreiwillig abzusteigen. Wie gewohnt geht es zügig den schmalen Pfad zu seinem Haus. Er bockt die Maschine auf, dirigiert mich wortlos die Treppe hinauf auf die Galerie, weist mir ein Gästezimmer zu. Obwohl ich dankbar sein sollte, auf diese Weise mit meinem Geheimnis vorerst unentdeckt zu bleiben, senkt sich mein Kopf traurig. Herrscht wirklich so schnell schon Eiszeit zwischen uns? *~i~* Ich hielt es zunächst für eine lästige Pflicht, der Höflichkeit geschuldet, ihn von seiner Großmutter abzuholen. Seine stille, erschöpfte Gegenwart tröstet mich unerwartet. Natürlich ist es lächerlich. Ich bin froh, einen anderen Mensch in meiner Nähe zu wissen, auch wenn ich in dieser Nacht allein schlafen will. Er hindert mich daran, zu sehr über mein Leben nachzudenken. Dafür ist einfach keine Zeit. *~i~* "Morgenstund stinkt aus dem Mund, ist ungesund!" Knurre ich übellaunig vor mich hin, eine unruhige Nacht in Kopf und Gliedern. Kaz ist gleichfalls schweigsam. Ihm erging es wohl ähnlich. Wir überlassen dem Radio die lärmende Konversation, konzentrieren uns auf das Frühstück. Ab heute werden wir unsere Recherche-Bemühungen intensivieren, in der Hoffnung, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Früher als gewöhnlich finde ich mich an der Schule abgesetzt, suche mir einen morgendlich sonnigen Fleck, warte auf Kama. Unerwarteterweise versetzt er mich. Zumindest denke ich das, bis knapp vor Glockenschlag der letzte Schulbus seine Ladung ausspuckt: die notorisch Langschlafenden, Herumtrödelnden und Schulunwilligen. Und Kama. »Oh~oh!« Echot es in meinem dumpf-nebligen Schädel. »Das ist kein gutes Zeichen!« Er schlendert auf mich zu, die Hände lässig in die tiefen Taschen seiner Kaftan-Hosen geschoben, die ich liebend gerne der bissigen Bulldogge unserer Nachbarn vorgeworfen hätte, verbirgt sein Gesicht hinter unzähligen Strähnen und Zöpfen, die mit Metall unterschiedlichster Güte beschwert sind. "Gehen wir." Dringt seine Stimme leise an mein Ohr. Seine Finger verschränken sich mit meinen. *~i~* Ich bin noch immer nicht sicher, ob Aoshi ahnt, was ich am Wochenende getrieben habe, im wahrsten Sinne des Wortes. Eins ist definitiv: etwas Profundes ist nicht in Ordnung. Nicht nur das Gästezimmer, nein, der Wecker vor der Tür, das Frühstück auf der Anrichte ohne Nachricht. »Wenigstens hat er nicht meine Taschen und Koffer für mich gepackt.« Gebe ich mich zynisch, obwohl in meinem Magen ein eisiger Klumpen Schmerzen in alle Glieder ausstrahlt. Weiß er "es"? Woher? So schnell?! Oder ist es doch etwas Anderes? Ich zucke zusammen, als Sano seine Hand auf meinen Oberschenkel legt, sehr sacht, bestimmt, bemerke, dass ich mir die Lippen blutig gerissen habe, weil ich auf einem Metall-bewehrten Zopf herumgekaut habe. Igitt! Jede Stunde zieht sich wie Kaugummi in die Länge. Ich will mit Sano sprechen ohne Publikum, sehne mich danach, in seine Arme zu kriechen, die Augen zu schließen, für einen Augenblick gar nichts mehr bedenken zu müssen. Schöne Illusion. Allein die Augenpaare, die vorgeblich unauffällig auf uns ruhen, wie sensationsgeile Geier jede Bewegung umkreisen, beweisen mir, dass das "Gerücht" sich wie ein Flächenbrand ausgebreitet hat. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann man uns das Leben zur Hölle machen wird. Ich wende den Kopf, um Sanos Profil für kostbare Augenblicke zu studieren. Sein spitzes, energisches Kinn, die elektrisiert abstehenden Strähnen, wie ein Kampfhahn eine Herausforderung an die Welt herausschleudernd, die schokoladenbraunen Augen unter den kräftigen Brauen wachsam, unerschrocken, klug. Die sanft geschwungenen Lippen, die so gern Grashalme, Bleistifte, Kugelschreiber, Zahnstocher und Lollipops balancieren. Ihr Geschmack ist vertraut und reizvoll zugleich. Wie verbotene Früchte. Endlich erlöst mich die Mittagspause aus der Fron der nutzlosen Ver-Bildung, schon greife ich meine Bücher und die Tasche, schlängle mich hinter Sano zur Tür, dränge an die frische Luft hinaus. *~i~* In Laufe meiner schulischen Karriere habe ich schon Einiges mitgemacht. Es stört mich nicht sonderlich, ständig beglotzt zu werden. Eine euphemistischere Umschreibung fällt mir bei dem Anblick nicht ein, wenn einigen die Augäpfel beinahe aus den Höhlen treten, der Mund offensteht und man einen Sabberlatz herbeiwünscht. Mein cooles, altes Ich ist zu abgehärtet, um sich mit solchem Kleinkram zu befassen. Mein Scheißedetektor ist auf größere, direkte Gefahrenquellen justiert. Die nehme ich noch nicht wahr. Unbekannte Gesichter in der Nähe? Es wundert mich ein wenig, dass sich in der Masse der Schüler keine Spione befinden, egal, von welchem Lager. Vielleicht ist mein Blick auch eingetrübt? Ich will es nicht hoffen. Automatisch stelle ich die Schultern aus, schiebe mich mit wiegendem Gang wie ein Cowboy durch die Menge, spüre Kama in meinem Windschatten, ebenso alert und angespannt, wenn auch nicht so agil wie gewohnt. Schließlich an der frischen Luft steuere ich eine Bank auf der Außentribüne des Sportplatzes an, lasse meinen Rucksack fallen, verteile die erbeuteten Nahrungsmittel auf dem ausgebleichten Holz. Kama sinkt daneben, lehnt die Arme auf die höhere Etage an, schließt die Augen, seufzt in die Sonne hinein. "Alles okay mit dir?" Wage ich mich auf vermintes Gelände. Ich bin die potentielle Ursache für das Gegenteil. "Ich habe Lust, zu dir ins Bett zu kriechen und Dornröschenschlaf zu halten." Scherzt Kama mit einem müden Zwinkern, bevor er sich strafft und beginnt, unser Mittagessen zu arrangieren. Er wischt sich dabei die Strähnen auf den Rücken, mit einem energischen Ruck, der signalisieren soll, dass er sich nicht hängen lassen wird. "Was ist los?" Hake ich also nach, kann ihn schließlich nicht allein den tapferen Helden geben lassen! Kama zieht eine Grimasse, schluckt einen selbst gemischten Kaffee, der zum Großteil aus Zucker besteht. "Aoshi hat mich in ein Gästezimmer einquartiert und heute Morgen einen Wecker und Frühstück hinterlassen. Deswegen bin ich auch mit dem Bus gekommen. Eine echte Strafe!" Ich wickle einen Kuchen aus, dessen Plastikfolie sich hartnäckig an meine Finger schmiegt. "Denkst du, er weiß es?" Schulterzucken, bevor Kama meine Hand umschließt, zu sich hebt, einen Bissen vom Kuchen nimmt, gedankenverloren malmt. Da ich nicht vollkommen neben der Spur bin, sehe ich ihm an, dass er es keineswegs so locker wegsteckt, wie er vorzugeben versucht. Während ich ihn mit Kuchen ablenke, streiche ich mit der freien Hand Strähnen aus seinem Gesicht, liebkose seine Wange. "Tut mir leid." Bekunde ich ernsthaft. Eine mit Krümeln dekorierte Zunge schießt zwischen seinen lasziven Lippen heraus. Er grinst herausfordernd. "Mir nicht, ehrlich gesagt." Er schiebt mir eine Dose Cola zu, zerwuschelt meinen Hahnenkamm neckend. "Mach dir keine Gedanken, Sano. Das wird schon wieder." Ich ziehe eine säuerliche Miene, stärke mich mit dem amerikanischen Landwein, schweige einfach. Zu viele Spekulationen blockieren nur die Sicht. *~i~* Es zahlt sich aus, Artikel für die Zeitung des College zu verfassen. Ich finde mit entsprechender Legitimation Einlass in das Archiv der Lokalzeitung, kann mich dort "delektieren", wie der Veteran hinter dem gewaltigen Tresen mir eröffnet. »Delektieren ist gut!« Brumme ich lautlos. Mikrofiche um Mikrofiche wandert vor meinen Augen durch die Maschine. Eigentlich habe ich keine konkrete Vorstellung, was genau ich zu finden erhoffe, lediglich ein grobes Raster: die Entwicklung des Stadtbezirks, Kriminalität, Erwähnung vom ATF. Der Warenkorb an Möglichkeiten ist groß. Während ich in Hochgeschwindigkeit in der Zeit zurückfliege, entwirft sich mir ein Bild meiner derzeitigen Heimat, das zumindest einige Fragen besser ausleuchtet. Obwohl durch die Anbindung an eine gewaltige Wasserstraße bereits mit einer längeren Historie belastet, hat sich die Stadt und auch dieser Bezirk stets in Wandlung befunden, angefangen von der Eingliederung der losen Siedlungen zu einem gemeinsamen Bezirk über die Jahrzehnte währende Bodenspekulation, die Brachgelände zum Ergebnis haben. Inklusive Bau- und Industrieruinen, von der Untertunnelung und den Kellerräumen als Lagermöglichkeiten durch den Binnenhandel über das Wasser zur Prohibition mit Schmuggel und den aufkommenden Gangsterbanden bis zur heutigen Kriminalität. Ein Bezirk, der Prosperität und Armut erlebt hat, mehrfach nahezu aufgegeben wurde, bis sich wieder neue Kräfte ansiedelten, um einen Aufschwung zu initiieren. Allerdings ist das Geld, das eine Aufwertung durch Verschönerung und Abriss von Ruinen bedeuten könnte, in der heutigen Zeit nicht mehr vorhanden, die Stadt selbst zu stark belastet. Vom Auf wieder zum Ab. Trotzdem, eine heiße Spur habe ich gefunden, auch wenn sie mir keineswegs Zuversicht einflößt. Damals, vor ungefähr zehn Jahren, als sich Sanos und meine Wege so unglücklich trennten, tobte in diesem Bezirk ein Bandenkrieg. Die Polizei vermutete in der heruntergekommenen Gegend Lagerstätten für illegale Waffen und Drogen. Das zog zahllose Razzien nach sich, oftmals jedoch mit magerer Ausbeute. Man machte Maulwürfe bei der Polizei verantwortlich. Korruption, mangelndes Interesse, schlechte Bezahlung und politischer Druck durch Wahlen: eine konzertierte Aktion sollte die Wende bringen. Tatsächlich gelang ein massiver Schlag gegen die rivalisierenden Gangsterbanden. Dabei waren leider einige Tote zu beklagen. Nach dieser "gewonnenen Schlacht" bemühte man sich entsprechend der finanziellen Möglichkeiten, die Lagerhäuser und Tunnel zu verplomben oder abzureißen. Man blieb jedoch, wie mir Mitteilungen über Bodenspekulation Jahre später verdeutlichten, auf halbem Weg stecken. Wenn also nur ein Teil dieser labyrinthischen Gänge verschlossen oder zerstört wurden, könnte noch heute die Nutzung des Systems möglich sein. Möglich für jemanden, der sie kannte oder erkundet hat. Hat Enishi diese Zeit gehabt, oder kennt er jemanden, der über intime Kenntnisse verfügt? Wenn ich mich nicht irre, müsste Enishi damals zwischen acht und zehn Jahren alt gewesen sein. Könnte er in dem Bezirk gelebt haben? Was ist mit diesem Mumienkerl, Shishio, benutzt er auch die Tunnel? Oder will er sie "erobern", um seine schmutzigen Geschäfte noch besser abwickeln zu können? Hat er in einem anderen Bezirk zuerst Fuß gefasst, expandiert nun? Wenn Sano sich über die Kaliber der Waffen nicht im Irrtum befindet, haben wir uns geradewegs in einen sich abzeichnenden Bandenkrieg eingemischt. *~i~* Mit Kama im Gefolge mache ich mich nach Unterrichtsende auf die Suche nach Kenny. Üblicherweise kein schwieriges Unterfangen: man muss nur dem Geschrei der kleinen Kamiya folgen. Sie vereint die Qualitäten einer Nebelsirene und eines aggressiven Welpen. Natürlich hat das kleine Ungeheuer Kenny mal wieder überredet, ihr bei der Reparatur einer Waschtrommel zu helfen, in der er geradezu verschwindet, um den Fehler auszumachen. Ich bin froh, Kama an meiner Seite zu wissen, der geschickt die Rollen wechseln kann, sich die Haare zusammenbindet, eine Illustrierte aufliest, irgendeine Schlagzeile vorträgt, sich mit samtiger Stimme laut Gedanken macht. Eine nahezu unfehlbare Taktik, wenn man ein Mädchen zum Thema um Rat fragt. Eifrig wie ein gelehriger Schüler lauscht er den altklugen Vorträgen der Nervensäge, während ich Kenny scheinbar bei den Bastelarbeiten assistiere, ihn direkt auf mein Problem anspreche. Bedauerlicherweise ist er auch nicht aus der Gegend, auch wenn er zeitweise durchaus im Bezirk gelebt hat. Zum Thema Mumienmann hält er sich bedeckt. Als ich jedoch Enishi locker einflechte, verlässt er den Stahlbauch der Waschmaschine, studiert mich mit dem scharfen, durchdringenden Blick, der seine Augen in der Spätnachmittagssonne durch die dicken Scheiben beinahe golden wirken lässt. "Enishi? So, so. Es ist besser, sich von diesem Kreisen fernzuhalten, Sano." Bedeutet er mir mit sanfter Stimme, klettert wieder in die Trommel. So sehr ich ihm auch zusetze: mehr als nichtssagende Phrasen oder rhetorische Fragen ernte ich nicht. Sehr merkwürdig. *~i~* Kapitel 13 - Ein selbstmörderischer Plan Lagebesprechung am Abend über Pizza. Sanos Kurzfassung über Kenshins Reaktion bestärkt mich in meinem Verdacht, dass damals, als wir noch zusammenlebten mit unserem Taichou und unserer Mutter, ein ähnliches Klima wie in unserem Viertel vorgeherrscht hat. Wenn es keine Aussicht auf Verbesserung auf legalem Weg gibt, man quasi abgeschnitten ist von der Entwicklung, konzentriert man sich auf andere Wege der Einnahmebeschaffung. Damals war mir das nicht so bewusst. Als Kind sieht man die Welt selten so distanziert und real, weil die Konsequenzen so weit entfernt scheinen. Vielleicht trifft das nur auf mich zu. Möglicherweise ist Sano nicht der Sozialromantik unseres damaligen Lebens verfallen. Ich erinnere mich daran, auch auf Brachgelände gespielt zu haben, oft umzuziehen und jeden Tag als Abenteuer zu betrachten. Wenn ich mich überhaupt der Anstrengung unterziehe, in die Vergangenheit abzutauchen. Unser Viertel war eine eigene Welt, alles andere so weit entfernt. Es ist also durchaus verständlich, dass man auch hier keinem Außenstehenden Auskunft über das Arrangement mit Kriminalität erteilen will. Während Kama mit einem Kaffeefleck auf der Tischdecke Kreise zieht, erläutere ich meine Gedanken knapp. "Also, so, wie ich das sehe, stammen die Tunnel aus Zeiten noch vor der Jahrhundertwende. Vermutlich sind nicht alle während der letzten großen Razzia vor circa zehn Jahren verschlossen oder zerstört worden. Für den Mumienmann bedeutet das eine gute Möglichkeit, sein Gebiet zu erweitern und den Nachschub zu lagern. Sogar noch mit Anbindung ans Wasser, wenn er darauf Wert legt. Es gibt noch einige Kanäle. Was diesen Enishi betrifft, glaube ich, dass entweder er selbst oder ein Vertrauter sich mit dem Labyrinth auskennt, er bereits die Möglichkeiten ausnutzt. Was wir nicht wissen, ist, wie lange Enishi sich schon eingenistet hat. Wie er auf Shishio reagiert, der offenkundig expandieren will." Ich stütze die Ellenbogen auf die Tischplatte, lege meine Hände aufeinander. "In anderen Worten: wir befinden uns in einem Bandenkrieg." Sano und Kama beäugen mich schweigend. Das bedeutet mir, dass sie sich bereits dieselben Gedanken gemacht, den gleichen Schluss gezogen haben. "Was tun wir?" Erkundigt sich Kama ruhig, wechselt den Blick zwischen meinem Halbbruder und mir. "Vor allem, was beabsichtigt dieser beschissene Bulle?" Wirft Sano rhetorisch in die Runde, rammt seine rechte Faust in die linke Handfläche, die Miene finster und verschlossen. "Er glaubt doch nicht ernsthaft, dass du dieser Bande gewachsen bist!" Protestiere ich herausfordernd, will seine Reaktion testen. Zugegebenermaßen unmanierlich. "Kaz hat vielleicht recht." Bestärkt mich unerwartet Kama, erträgt den flammenden Blick aus Sanos Augen ungerührt. "Wir haben uns so weit aus der Deckung gewagt, dass es schon selbstmörderisch ist. In jedem Fall wiegt das, was wir vermuten, alles auf, was in deinen Akten stehen sollte! Wir sollten mit dem Drogisten reden." Sano kaut auf einem Zahnstocher. Ich kann kaum ruhig sitzen. Warum bestätigt er nicht endlich, dass in den Akten nichts ist, das solch eine Gefahr für uns alle rechtfertigt?! Mit geschmeidigen Bewegungen kommt Sano auf die Beine, räumt den Tisch ab, lässt Wasser in die Gläser laufen. Kama zuckt mit den Schultern, sucht ratlos in meinem Gesicht nach Antworten, die ich auch nicht kenne. In diesem Augenblick dreht sich Sano zu uns um, stützt die Fäuste schwer auf die Tischplatte, den Kopf gesenkt. "Wisst ihr, was ich denke? Ich denke, der verfluchte ATF-Mistbulle will, dass ich als Spitzel Enishis Band infiltriere, weil er seinen eigenen Leuten nicht traut. Wenn du recht hast, haben wir eine vergleichbare Situation wie vor zehn Jahren." Sano nickt mir zu. "Das heißt, jede Aktion könnte verraten werden. Bei den Waffen, die bei Enishi herumliegen, könnte das einen kleinen Krieg geben." Kama räkelt sich, um die Spannung abzuschütteln, streicht sich durch die Haare. "Wieso bist du auf den Mumientyp angesetzt? Ist der nicht Enishis Feind?" Sano zuckt mit den Schultern. Sein Blick geht in die Ferne. "Sehen wir es mal so: Enishi hat uns beide akzeptiert, weil wir ein Paar sind. Ist er wirklich so naiv? Das glaube ich nicht." Ich schnaube, massiere mir mit den Knöcheln die Schläfen. "Sano, wie kommen wir da wieder raus?! Dieser Irre kann dich doch nicht zwingen!" Sano schweigt. Mir wird langsam übel. *~i~* Entweder ist Enishi größenwahnsinnig, oder aber er ist gefährlicher, als alle annehmen. Ich drehe mich auf die andere Seite, hoffe, dass Kaz schläft. Ich weiß, dass er gerne hören würde, dass es nichts gibt, womit mich dieser Bastard Fujita erpressen könnte. Ich kann ihm diese Bestätigung nicht geben. Meine Weste ist nicht sauber. Es ist eine Menge passiert, als ich loszog, um mich zu überzeugen, dass unser geliebter Taichou nicht mehr am Leben ist. Einige Dinge kann ich Kaz erst sagen, wenn ich einen Deal mit dem Bullen abgeschlossen habe. *~i~* Ich bin froh, dass Aoshi noch nicht von seiner Arbeit zurückgekehrt ist, als ich mich auf das Gelände und in sein Haus einlasse, in den ersten Stock steige, um eine Dusche zu nehmen. So ist es einfacher, mit meinen Gedanken allein zu sein, auch die Spuren, die Sanos Leidenschaft hinterlassen haben, auf ihr Verblassen zu überprüfen. Eingewickelt in einen meiner alten Pyjamas, der so gar nicht zu der mondänen Einrichtung passen will, mache ich es mir auf der Couch bequem, nippe an einer warmen Milch, lausche der Musik, die ich einem verborgenen Radio entlockt habe. Sano verschweigt etwas. Das behagt mir gar nicht, obwohl ich ihm blind vertraue. Vertraut er uns nicht? *~i~* Er ist in seinem Zimmer. »Seinem Zimmer?!« Verspotte ich mich kühl. »Wohl eher meinem Gästezimmer.« Die Haare ausgebreitet, noch immer mit dem Metallgehänge beschwert wie ein martialischer Krieger. Meine Hand gleitet nur Millimeter getrennt von seinen grazilen Gliedern über das Laken. Die Vorstellung, er könnte mich tatsächlich angreifen, mit archaischer Lust auf mich losgehen, mir ein ebenbürtiger Gegner sein, entfacht ein gieriges Feuer in meinem Unterleib. Das ich verbissen ignoriere. Die eisernen Bande, in die ich mich selbst geschlagen habe, korrodieren merklich. Noch schwerer wiegt, dass es mich nicht kümmert. *~i~* "Was ist nun, Fujita? Steht der Deal?!" Meine eigene Stimme klingt in meinen Ohren fremd, so aggressiv-provozierend wie auch kaltschnäuzig und tollkühn. Ich will mich nicht daran erinnern, was ich alles zu verlieren habe. Genauso wie vor zehn Jahren. Wie in jedem Jahr danach, in jeder Stunde. Zu viel zu verlieren. Es hat mich selten gehindert, meinen eigenen Weg zu verfolgen. Im Gegenteil, manchmal bin ich wirklich todessehnsüchtig kopfüber in neue Schwierigkeiten gestürzt. Daran ist nichts Heroisches. Eigentlich betrachte ich es sogar als eine meiner unangenehmeren Schwächen. Dennoch kann ich es nicht ändern. Zu ausgeprägt ist diese Eigenschaft: mit dem Kopf durch die Wand, starrsinnig auf die eigene Sicht beharrend. Ein trockenes Lachen am anderen Ende der Leitung, amüsiert, scharf, wachsam. "Da kräht ein Küken große Töne!" Spottet der Mistkerl, wahrscheinlich mit seinen merkwürdigen Bernsteinaugen blitzend. Mir läuft unversehens ein Schauer über den Rücken. Ich straffe mich verärgert. "Wir werden sehen, wer ein Küken ist! Immerhin haben Sie mich auf diese Sache angesetzt." Kehre ich den Spieß um. Versage ich, hat auch sein Urteilsvermögen versagt. Ich habe den Eindruck, das würde sogar so einen stoischen Besserwisser wie den alten Bullen stören. Natürlich ohne Rücksicht auf mein persönliches Schicksal. Für diesen Dreckskerl bin ich ohnehin nur weißer Abfall, den man zu entsorgen vergessen hat. "Weiß" auch nur, weil man bei den Asiaten keine Unterschicht zur Sprache bringt. "Also gut." Kommt er mit seiner rauen, dunklen Stimme scharf zum Geschäft. "Du bringst mir die Verbindung Enishi-Shishio, dafür werde ich die Informationen beschaffen, die du haben wolltest. Mit jeder weiteren Mitteilung, die du beschaffst, verringert sich die Anklage wegen Medikamentenmissbrauchs am Steuer." Schon ist die Verbindung unterbrochen. Mit einem Knurren hänge ich ein, trete aus der Telefonzelle, mehrere Blocks von unserem Appartement entfernt. Dieser miese, ausbeuterische ATF-Mistkerl! Die Hände tief in meinen Jogginghosen versenkt mache ich mich gedankenverloren auf den Heimweg. *~i~* Zwei weitere Tage vergehen, ohne dass wir Fortschritte machen, obwohl Sano und ich wirklich lange Tage in der Nähe der Schule verbringen, um auf Enishis Liebhaber Soujirou zu treffen. Keine Spur von ihm oder den anderen Lakaien. Ich beginne mich zu fragen, ob wir uns nicht verschätzt haben. Ob Enishi uns eine Scharade vorgespielt hat. Kann man wirklich mit so wenigen Männern eine Gangsterbande unterhalten? Wer steht hinter ihm? Warum kommt er jetzt zurück? Ausgepumpt sinke ich neben Sano auf die Bank. Für Basketball bin ich wohl doch trotz aller Schnelligkeit nicht geschaffen! Als ich mich vorbeuge, um besser Luft schnappen zu können, die schwarzen Punkte des Schwindels vor meinen Augen vertreibe, streicht er automatisch über meinen verschwitzten Rücken, glättet die Falten meines Trikots. Da höre ich zum ersten Mal verächtliche Kommentare, hämisches Kichern und lautes Ausspucken. Sanos kräftige Hand liegt flach auf meinen Lendenwirbeln, wie ein versichernder Anker in den Wogen des Unmuts, der uns umspült. Er erhebt er sich. Die Bank ächzt auf, als sie wippend nachfedert. »Oh, oh! Lass Sano bitte keine Dummheit machen!« Flehe ich zu unbekannten Gottheiten, rapple mich auch auf. Es würde gerade noch fehlen, dass er meinetwegen in Schwierigkeiten gerät. Hier brennen alle darauf, ihn loszuwerden, besonders die, die ihm früher wie die Welpen hinterhergerannt sind. Mein bester Freund ist allerdings nicht zu bremsen. Sein Sinn für Gerechtigkeit und Fairness treibt ihn förmlich auf das Feld, wo er sich vor einem der berüchtigten Basketballriesen aufbaut, ihn unverwandt anstarrt, bis dessen dämliches Grinsen etwas Hilfloses annimmt. "Wenn du noch einmal so einen Scheiß von dir gibst, sorge ich dafür, dass du eine Woche lang nicht aus dem Bett kommst. Verstanden?" Wispert er mit seiner angenehmen Stimme in solcher Eiseskälte, dass man den drohenden Friedhof förmlich riechen kann. Er muss nicht mal die Faust ballen. Es wird still. Showdown. Duell der Entschlossenheit. Ich kann an Sanos Augen ablesen, dass er sich nicht zurückhalten wird, sondern kämpfen bis zum Umfallen. Fast erwarte ich, dass sich seine Augen rotglühend färben wie bei den sagenhaften Berserkern. Allerdings reicht seine Ausstrahlung aus. Der Riese tritt verunsichert zurück, weicht ihm aus. Rasch sammle ich unsere Habseligkeiten ein, folge Sano über die Tribüne wieder den Hügel hinab zum Hauptgebäude. Dort wird hoffentlich eine Dusche sein Mütchen kühlen. *~i~* Verdammt, ich bin so wütend, dass ich um mich schlagen könnte! Ich denke, das werde ich auch besser tun, bevor ich explodiere. Glücklicherweise ist der Sparringsbereich nicht besetzt. Bei dem guten Wetter will niemand in der stickigen, niedrigen Halle auf einen Sandsack einprügeln. Ich brauche das jetzt, dringend. Kama kauert an der Wand, die Beine mit den Armen umschlungen, beobachtet mich. Ich glaube, ich habe ihn erschreckt mit meiner kaum gezügelten Wut, mit mühsam kontrolliertem Wahnsinn. So möchte ich wirklich nicht sein. Manchmal ist das die einzige Sprache, die sie verstehen. Sie: all die Ignoranten, Spießer und Moralisten, die nicht in meinen Schuhen stehen. "Sano?" Mein mutiger Mitstreiter und offizieller Liebhaber steht neben mir, lehnt sich an den Sandsack, den ich zum Stillstand gebracht habe, mustert mich mit seinen Haselnussaugen ernsthaft. "Du musst das nicht tun." Nachdruck liegt in seiner samtig weichen Stimme. Ich strecke eine Hand aus, von Bandagen zu einer halben Faust gezwungen, streiche Strähnen über seine Schulter, halte der Inquisition stand. "Doch." Widerspreche ich bestimmt. "Ich muss das tun. Wenn nicht ich, wer sonst?" Ich bin kein Held. Ich kann bloß nicht zusehen, wenn man sich auf Minderheiten stürzt oder meine Freunde oder Familie. Ich bin nämlich in der Lage, einzustecken und gewaltig auszuteilen. *~i~* Sano ist noch immer zornig, aber die ungezügelte Brachialgewalt hat sich im Sandsack verfangen. Jetzt verbleibt lediglich sein Unverständnis über die Borniertheit der Menschheit im Ganzen. Damit kann ich umgehen. Das kenne ich schließlich selbst zur Genüge. Ich lege die Arme um seinen Nacken, drücke ihn an mich, streiche über seinen muskulösen Rücken. Seine Arme kreuzen sich über meinem unteren Rückgrat, halten mich locker. Seine Hahnenkamm-Stacheln streifen meine Wange. "Tut mir leid, Kama." Raunt er leise an mein Ohr, bläst perfider Weise in meinen Nacken. Ich zucke zusammen, auch, weil mein Körper spontan reagiert, was in dieser Nähe beschämende Konsequenzen nach sich zieht. Sein leises Lachen durchdringt seinen Brustkorb, vibriert in mir. Er küsst mich sehr sanft auf die Lippen. "Sei mir nicht böse, okay?" Schon zwinkert er wieder frech-unbekümmert, lässt mich stehen, um das Handtuch über eine Schulter geworfen zu unseren Sachen zurückzukehren. »Grrrrr!!!« Ein urtümliches Knurren bricht aus mir hervor. Bevor ich mich versehe, nehme ich Anlauf, springe ihm wie ein Klammeraffe ins Kreuz, lasse mich nicht abschütteln, bohre die Zähne in sein Ohrläppchen. Er dreht sich wild im Kreis, wirbelt mich herum, bis wir beide vor Lachen heiser wie Hyänen sind, auf den Boden sinken, uns nur noch neckend am Trikot zupfen können. Was für eine irrsinnige Situation! *~i~* "Kama." Ich ziehe meinen Freund zur Seite, ignoriere die abschätzigen Blicke. Seine Haselnussaugen sind aufmerksam auf mich gerichtet. Heute hat er sich die Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Die Ponysträhnen sind so hochtoupiert, dass sie beinahe meinem Hahnenkamm den Rang ablaufen. Ich beuge mich herunter, wispere ihm knapp meine Anweisungen ins Ohr. Ein entschlossener Ausdruck vertreibt den gewohnten Anblick lieblicher Milde. *~i~* Es hätte mich gewundert, wenn es Sano nicht gelungen wäre, einen neuen Schlachtplan zu entwerfen. Wir haben seit vier Tagen keine Fortschritte mehr gemacht, sieht man davon ab, dass wir das Gesprächsthema Nummer eins in der Gerüchteküche sind. Sportunterricht am Nachmittag ist üblicherweise eine Qual, da ich vorher meine Zeit auf der Bank verbracht habe, sozusagen als "nicht vermittelbar". Unglücklicherweise müssen beim Baseball eine Mindestanzahl von Spielern erreicht werden. Das spielt Sanos Vorhaben genau in die Hände. Ich werde ebenso wie Sano als letzter aufgestellt, trotte auf meinen Platz, warte auf Sanos Zeichen. Sano ist wie immer herausragend. Er ist flink, wendig, schlägt variable Bälle mit ungeheurer Kraft, fängt auch sicher, von seinem Wurfstil ganz zu schweigen. Ein Schlag treibt den Ball genau in meine Richtung. Ich eile also los, mir durchaus bewusst, dass ein Spieler auf seinem Weg zum nächsten Base meinen Pfad kreuzt. Die Einladung ist unwiderstehlich: der Kerl rammt mich in vollem Lauf um. Ich rapple mich auf, schnauze ihn an. Er kommt von der Base, um mir eine Abreibung zu verpassen. Nicht, dass ich mich fürchten müsste, ich bin auch im Nahkampf nicht zu ungeschickt. Das wäre unvorteilhaft für Sanos Vorhaben, sodass ich mich zunächst mal vor die Brust stoßen, auf den Boden werfen lasse. Sano ist da wie ein Blitz, steht über mir, erwidert die Aggression gegen meinen Gegner. Ein Gerangel später sind wir für diesen Nachmittag suspendiert, schnappen unsere Schulsachen, um das Gelände zu verlassen. Sano grinst zufrieden. So weit, so gut. "Was nun?" Erkundige ich mich, spüle mir den Mund aus, um Staub zu vertreiben, der zwischen meinen Zähnen knirscht. "Teile dir das Wasser ein." Rät er mir, drückt mir ein Stück farbiger Kreide in die Hand. Ich blinzle begriffsstutzig. "Aha?" Erkundige ich mich ratlos. Er wendet sich mir mit bitterschokoladenfarbenem, sturmumtosten Blick zu. "Wir werden unter die Höhlenforscher gehen, Kama." *~i~* Sich in die Höhle des Löwen zu begeben, ist immer mit Gefahren verbunden. Daher halte ich es für eine gute Idee, seine "Spielwiese" zu erkunden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir seinen Bau ausräuchern müssen. Der Bastard-Bulle soll schließlich nicht behaupten können, ich liefere keine wertbaren Erkenntnisse ab, nicht wahr? Ich kann an Kamas Miene ablesen, dass er die Idee keineswegs für gut hält. Trotzdem folgt er mir unverdrossen. Fast eine Woche ohne Aufmerksamkeitsbekundungen von Aoshi, stattdessen gemobbt, ausgegrenzt, nun mit mir durch ein Labyrinth an dreckigen Tunneln kriechend: soll niemand was über Kamas Nehmerqualitäten sagen! Die ersten drei Versuche, in die Unterwelt abzusteigen, erweisen sich als Fehlanzeigen: verschüttet, zugemauert oder anderweitig versiegelt. Bei Nummer vier haben wir allerdings Glück. Relativ gesehen, es stinkt nach Abwasser, Exkrementen, überall huschen Ratten durch das heruntergekommene System. Von Ungezieferpopulationen ganz zu schweigen. Ich reiche Kama einen kopierten Stadtplan und einen Kompass, dazu den Meterzähler, den ich ohne Zustimmung der Sportkammer entliehen habe. Mit einem kräftigen Lichtpegel meiner Taschenlampe arbeiten wir uns durch Tunnel, erforschen das Gelände eilig, folgen Luftzügen. Mehrere Male stoppen uns schwere Eisen- oder Stahltüren, die neueren Datums sind. Es steht zu vermuten, dass sie und eventuell dahinter liegende Gemäuer in Gebrauch sind. Ein Abgleich mit den oberirdischen Gegebenheiten könnte Aufklärung bringen. Erstaunlicherweise begegnet uns niemand. Dafür entdecke ich einige Fallen, die Neugierige melden sollen. Ich weise Kama an, auf mich zu warten, während ich im Halbdunkel die Spur verfolge. Pelziges Aas pflastert meinen Weg, durch Mausefallen oder giftige Köder erledigt. Ich finde den Kadaver eines Hundes, der eine weitere Sperre ausgelöst haben muss: mit spitzen Stahldornen aufgespießt. Die Indios hätten ihre wahre Freude. Mich schaudert. Ich entdecke eine scharfe Granate, beschließe umzukehren. Wenn das Enishis Werk ist, ist der Kerl absolut irre. Auf professioneller Basis. *~i~* Ich bin froh, als ich wieder an das Tageslicht steigen kann. Endlich frische Luft! Sano hängt sich seinen Rucksack über die Schultern, ungewöhnlich stumm und in sich gekehrt. "Was ist los? Was hast du gesehen?" Erkundige ich mich, kämme durch seinen Hahnenkamm, bis ich mich dreinschicke. Da kann nur noch eine Dusche helfen. "Können wir zu dir gehen?" Lässt er meine Frage ins Leere laufen, fixiert mich ernsten Blicks. "Sicher doch." Antworte ich beklommen. Gibt es etwa noch mehr Probleme? *~i~* Während ich dusche, organisiert Kama Nervennahrung aus der Backstube seiner Großmutter. Tropfnass trete ich aus der Kabine, schon knurrt mein Magen los, als hätte ich einen Rudel Wölfe darin versteckt. Meine erste Reaktion auf große Schwierigkeiten. Sehr erwachsen. Kama lächelt, lagert in knappen Hotpants und einem Unterhemd auf seinem Bett, während er die Ausbeute des Streifzugs arrangiert. "Du kannst dir das T-Shirt und die Hose überziehen. Mich stört's auch nicht, wenn du bleibst, wie du gerade bist." Flirtet er frivol mit mir, starrt bezeichnend auf das knappe Handtuch um meine Hüften. Ich grimassiere, nehme neben ihm Platz, wähle hungrig ein Plunderstück, schlage gierig die Zähne hinein. Kama isst natürlich gesitteter. Auf eine anmutige, adrette Weise leckt er sich sogar die Fingerspitzen ab, um mich zu necken. Gegen die Wand gesunken muss ich endlich zur Sache kommen. Ich berichte Kama von meiner Entdeckung. "Was meinst du mit 'Profi'?" Kama runzelt die Stirn, pickt mit angefeuchtetem Zeigefinger Krümel von meinem Gesicht. "Jemand, der weiß, wie man Fallen stellt. So viel Sachverstand hat, eine Handgranate zu präparieren. Also eine militärische Ausbildung absolviert hat. Ich bezweifle, dass sie das bei den Pfadfindern zwischen Kekse backen und Lagerfeuer auf dem Stundenplan haben." Knurre ich zurück. "Verstehe." Murmelt Kama. Das macht mir deutlich, dass ich mich im Ton vergriffen, meine Wut über die verfahrene Situation an ihm ausgelassen habe. "Entschuldige." Lege ich eine Hand auf seinen Oberarm, suche seine Haselnussaugen. "Schon okay." Beruhigt er mich lächelnd. "Was bedeutet das für uns? Haben wir nicht schon vorher gewusst, dass Enishi ein großes Kaliber ist?" "Tja." Brumme ich, lasse mich längs auf Kamas Bett sinken, kreuze die Arme in meinem Nacken, fixiere die Decke. Gegen einen ausgebildeten Paramilitär habe ich keine Chance. So viel ist sicher. Kama sinkt auf mich, studiert mich, während seine Linke behutsam meine stachlige Mähne kämmt. "Egal, was kommt, du wirst nicht aufgeben, nicht wahr?" Erkundigt er sich rhetorisch, schmiegt seinen Kopf in meine Halsbeuge. Wieso hat der Bursche so eine verteufelt gute Menschenkenntnis?! Ich enthebe mich einer Antwort. Sie wäre ohnedies überflüssig: natürlich werde ich weiter im Schmutz wühlen, keine Frage. Kaz und Kama müssen um jeden Preis aus dieser Geschichte herausgehalten werden! *~i~* Ich bin nicht überrascht, Hajime zu sehen, der bei Nacht Einlass begehrt, wie gewohnt den Geruch von Lakritz verströmt. Ohne weitere Erklärungen breitet er in seiner systematischen Art Akten auf meinem schmalen Schreibtisch aus. Vertrauliche Details von konzertierten Aktionen gegen die