Titel: Schatzsuche Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original + Fan Fiction FSK: ab 16 Kategorie: Spannung Ereignis: Advent 2009 Erstellt: 21.11.2009 ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Herausforderung/Challenge zum Adventskalender 2009- "Schatzsuche" Herausforderungen/Challenge in der Reihenfolge des Eingangs: # Von Koryu: Ballett Schneewittchen, Gorgeous Carat (Fandom), ein verzogener Britisch-Kurzhaar-Kater, eine unbestückte Pyramide, eine vererbte, alte Holzquerflöte. # Von Sandra: Engelshaar, Adventskalender Weihnachtszauber, kandierte Nüsse, Kinder-Pinguin, Schwarzer Jaguar, eine skizzierte Schneelandschaft auf einem USB-Stick, Yuki-onna, Schlafes Bruder (Romantitel), Lonely day from System of a down. # Von Ema: Saturnalien, rotes Velours, weiße Kängurus, Plumpudding, toasted tea cake. # Von Vegeta: Youji Katou und Kyousuke Iwaki (Fandom Haru wo daiteita/Youka Nitta), Schneegestöber, Somebody to love from Queen. # Von Lillibeth/Autumnangel: Das "Gottesteilchen", Frühnebel, Indefectible Gold (Lippenstift), Rüeblitorte, Single malt whisky, Grashalme, Osterhase, Haferlschuhe, Rote Grütze, "Ostfriesische Teerose" (Porzellandekor), The geeks were right from The Faint # Von Misa: Reallife (als Genre), Fleckerlteppich, Kaputter Lattenrost, Haftschale, weißer Kamin, weiße Kaiserlounge, Wandmalerei Winterlandschaft, Barockgarten. Vielen Dank für die Herausforderungen an die Teilnehmer/innen ^_^=b ++Disclaimer: Hintergrundbild für den Adventskalender: ~ Karte "Reich Herodes des Großen bzw. Judäa im 1. Jahrhundert" unter GNU-Lizenz bei Wikipedia.de ~ Florean, Azla und Ray, Originalzeichnungen von You Higuri aus den japanischen Bänden der Serie "Gorgeous Carat" Nummer 2 & 3 ~ Youji Katou und Kyousuke Iwaki, Original-Artwork von Youka Nitta aus dem japanischen Band 10 der Serie "Haru wo daiteita". Abdruck von Liedtexten: ~ Somebody to love von Queen, Online-Auftritt der Band unter www.queenonline.com ~ The geeks were right von The Faint, www.thefaint.com unter "Lyrics" ~ Lonely day von System Of A Down, www.systemofadown.com Fandom: ~ "Gorgeous Carat" mit den Figuren Ray, Azla, Florean, Laila, Noel und Michel Raoul stammt von You Higuri ~ "Haru wo daiteita" mit den Figuren Youji, Kyousuke, Youko, Keita und Frau Mizuno stammt von Youka Nitta Diverse: ~ Ballett Schneewittchen, hier von Angelin Preljocaj (Choreographie) ~ Adventskalender Weihnachtszauber, Hersteller Lindt und Sprüngli ~ Schlafes Bruder, Roman von Robert Schneider ~ Das Känguru ist ein Markenemblem des Textilherstellers Kangaroos (Eingetragenes Markenzeichen) ~ "Gottesteilchen", "Spitzname" des Higgs-Boson (benannt nach Peter Higgs), beruhend auf einem Scherz des Physiknobelpreisträgers Leon Ledermann ~ Indefectible Gold, unter anderem Lippenstift-Serie von L'Oreal ~ Avatar ist ein Film von James Cameron, der ab 17.12.2009 in Deutschland im Kino anläuft Hinweis: Selbstverständlich handelt es sich um eine fiktive Erzählung... zumindest in großen Teilen ^_~ Wer gern selbst auf "Schatzsuche" gehen möchte, der kann sich unter anderem bei Wikipedia schlau machen, wo genau sich Realität und Phantasie die Hand schütteln. ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Schatzsuche Tag 1 Alle Welt traf sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien. Österreich-Ungarn, der Vielvölkerstaat, zog Künstler, Diplomaten, Spekulanten und Glücksritter jeder Gesellschaftsschicht an. Während die Stadt ihr Gesicht umkrempelte, überwucherte sie förmlich mit Menschen. Die Rede war gar von zwei Millionen Seelen, die sich, hauptsächlich im Arbeitermilieu, aufeinander drängelten. Nicht mal genug Betten gab es für eine derartige Bevölkerungsexplosion. Anders als in den anderen Metropolen Europas wimmelte hier tatsächlich ein Völkergemisch. Somit war ein guter Nährboden für Gerüchte gelegt, die schneller als ein Wimpernschlag durch die Stadt eilten, sich die Nervenenden entlang bis zu den äußersten Grenzen verbreiteten. Hier schlug ein wildes, aufgeregt pochendes Herz, das das neue Jahrhundert mit großer Erwartung und Bangigkeit begrüßte. Welche Fortschritte hatte man bereits unlängst bei der Weltausstellung in Paris erblicken können! Nun waren Zeppeline am Himmel keine Utopie mehr, der Globus verlor die letzten weißen Flecken, man "sprach" per Überseekabel mit der Neuen Welt! Nichts schien unmöglich! Die Zeit der Droschken war vorüber. Schneller, höher, weiter lautete die Devise. So nahm es auch nicht Wunder, dass der Gentleman-Dieb, Weltenwanderer und begnadete Schwindler Ray Balzac de Courande alias Noir ebenfalls in Wien Station machte. Allerdings nicht unter diesem Namen und keineswegs in einer entsprechenden Aufmachung. Ray schob sich durch das Menschengewühl, unauffällig wie ein Landjunker gekleidet. Polyglott orientierte er sich an der Kakophonie der Idiome, die ihn umgab. Österreich-Ungarn sprach nicht mit einer Zunge, nein, mit hunderten! Dieser Umstand brachte für ihn den Vorteil mit sich, dass man weniger argwöhnisch den Fremden beäugte, der sich unter die Flut der Arbeiter mischte. Ray verstand es ausgezeichnet, mit der Szenerie zu verschmelzen, ihr ureigener Teil zu werden. Diese Fähigkeit hatte ihm mehr als einmal ausgezeichnet gedient, um sich Informationen zu beschaffen. Aus diesem Grund war er auch nach Wien gereist. Um der Wahrheit die Ehre zu erweisen: der Boden in Frankreich, insbesondere in Paris, war zu heiß geworden. Die rasende, sich beinahe überschlagende Entwicklung des Fortschritts auf allen Gebieten setzte einem traditionell agierendem Gentleman-Dieb mittlerweile arg zu. Versicherungsagenten, private Ermittler, Geheimpolizei, sie ließen sich nicht mehr leicht an der Nase herumführen. Darüber hinaus hatte er sich einen gewissen Ruhm verdient, der ihm allzu leicht zum Verhängnis werden konnte. Die Ehre unter Ganoven entsprach ohnehin weniger der Realität als einer romantischen Verklärung der Umstände. Ray war sich darüber bewusst, dass er trotz seiner Jugend an einem Wendepunkt angelangt war. Er konnte sich noch so sehr anstrengen, Tricks und Illusionen entwickeln, sich unzähliger Masken und Verkleidungen bedienen: es war nur eine Frage der Zeit, wann