Titel: Mörder und Mäuse Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Fan Fiction Serie Rurouni Kenshin von Nobuhiro Watsuki FSK: ab 16 Kategorie: Drama Erstellt: 30.06.2004 Disclaimer: Die Serie Rurouni Kenshin gehört Nobuhiro Watsuki. Die Lieder gehören den zitierten Autoren/Sängern, alle Rechte vorbehalten. Zitate entstammen unter anderem Billy Wilders Film >Some like it hot< von 1959. Bemerkung: Szenen zu "Heißkalte Leidenschaften". -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- -+- Mörder und Mäuse Britische Kronkolonie Hongkong, 1981 Es regnete in endlosen Schnüren von einem Himmel, der sich nicht vom aufgewühlten Meer unterschied. Eine bedrückende, nasse Welt in grauen und dunkelbraunen Tönen der Melancholie. Tag und Nacht grenzten sich bei der Wetterlage, für die Saison nicht untypisch, nur in der Anzahl der Lampions und Neonreklamen ab, die ihre marktschreierische Botschaft in das allgegenwärtige Bleigrau proklamierten. Dass es Tag war, erkannte der Junge daran, dass der stete, pulsierende Strom von Geräuschen gedämpfter um ihn herum waberte, von den Tropfen gefiltert zu einem betäubenden Rauschen. Er war zierlich gebaut, von mangelnder Ernährung gezeichnet, doch so zäh wie all die verwahrlosten Kinder, die mit Verwandten das Glück in Hongkong gesucht hatten, sich in Hühnerstall-großen Verschlägen und Käfigen wiederfanden, weit entfernt von allen Verheißungen des Glücks auf Erden. Glück bedeutete ihm, keine Schläge und den Verkauf der Waren, die er in einem schäbigen Sack transportierte: Zigaretten, Glasperlenketten, Stoffblumen, Kondome, Rasierklingen... Aber der Regen verdarb das Tagesgeschäft. Niemand wollte sich durch die nassen Vorhänge schieben, vor denen nicht einmal ein großer Schirm Schutz bot. Er kauerte durch einen übergestreiften, alten Müllsack leidlich geschützt an einer der zahlreichen Treppenkaskaden, eingepfercht von Häuserschluchten, die wie Bienenwaben jeden Millimeter ausfüllten, den sie ungehindert bewuchern konnten. Die Haare, überlang und unkundig gestutzt, klebten tropfnass an seinem Kopf. Das verschlissene T-Shirt und die abgewetzten Hosen starrten vor Dreck, ebenso wie die nackten Füße in den vielfach geflickten Sandalen. »Den Hunger abtöten...« Mit dem Handrücken wischte er sich Regenwasser aus den Augen, zog die Nase geräuschvoll hoch. In der Hocke spürte er das Rumoren seines Magens weniger. Er wusste nur zu gut, dass sich dies nicht bis zum Abend aushalten ließe. »Wenn doch nur ein Kunde käme! Eine Suppe, vielleicht sogar ein wenig Reis...« Er lächelte versonnen in das eintönige Grau, atmete den süßlichen Geruch von gärendem Abfall und nasser Erde. Fäulnis und Fäkalien mischten sich hinein. In diesem Augenblick bemerkte er den Fremden, schlank, gerade mittelgroß. Die Haare zu einem Zopf am Oberkopf gebunden trug der Unbekannte einen billigen Anzug mit einem offenen Seidenhemd, in der Kombination Pflaumenblau und Violett. Seine Hände hielten in liebkosender Geste zwei Pistolen. Bereit, ihre tödlichen Garben zu sprühen, als der Unbekannte in Höhe des Jungen auf der Treppe innehielt. Weitere Männer erschienen, gleichförmig in Anzüge gekleidet, mit rasierten Schädeln und Schusswaffen, blockierten Anfang und Ende der Stufenkaskade. Der Fremde lächelte mit blendend weißen Zähnen. Die schwarzen Augen funkelten begierig. Er setzte den rechten Fuß zwei Stufen über den linken, wandte den Kopf anmutig rechts und links, um sein Ziel zu fixieren. Der rechte Arm visierte den obersten Punkt der Treppe an, der linke hielt das Ende in Schach. Er lachte, herausfordernd, kehlig. Der Junge blinzelte Regenperlen aus den