organisierte Kriminalität und die Gangsterbanden von vor zehn Jahren. Sieh an. Also will er wohl wirklich einen Deal mit diesem Jugendlichen eingehen? *~i~* Freitagabend. Eine ganze Woche als Ausgestoßener ohne rhythmische Bettgymnastik. So beschämend es ist: ich vermisse es. Dabei bin ich erst seit Kurzem um diese Erfahrungen reicher. Ich mustere mich kritisch im Spiegel, ob sich nicht doch Spuren dieses Reifeprozesses abzeichnen, doch umsonst. Wäre wohl auch vermessen, nicht wahr? Aoshi hat sich in Luft aufgelöst. Oder zumindest meidet er meine Hemisphäre. Ob er etwas ahnt? Oder muss er nur sehr viel erledigen? Will er mir auf subtile Weise zu verstehen geben, dass ich mich davonmachen soll? Ratlos winde ich Plastikperlen in meine Strähnen. Heute Abend wollen wir einen neuen Versuch wagen, Sano und meine Aufgebretzeltheit. Wenn ich endlich fertig werde!! Ungeduldig zerre und zupfe ich, bis der Schmerz meiner Kopfhaut mich daran erinnert, dass es an meiner eigenen Unsicherheit liegt: ich habe Angst und ein schlechtes Gewissen. Auch wenn Sano sich zuversichtlich gibt, spüre ich genau, dass wir uns mit Enishi einen sehr gefährlichen Gegner ausgesucht haben. Einen, der keineswegs so blauäugig ist, wie er sich gibt. Wenn Sano richtig liegt, woran ich nicht zweifle, kennt Enishi das Labyrinth und das Viertel aus eigener Erfahrung. Er hat Zugang zu illegalen Waffen und Drogen in unglaublichen Mengen, schert sich keinen Deut um die Staatsgewalt. Entweder ist er tollkühn oder geisteskrank. Warum hat er uns seine Behausung vorgeführt? Zu welchem Zweck will er uns benutzen?! "Kama-chan, dein Freund wartet." Informiert mich meine Großmutter durch das Türbrett, sodass ich vor Schreck den Kajal verschmiere. "Großartig." Brumme ich ungnädig. Es klopft. Im Spiegel beobachte ich, wie Sano eintritt: Muscle-Shirt, weiße Jeans, seine geliebte Jacke um die schlanken Hüften gebunden. Er stellt sich hinter mich, schlingt die Arme behutsam um meine Schultern. Wir studieren unsere Zwillinge schweigend. Die Uhr beginnt, rückwärts zu laufen. *~i~* Ich merke Kamas Erstaunen, als er unweit der Bäckerei Kaz' heißgeliebtes Vehikel erblickt. Nein, bevor falsche Erwartungen aufkommen: mein ehrenwerter Bruder chauffiert natürlich selbst. Keine Chance, dass ich jemals seine Liebste in meine "ungeschickten Pranken" bekommen könnte. Allerdings bietet er für jeden Betrachter auch ein ungewöhnliches Bild: seine Haare liegen offen über den Schultern, aus dem Gesicht gehalten durch ein breites Stirnband in sehr extravagantem Paisley-Muster. Dazu Stoffhosen, schwarzes, offenes Hemd zu passendem Unterhemd. Man könnte meinen, dass mein ruhiger, introvertierter Bruder zu einem merkwürdigen Latino-Gangster mutiert sei. Was er nicht ist. Im Übrigen kennen wir diese Klischees nur aus dem Fernsehen! Seine Aufmachung ist lediglich das Gegenstück zu meiner Bekleidung. Ich weiß nicht warum, aber es ist ihm wichtig. Darum enthalte ich mich auch jedweden Kommentars. Angespannt sind wir alle ohnehin. Kama klettert in den Fond: enge Steghosen, einem offenen Kasack aus durchscheinendem Stoff darüber, ein Seidenhemdchen darunter, alles in einem berückenden Smaragd-Ton. Während der Fahrt umschlingt er meine Schultern, lehnt sich an mich, lauscht wie wir alle auf das Radio. *~i~* Ich bin froh, dass meine Hände nicht feucht sind, weil ich mich unwillkürlich an Sano klammere, seine Nähe suche. Beklemmende Angst schlottert kaum merklich durch meine Glieder. In meinem Inneren zittere ich so stark, dass ich glaube, ohnmächtig werden zu müssen. Eine veritable Panikattacke, ohne dass wir bereits im Zentrum des Geschehens sind! Möglicherweise bin ich lediglich hysterisch und feige, bilde mir auf meine Vorahnungen etwas ein. Was sich als selbsterfüllende Prophezeiung entpuppt. Sanos Hand streichelt über meine Unterarme, beruhigend, nachsichtig. Viel zu schnell erreichen wir die Gasse, die verwinkelt zum ersten Club führt. Kaz steigt mit uns aus, was mich irritiert. Wird er uns begleiten? Stattdessen wandert Sano lässig um die Motorhaube herum, lächelt seinen Halbbruder herausfordernd an. Kaz schnellt vor, zerrt ihn an beiden Oberarmen heran, zischt so eisig, dass mich ein weiterer, panischer Kälteschauer durchläuft. "Wenn du mich ein zweites Mal verlässt, verfolge ich dich bis in die Hölle, Sanosuke Sagara." Zum ersten Mal wird Sano in meiner Gegenwart fahl, nehmen seine Züge einen schmerzvollen Ausdruck der Qual an. Er lehnt die Stirn gegen die seines Bruders, streichelt sanft über eine bleiche Wange. Wenn das seine Zusicherung sein soll, kann ich Kaz' zornigen Blick nachvollziehen. Andererseits bleibt mir das Herz stehen, stockt mein Atem: Sano kann offensichtlich nichts versprechen. *~i~* Kaz macht auf dem Absatz kehrt, knallt die Tür seines Schatzes zu, spritzt mit durchdrehenden Rädern Dreck auf. Das lässt mich zurückspringen, bevor er ohne Abschiedsblick davon prescht. Ich kann ihn verstehen, viel zu gut. Es liegt mir vollkommen fern, den selbstlosen Heroen zu geben, der zum Glockenschlag breitbeinig die Colts in Hüfthöhe austariert, um "Dinge zu regeln". Das wäre gleichbedeutend mit einer absolut dämlichen Verkennung der Situation. Wenn man in einen Kampf geht, führt man sich vor Augen, was man zu verlieren hat. Das macht einem überdeutlich bewusst, dass man siegen muss. Was mit einer guten Vorbereitung ja auch nicht unwahrscheinlich ist. Ich bin ja kein Idiot. Verlorene Schlachten schlage ich nicht. Kommt natürlich auf die Perspektive an, also darauf, wo die eigene Definition von "verloren" beginnt. Ich fasse Kamas Hand, verschränke die Finger mit seinen, vermische den klammen Schweißfilm beider Innenflächen miteinander. Er hat Angst, genauso wie ich auch. Wir sind nicht dumm. Auch ohne langatmige Erzählungen aus unserer Biographie wissen wir, dass Happyends nur im Kino existieren. Draußen, in Hinterhöfen, Sackgassen und auf verödetem Brachland gibt es keine Garantien. Trotzdem will ich da durch. Nein, ich MUSS es! Eine Ewigkeit voller plagender Ungewissheiten, genährt von meinem sturen Trotz, könnte einen Abschluss finden. Also setze ich alles, werfe mein Leben, und auch das meines besten Freundes, in die Waagschale. *~i~* Sano ist still, als wir nach kurzer Strecke durch labyrinthische Gassen in einem Hinterhof eine kleine Treppe zu Katakomben hinabsteigen. Konzentriert er sich auf unsere Umgebung? Gibt es Verfolger? Die Stufen sind schlüpfrig, von jahrzehntelanger Nutzung ausgetreten. Allerdings eher von Arbeitern, die die per Boot angelieferten Waren transportiert haben. Dieser merkwürdige, nur temporär eingerichtete Club haust unter dem flachen Dach eines Schuppens, der über brackigem Wasser errichtet ist. Eine Lagerhalle in beklagenswert marodem Zustand. Ganze Blechplatten fehlen in der Dachkonstruktion. Die Planken über dem träge schwappenden Wasser wirken unzuverlässig, wenn sie nicht bereits durchgefault sind. Die findigen Initiatoren machen sich den morbiden Charme zunutze. Boote und Flöße treiben aneinander gebunden unterhalb der Halle. Man muss sich an Balken mit Seilläufen herablassen. Eine Nebelmaschine erzeugt mit den alten Sturmleuchten eine Atmosphäre wie in feuchten Gassen zur Prohibition. Selbst die Musik wirkt bedrohlich. Ein seltsamer Ort. "Guter Zugang zur Unterwelt." Brummt Sano. "Richtig kreativ." Während er nach Scheinen für den Fährmann auf diesem neuzeitlichen Styx kramt. Einen Stempel auf unseren Handrücken später hangeln wir uns vorsichtig auf die größte der schwimmenden Inseln, um Flüssignahrung an der Bar zu ordern. Trotz des deprimierenden Airs von Vergänglichkeit, oder vielleicht gerade deswegen?, wird wie entfesselt getanzt, laden Bässe die Luft gewittrig auf. Ich stürze meine Cherry Coke runter, zerre Sano hinter mir her. Plötzlich überkommt mich das übermächtige Verlangen danach, jemanden festzuhalten, die Finger in warmes Fleisch zu graben, Haut, Muskeln und Knochen zu spüren. Fin de siecle, Tanz zum Weltuntergang. Ich erinnere mich daran, gelesen zu haben, dass dies den Überlebenstrieb und auch einige andere Sehnsüchte, besonders der Fortpflanzung, anspornt. So weit will ich lieber nicht denken, bloß auftauchen aus dieser tranigen Suppe an Dunkelheit, Nässe und Gleichgültigkeit! Raus aus dieser Lethargie! Man müsste ein Feuer anzünden, Hitze erzeugen. Sano zieht mich eng an sich, zwinkert mir zu. "Übertreib's nicht, Kama, die Nacht ist noch lang." Bremst er meinen energischen Drang, mich schneller und schneller zu bewegen, ihn herumzuschleudern, die Hacken in die Planken des Floßes zu rammen wie ein Flamenco-Tänzer. Siouxsie and the Banshees jammern vor sich hin, getragen und feierlich. Das gibt ihm Gelegenheit, mich fest in seinen Armen einzuschließen, wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu verfrachten. "Kama." Wispert er an meinem Ohr. "Siehst du den eulenartigen Idioten mit der blonden Bürste auf der hohlen Nuss?" Eine halbe Drehung später bin ich unauffällig im Bilde. "Zu wem gehört der?" Ich präge mir den grauenerregend schlechten Klon von Billy Idol ein, schmiege mich enger an Sano. »Es geht schon los. Verdammt.« "Den habe ich im Club gesehen." Sano verstummt. Seine Haltung stählt sich aus, die Schultern wandern unwillkürlich angriffslustig nach vorn. "Der ist so auffällig, gehört vielleicht zu den Bullen." Mutmaßt er kalkuliert, dirigiert uns tiefer in die Menge der Tanzenden. "Gehen wir da hinten zu den Separees." Weist er mit spitzem Kinn auf die Dschunken. "Glaubst du, du kannst auf den Planken rennen?" Ich nicke, auch wenn ich nicht überzeugt bin. "Zum Teufel mit den Torpedos, volle Kraft voraus!" *~i~* Kamas herausforderndes Grinsen in dieser Semi-Dunkelheit ist alles, was ich benötige, um mich wieder wie ein Straßenkämpfer zu fühlen. Diese wahnwitzige Mischung aus Arroganz, Selbstüberschätzung und Chuzpe. Da stört es auch wenig, dass der Boden unter den Füßen nachgibt, als wir uns geschmeidig einen Weg durch Pärchen und Gruppen bahnen, die sich aneinander festhalten. Zu laut lachen, zu betont gleichgültig in die Finsternis starren. In den Dschunken, die eng aneinander gebunden sind, geht es weitaus weniger förmlich zu. Die niedrigen Tuchsegel verleiten wohl zu Intimitäten, die in einem Schlafzimmer besser aufgehoben wären. Zwei Boote weiter wird "das Näschen gepudert", was bei leichtem Wellengang gar nicht so einfach ist. Kamas Griff wird stärker. Seit der Begegnung mit den bunten Pillen bei Enishi misstraut er dem Angebot an pharmazeutischen Glücksbringern. Eine Haschpfeife macht die konziliante Runde. Debil grinsende Yuppies kichern vor sich hin, während andere Neptun ein Opfer darbringen. "Denkst du, wir finden ihn hier?" Raunt mir mein bester Freund ins Ohr, als ich ihm in eine weitere Dschunke helfe, das Tempo steigere. Ich verzichte auf eine Antwort, spähe in die Dunkelheit jenseits von Laternen und Lampions. Ah, richtig geraten! Durch einen Handdruck signalisiere ich Kama, dass es ernst wird. Wir wechseln per Sprung das Wasserfahrzeug, schlängeln uns in höchster Geschwindigkeit durch ein weiteres Boot und dessen Besatzung. Natürlich keine einfache Dschunke, sondern, wie ich es erwartet habe, ein Schnellboot! Leistungsstarke Maschinen mit nichtssagenden Aufbauten getarnt, nur unzulänglich mit den Dschunken verbunden. Irgendwo müssen sie ja den Nachschub an Drogen und Alkohol bunkern. Ein mobiler Safe, wendig, flexibel und einfach zu tarnen. Die derzeitigen Besitzer sind naturgemäß nicht erfreut, uns passieren zu lassen. Durch unser gemeinsames Gewicht und Tempo bringen wir einiges an Wellenbewegung in Schwung, sodass es uns gelingt, ihnen zu entwischen, über einen schmalen, kaum fußbreiten Steg an Land zu sprinten. Zwei dunkle Löcher später habe ich statt einer Nische einen Tunnel gefunden, taste mich eilig voran. Nach der ersten Biegung kann ich auch die Taschenlampe zücken, relativ überzeugt davon, dass unsere Verfolger dem Lichtkegel nicht nachschleichen. Zu welcher Partei der Bürstenkopf gehört, vermag ich noch nicht einzuschätzen. Für einen Undercover-Bullen ist er zu auffällig und auch zu blöd. Das dämliche Gesicht wirkt wie eine Fahrradpedale: man möchte reintreten. Die Herren auf dem letzten Boot und vermutlich "Mitarbeiter" des schwimmenden Underground-Clubs dagegen gehören nicht zu Enishi. Sonst hätte man uns nicht so einfach entwischen lassen. Ich halte vor einer gemauerten Wand inne. Eine Sackgasse? Hinter uns echoen Geräusche. Kama tritt neben mich, tastet hastig die Wand ab, während ich das Licht lösche. "Sano!" Zischt er neben mir erregt, umklammert mein Handgelenk. Eine winzige, kaum merkliche Brise stellt mir die Haare ganzkörperlich auf. Woher kommt dieser Luftzug?! Die Wand vor mir ist doch gemauerter Backstein?! Kama scheint mich in die Tunnelwand hineinzuziehen, in der Finsternis nur eine Vorstellung vor meinem inneren Auge, als ein Lichtpegel hineinschwenkt. Für Bruchteile von Sekunden sehe ich mich selbst, nahezu durch die massive Tunnelwand schiebend, bevor der kreisrunde Lichtfleck vom dreckigen Boden langsam hochwandert. *~i~* Kapitel 14 - Krieg Der Spalt ist so geschickt angelegt, das man ihn nur übersehen kann. Wenn mir nicht die aus den Fugen wachsende Graspflanze über den Arm gestrichen hätte, wäre mir diese Zuflucht sicher entgangen. Ein Durchlass, den man mit eingehaltenem Atem und auf Zehenspitzen seitlich durchqueren kann, von der anderen Seite durch eine Pforte in Dunkelheit gehüllt. Alles um uns herum ist schwarz. Unsere Atemzüge schlagen wie Trommeln an den Wänden nieder, während ich hastig herumtaste, einen Schlüssel finde, in einem Schloss, einem altmodischen Schloss mit Verzierungen um die Blende. Ich drehe. Lautlos schwingt etwas von uns weg, in lichtlosen Raum. Sano gibt die Taschenlampe mit einiger Mühe in der Enge weiter, sodass ich Licht in unsere prekäre Lage bringen kann. Ein erleichtertes Auflachen unterdrücken muss: wir, beziehungsweise im Augenblick nur ich, stehen in einem Schrank, dessen Rückwand man herausgetrennt hat. Hastig klettern wir heraus, drücken die Türen zu und schließen ab: dieses Mal von außen. Wirklich geschickt! Wenn unsere Verfolger diesen Weg nicht kennen, ist wohl auch klar, dass sie nicht die Erfinder dieses merkwürdigen Arrangements sind. Allerdings kann ich darauf verzichten, hier auf die Auflösung des Tests zu warten. Sano scheint es ähnlich zu gehen. Er bewegt mein Handgelenk eilig, um mittels Lichtpegel den Raum zu erkunden, einen Kellerraum. Die steile Stiege auf Straßenniveau ist zerstört. Ein Haufen Schutt und Abraum dokumentiert, dass sich niemand mehr um Instandsetzung sorgt. Unterhalb des abgebrochenen Podests der Stiege ist ein Türchen auszumachen, gerade mal einen Meter hoch, vermutlich in früheren Zeiten der Aufbewahrungsort für Kohlen. Stumm halten wir darauf zu. Sano dreht den Knauf, vorsichtig, um eventuellen Lawinen vorzubeugen. Außer einem Rattenkadaver fällt uns nichts entgegen. Der spricht Bände: die Verfärbungen samt den eingetrockneten Schaum erinnern an Tollwut. "Oder Rattengift." Bringt Sano flüsternd Option zwei zur Sprache. Ratten, besonders diese nahezu terriergroßen, sind schlau. Andererseits, was auch immer Sano damals in den Tunneln gefunden hat, kündete ebenfalls von mörderischem Einfallsreichtum. Mit leichtem Widerwillen folge ich Sanos Beispiel, begebe mich auf die Knie, krieche hinter ihm durch die niedrige Tür in den trichterartig angelegten Hohlraum. Der weist tatsächlich eine zweite Öffnung auf, etwa zwei Meter über dem Boden. Eine Räuberleiter später helfe ich Sano hoch, bevor wir dem Schacht folgen, der sich stark verjüngt, in einem Gitter endet. Glücklicherweise habe ich Sano den Vortritt gelassen. Der lässt mit spürbarer Ungeduld einen seiner gefürchteten Schläge mit der rechten Faust los, stanzt das Gitter förmlich heraus. Ein Scheppern später klappert es auf den Boden. Wir stehen, schmutzig, aber dankbar, der bedrohlichen Enge entkommen zu sein, in einer kleinen Gasse. *~i~* Dunkelheit kann etwas Tröstliches sein, wenn man nach einer Krabbeltour durch ehemalige Kohlenlager auftaucht. Sich daran erinnert, dass man weiße Kleidung getragen hat. »Kaz wird mich umbringen!« Ist mein erster Gedanke nach dieser Erkenntnis. In dem Guerilla-Aufzug werden wir wohl kaum in einem Club Einlass finden. Andererseits ist es erfreulich, dass uns noch niemand hier auflauert. Gleichbedeutend damit, dass unsere Verfolger diesen Ausgang nicht kannten. Wer hat ihn benutzt und mit Giftködern bestückt, um sich aggressive Nager vom Leib zu halten? Ich fasse Kamas Hand, gebe die Marschrichtung vor. Wenn man sich unterhalb des Viertels so gut bewegen kann, praktisch außerhalb der Wahrnehmung aller anderen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit in der Nähe wieder ein Zugang zum Tunnellabyrinth. Wenn Shishio ein Interesse an diesem Viertel hat, dann sicherlich deshalb, weil die Logistik und Infrastruktur bemerkenswert ist. Doch jemand ist ihm zuvorgekommen. Enishi? Vermutlich. Was bezweckt er damit? Will er das Viertel als Einfallstor für den Rest der Stadt? Wie lange wird es wohl dauern, bis diese beiden Parteien aufeinander treffen? *~i~* »Mit einer Dschungelausrüstung wäre ich besser bedient gewesen!« Beklage ich insgeheim meine eigene Kurzsicht, während ich hinter Sano hertrotte. Der Gedanke, wieder in die Unterwelt hinabzusteigen, behagt mir gar nicht. So weit kommt es nicht. Als wir in die nächste Quergasse einbiegen, steht ein gewaltiges Hindernis vor uns, groß und rund, einhändig, mit dem Ausdruck eines übellaunigen Gorillas. Ich erinnere mich, den Schrank bei Enishi gesehen zu haben, als er seine beiden anderen "Mitarbeiter" disziplinierte. "Ah, unsere Eskorte!" Scherzt Sano humorlos, spannt alle Muskeln an. Ich bezweifle, dass er tatsächlich einen Fluchtversuch in Erwägung zieht. Wir wollten ja zu Enishi, nicht wahr?! *~i~* Der fischmäulige Fleischklops schweigt sich aus. Andererseits forciere ich auch keine Unterhaltung, als wir vor ihm hergetrieben werden. Er hat uns erwartet. Woher wusste er, dass wir ihn nicht versetzen würden? Haben wir auf unserer Flucht irgendeinen stillen Alarm ausgelöst? Oder hat ein Spion unseren Abgang weitergemeldet? Wenig erstaunlich führt uns der Weg nicht durch Tunnel und Keller, sondern oberirdisch durch industrielle Trümmer und Bauruinen. Im Schatten einer fensterlosen Fassade öffnet sich eine Stahltür lautlos, als wir davor treten. Ohne Abschiedsworte, mir ist nicht nach Frivolitäten, folgen wir einem kurzen Gang, der zu einem Lastenaufzug führt. Wieder geht es mit uns bergab, ein Stockwerk unter die Erde, wo uns ein vermummter Typ mit affenartig langen Armen empfängt. Die Beleuchtung an den gemauerten Wänden ist so schlecht, dass ich mich lieber auf meine tastenden Fingerspitzen verlasse. Es heißt sich bücken. Der Geruch fauligen Brackwassers reizt Augen, Nase und Lungen. Unser Weg schlängelt sich durch das Netz der Abwasserkanäle. Kama bleibt mehr als einmal stehen, ringt nach Luft, unterdrückt ein Würgen. Ich kann nicht mehr tun, als ihn in den Arm zu nehmen, über seinen verspannten Rücken zu streicheln. Auch mir bekommt das stinkende Abgas nicht sonderlich gut. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, wie es mir vorkommt, nimmt die Qual ein Ende. Wir steigen ein gewaltiges Rohr empor, um in einem Keller zu landen. Eine Stahltreppe überwindet die Höhe des Raums, öffnet sich in ein nach diesem Maulwurfgang gleißendes Licht. In dem sich scharf eine Silhouette abzeichnet, mit einer kalten, von mühsam gezähmten Wahnsinn Stimme Auskunft begehrt. "Wo ist Soujirou?" *~i~* Ich habe das Bedürfnis, mich spontan zu übergeben. Blinzelnd gewöhne ich mich an das aufflammende Licht in dem Kellerverlies, über dem Enishi wie ein Rachegott zürnt. Etwas peitscht mit sengendem Geräusch zwischen uns durch die Luft, schlägt Staub stiebend in die Mauer hinter uns. Mich überfällt ein unkontrollierbares Zittern. *~i~* Ein Blick auf Kama ist unnötig. Schlagartig wird sein Griff weich, die Hand in meiner nass vor Notschweiß. Es ist nicht das erste Mal, dass ich einer Waffe begegne. Daher erschreckt mich weder Geräusch, noch der Geruch oder die unwirkliche Stille nach dem Schuss. Was nicht heißt, dass mich diese Situation kaltlässt. Fieberhaft rasen meine Gedanken umeinander. Enishi ist bis zur Weißglut gereizt. Offenkundig hält er uns für den Auslöser seiner Rage. »Wo ist Soujirou?!« Wiederhole ich hastig. Moment mal, Soujirou? "Wir haben ihn nicht gesehen." Bemerke ich mit für mich selbst erstaunlich ruhiger Stimme, streiche gleichzeitig beruhigend mit dem Daumen über Kamas Handrücken. "Lüge mich nicht an!" Eine weitere Detonation betäubt meine Sinne für Sekunden, als ein Projektil vor mir in den Boden fährt. "Können wir das nicht oben besprechen?" Versuche ich es mit lässiger Nonchalance, hebe beide Hände. "Du weißt, dass wir unbewaffnet sind." Insgeheim fürchte ich, dass Enishi diese Tatsache nicht hindern würde, uns wie räudige Köter abzuknallen. Verzweifelte Situationen verlangen besondere Maßnahmen. Oder eine eiskalte Hundeschnauze. *~i~* Irgendein rationaler Part in Enishis Gehirn legt sich zu unseren Gunsten ins Zeug. Er gewährt uns tatsächlich den Aufstieg. Es geht zügig mit vorgehaltener Waffe in die Zimmerflucht, in der wir damals orgiastisch gefeiert haben. Allerdings wirkt die Einrichtung nun weniger durch Achtlosigkeit derangiert als durch diverse, gewalttätige Wutausbrüche. "Wo ist Soujirou?" Wiederholt Enishi stereotyp, mit einem hysterisch-wahnsinnigen Unterton, der markiert, wie zart die Grenze zu zügellosem Irrsinn beschaffen ist. "Wir haben ihn nicht gesehen." Gibt Sano zurück, fast schon ein wenig schnippisch, was mich wünschen lässt, er wäre weniger herausfordernd. Mit zwei Schritten ist Enishi bei mir, presst mir die Mündung seiner Waffe in den Magen. "Wo ist Soujirou?" Mit manischer Geduld fixiert er Sano, der alert verharrt. Mir wird eiskalt. Ich glaube, dass meine Beine unter mir wegbrechen. *~i~* Mein Herzschlag setzt aus. Die Welt steht für Augenblicke still, verzerrt sich in Slowmotion. »Tu ihm nichts!« Fleht es verzweifelt in mir, während andere Stimmen mich hysterisch ermahnen, etwas zu tun! Das Richtige zu tun! "Sie haben ihn!" Stoße ich hervor, heiser vor Anspannung. Enishi blinzelt nicht einmal. "Wer?" In diesem Augenblick bricht durch die erste Stahltür atemlos der Dreadbelockte. "Eine verdammte Razzia, Boss! Überall Bullen!" Enishi beachtet ihn nicht. Seine leblosen, schwarzen Augen halten mich gefangen. "Verrat." Wispert er mit einem irren Lächeln auf den Lippen. Mir gefällt das Licht in seinen Augen gar nicht. *~i~* Enishi lässt nicht einen Moment locker. Eine Hand hält meinen Nacken in unnachgiebiger Umklammerung, während die andere die Pistole in meinen Magen rammt. "Sind auch die Unternehmen meines Geschäftspartners von dieser unerwarteten Aufmerksamkeitsbekundung des Staates betroffen?" Säuselt er mit dem grausigen Lächeln, das in einem Horrorstreifen Oscar-prämiert würde. "Nein, Mr. Yukishiro." Gibt eine Altmännerstimme im selben Tonfall zurück, unsichtbar durch Lautsprecher in die angespannte Stille hineingetragen. "Wohlan, Mr. Gein." Enishis starke Zähne blitzen auf. "Walten Sie Ihres Amtes." Ein Schauer folgt dem nächsten, heißt mich zittern, mühsam mit zusammengebissenen Zähnen Haltung bewahren. Was haben sie vor?! Sano steht mir gegenüber. Seine Augen fixieren Enishi. Seine Haltung kündet von Anspannung und Entschlossenheit. Die beiden studieren einander. Knapp, wie aufgezogen, wiederholt Enishi seine Frage. "Wo ist Soujirou?" *~i~* Ich bin nicht sicher, ob es eine Rolle spielt, was ich sage. Ob dieser Psychopath nicht bereits entschieden hat, uns beide umzubringen. "Ich sagte doch schon, wir haben ihn nicht gesehen." Bringe ich erstaunlich ruhig hervor. "Vielleicht hat ihn sich dein Geschäftspartner ja geschnappt?" "Oder die Polizei." Wispert Kama, zieht damit unsere Blicke auf sich. Enishi kräuselt eine Augenbraue, die Imitation eines Abwägens, bevor er Kama per Nackendruck in Gang schiebt. "Fragen wir sie doch einfach, nicht wahr?" *~i~* Sano muss vor uns gehen, von Enishi ungerührt durch Gänge und Kanäle dirigiert, während wir uns einem gewaltigen Geräuschpegel annähern: Polizeisirenen, der klagende Wehton von Ambulanzen, Geschrei. Dieser Irre kann doch nicht wirklich so in das Geschehen platzen wollen?! Ein Keller führt uns schließlich an die Oberfläche, in die Nähe der Ruinenlandschaft eines Bauvorhabens und die Nachbarschaft unseres Schulgeländes. Die Signalleuchten werfen farbige, hysterisch kreiselnde Schatten an die Häuserwände. Hier oben ist der Lärm der Razzien noch betäubender als im Untergrund. Die ersten Absperrungen können nicht mehr weit entfernt sein. *~i~* Wenn Enishi sich tatsächlich unter die Schaulustigen mischen will, sind zwei Geiseln eine zu viel. Dieser Gedanke brandet mit der Gewalt eines Tsunamis in meinem Bewusstsein auf. Wir haben ja eine Vorstellung davon, wie Enishi mit ihm lästigen Menschen umgeht! Eine rostige Feuerleiter ragt über meinem Kopf in die enge Gasse hinein, nutzlos geworden, weil das zugehörige Gebäude aus nicht mal mehr einem Drittel Fassade besteht. Ein Impuls treibt mich weit in die Höhe. Ich greife die verkrusteten Holme, schwinge hart, lasse mich fallen, reiße dabei Kama und Enishi zu Boden. Enishi ist sofort wieder im Kampfmodus. Meine Faust trifft seine Rechte schneller, schleudert die Waffe in einen Berg Abraum. Ich blocke zwei Schwinger, brülle Kama an, er solle loslaufen. Der rappelt sich hoch, sieht mich an, offenkundig nicht bereit, mich allein zu lassen. Wir haben keine Wahl. Wenn nicht in Kürze auch die Polizei auf uns aufmerksam wird, Enishis Gefolgsleute bestimmt! "Lauf!" Endlich, widerstrebend, hastet Kama in das Labyrinth der Gassen. *~i~* Meine Schulter schmerzt höllisch. Ich fürchte, ich habe mir eine Sehne verrenkt. Also umklammere ich meinen Oberarm mit grimmiger Verbissenheit, damit das Laufen nicht so furchtbar qualvoll ist. Hier gibt es keine Straßenlaternen, keine Lichter außer dem Abglanz der Einsatzleuchten. Von denen ich mich eilends entferne. Ein Kloß blockiert meinen Hals, angefüllt mit Scham und Schuldgefühlen. Ich bin ein Feigling, der seinen Freund im Stich lässt und flieht! Ganz gleich, was der gesunde Menschenverstand und Sano sagen. Vielleicht hätten wir Enishi zu zweit niederzwingen können... Müßige Gedanken, die mir wenig bringen, als ich Schritte und Rufe wahrnehme. Häscher!! Ob Polizei oder Enishis Schergen oder irgendwelche anderen Schläger: ich blinzle in das vage Halbdunkel, stolpere weiter, bereits rettungslos verloren in diesem fremden Labyrinth, presse mich an Mauern, taste mich ungelenk vor, meinen rasenden Puls wie Donnerhall im Ohr. Wenn ich nur einen Tunnel fände, könnte ich vielleicht unterirdisch in unser Viertel entkommen! *~i~* Enishi ist ungeheuer stark und wütend. Mit Anstrengung gelingt es mir, seine Schläge zu blocken, während ich nach einem Flutweg Ausschau halte. Am Besten weit weg von hier. Also die Schule! Allerdings ist ein ganzes Stück Brache mit Bauschutt und Trümmern zu überwinden. Für einen Pistolenschützen praktisch Zielschießen. Ich pralle gegen eine Wand, greife reflexartig zum Abfangen hinter mich, umklammere einen Brocken, der sich aus der Mauer löst. Kalkige Krümel zerplatzen in meiner Faust. Ich schleudere den Staub in Enishis Gesicht. Fairplay ist kein Ratgeber beim Überlebenstraining. Geblendet zischt Enishi Profanitäten, während ich mich abwende, durch die Trümmer hetze, über das freie Gelände zur Schule hin. *~i~* Selbst in dem abgründigen Loch, durch das ich mich taste, dringt der Lärm von draußen herein. Es klingt wie der Krieg in Kinofilmen. Ich habe weder Feuerzeug noch Streichhölzer. Wie eine blinde Maus tappe ich Luftzügen hinterher, verdränge panisch die Gedanken an die Fallen, von denen Sano mir nicht berichten wollte. Wenn ich mich still hinsetze und warte: wird alles vorübergehen? Das trockene Stottern eines Maschinengewehrs lässt mich zusammenzucken. Schießen die etwa aufeinander?! *~i~* Ich weiß, wie man entkommt. Wie man um sein Leben rennt. Wenn Enishi sich nicht die Zeit nimmt, nach seiner Waffe zu suchen oder sich erneut zu bewaffnen, wird er mir auf den Fersen kleben. Zumindest mein Rücken ist gedeckt. Hoffentlich. Meine Lungen schmerzen, die Beine zittern, da der unebene Boden jeden ausgreifenden Schritt mit Erschütterungen beantwortet. Ich nähere mich dem Schulgelände. Hinter dem Hügel beginnen die Sportplätze. Die Dächer der Gebäude wachsen rasant in meinem Horizont. Ich kann es schaffen. Nein, ich WERDE es schaffen!! *~i~* In der Dunkelheit riecht es nach fauliger Feuchtigkeit, Schimmel. Meine Haut reibt sich an grob gemörtelten Wänden auf, während ich mit aufgerissenen Augen nach Orientierung suche. Wohin sich wenden?! Panik überschwappt mich. Ich will einfach nur noch raus an die Oberfläche, dorthin, wo ich meine Umgebung erkennen und einschätzen kann!! In diesem Augenblick trifft mich etwas Schweres hart in die Kniekehlen. Ich stürze ungebremst auf den Boden. *~i~* Natürlich sind die Doppeltüren der Gebäude verschlossen. Ich spare mir zeitraubende Rüttelei. Da kommt mir ein verwegener Gedanke: wenn ich Enishi glauben mache, ich sei weiter wie von Höllenhunden gehetzt in die Stadt gerannt, könnte ich mir eine wichtige Atempause verschaffen!! Mit einer Routine, deren Ursprung ich lieber nicht erläutern will, klimme ich an einem Regenrohr hoch, krieche auf das Flachdach. Gut, wenn man schwindelfrei ist (was Höhen betrifft), da kümmert auch der dritte Stock nicht wesentlich! Flach liegend kann ich über die Balustrade spähen, nach Enishi Ausschau halten. Wird er auf meine Finte hereinfallen? *~i~* Eine Hand greift in meine Haare, zerrt mich hoch. Ich kann nicht folgen. Mein linkes Bein bricht unter mir weg. Der Schmerz in meinem linken Knie ist so unerträglich, dass ich laut aufschreie. "Sieh an, sieh an, was haben wir hier?" Die Stimme gehört zu einem Mann, den ich durch den Film der Tränen nur unscharf erkenne. Sie klingt jovial, freundlich, doch falsch und heimtückisch, wie ein unpassender Ton in einer Melodie. "Einer von diesen Zwitterjungs, blass und schmutzig." Kommentiert eine andere Stimme mit näselnder Ungeduld. "Ist er hübsch?" Erkundigt sich mein Peiniger, schwingt sich dabei gleichzeitig den schweren Sack auf den Rücken, den er mir in die Kniekehlen geschlagen hat. Wieso habe ich die beiden nicht bemerkt?! Moment mal!! Eine gezackte Narbe breitet sich über Augenhöhlen und Nase des Fremden aus, Indikator für seine Blindheit. Sie haben im Dunkeln gelauert. "Wir haben keine Zeit für Spielereien." Das ist der andere, ein schmächtiger Greis mit gewaltigem Schädel und leblosen Augen. "Es dauert auch nicht lang." Ignoriert der Blinde seinen Komplizen. Sofort ist seine andere Hand in meinem Schritt, mit eindeutigen Absichten. Ich wehre mich natürlich, schlage nach ihm, nach seinen Händen, kämpfe gegen die Ohnmacht an, die die Schmerzen in Unterleib und Knie wellenförmig aussenden. "Aber, aber!" Tadelt mich der Blinde, bevor er meine Haare loslässt, mich mit der freien Hand im Heruntersinken blitzschnell ohrfeigt. So hart, dass Blut aus meiner Nase schießt, meine Lippen aufplatzen und ich mit einem dumpfen Rauschen in den Ohren gegen eine Wand sacke. "Warte!" Dringt die nasale Quengelstimme des Alten in die pulsierende Qual meines Bewusstseins. "Wir können ihn noch brauchen. Dieser chinesische Bastard hat sicher weitere Fallen ausgelegt!" *~i~* Trotz des Sirenengeheuls in der Ferne ist die Schule still wie eine Oase in der Wüste, nahezu betäubend. Ich kann Enishi nicht mehr ausmachen. Was nichts heißen will, immerhin gibt es jede Menge Schatten, in denen er von Gebäude zu Gebäude vordringen kann. Da höre ich ein leises, metallisches Ächzen. Wie das Geräusch von überbeanspruchten Muffen, die Rohrleitungen halten. Ich fahre herum, inspiziere mit zusammengekniffenen Augen die Hauswand. Verdammt!! Enishi ist mir nicht auf den Leim gegangen. *~i~* Ich kann kaum atmen, weil ständig Blut aus meiner Nase rinnt, der kupfrige Geschmack meine Zunge anschwellen lässt. Laufen ist auch keine Option mehr. Mein linkes Knie pocht wie wild, jede Belastung verursacht mir Ohnmachtsgefühle vor Pein. Außerdem dreht mir die Panik den Magen um. Der Brechreiz gewinnt immer stärker an Boden. Das ficht meine Peiniger nicht an. Der Blinde schiebt mich vorwärts, eine Hand in meinem Nacken, während der Alte mit der Laterne den Abschluss bildet. Wir stoßen auf ein Munitionslager, wie Sano es ebenfalls entdeckt hat. Und eine Menge verborgener Fallen, wie der Alte vermutet. Er studiert sie im Lichtschein, während der Blinde ebenfalls die Umgebung untersucht, bevor er mich an eine Wand presst, seinen Unterleib gegen meinen reibt. Ich kann diese widerliche Fratze eines geölten Fatzkes nicht ertragen, wende den Kopf ab, möchte am Liebsten um Hilfe schreien, egal, wie sinnlos das ist. "Weißt du, ein richtiger Mann hat auf dem Schlachtfeld einen Ständer." Informiert er mich mit seinem schmierigen Grinsen. Ich würge krampfhaft, was mich nicht erlöst. Der Blinde dirigiert mich auf die in wasserfestes Tuch eingeschlagenen Kisten zu. "Mach es, wie wir es sagen, sonst bist du dran!" Faucht der Alte neben mir. Anweisungen hageln auf mich ein. *~i~* Ich musste nicht erst auf die Sirenen warten. Da sich der Lärm und die Salven von Maschinengewehrfeuer unserem Anwesen nähern, bin ich