man seiner habhaft werden würde. Die neuen Formen der Kommunikation ermöglichten es ja sogar, Bilder zu übermitteln! Man stelle sich das vor: einmal enttarnt könnte sein Konterfei auf zahllosen Steckbriefen überall in Europa abgebildet hängen! Ihn schauderte bei der Vorstellung. Zudem war in Rechnung zu stellen, dass er nicht nur seinem eigenen Vergnügen Gedanken schuldete. Das Ziehkind Noel war wohlversorgt, aber Laila und Florean hingen von seinem Einfallsreichtum ab. Da er sich auf Illusionen und Täuschung verstand, war Ray konsequenterweise ein bodenständiger Realist, der sich nur ausnahmsweise Träume erlaubte. Zu viel hatte er er- und überlebt, um leichtsinnig die Hakenschläge des Schicksals außer Acht zu lassen. Nach und nach hatte er Grundeigentum erworben, hier und da eine Beteiligung an aufstrebenden Unternehmen. Die Industrialisierung bot große Gewinn- aber auch Verlustchancen. Man spekulierte überall. Erfinder suchten Investoren, die Oberschicht bemerkte, wie wenig der oft mit hohen Hypotheken belastete Besitz der Ahnen wert war. Irgendwann, das ahnte Ray, würde dieses atemlose, auf Gerüchten und Wunschträumen basierende, brodelnde Treiben erst detonieren, dann wie ein misslungenes Soufflee in sich zusammensacken. Deshalb war er bestrebt, seine "Tarn-Identität" als Graf de Courande mit realen Werten zu "unterfüttern". Zwar entsprach es seinem quecksilbrigen, unruhigen Wesen nicht, sich als dem Müßiggang verfallener Playboy zu gerieren. Aber es half, Verdächtigungen und Argwohn über die Natur seiner Geschäfte und die Herkunft seines Vermögens abzuwenden. Er MUSSTE sich zur Ruhe setzen als Gentleman-Dieb. Noir musste "sterben". Dafür war es erforderlich, eine andere Beschäftigung zu finden. Sich für die Entwicklung an den Börsen zu interessieren, die Gazetten zu studieren, Wertpapiere und Wechsel einzuschätzen. Gewissermaßen war es ebenfalls ein Glücksspiel, ein Tanz mit dem Risiko, eine Herausforderung an Madame Fortuna. Ein Schiff konnte mit der gesamten Ladung untergehen, eine Fabrik abbrennen, ein Prototyp sich als wertlos erweisen. Ein Gerücht als unzutreffend, ein Ansteigen der Kurswerte als substanzlose Spekulation. Aber ihm fehlte das Greifbare. Der Geruch des Abenteuerlichen. Dieser Nervenkitzel der Kapitalisten, das Wedeln mit Papier und Aneinanderreihen von Zahlenkolonnen, es blieb ihm den wahren Geschmack der Begeisterung schuldig. Blieb die Alternative, sich als Schatzsucher oder Ausgräber zu betätigen. Allerdings erfreute sich diese Aufgabe großer Popularität. Man musste konstatieren, dass der ideelle Wert der Fundsachen, so man denn erfolgreich war, die materielle Ausbeute erheblich überstieg. Außerdem erwartete die neu- und sensationsgierige Öffentlichkeit nicht nur spektakuläre Erfolge, sondern auch die wissenschaftliche Veredelung. Die Koryphäen mussten ihre weisen Häupter segnend über die Erforschung senken, sonst lief man Gefahr, wie Schliemann zu enden. Für einen Selfmademan wie Ray eine erstickende Vorstellung. Er lehnte es nachdrücklich ab, sich irgendwelchen verstaubten Dogmen steifer Papierverwüster und Theoretiker zu beugen. Deshalb hatte er noch keine Antwort auf sein Dilemma gefunden. »Jetzt flüchte ich Hals über Kopf in eine Schnitzeljagd!« Spottete er über sich selbst, vermisste den Geschmack einer selbstgedrehten Zigarre bitter. Hier, inmitten des Gewimmels von Männern und Frauen, in einfache Arbeiterkleidung gehüllt, dampfte es förmlich von menschlichem Dunst. Keine angenehme Geruchsnote! Ray lockerte sich das verschlissene Band um den speckigen Hemdkragen, wandte den Kopf. Sein Freund und Begleiter, Florean de Rochefort, letzter Spross aus dem Haus D'Anjou, bemühte sich angestrengt, ihm zu folgen. Eine Hand vor den Mund gepresst, das Gesicht wachsbleich, die verräterischen hellblonden Haare unter eine Kappe gestopft. "Florean!" Zischte Ray. Er wollte nicht zu viel Aufsehen erregen, indem er sich auf Französisch mit seinem Gefährten unterhielt, griff dessen freie Hand, zerrte ihn unerbittlich an den Rand des Mahlstroms aus wimmelnden Leibern. Florean zitterte. Menschenansammlungen lösten regelmäßig bei ihm panische Angstzustände aus. "Gleich sind wir da." Flüsterte Ray, vorgebeugt, nahe an Floreans Ohr, damit niemand von seinen Lippen die Silben erraten konnte. Franzosen waren nicht unbedingt wohlgelitten. Man sah in der Oberschicht demonstrativ auf die "Industrie-Adligen" herab. Ein Volk, das seine "Elite" auf ein Blutgericht zerrte und unter Fallbeile legte, die abgetrennten Schädel wie die Hunnen aufspießte: so etwas verachtete man, besonders in Wien. Gemäß den Instruktionen suchte sich Ray seinen Weg. Ihr Ziel war der Augarten, ein Barockgarten, den der Kaiser vor über 125 Jahren der gefälligen Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Hier sollte er bei einem Pavillon einen Kontaktmann treffen. Während sie untergehakt die Wege entlang flanierten, studierten sie unauffällig ihre Umgebung. Konnte es auch eine Falle sein? Folgte ihnen vielleicht jemand? »Eine letzte große Schatzsuche!« Rief sich Ray in Erinnerung. Ein letztes Mal noch wollte er seiner Leidenschaft frönen, bevor er sich "in den Ruhestand" versetzte. Wie auch immer der beschaffen sein mochte. ~+~ "Warte hier!" Zischte Ray Florean zu, wies mit dem Kinn auf eine schmiedeeiserne Bank, die noch nicht okkupiert war. Aus dem Augenwinkel registrierte er die winzigen Falten in der Stirn, die gepressten Lippen, die scharfen Mundwinkel. Florean wollte ihm widersprechen, schickte sich ärgerlich drein. »Ein Illusionist wird wohl nie aus dir werden.« Kommentierte Ray stumm die Reaktion seines Freunds. Er spazierte gemächlich weiter, scheinbar angelockt von der ländlichen Weise, die ein Pärchen, Vater und Sohn, zum Besten gaben. Der Junge, ein wenig herausgeputzt, wobei die Bekleidung eher einem kräftigeren Knaben angemessen war, kratzte hingebungsvoll, wenn auch nicht sonderlich treffsicher auf einem Katzendarm herum. Der Vater, in der derben Arbeitskleidung eines Bergbauern mit Haferlschuhen und Joppe, blies in eine alte Holzquerflöte. Ray gesellte sich zu den spärlichen Zuschauern, die um die beiden Musiker einen Halbkreis bildeten, ein gutmütiges Publikum gaben. Vor ihm hockte ein Kleinkind, rupfte Grashalme aus, stopfte sie sich in das Mäulchen. Derweil schäkerte das dralle Kindermädchen mit einem jungen Mann in Uniform, dessen gewaltiger Schnurrbart stark mit dem kahl werdenden Haupt kontrastierte. Daneben ein ältliches Frauenpaar, einander eingehakt, in mattes Grau gekleidet, die altmodischen Hauben streng unterm faltigen Kinn gebunden. »Unverheiratete Fräuleins der Marke Sauertopf.