Augen, hielt seinen Sack umklammert, kauerte starr neben der überquellenden Mülltonne unter einer bescheidenen Traufe. Es wäre besser zu fliehen, doch er spürte, dass jede unerwartete Bewegung fatale Folgen haben konnte. Mit dem nächsten Atemzug in der unwirklichen Stille, die aus dem Mangel an Alltagsgeräuschen entstand, begann der Fremde zu feuern. -+- Streifschüsse, zerreißender Stoff, sengende Hitze, Rückstoß der Schlitten, verringertes Gewicht... und wie sie tanzten! Er lachte, losgelöst, amüsiert, triumphierend, konnte diesen bitteren Scherz nicht übergehen. -+- Das ewige Grau färbte sich in blutrote Schlieren, die der Regen verwischte, auflöste. Wie Donnerhall dröhnte das Stakkato der abgefeuerten Salven in der engen Schlucht. Männer fielen, stumm, wie Geister, während der Fremde wie ein Derwisch wirbelte, kein sicheres Ziel bot, obgleich er getroffen wurde. Blut sickerte mit dem Wasserstrom die Stufen hinab, drängte sich um die alten Sandalen des Jungen in seinem Versteck. Das Schauspiel endete, wie es begann, mit dem einsamen Fremden und der betäubenden Stille. Der Junge legte den Kopf in den Nacken, als die billigen Schuhe vor ihm innehielten. Die schwarzen, glitzernden Augen des Fremden fokussierten ihn. Die Mündung einer Waffe legte sich an seine klamme Stirn. "Na?" Wisperte der fremde Mann, blutend. "Hat dir mein Tanz gefallen? Du lächelst." -+- Die Zeit schien zwischen zwei Herzschlägen zu stehen, dehnte sich aus in dem Blick, der beide gefangen hielt. Der Junge nickte, fasziniert von dem irrealen Schauspiel, von der unerwarteten Farbe in seinem Leben. Ob ihn der Tod erwartete, weil er Dinge und Personen gesehen hatte, die keine Zeugenschaft wünschten, kam ihm nicht in den Sinn. Die Waffe senkte sich, wurde wie ihr Partner in ein Holster unterhalb der Achseln deponiert. Der Fremde fasste die Hand des Jungen, zog ihn auf die Beine. "Komm mit." Gebot er. Der Junge folgte ihm ohne einen Blick zurück. -+- Mein Leben begann, als Makoto Shishio an einem Regentag in Hongkong meine Hand fasste und mich mit sich führte. Er sprach Kantonesisch mit mir, wenn er das Wort an mich richtete. In einer schäbigen Absteige mietete er ein Zimmer, zog sich aus und begann seine Wunden zu versorgen. Schmerz ignorierte er, befahl mir knapp, ihm zu assistieren, mit seinem irritierenden Lächeln. Ich tat, wie er mir auftrug. Er fasste mein Handgelenk, zog mich zu sich heran. "Ich glaube nicht, dass du so jung bist, wie du aussiehst." Bemerkte er Zähne bleckend. Obgleich ich nicht begriff, worauf er abzielte, wich ich nicht zurück, als er mir die nassen Kleider mit seinem Messer vom Körper schnitt, ohne mich zu verletzen. Sein Messer spiegelte mit der polierten Schneide so perfekt die Umgebung, dass es mich in seinen Bann schlug. Er erhob sich, abgesehen von den Verbänden nackt, legte seine Hand auf meinen Nacken, dirigierte mich auf die morsche Balustrade, wo Kübel und anderes Material lagerte, bedeutete mir, mich gründlich zu waschen. Ich leistete seiner Aufforderung Folge, beobachtete meinerseits, wie er mit einem Lächeln rauchte. "Nimm einen Zug." So lernte ich seine Spezialmischung kennen, aufputschend und bitter zugleich. Wir kehrten in sein Zimmer zurück, von neugierigen Augen verfolgt, die jedoch keine Anstalten machten, ihn zu behelligen. Vielleicht, weil er strahlte, von einer besonderen Aura umgeben war: ein unbesiegter Krieger. Er schob die Waffen unter das verlumpte Kissen auf dem durchgelegenen, muffigen Bett, rammte das Messer in die Matratze. "Komm her." Winkte er mich heran. Obwohl es das erste Mal war, er ohne Rücksicht auf mich agierte, lächelte ich