entschlossen, eine unmissverständliche Botschaft abzusenden. Mit der Geländemaschine schlängele ich mich mühelos durch Absperrungen und Menschenansammlungen, entschlossen, über die Brache hinterrücks in das Viertel zu filtrieren. Ich höre es in meiner direkten Nähe, dumpf, aber unverkennbar: die Explosion einer Handgranate. *~i~* Die minimalen Schockwellen sind ein sicherer Indikator. Außerdem kenne ich das Gelände, könnte mich mit geschlossenen Augen hindurch bewegen. Verborgene Zugänge, Keller, Tunnel: ein reizvolles Prickeln bemächtigt sich meines Körpers, erregt mich. Es ist schon zu lange her. Ich habe es vermisst: die Jagd. *~i~* Ich ersticke. Staub überall, verklebt mein Gesicht, Augen, Nase, Mund. Ein hoher Ton in meinen Ohren, stetig, quälend. Eine gewaltige Last, die meinen Brustkorb zerdrückt. Da war noch ein Bindfaden gewesen... *~i~* Der Gang ist eingestürzt, Backsteine, Mörtel, Verputz. Eine Staubwolke löst sich nur langsam in der brackigen Luft, senkt sich nieder. Mit der Stablampe erkenne ich einen zerschmetterten Leib, steige achtlos über ihn hinweg. Unter einem größeren Trümmerberg, Hände, fein manikürt. Als ich einen Brocken anhebe, zeigt sich, dass der Besitzer ein gutes Stück von seinen ehemaligen Gliedmaßen entfernt ist. Sie stehen auch nicht mehr alle in Zusammenhang. Ich spüre eine Regung, eine leichte Störung in meiner Wahrnehmung, zerre die verstümmelte Leiche auf die Seite. Kamatari... *~i~* Ich könnte mich auf einen weiteren Zweikampf mit Enishi einlassen. Das ist nur die letzte Option. Der Kerl scheint in seinem Wahnsinn Kräfte mobilisieren zu können, denen ich unterlegen bin. Also verliere ich keine Zeit, springe auf ein anderes Vordach, klettere, renne, lasse mich herunter, bis mir die Dächer ausgehen, das Dach der großen Sporthalle meine letzte Station ist. Irgendwo müssen Sprossen sein, irgendein zweiter Fluchtweg! Enishi steht bereits am anderen Ende des Dachfirsts. Sein triumphierendes Lachen dringt zu mir herüber. "Wo ist meine Maus?" Flüstert er mit manischem Grinsen, pirscht sich an, tänzelt, als ginge er nicht auf einem schmalen Grat des gewölbten Dachs, sondern auf dem Broadwalk. Ich balle meine Fäuste. Nun muss ich kämpfen, mir bleibt keine andere Wahl. *~i~* Unter Staub und Blut lege ich Kamataris Gesicht frei, taste seinen Körper ab. Seine Kleidung besteht nur noch aus Fetzen. Das linke Knie hat die Größe einer Melone angenommen. Überall sind Schürfwunden, an seinen Beinen die eingetrocknete Spur von Samenflüssigkeit, aber er lebt. Ich hebe ihn auf die Arme, steige über die Trümmer und Leichen hinweg, rieche den beißenden Geruch von Schwarzpulver. Sie werden wiederkommen, in diese Gänge unter den leeren Häusern. Was kann es schaden? Es reicht aus, meine Beute auf das Pflaster zu legen, den Zugang von der anderen Seite zu wählen, eine Granate in das Lager zu schleudern. Während die Explosion das nahe Viertel in konzentrischem Kreis durchläuft, mich eine Hitzewelle nachdrücklich erfasst, marschiere ich auf meine Geländemaschine zu, hebe meinen bewusstlosen Liebhaber vor mich auf das Motorrad, balanciere mein Gewicht aus, bis ich ihn halten und steuern kann. In Kürze wird es auch hier vor Sicherheitskräften wimmeln. Höchste Zeit, sich wieder in die Schatten zu begeben. *~i~* Gegen einen Mann mit einem Fahrtenmesser anzutreten ist nur empfehlenswert, wenn man kein Ass mehr im Ärmel hat. Meinen Ärmel hat der Mistkerl bereits aufgeschlitzt. Enishi verlässt sich nicht etwa auf die scharfe, lange Klinge. Nein, er tritt und boxt. Ich will gar nicht wissen, woher diese Technik stammt. Mein Leben zu verteidigen hat im Augenblick die einzige Priorität auf der Liste. Ich wehre ab, trete, brülle, attackiere, ringe um mein Gleichgewicht. Er hält mit! Treibt mich immer weiter auf das Ende des Dachfirsts zurück. Mittlerweile sind meine Ellen blutig, ebenso meine Schienbeine. Eine Hüfte ist aufgeschnitten. Die Fläche unter unseren Füßen wird rutschiger, meine Turnschuhe im Nachteil gegenüber seinen dünnen Sohlen in den chinesischen Schlappen. Ein Moment der Unsicherheit, meine Rechte noch zur Abwehr ausgestreckt: sein Messer rammt mitten in meine Handfläche. Er treibt es bis zum Heft hinein. Der Schock ist so stark, dass ich keine Schmerzen spüre, nur perplex innehalte. Da habe ich ihn doch glatt entwaffnet...! Der Augenblick vergeht. Enishi stürzt auf mich zu. Ein Schuss versengt die Dachplatte zwischen uns. "Sano!" Kenny?! *~i~* Man benötigt einiges an Geschick, einen Verletzten auf einer Geländemaschine zu transportieren. Mir gereicht Kamataris Schockzustand zum Vorteil. Steif verharrt er in katatonischer Einkehr, bis ich die Garage erreiche, ihn an der Hüfte umfasse, mit gewisser Mühe herunterhebe, auf einer Motorhaube absetze. Zusammengekauert in meinen Armen befördere ich ihn in den ersten Stock, in das Badezimmer, lege ihn in der Dusche ab. Ich streife mir den Overall ab, bevor ich die wenigen Reste seiner Bekleidung von seinem Körper pflücke, mit dem sanftesten Brausestrahl die verklebte Schicht von Dreck, Staub und Blut abspüle. Sein Blick geht noch immer ins Leere. Wenigstens verfällt er nicht in hysterische Panik oder hyperventiliert. Nach dem ersten Abtasten seines gemarterten Leibs bin ich überzeugt, dass er keine inneren Verletzungen oder Knochenbrüche erlitten hat. Allerdings muss seine Schulter behandelt werden. Von dem Knie ganz zu schweigen. Ohne dass es einer Aufforderung bedarf, erscheint Okina, der alte Fuchs, übernimmt die medizinische Versorgung, während ich mir Hose und Rollkragenpullover überziehe, in der Garage die Maschine abspritze und die Motorhaube reinige, um jede Spur zu tilgen. Overall und Kamataris rudimentäre Bekleidung verbrennen im Heizkessel des Haupthauses. Okinas Blick spricht Bände, als ich zurückkehre, Kamatari vom Boden der Dusche auflese, auf Handtüchern in meinem Bett ablege. Seine schöne Haut, diese marmorne Perfektion, soll nicht mit hässlichen Narben entstellt werden: ich beginne damit, Vaseline aufzutragen, die behandelten Stellen in feines Leinen einzuschlagen, mit Klebestreifen zu befestigen. "Wird jemand nach ihm suchen?" Auf Kamataris fahles Gesicht konzentriert, das angeschwollen ist von Misshandlungen, bescheide ich Okina, dass ich das regeln werde. Er geht, hinterlässt einen Air von Missfallen. Ich kann jede Wunde mit meiner Aufmerksamkeit bedenken, die langen Haare säubern, die Dosis von Schmerz- und Betäubungsmitteln festlegen. Der große Schlaf hat gerade erst begonnen. *~i~* Das Blatt wendet sich in Sekundenbruchteilen. Kenny auf dem Vordach der Halle: die flammenden Haare fliegen elektrisiert um seine zierliche Gestalt. Die Waffe in seinen Händen, ein Gewehr, zielt ungerührt, ohne Zittern auf uns. Auch Enishi verändert sich, starrt hinunter. Wo sich Augenblicke zuvor noch ungezähmter Hass und Mordlust exaltiert gebärdet haben, ist konzentrierte Stille eingekehrt. Mit einem Ruck, Kenny unverwandt anvisiert, reißt er seinen Gürtel herunter. Die wie eine Peitsche geschleuderte Schnalle trifft mich punktgenau über der Nasenwurzel an der Stirn. »Scheiße!« Fährt es durch meine aufgewühlten Sinne, als ich reflexartig zurücktaumle, weniger Boden unter den Füßen als Leere finde und rücklings vom Dach hinabstürze. *~i~* Catch my fall (Billy Idol) I have the time so I will sing yeah I'm just a boy but I will win yeah Lost song of lovers fellow travelers yeah Leave me sad and hollow out of words It could happen to you so think for yourself If I should stumble Catch my fall yeah If I should stumble Catch my fall Catch my fall If I should stumble Catch my fall If I should stumble I've traveled and unwound my own truth yeah I've laid my head on the rock of youth yeah i've trusted and then broken my own word Just to keep me free in this mad, mad word It could happen to you so think for yourself If I should stumble Catch my fall yeah If I should stumble Catch my fall Catch my fall It could happen to you so think for yourself If I should stumble won't you catch my fall yeah If I should stumble catch my fall yeah If I should stumble would you catch my fall If I should stumble catch my fall *~i~* Kapitel 15 - Faustpfand Auf eines kann man sich bei dem rothaarigen Spitzel verlassen: seine Zielgenauigkeit und sein Ungeschick! Der dämliche Streithahn fällt in malerischem Bogen vom Dach der Sporthalle. Bis zum Boden ist es ein kurzer Flug mit einer harten Landung. Glücklicherweise für ihn bin ich nicht einer dieser stümpernden Vollidioten, die sich kopflos in Aktionen stürzen. Während die beiden juvenilen Idioten auf dem Dach ihren Pas de deux aufgeführt haben, konnte ich in aller Ruhe das Schloss des Lagers manipulieren, einen Wagen mit Matten entnehmen, sie strategisch versiert auslegen, in ausreichender Höhe und Menge. Zusammengekordelt mit Springseilen lindern sie den Aufprall des fluguntauglichen Kampfhahns. Er wird es wohl überleben, was mir Papierkram erspart. Rasch umrunde ich das Gebäude, halte nach Enishi Ausschau. Wie gewohnt, wenn man mit kurzfristig angeheuertem Personal agieren muss, ist er entkommen. Vielleicht nicht ganz ohne die Beteiligung des Rotschopfs, der vor meinen Augen seine abstoßende Verwandlung vollführt, zum besorgt-hilflosen Hausmeister wird. Mit einem Zungenschnalzen entlasse ich ihn, kehre um, sammle den ausgeknockten Punk ein. Ich will für ihn hoffen, dass er nicht auf die Idee kommt, meinen Wagen zu verdrecken. Sonst wird er mich kennenlernen! *~i~* In meinen Ohren echot der Refrain immer wieder "if I should stumble, catch my fall", unterbrochen von statischem Knistern eines Funkgeräts, Detonationen, Sirenengeheul. Alles ist dunkel, eine weiche, wollige Finsternis. Mir fehlt die Luft. Es reicht gerade, Schmerzen zu empfinden, die sich wirklich von den Zehen bis zu meinen Haarspitzen bewegen. Ich bin in Sicherheit. Mein Instinkt beruhigt mich, auch wenn ich den Kontakt zur Gegenwart verloren zu haben scheine. Jemand hat meinen Fall gebremst, mich aufgefangen. *~i~* Ich habe Hajime bereits erwartet, als er mit seinem "Mitarbeiter" eintrifft, mir den hübschen Streithahn auf den Tisch lädt, ein Pfefferminz einwirft, wohl, um mir etwas zu beweisen. Er verschwindet wieder. Allerdings ist der Geräuschpegel aus dem Nachbarviertel nicht zu überhören. Bald ist zweifellos die gesamte Stadt in Aufregung, bei den kriegsähnlichen Zuständen, die über Funk hereinkommen. Offenkundig verteidigen sich die Gangmitglieder mit allem, was ihnen zur Verfügung steht. Sie sind gut ausgerüstet. Explosionen, Sperrfeuer, Granaten: selbst in der Nacht kann man die aufsteigenden Rauchsäulen am Firmament abgezeichnet sehen, in gespenstische Szene gesetzt von den Signalleuchten. Brummend, seine Benommenheit abschüttelnd will sich Sanosuke aufsetzen. Ich drücke ihn wieder auf die Platte zurück. "Lass mich erst mal deine Hand verbinden." Lächle ich zu ihm hinab, studiere konzentriert die von Hajime geschickt eingepackte Verbindung Hand-Fahrtenmesser. Vermutlich ein Beweisstück. Deshalb der Plastikbeutel am Griff. *~i~* Ich bin fast dankbar dafür, dass mich der Kumpan von diesem verfluchten Bullen zurückhält. Mir fehlt immer noch die Luft, um tiefer als einen Wirbel in meinen Brustkorb zu atmen. Ich bin wohl ziemlich hart gelandet. Die Augen geschlossen sammle ich meine verstreuten Gedanken: - ich bin Enishi entkommen wie ein echter Streithahn. An der Landung muss ich dafür noch ein wenig arbeiten. - der Bastard-Cop hat mich bei seinem Quacksalber abgeladen, was bedeutet, dass ich aus der Gefahrenzone... "Wo ist Kama?" Schraube ich mich hoch, kippe zur Seite ab, weil der Kerl meine Rechte in der Kur hat, in der noch immer Enishis Messer steckt. Uuuuuuhhhh... Mein Magen saltiert gepflegt. Irgendwie hat dieser Anblick doch etwas Verstörendes. "Bitte bleib liegen." Drückt mich Fujitas Ex nieder. "Es geht schneller voran, und wir können uns vis-a-vis unterhalten." Er zwinkert mir gouvernantenhaft zu. Buärks! Er hat widerlicher Weise recht. Da ich außer ihm keine andere Person sehe, ist bereits klar, dass der Terror-Bulle Kama nicht aufgelesen hat. Ist er entkommen?! »Ich muss Kaz anrufen!« Fährt mir ein weiterer Schreck in die Glieder. »Er wird sicher vor Sorge verrückt!« Aber der Kerl lässt mich einfach nicht aufstehen! Da mir keine Alternative ihr Antlitz bietet, heißt es, liegen bleiben, artig den Anweisungen dieses Pferdedoktors folgen, während die Kakophonie der Unruhen an mein Ohr dringt. Auch hier knistert statisch eine kaum zu dekodierende Sprache an mein Bewusstsein: Polizeifunk. Einmal ein Bulle, immer ein Bulle. Einige der Codes erkenne ich. Sie bedeuten nichts Gutes: bewaffneter Angriff auf einen Beamten, Widerstand gegen den Gewahrsam, Beamter verletzt... "Sie haben wohl ein Waffenarsenal ausgehoben." Bricht mein Foltermeister mit seiner sanften, nervtötend freundlichen Stimme in meine Gedankengänge. "Es hat Explosionen gegeben, unter leerstehenden Gebäuden in der Nähe des Abrissviertels." Versorgt er mich ungefragt mit Details. Ich fühle, wie mir das Blut in den Adern stockt. Von einem Augenblick zum nächsten wird mir eisig kalt. Kama sollte in die Tunnel flüchten. "Ich muss telefonieren." Entziehe ich meine Hand dem Verpackungskünstler, setze mich mit zusammengebissenen Zähnen auf. "Das kann ich nicht gestatten." Entgegnet er mit seiner widerlich nachsichtigen Liebenswürdigkeit, fasst mich an der Schulter. Ich schüttele ihn ab. Mein Triumph währt nur kurz. In der Drehung rammt er mir eine Spritze in den Hintern, mit Präzision und gleichzeitigem Eindrücken des Kolbens. Mein Protest fällt mager aus, eher ein Lallen. Meine Glieder werden alle schwer, meine Augen schließen sich. Mein Bewusstsein stellt den Betrieb ein. Licht aus. *~i~* Hajime trifft im Morgengrauen ein, so unbeeindruckt von dieser Nacht wie gewohnt, die Haare sorgsam zurückgekämmt, Anzug und Mantel makellos. Allein das Funkeln in seinen Wolfsaugen, ein schwefliges Feuer in äonenaltem Bernstein, verheißt nichts Gutes. Er begutachtet ohne Regung den tapferen Streithahn, bevor er einen Kaffee akzeptiert, mich mit den wesentlichen Neuigkeiten versorgt. Wie von uns bereits vermutet haben die Triaden über ihren Sektionschef, diesen Enishi Yukishiro, den Mumienmann vor Ort mit Waffen und Sprengstoffen versorgt. Der bezahlte mit erpressten Schutzgeldern und den Einnahmen diverser Kneipen und Spelunken, wollte sein Territorium ausbreiten, selbst Herr im Revier sein. Also ein Tipp an die Polizei, damit Enishis Läden auffliegen, während die Laufburschen des Mumienmannes die Gelegenheit nutzen, um die geheimen Lager auszuplündern. Klar, dass die lokalen Polizeikräfte überfordert waren. Selbst die D.E.A. hätte Schwierigkeiten gehabt bei der unübersichtlichen Lage. Durch Kompetenzrangeleien war sie gar nicht einbezogen, ebenso wenig wie das ATF und diverse andere Sonderkommandos. Jetzt hat man aufgebrachte Steuerzahlende, viele Verletzte auf beiden Seiten, niedergebrannte Häuser und einige Tote zu beklagen. Von Enishi fehlt jede Spur. Lediglich ein paar seiner Leute wurden aufgelesen, die meisten erschossen, Mörder noch unklar. "Es ist noch nicht vorbei." Hajime rührt in seinem Kaffee. Hinter seinen dünnen Lippen blecken die scharfen Zähne auf, die viel zu oft an ein Wolfsgebiss erinnern. Den Mumienmann werden die Triaden jagen, wenn er nicht eine der verkohlten Leichen ist. Enishi ist noch lange nicht am Ende. Die Ereignisse von vor zehn Jahren wiederholen sich. Mir gefällt der Gedanke nicht, den wackeren Streithahn als Unterpfand zu benutzen. Hajime wischt meine Einwände resolut zur Seite. "Er hätte diese Risiken nicht eingehen müssen, genauso wenig wie dieser Boy George-Verschnitt. Aber er HAT." Seine Bernsteinaugen ziehen mich sogartig wie Sirenengesang in die Untiefen dahinter hinab. "Er hat aus eigenem Antrieb gehandelt." "Er ist noch ein Kind, Hajime." Widerspreche ich hilflos, auf geschlagenem Posten. "Tsktsk!" Schnalzt er tadelnd, erhebt sich geschmeidig und elegant. "Werde nicht sentimental, Souji. Dieser Punk dort ist schon lange kein Kind mehr. Er wird es aushalten müssen." Sein hageres Gesicht studiert für Sekunden die betäubte Gestalt. Meine Gänsehaut hält noch an, als Hajime bereits von meinem Grundstück verschwunden ist. Unermüdlich, alert, stets auf der Höhe der Situation. Früher hätte ich ihn nicht gehen lassen, ohne dieser Spannung einen harten Infight folgen zu lassen. Heute verschreckt mich seine unbarmherzige Kälte. Wahrscheinlich hat er recht, der letzte, stärkste, gerissenste unseres Wolfspacks: ich bin zu weich geworden. *~i~* Ich verfolge über Fernseher und Radio die Nachrichten, warte angespannt auf ein Zeichen von Sano oder Kama. Nichts. Selbst auf der Toilette lasse ich die Tür offenstehen, um keinesfalls ein Läuten zu verpassen. Nichts erlöst mich aus dieser qualvollen Ungewissheit. Man zieht verkohlte Leichen aus eingestürzten Trümmern. Selbst hier scheint die Luft giftig von Rauchgasen und Tod. Listen mit Verletzten werden von den Krankenhäusern veröffentlicht, Fahndungen bekannt gegeben. Man glaubt sich in einem Krieg. Ich bringe nichts herunter, würge selbst an Wasser, als könnte es sich trügerisch harmlos im nächsten Moment in Schwefelsäure verwandeln. Keine Nachricht, nichts. Verzweifelt genug rufe ich den ehemaligen ATF-ler an, der Sano als Mittelsmann dient. Auch hier Fehlanzeige, obwohl ich das Gefühl habe, dass der Mistkerl mich belügt. Was soll ich tun? Mir bleibt nichts als Warten. Erneut warten. Darin bin ich ja gut, nicht wahr? Immerhin hatte ich die letzten zehn Jahre dazu Gelegenheit. *~i~* Die Dosierung der Schmerzmittel mit einem Schlaftrunk erweist sich als segensreich: Kamatari erholt sich schneller als erwartet. Obwohl Okina seine Missbilligung wenig verkleidet, sage ich sämtliche Termine ab, versorge mein haselnussäugiges Spielzeug selbst, salbe seine samtige Haut, verbinde Schulter und Knie. Ich lege auch den Tropf selbst, der als Nahrungsersatz dient, kämme seine Haare, wickle ihn in das Nougat-farbene Trägerhemd, das so außerordentlich perfekt mit seiner Schönheit harmoniert. Bald wird sich die Gelegenheit bieten, Schulden einzutreiben. *~i~* Mein Schädel brummt, als habe sich darin eine Combo fürchterlich untalentierter, aber eifriger Schlagzeuger niedergelassen, übe nun für das Einläuten des Weltuntergangs. Einige Zentimeter tiefer verwandelt sich meine Zunge in eine Flusenzuchtstation. Sie fühlt sich zumindest so an. Wenn meine Kehle nicht staubtrocken wäre, könnte ich locker aus dem Stand die untersten Gefilde meines Magens ausleeren. Kurz und miserabel: ich bin außer Gefecht. Manchmal höre ich den verfluchten Cop aus der Hölle sprechen. Dann wieder Polizeifunk, Musik, melodische Glöckchen eines Ladens: ein Potpourri an unterschiedlichsten Geräuschen. Wenn ich mich nur rühren könnte! Kaz und Kama spuken in meinem Kopf herum, bis ich mich zwinge, sie in den Hintergrund zu schieben, weil der Kopfschmerz infernalische Dimensionen annimmt. Ich verstehe mich nicht auf Gebete, aber im Augenblick scheint es wohl das einzige zu sein, das ich bewerkstelligen kann. *~i~* Meine Welt ist klein, von überwältigender, alles umfassender Hitze geprägt. Dunkel mit wenigen, bläulichen Schimmern. Ich taumele wie im Fieber zwischen Wachperioden und nahezu bewusstlosem Schlaf. Aoshi ist immer da, wenn ich mühsam die Lider hebe. Verborgen hinter den schweren Strähnen verfolgt mich sein eisblauer Blick. Wir sind wohl in seinem Zimmer, wenn ich die Beleuchtung durch die verborgenen Konsolen richtig einschätze. In seinem Bett. Seine Hände sind stets auf meiner Haut. Ich spüre ihn neben mir, nackt, ohne Abstand, ohne persönlichen Freiraum. Er verbindet mich, füttert mich, trägt mich, streift mir die seidigen Hemdchen hoch und assistiert mir beim Wasserlassen: ich bin wirklich nur eine Puppe. Ein Spielzeug, das er nicht freigibt. Mit jedem Augenblick, den ich mir erkämpfe, um meine betäubten Gedanken zu ordnen, mich der Wirkung seiner Drogen widersetze, fokussiert sich meine Sorge um zwei Menschen: Sano und meine Großmutter. Hier, in diesem zeitlosen Gefängnis aus Dunkelheit, seidenglatten Laken und seinem allgegenwärtigen Körper verliere ich rapide den Bezug zu den Ereignissen, zur Realität. "Wo ist Sano?" Würge ich wie eine zerkratzte Platte matt hervor, mir vage bewusst, dass ich das Folgende, Unausweichliche, selbst provoziere. Dass er mir nicht antwortet, sondern seine Hände über meine Haut streichen, die Trägerhemden lupfen, meine Beine spreizen. Er ist geschickt, erfahren, mein Körper zu schwach zum Widerstand, versengt von diesem seltsamen Fieber. Ich kann nicht sagen, wie oft ich aufwache, nach Sano forsche und er mit mir schläft. Vielmehr in mich eindringt, mit rhythmischen Stößen jeden klaren Gedanken tilgt, bis ich nicht mehr ausrichten kann, als die Fingernägel in seine Schultern zu graben, gegen eine weitere komatöse Ohnmacht anzukämpfen. Ich verliere alles. Selbstachtung, Mut, Vertrauen. Meinen Lebenswillen. *~i~* Gegen Abend schleicht sich der verdrehte Cop ein. Im wahrsten Sinne des Wortes, er wächst förmlich vor mir aus dem Boden. Ohne ein Geräusch, ohne Schatten. Wirklich gruselig. In seinem Atem schwingt das Aroma von Lakritz, schwer und doch nicht zu süßlich. Ich starre ihn an, will ihn hassen, anbrüllen, anklagen. Bleibe stumm, von diesen unheimlichen Augen in den Bann geschlagen. Er weiß mehr, als er jemals aussprechen wird. Wusste er von Shishios Plänen? Hat er mich etwa ins Verderben rennen lassen? "Sieh zu, dass du auf die Beine kommst. Dein Job ist noch nicht erledigt." Grollt er knapp, inspiziert ungefragt meine rechte Hand. In den Fingerspitzen prickelt es unangenehm, aber ich bin froh, sie wenigstens noch fühlen zu können. Bis ich meine Hand wieder gebrauchen kann, wird es eine lange Zeit dauern. "Wo ist Kama?" Frage ich in ruhigem Ton. Seltsam, ich fühle mich gar nicht disponiert, den Straßenkämpfer herauszulassen. Hier, mit ihm, ist es so, als befänden wir uns in einer wichtigen Operation. Zwei Männer, die eine Mission zu erfüllen haben, gleichberechtigt, erfahren. Lächerlich, ich weiß. "Dein kleiner Betthase ist nicht aufzufinden." Ein sardonisches Lächeln kräuselt seine dünnen Lippen. Ich vergesse meine neuentdeckte Verbundenheit, fauche ihn wutschnaubend an. "Was ist daran so lustig, hmm?! Wollen Sie etwa behaupten, Mr. Wise-Ass-Cop, Sie vom gelobten ATF wüssten nicht, wo er steckt?! Das ist doch Bullshit!!" Detoniere ich mit lautem Gebrüll. "Das habe ich nicht gesagt." Versetzt er amüsiert, lässt meine Hand wie Abfall fallen. Ich ringe mit mir selbst um Beherrschung. Dieser selbstverliebte, arrogante, manipulative Scheißkerl wird mir nie entgegenkommen, wenn ich nicht nach seinen Regeln spiele. "Bitte." Ich atme mit geschlossenen Augen tief durch. "Wo ist Kama? Ist er in Sicherheit?" Bemühe ich mich angestrengt um einen konzilianten Tonfall. "Es gibt nichts, was du für ihn tun kannst." Lautet die kryptische Antwort, die mich keineswegs beruhigt. Fujitas Diktion ist eindeutig: das Auskunftsbüro ist geschlossen. "Darf ich meinen Bruder anrufen?" Versuche ich mich auf einem anderen Pfad. "Nein." Ich würge in ohnmächtiger Frustration an den Worten. "Was muss ich noch tun?" Er beugt sich zu mir herunter, nimmt mich ganz in den Fokus seiner flammenden Bernsteinaugen. Ein kaltes, wölfisches Lächeln auf den hageren Zügen. "Du wirst die kleine, weiße Maus sein, mit der ich die tollwütigen Ratten jage." *~i~* Ich traue meinen Augen kaum. Die Szene ist einfach nicht von dieser Welt: Hajime Saitou, der Wolf, der Jäger, der unbeugsame, schmutzige Held sitzt auf der schmalen Pritsche, verabreicht dem schönen Streithahn die Spritze mit dem Schlafmittel. Er hält seinen Arm am Ellenbogen, ohne dass sich der Punk wehrt, setzt die Injektion mit solchem Geschick, ohne Zögern. Kein Widerspruch, keine Rangelei. Merkwürdig, unglaublich sogar. Es dauert einige Zeit, bis die Wirkung Sanosukes Willenskraft überwältigt. Hajime bleibt neben ihm, lässt ihn gewähren, sogar, dass der wilde Straßenkämpfer sich mit der Linken an seinem Ärmel festhält, wie ein Kind bei der Mutter. Man kann Vieles über Hajime sagen, aber diese direkte Form von Fürsorge ist wirklich untypisch für ihn. Eher kaut er Lakritze, als in meiner Gegenwart zu rauchen. Er gibt einfach keiner vermeintlichen Schwäche nach. "Hör auf, den Türpfosten abzustützen, Souji." Ermahnt er mich ungerührt, kühl. "Es ist noch Einiges vorzubereiten." Die Nacht wird lang werden. In ihrem Verlauf erkenne ich erneut, dass ich den Wolf nie wieder auf mein Lager locken werde können. Hajime Saitou ist so hart und brillant wie ein Diamant selbst. Gnadenlos perfekt. Kalt. *~i~* Der Morgen beginnt mit einem opulenten Frühstück. Zu meiner Überraschung habe ich gewaltigen Appetit. Während sich der Pillendreher an einer Schale Müsli festhält, vertilge ich Pfannkuchen mit Sirup, Eier mit Speck, überbackenen Toast mit roten Bohnen. Vielleicht meine Henkersmahlzeit. Mein Gegenüber ist schweigsam, lächelt in sich gekehrt in sein Körnerfutter. "Wieso Hajime?" Überfalle ich ihn mitten in der Tiefe seiner Meditation über Haferflocken. Er grinst wie ein Sphinx, schlürft einen vermutlich selbst gepressten Orangensaft. Natürlich, jetzt versiegt seine übliche, belanglos säuselnde Quasselei! Ich brauche seine Antwort nicht. Wenn ich es schaffe, der Plan gelingt, hole ich mir die Antwort von "Hajime" selbst. Alle Antworten. *~i~* Ich traue meinen verklebten, Trauer umflorten Augen nicht, als Sano in der Tür steht. Seine Jacke ist nun eine Weste, zumindest fehlen die Ärmel, die Jeans ist neu, die Turnschuhe ebenso. Um die rechte Hand wickeln sich mehrere Lagen Verbandstoff. Aber es ist Sano. Sano!! Ich weiß nicht, ob ich schreie, heule oder lache. Ich falle um seinen Hals, drücke ihn so fest an mich, als könne ich mir nicht anders versichern, dass mein verrückter, tollkühner Halbbruder wieder vor mir steht. Am Leben ist, nahezu unversehrt. "Ich hab dich auch vermisst, Kaz." Wispert er an mein Ohr, erwidert meine stürmische Umarmung ebenso eng. *~i~* Ich tue das, was ich am Meisten verabscheue. Die Notwendigkeit ist zwingend: ich belüge Kaz und Kamas Großmutter. Während ich meinem Bruder weismache, dass alles in Ordnung ist, erzähle ich der alten Dame, dass Kama bei seinem Freund untergebracht ist, sich sicher melden wird. Ist Kama wirklich bei Aoshi? Ich kann es nur hoffen. Angespannt sitze ich die wenigen Unterrichtsstunden ab, spüre erstaunlicherweise meine Verletzungen kaum. Der Quacksalber hat wohl doch Talent. Die Schule wie auch die angrenzenden Viertel sind mit Polizeikräften überschwemmt. Kontrollposten sind aufgezogen worden, alles, damit sich die rechtschaffene Nachbarschaft nicht bedroht fühlt. Von der Schule aus beobachte ich ebenso wie meine Mitschüler, wie durch die Explosionen einsturzgefährdete Bauruinen eingerissen werden, Bulldozer alles niederwalzen. Ob die Polizei schon das Labyrinth der Gänge erkundet hat, alle Lager gefunden? Ich warte. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. *~i~* Der junge Mann, das winzige Bündel Leben, schläft nahezu ununterbrochen. Vielleicht eine letzte Gnade. Es ist schwer abzuschätzen. Ich weiß nicht, wie es Hajime gelingt, in solche Wespennester einzusteigen, unter den Augen von geschulten Mördern und Verbrechern wieder unbehelligt herauszuspazieren. Er kann es. Eine Ein-Mann-Armee. *~i~* Kamatari schläft. Er ist schön, nahezu perfekt, trotz der Wunden, des verletzten Knies. Ich habe seine prachtvollen Haare von dem lächerlichen Ballast befreit, den er eingeflochten und -gebunden hat. Sie fluten in glänzenden Wellen über seine nackte Haut. Die Lust, in ihn einzudringen, mit meinen Händen seinen Körper zu brandmarken, verspüre ich immer, kompensiere sie, bis er erwacht, nach seinem Freund fragt. Bin ich rachsüchtig? Ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle. Es geht nicht um ihn. Der letzte Akt dieser Farce steht bevor. Der Zweck heiligt die Mittel. *~i~* Das Ende dieses Schultags im Belagerungszustand ist erreicht. Ich warte auf Kaz, der nicht davon abzubringen war, mich selbst aufzulesen, in seiner geliebten Lady nach Hause zu kutschieren. Eigentlich wäre ich lieber allein. *~i~* Die Nacht verläuft ruhig. Eine angespannte Stille. Hajime ist abgetaucht. Das kann nur bedeuten, dass er weitere Spuren verfolgt, langsam die Schlinge zuzieht. Nur eine Frage der Zeit, wann seine kunstvollen Fallen zuschnappen werden. Ich versorge meinen "Gast" nach bestem Wissen. Allerdings ist es nicht mehr viel, dass ich bewirken kann. Es wäre wirklich schön, die Idylle leben zu können, für die wir damals unermüdlich gekämpft haben... *~i~* Ich wache auf, noch vor dem Morgengrauen, wie gewohnt, studiere im fahlen Schein der verdeckten Leuchten sein Gesicht: die langen Wimpern, die lasziv aufgeschwungenen Lippen. Bevor mich die Versuchung überkommt, wechsele ich in mein Badezimmer hinüber, dusche kalt, kehre zu ihm zurück, um Verbände auszutauschen, sein Knie zu kontrollieren. Er stöhnt leise, bewegt sich unkoordiniert, verlangsamt, noch in Schlaf gehüllt. Ich warte, geduldig wie ein Adler auf Beute, bis er die Augen aufschlägt, ihr Haselnuss einen grünen Stich unter dem indirekten blauen Licht bekommt. Er realisiert, was ihn erwartet. *~i~* Ich bin wach. Kein Weg zurück. Ich versuche, meine Arme zu strecken, mich wenigstens auf die Ellenbogen aufzustützen. Ich bemerke, neben Aoshis kaltem Raubvogelblick hinter dem Eisernen Vorhang der Strähnen, dass er meine Zöpfe samt und sonders aufgelöst hat. Mit hüftlangem, offenen Haar und dem Trägerhemdchen muss ich wirklich wie ein Mädchen aussehen. Ohne Brüste, zugegeben. Ich weiß, was kommt, als er in routinierter Übung den Seidenstoff über meine Hüften schiebt, mich auf die Matratze pinnt. Er hat mich kein einziges Mal geküsst, meinen Namen ausgesprochen. Überhaupt das Wort an mich gerichtet. Stattdessen wie einen Säugling gefüttert, mir den Hintern abgewischt, mich gewaschen, angezogen, ausgezogen. Und gefickt. Plötzlich treten mir unwillkommene Tränen in die Augen. Der vulgäre Begriff umfasst genau das, was mir geschieht, seit er mich aus den Trümmern gezogen hat: er fickt mich, ohne Gefühle, ohne innere Beteiligung, nur Triebentfaltung und Zurückweisung. Ich will nicht vor ihm heulen, will mir wenigstens einen letzten Rest an Selbstachtung bewahren. Ich habe nicht mehr die Kraft, schluchze, obwohl ich kaum Luft zum Atmen habe, klammere mich an ihn, seinen Körper, der mir so vertraut ist, mit seinen Narben, seiner Mondscheinblässe, der gewaltigen Kraft und Geschmeidigkeit. »Hör auf! Hör auf!