« Urteilte Ray, der ihre Mienen studierte. Zwei Gassenjungen lauschten mit offenem Mund, schwärzliche Zahnstummel entblößend. Sie rochen streng nach säuerlichem Schweiß, wirkten abgerissen. »Ah!« Dachte Ray. Er täuschte sich nicht: plötzlich stieß der eine Gossenjunge den anderen an. Der prallte wie zufällig gegen das dralle Kindermädchen, das losschimpfte. Ihr schmucker Kavalier mit der ausladenden Rotzbremse mischte sich ein, während der zweite Gossenjunge die Gelegenheit nutzte, den beiden ältlichen Fräuleins ihre Retiküls zu entreißen. Sofort gaben die beiden Bengel Fersengeld. Die Fräuleins kreischten Zeter und Mordio. Der Soldat hastete, um die Verfolgung aufzunehmen. Das Kindermädchen erzwang mit einem gebieterischen Finger in den Schlund des Kleinkindes, die Grashalme wieder auszuspeien. Ray unterdrückte ein Schmunzeln, wandte sich dem Musiker zu. "Ein schönes Instrument spielen Sie da, mein Herr. Eine vererbte, alte Holzquerflöte, nicht wahr?" Der vermeintliche Flötist tippte sich unter den Rand einer speckigen Kappe. "Ganz recht, mein Herr. Ein Erbstück. So etwas finden Sie heute nicht mehr. Ein einzigartiges Artefakt." Damit waren die Erkennungssätze ausgesprochen. Die Haltung des falschen Bergbauern änderte sich, wurde athletischer, alerter. Die wasserblauen Augen warfen einen durchdringenden Blick in Rays smaragdgrüne, wanderten über seine Haut in der Farbe von karamellisiertem Kandis. Ray bleckte seine blendend weißen Zähne, lächelte eisig. "Wie wär's mit einer kleinen Spende für unsere Darbietung?" Knurrte der "Bergbauer", sein Kontaktmann, lupfte die Kappe, hielt sie auffordernd vor Ray. Der kramte umständlich nach einer Münze, deponierte sie in der Kappe. Dabei ließ er gleichzeitig den gefalteten Zettel geschickt in seiner Hand verschwinden. "Vielen Dank, der Herr!" Der Flötist stieß seinen Sohn an, damit der ihm samt seiner Fiedel folgte. Ray wandte sich ebenfalls ab, um eine Goldmünze ärmer. Betont lässig schlenderte er weiter, drehte eine gemächliche Runde, bevor er zu Florean zurückkehrte, der sichtlich erfolglos Nonchalance vorzuschützen versuchte. "Und?" Erkundigte er sich, nachdem er wieder freundschaftlich-vertraut Rays Arm genommen hatte. Seine Amethyst-Augen funkelten. Die dunklen Ränder verrieten ihren Besitzer. "Später." Presste Ray zwischen den Zähnen hervor. Er wollte keinen Verdacht erwecken, keine Aufmerksamkeit auf sie lenken. Dazu war diese "Schnitzeljagd" viel zu prekär. ~+~ "Ich kann nicht glauben, dass es dir damit ernst ist!" Florean warf Ray einen erbosten Blick zu, justierte erneut den für ihn ungewohnten Zylinder. Obwohl er eine Bekleidung comme il faut, der Noblesse oblige geschuldet, durchaus zu tragen gewohnt war, störte ihn diese obligatorische Kopfbedeckung immens. "Selbstverständlich ist es mir ernst damit." Gab Ray unbeeindruckt und selbstsicher zurück. Er verstaute das Bündel Geldscheine trügerisch nachlässig in der ledernen Mappe, die er in die eingenähte Brusttasche seines Fracks schob. Sie trugen beide den großen Abendanzug. Der Orient-Express sollte pünktlich abfahren, damit man das Dinner einnehmen konnte. Die Lokomotive stand bereits unter Dampf. Eine Reihe von Wagen schloss sich an, Teakholz und polierte Zierleisten, dezent gemusterte Vorhänge und unter grünem Glasschirm warm erhellte Lampen. Florean verkniff sich mannhaft jede weitere Kritik. Es war nicht ratsam, ausgerechnet jetzt eine Auseinandersetzung zu beginnen, wo sie die nächsten eineinhalb Tage im Zug verbringen würden. Auch wenn es sich um die Erste Klasse mit Salon-, Speise- und Schlafwagen handelte. Noch immer konnte er den komplexen, widersprüchlichen Gedankengängen seines Freunds nicht folgen. Wenn diese "Schatzsuche" eine Frage der Zeit war, außerdem noch geheim gehalten werden musste, warum ausgerechnet den recht gemächlichen, exklusiven Orient-Express wählen?! Die Billetts sicher verstaut nickte Ray den Gepäckträgern am Gleis knapp zu, damit sie ihre beiden jüngst erworbenen Überseekoffer zum wartenden Zug lenkten. Das distinguierte Zugpersonal begrüßte die vermögenden, oftmals adeligen Passagiere, überwachte das Verstauen der Habseligkeiten und übernahm das Auspacken. Ray quittierte die erbrachten Dienstleistungen mit üppigem Trinkgeld. Er vergaß niemals, dass er selbst von diesem Obolus gezehrt hatte. Außerdem lohnte es sich, die "dienstbaren Geister" für sich einzunehmen. Florean seufzte erleichtert, als er sich des lästigen Zylinders entledigen konnte. Die Aufmerksamkeit, die sie erregten, behagte ihm wenig. Die anderen Passagiere, in der Regel Ehepaare und durchweg Angehörige der Oberschicht, waren ihm nicht bekannt. Was umgekehrt entsprechend galt. Solange man sich nicht vorgestellt hatte, unterblieb jede verbale Kontaktaufnahme. Dies bedeutete jedoch keineswegs, einander nicht prüfend und sogar ungeniert in Augenschein zu nehmen. Betont eisig wandte er sich ab, als ein Stutzer in Uniform, keineswegs älter als er selbst, ihn mit einen demonstrativ polierten Monokel ins Visier nahm. »Unverschämtheit!« Brodelte es in ihm. »Ich bin Florean de Rochefort aus dem Haus D'Anjou, du eingebildeter, triefäugiger Fatzke! Wie kannst du es wagen, mich zu mustern?!