ihn an. -+- Der Fremde setzte sich auf, entzündete einen weiteren Joint. Beiläufig drehte er ein Papiertaschentuch ein, stopfte es in den analen Eingang des Jungen, den er vergewaltigt hatte. Aus einer Laune heraus hob er ihn auf seinen Schoß, klemmte den Joint zwischen die zerbissenen Lippen, kontrollierte, dass der Junge tiefe Züge nahm. Es war richtig gewesen unterzutauchen. Jetzt hieß es, für seine Rückkehr die ersten Schritte zu unternehmen. Er würde wie der Phönix aus der Asche entstehen, sich zurückholen, was ihm gestohlen worden war. Der Junge auf seinem Schoß lächelte noch immer. "Weißt du, wer ich bin?" Erkundigte sich der Fremde amüsiert, tätschelte den von Mangelernährung aufgeblähten Bauch des Jungen. "Ein gewaltiger Drachen." Lautete die Replik mit kindlich-heller Stimme. Er sann darüber nach, bleckte sein blendendes Gebiss. "Ein schwarzer Drache aus der Hölle, der die Welt niederreißen wird." Bekräftigte er, legte den Kopf in den Nacken, lachte herausfordernd. -+- Er fragte mich nicht nach meinem Namen, sondern bestimmte ihn selbst: Soujirou Seta. Mit dem Namen ging das unausgesprochene Zugeständnis einher, mich zu behalten. Wir verließen die Absteige, sobald er passende Kleider gefunden hatte. Dann stiegen wir hinab in die Unterwelt von Kowloon. -+- Eine Großstadt in Amerika, 1981 Ich hasse sie. Alle. Sie sind wertlos. Ihr Leben ist wertlos. Sie stehen da, geben vor zu trauern, obwohl sie kein Recht dazu haben. Und Vater, dieser feige Mistkerl, lässt sie gewähren. Sie tragen die Schuld. Sie alle. Sie haben kein Recht zu leben, wenn meine Schwester tot ist. Diese ganze wertlose Welt hat kein Recht dazu. Vier Tage. Vier Tage schon. Aber nicht für ewig. Schwester, hörst du mich? Ich werde deinen Tod rächen. Sie werden begreifen, dass diese Welt ohne dich wertlos ist. Wenn du nicht leben darfst, darf es niemand. Bitte, liebste Schwester, gedulde dich noch ein wenig. Ich halte meinen Schwur. Tilge ihre nutzlosen Existenzen. -+- Der Mann in dem zerknitterten, unscheinbaren Anzug kniete ruhig vor dem einfachen Stein, der alles verschlungen hatte, was er aus seinem bescheidenen Besitz verkaufen konnte. Ein Foto schmückte die kleine Stele aus weißem Marmor, zeigte eine junge Frau mit schwarzen, großen Augen und glatten, seidigen Haaren, die lang über die Schultern fielen. Ein bescheidenes Lächeln schwebte über den gleichmäßigen Zügen, eine stille Freude. Er erinnerte sich an den Tag, an dem man es aufgenommen hatte. Seine so erwachsene, reservierte Tochter trug den Kimono ihrer Mutter, der ihr wie auf den Leib geschneidert stand. An ihrer Seite, verschämt die Finger mit dem älteren Mädchen verschlungen, der rothaarige Junge, dem es gelungen war, eine solch profunde Verhaltensänderung zu bewirken. An diesem Tag, den sie gemeinsam verbrachten, mit einem Picknick krönten, hatte sie mehrfach lauthals gelacht, zumindest für ihre Verhältnisse, hinter vorgehaltener Hand. Ein netter Junge, schöne Augen, zierlich, doch erstaunlich geschickt und so höflich. Er hätte keine Einwände gehabt, diesen Jungen als Schwiegersohn anzunehmen. Ein Seufzer mischte sich in die aufsteigende Säule der Räucherstäbchen. Aber sein Junge mochte den Rothaarigen nicht. Weil er die Schwester, den Mutterersatz zu verlieren drohte? Mit einem sorgfältig geflickten Taschentuch tupfte er sich Schweißperlen von dem sich lichtenden Haarkranz am Hinterkopf. Ja, er hätte sich mehr mit seinen beiden Kindern befassen müssen, doch die Notwendigkeit, für ein Auskommen zu sorgen, hatte ihm nur zu selten die Gelegenheit dazu offeriert. Sie waren doch so verständig und fanden sich in den eingestandenermaßen armseligen Verhältnissen gut zurecht. »Aber nun...