« Meine geballten Fäuste klopfen hilflos auf seine Schulterblätter, als er sich aufrichtet, intim mit mir verbunden, sich mit gekreuzten Beinen hinsetzt, ohne seine harten Stöße auch nur um Wimpernschläge zu verzögern. Das bin ich also für ihn: eine Maschine zur Körperertüchtigung. Ein nettes Spielzeug, das er für sich nun auch passend verwandelt hat. Den Körper eines Mannes, aber das Aussehen einer Frau, hinter langem Haar verborgen, unter seidigen Hemdchen versteckt. Ich hasse ihn und mich, schlage die Zähne tief in seine Schulter, lasse nicht mehr locker. Es tut so weh, dass ich glaube, daran zu ersticken. *~i~* Kamatari bleibt stumm, als ich ihn abwasche und anziehe, in einen bronzefarbenen Hausanzug aus Pimawolle. Die Tränenspuren werden überpudert, seine Haare durchgekämmt. Ich nehme ihn auf die Arme, so schwarz und unauffällig wie gewohnt. Vorhang auf zum letzten Akt. *~i~* Kaz und ich übertreffen uns beinahe beim Frühstücken. Die Anspannung der letzten Nacht zeigt Wirkung: wir lachen zu laut, zwinkern zu häufig. Wenn wir in einem Wald wären, könnte man vor schrillem Pfeifen keinen anderen Laut mehr vernehmen. Die Fahrt zur Schule geht an mehreren Posten vorbei, ohne Zwischenfälle. Ich steige aus, verabschiede mich von Kaz mit aufmunterndem Winken. So weit, so gut. *~i~* Ich weiß, dass Aoshi etwas plant, etwas Diabolisches. Obwohl es nicht kalt ist, friere ich auf seinen Armen, schäme mich dafür, dass er mich wie einen Invaliden, oder seine jungfräuliche Braut, trägt, ich auf seinem Schoß sitzen muss. Das Zimmer ist klein, intim eingerichtet, für informelle Mahlzeiten gedacht und für drei Personen gedeckt. Offenkundig war meine Anwesenheit nicht eingeplant. Wenigstens gibt Aoshi nicht vor, der turtelnde Liebhaber zu sein. Er bestreicht Toastbrot mit Marmelade, bedrängt mich nonverbal abzubeißen, bevor er an einer Ecke nagt. Die grauenvoll schlechte Parodie eines Liebespaars. Die Tür öffnet sich. Misao springt herein, gefolgt von dem älteren Mann, den Aoshi Okina nennt. Beide halten inne. Nur das Mädchen zeigt Anzeichen von Überraschung, bevor sie mich förmlich mit vernichtenden Blicken aufspießt. Ich würde mich am Liebsten in Luft auflösen. Mir schwant, was Aoshi plant: das große Outing. Warum mit mir?! Er kann mich nicht einmal leiden! *~i~* Kapitel 16 - Von Mäusen und Mördern Der Hinterhalt ist ganz simpel eingefädelt: die Glocke ertönt, Jugendliche verstopfen die Gänge, müssen an Schränke, zu Schulräumen, dem Sekretariat. Unterschiedliche Ströme wirbeln umeinander. Ich will zum Laborraum, den Rucksack lässig geschultert. Enishi ist schnell. Die Mündung der Waffe zielt genau in meine Seite unterhalb der Rippen. "Geh weiter." Zischt er. Ich kann sein psychopathisches Lächeln fast sehen. Mir stellen sich am gesamten Körper die Haare auf. Fast möchte ich ihn anschreien, warum er mich so lange hat warten lassen. Das wäre infantil. Niemand bemerkt meine Lage, als ich Treppen hinaufsteige, das Labor betrete. "Raus!" Wispert Enishi, lässt seine Waffe aufblitzen. Ebenso schnell leert sich der Raum. Ich verrammele die Tür auf seine Anweisung hin. Etwa drei Minuten später ist das Haus totenstill. Wahrscheinlich holen die Sicherheitskräfte jetzt Klasse für Klasse aus den Gebäuden, wird das Überfallkommando alarmiert, Scharfschützen... Auf den Knien, die Hände auf dem Hinterkopf gefaltet, warte ich ab. Auch Enishi ist ruhig. Die gleiche, konzentrierte Selbstgewissheit, die er auf dem Dach an den Tag, oder vielmehr die Nacht, gelegt hat. *~i~* Es ist Misao, die zuerst aus der unerträglichen Situation ausbricht, ihren Stuhl zurückstößt, nach meiner Schulter fasst. "Setz dich gefälligst auf einen eigenen Stuhl, ja?!" Schnaubt sie empört, die andere kleine Hand zur Faust geballt. Ich will mich erheben. Aoshis Arm um meine Taille ist eisern, er gibt keinen Zoll preis. "Er wird hier sitzen." Bestimmt er kühl, funkelt Misao an, die ihn verletzt mit offenem Mund mustert. "Was soll das denn, Aoshi? Warum bist du so gemein?! Wir sind doch verlobt!" Behauptet sie, die großen, kornblumenblauen Augen mit Tränen der Verwirrung und Vorahnung gefüllt. Ich kämpfe gegen Aoshis Griff. Mir tut das Herz weh bei ihrer Qual. Er liebt mich nicht mal, ich bin nur ein Werkzeug! Warum muss ich hier dieser Tragödie beiwohnen? "Er bleibt." Flüstert Aoshi so ungerührt, dass selbst Eis mehr emotionale Bewegung aufzeigt als er. "Warum?! Wir gehören zusammen! Ich liebe dich doch!" Sie zerrt mit beiden Händen an meinem Arm, ausgerechnet an der lädierten Schulter. Die Zähne zusammengebissen krümme ich mich zusammen. Ich will mich nicht Aoshi geschlagen geben, aber auch nicht in Misaos Fängen landen. Die auf mich eintrommelt, mit klappernden Zähnen ihr Liebesbekenntnis wiederholt, tränennass und verzweifelt. Aoshi starrt sie an, wendet den Kopf zu Okina, kühl, unbeeindruckt. "Dich zu heiraten wäre Inzest, nicht wahr?" Versetzt er in gelassenem Tonfall. Misao tobt sich noch einen weiteren langen Moment an meinem malträtierten Rücken aus, bis auch sie innehält. *~i~* Die Zeit kriecht vor sich hin. Enishi hält sich von den Fenstern fern, hockt auf dem Boden, angespannt wie eine Sprungfeder, hinter einem der schweren Pulte, die Mündung der Waffe unverändert auf mich gerichtet. Scharfschützen werden ihn nicht erwischen. Sie werden mich sehen: verwundbar, ungeschützt, ausgeliefert. Ich unternehme keinen Versuch, ihn anzusprechen, es scheint mir überflüssig. Er wird seine Forderungen schon verkünden, das ist gewiss. Meine Gedanken richten sich auf Kaz, Kama und den Cop. Ich werde überleben, um von ihm Antworten einzufordern! *~i~* Misao sitzt auf ihrem Stuhl, wechselweise Okina und Aoshi anstarrend, die ein stummes Duell austragen. "Darum geht es also." Bemerkt der Ältere kühl. "Schick ihn jetzt weg." "Nein." Versetzt Aoshi ungerührt, die Hand in meinem Nacken, Marke Karnickelfangschlag. "Wie hast du es erfahren?" Gelassen nippt Okina an seinem Tee, zwirbelt den Spitzbart, die Augen scharf und abwägend. "Man ließ es mich wissen." "Für eine Gegenleistung." "Natürlich." Es herrscht Eiszeit. Titanische Berge und Schollen treiben knirschend und reibend aufeinander zu. Ohne es zu wollen schmiege ich mich an Aoshi an. Was wird hier gespielt? *~i~* Ich hatte immer Zweifel. Wie jeder Mensch, der einen Teil seines Lebens ohne Erinnerungen verloren hat. Sich auf die Aussagen Dritter verlassen muss. Ich will sie hören: die Wahrheit. Diese schäbige, kleine, erbärmliche Geschichte, für die ich meine Loyalität verraten habe, meine Ehre aufgegeben. *~i~* Der Alte beginnt zu erzählen, in die Stille hinein, in knappem Tonfall und schnörkellosen Worten. Der alte Makimachi hatte einen prächtigen Sohn und eine Geliebte zum Zeitvertreib. Sie wurde schwanger, bekam einen Jungen. Um seine Ehefrau nicht zu verärgern, wurde der Junge einem Gefolgsmann übergeben, der die Geliebte rasch heiratete, um den Schein zu wahren. Das Kind wurde erzogen, um bedingungslos der Familie zu dienen. Ein Unfall ereignete sich. Eine abgestürzte Limousine mit einem schwerverletzten Überlebenden, sein Leben lang von Narben entstellt. Ohne Gedächtnis, fast ein halbes Jahr in Krankenhäusern einquartiert. Der große Makimachi freute sich derweil über die Geburt einer Enkeltochter, Misao. Bald würde er seine Geschäfte an den Sohn übergeben. Der geliebte Sohn samt Gattin werden die Opfer eines Kampfes um die Vorherrschaft über assoziierte Gebiete, sterben bei einem Flugzeugabsturz. Zurück bleiben ein Waisenkind, ein alter Mann, sein engster Vertrauter und ein Jugendlicher, der niemals die Wahrheit erfahren darf, um die Familie nicht zu gefährden. Um die geliebte Enkelin zu beschützen, mit seiner Ehre und seinem Leben. Ohne Zweifel, ohne Kompromisse. *~i~* Ich kenne die Geschichte, gebe Okina keine Blöße. Er weiß, dass ich es weiß. Dass ich einen Handel eingegangen bin, um diese Wahrheit zu erfahren. Eine nützliche Marionette, ein Krieger für die Familie, die ihn verleugnet. Misao weint ungehemmt. Für ihr weiches Herz ist es wohl eine große Enttäuschung, den geliebten Großvater als einen kalten, unbarmherzigen Despoten zu erfahren. Meine kleine Herrin. Meine kleine Nichte. Ich schiebe Kamatari von meinem Schoß, erhebe mich. "Es ist Zeit. Mein erster Termin wartet." Verabschiede ich mich kühl. Sollen sie noch ein wenig in der Ungewissheit meiner Entscheidung ausharren. Ob ich mit juristischer Finesse und Gewalt das Imperium der Makimachis an mich reiße. Oder es zerschlage. *~i~* Der nächste Ausbruch von Emotionen lässt nicht lange auf sich warten. Misao verkündet lautstark, dass sie das "Familiengeschäft" nicht will, weil es rechtmäßig Aoshi zusteht. Das bestreitet Okina vehement. Das Gebrüll fegt über den Tisch, wechselseitig, wie bei einem Pingpong-Spiel. Bis ich mir die Ohren zuhalte, es aussperre, weil der Kopfschmerz mir Wasser in die Augen treibt. Deshalb hat Aoshi also einen Jungen aufgelesen: um Misao, das unschuldig in ihn verliebte Mädchen derart zu provozieren, dass der Alte bestätigt, was Aoshi sich vorher aus anderen Quellen an Informationen verschafft hat. Da der "Mohr" seine Schuldigkeit getan hat, kann er gehen! Wenn ich das nur bewerkstelligen könnte! Glücklicherweise finde ich einen Gehstock in der Garderobe, humpele mühsam den Weg zu Aoshis Haus hinab, wo meine gepackten Sachen bereits vor der Tür warten. Schweißgebadet sinke ich auf mein Gepäck, binde erst mal meine Haare zusammen. Ich kümmere mich nicht mehr um irgendwelches Publikum, als ich mich langsam aus dem Hausanzug schäle, ein loses Hemd und eine Jogginghose überstreife. Ich hinterlasse seine Geschenke, die "Spielzeugverpackung", auf der Türschwelle, bevor ich mein Gepäck bis zur Pforte hinter mir herziehe. Alles tut weh. Trotzig und verbissen schaffe ich es bis zur nächsten Telefonzelle, fingere Münzen heraus, bitte meine Großmutter, mich abzuholen, bevor ich ohnmächtig in mich zusammensinke. *~i~* Ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Einem Satan mit schweflig gelben Augen und dem Air eines Wolfs. Listen, Namen, Verbindungen, Informationen aller Art: ich übergebe sie ihm, noch bevor Okina oder andere mich hindern können. Vielleicht ist es pure Rachsucht, Zerstörungsfreude. Möglicherweise rette ich auch damit meiner kleinen Nichte das Leben. Dieser Wolf ist ein unbarmherziger Jäger. *~i~* Per Megaphon nehmen die Behörden Kontakt auf. Wie im Fernsehen wird eine friedliche Lösung angeboten, nach Forderungen gefragt und so weiter. "Steh auf, langsam." Weist mich Enishi an, die Beine aufgestützt, die Waffe nachlässig schwenkend. "Sag ihnen, ich will meine Maus. Sonst erschieße ich dich." Ich komme auf die Beine, ein wenig ungelenk, weil die Haltung nicht gerade Kreislauf fördernd ist, trotte betont auffällig zum Fenster, gebe Enishis Botschaft weiter. Er fordert die Herausgabe von Soujirou? Das verwundert mich. Ich hatte ihn eigentlich nicht als so sentimental eingeschätzt. Andererseits, was sollte er sonst auch noch fordern? Es ist eine chinesische Sackgasse: man kommt nur tot raus. *~i~* Ich komme zu mir, als meine Großmutter hart an die Scheibe der Kabine klopft, rapple mich mühsam hoch, um die Blockade des Zugangs zu beenden. Sie verliert keine Worte, sammelt mein Gepäck ein, mit ihrer energischen, kleinen Gestalt, dirigiert den eingeschüchterten Taxifahrer, mir zu helfen. Im Fond des gewaltigen Gefährts hält sie meine Hand, ruhig, entschlossen. Keine Fragen, keine Vorwürfe. Ich weine leise an ihrer Schulter. *~i~* Es dauert zwei Stunden, bis eine Rückmeldung kommt. Offenkundig hat man Schwierigkeiten, Enishis Liebhaber zu finden. Enishi selbst bleibt bei dieser Rückmeldung gelassen. "Sag ihnen, der Rothaarige soll rauf kommen und hier warten, bis sie meine Maus gefunden haben. Sie haben dafür noch zwei Stunden Zeit. Sonst erschieße ich entweder dich oder Himura." Ich zögere. Was hat Kenny damit zu tun? Will Enishi sich rächen, weil er mir in der Nacht auf dem Dach geholfen hat? Erstaunlich schnell wird die Forderung akzeptiert. Das finde ich unglaublich, sie setzen damit Kennys Leben aufs Spiel! Er tritt ein, als ich die Türen entriegele, so ruhig und freundlich wie gewohnt. Sein sanftmütiges Lächeln wirkt deplatziert. "Du stirbst, wenn sie Soujirou nicht liefern." Informiert ihn Enishi reglos, gestikuliert mit der Waffe, dass sich Kenny in einiger Entfernung von mir in gleicher Haltung hinknien soll. "Gefällt dir dein Leben, Scheißkerl?" Fragt er plötzlich, für mich unerwartet. Kenny hebt den Kopf. Seine gewöhnlich violetten Augen schimmern in der einstrahlenden Sonne wie weißes Gold. "Ich versuche, es sinnvoll zu verbringen." Lautet die mysteriöse Antwort. Die beiden kennen sich also doch?! Hat Kenny nicht gesagt...?! "Du solltest tot sein, du Ungeheuer." Wispert Enishi, ohne sein manisches Grinsen, vollkommen seriös. "Ich werde sterben, Enishi, so, wie wir alle sterben werden, wenn die Zeit gekommen ist." Kenny klingt leidenschaftslos, fast ein wenig betäubt. "Das ist nicht genug!" Explodiert Enishi. Er blickt zur Seite, beißt die Zähne knirschend zusammen, wischt sich die gebleichten Haare aus der Stirn. "Was soll's." Resigniert er leise, wendet sich erneut Kenny zu, der ihn gelassen studiert, mit einer Spur von Mitgefühl. "Vielleicht ist es deine Strafe zu leben, du Bestie. Ein Leben als Verräter und Feigling. Ich hoffe, dass die Erinnerungen niemals verblassen!" Zischt Enishi hasserfüllt. Ich begreife gar nichts mehr, habe den Eindruck, dass mir der Cop Einiges verschwiegen hat. Verdammter Mistkerl! *~i~* Meine Großmutter schlägt vor, dass ich ihr zur Hand gehen soll. Arbeit vertreibt müßige Gedanken. Mein Knie ist bereits wieder so stark angeschwollen, dass ich nicht mal mehr stehen kann. Mühselig ziehe ich mich an den Stufen in das Obergeschoss hoch, schleppe mich in mein Zimmer. Ich will nichts hören und nichts sehen. Der Gedanke an Sano kommt auf, als ich mein Bett anvisiere, flach auf die Tagesdecke falle. Wir haben zusammen hier gelegen und Pläne geschmiedet. Wo ist er nun? Was ist aus unseren hochfliegenden Vorhaben geworden? Ich rolle mich zusammen, ziehe mir die Decke über den Kopf, entfliehe in traumlosen Schlaf. *~i~* Es währt nicht lange, da spricht sich auch über das Radio am College herum, dass eine Geiselnahme in einer Highschool stattfindet. Sanos Highschool. Alle Personen bis auf die Geiseln, ein Jugendlicher und der Hausmeister, seien evakuiert worden, befänden sich bei ihren Angehörigen in Sicherheit. Ich schließe meine Habseligkeiten ein, eile zum nächsten Telefon, mit fliegenden Haaren, lasse es läuten, zehn, zwanzig, dreißig Mal. Ohne eine Antwort. Sano ist nicht da. Wenn alle bei ihren Eltern oder in Sicherheit sind: wo ist mein Bruder? *~i~* Es ist still an diesem Tag. Keine weiteren Termine, keine Anrufe. Einige der Nummern in meinem Rolldex werden nie wieder in Funktion sein. Ich fühle keine Befriedigung, eher einen schalen Nachgeschmack. Ich frage mich müßig, ob man mich hetzen wird wie ein Tier. Ob Kommandos auf mich warten, um mich als Verräter hinzurichten. Bedeutsam ist das nicht sonderlich. Welches Ziel habe ich auch? Bin ich nicht geboren, um zu dienen, eine Familie mit Leib und Leben zu schützen, die nicht mehr existiert? Warum sich also grämen. Es ist ein schöner Spätsommertag, eine herrliche Aussicht, ein bequemer Bürodrehstuhl mit angenehmer Polsterung. Der Vorhang fällt. *~i~* Es verwundert mich nicht, dass das auffällige Gefährt in meiner Einfahrt den Parkplatz blockiert, ein schwarz gekleideter, junger Mann mit einer auffälligen Bandana um den Kopf hineinstürmt. Die glitzernden Augen, die unverhohlene Wut: es muss Sanosukes Halbbruder sein. "Sano ist in der Schule, nicht wahr?! Was haben Sie mit diesem anderen Cop ausgeheckt?!" "Setz dich doch bitte." Gestikuliere ich auf einen Stuhl. Kundschaft ist bei diesen Ereignissen ohnehin spärlich gesät. "Ich habe dich schon erwartet." *~i~* Wir warten, in aller Stille. Auch wenn ich große Anstrengungen unternehmen muss, das Ameisenheer in meinen Gliedern unter der Fuchtel zu halten. Diese Position ist definitiv nicht bequem. Ich setze mein Vertrauen in den Wolf, warum auch immer. Er ist ein intriganter, kaltschnäuziger, brutaler Mistkerl. Ich glaube daran, dass er seinen Part erfüllen wird. Wahrscheinlich sollte ich mir mal den Kopf untersuchen lassen. *~i~* Ich kann Geschichten nicht ausstehen, die mit der berüchtigten Phrase "es war einmal" beginnen. Besonders, wenn sie von einem schleimig-grinsenden Drogisten aufgefädelt werden! Ich habe keine Wahl, wenn ich herausfinden will, in welchem Schlamassel Sano wirklich steckt. Mit erzwungener Geduld lausche ich seiner Zusammenfassung. "Alles begann streng genommen ein Jahrzehnt vorher. Hier in den Vierteln herrschte ein regelrechter Kleinkrieg zwischen Banden und der Polizei. Man wusste damals schon, dass Waffen und Drogen über den Wasserweg und das alte Tunnel- und Kanalisationssystem in die Stadt geschmuggelt wurden, von dort aus weiter verteilt. Also bildete man eine Spezialeinheit, um in die Szene einzudringen, sandte V-Männer aus. Die meisten Banden bestanden aus Einwanderern, viele jung und hungrig auf den Aufstieg, den ihnen ihre Bosse versprachen, das schnelle Geld, Sex und Ansehen. Der American Dream von seiner hässlichen Seite, der Ausbruch aus dem Ghetto in die Vorstädte, die weiße Mittelschicht mit ihrer Heile-Welt-Idylle. Einige der Rekrutierten waren Minderjährige, eine schmutzige Angelegenheit. Unterschiedliche Versprechungen lockten sie in das System hinein. Viele erlagen der Verheißung der anderen Seite. Damals hatte man einen Trumpf. Einen Jugendlichen, der wie ein Kind aussah. Eine Waise, die man darauf trainiert hatte, sich in die übelste Bande einzubringen, sie auszuspionieren. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Entwicklungen, Verrat auf beiden Seiten, sogar Tote. Das Trumpf-Ass stach. Leider kostete die Operation einige Zivilisten das Leben, darunter auch das des Mädchens, das dem V-Mann den Zugang ermöglicht hatte. Man fegte das Desaster unter den Teppich der Geschichte, räucherte die Banden aus, verschloss die meisten der Tunnel. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wurzel wieder sprießen würde. Das System, die Köpfe, sie existierten noch immer. Jetzt ist es wieder so weit. Nun gibt es einen Verräter bei einer der Organisationen im Hintergrund, der uns das Netzwerk der Verbindungen liefert, dazu einen rachsüchtigen Gangster, der in den Unruhen damals aufgewachsen ist und die Triaden, die einen ihrer Abnehmer jagen, während über ihnen ihre Konstruktion von Seilschaften zusammenbricht." *~i~* Es ist mittlerweile unerträglich heiß in dem stickigen Raum, eine Atmosphäre wie im Backofen. Keiner von uns unternimmt Anstalten, an die Fenster zu treten. Enishi ohnehin nicht. Die Zeit läuft. Es ist bald zwei Uhr, das Ende von Enishis Frist. *~i~* "Was hat das alles zu bedeuten? Sprechen Sie nicht ständig in Andeutungen, ich lebe noch nicht so lange in diesem verdammtem Stadtbezirk!" Echauffiere ich mich, balle die Fäuste. V-Männer, Banden, Triaden: ich will über diesen ganzen Wirrwarr gar nichts wissen! Verschwörungsmythen sind von jeher etwas für Leute mit Paranoia oder zu viel Zeit. Natürlich, wenn ich ein morbider Grufti wäre, für den mich manche halten, würde ich ein solches Hobby pflegen! Das ist nicht mein Stil. Konkrete Ziele, konkrete Pläne, saubere Angelegenheit, so arbeite ich. Gerade erwäge ich ernsthaft, diesem schmierigen Pillendreher sein widerlich süffisantes Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, samt Autogramm. Er kontrolliert seine Armbanduhr. "Präzise um 12 Uhr mittags, zum Showdown, hat mein früherer Partner diverse Untersuchungsbeschlüsse und Haftbefehle beim zuständigen Richter erwirkt. Damit tritt Phase zwei des Plans in Kraft." "Er..." Mir fehlen für Augenblicke die Worte. "Er ist nicht bei der Schule?! Lässt Sano hängen?!" *~i~* "Geh ans Fenster." Dirigiert Enishi Kenny, der ruhig den Anweisung folgt. "Sag ihnen, die Frist ist abgelaufen." Mir dreht sich der Magen um vor Panik. Er wird Kenny nicht wirklich erschießen?! Wieso reagieren die da draußen nicht?! Sie wissen doch, dass er es ernst meint!! Wo ist der verdammte Cop?! *~i~* »Phase zwei abgeschlossen.« Resümiere ich knapp, kontrolliere die "Ladung" der Mannschaftswagen. Der Notruf über Funk irritiert mich nicht weiter. Es sind noch zwei Minuten bis zum Fristende. "ATF unterwegs." Gebe ich knapp zurück, lächle grimmig über die Stille nach dem statischen Knistern. Die wilde Jagd ist noch lange nicht vorüber. *~i~* "Bitte, Enishi, gib uns noch ein wenig Zeit, okay? Sie müssen Soujirou bestimmt nur noch hier hochbringen! Komm schon, was machen ein paar Augenblicke aus? Die wissen doch alle, dass es dir ernst ist!" Flehe ich nachdrücklich, lasse seine irren Augen nicht einen Wimpernschlag unbeobachtet. Wo ist der Scheiß-Cop?! Ich schwitze Blut und Wasser, knie in der direkten Schusslinie. War es ihm nicht gleichgültig, wen von uns er erschießt? Ich will nicht sterben! Enishi studiert mich, den Kopf in den Nacken gelegt, unter halb gesenkten Lidern. "Ist der Kleine entkommen?" Erkundigt er sich beiläufig. "Ja." Gebe ich heiser zurück, schlucke wiederholt, befeuchte meine Lippen. "Meine Maus hat euch geglaubt. Ich nicht." Lächelt er versonnen, legt den Kopf schief, als betrachte er etwas Possierliches. "Der Stecher von deinem Schatzi gehört zu einer Sippe, die nicht lange fackelt, wenn man sie verrät." Seine Stimme trieft vor Häme. "Bist du immer noch sicher, dass es ihm gut geht?" Ich beiße mir auf die Lippen, halte seinem sezierenden Blick stand. Aoshi wird Kama nichts antun. In diesen Augenblick bricht eine knurrende Ansage, scharfe Konsonanten, wie ein Sperrfeuer. "Der Austausch beginnt." *~i~* "Und weiter?!" Ich widerstehe mannhaft der Versuchung, den Quacksalber zu erwürgen. "Sie werden also die Geiseln austauschen. Und dann??" "Das hängt von Yukishiro ab." Bescheidet mir der Dauergrinser nachsichtig. Manchmal ist es eine verdammte Bürde, ein Pazifist zu sein. *~i~* Ich habe immer geglaubt, Hajimes einzige Konzession an meinen Unfall bestand darin, dass er das Rauchen aufgab. Ich habe mich geirrt. Wie in so vielen Dingen, wie mir erst jetzt klar wird. Es ist auch nicht verwunderlich. Der Wolf ist nicht nur ein Einzelgänger, nein, selbst eine Auster ist gesprächiger. Dennoch vertraue ich Hajime. Wie wir das alle taten, als wir zu einer Sondereinheit zusammengezogen wurden, einem speziellen Korps. Egal, wie kalt und hart er auch mit uns anderen umsprang, wir vertrauten auf sein Urteil. Wir lernten schnell, dass Nachlässigkeiten und Disziplinlosigkeit tödlich enden konnten. Ganz zu schweigen von Hajimes einzigartigem Sinn für Gerechtigkeit. Ein Motto seiner Familie: Aku Soku Zan, Böses wird sofort bestraft. Gnadenlos und unnachsichtig beim Drill schweißte er uns zusammen, machte sich keine Freunde, aber viele, die ihn fürchteten und lieber auf seiner Seite als beim Gegner standen. Er ist mit Abstand der klügste, gerissenste, gefährlichste von uns allen gewesen. Eigenschaften, die sich mit den Jahren nur noch verfeinert, perfektioniert haben. Ich glaubte, dass das ATF ihn anforderte, weil sie sich erhofften, ihn kontrollieren zu können. Die nützlichste Allzweckwaffe, die man sich nur in Albträumen wünschen konnte. Aber der Abgrund blickt zurück und Hajime ist ohne Boden, was das angeht. Ich weiß nicht, warum er mich an seiner Seite akzeptierte. Ob ich irgendeine Saite in ihm zum Klingen brachte. Er benötigt keine Erklärungen. Sein Instinkt leitet ihn ohne Fehl. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er versuchte, "menschlich", "normal" zu sein, auf unser Level hinabzusteigen: mit Familienleben, geregelten Arbeitszeiten, Lebenspartnern. Das entspricht wohl nicht seiner Natur, dem Wolf, dem Jäger in der Finsternis. Ob es ein Anflug von Sentimentalität war, der ihn veranlasste, eine weitere Mission zu übernehmen? Wahrscheinlich schmeichle ich mir nur selbst, aber es berührt mich, dass er zu den Internal Affairs wechselte, nachdem ich aus dem Dienst geschieden war. Vor seiner Gerechtigkeit sind alle gleich: weder Seilschaften noch hochrangige Posten halten ihn auf. Das große Aufräumen hat gerade erst begonnen. *~i~* Mein Herz schlägt wie wild, als er in der Tür steht, ein schmales Bündel auf dem Arm trägt. Der weite Staubmantel schwingt sanft, der marineblaue Stoff seines Anzugs schimmert wie mobile Finsternis. Seine schwefligen Augen sind aufmerksam, lohen in einem unheiligen Feuer. Ohne Zögern schleicht er lautlos an Enishi vorbei, legt Soujirou auf einem Pult ab. "Eine Geisel." Knurrt er guttural. "Der Rotschopf." Schnarrt Enishi erregt zurück, richtet die Waffe auf den Cop. Mit einem harten Griff um Kennys Oberarm expediert der Bastard-Bulle ihn raus. Ich könnte heulen. Langsam setzt die Anspannung mir zu. Ich will hier raus, frische Luft atmen, mir die Füße vertreten! "Mach die Tür zu." Schnauzt Enishi, hebt ohne Mühe Soujirou herunter, bettet ihn in seinen Armen, die Waffe stets auf mich gerichtet. "Maus...Maus, hörst du mich?" Seine Stimme mutiert zu einem zärtlichen Wispern. Mich überläuft kaltes Grausen. *~i~* Den "Hausmeister" abzuliefern beansprucht nur wenig Zeit. Ich setze mich in meinen Wagen, arbeite Akten auf. Viel Schriftverkehr. Will man, dass etwas erledigt wird, macht man es selbst. Ich will eine große Zahl an dauernden Aufenthalten hinter schwedischen Gardinen verteilen. *~i~* "Komm her." Enishi klingt müde, winkt mit der Waffe. Ich krieche auf allen Vieren zu ihm, betrachte Soujirou zum ersten Mal aus der Nähe. Er sieht aus wie ein Gespenst: totenbleich, das Gesicht eingefallen, das manische Lächeln ist verschwunden. Sein Atem geht flach und hastig. Enishi schiebt das von Schweiß verklebte Haupt des Keuchenden auf seine Schulter, bedeckt das beperlte Gesicht mit Küssen, wiegt "seine Maus" wie ein Kleinkind, flüstert Koseworte, fleht darum, dass Soujirou die Augen öffnet, ihn anlacht. Ganz gleich, wie sehr ich Enishi auch verabscheue für seine psychopathische Härte, seine Mordlust, seine Rachegelüste: mir tut sein Kummer in der Seele weh. "Was fehlt ihm?" Vorsichtig streiche ich über einen dünnen Arm, taste nach dem Puls. Enishi ignoriert mich, küsst Soujirou intensiv, bis sich dessen Lider flatternd heben. "...'nishi?" Stößt er kaum vernehmbar hervor. Sein seltsames Lächeln zuckt in fahlem Abglanz über die verlebten, greisenhaften Züge. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er vor Fieber glüht. Es ist kalter Schweiß auf seiner Haut. Sein gesamter Leib ist eisig. "Mein Mäuschen, ich bin hier." Enishi haucht Liebkosungen, Tränen gleiten lautlos aus seinen kalten, schwarzen Augen. Ein Kloß steckt in meiner Kehle. Ich würde am Liebsten davonlaufen. Der verfluchte Cop hat nicht erwähnt, dass ich...!!! *~i~* Ich glaube, dass Enishi mich vergessen hat. Es spielt auch keine Rolle. Ich bin sicher, er erwischt mich, bevor ich mich davonmachen kann. Eigentlich habe ich auch nicht mehr die Kraft zu fliehen. Das ist meine Strafe. Er hat es so geplant, davon bin ich überzeugt. Vergeltung. Buße. Ich ziehe die Knie eng an den Körper, umschlinge sie mit den Armen, beobachte die beiden stumm. Ich werde nicht daran zerbrechen. Ich werde leben!! *~i~* Wir warten stumm am Radio, lauern auf den Polizeifunk, der ruhig bleibt, von gelegentlichen Meldungen kurz aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Der dauergrinsende Drogist scheint mir unbekümmert, sogar befriedigt. Mir ist vollkommen egal, wie viele undichte Stellen, Schmiergeldempfänger, Banden und sonst wen sein hochgelobter, manipulativer Kumpan mit diesem Plan ausgehoben hat. Ich will nur meinen Bruder wieder, lebendig, unversehrt. *~i~* Ich kann nicht mehr tun als zusehen, wie er den knochigen Arm von Stoff befreit, eine Spritze präpariert, indem er Heroin über dem Bunsenbrenner erhitzt und seinem Liebhaber injiziert. Soujirou leistet keinen Widerstand. In seinem fahlen, verlebten Gesicht sind allein die glasigen Augen noch in Bewegung, folgen Enishi bei jeder Bewegung. Der hält ihn im Arm, bedeckt ihn wie zuvor mit Küssen, summt leise, als wolle er Soujirou in den Schlaf singen, dieses knochige Bündel Mensch. Langsam versinkt die Sonne, die Schatten auf dem Boden werden länger. Zähflüssig steht die Zeit einfach still. Wir verharren in diesem abgeschlossenen Raum, ohne Bewegung. Erst als Soujirous Arm aus Enishis Griff gleitet, bin ich mir sicher: er ist tot. Enishi hat ihm eine Überdosis gespritzt. Ich sollte protestieren, schreien. Ich kann es nicht. Er hebt den Kopf, sieht mich mit seinen kalten, klaren Augen an, gefasst. Ein Lächeln funkelt auf, sanft, voller Humor. Man kann dahinter den Menschen vermuten, den Enishi wohl begraben hat, vor langer Zeit. "Komm nicht darauf, irgendwelche Heldentaten zu begehen." Flüstert er zwinkernd, hebt die Waffe an und schießt sich in die Schläfe. *~i~* Kapitel 17 - Im Untergrund Der Schuss dringt nur gedämpft an mein Ohr. Ich habe ihn erwartet, klappe meine Akten zu, steige aus, wickle ein Lakritz aus seiner Verpackung. "Zugriff." *~i~* Es ist so leise, unwirklich gedämpft. Ich rieche versengte Haut und Haare, starre ungläubig auf die mit Blut und Gehirnmasse gesprenkelte Wand. Enishis Hand, die mit der Waffe auf den Boden schlägt. Ihre helle Bekleidung, die nun blutbeschmiert ist. Ineinander versunken wie gefallene Engel. Die Türen werden aufgesprengt. Vermummte ziehen mich auf die Beine, zerren mich im Laufschritt fort, obwohl ich nicht gehen will. Irgendetwas Archaisches in mir schreit danach, ihnen eine Totenwache zu halten. Was hätte Enishi nicht alles tun können! Er hat es nicht getan. Ich raste aus, schlage um mich, trete, brülle ungehemmt. *~i~* Der Punk ist außer sich, tobt wie ein Geisteskranker. Ein scharfes Kommando, ich habe eine freie Gasse, kann seine Rechte fassen, zudrücken. Der Schmerz lenkt die Aufmerksamkeit auf mich. Ich umklammere ich ihn, lasse meine Stirn mehrfach gegen seine schlagen. Sein Widerstand reduziert sich ausreichend, dass ich ihn zu meinem Auto schleifen kann, zu seiner Sicherheit fixieren. Wegbringen, als Kronzeuge in Sicherheitsverwahrung. *~i~* Blut läuft mir aus der Nase. Wenigstens ist sie nicht gebrochen. Der Rücksitz ist unbequem. Erstaunlicherweise hören die Prügel auf. Im Gegenteil, hier, in diesem verwünschten Auto, ist es so still, so ruhig, dass der gedämpfte Schuss in meinen Ohren immer wider- und widerhallt, Enishis verlorenes Lächeln vor meinen Augen aufblitzt. Ich wende den Kopf, ziehe meine gefesselten Hände vor das Gesicht. Mir ist gleich, ob er mich weinen sieht. *~i~* "Sie sagen, die Geiselnahme ist beendet. Wo ist Sano nun?! WO IST ER?!" Ich schreie gewöhnlicherweise nicht. So ist es eine erstaunlich katharische Erfahrung, ihn zurückweichen zu sehen. Es erleichtert, führt mich aber nicht weiter. Auch mein Wutausbruch entlockt dem Quacksalber keine neuen Auskünfte. Er weiß nicht, wo der verdammte ATF-Bulle Sano versteckt. *~i~* Wir fahren wohl eine Weile. Das reicht aus, dass mich das Schaukeln über Betonplatten, die gleichmäßige Bewegung des Wagens einlullt. Es dämmert bereits, als er den Wagen anhält, die Maschine knackend erstirbt. Er pflückt mich von der Rückbank, stellt mich auf die Beine, löst die Handschellen von meinen Knöcheln. Meine Handgelenke belässt er gefesselt, dirigiert mich an der Schulter weiter. Ich sehe mich um, nahezu fassungslos. In was für einem Nest sind wir hier gelandet?? Der Wagen steht in einer alten Scheune. Das benachbarte Haus ist eines dieser verwitterten Holzgebäude, die man in Schwarzweißfilmen sieht. Wahrscheinlich ist seine Bullenschleuder eine verkappte Zeitmaschine, und wir sind in den Fünfzigern gelandet. Er schiebt mich eine enge Treppe hoch, öffnet einige Haken und Verschlüsse, bevor er den Schlüssel selbst herumdreht. Wenn das Sicherheitsvorkehrungen sind, grabe ich mich lieber irgendwo ein. "Wasch dich." Weist er mir eine gewaltige Kanne zu, die unter einem Leck im Dach steht, gießt mir sogar etwas in eine Porzellanschüssel, bevor er den anliegenden Raum inspiziert. Toll, Motel Wanze! Dagegen war Bates sogar Fortschritt. "Gibt's hier kein sauberes Wasser?" Beklage ich mich. Ich habe keine Lust auf ertrunkene Fliegen und Blätter. "Das ist Regenwasser, gut für deine Haut." Bügelt er mich knapp ab, schließt schwere, mottenzerfressene Vorhänge vor den ohnehin mit Barrikaden blockierten Fenstern. "Das Budget des ATF ist ja beeindruckend. Oder willst du bloß die Spesen absahnen?" Provoziere ich ihn mit beißendem Spott, angele in der Brühe nach den kieloben treibenden Hindernissen. "Für eine Mülltüte und eine Schaufel ist noch genug übrig." Versetzt er scharf, entzündet eine weitere Lampe. Sofort umfängt uns der Gestank von Petroleum. Ich frage mich, was dieser ganze Mist soll. Das Haus ist so heruntergekommen, dass garantiert niemand dem verwahrlosten Pfad folgen wird. Außerdem sind Bäume und Büsche allgegenwärtig. "Was tun wir hier?" Erkundige ich mich, reibe meinen Bauch, der nachdrücklich Hunger morst. "Warten." Funkelt er mit einem zufriedenen, bösartigem Zähnefletschen. "Also gut. Ich will nun meine Antworten haben." Fordere ich die Gegenleistung ein, hocke mich vorsichtig auf einen ächzenden Stuhl. Er bleckt die kräftigen Zähne. "Für Gruselgeschichten ist es noch zu früh." *~i~* Die Zeit kriecht dahin, dehnt sich in eine Ewigkeit, die ich in komatöser Gelassenheit verbringe. Er hat hervorragende Arbeit geleistet, der Jäger, der Wolf, der Teufel in seinem klebrigen Netz aus Informationen, Gegenleistungen und Erpressungen. Ich verfolge die Nachrichten. Meldung folgt auf Meldung, Verhaftungen, Razzien, Durchsuchungen: eine Schockwelle, die über die Stadt, sogar den Staat hinaus rast. Choreographiert von einem Meister der Manipulation, einem perfektionistischen Strippenzieher hinter den Kulissen. Die Telefone bleiben stumm. Niemand begehrt Einlass. Eine milde Enttäuschung senkt sich in meine Glieder. Ein Showdown wäre wohl eine Abwechslung gewesen, stilvoller zumindest als dieser Giftmord durch Verräterhand. Auch Okina hält still. Gegen Mitternacht erhebe ich mich, lese meine Habseligkeiten auf, begebe mich in die Tiefgarage zu meiner Maschine. Keine Manipulationen zu erkennen, keine lauernden Schatten. Die Zusicherungen des Wolfs, für einen schnellen Zugriff zu garantieren, bewahrheiten sich wohl. Ich gleite in der Nacht wie durch schwarze Seide, nahezu geräuschlos, ohne Widerstand. Erstmalig nicht getrieben von Verpflichtungen, gesellschaftlichen Zwängen, erdrückender Verantwortung. Sie haben mich nicht gewollt: auch wenn ich mich standhaft weigere, so lettert diese Tatsache in Großbuchstaben in meinem Kopf. Obwohl ich mich anstrengte, allen ihren Erwartungen gerecht zu werden. Nicht einmal sein Bastard. Nur eine nützliche Waise. Eine Ampel zwingt mich zum Anhalten. Ich richte mich auf, hebe das Visier an, atme die nächtliche, noch laue, feuchte Luft ein, eine Ahnung von Regen. Ich bin frei, ohne Richtung, ohne Fesseln, ohne Ziel. Ein Prickeln rieselt durch meine Glieder, infiziert mich wie ein sich steigernder, elektrischer Impuls. Was auch immer ich von nun an tun werde: nichts wird diese Untat jemals übertreffen. *~i~* Er redet nicht. Natürlich. Dieser selbstgerechte, intrigante Scheißkerl ignoriert mich vollkommen, liest Holzscheite auf, setzt fliegenfrei gefiltertes Teewasser auf, teilt Proviant auf, den er aus seinem Wagen holt. Merkwürdig, warum hat er nicht den Van benutzt? "Komm her, Gockel." Winkt er mich herrisch heran. Was mich veranlasst, störrisch mit vor der Brust gekreuzten Armen Wurzeln zu schlagen. "Gockel?!" Echoe ich pikiert. »Was soll das denn?!« "Große Klappe zum Herumkrähen, geschwollener Kamm auf der Rübe und Federn im Arsch." Lautet die boshafte Replik. "Ach ja?!" Brennen bei mir die Sicherungen durch. Schon presche ich auf ihn zu, gerade in der richtigen Stimmung für eine zünftige Schlägerei. Den ganzen Tag auf Knien oder gefesselt, die Gesellschaft von Psychopathen, delirierenden Junkies und einem verfluchten Bullen: Bewegung ist höchst dringlich ersehnt. Dass er meine Reaktion vorhersieht: geschenkt! Wir umkreisen einander, ich streife mir mein ohnehin zerrissenes T-Shirt über den Kopf, schlage die Fäuste gegeneinander. Die Rechte schmerzt höllisch, was meine Wut nur noch anstachelt. »Jetzt prügle ich die ganze arrogante Scheiße aus dir raus!