« Ray, dem Floreans Reaktion nicht entgangen war, hakte seinen Freund einfach unter, plauderte munter auf Französisch los. Dabei kehrte er dem uniformierten Hänfling den Rücken zu, zahlte damit die brüskierende Frechheit in gleicher Münze zurück. Offiziell reisten sie als Geschäftspartner, die Visitenkarten frisch gedruckt, ihre Rufnamen eine freimütige Erfindung. Obschon sie zwar den Rauchsalon aufsuchten, im Speisewagen tafelten und im Salon die Lektüre der Gazetten pflegten, sich die geselligen Darbietungen zur Unterhaltung nicht entgehen ließen, lautete ihr Plan, sich nicht an die übrigen Passagiere anzuschließen. Die Passagiere, die bereits in Paris und auf den Stationen danach dem Orient-Express zugestiegen waren, ebenfalls bis zum Ende, nach Konstantinopel, ehemals Byzanz, nunmehr auch Istanbul, reisten, distanzierten sich von den "Nachkömmlingen". Die wiederum den Franzosen mit einer gewissen Hauteur begegneten. Ray und Florean stellten eine bedauerliche Ausnahme in dem illustren Kreis dar. Man musste mit den Zeiten gehen, widerwillig die "Kapitalisten" akzeptieren, die sich allein durch den schnöden Mammon auszeichneten. Für Florean stellte es immer wieder eine Überraschung dar, wie geschmeidig und souverän Ray sich der Situation anpassen konnte. Wenn es ihm konvenierte. Elegant und selbstverständlich präsentierte er sich formvollendet im Frack zur Abendzeit, lediglich in Schwarzweiß, hielt es entsprechend mit dem Cutaway für den Tag. Im Rauchsalon trug er die Smokingjacke leger, wenn er seine Zigarren schmauchte, selbstzufrieden aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft blickte. Als hätte er seit seiner Geburt in dieser Klasse gelebt, sich immer unter der adeligen Oberschicht bewegt! Andeutungsweise, da Ray höchst ungern etwas über seine Vergangenheit preisgab, wusste Florean jedoch, dass dies keinesfalls zutraf. Auch der Titel "de Courande", mütterlicherseits vererbt, versicherte Ray lediglich die argwöhnische Missgunst und Verachtung seiner Familie. Abgesehen von seinem Cousin Michel Raoul. Allerdings zeichnete sich dieser Müßiggänger nicht durch übermäßige Parteinahme für den Sohn der in Ägypten "verlorenen" Tochter aus. »Das hätte ja auch gewisser Anstrengungen bedurft!« Florean neidete dem gleichaltrigen Michel das unbeschwerte Leben, das ihm versagt war. Er seufzte leise, strich über seine elegant bestickte Weste. Im Gegensatz zur eigenen Aufmachung hatte Ray darauf bestanden, dass sein Begleiter dezent farbige Westen trug, den Frack ausgenommen, dazu passend farbige Plastrons. Mussten Gehrock und Hosen auch dem Diktat der Mode gehorchen, hier konnte man Farbtupfer setzen! Vor allem die unvergleichlichen Amethyst-Augen in den Fokus rücken. Florean erhob sich, verneigte sich artig vor den Anwesenden im Salon, kehrte zu ihrem Schlafwagen zurück. Sie hatten zwei benachbarte Abteils erhalten, die man miteinander durch eine Tür verbinden konnte. Die dienstbaren Geister hatten bereits ihres Amtes gewaltet, jede Spur menschlichen Aufenthalts getilgt. Schnaubend zerrte Florean sich den Plastron von Hals und Kragen, öffnete das steife Hemd, knöpfte die Weste auf. Er fühlte sich eingesperrt, wäre am Liebsten hin und her durch den Zug gelaufen, um die nervöse Unruhe zu vertreiben. Mit einem kräftigen Ruck teilte er das Fenster in die beiden Einheiten, atmete die nasse Nachtluft ein. Vereinzelt verrieten Lichter, dass sie an menschlichen Behausungen vorbei ratterten. Was käme nach Konstantinopel, Verzeihung, Istanbul? Eine weitere Fährte? Noch eine Station dieser undurchsichtigen Jagd? Das rief ihm ihren letzten Streit in Erinnerung. Warum war Ray bloß so besessen von der Idee, den Schatz des Tempels von Jerusalem aufspüren zu wollen?! Hatte nicht die Katastrophe im Zusammenhang mit ihrer Suche nach den Schatz der Tempelritter genügt?! Waren sie nicht um Haaresbreite dem Tod entkommen? Ihn schauderte. Er rieb sich über die Oberarme. Erinnerungen, die er gern aus seinem Gedächtnis geätzt hätte, stiegen unwillkommen auf. Seine noch immer latent vorhandene Verärgerung über Ray gewann die Oberhand. Was er anfangen wolle mit dem verlorenen Schatz, wenn er ihn fände, hatte er Ray erbost gefragt. Der, vollkommen unbeeindruckt, wie immer über einem Bündel von ausfransenden Dokumenten sinnierend, hatte ihm feist ins Gesicht gegrinst. Ohne Scham verkündet, er werde ihn selbstverständlich verkaufen! An den Meistbietenden! »Infam! Gotteslästerlich! Verabscheuungswürdig!« Florean detonierte wie eine Feuerwerksrakete. Wie tief musste man sinken, um so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen?! Ein Christ würde niemals...! Daraufhin gab Ray blitzartig seine lässige Haltung auf, sprang auf die Beine, stand wie ein türkischer Ringer seinem Freund gegenüber, die Smaragd-Augen trüb vor Zorn. »Christ?! Was scheren mich Christen?! Bin ich ein Christ?! Schulde ich der überaus glorreichen, römisch-katholischen Kirche etwas?« »Du kannst wohl kaum zulassen wollen, dass der Tempelschatz in die Hände von Ungläubigen...!« Florean wurde das Wort abgeschnitten. »Ungläubige? Wen meinst du? Die Juden, da sie doch, wie ich höre, euren Christus angezeigt und zum Tode verurteilt haben? Oder die Mohammedaner? Mir ist es gleich, wer zahlt, solange gezahlt wird!« »Das kannst du nicht tun!« Hitzig hielt Florean dagegen. »Du musst die Funde den rechtmäßigen Erben übergeben!« »Ach?« Ray lachte höhnisch auf. »Die da wären? Die Christen wohl kaum, denn sie gab es ja noch gar nicht, oder? Dann den Juden? Aber sind die nicht Verräter und Feinde? Höre ich das nicht von euren Predigern ständig? Vielleicht also doch lieber den Anhängern des Propheten, die könnten ja alles in Jerusalem im Felsendom ausstellen!« »Wir reden hier aber nicht über irgendeinen Goldschatz, sondern über wichtige Zeugnisse des Christentums!« Florean wusste, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Mit Ray über Glaubensfragen oder gar die Bibel zu diskutieren führte immer zu einer ernüchternden Niederlage. Ein merkwürdiger, arroganter Reflex stachelte ihn stets an, es doch zu versuchen. »So wichtige Zeugnisse, dass sie seit Jahrhunderten verloren sein können, ohne dass es die Errungenschaften des christlichen Abendlandes wesentlich behindert hat!« Hielt Ray dagegen. »Da wären die Inquisition, die Ermordung unzähliger Abweichler, Verkauf von Ablassbriefen, unwürdige Päpste, Kreuzzüge und Kriege, das Leugnen wissenschaftlicher Erkenntnisse... Ja, ich kann sehen, wie wesentlich dieser Verlust sich ausgewirkt hat!« »Du hast kein Recht, über meinen Glauben zu spotten! Nur weil du an gar nichts glaubst!