« Sie hatten die ausgebrannten Autowracks abgeschleppt, einige Häuserruinen niedergerissen. Es gab wieder Wasser und Strom. Die Schulen waren geöffnet. Für ihn spielte es keine Rolle mehr: Tomoe war gestorben und Enishi nach der Trauerfeier verschwunden. Vier Monate ohne ein Lebenszeichen seines über Nacht veränderten Sohns mit dem schlohweißen Schopf, der im Schock elektrisiert abstand. Außer Erinnerungen bot dieser Ort nichts mehr. Er erhob sich, drückte den schäbigen Hut auf seinen Kopf, sammelte sein bescheidenes Bündel auf. Wie der Rothaarige würde er ohne Anker durch die Welt treiben, auf der Suche nach einem Hafen, der seiner Seele Ruhe bot. -+- Sie kannten den Bengel mit den weißen Haaren und den hellen, fast durchscheinenden Augen. Man munkelte, dass ein Teufel in seinem Leib wohnte, es besser war, auf seiner Seite zu sein als auf einer anderen. Er kannte keine Furcht, wie es den Anschein hatte, spazierte entschlossen in das Hauptquartier der Triaden-Sektion, verkündete unbeeindruckt von den Prügeln, die man ihm zur Begrüßung verabreichte, sich in "das Geschäft" einkaufen zu wollen. Mit Waffen aus den Verstecken, die die Polizei nicht gefunden hatte. Er wollte einer von ihnen werden. -+- Vorher hatte ich mich immer gefürchtet, vor Schlägen, der Kälte, dem Hunger. Nun verlor ich jede Angst. Niemand konnte gegen ihn gefeit sein: er war schnell, gerissen, präzise und tötete ohne Zögern. Er kaufte mir Kleider und Nahrung, lehrte mich, wie man unterschiedliche Waffen führte, brachte mir seine Sprache, amerikanisches Englisch, bei. Sein Ziel war klar: zurück nach Amerika, in SEINE Stadt, wieder zu erobern, was zum Greifen nahe gewesen war, als man ihn nach Hongkong sandte. Ich war noch niemals gereist und freute mich darauf, sein Leben zu teilen, sein Ziel und sein Bett. -+- Er kam wie ein Ungeheuer aus der Tiefe, mit einem Ruf, der für Angst und Schrecken sorgte. Ein vernarbter, skrupelloser, junger Mann, ausgebildet von einer Spezialeinheit, um die Bandenkriminalität zu bekämpfen. Er hatte die Seiten gewechselt, war der großen Razzia entkommen, um in das Vakuum zu stoßen, das entstanden war. An seiner Seite ein zierlicher, stets lächelnder Junge, ein Cherub mit einer Dämonenseele, blitzschnell mit dem Messer, der geflügelte Tod und Vollstrecker seines Herren. Ihre Morgengabe bestand in Drogen und Schutzgelderpressung. Bald folgte auch Menschenschmuggel und Frauenhandel mit Prostitution. Der Teufel, den sie aufgrund seiner Vorliebe für flatternde Bandagen "Mummy", die Mumie, nannten, pflügte wie ein gewaltiger Hagelschauer durch die ausgedünnte Unterwelt. Er tötete aus Demonstrationszwecken, um sich unliebsamer Konkurrenz zu erledigen, um einzuschüchtern. Gemäß seinem Credo, das er seinem Adjutanten eingetrichtert hatte: die Starken fressen die Schwachen. Das Gesetz der Natur. Das Gesetz des Dschungels. Sie hingegen waren stark, mächtig und ohne Furcht, somit unbesiegbar. Wurden zu dem, wovor sie den ehemaligen Spezialagenten gewarnt hatten: schlitzäugige Teufel, die gelbe Gefahr! Von einem freien, boshaften Lachen begleitet, denn die Schwachen mussten hinweggefegt werden, damit am Horizont eine neue, starke Welt entstehen konnte. -+- Neuneinhalb Jahre später, eine Großstadt in Amerika Er logierte in der bescheidenen Suite, die seinen Ansprüchen genügte. Eine Rückkehr nach so langer Zeit... Die Stadt hatte sich nur oberflächlich verändert. Es kam, wie er mit einem kalten Grinsen feststellte, auf die subterranen Werte an. Dieser verräterische, psychopathische Aufsteiger wollte sich alles