« Blitzen meine Zähne kriegerisch. Er grinst süffisant, der Mistsack, bleckt sein eigenes Gebiss, spitze Eckzähne wie bei einem Raubtier. »Brrrrr!!« Könnte auch ein Vampir sein, stinkt aber zu sehr nach Süßholz. All diese Lakritze kann einem den Magen umdrehen! Ohne verbalen Austausch verlagern wir die Arena nach draußen. In der Bruchbude ist es ohnehin zu finster, trotz der Petroleumfunzel. Draußen ist es stockfinster, verstärkt durch das dichte Blattwerk, was mich fatal an Dschungel erinnert. Allzu viele Gedanken verirren sich nicht auf diesen Aspekt, weil der Drecksack zur Sache kommt. Er kann kämpfen! Hochkonzentriert blockt er meine Attacken, um dann den Spieß umzukehren. Dabei bedient er sich Methoden, die ich von der Straße kenne. Einige andere, die man benutzt, wenn figurativ gesprochen die Hütte brennt. Bald sind wir beide mit einer anhänglichen Schicht von Lehm und trocknendem Schlamm bespritzt, haben beide Treffer genommen, atmen schwerer. Der Boden matscht noch schmatzender als zuvor unter unseren durchweichten Schuhsohlen. Man kann nur aus der Silhouette ablesen, welche Aktion die nächste sein wird, von den umgebenden Schatten nahezu absorbiert. "Mein Vater war ein Bullen-Spitzel, oder?" Keuche ich heiser. Gruselgeschichten hin oder her, ich will jetzt meine Antwort! "Wohl eher ein Doppelagent, der auf die falsche Partei gesetzt hat." Grollt er sonor, gleichgültig. "Was soll das heißen?!" Ich richte mich auf, verringere den Abstand. "Mein Vater hätte niemals..." "Dein Vater hat für beide Seiten gearbeitet und sich für die Behörden entschieden." Unterbricht er mich scharf, kalt. "Leider war er nicht sonderlich clever. Deshalb haben sie ihn im Asphalt verewigt." Ich filtere nur das heraus, was ich seit Jahren zu beweisen versucht habe, ignoriere zähneknirschend mit aufgestellten Körperhaaren seine Diffamierungen. "Also war es kein Unfall, sondern Mord. Mein Vater ist verraten worden, nicht wahr? Von einem der korrupten Bullen, oder?! Verstecken wir uns deshalb hier am Arsch der Welt?!" Steigere ich mich bis zum Wutgebrüll. Natürlich! Er hat das Richtige getan, und die Wichser haben ihn an die Yakuza zum Abschuss geliefert!! Selbst unser Meister "Ich-bin-besser-als-der-Rest-der-Welt" wird mit ihnen nicht fertig! "Das hier ist nur ein kleiner Anstoß, seine Zukunft sehr genau zu überdenken." Gestikuliert er sparsam, während seine Reißzähne diabolisch aufblitzen. Trocknenden Dreck abklopfend feixt er emotionslos. "Vielleicht müssen die Leichenbeschauer ein paar Überstunden abreißen, noch ein bisschen Gehirn von der Vorlegeware abkratzen..." »Für ihn ist das nur ein Spiel.« Rast es wie eine brennende Lunte lichterloh durch meinen Kopf. »Er genießt seine Macht. Was aus seinen Marionetten wird, ist ihm scheißegal!« Ich hasse so eine Einstellung! Ich kann ihn keinen Augenblick mehr ertragen, sein verfluchtes, selbstherrliches Grinsen in der Dunkelheit vermuten! *~i~* Er verhält sich erwartungsgemäß, attackiert verbissen und heißspornig, jedoch mit erstaunlichem Geschick. Eine Herausforderung, die beantwortet werden muss. Obwohl ich nicht glaube, dass er aus demselben nachgiebigen Holz wie sein "Vater" geschnitzt ist. Wilder, ungestümer, aber auch entschlossener, unbeugsamer und mit einem erstaunlichen Überlebensinstinkt. Ich feuere spezielle Schläge ab, beregne ihn mit Kampftechniken, die man nicht zu unrecht als schmutzig kategorisiert. Er hält stand, wird vorsichtiger, kontrollierter, obwohl seine Marschrichtung eindeutig und unumkehrbar ist: auf den Mann, Angriff, immer die Initiative ergreifend. Unser Kampf steigert sich, nimmt existentielle Ausmaße an, weniger Schlagabtausch als ringender Körperkontakt, Würgen und in den Schlamm drücken, Widerstand ersticken. In der Dunkelheit kann man uns wohl nicht mehr unterscheiden, vollends mit einer Schicht feuchten Drecks überzogen, mit pfeifenden Lungen und dem absoluten Willen, über den anderen zu triumphieren. Er macht es mir nicht einfach und ich genieße es. *~i~* Es sind die Haken in die Nieren, die mich schließlich flach in den Matsch zwingen, das Raubtier rittlings über mir. Wenn es nicht so dunkel wäre, würde ich vermutlich Sterne sehen. Jeder Atemzug besteht aus Höllenqualen, von meiner Lendengegend ganz zu schweigen. Ich hoffe, ich habe keine inneren Verletzungen. Er zerrt mich auf die Beine. Ich kotze zuerst mal Blut und Galle aus. Das hindert ihn nicht daran, mich wieder in die Wanzenherberge zu schleifen. Er lässt mich dort wie schmutzige Wäsche einfach auf die Holzbohlen fallen, sammelt sein Spielzeug auf. Schon bin ich wieder von ihm gefesselt, im wortwörtlichen Sinne! "Schßkrl!" Fluche ich zwischen den Zähnen hindurch, versuche Tränen wegzublinzeln, weil er mich an der Taille hochreißt, dabei die bereits vor Schmerz pulsierenden Regionen erneut aufrührt. "Der Scheißkerl, der dir die traurige Wahrheit über deinen schwärmerisch verehrten Taichou geliefert hat. Der deine Akten im Auge behält. Der weiß, was aus deiner Mutter geworden ist." Versetzt er launig, fast schon in gehobener Stimmung. Ich werde ganz still, innerlich, wie von Blitzeis in einen gläsernen Kokon eingehüllt. Im flackernden, rußenden Schein der Funzel wirken seine unheimlichen Bernsteinaugen, als tanzten in ihnen schweflige Flammen einen Veitstanz. Gelähmt von dieser Enthüllung lasse ich zu, dass er mir fachmännisch die Kleider vom Leib entfernt, mich mit Lappen und Regenwasser abwäscht, eine Decke um mich hüllt. Mir wie einem räudigen Köter "Platz!" befiehlt, um sich selbst zu reinigen. Ich habe ihn nicht nach meiner Mutter gefragt. Ich will darüber nichts wissen. Er dirigiert mich in das Nachbarzimmer, wo ein gewaltiges Bett mit zusammengebrochenen Bettpfosten wie ein gestrandeter Wal seine Glieder von sich streckt. »Ein wenig muffig.« Registriere ich beiläufig, da schiebt er mich schon unter eine Deckenschicht, löscht im Nebenzimmer die Funzel, schleicht geräuschlos zurück. Nackt neben mir unter einer Decke. Ich schaudere unwillkürlich zusammen, ziehe reflexartig die Beine an, balle mich schützend zusammen. Ich höre ihn lachen, dunkel, sonor. Sein warmer, Lakritz getränkter Atem streicht wie eine infernalische Liebkosung über mich hinweg. "Was ist los? Hast du Angst vor dem großen, bösen, nackten Mann?" Verspottet er mich überheblich. Er will mich demütigen, meinen Willen brechen. Alles kalkulierte Gemeinheiten, um mich aus der Reserve zu locken, fertigzumachen. Kleine Drohung hier, winzige Erpressung da. Ein Wunder, dass er noch lebt. Vielleicht sind seine Opfer aber auch nicht entschlossen genug, ihm einen Dämpfer zu verpassen?! Sorgsam auf Abstand bedacht schnauze ich zurück. "Wahrscheinlich ist deiner schon längst von Altersschwäche dahingerafft worden! Wozu sollte ich mir Sorgen machen?!" Er reagiert nicht. Klar, auf so einem Niveau wird Mr. Super-Cop keine Konversation machen! "Ich gehe jede Wette ein, dass du diese ganze Scheiße geplant hast!" Fauche ich weiter. "Ist doch so, oder?! Du hast Soujirou eingeknastet, um Enishi fertigzumachen. Kenny hast du auch mit reingezogen! Hast diesen Arschgeigen gesagt, dass sie ihn ausliefern sollten, obwohl Enishi ihn am Liebsten umgebracht hätte!" Der Herr belieben zu grunzen. Langsam werde ich wirklich stinkig. Außerdem morst meine Rechte in regelmäßigen Abständen größere Verstimmung über meine letzten Aktivitäten hoch. Mit anderen Worten: sie pocht vor Schmerz. "Hast du eigentlich kein Gewissen, Hajime?" Ätze ich mit der Betonung auf seinem Kosenamen (oder was auch immer sich dahinter verbirgt). "Oder kommt das mit dem Job abhanden?! Gibt's da spezielle Kurse, wie man zum totalen Arschloch mutiert?!" Er rührt sich nicht, grollt aber sonor. "Wenn du schon alles weißt, warum hältst du nicht deinen Schnabel und schläfst endlich?" So ein Bastard!! Ich kann mich natürlich nicht einfach aufrichten, weil er meine Hände ja so liebreizend aneinander gefesselt hat. Zu einer eleganten Rolle aus der Bettruine reicht es doch. "Mit so einem Drecksack schlafe ich nicht in einem Zimmer." Verkünde ich kategorisch, stolpere in Richtung Tür, verwünsche die allgemeine Verdunkelung. Warum rege ich mich eigentlich auf?! Ist ja nicht so, als hätte ich nicht erwarten müssen, dass dieser miese, arrogante, manipulative Widerling von einem Cop mir sämtliche Details verschweigt, sich einen Dreck um das Schicksal seiner Marionetten schert und insgesamt seinen natürlichen Sadismus auslebt! Ich komme nicht weit, weil er mit einem genervten Knurren aus der Matratzengruft hochschießt, mich trotz Körpertäuschung im Dunkeln zielsicher zu fassen bekommt, ärgerlicherweise mühelos zurück auf das ächzende Bett katapultiert. Wieso trägt er von der Aktion nicht mal einen Hexenschuss davon?! Der einzige, der eine Packung bekommt, bin ich. Der Mistkerl fummelt aus seinem privaten Arsenal noch eine Garnitur Handschellen um die Fesseln, die bereits intimen Kontakt mit meinen Handgelenken pflegen, pflockt mich an einen Teil des gestrandeten Bettgestells an, knebelt mich mit einem Lappen oder alten Socken, dem Geschmack nach zu urteilen. "Und Friede auf Erden." Zwitschert er höhnisch, zwei Oktaven zu tief, dreht sich auf die Seite, taucht in Morpheus' Reich ab. Ich könnte jetzt ja mit den Beinen um mich treten, mich noch ein wenig unbeliebter machen. Ich verwerfe die Idee rasch. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er mit dem Gedanken gespielt hat, mich bei meinem besten Stück ins Bett zurückzuzerren. Außerdem will ich auch nicht zu viele von diesen infizierten Wollläusen einatmen. *~i~* Ich kann nicht sagen, dass es ein angenehmes Erwachen ist. Irgendwann bin ich bei dem Ich-weiß-von-nichts-mein-Name-ist-Hase-Pillendreher eingeschlafen, habe mich in einem der winzigen Korbsessel zusammengekauert. Wieso melden die sich nicht?! Man kann doch nicht einfach mit einem Geiselnahmeopfer verschwinden?! Ich will gar nicht wissen, was das Vormundschaftsgericht zu der Sache sagt! Also halte ich mir den schmerzenden Kopf, verwünsche die servile Freundlichkeit dieses zierlichen, dauergrinsenden Medizinmanns, der mir eine Tasse Tee verordnet. Er lässt mich allein mit einem Stapel an Meldungen, dem Radio und den Morgenzeitungen. *~i~* "GRMBL!" "HMMMMJJMMMMMM!" Nein, Leute, das ist kein Ausdruck lustvoller Leidenschaft, sondern eines anderen Rufs der Natur. Im Klartext: ich bin noch immer geknebelt, ans Bett gefesselt und muss wirklich verdammt dringend die Landschaft bewässern. Perfider Weise ist der verfluchte Bulle nirgends auszumachen. Das wird nun wirklich eng. Ich bin absolut kein Bettnässer, nie gewesen! Ich will auch nicht damit anfangen! Ich weiß schon nicht mehr, wie ich noch mehr Knoten in meine Beine wringen soll, als er lässig hereinflockt, im gemächlichen Schlendergang, sich in Zeitlupe damit befasst, mich aus meinen Banden zu schlagen. Ich hopse in Zeitraffer zur Tür raus, durch das andere Zimmer, die maroden Holztreppen hinunter, halte auf den erstbesten Baum zu. Aaaahhhhhh.... das tut so gut.... Meine arme Blase muss schon Ballongröße angenommen haben! Als ich mich umdrehe, noch immer im Adamskostüm, die nackten Füße mit Schlammpackung, lehnt er in der Eingangstür, grinst sein niederträchtiges Bullengrinsen. "Was ist?!" Gröle ich indigniert, reiße die Arme hoch. "Soll ich noch Autogramme geben, oder was?!" Er hebt die Hand, spreizt den Mittelfinger, haucht einen Kuss damit in meine Richtung. "Wasch dir die Patschhändchen und -füßchen, bevor du reinkommst." Hahaha! Ekelpaket! *~i~* Man kann verstehen, warum Enishi sich den streitlustigen Kampfhahn eingeladen hat. »Definitiv nicht zu verachten.« Grinse ich amüsiert in mich hinein. Doch zurück zur Arbeit, erst Frühstück und den Stapel Papier durchsehen. Es soll keine Fliege meinem Netz entwischen, kein schwarzes Schaf dem Wolf. Mjammm.... ich liebe diesen Job. *~i~* Während ich esse, was der Bullenservice auftischt, wälzt er Unmengen von Dokumenten und Formularen, krakelt in Hochgeschwindigkeit, ein wölfisches, beutegieriges Grinsen in seinem hageren Gesicht. "Kann ich wenigstens meinem Bruder Bescheid sagen, dass ich in Sicherheit bin?" Quengle ich, raufe meine Haare. "Nein." Schnurrt er guttural, ohne aufzusehen. "Toll, danke, Mann! Ist nicht zu verkennen, dass du bestimmt wahnsinnig beliebt bist bei deiner Familie!" Ätze ich übellaunig, rutsche in meinem Handtuch auf dem wackligen Holzstuhl herum. "Zieh dir was an." Nickt er auf eine Papiertüte, die Bernsteinaugen immer noch auf seine heißgeliebten Wichsvorlagen gerichtet. Okay, Leute, ich weiß, ich habe anfangs gesagt, ich mäßige mich, aber bei diesem Ekel, da vergesse ich verdammt schnell, dass ich so was wie Manieren habe! Ich erhebe mich, wühle in der Papptüte herum: Sneaker, Socken, Boxershorts, ein Sweatshirt und Jeans, passt zu allem Überfluss noch perfekt. Irgendwie abartig, dass der Kerl meine Kleidergrößen kennt. Ich rolle die roten Raglanärmel auf die Ellenbogen, inspiziere meine Rechte, zupfe die Bandagen auf, bevor er mit einem Zungenschnalzen seiner Lieblingsbeschäftigung eine Abfuhr erteilt, meine Hand usurpiert. Erstaunlich ruhig säubert und verbindet er die Wunde neu. Ich sehe zum ersten Mal die Stiche, mit denen der Pillendreher meine Hand genäht hat. "Wie geht's weiter?" Nutze ich die Gunst, bemühe mich ernsthaft, nicht gehässig, frech oder nervtötend zu wirken. Er steht auf, fischt einen Manila-Umschlag mit Gummiband aus einem Pappkarton, schiebt ihn mir über den Tisch zu, fixiert mich mit seinen unheimlichen Schwefelaugen. "Selbststudium." Bescheidet er mir mokierend, konzentriert sich wieder auf seine Krakeleien. Mangels Alternativen entpacke ich den Inhalt, stütze meinen Kopf mit beiden Händen ab: Kopien, Zeitungsausschnitte und eine handgeschriebene Zusammenfassung. Mit seiner Handschrift, gestochen scharf. Sein Part des Handels. Leben und Sterben meines Vaters. *~i~* Es ist schon Mittag, als ich die Augen aufschlage, von der Ruhe irritiert. Mein Knie schmerzt, als ich die Beine über die Bettkante schwinge, aufzustehen versuche. Kein Vergleich zu meinem Kopf! Nase verstopft, Augen klebrig, Hals wie Schmirgelpapier: das ist wirklich kein guter Start in den Tag. Ich schleppe mich humpelnd ins Badezimmer, stelle mich zwangsläufig dem schauderhaften Anblick, der mir aus dem Spiegel entgegenblinzelt. Wüst... Und nicht besonders attraktiv. Auf das Porzellanbecken gelehnt entbehre ich eine Hand, um zerzauste Strähnen und Zöpfe aus dem Gesicht zu verbannen, mir eine Frage zu stellen: was fange ich mit mir an? Schule fällt heute flach. Das lohnt ohnehin nicht mehr. Ob ich ohne Krücken mit dem Schulbus...? Sano... ich muss herausfinden, wie es Sano ergangen ist! Anstatt hier herumzustehen, mich selbst zu bemitleiden, sollte ich mich duschen, anziehen, frühstücken, oder eher Mittagessen, endlich diese Lähmung abstreifen! Meine Großmutter weiß sicherlich, was passiert ist, während ich bei Aoshi war. *~i~* Mein knurrender Magen ist das erste, was ich nach einigen Stunden wirklich wahrnehme, so konzentriert habe ich gelesen. Ich will es nicht glauben. Mir bleibt allerdings keine Wahl: der verdammte Bulle hat nicht gelogen. Schlimmer noch, seine unheimlichen Bernsteinaugen beobachten mich eindringlich, wie ich die Nachricht verdaue. Das hat er ja jetzt gehört! Mir ist nicht nach seinen spitzen Kommentaren, also schraube ich mich in die Höhe, wanze vor die Tür. Abkühlung kann man vergessen, unter dem dichten Blattwerk dieses Dschungels dampft noch immer die Spätsommerhitze. Ein paar Schritte, der Matsch saugt liebevoll knatschend an meinen nicht mehr ganz so neuen Sneakern. Ich entscheide mich dafür, meinen Magen zu besänftigen. Dementsprechend zurück in die Höhle des... Wolfs? Passt irgendwie. Um mir keine Tollwut einzufangen, weil der Kerl mir seine Hauer in die geliebten Körperteile haut, streife ich artig meine Sneaker ab, eiere barfuß in die heimelige Hütte. Unerwarteterweise kredenzt der Meister höchstselbst schon die nächste Mahlzeit, spartanisch, aber nahrhaft: Nudeln in einer Gemüsebrühe. Ich lese eilig meinen Stapel Papiere auf, tüte sie wieder ein. Seine Zusammenfassung fehlt, wundert mich nicht wirklich. Er ist einfach nicht der Typ, der gern Spuren hinterlässt oder Beweise für eine gelegentlich menschliche Regung. "Pfoten waschen." Kommandiert er sonor, enthält sich jedes weiteren Kommentars beim Essen. Ich ergreife die Gelegenheit, um mich auch mal nützlich zu machen, spüle unaufgefordert das Geschirr, lehne mich zum Abtrocknen an die alte, gemauerte Spüle. Überlege, wie ich anfangen soll. *~i~* "Hast du das wirklich alles geplant, Hajime?" Er spricht meinen Namen mit einer so lasziven Betonung aus, dass ich unwillkürlich die Brauen runzele. Ich behalte ihn starr im Auge, beuge mich vor, subtil einschüchternd. "Nein, ich habe drei Jahre harte Arbeit, sehr viel Geld gesetzestreuer Steuerzahlender, Leben und Karriere einer Menge Menschen einfach auf eine Laune hin in die Waagschale geworfen." Wie der Hitzkopf, der der kleine Gockel nun mal ist, gräbt er die Finger hart in das Spülbecken, verzieht schmerzerfüllt die Miene. Tsktsk. Ich erhebe mich, strecke fordernd die Hand aus. "Lass mich nachsehen." Er zögert, reicht mir die Rechte. Unverschämtes Glück, dass die Knochen und Sehnen nicht dauerhaft geschädigt sind. Das hindert diesen Heißsporn nicht daran, sich so zu gebärden, als sei nichts geschehen. "Aber..." Er ringt um Beherrschung, was ihm offen vom Gesicht abzulesen ist. "Hast du das alles einkalkuliert? Dass Enishi Soujirou totspritzt? Sich selbst eine Kugel in den Kopf jagt?! Oder die Sache mit Kenny?! Was ist mit mir? Hast du gleich gewusst, wie du mich erpressen kannst, damit ich in dieser Sache mitspiele?!" "Du verschwendest dein Mitgefühl an die Falschen." Gebe ich mich gleichgültig, bandagiere seine große Hand mit dem erstaunlich zierlichen Handgelenk sorgfältig ein. "Denkst du wirklich, dass die Beteiligten in diesem Beinahe-Krieg alle Chorknaben waren?" Rücke ich ihm sehr nahe auf die Federn, sodass er reflexartig zurückzuckt. "Nicht einmal du kannst so naiv sein." Schnaube ich betont gehässig. "Aber Soujirou?!" Er entzieht mir energisch seine Hand. "Was konnte der denn noch anrichten?! Ich meine..." Ich lasse ihn nicht ausreden, sondern fasse ihn an der Schulter, schiebe ihn wie einen widerspenstigen Schüler zum Tisch, fächere Unterlagen vor ihm auf. "Sieh dir diese netten Jungs an." Zische ich durch die Zähne. "Ist doch beeindruckend, so ein Register an Straftaten, nicht wahr?! Das sind nur die, die man ihnen nachweisen konnte. Was hier nicht steht, das sind ungeklärte Morde unter den Triaden, Waffenschmuggel und Drogenhandel." Ich kerkere ihn ein, indem ich mich direkt hinter ihn stelle, um ihn herumgreife. "Dieses 'Mäuschen' hier war vor seiner Karriere als Drogenwrack ein Attentäter für Mak the Mummy, den sie auf die Triaden angesetzt hatten." Schnaube ich abschätzig. "Für die Triaden arbeitete unser leidenschaftlicher Liebhaber Enishi, der genau die gleichen Karrierestufen hinter sich gebracht hat. Was für ein nettes Pärchen, nicht wahr?" Er schiebt Blätter umher, stützt sich schwerer auf die Tischplatte. So ist das Leben, Junior. Auf Illusionen schwebst du, in der Realität musst du auf dem Boden der Tatsachen laufen. "Hast du diesen Job wegen deines Ex angenommen?" Er legt die Liste frei, die ich mit Genugtuung abgehakt habe. "Nicht doch!" Versetze ich verächtlich. "Zu meinem Job gehört es, Augiasställe auszumisten. Der Sumpf hier stand ganz oben auf dem Wunschzettel des Weihnachtsmanns in Washington." Zumindest ein Teil davon entspricht der Wahrheit. "Darf ich mir die Sachen hier ansehen?" Er angelt nach einem der derangierten Stühle, erstaunlich beherrscht. Warum nicht, vielleicht beschäftigt es ihn eine Weile. Ich habe schließlich noch einige Akten aufzuarbeiten. *~i~* Man kann es sich kaum vorstellen. Dieser unheimliche, arrogante, selbstsichere, verschlagene Typ sitzt mir gegenüber, arbeitet so leise und eifrig mit höchster Konzentration wie ein Bilderbuch-Streber. Ich habe mir seine Dokumente sortiert, Stapel gebildet. Aus scheinbar unzusammenhängenden Kopien und Abschriften wird langsam ein gewaltiges Netz, das fast die gesamte Länge des Tischs einnimmt. Obwohl ich es nicht gern gestehe: ich bin wirklich beeindruckt. Als ob man den letzten Akt einer Jonglage gesehen hat, zählt, wie viele Keulen, Bälle, Fackeln und Handgranaten wirklich in der Luft waren. Unglaublich. Ds hat er ganz allein...?! "Sag mal?" Ich kaue auf einem Ende meiner Bandana herum. "Du bist doch nicht beim ATF, oder?!" Er zeigt mir die Zähne, ein süffisantes Grinsen. "Das habe ich auch nicht behauptet." "Aber der Pillendreher...?!" Begehre ich auf, schon wieder in der Senkrechten. Hatte der nicht erzählt, sie hätten für die ATF gearbeitet?! "Dinge ändern sich." Bemerkt er bündig, sammelt die Dokumente ein, bündelt sie ordentlich. "Du hast noch zwei Versuche." Amüsiert er sich mit meinem aufkeimenden Zorn. "Ich denke, dass du einer dieser internen Ermittler bist, für das FBI arbeitest." Knirsche ich zwischen reibenden Zähnen hindurch. "Sonst hättest du nicht so viele Befugnisse und Informationen." Ich stehe schon fast neben ihm, spüre das Jucken meiner Finger. Es ist schwül in der Holzbaracke. Sein überhebliches Gebaren tut ein Übriges, mich zu entnerven. "Was soll die Sache mit meiner Mutter?" Fasse ich ihn an der Schulter. Er steht wie angewurzelt, sodass ich ihn nicht pathetisch herumreißen kann. "Sie bewies mir, dass du dich unter den Chorknaben wohlfühlen würdest. Sozusagen die richtigen Qualifikationen hast." Er lächelt mit gleißendem Wolfsgebiss. *~i~* »Poker wäre kein gutes Spiel für ihn.« Stelle ich mit reizvoller Befriedigung fest, als Funken in seinen großen, sich verdunkelnden Augen sprühen. Unbändige Wut ballt sich dort zusammen wie ein gewaltiger Sturm, rasch anwachsende Aggression. "So ist das also." Ringt er um jede Silbe zwischen zusammengepressten Lippen, das Gesicht weiß vor Zorn. "Deshalb hast du mich reingezogen. Weil ich auch nur Abfall bin, richtig?! Auch so ein Scheißkerl wie Enishi oder Soujirou." Meine Zähne blenden auf, ein selbstsicheres Wolfsgrinsen. Das schlägt die meisten Menschen in die Flucht. Wenn sie noch einen Rest an Selbsterhaltungstrieb bewahrt haben. Nicht unser vorlauter Kampfhahn. Beschleunigt verkürzt er die Distanz zwischen uns, ballt beide Hände zu Fäusten, wie gewohnt rücksichtslos gegen Vernunft und sich selbst. "Das hat ja perfekt gepasst, nicht wahr?! Kann man mich endlich dran kriegen! Toll, gibt bestimmt eine Belobigung! Für die nötige Buße hast du ja auch schon gesorgt, du verfluchter Bastard!! Lieferst mich einem geisteskranken Gangster aus!" Sein Atem weht ebenso hitzig wie seine Anschuldigungen in mein Gesicht. "Was mich betrifft, okay, ich nehme das an!" Faucht er mit nachlassender Beherrschung. "Was ist mit Kenny?! Und Kama?! Wegen deinem beschissenen Ehrgeiz hatte ich Sex mit meinem besten Freund!" Ich kann es mir nicht verkneifen. Es würde Sodbrennen auslösen. "Hast du nicht viel Spaß gehabt und viel gelernt?" Lege ich noch einen weiteren, Gift getränkten Scheit auf sein kochendes Temperament. Mit unartikuliertem Gebrüll stürzt er sich auf mich, die Fäuste in mein T-Shirt gekrallt, will mich herumschleudern, gegen die alte Anrichte oder die Wand. Respekt. Ein winziger Teil Instinkt verbietet ihm, auf mich einzuprügeln, weil er weiß, er hat keine Chance. Allerdings sind seine Quoten auch nicht besser, was diese ungestüme Rangelei betrifft. Bald schon ähnelt es einem exotischen Ringeltanz, da ich seine Handgelenke einfach umklammere wie eine Schraubzwinge. Wir kreiseln. Er versucht, mich zu Fall zu bringen, während er abgehackte Beleidigungen brüllt, seine Selbstkontrolle schleifen lässt. Schwitzend und keuchend muss er nach einigen angestrengten Minuten des unentschiedenen Kampfes die Verbalinjurien einstellen. Das gibt mir die Gelegenheit, Öl ins Feuer zu gießen. Es ist zu verlockend, ihn in die Irre laufen zu sehen, ohne tatsächlich die Wegweiser zu vertauschen. *~i~* Mein Hals brennt, ich huste, krächze. Werde aber den Teufel tun und aufstecken!! Er grinst nicht mehr, belauert mich mit den Glitzern von arrogantem Amüsement in seinen abartigen Schwefelaugen. Während ich mich bemühe, ihm eine Abreibung zu verpassen. Nicht einfach. In meiner rechten Hand wechseln sich unerträglicher Schmerz und Gefühllosigkeit ab, was nicht gerade optimistisch stimmt. Wenn ich ihn flachlegen könnte, nein, Leute, die andere Weise!, hätte ich eine reale Chance, ihn in den Dreck zu zwingen, ein paar Mal seinen verfluchten Sturschädel auf den Boden zu rammen. Unglücklicherweise ist der Kerl geschmeidiger als ein geölter Eintänzer, balanciert jede Attacke souverän aus, fährt auch sogleich fort, mich in handlich kleine Stücke zu sezieren. Metaphorisch. Mit jeder weiteren Spitze und Gemeinheit, die er wie ein Gourmet der Gehässigkeiten vom Stapel lässt. "Ganz schön vorlaut, Gockel, hier herumzukrähen, als wärst du die wichtigste Figur im Spiel. Denkst du wirklich, dass diese gesamte Organisation und Planung von dir abhängig ist?! Oder meinst du etwa, Yukishiro hätte sich mit dir seelenverwandt gefühlt, weil du diese männliche Scarlett O'Hara begattet hast?! Lächerlich!!" "Ach ja?! Du hast mich dorthin geschickt!" "Habe ich gesagt, dass du in Begleitung gehen sollst? Habe ich dir aufgetragen, Yukishiro auf den Pelz zu rücken? Hattest du irgendwann im Verlauf unserer Geschäftsbeziehung den Eindruck, dass du in irgendeiner Form von Bedeutung bist?" Boshafte rhetorische Schläge unter die Gürtellinie. Ich schnappe vor haltlosem Zorn nach Luft. "Ich habe für Enishi den Köder gespielt!! Ich hätte dabei sterben können!" Brülle ich zurück, sprühe ein wenig Eau de Sano auf sein Gesicht. Der widerlich-arrogante Drecksack zuckt nicht mal! "Du willst mich wohl zum Lachen bringen, hm? Dummes, kleines Küken. Denkst du, du warst mein einziger Informant? Yukishiro hätte ich mir ins Haus bestellen können wie eine Pizza, da ich Schneewittchen für ihn beschafft habe!" Triumphiert er süffisant, verspottet mich mit jedem Atemzug. Ich weiß ja, verdammt noch mal, ich weiß es doch!! Klar, Kenny war in dem Club an jenem Abend und Enishi kannte ihn. Dieser schräge Blonde mit dem Besen auf dem Hohlschädel... und wer weiß noch wen! Sicher, der Super-Bulle hat ja höchstpersönlich Soujirou bei den Triaden eingesammelt. Ich hasse ihn!! Weil er überlegen ist, weil er arrogant und kalt ist, ein besserwisserischer Scheißkerl. Weil er recht hat. "Ach, fick dich doch selbst!" Platze ich mit aufgestauten Emotionen heraus. Ich will mir nicht mehr länger anhören, dass er sich aus allem sauber herauswinden kann, weil er mir genug Interpretationsspielraum bei seinen Direktionen gelassen hat. Dann hätte ich niemals mit Kama... Erneut steigt mir weißglühende Lohe in den Kopf. Ich habe eine so wichtige Freundschaft riskiert, Kama vielleicht die Liebe seines Lebens, nur, weil dieser verfluchte Mistkerl einen degenerierten Sinn für Humor hat!! "Fick dich selbst! Fick dich! Fick dich! Fick dich!" Spucke-brülle-kreische ich enthemmt, vollbringe es tatsächlich, ihn gegen eine freie Wand zu drängen. Die Szene wird rasch unwirklich und zugegebenermaßen unheimlich, als er mich anlächelt, sehr ruhig, amüsiert. Ich ziehe unwillkürlich die Schultern hoch. Da ist doch was faul. Jupp. Mühelos zupft er meine Hände aus dem lädierten Stoff seines T-Shirts, immer noch meine Handgelenke in eisernem Griff bleckt sein Raubtiergebiss auf. "Nein." Raunt er sonnigen Gemüts. "Fick dich." *~i~* Es sind diese Augenblicke, die jeden Tag krönen. Die kleinen Freuden des Daseins. Wenn man beobachten kann, wie langsam, gemächlich, Erkenntnis in emotionsumnebelte Köpfe dämmert. Die Kinnlade herunterklappt, manchmal von hastigem Luftschnappen begleitet, das entfernt an Guppys erinnert. Der Kampf in den sich weitenden Augen. Widerstreitende Argumente: »meint er es ernst?«-»Niemals, würde er doch nie!«- »Ist das ein Scherz?«-»Hä?!«- Eben die ganze Bandbreite eines mentalen Entscheidungsprozesses. Der Streithahn erweist einmal mehr seinen gut justierten Instinkt, weicht hastig zurück, zieht die Augenbrauen zur Sturmwarnung zusammen. "Vergiss es!" Krächzt er heiser, lässt mich keinen Wimpernschlag mehr aus schokoladenbraunem Zwillingsfokus. "Was ist?" Necke ich leichthin weiter. "Hast du Angst? Oder doch nicht so viel gelernt? Den Mund zu voll genommen?" Er zappelt unentschlossen in meinem Griff, studiert mich unter herabhängenden Strähnen eingehend. "Oder bist du nicht Manns genug, es mit mir aufzunehmen?" Lasse ich dezent die Bombe fallen. *~i~* Ich habe keine Chance und ich weiß es. Vielleicht, wenn meine Rechte in Ordnung wäre. Wenn da nicht Kaz und Kama warten würden. Ich wäre wahnsinnig genug, ihn herauszufordern, alles zu geben. Nun bin ich kleinmütig, ziehe den Kopf zwischen meine Schultern. Mein Herz rast. Ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Nur einmal, ein einziges Mal, will ich es ihm heimzahlen!! Verdammt, wo stehe ich nun?! Ich könnte es ihm beweisen, indem ich auf seine Provokation eingehe, lässig, cool, ein Mann von Welt. Auf diese Weise würde ich nicht verlieren... verflucht!! Unerwartet lässt er meine Handgelenke los, kreuzt die Arme vor der Brust, um mit dem Saum das T-Shirt über seinen Kopf zu streifen. Oben-ohne ist keine Premiere mehr. Ich schlucke zu meiner Beschämung trotzdem, habe Mühe, meinen Stand zu behaupten, nicht einen tapsigen Schritt nach hinten zu weichen. Sein wölfisches Lächeln ist verdunstet. Nun glimmt der Schwefel intensiv, beobachtend, konzentriert. Wie ein Bannstrahl, der mich lähmt, das Karnickel vor der Schlange. Seine tanzt wahrscheinlich schon Limbo in der Hose. Abhauen: das sollte ich jetzt tun. Laufen, so lange und so weit weg wie nur möglich. Stattdessen zittere ich leicht, weil mein Herz so laut in meinen Ohren trommelt, dass ich im Takt schwanke. Russisch Roulette. Rien ne vas plus- nichts geht mehr. "Fick mich." *~i~* Kapitel 18 - Die Ballade von Wolf und Gockel Ich sollte das nicht tun. Eine Frucht, die von Verboten nahezu umzingelt ist, pflücken, mich an ihrem herb-süßen Geschmack berauschen. Je größer das Risiko, desto größer der Gewinn, nicht wahr? Mein Einsatz steht. *~i~* Es ist ein Fieberrausch, der eine sonderbare Eigendynamik entwickelt, sich rasend steigert bis zur Explosion. Wir entkleiden einander noch geschäftsmäßig gesittet, ohne Worte. Seine Finger laufen über meine nackte Haut. Sofort prickeln Schauer um Schauer bis ins Mark durch meinen gesamten Körper, wie ein Regen Funkenschläge. Er muss nichts weiter tun, als mich zu berühren und ich keuche atemlos, stütze mich an seinen Schultern ab, bereits hochgradig erregt! Danach wird alles schwieriger und einfacher zugleich. Meine Gedanken zerfetzen zu Schimären, mein Instinkt ergreift die Initiative. Es ist nicht wie mit Kama, kein Vergleich. Ein Raubtier hat mich herausgefordert und investiert alle Energie und Finesse, mich zu unterwerfen. *~i~* Geschmeidig, hitzig, kraftvoll, agil: seine Energie vibriert förmlich in dieser attraktiven Verpackung, verleitet mich dazu, ihn immer wieder aufs Neue zu erkunden, Sehnen, Muskelstränge, Haut zu bestreichen, zu massieren, mit den Nägeln zu kennzeichnen, mit der Zunge zu befeuchten, zu schmecken und zu riechen. Mein Revier mit den Zähnen zu markieren. Er wehrt sich reflexartig, windet sich, von Perlen benetzt, die Augenlider flatternd. Seine Kehle ist ungeschützt, die Arterien zum Todeskuss entboten. Die dunklen Knospen auf seinem Brustkorb vor Lust pochend, erregt. Er ruft nach mir, ohne meinen Namen zu nennen. Eine heisere, kehlige Symphonie der Leidenschaft, kontrapunktiert mit Seufzern und Atempausen, samtiges Stöhnen aus der Tiefe seines Unterleibs. Ja, er ist nicht leise, der Streithahn. Das spornt mich an, ihn bis zur Grenze zu treiben. Seine Linke umklammert bereits einen der zusammengebrochenen Bettpfosten wie einen Rettungsanker in einem tosenden Meer von Impulsen, die ihn beherrschen. Wellenförmige Lust, die ihn von der Matratze katapultiert, stöhnen und schreien lässt, die Hacken eingrabend. Es ist nicht genug, nicht für mich. Er spürt meinen zupackenden Griff, meine kompromisslose Vorgabe. Ich will ihn ganz in Besitz nehmen, will meine letzten Banden zerreißen. Wie ein Raubtier über ihn herfallen, mich gütlich tun. *~i~* Ich nehme ihn nur bruchstückhaft wahr: gespannte Sehnen wie Stahltrossen, eine helle, elfenbeinfarbene, nahezu haarlose Haut, die schweren, ebenholzfarbenen Strähnen wie eine finstere Aureole um sein Gesicht, diese Bernsteinaugen, die von innen heraus glühen, so gewaltig, dass sie golden wie der Sonnenball wirken. Er ist überall, über mir, neben mir, unter mir, biegt mich, wendet mich, formt mich nach Belieben. Der Fieberrausch in meinen Gliedern, eine absolute Droge, lichtet sich nur marginal, als mir bewusst wird, dass ich keine Gnade erwarten darf. Meiner Aufforderung wird Folge geleistet. Alles, was ich erhoffen kann, sind feuchte Gummis und seine Fingerfertigkeit. Ich sollte mich fürchten, bin viel zu abgehoben, invahiert bis über alle Wahrnehmungsgrenzen hinaus. »Zum Teufel!« Bricht mein alter tollkühner Trotz hervor. »Jetzt will ich nicht mehr umkehren!