« Florean war in die Ecke gedrängt. Ray kannte die Bibel besser als er, las Bücher in Rekordtempo, zeichnete sich durch ein ausgezeichnetes Gedächtnis aus, beherrschte mehr Sprachen, als Florean miteinander verwechseln konnte. »Ich spotte gar nicht, ich erwähne Tatsachen! Wo wir bei Tatsachen sind: ich glaube sehr wohl! Nämlich an mich! Das ist der einzige Glauben, die einzige Überzeugung, die im Leben zählt! Ich schreibe dir nicht vor, was und an wen du glauben sollst, mein Freund. Aber ich wünschte, zum Henker noch mal, du würdest mehr Gedanken darauf verschwenden und nicht alles blind nachplappern, was man dir eingeimpft hat!« Florean hatte Türen schlagend den Salon verlassen, war ohne Gehrock auf die Straße gestürzt, um eine halbe Stunde lang in hohem Tempo durch das Viertel im Außenbezirk zu marschieren, in welchem sie Quartier bezogen hatten. Er hatte die Arbeiter, die Enge, das Gedränge und Gewühle einfach ignoriert, weil ihm die Wut den Blick vernebelte und die Ohren verstopfte. Das Arge daran war, Florean schloss die Augen, lauschte auf das einlullende Rattern des Zugs, dass Ray recht hatte. Über seinen Glauben hatte er nie wirklich nachgedacht. Es wurde erwartet, dass er seiner Kirche die Treue hielt. Dem folgte, was in den Predigten gelehrt wurde und im Übrigen keine unnützen Fragen aufwarf. Das stellte keine Beschwernis für ihn dar, da er sich nicht sonderlich für diese Aspekte interessierte. In ihrem abgeschlossenen, von der Gesellschaft der Adligen bestimmten Leben spielten solche Fragen keine Rolle. Seit Ray ihn allerdings "gekauft" hatte, musste er sich nahezu ununterbrochen mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass die Welt so ganz anders beschaffen war, als man sie mit ihm bekannt gemacht hatte. Er seufzte, genoss das seidige Fliegen seiner hellblonden Haare. Wie eine lang vermisste Liebkosung streichelte der Fahrtwind seine Sorgen weg. Vielleicht gab es den Schatz gar nicht mehr. Oder Konstantinopel war eine Sackgasse. Dann könnten sie sich zurückziehen, irgendwohin, wo man friedlich leben konnte... Eine schwere, nach Rays Lieblingszigarren duftende Smokingjacke wurde über seine Schultern gehängt. Florean blinzelte, richtete sich auf. "Du verkühlst dich noch." Bemerkte Ray mit sanftem Tadel, der geschmeidig und lautlos in ihr Abteil eingetreten war. "Ray?" Florean hielt es nicht für notwendig, in der Intimität ihres Abteils die Decknamen zu benutzen. "Was wird, wenn in Konstantinopel niemand auf uns wartet?" Ray lachte leise. "Grollst du mir noch immer wegen meiner finsteren Absichten, was den möglichen Schatzfund betrifft?" Er legte eine Hand auf Floreans Schulter, die vertraulichste Geste, die er sich anmaßte. "Selbst wenn diese Spur ins Leere verläuft, so ist Konstantinopel eine gute Adresse für unsere Suche. Den Quellen zufolge verliert sich hier auch der letzte bekannte Rest des Tempelschatzes nach dem Zerfall des römischen Reiches." Ray lehnte sich ebenfalls mit verschränkten Armen auf dem geteilten Fenster an. "Du darfst dir auch nicht vorstellen, dass der Tempelschatz etwa die Zehn Gebote oder den Heiligen Gral enthält. Zumeist waren es wohl rituelle Gegenstände und hauptsächlich Gold und Silber. Die Tempelsteuer eben." Er zwinkerte Florean zu. "Wie sagten schon die alten Römer? Pecunia non olet, Geld stinkt nicht!" Florean wandte den Kopf, strich sich lange Strähnen aus dem Gesicht. "Geld? Münzen?" Er hatte etwas anderes erwartet. Die Bundeslade zum Beispiel. Ray zeigte ihm das Profil. In den Mundwinkeln spielte ein Lächeln. "Weißt du, das Leben hat sich im Alltag gar nicht so verändert. Deine Kirche hat sich ja sogar ein Beispiel daran genommen." Er wandte sich Florean zu, eine Augenbraue diabolisch gelupft. "Gebt dem Herrn, was des Herrn ist. Weil Gott nicht über geeignete Taschen verfügt, nimmt sein dienstbares Personal gern den Obolus entgegen." Den Rücken an das offene Fenster lehnend, den Kopf zurückgelegt, dass der Wind mit seinen im Nacken zusammengebundenen schwarzen Strähnen spielen konnte, fuhr er leise, ohne Spott fort. "Die Quellen, die ich studiert habe, berichten davon, dass im Tempel Münzen gesammelt wurden. Die Evangelisten erwähnen das ja auch." Ein Seitenblick traf Florean, der sich vage erinnerte und bemühte, seine Ignoranz nicht allzu deutlich ruchbar werden zu lassen. "Die Mittel wurden wie heute auch für die Gemeinde verwendet. Unter anderem." Er lächelte ironisch. "Die größte Maßeinheit waren Talente. Münzen waren griechisch und römisch geprägt, mit unterschiedlichem Gold- und Silbergehalt." Er richtete sich auf. "Insofern war der Tempel nichts anderes als ein Schatzhaus. Eine Bank mit höheren Weihen." Florean zog die Stirn kraus. "Wenn es wirklich um Gold- und Silbermünzen geht, wieso glaubst du, sie existierten noch? Könnte man sie nicht einfach geschmolzen haben?" "Tjaaaa!" Ray lächelte verschmitzt. "Könnte man nicht auch einfach den Schatz der Tempelritter eingeschmolzen und für die Kirche verwendet haben, als man sie der Inquisition zum Fraß vorwarf?" Allerdings hätten sie dann nicht die unglaublichen Reichtümer gesehen. Mit denen sie beinahe ertrunken wären, als ihr unbarmherziger Gegner/Konkurrent, der Blauäugige Dschinn Azla, die geheimen Fallen ausgelöst hatte. "Hmmm!" Brummte Florean, dem Rays verträumt-vergnügtes Grinsen missfiel. "Der Blitz schlägt nicht zweimal in denselben Baum!" Warum sollten beide Schätze, in Teilen, unversehrt und unentdeckt erhalten sein?! Auflachend schlenderte Ray vom Fenster weg, nur wenige Schritte. Der möblierte Reisewagen war nicht besonders groß. "Möglicherweise." Schnurrte er keineswegs eingeschüchtert vom potentiellen Misserfolg der Unternehmung. "Ja, möglicherweise." "Ray." Zögernd ergriff Florean das Wort, unterbrach sich, um das Fenster wieder zu schließen, beiläufig über die akkuraten Falten der fixierten Vorhänge zu fahren. "Ich wüsste gerne..." "Was denn?" Ray wandte sich zu ihm um, ließ sich auf der gepolsterten Bank nieder, die Beine leger und elegant zugleich übereinander geschlagen. Florean hob den Kopf, hoffte, dass er nicht trotzig wie ein Schuljunge blickte. Der er im Übrigen nie gewesen war. "Ich frage mich, was danach kommt. Nach diesen Abenteuer." Forschend suchte er in Rays Gesicht nach einer verborgenen Gefühlsregung. "Wie soll es danach