unter den Nagel reißen! Ein interessanter Geschäftspartner, wenn er sich an die Abmachungen hielt und die Zinsen ertragreich waren. Er hasste den Mumienmann schon aus Prinzip. Andererseits war er ein hervorragendes Mittel zu seinen Zwecken, ein Kriegstreiber aus Enthusiasmus, ohne Skrupel oder Furcht. Heute wollten sie Verhandlungen aufnehmen: die Triaden mit ihrem breiten Angebot an Waffen aller Art und der selbst ernannte Fürst der hiesigen Unterwelt mit Schutzgeld, Drogen und Menschenhandel. Ein Anteil an der Geschäftswelt kam für die Triaden nicht in Frage. Die wirtschaftliche Entwicklung deutete zu stark auf ein absteigendes Viertel hin. Bequem lagerte er sich in einem der gepolsterten Sessel, verborgene Waffen in Reichweite. Neutrales Gelände. Dafür entsandte der Mumienmann seinen Stellvertreter. Eigentlich eine Anmaßung sondergleichen. Auch er wusste um die Machtspiele der gegenseitigen Einschüchterung und Abschätzung. Somit erwartete er einen zierlichen, jungen Mann mit heller Haut, schwarzen Haaren. Einen versierten Attentäter, den sie "Himmelsschwert" nannten, weil er bevorzugt mit jeder Form von Klinge operierte, in unglaublicher Geschwindigkeit und mit herausragendem Geschick. Sich die weißblonden Stacheln durchfahrend strich er über seine einfachen Ohrringe, rückte die blau getönten Gläser der Sonnenbrille zurecht. »Wir werden sehen, wer der Schnellere ist!« -+- Sie hörten das gedämpfte Geräusch des Aufzugs. Die sich teilenden Türen entboten einen leeren Passagierraum. Die beiden Leibwächter inspizierten argwöhnisch das Innere, hielten Ausschau nach der Ursache dieser vermeintlichen Fehlfunktion, als sich urplötzlich die Deckenverschalung löste, beide Männer innerhalb eines Wimpernschlags niedergeschlagen wurden. Ein Schatten nur huschte durch die Suite, entledigte sich weiterer störender Zeitgenossen in effizienter Schnelligkeit, bevor er das Wohnzimmer betrat. Wo ihn gelassen ein wenig jüngerer Mann erwartete. Sie musterten einander schweigend, um auf ein unausgesprochenes Signal hin aufeinander zuzustürzen. Die jeweiligen Waffen ausgerichtet, froren sie ein in tödlicher Bedrohung: ein poliertes, Skalpell-scharfes Messer an der Kehle des durchtrainierten, sehnigen Mannes mit dem elektrisiert abstehenden Schopf, eine schallgedämpfte Pistole auf dem schmächtigen Brustkorb des schwarz gekleideten Attentäters. Ihre Augen bohrten sich in den Gegenüber, erwogen Chancen und Risiken. Der Zierliche zog sein Messer zurück, deutete eine knappe Verbeugung an. "Bitte verzeihen Sie mein ungestümes Eindringen, Herr Yukishiro. Wir freuen uns, dass Sie Interesse an einer geschäftlichen Vereinbarung mit uns zeigen. Ich entbiete die Grüße von Herrn Makoto Shishio und bin als sein Stellvertreter autorisiert, erste Einigungsgespräche aufzunehmen." Verlautbarte er mit dem steten, gefühllosen Lächeln und einer sanften, hellen Stimme wohlgesetzte Worte. Enishi zuckte nicht mit einem einzigen Muskel. "Ausziehen." Bestimmte er nach einer geraumen Weile, die Mündung der Waffe unverändert auf das Herz seines Besuchers gerichtet. Ohne Zögern kam der zierliche Mann der Aufforderung nach, entkleidete sich bar ungebührlicher Hektik, legte die verborgenen Waffen auf den niedrigen Tisch inmitten der Sitzgruppe. Er bot einen zerbrechlichen, schmächtigen Körper mit heller Haut, wenig Behaarung und einigen Spuren verheilender Misshandlungen. "Wie ist dein Name?" Erkundigte sich Enishi unbeeindruckt, ließ seinen entblößten, knabenhaften Gegenüber stehen. "Seta. Soujirou Seta." Eine weitere, knappe Verbeugung schloss sich an. Schwarze Augen fixierten helle, durchscheinende. Lange. Dann