« Wenn ich schon springe, dann mit Anlauf und ohne Zögern. *~i~* Er verwandelt sich unter mir, so, als löse sich eine einkerkernde Schicht von Moral, Zivilisation und Kalkül auf. Er wird zu einem bockenden, knurrenden, ächzenden Tier, das mir Kontra gibt, Muskeln rhythmisch zusammenzwingt. Er ist sehr muskulös, besessen und wild vor Lust. Ich halte dagegen, ihn selbst mit aller Kraft auf der Matratze, seine Beine wie Schraubzwingen um mich gewunden, hindere seine Rechte daran, sich die Wunde erneut aufzureißen, weil er sich mit beiden Armen am Bettpfosten festkrallt. Wogen von Spasmen reißen seinen Körper hoch, schmirgeln die modellierten Bauchmuskeln gegen meine eigenen. Mein Schweiß und Speichel vermischen sich mit dem Sprühregen, den er versprengt. Vage vernehme ich meine eigene raue, sonore Stimme, ohne Artikulation, die Antwort auf seinen leidenschaftlichen Gesang. Sein Leib glüht vor infernalischer Hitze, in die ich immer wieder eindringe, verführt von der Massage, die sein Instinkt ihn so rasch und kundig gelehrt hat. Schmutzig, klebrig, intim, herausfordernd, laut, animalisch. Perfekt. *~i~* Er gibt keine Ruhe. Wahrscheinlich schlagen Flammen aus seinen Augen, auch wenn ich das nicht belegen kann, zerrt mich vom Rücken auf die Knie, auf seinen Schoß, auf die Seite. Er erholt sich schnell. Sex ist angeblich zu fünfzig Prozent eine mentale Angelegenheit. Dieser Besessene will mich zu hundert Prozent unterkriegen. Trotz dieser fieberschwangeren Erkenntnis kann ich mich ihm nicht entziehen. Kaum, dass er seine kraftvollen, gepflegten Hände auf mich legt, sein exotischer Geruch von Lakritz und Raubtierduft mich einhüllt, reagiere ich auf ihn. Ein Sucht erregender Cocktail. Vielleicht, weil er sein wahres Wesen enthüllt. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Es ist das vierte Mal, und ich gebe auf. *~i~* Der Vorteil der Erfahrung und Kondition. Ich komme vor ihm zu mir, kann mich aufrichten, seinen feucht-wirren Schopf ungebändigter Strähnen auf meinen Schoß betten, wie ein Müßiggänger den Wildwuchs zerzausen. Seine Lider flattern, unwillkürliche Bewegungen in geschmeidiger Eleganz schließen sich an. Ein vages, lautloses Seufzen nachsichtigen Entsetzens hallt in meinem Inneren wider. Was habe ich angestellt? Wieso kann dieser vorlaute, ungestüme, sture Streithahn auf diese Weise antworten? Dass mir noch immer alle Knochen im Leib summen, mein gesamter Körper von elektrischen Spannungen aufgeladen ist. Tsktsk. Wie unvorsichtig von mir. *~i~* Tropenhitze, Wüstenglut: alles passend, um meinen gegenwärtigen Zustand zu beschreiben. Mein Blut kocht noch immer. Flüssiges Gold schmilzt in meinen Gliedern. Ich bin nicht in der Lage, wirklich koordiniert zu reagieren, kann ihn nur ansehen, seine kraftvolle, schlanke Hand beobachten, die mit meinen Strähnen spielt, sie zerrauft. Eigentlich möchte ich mich auch gar nicht bewegen. Mal ausgenommen den Fall, dass er wieder ein Hähnchen rupfen will, mich auf seinen Spieß nimmt. »Oh weia...« Unbewusst grinse ich debil über die Vorstellung, ernte eine hochgezogene Augenbraue. Zugegeben, er ist ein arroganter Stinkstiefel, aber so, aus der Nähe, nach vier Orgasmen, sieht er wirklich sexy aus. Autsch! Allein der Gedanke, diesen Super-Cop als Lustobjekt zu studieren, entbehrt nicht gerade heilloser Komik. Dennoch: die ebenholzfarbenen Haare aufgefächert ohne die Ölschicht, schulterlang und geradezu herausfordernd, mit den Fingern ihre Glätte zu erfahren, sein hageres Gesicht mit dem hochmütig-süffisanten Grinsen. Erstaunlicherweise gelingt es mir, meine Linke zu heben, mit den Fingerspitzen die Linien, die prägnanten Kieferknochen zu streicheln. Er scheint ein wenig verwundert, lässt mich gewähren, behält mich immer im Fokus seiner ungewöhnlichen Augen, die mir nun gar nicht so bestialisch vorkommen. Eher wie der einzige offene Beweis für seine animalische Natur. In einer geschmeidigen Bewegung liest er meine Rechte auf, die stillvergnügt vor sich hin pocht. Blut hat die Streifen der Bandagen verklebt. Er wickelt meine Hand aus, erprobt jedes Fingergelenk einzeln, bevor er sich mit den Handknochen und dem Gelenk befasst. Der Teufel reitet mich, nein! Hajime sitzt nach wie vor züchtig auf dem Bett!, gibt mir dämliche Sprüche ein, die schneller meinen Schnabel erreichen, als mein Gehirn eine Vollsperrung durchsetzen kann. "Na, was ist? Willst du kein Blut saugen?" Er mustert mich kryptisch, während ich hilflos grinse, hebt meine Hand an, leckt genau über die Wunde, zieht mit der Zungenspitze die Nähte nach. Ich spüre, wie ich schon wieder salutiere, schneller atme, den Kopf in seinem Schoß bewege. "Tsktsk." Tadelt er, lächelt nachsichtig. Hmmm, die Taktik geht wohl nicht auf! Also rolle ich mich herum, was keineswegs elegant anmutet, da er noch immer meine Rechte in seiner Gewalt hat, klettere auf seinen Schoß, beäuge ihn kritisch. So alt ist er ja wohl auch nicht, dass er jetzt schon die Waffen streckt, oder?! Bevor ich aber etwas Entsprechendes vom Stapel lassen kann, versiegelt er meinen Mund mit einem gebieterischen Finger. "Das Material ist alle." Verdammt. *~i~* Es gelingt mir nicht ganz, ein Grinsen zu unterdrücken, als der wilde Streithahn Kopf, Schultern und Zotteln hängen lässt. Er lehnt er sich vor, die Stirn gegen meine. "Ich wollte leben." Wispert er an meinen Lippen, den Blick gesenkt. Versichernd kraule ich seine wüste Mähne, hauche auf seinen zusammengepressten Mund. "Ich weiß, Sano." *~i~* Mir ist vollkommen gleichgültig, wer oder was er außerhalb dieser halb verfallenen Ruine ist, solange er mich einfach im Arm hält. Also bin ich doch kein böser Bube, oder, ich meine, wenn er mich akzeptiert? Er kennt ja schließlich all die wirklich großen Kaliber, nicht wahr? "Wie hast du es herausgefunden?" Murmele ich an seinem Ohr, schmiege die Wange an seine glatten, schweren Strähnen. Seine Fingerspitzen tanzen mein Rückgrat auf und nieder, wählen gezielt jeden einzelnen Knorpel. Er lacht leise, sonor an meinem Ohr. Die Vibrationen prickeln durch die Luft, tanzen über meine nackte Haut. "Ich bin eben sehr neugierig." Reizt er mich, knabbert an meinen Ohrläppchen. Energisch lege ich beide Fäuste auf seinen sehnigen Brustkorb, erzwinge eine bescheidene Distanz, um in seine Bernsteinaugen zu blicken. "Woher weißt du es?" Hake ich vehement nach, versuche vergeblich, diese funkelnden Zwillingssonnen zu hypnotisieren. Der tückische Wolf krault meinen Nacken, lässt mich unruhig auf seinem Schoß herumzappeln, sichtlich amüsiert. "Sorgst du dich etwa, Gockel?" Mit einem Knurren lasse ich den 'Gockel' durchgehen, auch wenn mir mein Name aus seinem Mund besser gefallen hat, Gänsehautlängen besser. Ich zucke als Antwort mit den Schultern, drehe den Kopf aus seinem massierenden Zugriff. "Ist nicht gerade ein rühmliches Kapitel in meiner Biographie." Murmele ich schließlich gepresst. Für lange Augenblicke verharren wir. Seine Fingerrücken streichen sanft über meine Wange. "Deshalb bist du der Joker im Spiel." Raunt er sonor. Was mich zu einem unleidlichen Protest herausfordert. "Klar, ich gebe den Narren!" Infernalisch, wie er nun mal ist, bläst er mir tadelnd in die Ohrmuschel, schnalzt mit der Zunge. "Ich habe dich ausgesucht, weil ich einen Überlebenden brauche." Bescheidet er mir ernsthaft. "Helden, die von ihren guten Absichten geblendet werden, habe ich genug am Hals." Staubtrocken, kaltschnäuzig, typisch Super-Bulle. Ich platze lachend heraus, kann ihm endlich wieder in das hagere Gesicht sehen, nehme die Fäuste von seiner Brust, lege die Arme um seinen Nacken. "Ich dachte, dass niemand davon weiß." Von meinem schmutzigen Geheimnis. *~i~* Wenn er nicht aufbrausend herumtobt, die Augenbrauen gewittrig zusammenzieht, der Mund von Profanitäten überquillt, sich die Schokolade in bittere Finsternis verwandelt: er strahlt von einem überwältigenden Charme, gepaart mit vorwitzigem Schalk und einer nicht zu unterschätzenden Portion Erotik. Sein Lachen ist herzhaft, ungekünstelt, frei und tief. So angenehm wie eine samtige Melodie. Er lächelt vertrauensvoll in mein Gesicht. Üblicherweise die Aufforderung für mich, meinen Gegenüber gehörig vor den Kopf zu stoßen, zu provozieren, auflaufen zu lassen mit spitzen Bemerkungen und Sarkasmus. Ich bleibe stumm, erwarte seine erstaunlich weichen Lippen, die sehr vorsichtig an meinen eigenen knabbern, sie mit seinem Atem aufwärmen, mit der Zungenspitze befeuchten. Er küsst scheu, zurückhaltend. So, als wüsste er, dass nur ein aufrichtiger Kuss wirklich intim ist, persönlich wird. Hätte nicht gedacht, dass er so erwachsen, so aufgeklärt ist. Ich schließe die Augen, wische mit den Wimpern durch seine widerspenstigen Strähnen, die über mein Gesicht streichen, als ich den Kopf ein wenig neige, ihn auf die Weise küsse, die mehr als deutlich transportiert, dass er nur auf meinem Schoß sitzt, weil wir keine Kondome mehr haben. »Sano...« Zu leicht geht mir sein Name von der Zunge, geschweige denn in meinen Gedanken herum. Der kleine Streithahn schmeckt seltsam vertraut und exotisch zugleich. Ich kann nicht genug von dieser Kostprobe bekommen, dippe immer wieder in seinen Mund, erkunde die Beschaffenheit hinter den starken Zähnen gründlich. Ich weiß, dass diese Erkenntnisse nützlich sein werden. Unerwartet zieht er sich zurück, den Kopf gesenkt, ringt nach Atem, erregt, ebenso wie ich auch, murmelt nach einem Räuspern in Richtung meines Bauchnabels. "Du wirst mich trotz allem vom Haken lassen?" Ich schmunzele unwillkürlich, erwäge, ihn darauf hinzuweisen, dass ein Haken mangels Verpackung temporär aus dem Rennen ist, unterlasse es, weil es mich selbst befremdet, wie bereitwillig ich über eine Fortsetzung nach diesem Intermezzo spekuliere. Ausgeschlossen. Einmal, nun gut, vier Mal, gegen die Regeln und die Vernunft zu agieren, ist eine Sache. Außerhalb dieser vier Wände, in der Realität da draußen, kann kein nahezu dreißigjähriger Bundesbeamter eine sexuelle Beziehung zu einem minderjährigen Highschool-Jungen unterhalten. Meine Bedenkpause dauert zu lange an. Er beäugt mich mit sichtbarem Kampf um Beherrschung seiner Verunsicherung. »Der Haken!« Bringe ich mich wieder auf die Höhe der Konversation, wuschle neckend durch die wirren Strähnen seines stolzen Hahnenkamms. "Ich halte meinen Teil unserer Abmachung ein." Er schluckt mehrfach, zieht eine Grimasse. "Aber die Sache mit meiner Mutter?" Wiederholt er, blinzelt nervös. "Also, technisch gesehen, ist das nicht Totschlag?" Bringt er endlich seine Befürchtungen hervor. Nun ist es an mir, perplex zu zwinkern. Lediglich einmal, wohlgemerkt. "Totschlag?" Echoe ich nach einem Moment der Befremdung. "Wie kommst du darauf? Sie ist vor drei Jahren in einer psychiatrischen Klinik gestorben." Es dauert fast eine ganze lange Minute, bis er die Information auch verarbeitet hat. "Was?! Was?!" Stottert sein Gehirn über seine Lippen. Sein Griff um meinen Nacken wird schmerzhaft, weil er sich vollkommen verkrampft. Ich verzichte auf weitere Ausführungen, lasse ihn selbst die Details einsetzen in das Mosaik seiner Biographie. Er wendet sich ab, schüttelt den Kopf. "Das kann nicht sein. Unmöglich. Als ich weglief, hat sie nicht mehr geatmet." "Die Identifizierung war eindeutig." Gebe ich gelassen zurück, studiere die Sehnen und Muskeln, die in einem Gesicht zucken, während er um Contenance ringt. "Du verstehst nicht." Er nimmt mich in den Fokus, fängt mit beiden Händen mein Gesicht ein, eindringlich, die köstlichen Schokoladenaugen mit einer wasserklaren Schicht von Gram und Schuld überzogen. "Ich habe sie geschlagen und gegen die Heizung gestoßen. Sie atmete nicht mehr. Tot." Ich halte seinem brennenden Blick stand, streiche mit den Daumen nasse Spuren von seinen Wangen. "Sie war auf so vielen Drogen und Medikamenten, dass sie ein totales Blackout hatte, Sano, ohnmächtig mit sehr niedrigem Puls. Gestorben ist sie erst vor drei Jahren in der Klinik, an den Folgen der jahrelangen Vergiftung ihres Körpers." "Das kann nicht sein." Beharrlich sträubt er sich gegen meine Worte, zieht die Nase hoch, will mich unbedingt davon überzeugen, dass er seine eigene Mutter im Streit erschlagen hat. "Sano, denkst du wirklich, dass ein zehnjähriger Bengel, so unterernährt wie du warst, als man dich nach sechs Monaten im Heim aufgenommen hat, eine erwachsene Frau erschlagen kann? Hmm? Drei Köpfe größer als du?" Er weint wirklich, schüttelt den Kopf, beregnet mich mit feuchten Perlen, bringt keine zusammenhängenden Worte mehr über die zuckenden Lippen. "Warum sollte ich dich belügen, Gockel?" Versuche ich es mit nachsichtigem Tadel, wiege ihn leicht, zwinge ihn, in meine Augen zu sehen. "Du trägst keine Schuld, Sanosuke." Versichere ich eindringlich. Hat er wirklich all die Jahre geglaubt, er hätte seine Mutter auf seinem Gewissen? Tsktsk. Ich dachte wirklich, er fühle sich dafür verantwortlich, sie verlassen zu haben, in ein Heim geflohen zu sein. Langsam beruhigt er sich von selbst, legt den Kopf weit in den Nacken, damit die Tränen versiegen, wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht, versucht sich an einem entschuldigenden Grinsen. "Du hast das einzig Richtige getan." Tue ich meine Meinung kund, ergänze seine Bemühungen, sich von den Spuren seines Ausbruchs zu reinigen. "Ich bin nicht sicher, dass es das Richtige war." Erklärt er betont sachlich mit belegter Stimme. "Ich war am Ende. Ich konnte sie einfach nicht mehr durchschleppen." Ich streiche über seine glühenden Wangen, immer wieder. "Auch wenn du dich gegen die Realität sträubst, Küken, du bist noch immer grün hinter den Ohren." Trieze ich ihn mit herausforderndem Grinsen. Er schnaubt. Ich verschließe seinen Mund mit der flachen Hand. "Man kann niemanden außer sich selbst erlösen, Gockel. Das weißt du auch. Es gehört zum Überleben dazu. Wer das verkennt, ist nichts weiter als ein blasierter Idiot." Seine Augen studieren mich stumm, auch, nachdem ich seinen Mund wieder freigebe. "Ich habe das nicht beabsichtigt." Erklärt er schließlich leise, strafft seine Gestalt energisch. "Es war ein Impuls. Ich dachte ja, sie sei tot." So erwachsen, so gefasst, dass ich den Jungen dahinter erkennen kann. Das Kind, das keiner der Verwandten aufnehmen wollte. Fast vier Jahre mit seiner Mutter auf einer Reise in den Abgrund war. Eine psychisch kranke Frau versorgte ohne irgendeine staatliche Unterstützung. Nicht verwunderlich, dass er an seinem Halbbruder hängt. Oder dass er bisher keine Beziehung zu einem Mädchen eingegangen ist. Seine Stirn senkt sich gegen meine. Er lässt sich von mir in einer Umarmung halten, hängt wohl Erinnerungen nach, beurteilt man seinen traurigen, erschöpften Gesichtsausdruck. Die Akte seiner Mutter entbot ein nicht ungewöhnliches, erschütterndes Bild von Verwahrlosung und Missbrauch. Psychische Instabilität. Drogen. Medikamente. Nachlassende geistige und gesellschaftliche Fähigkeiten. Selbstvernachlässigung. Unkontrollierte und unmotivierte Gewaltausbrüche. Ich ziehe ihn enger an mich, berge sein Gesicht an meinem Hals, bestreiche seinen Rücken in beruhigenden Kreisen. Meine Berufung, meine Arbeit dient auch dazu, Kindern solches Unglück zu ersparen. Damit sie so unbeschwert aufwachsen können wie meine eigenen drei Söhne, geliebt von ihren Eltern und den Menschen, die für sie sorgen. Fast widerwillig lasse ich zu, dass er sich aufrichtet, neckend an meinem Ohr seufzt, "Ha-jime", von einem aufmunternden Lächeln begleitet, als sei ich es, der des Trosts bedürfe. Ich knurre warnend. Kein Anlass, sich Freiheiten herauszunehmen! Unbeeindruckt fängt er mein Gesicht in seinen Händen ein, links warm und kraftvoll, rechts grob und verkrümmt durch den Verband. "Warum Hajime? Heißt du nicht Gorou Fujita?" Will er ein weiteres Rätsel lösen. "Jeder hat doch mehr als ein Leben." Gebe ich schnippisch zurück, zupfe an seiner Nasenspitze. Er grinst breit, beugt sich vor, um den bitteren Geschmack von schmerzvoller Vergangenheit mit exotisch-aufreizendem Aroma von Leidenschaft zu versüßen. *~i~* Es dauert eine ganze Weile, bis ich die Nachricht tatsächlich verdaut habe: ich habe meine Mutter nicht getötet. Die Erleichterung sickert ganz langsam ein. Ich werde mit jedem Augenblick, der die Last auf meinen Schultern reduziert, übermütiger, attackiere den Wolf herausfordernd, der sich erstaunlich konziliant mit mir über die Matratze wälzt, mich so tückisch kitzelt, dass ich Mühe habe, meine Blase nicht versehentlich zu entleeren. Er lehnt ausgestreckt halb über mir, den Kopf in eine Hand gestützt, studiert mich mit unleserlichem Ausdruck. Ich bin ganz froh, hier zu liegen, die Arme unter dem Hinterkopf gekreuzt, an seiner Seite. Natürlich wird diese Idylle nicht anhalten. Nur zu bald müssen wir zurück, raus aus dieser Traumwelt in einer Bruchbude. Für den Augenblick will ich nichts weiter tun als ihn ansehen, bis mir die Augen zufallen. *~i~* Während der kleine Streithahn schläft, packe ich zusammen, belade das Auto, erwäge schließlich, mich anzuziehen. Sein Geruch parfümiert meine Haut. Ich verweigere mich dem Anstand, ihn abzuspülen, setze mich neben ihn auf die mitgenommene Matratze, streiche über seine Haare, bis er langsam, widerstrebend erwacht, sich aufrichtet, die Linke noch immer auf meiner Wange. Er reibt seine Nasenspitze mit meiner eigenen, lächelt, küsst mich auf eine Weise, die mir alle Haare aufstellt. "Danke." Haucht er auf meine summenden Lippen, zwinkert mir hilflos zu, löst sich aus unserer lockeren Umarmung, um sich wortlos anzukleiden. Ebenfalls ohne die Erwägung einer Wäsche. *~i~* Da pocht eine Zeitbombe in meiner Brust, mit jeder Meile, die das Auto in der Dämmerung zurücklegt, mit jedem Telefonat, dass Hajime in Telefonzellen auf dem Weg führt. Ich ziehe die Knie an, lümmele mich ungetadelt neben ihm, schweige mutlos. Der Traum ist aus, natürlich, weiß ich ja. Trotzdem... Trotzdem weiß ich genauso sicher, dass ich mich verliebt habe. Wenn nicht mehr. Ich vertraue ihm vollkommen, ganz egal, wie undurchsichtig er agiert, wie manipulativ er handelt. Lasse mich fallen, enthülle meine geheimen Sehnsüchte, Bedürfnisse, von denen ich nicht mal wusste, dass ich sie hege. Kann nicht genug bekommen von ihm, seiner Stimme, seinen außergewöhnlichen Augen, seinen Berührungen, diesen Küsse, seiner Haut auf meiner und natürlich dem Sex. Klar, er lässt sich nicht in die Karten schauen, redet nicht viel, ist von seinem Job besessen. Ich will ja auch gar nicht alle seine Mysterien ergründen! Es zieht mich gerade an, dass er unbezwingbar frei und autark bleibt, stark ist, aber auch zu seinen Schwächen steht. »Dumm nur, dass es nicht funktionieren wird, nicht wahr?« Ätzt eine Stimme in meinem Kopf. »Ein, na gut, vier!, grandiose Ficks sind vielleicht der Beginn einer wundervollen Freundschaft, aber die Quoten für etwas Anderes stehen nicht gut.« Ich seufze lautlos, weigere mich, sein Profil zu betrachten. "Du wirst, sobald wir da sind, eine Aussage leisten müssen zu dem, was geschehen ist. Keine Spekulationen, nichts zu unserer kleinen Absprache oder zu den Zusammenhängen. Ich will nicht, dass du zur Zielscheibe wirst." Ich kaue auf den Anweisungen herum, untersuche sie auf versteckte Botschaften. "Mit anderen Worten: die Maulwürfe sind doch nicht alle aus dem Verkehr gezogen?" Hake ich schließlich nach. Er sieht mich ruhig an. "Ich will kein unnötiges Risiko eingehen." Aha. "Was soll ich sagen, wo wir waren? Was wir gemacht haben?" Er bleckt sein wölfisches Grinsen in die einsetzende Nacht. "Du kennst den Ort nicht. Wir waren fischen. Haben unsere Haken bestückt." Säuselt er zotig, was mir ein Lachen entlockt und ein Seufzen. "Du hast wirklich keinen Gummi mehr?" Erkundige ich mich jammervoll, rolle die Raglanärmel hoch. Er schüttelt den Kopf. Bedauernd? Ich hoffe es. Kuschle mich tiefer in den Sitz. *~i~* Wir erreichen den vereinbarten Übergabepunkt gegen Mitternacht. Das Gerichtsgebäude ist gut gesichert, um diese Uhrzeit nicht frequentiert. Er stolpert müde neben mir her, sodass ich ihn am Ellenbogen fassen, führen kann. Der Austausch geht rasch, noch bevor er den Abschied realisieren kann. Ich kehre mich um, verschmelze mit den Schatten der spärlichen Beleuchtung, sehne mich nach einer verdammten Zigarette. *~i~* Der Anruf von Hajime ist knapp, seine Stimme nicht zu deuten. Ich wecke Kaz auf, der mir aus lauter Verzweiflung den gesamten Tag über im Drugstore geholfen hat, schiebe ihn in seinen gepflegten Wagen. Obwohl er kaum Zeit hat, sich aus den Fesseln des Schlafs zu lösen, ist er mit Kontakt des Lenkrads hellwach, lenkt den hochventilig schnurrenden Wagen sicher durch den spärlichen Verkehr, beherrscht, vage erwartungsvoll, vorsichtig, weil seine Hoffnungen schon zu oft enttäuscht wurden. Ich frage mich, wann sich Hajime wieder melden wird. *~i~* Ich hatte schon öfter mit der Polizei zu tun, von Gerichten ganz zu schweigen. Der Staatsanwalt, der mich hier in die Mangel nimmt, scheint ein Problem mit den Ohren zu haben, fragt immer und immer wieder dasselbe. Ich antworte immer wieder wortwörtlich, Hajimes Wolfsgrinsen vor Augen, so unverschämt und selbstsicher. Wenn schon ein Bastard, dann mit Stil. Ich wirke wahrscheinlich nur trotzig und rotzfrech. Das juckt mich nicht mehr. Er ist weg, ohne ein Wort. Die Zeitbombe pocht in meinen Ohren. Ich will hier raus. *~i~* Einen ganzen Tag mit diesem Okita und man weiß, wie die Hölle aussieht. Idiotische Kundschaft, sein serviles Dauergrinsen, die schmeichelnden Worte: es hängt mir zum Hals raus! Er ist so widerlich nett, dass mich das Verlangen überkommt, ihm eine in sein schmieriges Feixen reinzuhauen. Sano hätte das sicher getan. Ohne ihn fühle ich mich amputiert und hilflos. Ich will nicht zu Fremden nett sein, Smalltalk murmeln, Frechheiten unkommentiert ertragen müssen. Ja, man fragt sich wirklich, wer von uns beiden der Ältere ist. Aber nun, nun werde ich ihn wiederbekommen. Zumindest hat der Pillendreher das versichert. Gnade ihm Gott, wenn er sich irrt. ICH habe den Schraubenschlüssel in Reichweite! Bitte, bitte lass Sano da sein! *~i~* Endlich bin ich entlassen, muss mich natürlich "zur Verfügung halten". Wenigstens kann ich auf den Flur entkommen. Irgendein armes Schwein muss meine Aussage noch in die Maschine prügeln, damit ich unterschreiben kann. Das Geräusch der Schreibmaschine hallt in dem nahezu verlassenen Gebäude wider. »Wo steckst du jetzt, Wolf? Schon wieder auf einer neuen Mission? Eine andere Jagd eröffnet?« Ob er mir den Umschlag mit den Kopien zukommen lässt? Müde lehne ich den Kopf gegen die kühlende Glasscheibe. Schritte nähern sich. Ich ignoriere sie gleichgültig. Noch mehr Fragen, noch eine Unterschrift? "Sano." Krächzt es heiser neben mir. Ich fahre herum, starre Kaz an. Die langen Haare sind strähnig und ungekämmt, sein Gesicht in der dämmrigen Beleuchtung fahl, von Anstrengungen gezeichnet. Seine gewohnt schwarzen Kleider sind zerdrückt, ganz so, als hätte er in ihnen genächtigt. "Hi, Kaz." Winke ich schwächlich, lasse ein Grinsen auf meinem Gesicht verunglücken. Deja vu. Dieses Mal weint er nicht, hält mich fest in seinen Armen. "Alles okay." Versichere ich in seine Haare, streiche über seinen Rücken. "Ich hab keinen Bock mehr auf diesen Scheiß!" Faucht er in mein Ohr, kneift mich in den Hintern. Ich kann nicht anders, grinse breit, hebe beide Hände zur Geste der Unterwerfung. "Schon gut, Kaz, die Botschaft ist angekommen." "Lass uns hier abhauen!" Er umfasst mein Handgelenk energisch, bedenkt den Pillendreher, der neben uns schmunzelt, mit einem giftigen Blick. "Auf hoffentlich Nimmerwiedersehen, Mr. Okita." "Tada!" Trällert der verdrehte Ex-Cop hinter uns her. Kaz legt ein Tempo vor, dass jede Dampflokomotive beschämt hätte. "Nichts wie weg aus diesem Gruselkabinett!" Schon springen wir in seine heißgeliebte Lady. Selbst die Reifen drehen vor Energie durch. *~i~* "Sano." Stelle ich fest, fädele mich in den Verkehr ein. "Jupp?" Er lümmelt neben mir, lächelt mich an, viel zu ruhig. Von wegen "alles okay". "Wir müssen was gegen diesen Geruch unternehmen." Bestimme ich kategorisch. "Geruch?" Wiederholt er, läuft zu meiner Überraschung dunkelrot an. "Lakritze." Erläutere ich. "Du riechst, als hättest du darin gebadet." *~i~* Kaz lenkt seinen geliebten Mustang nicht nach Hause, wie ich erwartet habe, sondern zu Kamas Haus, wo dessen Großmutter gerade den Backofen anwirft. Ist es wirklich schon vier Uhr in der Früh?! "Fütterung der Raubtiere." Gibt er die Marschrichtung vor, tippt antreibend mit einer Fußspitze auf das Pflaster, damit ich mich auch ja schnell aus seinem Gefährt schäle. Verdammt, mit der Lakritze hätte er fast einen Volltreffer gelandet! Ich bin ohnehin nicht aus dem Schneider, schließlich habe ich ihm die Wahrheit versprochen. Er klopft an der Scheibe. Die gewaltige Perücke mit Turban und kiloweise Schmuck wandert in unser Gesichtsfeld. Nach einem scharfen Blick durch die Halbbrille werden wir eingelassen. "Guten Morgen, Jungs." Sie tätschelt unsere Wangen, nachdem wir uns artig gen Fußboden bücken. "Kama-Schatz, Besuch für dich!" Alarmiert sie meinen besten Freund. Es geht ihm also gut?! "Setz dich erst mal." Schon schiebt Kaz mich auf einen der Hocker, assistiert Kamas Großmutter beim Zubereiten ihrer Geheimmischung: Kaffee für Ex-Zombies. "Oma?" Augen reibend schwankt Kama die schmale Stiege herunter, lehnt sich in den Türrahmen, nur spärlich bekleidet mit Boxershorts und einem alten Unterhemd. Der Verband um sein Knie ist gewaltig. Sein Fuß berührt den Boden nicht. Außerdem sind da Pflaster und verheilende Hämatome, ein Stützverband über seiner Brust, der eine Schulter stabilisiert. "Hey, Kama." Flüstere ich beschämt. Das ist meine Schuld. Dass er hier ist, in diesem Zustand. "Sano?!" Seine Hand fällt herunter. Er reißt die Augen weit auf. Ich zucke mit den Schultern, komme langsam von dem Hocker hoch. Wenn er mir eine Abreibung verpassen will, werde ich ihn bestimmt nicht hindern. Stattdessen hopst er, beide Hände an der Theke, eilig auf mich zu, sodass ich ihm entgegenkomme, damit er nicht stürzt. "Ich dachte, er hätte auf dich geschossen! Ich wollte zurück, aber da waren zwei Perverse im Tunnel und dann die Explosion! Aoshi hat mich nicht weggelassen. Da kam schon die Entführung!" Ohne eine Atempause sprudelt er Worte hervor, umklammert meine Oberarme so fest, dass ich mir auf die Lippen beißen muss. "Was für Perverse?" Blubbere ich die erstbeste Frage heraus, als er schon um meinen Hals hängt, mich umarmt. "Ich wollte dich nicht im Stich lassen, wirklich, Sano! Es tut mir leid!" Schluchzt er an meinem Ohr. Klasse, nun fühle ich mich wirklich mies. Er entschuldigt sich bei MIR?! Ich streiche über seinen Rücken, den zerrupften Zopf, wiege mich sanft mit ihm. "Es tut mir leid, Kama, dass ich dich da reingezogen habe." Flüstere ich, küsse ihn auf eine Wange, schiebe ihn behutsam von mir, streichele seine tränenfeuchten Wangen, küsse ihn zärtlich auf seine wunden Lippen. "Ich habe niemals beabsichtigt, dass dir etwas passiert." Wiederhole ich versichernd. »Tja, du Idiot, sieh ihn dir an!!« "Setzt euch und esst endlich!" Kamas Großmutter hat keine Geduld mit unserem pathetischen Auftritt, schlägt uns mit kräftigen Händen flach auf den Hintern. Also leisten wir ihrer unmissverständlichen Aufforderung Folge. Ich nehme Kama auf meinen Schoß, damit er nicht vom Hocker herunterfällt. Den Kopf an meinen gelehnt erzählt er mir leise von dem, was passiert ist und das, an was er sich erinnert. Mir wird abwechselnd flau vor Wut, Scham und Ekel. "Was ist mit Aoshi? Hat er sich nicht mal bei dir gemeldet?" Ich kann es nicht glauben. Kama zieht wie eine Schildkröte den Kopf zwischen den Schultern ein, nagt an seinem gefüllten Croissant. "Ich haue die Scheiße aus dem Idioten heraus." Beschließe ich spontan. Wie kann dieser Blödmann Kama ziehen lassen, der ihn wirklich gegen jede Vernunft, den guten Geschmack und alle Wahrscheinlichkeiten liebt?! "Das ist alles nicht so einfach." Seufzt Kama, zwinkert Kaz zu, der die Augen verdreht. "Jedenfalls nicht so, dass man es mit einer Tracht Prügel korrigieren könnte." Ich knurre Unverständliches. "Mein Angebot steht." Mein Halbbruder knufft mich hart in die Seite. "Halte dich bloß zurück, Sanosuke Sagara, oder du lernst mich kennen! Ich will gar nicht wissen, was das Vormundschaftsgericht zu diesem Schlamassel sagt!" Ich seufze geplagt. "Ich denke, der Wolf wird sich schon darum kümmern." Brumme ich, rühre meinen Spezial-Kaffee schwindlig. "Der Wolf?" Erkundigt sich Kaz hellhörig, extrem misstrauisch. Kama umfasst mein Gesicht, zwingt mich, ihn anzusehen. "Ich will dir ja nicht zu nahe treten." Beginnt er trügerisch lieblich. "Sano, mein bester Freund, aber du weißt schon, dass du sehr stark riechst?" "Nach Lakritz?" Blende ich ein Hilfe heischendes Grinsen auf. "Das auch." Kama ist unbestechlich, wenn er eine saftige Geschichte wittert. "Sano?!" Kaz zerrt auch an mir, respektive meinem Ohr. "Was hast du angestellt?" Jetzt brauche ich wirklich einen sehr guten Kaffee. *~i~* Da sitzen wir, die drei Musketiere und meine werkelnde Großmutter mit Ohren so groß wie Kohlblätter als Maskottchen. Wenn Sano reinen Tisch macht, ist er gründlich. Ich frage mich beschämt, wie ich bloß so dumm sein konnte zu glauben, ich würde ihn gut kennen. Niemals hätte ich gedacht, dass er sich für einen verdorbenen Totschläger hält, der nur knapp einem Hungertod als Kind entkommen ist, so oft verprügelt wurde. Klar, solange wir uns auch kennen, habe ich niemals erlebt, dass er sich einschüchtern ließ oder körperlich attackieren, ohne sich zur Wehr zu setzen. Immer gut gelaunt, munter, auf meiner Seite, obwohl es ihm nur Ärger eingebracht hat. Dazu die Sache mit dem Wolf, Hajime, dem Bullen, der uns so gründlich im Dunkeln gelassen hat. Sano erwartet unseren Richtspruch, dreht den Löffel müßig in der leeren Kaffeetasse. Kaz sitzt stumm und steif, starrt Löcher in die Resopalplatte, während ich meine Augen nicht von Sanos Profil abwenden kann. Er ist so stark, so entschlossen. Ich schlinge die Arme um ihn, drücke ihn an mich. "Ich bin so froh, dass wir Freunde sind!" Lache-schluchze ich ihn sein Ohr. Eine flache Aussage, aber mir entfallen die passenden Worte, die meinen Gefühlen Gestalt geben könnten. "Ich auch." Bestätigt er mich, umarmt mich ebenso eng. Wir lachen schließlich beide, zerraufen uns grob die Mähnen. Kaz ist noch immer still, reglos. Wir beäugen ihn furchtsam. Wird er den Stab über Sano brechen? *~i~* Kapitel 19 - Finale Eroberung Ich kann das nicht glauben, nicht verdauen, wehre mich dagegen. Sano, mein kleiner Bruder, der wilde, ungebärdige, freche, gut gelaunte Sano, der Liebling aller. Tief in mir, in einer verschlossenen Ecke, hatte ich immer das Gefühl, Souzou und auch meine Mutter liebten ihn mehr als mich. Sie hat ihn mitgenommen, ist verschwunden, ohne auch nur einen Gedanken an mich zu verschwenden, nicht wahr? Hat mich zurückgelassen wie einen Sack Müll. Nun muss ich erkennen, dass ich das bessere Ende erwischt habe. All der versteckte Neid, die hoffnungslose Sehnsucht, ein wenig seiner Popularität und Selbstsicherheit zu bekommen: sie verpuffen, hinterlassen eine betäubende Leere in mir. All diese Andeutungen über die Art und Weise, wie er sich über Wasser gehalten hat, was er gesehen und getan hat. Endlich kann ich den Kopf anheben, diesen fremd-vertrauten Jugendlichen betrachten. Ich erinnere mich wieder an Prügel, Geschrei, Hunger, Schmutz. Bevor Souzou kam. Meine Hand löst sich aus der Verkrampfung auf meinem Schoß, wandert selbsttätig in die Höhe, beginnt, über seinen wirren Hahnenkamm zu streichen, wieder und wieder, wie man zur eigenen Beruhigung ein Tier krault. Mein tapferer, kleiner Bruder. Hat sie mich zurückgelassen, weil sie wusste, dass ich diese Tortur nicht überstehen würde? Die Antwort werde ich nicht erfahren. Vermutlich werden meine Wut und verschmähte Liebe ein Leben lang bestehen. Mein Urteil fälle ich entschlossen. "Gut gemacht." Nicke ich aus dem Tiefsten meines Herzens. Er hat die richtige Wahl getroffen, auch für mich. *~i~* Wir werden ungeachtet der Enge und des Ex-Zombie-Kaffees bei Kama einquartiert, kuscheln uns wie Welpen in seinem Bett aneinander. Ein warnender Blick von Kamas Großmutter, wir versprechen handzahm, uns zu erholen, eine große Mütze Schlaf für jeden. "Ich bin zu müde, Sano." Kaz rammt mir seinen Ellenbogen in die Seite. "Wenn wir aufstehen, gehst du als Erstes duschen, verstanden?!" Ich nicke eilig, bin dankbar, dass er mich nicht verachtet, sondern einen Arm um mich schlingt, mich festhält. Kama haucht einen Kuss auf meine Wange, schmiegt sich von der anderen Seite an mich, platziert sein lädiertes Knie über unsere Beine. "Alles wird gut." Kichert er überdreht, zwinkert mir zu. Kaz brummt grollend. Ich spüre ein feistes Grinsen auf meinem Gesicht. Jupp, das könnte glatt passieren. *~i~* Die Zeit vergeht rasch. Schon eine Woche nach diesen denkwürdigen Ereignissen jagen die ersten Herbststürme über das Land. Der Wolf hat Wort gehalten, mir mit einem ungekennzeichneten Umschlag die Kopien zukommen lassen, die belegen, was aus unserem Taichou geworden ist. Auch Kopien über das Schicksal unserer Mutter samt der Sterbeurkunde. Womit ich nicht gerechnet habe: er hat auch meine verlorengeglaubte Geburtsurkunde aufgetrieben und eine Erklärung, die mir den Nachnamen Sagara zu recht verleiht. So echt, als hätte unser Taichou sie tatsächlich abgegeben. Ich freue mich so, dass ich Kaz durch die gesamte Wohnung schleudere, bis er mir hart gegen das Schienbein tritt, weil ihm der Kopf schwindelt. Während Kaz sich auf sein College konzentriert, entschlossen, sich bloß niemals zu verlieben angesichts der beiden "Vorbilder" in seinem Bekanntenkreis, sitzen Kama und ich unser letztes Highschool-Jahr ab. Wir lernen natürlich, schreiben Tests und Prüfungen, halten Referate. Wir sind nach wie vor Parias: die beiden Homos. Wir haben in eine ganz andere Welt, in andere Abgründe geblickt. Dagegen wirkt das Ausgrenzen an der Highschool wie ein Spaziergang im Park. Egal, was sie sagen, wie sehr sie uns schneiden: wir können uns auf unsere Freundschaft verlassen. Sie hält jeder Feuerprobe stand. *~i~* "Sano?" Ich fasse nach seiner Hand, verwünsche die dämliche Krücke, die ich noch immer benötige, um mich einigermaßen zügig fortzubewegen. "Hm?" Er hält inne, blockiert gewohnt selbstsicher den Flur, damit niemand mich 'zufällig' anrempeln und umstoßen kann. "Schwänze mit mir Sport heute." Fordere ich entschlossen, halte mich an seiner geliebten Jacke aufrecht. "Okay." Er nickt, grinst breit, fasst mich um die Taille, katapultiert mich geschickt auf seine Arme, sodass ich meine Krücke nur an der Trageschlaufe abfangen kann. "Machen wir ein bisschen Tempo!" Schon senkt er angriffslustig die Schultern, pflügt durch die glotzende Menge. *~i~* "Das ist nicht dein Ernst!" Protestiere ich vehement, verschränke zur Sicherheit die Hände auf dem Rücken. "Sano, sei nicht so hasenfüßig!" Muss ich mir von Kama einen energischen Tadel anhören, während er sich die Haare durchkämmt, einen gewaltigen Zopf zusammenfasst. "Wozu willst du das machen?" Penetrant widerspenstig streiche ich durch die glänzende gepflegte Pracht, die fast auf sein appetitliches Hinterteil reicht. "Weil es wichtig ist." Beharrt er stur, drückt mir die Schere in die Hand. "Stufig. Hör endlich auf, dir Sorgen um meinen Geisteszustand zu machen!" Schnaubt er, nimmt auf dem Hocker Platz, den Oberkörper entblößt. "Das ist doch nicht nötig." Nörgele ich weiter, schwanke zwischen seinem Spiegelbild und den geschmeidigen Strähnen, die durch meine Finger gleiten. Er ist fest entschlossen. "Sano, ich werde ihn zurückholen und ich werde ihm keine Wahl lassen." Oh~oh. *~i~* Es fühlt sich seltsam an: mein Kopf ist leichter, ich spüre jeden Luftzug. Sano hat gute Arbeit geleistet, eine aparte Kurzhaarfrisur: wilde, stufige Strähnen, keine länger als fünf Zentimeter. Sieht aus, als käme ich geradewegs aus dem Bett. Weg vom langhaarigen, androgynen Boy George-Paradiesvogel hin zum wahren Kamatari. Schluss mit den Kleidern aus dem Varietee. Ich schlüpfe nach einer ausgiebigen Dusche in ein T-Shirt, binde mir ein kariertes Flanellhemd um die Hüften über meine Blue-Jeans. Sneaker statt Schnallenschuhen oder Stiefeletten. Kein Makeup, kein Parfüm, nur Duschgel und Shampoo. "Wow!" Murmelt Sano, mustert mich nachdenklich, erhebt sich, reicht mir meine Krücke. "Was hast du vor?" Ich lächele kriegerisch. "Sein Büro stürmen, ihn flachlegen und an mich ketten?" Sano verzieht die Miene. "Guter Plan." Murmelt er mit fehlender Begeisterung. Ich streiche über seine Wange. "Einer von uns muss ja den ersten Schritt tun, erwachsen werden. Warum also nicht ich?" Ist doch logisch, oder? Endlich grinst er, küsst mich auf die Stirn unter meinem zerzausten Pony. "Ich fahre dich hin." *~i~* Kama zappelt neben mir. Offenbar traut er der Idylle nicht. »Tsktsk.