weitergehen?" Zu seiner Überraschung wich der Freund seinem Blick aus, spielte ablenkend einen Augenblick mit der Uhr, die er aus der kleinen Ziertasche seiner Weste gezogen hatte. "... ehrlich gesagt..." Die smaragdgrünen Augen begegneten Floreans Amethyst-Augen unverbrämt. "Ich weiß es nicht." Schweigend studierten sie einander, Schicksalsgefährten, gelegentlich Widersacher, zumeist Blutsbrüder und Vertraute. Der Zug reduzierte das Tempo. Die nächste Station, Belgrad, wurde in Kürze erreicht. Ray lächelte verhalten, klopfte neben sich auf das Polster. Eine Einladung, Platz zu nehmen. Florean leistete ihr Folge, studierte, durchaus beunruhigt, seinen Mitreisenden. Zum ersten Mal, schien es ihm, wirkte Ray unschlüssig, ja, ratlos! "Es gibt verschiedene Optionen." Bemerkte der selbstvergessen, als spräche er zu sich selbst. "Aber noch will mich keine wirklich locken. Die Zeit ist noch nicht reif." Nach einem langen Augenblick nickte Florean leicht. Er hätte weder Ray zu raten gewusst, noch konnte er für sich selbst beanspruchen, ein Kursbuch für sein zukünftiges Leben entdeckt zu haben. Es erleichterte ihn uneingestanden, dass Ray keine Absicht zeigte, sich seines "Sklaven" zu entledigen. ~+~ Tag 2 Im quirligen Konstantinopel mehrten sich die Zeichen des Niedergangs, die den Gazetten eingaben, vom "Kranken Mann am Bosporus" zu spotten. Obgleich es sich um die Hauptstadt des großen Osmanischen Reiches handelte, in welchem sie sich seit geraumer Zeit bewegten, konnte Florean ein Naserümpfen kaum unterdrücken. Wie prachtvoll und der Zukunft zugewandt Wien dagegen wirkte! Prachtstraßen, grüne Anlagen, eine gediegene Atmosphäre (wenn man nicht gerade auf die Arbeiterquartiere blickte)! Hier blätterte nicht nur der Verputz von ehemals herrschaftlichen Gebäuden. Ray, der aus seiner weitgereisten Vergangenheit mit dem vernachlässigten Äußeren von Gebäuden vertraut war, störte sich nicht daran. Geübt fand er sich in dem Gewimmel von Häusern und Moscheen zurecht. Er genoss durchaus die Atmosphäre. Hier konnte man Geschichte atmen! Florean bemerkte spitz, vor allem stinke sie entsetzlich nach fauligem Fisch. Unbeeindruckt spazierte Ray voran, nicht mehr im Frack, sondern in einem cremefarbenen Straßenanzug inklusive eines flachen Strohhuts. Sein Spazierstock sorgte für Distanz, wenn ihm die neugierigen Straßenjungen zu nahe kamen. Im Hafen, ihrem Treffpunkt laut Mitteilung des Wiener "Flötisten", roch es tatsächlich weniger maritim als erstickend nach verwesendem Fisch. Hielt man sich an der frischen Brise, konnte man ohne "Gerumpel im Gekröse" flanieren. Florean zeichnete sich nicht durch diese Contenance aus. Mit einem zierlichen Taschentuch tupfte er sich über die Stirn, wedelte mit dem Strohhut den affrösen Odeur der Umgebung von sich. Erneut hatte Ray ihn als Schmuckstück ausstaffiert. In lichtem Bleu gefärbte Ägyptische Baumwolle, mit Leinen gemischt, fand sich in seinem dreiteiligen Anzug. »Wir fallen auf wie zwei Perlen im Besteckkasten!« Beklagte er sich stumm. Außerdem hatte Ray nicht nachgelassen, ihn quer durch diese überfüllte, lärmende, stinkende Stadt zu schleifen, um ihm die Relikte der glorreichen Vergangenheit zu präsentieren. »Vor allem ist sie passee!« Grollte Florean erschöpft. "Schon wieder müde?" Neckte Ray ihn in erschreckend gehobener Laune, hakte ihn unter, um ihn mitzuziehen. Nachdem sie ausgiebig den langen Kai begutachtet hatten, Schiffe alle Bauarten sowie einen Dampfer registrierten, lenkte Ray ihre Schritte wieder in Richtung ihres Quartiers. Florean konnte es kaum fassen: die schmerzliche Tortur für seine armen, geplagten Füße war umsonst unternommen worden?! Wo war dieser angebliche Kontaktmann?! Endete das Abenteuer hier? Erschöpft ließ er sich in ihrer Unterkunft, angeblich ein Etablissement erster Güte, von einem vorgeblich Französisch-stämmigen, wieselflinken Schnauzbartträger geführt, in einen Sessel sinken. Der hatte schon bessere Tage gesehen, schien unsachgemäß mit Stroh gestopft worden zu sein. "War's das? Eine Sackgasse?" Er schleuderte die feinen, nun sehr staubigen Schuhe von den Füßen, massierte sich wehleidig die Zehen in den feinen Strümpfen. Ray lachte auf. "Wo denkst du hin?! Diese Parade diente zum Zweck, uns sehen zu lassen. Ich bin sicher, der Kontaktmann wird sich in Kürze melden." Florean seufzte profund. "Diese Heimlichtuerei ist wirklich lästig! Ist es tatsächlich nötig, herumzuschleichen und sich zu kostümieren?!" "Ah!" Ray grinste, die Ärmel bereits hochgekrempelt. "Mein Freund, dir fehlt jeglicher Sinn für das Abenteuerliche! Im Übrigen wäre es doch seltsam, wenn wir einen enormen Schatz jagten und niemand sich Mühe gäbe, diesen Umstand zu verschleiern, oder nicht?" "Bah!" Florean wedelte abwehrend mit der Hand. "Eine löchrige Argumentation! Genauso gut könnte man uns mit diesem Firlefanz an der Nase herumführen, um noch mehr Geld herauszupressen!" "Mag sein." Ray war offenkundig nicht zum Disputieren aufgelegt. "Ich sage dir, wir sind auf der richtigen Spur!" Florean verzichtete auf einen giftigen Kommentar zum in seinen Augen übertriebenen Optimismus seines Gefährten. Er erkundigte sich lieber beißend, ob in dieser heruntergekommenen Auffangstation für kriechendes Ungeziefer mit einem Bad gerechnet werden könne. ~+~ Ray warf einen kontrollierenden Blick auf die schlafende Gestalt seines Freundes. Im Schein des zunehmenden Mondes schimmerte Floreans hellblondes Haar wie fließendes Silber auf dem Kopfkissen. Bekleidet mit einem feinen Nachthemd schlummerte er friedlich, ohne die strengen Sorgenfalten auf der Stirn. Die waren weniger Ray geschuldet als dem Kampf der letzten Stunden, aus dem er siegreich hervorgegangen war. Deshalb wirkte der verkürzte Reisigbesen in Floreans Hand durchaus wie ein königliches Zepter. Es war ein heftiges, wortreiches Gefecht gewesen. Der Pensionswirt hatte sogar die Perfektion seines gezwirbelten Schnauzbartes eingebüßt! Niemand konnte sich dem Ur-Zorn entziehen, wenn sich Florean jenseits von Geduld echauffierte. Mit scharfen Worten in seinem distinguierten Französisch des Adels hatte er in allen unerfreulichen Details die Verfehlungen und Missstände der Unterbringung, der