erhob sich Enishi, streckte die freie Hand aus. "Sehen wir uns Meins an, dann will ich Deins sehen." -+- Ich hatte nicht erwartet, dass er so jung aussehen würde. Oder so zerbrechlich. Sein Lächeln war ohne Belang, ein eingefrorener Reflex, eine Schockreaktion, vergleichbar mit der Farbe meiner Haare. Was mich faszinierte, waren seine Augen, so schwarz wie ein Abgrund, das einzig Lebendige in seinem Gesicht. Wie ihre Augen. Für einen Moment nur hatte er mich paralysiert, doch auch er hatte gezögert. Aus eigenem Antrieb? Oder weil es nicht sonderlich geschäftsfördernd wäre, den Vertreter der Gegenseite zu attackieren? Wir standen nebeneinander, studierten die unterschiedlichen Waffenausführungen. Er roch nach Zitronenseife und Wundsalbe, in seiner hellen Haut setzen sich Einstichstellen bläulich-rot ab. Ein Junkie, Heroin vermutlich, wahrscheinlich auch anderes. Wie zuverlässig war ein Geschäftspartner, der einen Drogenabhängigen als seinen Stellvertreter beschäftigte? Aber Soujirou erwies sich als hellwach, blitzgescheit und so freundlich-höflich, wie die Gerüchte besagten. Ein harter Verhandlungspartner. Seine zierlichen Hände erprobten kundig die Formen und Funktionen. Eifrig lauschte er meinen Ausführungen zu den technischen Daten, Lieferzeiten, Importwegen und Pflegeanweisungen. "Willst du sie testen?" Bot ich an, eigentümlich fasziniert von seiner Unbekümmertheit, vollkommen nackt neben mir auszuharren. "Vielleicht später." Seine Hand glitt über einen knochigen Ellenbogen. Das erste, deutliche Anzeichen dafür, dass Entzugserscheinungen ihn plagten, die er vor mir zu verbergen suchte. Er hätte mir vorhin nicht derartig schnell an die Kehle gehen sollen. Das überzeugte mich, seine Belastungsgrenze auszuleuchten. -+- Enishi verhandelte über jeden Posten, feilschte über die Lieferkonditionen, die Höhe der Beteiligungen, die Garantien. Er war sich der Qual bewusst, die er seinem Gast auferlegte. Jedes Zittern, Beißen auf die rissigen Lippen versetzte ihn in erwartungsvolle Vorahnung. Zweifellos hatte auch Soujirou, dieser zierliche Attentäter, sein Dilemma erkannt. Es stand ihm nicht frei, sich der Marter zu entziehen, wollte er seine Mission nicht gefährden. Klamme Schweißperlen benetzen wie Mehltau die fahle Haut, als Enishi, bequem in einem der Sessel logierend, endlich die Abmachung besiegelte. Einem Magier gleich tanzte ein Päckchen weißen Pulvers zwischen seinen geschickten Fingern umher, während ein amüsiertes Raubtierlächeln sein Gesicht erhellte. "Na, wie nimmst du dein Koks?" Provozierte er betont launig den schwarzhaarigen Mann, der wie ein Kind auf die Knie vor den Sessel glitt, ihn begehrlich fokussierte. "Am liebsten von deinem Schwanz." Wisperte Soujirou heiser in kantonesischem Dialekt. "Das lässt sich einrichten." Mit einer auffordernden Geste voll Machismo lehnte sich Enishi zurück, die Überraschung in den schwarzen Augen goutierend. Die Klinge des Attentäters in der Rechten bestrich er die fahle, nackte Haut über Schultern, Kehle, Wangen, verteilte das Pulver auf der Spitze seiner Erektion, bevor er seinen linken Zeigefinger bestäubte, ihn auf Soujirous Lippen setzte, in die Mundhöhle eindrang, behutsam das Zahnfleisch bestrich. Er genoss, wie hingebungsvoll der fragile Mann an seinem Finger saugte, mit flatternden Lidern den Kopf in den Nacken legte, tief durchatmete, mit den Händen über Enishis Oberschenkel strich. Bekanntschaft mit der erblühenden Erektion schloss. Ohne viel Federlesens mit der Zungenspitze die Eichel polierte, die gesamte Länge des Schafts in den Mund einführte, mit Geschick zu saugen begann. Mit der