« Um mit Hajime zu sprechen. Erst gestern haben Kaz und ich den Cougar endlich in Gang bekommen. Was sollte also schiefgehen? Sozusagen als Feier des Tages, da das Vormundschaftsgericht endlich die Auflagen aufgehoben hat. Eine Notiz an unserer Haustür klebte über einen abzugebenden Motorenblock. Zufall, hmm? Der Wolf behält mich wohl im Auge. Was mir schmeichelt, auch wenn ich mir wünsche, ich würde ihn sehen. Der Cougar läuft, ich chauffiere stolz. Zum ersten Mal liegt meine bisher ungenutzte Lizenz im Handschuhfach. Ich halte vor dem Bürogebäude der Makimachis. "Wenn etwas ist..." Beginne ich. Kama stoppt mich mit einem gebieterischen Zeigefinger auf meinem Mund. "Danke, Sano, für alles. Ich möchte, dass du jetzt fährst. Es wird so funktionieren, wie ich es geplant habe." Damit schiebt er eine Kassette in meine Hand. "Lied drei." Lächelt er, küsst meine Wange, entsteigt meiner Raubkatze. Ich lasse ihn mit gemischten Gefühlen ziehen. *~i~* TO BE A LOVER (Billy Idol) Have I told you Lately that I love you If I din't, darlin', You see, I'm so sorry Didn't I reach out And hold you In these lovin' arms Well, if I didn't, oh baby. Well, I'm so sorry When I realized that you need love too, Gonna spend my life makin' love to you. Got to be a lover. Have mercy. Forgot to be a lover, babe. (Have mercy) Forgot to be a lover. (Have mercy) Forgot to be a lover. Make it on through to you somehow. (Have mercy, baby) Got to be a lover, babe. (Forgot to be a lover) Woo! Woo! Well, did I ask you, Yes, would you come and share, Oh, share, Oh, the burden and the task That's at love's command Didn't I say All those lovin' special things That you long to hear To show how much I care Well, when I realize That you need love too, Gonna spend my life Makin' love to you Forgot to be a lover, Have mercy Well, well I worked all day Hard as I can Worked all night, didn't make me a man. (Forgot to be a lover) Have mercy, Oo, When I realized That you need love too, Gonna spend my life Makin' love to you. (Forgot to be a lover) Got to be a lover, babe. Oo, mercy. (Have mercy) Have mercy, baby. (Have mercy, baby) I'm gonna make it on through To you somehow, So have mercy. (Have mercy, have mercy, baby) Have I told you, Yes, lately that I love you If I didn't, oh baby, Yes, I'm so sorry. Ah, but you know I really love you, baby.(Love you baby) I really love you baby (Love you baby) I really need you baby (Need you baby) I really want you baby (Want you baby) When I realized, That you need love too, I'm gonna spend my life Makin' love, Makin' love, Makin' love to you Well, I worked all day As hard as I can, Worked all night, It didn't make me a man, babe. (Forgot to be a lover) (Have mercy) Oo, have mercy baby (Have mercy) Have mercy baby (Have mercy) Oo, have mercy baby (Have mercy baby) Oo, make it through. Well, when I realized that you need love too, I'm gonna spend my life, Gotta spend my life makin' love to you. *~i~* Mein Herz klopft bis zum Hals, als ich hoch aufgerichteten Haupts in den Empfangsbereich stolziere. Mich vorstelle, einen Termin verlange, möglichst sofort. Die Vorzimmerdame beäugt mich ängstlich, telefoniert rasch, lässt mich vor. So weit, so gut. Ich betrete sein Büro, registriere zum ersten Mal die asketische Einrichtung und Farbgebung. Er residiert in seinem Bürosessel, dreiteiliger, schwarzer Anzug, die Arme aufgestützt, fixiert mich über die aufeinander gelegten Hände. Seine Haare sind noch länger als zuvor. Die Strähnen reichen über den Kragen hinaus, im Gesicht bis zur Nasenspitze. Trotzdem kann ich an seiner Haltung, dem Blitzen der versteckten, eisblauen Augen ablesen, dass er überrascht ist. Über meinen Aufzug oder mein Erscheinen? Ich schließe die Tür hinter mir, spare mir Verlegenheitsgesten oder -worte, durchquere zügig den Raum, umkreise den gewaltigen Schreibtisch, lasse mich auf seinem Schoß nieder, schlinge die Arme um seinen Nacken, streiche den dichten Strähnenvorhang hoch, um tief in die Eismeere dahinter zu sehen. "Verzeih mir, Aoshi. Ich habe dich vernachlässigt." Gebe ich klar und verständlich zu Protokoll, bevor ich seine Lippen mit meinen versiegele. Ihn küsse, zunächst noch vorsichtig, mit wachsendem Hunger. Ich warte nicht darauf, dass er seine Arme auf meinen Rücken legt, sauge mich an ihm fest, marodiere an seinem Gaumen, duelliere mich mit seiner Zunge. Großer Gott, das ist so gut!! Mit jedem Atemzug, den ich seinem Leib stehle, verstärkt sich meine Leidenschaft, beweist mir, wie sehr ich ihn vermisst habe. Ich zerwühle seine sorgsam gekämmten Haare, drücke ihn tief in die Polster, bestreiche sein Gesicht, seine Arme, die Sehnen in seinem Hals. Viel zu lange habe ich benötigt, um zu begreifen, dass er nicht gelernt hat, andere Menschen zu lieben, sich ihnen anzuvertrauen. Dass er im Grunde noch immer glaubt, nicht mehr zu sein als ein kleiner, nützlicher Soldat eines gewaltigen Familienimperiums, ein Werkzeug ohne Bedürfnisse und Gefühle. Wie sollte er auch wissen, dass es etwas anderes gibt?! "Ich liebe dich, Aoshi." Transportiere ich meine Botschaft in karge Worte, regne leichte Küsse auf sein Gesicht. Hat irgendjemand diesen Mann jemals tröstend im Arm gehalten? Ich tue es, schmiege mich an ihn, hauche seinen Namen wie ein Zauberwort wieder und wieder. Ich liebe dich, Aoshi. *~i~* Ich habe nicht erwartet, ihn zu sehen. Hier, in dieser grauen, leblosen Knochenmühle aus Zahlen, Prognosen, Entscheidungen und stummen Vorwürfen. Dass ich, der Verräter, noch immer hier bin, das unschuldige Mädchen benutze, um mich an diesen Posten zu klammern. Ich kann mich nicht wehren, kaum rühren, als er den Raum betritt. Selbstsicher, entschlossen, nicht mehr androgyn schön, ein Zwitter zwischen Mann und Frau, alle Möglichkeiten offenlassend. Der Junge, der meinen Schoß entert, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, ist außerordentlich attraktiv, aber eindeutig männlich. Seine Küsse, Liebesschwüre: sie tropfen an mir ab, weil ich einfach nicht begreifen kann. Was hat er getan und was tut er nun hier? In Zeitlupe wandert meine Hand in seine kurzen Haare, zupft fassungslos an den Strähnen. Abgeschnitten. »Weg mit den alten Zöpfen!« Dröhnt unvermittelt ein historischer Wahlspruch in meinem Kopf. Ich spüre den Verband um sein verletztes Knie, den gespannten Stoff der Hose. Erinnere mich daran, was ich getan habe, wie ich ihn benutzt habe. Wieso ist er hier?! Was kann ich schon bieten? Wäre er eine Frau, läge die Sache anders. Ehe, Macht, Reichtum: ungeachtet der Tatsache, dass ich Misaos Anspruch nicht anfechten werde. Ich nehme seinen Geruch wahr, unverändert, verlockend, vertraut. Ich weiß, wie er sich unter mir anfühlt, von innen, von außen. Er küsst mich, vollkommen unbeeindruckt durch meine statueske Reaktion, wärmt mich mit seinem Atem, lächelt mich an, liebkost mein Gesicht. "Du siehst erschöpft aus." Wispert er tadelnd, zieht Streifen mit der Zungenspitze unterhalb meiner Augen. Weil ich nicht schlafen kann, rastlos arbeite, mich plage, meinen Körper martere, schlimmer, stärker noch als zuvor. Wohin will ich fliehen? In den Tod? Leben ist so schwer ohne irgendein Ziel. *~i~* Er bleibt stumm. Seine Arme um meinen Rücken halten mich ein wenig fester, als ich seinen Kopf gegen meine Brust ziehe, seine rabenschwarzen Haare durchstreife. Trotz dieses Eklats hat sich seine Situation nicht geändert, so erscheint es mir. "Aoshi." Hauche ich Kuss um Kuss auf seinen Schopf. "Was ist los? Willst du nicht mit mir sprechen?" Zugegeben, ein schwacher Versuch bei einem Mann, der stets wortkarg ist. Schritt für Schritt führen schließlich zum Erfolg, nicht wahr? Steter Tropf höhlt ja auch den Stein! Er bleibt weiter stumm. Das veranlasst mich, seine Weste aufzuknöpfen, das mattschwarze Seidenhemd darunter, mich zurückzulehnen, um mir das T-Shirt über den Kopf zu streifen, über seine unzähligen Narben mit den Fingerspitzen zu streichen, bevor ich mich über ihn beuge, seinen Hals entlang küsse, über die hervorstehenden Schlüsselbeine lecke. "Mmmmmmmm!" Ich höre mich selbst wollüstig stöhnen. Er schmeckt und riecht noch immer so gut! Tollkühn, oder auch von Leidenschaft berauscht, nehme ich eine Brustwarze ins Visier, reibe sie zwischen meinen Lippen, lecke und sauge. So, wie es mir selbst auch besonders gut gefällt. Sein trommelnder Herzschlag ist ein Indikator, dass ich meine Sache gar nicht so übel mache. Von unseren beiden alerten Geigerzählern ganz zu schweigen. Ich lege Hand an, zuerst über dem Stoff, dann darunter, schließe seine Erektion in meiner Hand ein, reize mit dem Daumennagel die empfindliche Spitze. Endlich eine aktive Reaktion! Sie mündet darin, dass er die Hand in meine rückwärtige Jeanstasche schiebt, die Päckchen Kondome herauszieht, die ich dort absichtsvoll deponiert habe. Ich stelle das Nuckeln ein, richte mich auf, lächle in sein Gesicht. »Ein bisschen Sex hat doch noch niemandem geschadet.« Zwinkere ich in seine halb verhängten Eisaugen. *~i~* Es ist die Wärme, die mich verführt, von seiner nackten Haut ausstrahlt, jeder Partie, die mich berührt. Während ich durchaus erregt bin, ihn auf die Schreibtischplatte hebe, bevor ich die letzten Reste Bekleidung entferne, sehnt sich ein Teil nach wohligem Schlaf in dieser angenehmen Hitze. Er küsst mich zärtlich, liebevoll, beregnet mich weitflächig mit Beweisen seiner Zuneigung. Selbstbewusster als zuvor. Als ob es nicht von Bedeutung ist, ob ich seine Sichtweise teile oder nicht. Er lächelt mich an, provozierend, lasziv, hungrig. War es vorher auch so? Ich wische Fragen und Unsicherheiten vom Tisch, so wie die störenden Dokumente, lege sein verletztes Bein auf meine Schulter, ziehe ihn eng an meinen Unterleib. Ich will nicht mehr denken, mich verkriechen in dieser Wärme. *~i~* Es ist anders, nicht nur, weil er auf den Schreibtisch klettert, dort kniet, während er in mich eindringt, unseren bevorzugten Rhythmus vorgibt. Er lässt mich nicht los. Nicht wie am Anfang, als der Gentleman noch gebot, dass er meine Erektion mit den Händen verwöhnte, oder bei den letzten Malen, als es nur noch um meine Invahierung und Unterwerfung ging. Seine Arme halten mich umschlungen, sein Atem weht über mein Gesicht, meinen Hals. Natürlich gibt er nichts weiter von sich. Nicht wie ich, der rollig stöhnt, keucht und ächzt. Dieses Mal bin ich auch anders. Vielleicht hat es mit Sano zu tun, dass ich selbstbewusster agiere, meine Muskeln spielen lasse, ihn in mir massiere, den Zeitpunkt bestimme, wann ich erlöst werden möchte. Schweißfeucht kleben wir aneinander. Sein Gewicht drückt mich auf die beschlagene Tischplatte, seine Arme unter meinen Schultern eingesperrt, sein Kopf auf meinem Brustbein. Strähnen wischen über meinen Hals, mein Kinn. Vorsichtig, richtet er sich mit mir auf, steigt rücklings vom Schreibtisch, noch immer intim mit mir verbunden. Mit leichten Wippbewegungen, die mich auf seinen Hüften millimeterweise hoch katapultieren, wechselt er zu Sitzkombination. Ich habe Mühe, nicht zu schreien, klammere mit jedem Schritt, dem winzigen Stoß, sehe Sterne vor den aufgerissenen Augen. Mit einer Hand schiebt er Kissen zusammen, bevor er sich langsam niederlässt, ich auf die Kissen zurücksinke, erleichtert ächze. Er streicht über meine Oberschenkel, bis zu den Knien und zurück, studiert mich, wie mich mit um den Kopf locker drapierten Armen vor ihm liege. Beschleunigt atme, weil die kleinste Hüftbewegung seinerseits meine tobende Libido anheizen könnte. "Komm her." Locke ich, strecke die Arme nach ihm aus. Etwas Unerwartetes geschieht: er löst sich behutsam aus meinem Leib, gleitet langsam auf mich, bettet sein Haupt auf meine Brust. "Ich liebe dich, Aoshi." Wiederhole ich nachdrücklich, bestreiche seinen sehnigen, vernarbten Rücken. Er ist zu erschöpft, um Marathon-Sex mit mir zu haben?! *~i~* Als ich erwache, ist es dunkel. Die Lichter anderer Gebäude, die durch das Panorama-Fenster reflektieren, werfen Schatten in mein Büro. Er streicht sanft über meinen Rücken. Sein ruhiger Herzschlag dringt in mich ein, seine mild wogenden Atemzüge wiegen mich dezent. Ich stemme mich hoch, setze mich auf. "Geht es dir besser?" Eine Hand streicht über meinen Oberschenkel. Sofort stoße ich sie weg, springe auf, halte auf das Fenster zu, lehne mich an die kalte Scheibe. Ich will nicht, dass er mich so behandelt! Schließe die Augen, balle die Fäuste. Ich höre ihn, sein Humpeln, spüre seinen Atem auf meinem nackten Rücken. Schauer durchlaufen mich. "Ich liebe dich, Aoshi." Wispert er hinter mir, umschlingt mich. Herumfahrend schleudere ich ihn vor mir, so heftig, dass er der Länge nach hinschlägt. Bin außer Atem ohne große Anstrengungen. "Hör auf!" Zische ich, wiederhole den Befehl brüllend. Er rappelt sich in eine sitzende Position, reibt sich einen Ellenbogen, blickt zu mir hoch. "Nein." "Oh doch, das wirst du!" Drohend baue ich mich über ihm auf. Er weicht keinen Wimpernschlag. Ich gehe langsam auf die Knie, packe seine Handgelenke, presse ihn auf den Boden. "Du wirst, weil ich es will." Verkünde ich eisig, schmettere seinen Oberkörper mehrfach auf den groben Industrieteppich. "Du willst es doch gar nicht." Hält er mir trotzig entgegen, funkelt zurück, die Lippen zu einem energischen Zug gepresst. "So?" Fauche ich kalt, drücke seine Kehle zu. Seine Hände streichen unbeirrt über meine nackte Brust, während er um Luft ringt. "Ich liebe dich, Aoshi." Bringt er mühsam hervor, bevor ich ihn ohrfeige. "Hör auf!" Das passiert nur, weil er einfach die Regeln nicht befolgen will! "Feigling." Zischt er mir aus blutigen Lippen entgegen, wischt mit dem Handrücken über seinen Mund. "Lügner." Ich erhebe mich, schnauze ihn abschätzig an. "Du bist nichts weiter als ein Spielzeug, verstanden? Nur etwas, das ich benutzt habe. Ich empfinde nicht das Geringste für dich." "Du irrst dich." Er schiebt sich in eine sitzende Haltung, lässt mich nicht aus den Augen. "Du kannst nicht mit jemandem schlafen, mit ihm essen und duschen und tanzen, ohne etwas zu empfinden. Besonders DU!" Sein Zeigefinger deutet mich aus. "DU würdest mich niemals wie ein Werkzeug behandeln, weil du weißt, wie sich das anfühlt. Das habe ich nicht verdient. Du hast es auch nicht verdient." "Das ist vorbei." Ich kehre mich um, kühle mich an der Fensterscheibe ab. Wieso verliere ich meine Beherrschung, schlage ihn? "Nichts ist vorbei!" Entgegnet er hitzig. In der Reflexion erkenne ich, dass er auf die Beine kommt, unsicher wegen des lädierten Knies. "Du läufst immer noch weg. Du hast Angst davor, endlich zu beweisen, dass du keine Marionette bist, dass du eigene Ansprüche hast! Wofür rackerst du dich hier ab?! Macht es dir Spaß?! Befriedigt es dich?! Für wen kämpfst du eigentlich?!" Er stützt sich neben mir ab. Seine heftigen Atemstöße wirbeln über meinen Arm. "Denkst du, dass ich nicht bemerkt habe, wenn du mich zugedeckt oder mich gestreichelt hast, nachdem wir miteinander geschlafen haben? Meinen Namen geflüstert? Oder dass du so wütend und verletzt warst, dass du mich jedes Mal nach dem Erwachen gefickt hast?!" Ich zucke zusammen, will mich nicht daran erinnern, dass ich wirklich getroffen war, weil er mit Sagara... Sich für diesen Idioten in solche Gefahr begeben hat! Dass ich ihm unbedingt beweisen wollte, dass er mir gehört, nur mir. Dass ich ihn haben kann, so oft ich will und wann ich will. "Also sag mir nicht, dass du nichts für mich fühlst." Schließt er die Beweisführung ab. Ich bin dieses Streits, dieser Situation, dieses ganzen Lebens müde. Er schiebt sich unter einem Arm hindurch vor mich an das Fenster, legt seine Arme locker um meine Taille. "Ist es wirklich so furchtbar, mit mir zusammen zu sein?" Er klingt selbst matt. "Mich zu lieben?" Mit einer Hand wische ich Strähnen aus seinem Gesicht, hebe sein Kinn ein wenig, um ihn besser küssen zu können, schlinge meine Arme eng um ihn, halte ihn fest. "Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll!" Bricht die traurige Wahrheit aus mir heraus. *~i~* Da stehen wir, ein wenig unsicher auf den Beinen, splitternackt, vor einem gewaltigen Fenster in einem unbeleuchteten Büro, halten uns aneinander aufrecht. "Wir könnten es gemeinsam herausfinden." Schlage ich heiser in seiner Halsbeuge vor, schmiege mich eng an ihn. Er brummt etwas. "Wie bitte?" Lege ich den Kopf in den Nacken, um ihn ansehen zu können. Mit einem Luftschnauben befördert er die zahlreichen, rabenschwarzen Strähnen aus seinen Augen, mustert mich ernst. "Ich will nicht, dass du mit Sagara schläfst." Wiederholt er, mit einer Winzigkeit von Trotz in der Stimme. "Okay." Akzeptiere ich lächelnd. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. "Und ich will dich nie wieder in zusammengestürzten Tunneln unter den zerstückelten Leichen irgendwelcher perverser Gangster herausholen, verstanden?" Ergänzt er. Schaudernd nicke ich an seiner Brust. "Überhaupt keine Einwände." Die bruchstückhafte Erinnerung reicht aus, Angstschweiß ausbrechen zu lassen. "Komm." Fasst er mein Handgelenk, zieht mich vom Fenster weg, allerdings so umsichtig, dass ich nicht stürze. "Fahren wir nach Hause." *~i~* Ich helfe ihm beim Anziehen der Jeans, verteile Vaseline auf seinen aufgesprungenen Lippen. Er lächelt, küsst meine Fingerspitzen, streicht Strähnen aus meinen Augen. Mir wäre es beinahe lieber, er würde sich mit einer Ohrfeige revanchieren. Wir sind bereits auf der Straße, als er sich hinüber lehnt, mich auf die Wange küsst. "Danke, Aoshi, dass du mein Leben gerettet hast." Seine Hand ruht noch einen Wimpernschlag länger auf meiner anderen Wange. Wenn ich nicht so stolz gewesen wäre, hätte er den Tunnel niemals betreten. Es hätte keines Beweises bedurft, dass ich ihn, auch wenn er mir Sagara vorgezogen hätte, nicht verletzt sehen wollte. Ich wollte unbedingt nachweisen, dass er nur ein Spielzeug für mich ist! An der nächsten Ampel ist es an mir, den Gurt zu lösen, mich hinüberzubeugen, ihn hingebungsvoll zu küssen. Mir ist gleich, ob man uns beobachtet. Ich möchte, dass er spürt, dass ich meinen halsstarrigen Eigensinn bereue. "Hebe noch was für zu Hause auf." Zwinkert er mir vergnügt zu, als eine Hupe auf das Ampelsignal hinweist, ich mich wieder auf die Straße besinnen muss. Unwillkürlich muss ich lächeln. Ein ungewohntes Gefühl. Er legt seine Hand auf meine, die den Schaltknüppel bedient. "Ich liebe dich wirklich sehr, Aoshi." Summt er leise, mit samtiger Stimme. *~i~* Das Haus hat sich nicht verändert. Es wirkt steril, abweisend und ungemütlich mit dem Designermobiliar. Aoshi hält im Wohnzimmer inne, öffnet eine verborgene Konsole, stapelt einige Teelichter in meinem aufgespannten T-Shirt, während seine andere Hand meine nicht loslässt. Das Feuerzeug zwischen die Kiefer geklemmt hilft er mir dann die Treppen hoch. Einem befriedenden Ritual gleich verteilt er in seiner dämmrigen Gruft die Kerzen mit ihrem warmen Schimmer, zieht mich langsam liebevoll aus, hebt mich in sein Bett, bevor er sich selbst entkleidet, neben mich legt. Mich an sich zieht, dabei rücksichtsvoll mein lädiertes Knie arrangiert, so wie damals, ohne hinderlichen Stoff zwischen unserer Haut, intim und direkt. "Ich liebe dich, Aoshi." Wiederhole ich leise, küsse ihn auf den Mund. Seine Finger streichen über meine Wange, zeichnen meine Lippen nach, bevor er meinen Kuss erwidert, meinen Namen wispert. Noch nichts versprechen will. *~i~* Als ich erwache, hat er bereits die Jalousien nach oben befördert, die Zimmertür zum Flur geöffnet, leere Kerzenhüllen eingesammelt. "Guten Morgen, Aoshi!" Strahlt er vergnügt, robbt über die Matratze, um mich feucht zu küssen, dabei kichernd und neckend. "Teilen wir uns ein Bad, hmm?" Schon entzieht er sich meinem verlangenden Zugriff, hält auf das Badezimmer zu, bereits damit befasst, den Verband zu lösen. Ich erhebe mich, schiebe die Decke von mir, beobachte seine Versuche, bis er sich umkehrt, stutzt. "Ist etwas?" Erkundigt er sich verblüfft, zerwühlt seine ohnehin wirre Frisur fragend. "Es hat auch einen Vorteil, dass du deine Haare abgeschnitten hast." Bemerke ich sachlich. "Das lenkt den Blick sofort auf dein knackiges Hinterteil." In weniger als einer Sekunde steigt Farbe in sein Gesicht, droht er mir mit dem Finger. "Solche Sprüche von dir?! Ich bin..." Schon habe ich ihn in meinen Armen aufgefangen, grinse ungeübt in sein Gesicht. "Entzückt!" *~i~* Ich bin glücklich. Mein Knie schmerzt ausnahmsweise nicht, ich liege bequem in einer großen Wanne in Aoshis Armen, der mich so aufmerksam und zärtlich eingeseift hat, dass ich vor Rührung schlucken musste. Ich mag den Gedanken, dass er mich ebenso braucht wie ich ihn. Dass seine nassen Haare endlich ungehindert den Blick in seine Augen preisgeben. Dass er mich streichelt, an meinem Nacken knabbert. Dass er meinen Körper auch ohne die tarnende Aufmachung liebt. Dass er mich liebt. *~i~* Die Idylle hält nicht lange an. Schon ziert ein kritisches Schmollen sein attraktives Gesicht, während er in einem Bademantel die Küchenzeile inspiziert. "Aoshi, das ist ja nicht mal genug, um einen Spatz satt zu bekommen! Wovon lebst du bloß?!" Ich sehe auf die Terrasse hinaus, lächle vor mich hin, was mir mit jedem Versuch leichter fällt. "Normalerweise frühstücke ich oben." Nicke ich in Richtung Herrenhaus. "Oh." Murmelt er einsilbig, schließt den Schrank sorgfältig. Ich lese eine Decke von einem Sofa auf, nehme ihn an der Hand, führe ihn zur Terrasse. Ein großer, warmer Sonnenfleck fällt durch die Glasscheiben hinein. Die Decke ausgebreitet, mit dem Fuß arrangiert zupfe ich gleichzeitig die Schleife des Gürtels auf, streife ihm den Bademantel von den Schultern. Seine Augen blicken fragend. Ich kann nicht glauben, dass es mir genügte, im Dunkeln mit ihm zu schlafen, wo mir dieses herrliche Haselnussbraun entging. Ich halte ihn an den Schultern, bedecke sein Gesicht mit Küssen, von der Stirn hinab bis zum Kinn, arbeite mich hinunter bis zu seinen Rippenbögen, falle vor ihm auf die Knie, um tiefer zu wandern. Meine Zunge taucht in seinen Nabel. Ich knabbere an seinen Beckenknochen. "Aoshi!" Wispert er warnend, streicht durch meine Haare. Ich lasse mich nicht aufhalten, umfasse seine prallen Hinterbacken, lecke über seinen Penis, küsse, knabbere und nehme endlich seine pochende Erektion in meinen Mund, bedecke ihn mit meinem Speichel, massiere ihn mit Zunge und Gaumen. Lausche auf sein samtiges Stöhnen, die unwillkürlichen Bewegungen, die einem Orgasmus vorausgehen, stütze seinen unsicheren Stand, genieße seinen heißen Atem auf meinen Haaren, meinen Schultern. Schlucke unbeirrt, fange ihn auf, wiege ihn sanft, bis er mich blinzelnd ansieht, den Kopf schüttelt. "Tut mir leid." Seine Lippen verstummen unter meinem Kuss. Ich lege ihn auf der Decke ab, bestreiche seinen ausgestreckten, verlockend dargebotenen Körper, hauche Liebkosungen auf seine Haut. Glatt, warm, weich, gesprenkelt: ich kauere über ihm, bedecke ihn mit Zärtlichkeiten, tauche hinab, um jede Regung begierig zu verfolgen, mich von seiner Erregung massieren zu lassen. Will mit ihm schlafen, aber nicht, bevor er Wachs in meinen Händen ist, durchdrungen von meinen verwirrenden Gefühlen. Kann das Liebe sein? *~i~* Ich schätze, ich werde den Rest meines Lebens schnurrend verbringen. Nackt, auf einer Decke in einem Sonnenfleck vor einer Terrasse in Aoshis Armen kann so eine Reaktion auslösen. Keine Frage, ich werde ihn nicht freigeben! Niemanden, der mich so abheben lässt und dann so sanft auffängt. "Hast du Hunger?" Er streicht über meinen Bauch, küsst mich auf die Stirn. Ich räkele mich genüsslich, streiche über seine Brust. "Dafür müssen wir wohl aufstehen und uns anziehen, hmm?" Erwäge ich die mit der Nahrungsaufnahme verbundenen Schwierigkeiten. Er knabbert sich unbeeindruckt an meinem Unterkiefer Richtung Ohrläppchen. "Ich würde gern deine Großmutter kennenlernen." Raunt er, leckt über meine Wange. "Danach vielleicht einkaufen." "Einkaufen?" Ich beäuge ihn fragend, hindere ihn daran, an meiner Kehle zu saugen, sich eingehend mit meinem Adamsapfel zu befassen. "Ich will, dass du bei mir wohnst." Erklärt er sachlich. "Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass dir meine Unterkunft nicht gefällt." Ich grimassiere ertappt. Er lächelt. "Also?" Aufgeräumt rollt er sich über mich, studiert mich unternehmungslustig. Ich blinzle. Das ist also Aoshi ohne Maske. "Überzeug mich noch ein bisschen." Strubbele ich seine Haare, zwinkere herausfordernd. *~i~* Ein schöner Herbsttag, sonnig, und ich sitze nicht über meinen Schreibtisch gebeugt, um zu arbeiten. Sondern in einer kleinen Bäckerei, unter den Argusaugen einer winzigen Frau mit gewaltigem Perückenturban. Er lächelt, verteilt Croissant-Krümel auf dem Tisch, schlürft vergnügt seinen Schokoladen-Shake durch einen Strohhalm. "Sie mag dich." Vertraut er mir an. "Ja." Bemerke ich knapp. "Sie starrt immer auf meinen Hintern. Ich bin nur nicht sicher, ob sie ihn mir versohlen will oder rein kneifen." Er wirft den Kopf in den Nacken, lacht laut heraus, melodisch und unbeschwert. "Kama-Schatz, fall nicht vom Hocker und nimm die Tüte mit." Bringt sich seine Großmutter in Erinnerung, damit ihr Enkel bei mir nicht verhungert. *~i~* Ich war noch nie mit Aoshi einkaufen. Ich weiß, dass ich das wiederholen werde. Er bändigt den ausbrechenden Wagen, reicht in alle Regale, bleibt geduldig, während ich nicht nur für Nahrungsmittel sorge, sondern auch die ersten Accessoires einsammele, um aus seiner Gruft ein gemütliches Heim zu machen. Zusätzlich zu meinen Habseligkeiten, die schon in seinem Transporter lagern. Es stört ihn auch nicht, in der Kassenschlange die Arme um mich zu legen, Gezische und Gemurmel zu ignorieren. Ich bekomme zur Krönung meiner Bemühungen eine große Tüte Pommes und süßes Popcorn, darf neben ihm im Wagen ungeniert futtern. Ich habe das große Los gezogen, meinen Märchenprinzen gefunden! *~i~* Kapitel 20 - Got to be your lover "Sano!" Mein Kopf donnert gegen die Motorhaube, als ich hochschrecke. Kaz steht neben, tätschelt meine nagelneue Beule. "Wir haben eine Einladung für das nächste Wochenende, ob Regen oder Sonne, es wird gegrillt bei Kama und Aoshi." Informiert er mich grinsend. "Cool." Brumme ich, massiere meinen Schädel. "Was sollen wir mitbringen?" "Ich erledige das schon." Großzügig klopft Kaz auf meine Schulter. "Sieh du mal zu, ob du nicht endlich die Lichtmaschine in Gang bringst." Ich verfehle ihn nur knapp mit einem alten Lappen. Kama und Aoshi. Wer hätte das gedacht: die beiden sind wirklich verliebt. Sogar die kleine Makimachi hat Kama becirct. Aoshi hat einen Stein im Brett bei Kamas Oma, weil Kama förmlich aufblüht. Auch ohne die Mähne, mehrere Pfund Metallgehänge und farbenfrohe Kutten. Nun verfolgen ihn sogar die Mädchen, was er mit Charme und Finesse abbiegt. Und ich? Hänge über dem Cougar, dessen verflixte Lichtmaschine mir Streiche spielt, bemühe mich tatsächlich, einen passablen Abschluss zu fabrizieren, um mich abzulenken. Immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Drei Wochen. Nur drei Wochen, und sie kommen mir wie ein ganzes Leben vor. Ich träume von ihm, seinen Bernsteinaugen, seiner rauen, sonoren Stimme. Sex. Mich hat's wohl auch schwer erwischt. *~i~* Es gibt Dinge, die ich nicht mag. Zum Beispiel Zettel an der Tür mit Datum und der Adresse eines Motels. "Sano." Stelle ich kategorisch fest. "Ich bin nicht glücklich damit." Mein wilder, deutlich geknickter Bruder dreht den Zettel unschlüssig in den Händen. "Tja." Er dreht ein Ende seiner Bandana um einen Finger. "Wie immer gibt es nur einen Weg herauszufinden, was dahintersteckt." "Ja, ja!" Verdrehe ich die Augen. "Hingehen und nachsehen." Er feixt. "Schon gut, ich fahre dich." *~i~* Es ist nicht Hajimes Handschrift. Wer steckt dahinter? In einer ruhigen Minute habe ich mit Aoshi ein Gespräch darüber geführt, dass wir vielleicht beobachtet werden von "Überresten" der Banden. Aoshi ist selbst ein nicht zu unterschätzendes Kaliber, hat im eigenen Interesse dafür gesorgt, dass keine gefährlichen Gegner übrigbleiben. Was nicht bedeutet, dass ich aus dem Schneider bin. Also packe ich einige "Lebensversicherungen" ein, verspreche Kaz hoch und heilig, dass ich keine Risiken eingehen werde und betrete das Gelände des Motels. Keine Appartementnummer. Aber...! Ich beäuge den Van inmitten der wenigen anderen Autos, eine sehnige, hochgewachsene Gestalt, die Kisten einlädt. "Jime?" Brabbele ich perplex. An seiner Reaktion, einem geschmeidigen Wirbel mit anschließendem Tritt, der mich von den Beinen holt, kann ich ablesen, dass er auch nicht mit mir gerechnet hat. Er zerrt mich in Hochgeschwindigkeit hoch, schiebt mich in ein Appartement, wo ich hart mit einer Wand kollidiere. "Was tust du hier?!" Zischt er gar nicht amüsiert. Ich winke mit dem Zettel. "Souji!" Flucht er. Der Pillendreher? "Oh Mann, ist das hier etwa ein Blind Date?" Entspanne ich mich, strahle ihn an. "Was ist das?" Der Wolf ignoriert mich partiell, tastet an meinen Hosentaschen und am Bund meiner Jeans herum, greift ohne Hemmung zu, um den Inhalt auf einem Bett auszubreiten, das bestimmt nicht in Benutzung war. "Was ist das hier alles, dieses Zeug?!" Er mustert mich, schüttelt den Kopf. "Selbstverteidigung gegen böse Jungs?" Biete ich an, kratze mir den Kopf, um dann meine Rechte zu präsentieren. "Hier, schon fast verheilt!" "Und schmutzig!" Knarzt er, dreht meine Hand mit hochgezogenen Augenbrauen. "Ist das Schmieröl?" "Ja." Brumme ich, versuche, meine Hand wieder freizubekommen. "Du weißt schon, Kolben ölen, Lichtmaschine auf Touren bringen, Einspritzpumpe..." Ich breche ab, bemerke seinen mokanten Blick. "Einspritzpumpe?" Gibt er das Stichwort, lehnt sich an mich, beide Arme um meinen Kopf auf die Wand gestützt. "Äh." Bringe ich vielsagend hervor, schlucke, starre ihn an. "Also, was ist mit der Lichtmaschine?" Raunt er, die Bernsteinaugen fest auf meine Lippen fixiert. "Weiß nich', spinnt." Brabble ich, streiche mit den Händen über seine Ellenbogen. T -Shirt und Jeans: bedeutet das, er ist privat hier, oder ist das eine Verkleidung für einen Job? "Was~was tust du hier?" Reiße ich mich aus seinem Bann, weiche seinem Blick aus. "Überwachungsjob. Beendet." Er lässt sich nicht ablenken. Mir läuft es abwechselnd heiß und kalt über den Körper. "Was ist?" Er streicht neckend über meine Wange. "Ich hab keine Gummis dabei!" Platze ich heraus, nur dank der subäquatorialen Erregung nicht spontan dunkelrot unter meiner Bandana. "Wozu brauchst du Gummis? Für den Kolben, die Lichtmaschine oder die Einspritzpumpe?" Säuselt er mit seinem wölfischen Grinsen, lehnt sich noch tiefer über mich. "Äh." Ich klappe meinen Unterkiefer hoch, streiche über seine Seiten, von den schlanken Hüften bis unter die Achseln, erwidere seinen Blick, stelle meine Hüfte aus, um seine zu reiben. "Na, na." Schiebt er mich mit einer flachen Hand zurück. "Wie heißt der Zauberspruch?" Ich lege die Hände um sein Gesicht, lächle, raune an seinen Lippen. "Fick mich. Bitte." *~i~* Es ist noch immer frappierend, wie verzweifelt Souji sich bemüht, aus mir einen normalen Menschen zu machen. Glaubt er wirklich, nach einer gescheiterten Ehe mit drei Kindern und unserer verlorenen Beziehung, dass ich für die Gesellschaft eines anderen Menschen geschaffen bin? Dazu noch eines Minderjährigen mit einem Hang zum Risiko, Verbindungen zu kriminellen, organisierten Ex-Gangstern und Polizei-Spitzeln. Besser könnte ich es selbst nicht treffen, wenn ich mich bemühen würde, mein eigenes Grab auszuheben. Dennoch presse ich ihn gegen die Wand, lecke über seine Lippen, lausche auf seinen beschleunigenden Herzschlag. Ich denke, ich muss meine hellseherischen Fähigkeiten nicht mehr bemühen, um zu erraten, was in Soujis Überraschungspaket auf mich wartet. Ob er daran gedacht hat, was er diesem frechen Gockel antut? Oder ist das seine Art herauszufinden, ob ich wie gewohnt der Vernunft zuneige, meine Libido einkerkere? Vielleicht hat er auch die Buschtrommel abgehört, festgestellt, dass ich großflächig ausgemistet habe. Eingeschlossen seinen Unfall vor fast vier Jahren. Tsktsk. Seine großen Augen weichen keinen Wimpernschlag aus meinem Fokus. Seine Hände allerdings streichen fordernd über mein T-Shirt, kreisen verstärkt über meine Brustwarzen. "Jime....Jime." Seufzt er, schwankend zwischen ungeduldiger Verärgerung und sehnsüchtigem Flehen, strengt sich an, meine Zunge mit der eigenen zu dressieren, sie in seinen vorlauten Schnabel zu locken. »Warum?