Mahlzeiten und der Hygiene aufs Tapet gebracht. Schließlich zu Demonstrationszwecken eine ganze Schaufel des Ungeziefers vor dem Pensionswirt ausgekippt, die er im Laufe einer Viertelstunde in ihrer Suite entdeckt hatte. Ein Affront sondergleichen! Überhaupt, was für einen Franzosen habe man sich hier eigentlich vorzustellen?! In seiner Ehre gekränkt hatte sich der wieselflinke Mann lebhaft verteidigt, sehr zum Amüsement anderer Gäste und der Schaulustigen von der Straße. Kostenloses Theater, Dramatik inbegriffen. Florean, furchtlos, erzürnt, ein hellblonder Adonis mit eisigem Air und hochherrschaftlicher Gestik gegen den kleinen, sonnenverbrannten Pensionswirt mit dem Schnauzbart. Der sämtliche Unvollkommenheiten seines erstklassigen Etablissements zu verteidigen versuchte. Ray hingegen nutzte die Gelegenheit, noch einmal auszugehen, durch die engen Gassen der älteren Stadtbezirke, sich einzulauschen in das Sprachgewirr. Ihm, dem kostümierten Fremden, mutmaßlich einem studierten Ruinenwühler, traute man keineswegs zu, des osmanischen Türkisch mächtig zu sein. Oder der anderen Sprachen, die ihn umschwirrten. Immerhin trieb man hier quer über das Mittelmeer weiträumig Handel! Er schärfte sein Ohr, ließ sich nichts anmerken, atmete tief die scharfen Gerüche der Gewürzmärkte ein, wehrte gleichzeitig aufdringliche Koberer ab, die ihm irgendwelche Fundstücke verkaufen wollten. Vor ihrem Quartier ließ er sich bei einem Schuhputzer nieder, der vor sich hin sprach, so, als spiele es keine Rolle, ob sein Kunde ihn verstehe oder nicht. Ray verstand, blieb gleichgültig, entrichtete ein gutes Trinkgeld. Es zahlte sich oft aus, diese Informationsquellen zu nutzen. Barbiere und Schuhputzer waren die Nachrichtenorgane einer gut unterrichteten Nachbarschaft. Ohne Überraschung zog er ein winziges Streifchen Papier, offenkundig abgerissen, hinter der Zunge seines rechten Schuhs hervor. »Na also!« Frohlockte er. Deshalb wollte er nun, im Schutz der erhellten Nacht, dem Treffpunkt zustreben. Ohne Florean selbstredend. In graue Arbeitskleidung gehüllt, um mit den Schatten zu verschmelzen, band er sich den Caestus um Handgelenk und Unterarm, verstaute Wurfmesser und Drahtschlinge am Körper. Von Revolvern hielt er nicht viel. Zu oft richteten sie sich gegen ihren Besitzer. Er verließ lautlos und geschmeidig wie eine Katze die Pension. ~+~ Der Morgendunst teilte sich das Terrain in der Meerenge mit dem Frühnebel, ließ die Silhouette der Stadt verschwimmen. Die sich erwärmende Erde vertrieb die kühlen, nassen Schwaden wieder Richtung Wasser. Florean ballte die Fäuste. Neben ihm auf dem Boden lag zerbrochen der Reisigbesen, den er sich als Bewaffnung gegen das krauchende Übel auserbeten hatte. "Damaskus?!" Fauchte er zornig. "Jetzt also auch noch Damaskus?! Hätte dieser erbärmliche Pfeifenquäler das nicht gleich erwähnen können?!" "Nur keine Aufregung." Gelassen blätterte Ray, eine Zigarre schmauchend, durch die Zeitungen. Sie enthielten auch Ankündigungen über mögliche Passagen. Er optionierte für den Seeweg nach Damaskus. "Pardon? Keine Aufregung?!" Floreans Stimme überschlug sich. "DAS wirst du mir erklären müssen! Wir sind so weit gereist für nichts?!" Ray faltete die Zeitungen ordentlich, legte seine Zigarre ab und erhob sich. Beruhigend streckte er die Hände aus, drückte die verspannt hochgezogenen Schultern seines Freundes sanft herunter. "Florean, vertraue darauf, dass unser Abstecher hierher nicht umsonst war." Erklärte er leise, nachdrücklich. "Zudem sind unsere Reisemöglichkeiten von Konstantinopel aus besonders vielfältig. Lass mich dir alles erklären, wenn wir gefrühstückt haben und keine Lauscher befürchten müssen." "Mon Dieu!" Florean schüttelte Rays Hände ab. "Einmal möchte ich erleben, dass es keine Umwege und Komplikationen gibt!" Sein Begleiter, der mit sich durchaus zufrieden war und den nächtlichen Ausflug genossen hatte, verzichtete auf eine Replik. Wenn Florean gespeist hatte, wäre es noch früh genug, ihn auf die bevorstehende Seereise vorzubereiten. ~+~ Ray mietete ein kleines Segelschiff samt Crew, dessen Besitzer von Kreta stammte, nach eigenem Bekunden das Mittelmeer wie seine speckige Westentasche kannte. Immer entlang der Küste, in Sichtweite der kleinen Inseln, wollten sie innerhalb einer Woche bei gutem Wetter Beirut erreichen. Versorgt mit zahlreichen Gazetten und seinem Notizbuch fand er gute Gelegenheit, die bisher erworbenen Erkenntnisse zu vergleichen, sich zudem über das Geschehen in der Welt auf dem Laufenden zu halten. Florean hasste Seereisen. Seine erste hatte er mit Ray bestreiten müssen, als sie den sicheren Boden Frankreichs verlassen hatten, um nach Marokko zu gelangen. Erst hatten ihn Übelkeit, entsetzliche Krämpfe und Gliederschmerzen geplagt, dann die Scham darüber, sich derart verletzlich gefunden zu haben. Das mündete in den eisernen Entschluss, keine feste Nahrung auf schwankendem Boden zu sich zu nehmen. Ray hatte der persönlichen Schmach die Krone aufgesetzt, indem er ihn auf den Armen zur Reling getragen hatte, damit sein Gefährte sich den Küstenverlauf betrachten konnte. Ob der diesen Wunsch hegte oder nicht. Eingestandenermaßen fand Florean diese Seereise, bei der der Horizont nicht ohne Land blieb, recht erträglich. Ein Überangebot an Fischspeisen, nun ja, das konnte man verschmerzen. Dazu harziger Retsina, der nach Überzeugung des Schiffseigners besonders gegen die unerfreulichen Fieberanfälle schützte. Florean, der die Feldzüge des Napoleon Bonaparte studiert hatte, sich gruselte in Erinnerung an die Verluste durch Fleckfieber und die Seuchen in Ägypten, war geneigt, den bitteren Geschmack zu übersehen. Solange dieses Hausmittel sich bewährte! Heiß genug war ihm ohnehin, auch wenn er strikt die Sonne mied. Wer wollte da noch Fieber riskieren?! Trotzdem dankte er dem Schöpfer überschwänglich, als sie gemächlich die Hafenanlagen von Beirut erreichten. Auch hier wimmelte es von Menschen, ein bunter Reigen der Osmanischen Völker. Ohne besondere Rücksicht auf seinen sensiblen Begleiter zu nehmen steuerte Ray sofort das Büro der Eisenbahngesellschaft D.H.P. an. Sie betrieb die Bahnstrecke, die von "Beyrouth" aus mit der