Gewissheit, dass die schmetterlingsleichte Berührung der Klinge in Kombination mit der Droge den schwarzhaarigen Mann förmlich beflügelte, entspannte sich Enishi, gab sich dem Luxus der Befriedigung hin. -+- Ich mochte ihn, weil seine Hände meinen Nacken kraulten, meine Haare streichelten, er zuließ, dass ich meinen Kopf auf seinen Schoß betten konnte, um ein wenig Ruhe zu finden in der wirbelnden Sensation, die sich in meinem Kopf austobte, die wunden Stellen im Zahnfleisch mit der Zungenspitze zu massieren. "Mir gefallen deine Augen." Drang seine Stimme an mein Ohr, veranlasste mich, den Kopf zu heben, zu ihm aufzusehen. Sein Kantonesisch war mit einem Akzent gewürzt, der ihn schnurrend, fast rollig klingen ließ, verführerisch und dominant. Stark. Ich mochte starke, außergewöhnliche Männer. Bei ihnen konnte ich schwach werden. -+- Seine schwarzen Augen, wie polierter, chinesischer Lack. Die seidig glatten Haare. Weiße, weiche Haut wie Marmor. Shishios Vertrauter. Sein bester Mann. Ich machte mir nichts aus Männern. Oder Jungs. Darum ging es auch nicht. Ich fasste seine schmalen Hände, zog ihn auf meinen Schoß, packte sein spitzes Kinn. "Ich will nachverhandeln." Bestimmte ich knapp. Er präsentierte sein eingefrorenes Lächeln. Seine Augen funkelten jedoch agitiert. "Ich will dich." -+- Wie einige Zeit zuvor, als sie einander das erste Mal in die Augen geblickt hatten, währte der stumme Austausch eine geraume Spanne. "Ich werde Herrn Shishio Ihre Konditionen übermitteln." Gab Soujirou samtpfotig zurück, nickte artig. Dennoch unternahm er keine Anstalten, sich zu lösen und aufzustehen. Stattdessen glitten seine Finger wagemutig durch die schockweiße Mähne, die elektrisiert in alle Richtungen abstand. Enishi ließ ihn gewähren, legte die Klinge an die zarte Kehle des schwarzhaarigen Mannes. "Ist das eine Warenprobe?" Erkundigte er sich zynisch, nahm mit der anderen Hand den zerbrechlichen Nacken in einen Schraubstockgriff. Soujirou funkelte Herausforderung und Lust, als er die spitzen Knie in die Polsterung grub, sich auf Enishis Schultern aufstützte. "Nein, das geht aufs Haus." -+- Ich wusste, dass der Mumienmann auf meine Bedingungen eingehen würde, mir sogar seinen Stellvertreter, der den absoluten Einblick in seine Geschäfte hatte, überließ. Einen Junkie, eine Gossenratte, die er aufgelesen hatte, um sie zu seinem Werkzeug zu machen. Der Gebrauchswert hatte sich abgenutzt. Seine Worte. Der Mumienmann hatte eben keinen Feinsinn. Erstaunlich angenehm, wenn sich jemand ausschließlich um das eigene Wohl sorgte, mir die Füße massierte, sich auf meinem Schoß zusammenrollte. Mich in seine Augen sehen ließ, solange es mir gefiel. Ich konnte ihm schon eine Freude machen, indem ich Gummibärchen mitbrachte oder eine neue Musikkassette, zu der er wie losgelöst durch mein Appartement in Hongkong wirbelte. Von Drogen, Sex und Schokolade berauscht konnte er stundenlang rastlos in Bewegung bleiben, für mich tanzen. Ja, ich hielt ihn wie ein possierliches Haustier. Meine Maus, die mit kindlicher Hingabe schmelzenden Nougat von meinen Fingern leckte, mit der gleichen Begeisterung, mit der er seinen sexuellen Appetit auslebte. Wer hätte es gedacht, dass ich auf dem Weg der Apokalypse einen Begleiter finden sollte. -+- Spätsommer 1991, Amerika Soujirou kauerte mit unruhigem Beinebaumeln in einem überdimensionierten Fauteuil, verfolgte mit seinen schwarzen, fiebrig glänzenden Augen Enishi, der mit kühler Gelassenheit die letzten Vorbereitungen traf. Lediglich einige Tage verblieben noch, bevor sie gemeinsam den Countdown herunterzählen würden. Rastlos schraubte sich Soujirou auf