« Frage ich mich selbst bündig. »Warum soll ich vernünftig sein? Steigert es nicht meinen Jagdtrieb, schärft meine Sinne, tariert meinen Instinkt aus, wenn ich meiner animalischen Natur dann und wann die Zügel schleifen lasse?« Auch wenn ich kein gelber Engel bin: tätige Hilfe für die Einspritzpumpe bekommt der Gockel von mir. *~i~* Plötzlich ist die Zeit der Trennung weggewischt, wird das einfache Zimmer des Motels zu einer abgeschlossenen Welt. Er küsst mich hungrig, auf eine dominante, zielgerichtete Weise, schlingt einen Arm um meine Taille, um mich zu dem kleinen Tisch zu dirigieren. Hier geht es nicht um Zuckerwerk, so viel wird mir rasch klar: seine Mission besteht darin, möglichst lustvoll das Paarungsritual zu vollziehen. Meine wenigen Reste Ratio sind zwiegespalten. Ich "stecke" ihn gern "weg", vor allem, weil er es unübertroffen versteht, mich über jede Grenze hinwegzutreiben. Andererseits würde ich auch gern einmal erleben, wie er einen Orgasmus genießt. Mich zurücknehmen für ihn. Blöde Hormone! Dämliche Unerfahrenheit! Er öffnet ein kleines Paket, in unscheinbares Packpapier eingeschlagen. Ein Karton, gefüllt mit unterschiedlichen Präservativen, einer Schachtel Pralinen und einem kleinen Handtuch mit der Aufschrift "Dad's Dearest". Der Wolf knurrt indigniert, während ich verdutzt auf das Handtuch starre. Was soll das heißen? "Das wird er büßen." Droht dem Medizinmann mit sonorem Grollen Ungemach. Zu meinem Glück sind die Prioritäten schon gesetzt. Das schmale Bett wird verschmäht, Decken und Kissen landen auf dem Boden, die Gummis in Reichweite. Er entkleidet mich geschäftsmäßig und flink. Keine halben Sachen, so viel ist sicher! Mit dem Grad der eigenen Entblößung schmirgelt er seine polierten Muskelstränge und Sehnen an meinem Leib, sorgt dafür, dass ich nicht nur in kürzester Zeit nach Luft ringe, sondern von einem angenehm klebrigen Schweißfilm überzogen bin. Unser Geruch vermischt sich, so wie mein Speichel mit seinem ein einzigartiges Aroma ergibt, das wir gierig austauschen. Mit jedem verstreichenden Herzschlag steigern wir das Tempo, angefeuert von trommelnden Pulsschlägen, der aufputschenden Wirkung unserer Droge: ungezügelte Leidenschaft auszutoben. Bald klemmt er das Handtuch zwischen meine Kiefer, wohl, um eventuelle Nachbarn nicht bis zu ihrem Lebensende in eine akustische Schockstarre zu versetzen. Ich winde mich unter ihm, fiebrig, haltlos, will dem lodernden Feuer in mir Nahrung geben, unseren rücksichtslosen Rhythmus diktieren, mit seinem Körper intim verbunden tanzen. Ihn in mir spüren, wie er meinen konvulsivischen Zuckungen eine Richtung aufzwingt, sein Atem mich verbrennt, wenn ich ihn in mir einkerkere, meine Muskeln spielen lasse und seine Antwort mich förmlich in den Boden stanzt, in meinem Unterleib Funken schlägt, die ich nur mit ruckartigen Wellenbewegungen kontern kann. Ich will ihn stärker als jeden Schmerz, als meinen Stolz, als Vernunft oder Selbsterhaltung. Ich will mich fallen lassen, alle Grenzen überschreiten, mich von ihm besiegen lassen, mich ihm unterwerfen. Seine Herausforderung erwidern, auf gleicher Ebene mit ihm sein. Ich will, dass er mich anerkennt. *~i~* Er ist ausgehungert, ebenso wie ich. Taumelnd, atemlos, heiser kann er nicht aufhören, zu mir zu kriechen, mich zu berühren, zu provozieren. Rammeln wie die Karnickel würde in etwa treffend beschreiben, worin unsere Beschäftigung seit mehr als zwei Stunden besteht. Vermutlich will er die eigenen Dämonen auf diese Weise austreiben. »Übersättige sie so, dass sie nie wieder danach verlangen.« Funktioniert nach meiner Erfahrung nicht. Man kann sie einfrieren, einsperren, einkerkern: sie finden immer einen Weg zurück. Über einen störrisch-wirren Hahnenkamm, große, temperamentvoll funkelnde, schokoladenbraune Augen, einen vorlauten, verlockenden, aromatischen Mund. Die Stehlampe neben dem niedrigen Ledersessel bei der Tür ist das einzige Licht in dem kargen Raum, den wir in einen Dschungel verwandelt haben, geht man von Geruch und Temperatur aus. Mit zwei wilden Tieren, die immer wieder über einander herfallen, sich belauern, locken, angreifen, herumwirbeln, ohne Rücksicht auf Mobiliar oder Nachbarn. Ich schiebe ihn mit Nachdruck von mir, komme auf die Beine, wechsle zum Fenster hinüber, riskiere einen Blick durch die heruntergezogenen Jalousien. Ich hoffe, dass mich der Abstand ein wenig abkühlt, mein Verstand die Oberhand gewinnt. Er ist gefährlich. Obwohl ich um diesen Umstand weiß, treffe ich nicht ausreichend Vorkehrungen mich zu schützen, kritisiert meine innere Stimme warnend. Völlig zu recht. Sex ist immer ein Machtspiel, ein Kampf um Dominanz, eine Koketterie um die eigene Identität und Bedürfnisse. Wie weit entblöße ich mich emotional, mental, wie angreifbar mache ich mich? Er lässt sich bei mir fallen, nicht aus Kalkül, sondern weil er es will, verbirgt sich nicht vor mir, bürdet mir damit im gleichen Atemzug die Verantwortung für ihn auf, sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, ihn zu beschützen, mich zu zügeln. Ohne Worte, simpel durch sein Verhalten. Üblicherweise Grund genug, mich zurückzuziehen. Jeder muss für sich selbst die Verantwortung tragen, sich selbst wappnen. Partner, die nicht auf sich selbst achten können, kann ich nicht tolerieren. "'jime!" Er presst sich an mich, platziert feuchte Küsse auf meinen Nacken. Seine Hände liebkosen meine Brustpartie. In mir brodelt Zorn hoch, Wut über seine Chuzpe, diese unglaubliche Frechheit, so offen und direkt Ansprüche anzumelden. Von denen er doch wissen muss, dass ich nicht auf sie eingehen werde. Ganz gleich, welches Tempo, welchen Kurs ich vorgebe: er zögert keinen Wimpernschlag, folgt mir, überlässt es mir allein, dafür Sorge zu tragen, dass er sich wohlfühlt, befriedigt wird. Ansatzlos fahre ich herum, ohrfeige ihn hart. Er steckt den Schlag mit einem überraschten Laut ein, taumelt zurück, ohne jedoch die Hand reflexartig an die Wange zu führen. Im Gegenteil, er ballt unwillkürlich die Fäuste, blinzelt verwirrt. Ich wische an ihm vorbei, knipse das gnadenlos unvorteilhafte Neonlicht im angegliederten Badezimmer an, zerre ein leidlich sauberes Handtuch aus einem Regal, fege den löchrigen Duschvorhang beiseite und aus der altertümlichen Wanne. Ich klettere hinein, drehe das Wasser auf, lauwarm, ganz gleich, in welche Richtung ich den Hebel umlege. Lasse die Tropfen die Kaskaden meines Körpers hinabspringen, reibe mein Gesicht, meine Schläfen energisch, muss mich nicht umkehren, um zu wissen, dass er im Türrahmen steht, golden schimmernd, die Augen abgründige Strudel voller Emotionen. Er löst sich, klettert in die Wanne, hebt die Arme über den Kopf Richtung Brause, um einen Teil der spärlichen Ausbeute umzuleiten. Zwischen seinen Zähnen eine weitere Packung von Soujis Spezialkondomen, extra-feucht, ein Versuchsfeld meines Ex-Partners. Wie diese hausgemachten Pralinen. Seine Schrullen werden mit den Jahren immer absonderlicher. Müßig erwäge ich seine Absichten, ausgerechnet mich als Versuchskarnickel auszuwählen. Verständlich, als hochqualifizierter Rammler bin ich wohl prädestiniert. Mit beiden Händen schöpfe ich Wasser, verteile es über seinem störrischen Hahnenkamm, streiche Strähnen aus seinem Gesicht, zurück über den Haaransatz an Stirn und Schläfen. Es wäre leichter, wenn er nicht so attraktiv wäre. Überhaupt nicht mein Typ, zu eigenwillig, zu sonnenverwöhnt, zu groß, zu muskulös und laut. Im Augenblick schweigt er. Die weichen, vollen Lippen beperlt, ein starker Kontrast zu der schmucklosen Plastikhülle dazwischen. Ich dirigiere ihn mit festem Griff in eine aparte Pobacke eng an mich heran, greife mit der freien Hand nach seinem Penis, fasse ihn mit meinem eigenen zusammen, um mit beiden Handflächen über beide Schwellkörper zu reiben, vor-zurück, als wollte ich Feuer mit Stöcken entfachen, schnappe mit den Zähnen die Präservativpackung, bevor sie ihm entgleiten kann, weil er nach Luft ringt, die langen Wimpern flattern. Ja, da zahlt sich doch der Pfadfinderkurs aus. Er umschlingt meinen Nacken, steigt schon auf die Zehenspitzen, bläst hitzige Atemstöße mein Rückgrat hinunter. Ich streiche durch seine nassen, wirren Haare am Hinterkopf, gleite zwischen seinen Schulterblättern hindurch, massiere die Zone um den unteren Lendenwirbel. Einem archaischen Protokoll folgend hebt er das linke Bein, schlingt es um meine Hüften, lässt mich durch seine Pofalte gleiten, mit den Fingerspitzen meiner freien Hand sein Skrotum reizen. Seine Fingernägel stanzen Halbmonde in mein Fleisch. Sein lustvolles Stöhnen vibriert durch meinen Leib, wird kaum von dem dürftigen Wasserstrahl, der uns besprengt, gedämpft. Wäre er eine Frau, oder ein wenig zierlicher, kleiner, könnte ich ihn auf die Hüften nehmen. In der gegenwärtigen Lage ist es mir nicht möglich. Also bleibt nur die rektale Variante ohne Blickkontakt. Ich entwinde mich seiner Umklammerung, stoße ihn mit der flachen Hand vor die Brust, um seine Aufmerksamkeit wieder nördlich des Äquators zu lenken, drehe ihn an den Schultern herum, schmiege mich an seinen Rücken. Das Atemholen fällt mir zunehmend schwerer, die Packung hindert mich. Ich gleite mit meinen Händen seine Arme hinunter bis zu den Handgelenken, die ich anhebe, über den Kacheln in Höhe seines gesenkten Kopfes verschränke, drängle ein Bein in seinen Schritt, um ihn in eine stabile Haltung einzuweisen. Unregelmäßige Schauer durchlaufen ihn sichtbar, Zeichen seiner Bemühungen, sich noch ein wenig zu beherrschen. Ich streife das Präservativ über, inspiziere mit beschleunigtem Puls seinen Stand: nahe genug, die richtige Höhe. Das Eindringen ist nicht sonderlich problematisch. Er vertraut mir, erwartet mich wie eine Erlösung, steigt auf die Zehenspitzen, atmet kontrolliert, um wieder hinabzusinken, mich tief in sich aufzunehmen. Was er nicht vermutet hat, ist meine nächste Aktion, nämlich ihn frontal an die beschlagenen Kacheln zu pressen, in die Knie zu gehen, die Beine hart durchzudrücken. Er hat keinen Spielraum zur Wand, schabt förmlich an ihr hoch, das erste Mal mit einem erstickten Aufschrei. Die Reibung des unregelmäßigen Grunds, glatte Kachelfläche und raue Fugen dazwischen, ersetzen meine Hände, die seine Hüften fixieren, ihn nicht ausbrechen lassen. Es währt nicht mal ein Dutzend Anläufe, da kommt er, verspritzt seine heiße Körperflüssigkeit gegen die Kacheln, auf die eigene Haut. Während er um Atem ringt, heiser von Ur-Lauten, gestatte ich mir, ihn mit seinen gekreuzten Armen ein wenig tiefer zu drücken, Abstand von der Wand zu nehmen, den Winkel zu verändern, in dem ich in ihn eindringe, nur noch in minimalen Bewegungen, auf die klaren Perlen konzentriert, die seinen Rücken hinabgleiten, von hervortretenden Knochen gelenkt. Ich erwarte nicht viel von ihm, schließe die Augen, als er die Muskeln anspannt, mich einkerkert, wie zuvor, mir einen hastigen Atemstoß entlockt. Verdammt zäh, dieser Streithahn, aber mir gefällt sein Engagement. *~i~* Meine Knie sind aufgeschürft, ebenso meine Ellenbogen. Nur mein bestes Stück ist unversehrt. Dieser...total irre Mistkerl! Ich lehne an ihm, die Arme um seinen Nacken geschlungen, meine Wange auf seiner Schulter. Er bestreicht mich unter der tröpfelnden Dusche, tilgt die letzten Spuren. Meine Augen fallen immer wieder zu, ich brenne noch immer vor Hitze. Wenn er mich berührt, unsere Haut sich berührt, seine Brustwarzen über meine eigenen gleiten, will ich sofort weitermachen, ganz egal, wie oft wir schon in den Ring gestiegen sind, ob ich noch stehen oder liegen, oben von unten unterscheiden kann. Vage erinnere ich mich an Kamas Theorie über Hormone und chemische Verbindungen. Oder waren es elektromagnetische Vorgänge?! Zwischen uns schlagen in jedem Fall Funken, die für einen ausgewachsenen Waldbrand ausreichen. Von den chemischen Verbindungen ganz zu schweigen. So viel Adrenalin und Testosteron, Endorphine und Pheromone, wie wir beide produzieren, sprengen jedes Reagenz. Meine Hände lustwandeln über seine Arme, seinen Rücken, bestreichen seine helle, glatte Haut. Hmmm... außerdem riecht er gut. Schon drehe ich den Kopf, vergrabe die Nase in seiner Halsbeuge, lasse mich von seinen langen, glatten Haarsträhnen über die Wange streicheln, lecke Tropfen von seiner Kehle, küsse hervortretende Sehnen. Ja, das würde ich gern tun: ihn überall küssen, streicheln, einfach zärtlich sein. Allerdings habe ich starke Zweifel, dass er das zulassen würde. So wie jetzt, als ich mich plötzlich gegen die Wand geschoben finde, er behände aus der Wanne klettert, sich geschäftsmäßig frottiert, ebenso kühl ein weiteres Handtuch von einem Haken fischt, mir reicht. In den Schwefelaugen die eindeutige Botschaft, dass wir ja hier nicht zum Spaß sind, sondern zur Befriedigung. Also rette ich mich auch ungelenk über den Wannenrand, lasse mich darauf nieder, um in dem grellen Neonlicht meine Schürfwunden zu inspizieren und mein Mütchen ein wenig abzukühlen. »Das ist ein unerwartetes Glück, hier, heute Nacht. Vermurkse es nicht, indem du ihn bedrängst, klar?!« Ermahne ich mich, schleudere meine Haare aus. »Wie auch bedrängen?!« Schnaube ich mir selbst in die Parade. »Der Einzige, der in die Ecke dirigiert wird, bin ja wohl ich!« »Und?« Folgt die unbeeindruckte Replik. »Es gefällt dir doch!« »Stimmt.« Gebe ich zu. »Ich bin geradezu süchtig nach dem Sex mit ihm. Bienchen und Blümchen und Trallala müssen eben warten.« Als ich in das Zimmer zurückkehre, sitzt er in dem niedrigen Sessel, das Handtuch auf die Kunstlederpolsterung gelegt, ignoriert mich, die Bernsteinaugen auf den Boden gerichtet, wo unser Lager ausgebreitet ist. »Gut.« Beschließe ich, sammle ein Kissen auf, drapiere es vor seinen Sessel, lasse mich darauf nieder, lege den Kopf auf seinen Schoß, warte vergeblich darauf, dass seine Hand durch meine Haare streicht oder auf meinem Nacken wärmend liegt. Spürt er, wie ernst es mir schon ist, wie verrückt mich diese Gefühle machen, waghalsig über alle Maßen? Ich dränge meinen Oberkörper zwischen seine Knie, senke den Kopf über seinen Unterleib, lecke über seinen Penis. Eigentlich bin ich nicht so forsch, aber bei ihm ändert sich alles. Wenn er es mag, nehme ich seine Erektion in den Mund, auch ohne Gummi, schlucke sein Sperma. Ich bin zumindest bereit dazu. Er krault meinen Nacken, lässt mich gewähren, mit der Zunge die warme, feuchte Haut zu erkunden, in Runzeln und Falten einzutauchen. Ich lehne mich tiefer über seinen Schoß, schließe die Lippen um seinen Penis. Ganz vorsichtig berühre ich den geballten Muskel mit den Zähnen. Er keucht, seine Finger zerren an meinen Haaren. Langsam entspannt er sich wieder. Meine Zunge kreist ungelenk um die Spitze. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm nicht vielleicht doch weh getan habe. Sein Geruch schwebt vor meiner Nase, anregend und angenehm. Hätte ich nie gedacht! Ich streiche über seinen flachen Bauch, seine spitzen Hüftknochen, stippe meine Nasenspitze in seine Schambehaarung, lutsche an seiner Erektion, bemühe mich, nur durch die Nase zu atmen, nicht vom Kissen zu kullern. Er fasst mich um die Schultern, schiebt mich vorsichtig von sich, greift meine Handgelenke, ein anmutige, altmodische Geste, dirigiert mich auf seinen Schoß. Ich leiste der nonverbalen Aufforderung bereitwillig Folge, nehme rittlings Platz, studiere seine schwefelnden Augen. Solange ich noch bei Bewusstsein bin, werde ich nicht aufgeben. *~i~* Der Sessel ist unvorteilhaft niedrig, nach hinten abgesenkt, ein Relikt aus Vorzeiten des Designerunwesens. Seine Ellen stützen sich auf meine Schultern auf, die Hände bereits damit befasst, durch meine Haare zu streichen, die für ihn wohl ein Faszinosum darstellen, so häufig, wie er sie durchpflügt, um seine Finger zu winden versucht. Was allerdings an der schweren Glätte scheitert. Um ihn zu beschäftigen, zeichne ich mit einem Daumen seine Lippen nach, die er mit der Zungenspitze befeuchtet, über meinen Daumennagel gleitet. Ich zögere nicht, ihm meinen Zeigefinger anzuvertrauen, seine Aufmerksamkeit darauf zu bündeln, jeden Spann mit Speichel zu bedecken. Unverwandt blickt er mich an, das Fieber der Erregung brodelnd in den schokoladenbraunen Augen. Seine Erektion gleitet über meinen Unterbauch, streift meinen Bauchnabel. Unersättlich, hat meine Ohrfeige schon vergessen, wie einige andere, wesentliche Aspekte. Was mir den Part des Vernünftigen, erwachsenen Akteurs aufnötigt. Ich wechsle die Hand, lasse ihn an meiner Linken lutschen und saugen, schmiege mich tiefer in die Kunstlederpolster, die mit unpassendem Quietschgeräusch meinen nackten Rücken ansaugen. Schon kreist sein Becken, bewegt er sich in einem wellenförmigen Rhythmus über mir, eine automatische Reaktion auf die steigende Erregung. Vorwarnungslos schiebe ich zwei Finger in seinen Anus, erwidere ungerührt seinen Blick, lausche auf das kehlige, tiefe Stöhnen, das ihm entfährt. In seinen Augen steht die Frage nach den Gummis, nach einer anderen Sitzposition. Ich blitze abweisend zurück, krümme provozierend die Finger, während meine andere Hand seinen Mund nachdrücklich versiegelt, seinen Lustschrei erstickt. Der Idiot ist schon wund und will einfach nicht nachgeben! Mich kümmern die verdammten Gummis nicht, weil es keine Fortsetzung geben wird. Diese Botschaft funke ich auch unmissverständlich frostig in seine Augen, die an mir kleben. Ich schiebe meine Finger in seinen Mund, verlange, dass er an ihnen als Knebel lutscht, um nicht die halbe Nachbarschaft zu alarmieren, während ich mich mit seinem glühenden Rektum befasse. Willig folgt er meinen Vorgaben, schwingt immer schneller vor und zurück gegen meine Brust, stößt mit seiner aushärtenden Erektion gegen meinen Bauch, wirft den Kopf in den Nacken, bietet mir seine überstreckte Halspartie, die Kehle wie ein Opfer dar, was ich nicht zögere anzunehmen. Seine Augenlider flattern, halb geschlossen, von Leidenschaft verschleiert. Seine Hände graben sich tief in das Fleisch meiner Schultern. Ich lecke über die Sehnen, knabbere an der eigenwilligen Linie seines Unterkiefers, dem spitzen Kinn, steuere seine Bewegungen über meine Rechte aus, spreize die Finger, krümme sie, jage sie schneller und härter in seinen Leib, sammle mit der Zunge den Speichel von seinem Brustbein, der aus den Mundwinkeln hinuntersickert, lecke über die hervorstechenden Brustwarzen, sauge und nage an ihnen, belohnt durch seinen melodiösen, stolzen Lustgesang. Unerwartet, von seinem Begehren gezeichnet und rosig überhaucht, löst er die Hände, gleitet über meinen Hals zu meinen Kieferknochen, umfasst sie. Ich weiß, dass er gleich kommen wird, bereite mich darauf vor, seinen Samen auf meinen Bauch zu spritzen, erstarre, als er die Lider langsam aufschlägt, mich ansieht, fiebrig-verschleiert, die Lippen Silben formen, die ich nicht zu lesen wünsche, bevor ihn sein Orgasmus in die Höhe reißt, seinen Kopf in den Nacken zwingt, für Sekunden sein Griff um meinen Schädel schmerzhaft wird. *~i~* Er fängt mich ab, lehnt mich an seine Brust, die Rechte nun um die eigene Erektion gewunden, die noch ihres Abschusses bedarf. Ich ringe nach Luft, kollidiere mit jedem Atemzug mit seiner Brust, um von den Spasmen zurückgeschleudert zu werden. Vages Bedauern mischt sich in meine sich senkende Nacht. Einmal nur würde ich gern sehen, spüren, wie er vollends die Beherrschung verliert. *~i~* Ich bin erleichtert, durch sein Gewicht auf meinen Schultern zu erfahren, dass er am Ende seiner Kräfte angelangt ist. Sexuelle Triebe können auszehrend sein. Mühsam balanciere ich ihn aus, um mich aus dem vermaledeiten Sessel zu hieven, ihn hineingleiten zu lassen, mit Soujis Handtuch seinen Leib abzuwischen. Mich selbst zu reinigen, bevor ich den durchtränkten Stoff in eine Mülltüte versenke, Laken und Kissen vom Boden klaube, das Bett wieder herrichte. Die Decke aufschlage, ihn auf meine Arme nehme, hineinlege, das Licht der Stehlampe lösche, mich in anlehnender Position neben ihm einrichte. Auch im Halbschlaf schiebt er sich über meinen Unterleib, rollt sich auf mir ein, den Kopf unterhalb meiner Rippen ablegend. Meine Linke schmiegt sich auf die klebrig-warme Haut unter seinem Kiefer. Mit dem Daumen streiche ich über seine Wange, das Ohrläppchen, langsam, kreisend, einlullend, schließe die Augenlider, endlich, ergebe mich meiner Erschöpfung. *~i~* Als ich erwache, ist er bereits angekleidet, das Zimmer aufgeräumt. Fast Food stapelt sich in Kartonagen neben mir. "Iss hier." Weist er mich an, während ich mir die Augen mit dem Handrücken reibe. "Ich will den Gestank nicht in meinem Auto haben." Schon verstanden! Mein Magen verdrängt jede bissige Antwort, knurrt begierig, sodass ich auspacke und mir die Backen vollstopfe, mit wachsendem Appetit mit den Fingern Burger und Muffin zerpflücke, mir die Finger ablecke. Ich weiß, dass er mich ansieht, jede Bewegung beobachtet. Seine Miene ist unleserlich. Unglaublich, ich habe wirklich gewaltigen Kohldampf!! Stillvergnügt kaue ich, vergesse seine rüden Manieren, die mir nicht einmal einen sonnigen Morgengruß entbieten. Gnädigerweise darf ich noch duschen, in die Klamotten springen, bevor er mich in den Van schiebt, die Maschine startet, vom Gelände rollt. Das war's also, zurück zum Alltagsgeschäft. Ich lümmle mich in den Sitz, lehne den Kopf an die Scheibe. Er präsentiert mir ohnehin nur sein gemeißeltes Profil. "Wie lange dauert eigentlich die Ausbildung beim FBI?" Erkundige ich mich leichthin. "Warum?" Lauert er wachsam, versteckte Fallen mit unzähligen Pfeilspitzen in der sonoren Stimme. "Ich gehe auf die Polizeischule und bewerbe mich beim FBI." Wische ich vage mit der Linken durch die Luft. "Wozu das?" Zischt er, vergeblich um ätzenden Spott bemüht. "Um dein Partner zu werden, was sonst?!" Schnaube ich ungeduldig, wende den Kopf, um ihn anzusehen. Seine Lippen werden schmal. Dafür zeichnen sich seine Raubtierzähne deutlich ab. "Das wirst du nicht tun." Stellt er kategorisch fest. Daraufhin richte ich mich auf, balle die Fäuste. "Ach ja?! Wer bist du, mein Vater?! Ich kann tun, was ich will, klar?!" Poltere ich, steigere meine Lautstärke. "Du wirst das nicht tun, du kleiner Idiot!" Faucht er zurück, funkelt mich mit Unheil versprechendem Schwefelblick an. "Dafür werde ich sorgen." "Warum?!" Brülle ich. "Was ist dein Problem?! Dass ich nicht auf mich selbst aufpassen kann?! Klar, du vertraust mir ja auch nicht! Bloß niemanden an sich heranlassen, richtig?! Was für ein beschissenes Über-Leben ist das denn?!" Ich halte inne, zittere, kann gar nicht glauben, dass ich ihm all das ins Gesicht geschrien habe. Er wendet sich ab, konzentriert sich stumm auf die Straße. Verdammt... Mutlos sinke ich zurück in den Sitz, starre aus dem Fenster. *~i~* Er bringt mich natürlich bis zur Haustür, respektive unserem Garagentor. Ich will nicht aussteigen. Mit trotzig vorgeschobener Unterlippe verschränke ich die Arme vor der Brust, stiere in die Ferne. "Und ich werde doch zum FBI gehen! Da werden wir ja sehen, ob ich es drauf habe oder nicht!" Verkünde ich hochmütig. Ich erwarte nicht, dass er sich losschnallt, zu mir beugt, mein Kinn umfasst, mich zwingt, in seine Bernsteinaugen zu blicken. "Ich will nicht, dass du das tust." Wiederholt er, sachlich und ohne Befehlston, versiegelt meine Lippen mit einem kategorischen Finger, setzt seine Ansprache fort. "Du hast so viel überlebt, Sano, dich aus dem Milieu befreit. Warum willst du wieder in den Schmutz zurück? Das ergibt doch keinen Sinn." Ich blinzele, betrachte sein Gesicht, lausche auf meinen rasenden Herzschlag, die einzelne, gewaltige Ader in meinem Kopf, die wie ein Heizungsrohr klopft. "Weil ich dich liebe und begehre." Bringe ich über die Lippen. Eine Hitzewelle rast in mein Gesicht hoch, färbt mich vermutlich puterrot vor Scham. Er streicht über meine glühenden Wangen, ernst, ruhig. "Das geht nicht. Das weißt du auch. Ein mehr als Dutzend Jahre älterer FBI-Cop, geschieden, mit drei Söhnen und von seinem Job besessen, ist kein geeigneter Partner für dich." Ich umklammere seine Hände an den Gelenken, ziehe die Augenbrauen zusammen, widerspreche. "Der Medizinmann hatte auch seine Chance! Also, warum soll ich es nicht auch schaffen?! Ich will ja gar nicht, dass du mich heiratest und mit mir einen Stall voll Babys hast." "Ah nein?" Grollt er ironisch. Ich lasse mich nicht beirren. "Ich will bei dir sein, so oft wie möglich, dich ansehen können und dir zuhören, mich mit dir streiten und versöhnen." "Pfhhh!" Schnaubt er betont geringschätzig. "Natürlich willst du von mir gefickt werden." "Ich bin auch bereit zu tauschen." Provoziere ich. "Mal was Neues auszuprobieren. Zum Beispiel Liebe zu schenken und zu empfangen." Tiefschlag, ich weiß. Er drückt meine Kiefer fester. "Ich will das nicht. Verstanden?" "Bist du es nicht leid, feige zu sein und Angst zu haben?" Schieße ich zurück, definitiv unter der Gürtellinie. Wenn er mich jetzt rausschmeißt oder ohrfeigt, würde ich das verstehen. Er tut es nicht. Stattdessen küsst er mich auf den Mund, lange, intensiv, liebevoll. *~i~* Seine Augen sind noch immer aufgerissen, als ich mich ein wenig zurückziehe. Er blinzelt einige Male, bis er in die Gegenwart zurückkehrt. "Du weißt nicht, was du dir wünschst." Stelle ich ruhig fest. Meine Mission, meine Berufung muss unzweifelhaft an erster Stelle stehen. Sonst werde ich versagen, Fehler machen. Verschwende ich nur einen Gedanken, wird meine Arbeit darunter leiden, in der Folge vielleicht Menschen sterben. Gerade meine Besessenheit, meine volle Konzentration sind mein wichtigster Garant für die Aufgabenerfüllung. Er wendet den Blick ab, starrt geradeaus, düster, trotzig, legt den Kopf schief, um mich zu mustern. "Ich schlage dir einen Handel vor." Beginnt er schließlich, die Stimme belegt. "Du hast Zeit, bis ich auf eigenen Beinen stehe, einen anständigen Job habe. Ich komme dich holen. Die verdammte Welt muss sich selbst retten. Einverstanden?" Hoffnungslos, dieser Gockel. "Willst du die Verantwortung für die Folgen tragen?" Hake ich ruhig nach, studiere sein Gesicht, das sich verhärtet, Entschlossenheit zeigt. Er legt die Hand flach auf mein Herz. "Du warst auch nicht da, als ich ums Überleben gekämpft habe. Es hat keinen einen Deut geschert. Die Welt ist trotzdem nicht untergegangen. Trotz der vielen schrecklichen Dinge." Seine Finger graben sich in den Stoff, halten ihn fest in ihrer Umklammerung. "Ich kann nicht einsehen, warum wir beide zurückstecken sollen. Im Gegenteil, zusammen könnten wir versuchen, unsere Welt zu verbessern, uns gegenseitig zu unterstützen." Seinen Hahnenkamm zerzausend lenke ich ab. "Du willst so lange warten?" "Natürlich nicht!" Widerspricht er vehement, die Augen funkelnd vor Agitation. "Du hast meine Nummer und telefonieren kannst du ja wohl! Ich werde dein Callboy sein, bis ich dich hole, klar?!" "Mein Callboy?" Ich ziehe eine Augenbraue hoch, mustere ihn eingehend. Seine trotzig-herausfordernde Haltung, die Finger, die sich in mein T-Shirt krallen, mich nicht abfahren lassen wollen. Eigentlich sollte ich ihm das nicht antun. Ich sollte verzichten. Er sollte heiraten und Kinder haben, freche Küken mit wilden Hahnenkämmen. "Aber ich warne dich!" Brummt er hitzig. "Pass bloß in der Zwischenzeit auf deinen Hintern auf, klar?! Ich kaufe die Ware wie gesehen. Ich versichere dir, ich habe genau hingeguckt." Erneut färben sich seine Wangen, was mich schmunzeln lässt. Rührend. Schmeichelhaft. Lange betrachte ich sein Gesicht in der Morgensonne. *~i~* Er lehnt ab.... oh, bitte, lass das nicht geschehen!! So still, die Bernsteinaugen so golden. Er ist doch sonst so verdammt egozentrisch, warum will er jetzt den Helden rauskehren?! Ich bin doch kein Idiot, ich habe mir schon überlegt, was ich versprechen will!! Verflucht... Selbstständig hake ich meine Finger aus seinem T-Shirt, schlinge die Arme um seinen Nacken, küsse ihn auf die Lippen, schließe die Augen. "... bitte... bitte... 'jime!" Fehle ich, schlucke hart an dem Kloß in meinem Hals, der mir natürlich auch noch Wasser in die Augen treibt. Wenn er bloß zustimmen würde! Ich weiß, dass mir nie mehr so ein Mensch wie er begegnen wird, unter der Haut ein ungezähmtes, stolzes, gerissenes Tier. Jemand, den ich gegen alle Vernunft absolut liebe, dem ich mich vollkommen hingeben will. "... bitte..." Wiederhole ich, bedecke ihn mit Küssen, wage nicht mehr, die Augen zu öffnen, um seine Ablehnung sehen zu müssen. Seine Hände gleiten über meine Seiten, streichen über meinen Rücken. "Ist gut, Sano." Raunt er an meinen Lippen, umarmt mich eng. Ich hebe den Kopf, unsicher, ob er mich nur trösten will, oder ob das seine Antwort auf mein Angebot war. Zum ersten Mal sehe ich Zweifel, Unsicherheit auf seinem hageren Gesicht, wirkt er nicht entschlossen und perfekt. Trotz zeichnet sich in seiner Miene ab. Ohne Worte. "Wenn du mich nicht ausgezeichnet behandelst, wird die Hölle wie ein Urlaubsparadies aussehen!" Droht er mir finstersten Blicks. Ich nicke, erst hastig, dann langsamer, beginne zu lachen, von solcher Erleichterung durchdrungen, dass ich leichter als Luft bin, ihn an mich ziehe und festhalte, in seine glatte Mähne wispere, wie sehr ich ihn liebe. Als könnte er es nicht an meinem Herzschlag hören, meiner zitternden Stimme entnehmen. *~i~* Ich bin froh, dass Sano endlich dem Van entsteigt, unversehrt scheint, auch wenn er übernächtigt und zerzaust aussieht. "Also?" Spiele ich den besorgten, vernünftigen älteren Bruder. "Was war los?" Mein wilder, ungebärdiger Bruder fährt sich deutlich verlegen durch seine wirre Mähne, errötet, zieht den Kopf zwischen die Schultern. "Ja?!" Dränge ich alarmiert. Ein schiefes Grinsen schleicht sich in sein Gesicht, bevor es zu einem breiten Strahlen anwächst. "Ich bin sozusagen versprochen." "Versprochen?!" Echoe ich ratlos. "Wem?" "'jime." Verkündet er stolz. "'jime...dem FBI-Bullen?!" Weckt mein Schrei das halbe Viertel. "Jupp." Sano zerrt mich am Handgelenk hinein, wo ich mich erst mal setzen muss, in meine geliebte Lady. "Oh Mann!" Stöhne ich, den Kopf auf dem Lenkrad ablegt, während er hilfsbereit meinen Nacken massiert, eindeutig nach Lakritze riecht. "Sind denn hier alle schwul?!" Sano lehnt sich auf meinen Rücken, lacht so herzlich und unbekümmert wie schon lange nicht mehr. "Tja, um mit Osgood Fielding III zu sprechen, 'nobody is perfect'." Wie wahr. Manche mögen's eben heiß. ~ ENDE ~ PRODUKTIONSNOTIZEN Auch wenn die Serie leider beendet ist, das Fieber hält an, nicht zuletzt angestachelt durch die Challenges. Hier nun ein Umtopf-Versuch, Sano und Konsorten drei Jahre jünger im Jahr 1991 in Amerika... und ich mag noch immer die Kombination Sano X Saitou, aber Kamatari ist auch einer meiner Lieblinge, also darf er nicht leer ausgehen ^^ Die Fertigstellung hat sehr lange gedauert, über ein Jahr seit der ersten Konzeption, was mich geärgert hat, mir aber auch bewiesen, dass man nicht auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann... ;_; Jede Menge Hits meiner Jugend sind eingebaut und ich hoffe, sie tragen dazu bei, die Atmosphäre Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger einzufangen. Vielen Dank fürs Lesen! kimera