seine knochigen Beine, die in der letzten Zeit zu oft unter ihm nachgegeben hatten, von Injektionen zerstochen. "Enishi." Wisperte er schmeichelnd, flehend, schmiegte sich in dem dünnen Pyjama an die athletische Gestalt des anderen Mannes, umklammerte mit dünnen Armen die schlanken Hüften. Beiläufig streichelte der schlohweiße Bandenführer über ein fragiles Handgelenk, markierte auf einer Karte weitere Punkte. "Was hast du, Mäuschen?" Erkundige er sich mit erstaunlich sanfter Stimme, geduldig, liebevoll. "Bitte, lass mich doch raus, ja? Nur ein wenig tanzen. Ich werde auch mit den anderen gehen, ich verspreche es!" Eine fahle Wange presste sich auf Enishis kräftige Schulterpartie. "Maus, du weißt, dass ich dich nicht gerne hier einsperre, aber ich habe Angst, dass du dich verirrst. Das verstehst du doch, nicht wahr?" Den Stift ablegt wandte sich der größere Mann um, zog den mageren Liebhaber in seine Arme. Sie verharrten stumm, eine ganze Weile. "Wünsch dir etwas, Soujirou." Raunte er leise in die strähnige Mähne. Die schwarzen Augen richteten sich hoch in die ungewöhnlich hellen, irisierenden. "Fahr mit mir nach Disneyland." -+- Einige Tage später Alles war bereit. Der finale Anstoß fehlte noch, um einen Domino-Effekt auszulösen und diese Welt zur Hölle fahren zu lassen. Sie zu erlösen von ihren Mängeln. Ihrer Wertlosigkeit. »Eine Dekade ohne ihre Liebe.« Ich saß an seinem Bett, streichelte ihn, tupfte klammen Schweiß von seiner Haut. Seine Dekade holte ihn ein. Die Drogen fraßen sich gierig durch seinen schönen, schmächtigen Leib. Nun mehrten sich nässende Wunden. Er litt unter Orientierungslosigkeit und Gedächtnislücken. Trotzdem folgten mir seine Augen stets, mit ihrem liebevollen Funkeln. "Was wünschst du dir, Maus?" Flüsterte ich in sein Ohr, hauchte einen Kuss auf die eingefallenen Wangen. "Schokoladeneis." Wisperte er, zwinkerte. "Warte nur ein Weilchen, ich bringe es dir." Versprach ich, deckte seinen zusammengekauerten Leib sorgfältig zu. Im Halbdunkel würde er in leichten unruhigen Schlaf fallen, sich vielleicht nicht einmal mehr an seinen Wunsch erinnern, wenn ich zurückkehrte, aber er würde mit seinen Augen lächeln. Nur für mich. -+- Labor einer Highschool, Abenddämmerung Die Welt dreht sich noch immer obstinent, ungeachtet all meiner Anstrengungen. Die Triaden hatten meine Maus gestohlen. Zuletzt war ihnen doch aufgegangen, welche Absichten mein Handeln bestimmten, verblendet von ihrer primitiven Gier nach Macht und Reichtum. Dieses Raubtier in Menschengestalt, das sich als Polizist getarnt hatte, hatte ihn zurückgebracht. Als Tauschobjekt für den Verräter, diese erbärmliche Gestalt mit ihrer widerlich noblen Gesinnung! Zu feige, zu ehrlos, um den eingeschlagenen Weg kompromisslos zu Ende zu gehen. Vielleicht hatte das Raubtier verstanden... Welche Rolle spielt das noch? Meine Maus ist müde. Ich beuge mich hinunter, küsse seine rissigen Lippen, wiege ihn in den Schlaf. Diese Welt, diese Gesellschaft ekelt mich an. Ja, sollten sie doch weiter in diesem Sumpf vegetieren! Hier gibt es nichts mehr, was mich berühren könnte. Ich werde nicht nach ihren Regeln spielen, mich ihrem erbärmlichen Urteil unterwerfen. Der Junge, Sanosuke, beäugt mich hilflos, mitfühlend, zornig. Unwillkürlich muss ich lächeln. Irgendwann wird er die Wahrheit dieser Gesellschaft begreifen, ihre erbarmungslose, unmoralische Verderbtheit. Man kann sie nur ausbrennen, in die Luft jagen, vernichten. Wenn nicht ich, dann ein anderer. Der Countdown läuft, in unseren Augenwinkeln. Aber ich gehe, bevor es dunkel wird, mit einem Knall. -+- ENDE -+- Vielen Dank fürs Lesen! kimera