berühmten Libanonbahn in schmaler Spurbreite seit über zehn Jahren nach Damaskus führte. Hier reiste man allerdings weniger luxuriös, wenn auch ebenso exklusiv. Spannend wurde die Route durch einen temporären Wechsel auf eine Zahnradspur, um die Höhendifferenz zu bewältigen. Im Gegensatz zum Orient-Express registrierte Florean eine eher staubig-karge, zerklüftete und ihm unerfreulich wüstenartige Landschaft. Holz herrschte auch hier vor. Man saß recht hart. Die Fenster blieben geschlossen, um nicht den schweren Rußdampf der Lokomotive in der Rauchfahne hereinzulassen. Dennoch kaute man bald auf Sandkörnern. Ray focht keine Unannehmlichkeit an. Wenn der Zug kurz hielt, das tat er öfter, kaufte er von fliegenden Händlern Obst oder Gebäck, erfrischte sich auch mal in für Florean gelinde gesprochen rustikalen "Waschräumen", harrte geduldig ihrer Ankunft. Florean für seinen Teil fühlte sich erschlagen und erschöpft, als sie Damaskus erreichten. Flirrende Hitze, das ihm unverständliche Wortgeklingel, Menschen in unterschiedlichster Landestracht, allgegenwärtiger Staub. Ihn schwindelte. Ray wählte geübt die beiden Lastenträger aus, die ihr Reisegepäck befördern sollten. Er winkte eine Muli-betriebene Droschke heran, die eher an einen umfunktionierten Karren erinnerte, zweifellos bessere Tage gesehen hatte. Ihn kümmerte das wenig. Staub konnte man abklopfen, der verursachte keine Weinflecken! Florean verzog ob dieses launigen Scherzes die Miene verbittert. Wahrscheinlich gäbe es kein Bad in ihrer Unterkunft. Er müsste vermutlich für die Dauer ihres Aufenthalts in diesem Backofen mit Sand in jeder Körperöffnung leben! "Du freust dich gar nicht, mein Freund." Neckte ihn Ray spöttisch. "Beinahe auf Pilgertour im Heiligen Land, zumindest auf biblischen Spuren, und dann diese Leidensmiene? Was sind schon kleinere Unbequemlichkeiten gegen DIESE Suche?" Schnaubend tupfte sich Florean das Gesicht ab, wollte wenigstens die Maske aus Staub und Rußpartikeln entfernen. Er war absolut nicht zu Scherzen aufgelegt! Ihre Unterkunft, eine Herberge für Ausländer, entsprach dem Niveau, das Ray von Marokko kannte. Britischer Flair, zumal hier Reisende auf den Spuren der Bibel abstiegen, dazu Erholungssüchtige, die wohlhabend genug waren, die unerfreulichen Monate des Jahres in einem angenehmen Klima verbringen zu können. Nicht jedem konvenierte Ägypten. Nachdem sie sich eingerichtet hatten in zwei bescheidene, auf einem Flur liegende Zimmer, bat Ray Florean, im Hotel zu bleiben, während er sich um die Kontaktaufnahme bemühen wollte. Florean erklärte schnippisch, je früher sie dieser Hölle auf Erden entsagen könnten, umso wohler würde er sich fühlen. Falls das für die Betrachtungen des Meister-Schatzsuchers Noir irgendeine Bedeutung hätte! Viel zu neugierig auf die Erkenntnisse, die er hier gewinnen konnte, ließ Ray die missgelaunte Stimmung seines Freundes unkommentiert. In den abkühlenden Abendstunden hoffte er, die Spur des verlorenen Tempelschatzes wieder aufnehmen zu können. ~+~ Ray saß gebeugt über zahlreichen, scheinbar ohne System auf dem einfachen Tisch ausgebreiteten Dokumenten, zog gedankenverloren an seiner Zigarre und grübelte. Vor ihm lag, im Gegenwert eines Monatslohns, ein ausgefranstes Stück Pergament. Winzig klein, nicht mehr als einen Handteller groß. Die quadratisch anmutenden Schriftzeichen waren ihm vertraut, doch er hatte gewisse Schwierigkeiten, sie zu übersetzen. Hebräisch? Oder vielleicht doch eher Aramäisch? Wie alt war dieses Pergament wirklich? Wo hatte man es gefunden? Er war sich durchaus bewusst, dass man mit etwas Geschick die gierigen "Entdecker" aus dem Norden an der Nase herumführen, um ihr Geld erleichtern konnte. Welcher Hinweis verbarg sich hier? Bedeutete es, dass die siegreichen Völker tatsächlich mit dem Untergang des oströmischen Kaiserreichs auch den Tempelschatz zerstreut hatten? Oder konnte dieser Fetzen ihm Hoffnung machen, dass seine Überlegungen zutrafen, der Tempelschatz nicht verloren war? Ray war entschlossen, diesem Stückchen gegerbtes Leder seine Botschaft zu entlocken! ~+~ Die Haare wirr, das Gesicht bleich, die Augen umschattet, doch fiebrig glänzend ob des Triumphs weckte Ray Florean energisch. Der protestierte stöhnend, setzte sich widerwillig auf. Ray konnte auf das Zartgefühl seines Gefährten keine Rücksicht nehmen. Er MUSSTE seine Entdeckung teilen! "Florean, sieh her! Dort, eindeutig, das liest sich Jericho! Nun bin ich überzeugt, dass der Text in Aramäisch verfasst wurde! Er enthält die Steuerforderung von Gessius Florus!" Florean rieb sich die Augen. Ihm erklärte sich noch nichts. Das erkannte Ray durchaus, erläuterte in gedämpfterem Ton. "Gessius Florus war Statthalter in Judäa vor dem Aufstand gegen die römischen Besatzer. Er wollte erneut den Tempelschatz für den Tribut nach Rom plündern. Da er schon mal so vorgegangen war, mussten die Tempelhüter in Jerusalem doch annehmen, er werde wieder damit durchkommen." Mit glänzenden Augen funkelte er Florean an. "Also, was läge näher, als den Tempelschatz in Sicherheit zu bringen? Jericho ist weniger als 30 Kilometer entfernt von Jerusalem!" Seufzend wischte sich Florean durch die hellblonden Haare, die offenkundig Sandkörner geradezu anzogen. "Schön und gut, aber sagt dieser kuriose Text wirklich etwas darüber, dass man den Schatz nach Jericho gebracht hat? War er dort sicher? Zweifellos gab es auch dort römische Einheiten. Würden sie nicht auch in Jericho suchen?" "Nur wenn es ein offenkundiges Versteck gewesen ist." Antwortete Ray überzeugt. "Also, ich weiß nicht." Florean betätigte sich als Advocatus diaboli, nicht nur, weil ihm schwante, er möge noch tiefer in diese staubige Einöde gezerrt werden. "Fällt es nicht auf, wenn große und schwere Mengen an Münzen durch die Gegend transportiert werden? Zweitens, wie kannst du so sicher sein, dass dieser unappetitliche Fetzen nicht eine clevere Fälschung ist?" "Warum sollte man sich solche Mühe geben? Wer würde sich schon so gut auskennen?" Ray gab nicht so rasch klein bei. Der Name Gessius Florus wurde nicht in den Bibeltexten erwähnt. Dazu musste man sich mit dem altgriechischen Text des Flavius Josephus über den jüdischen Krieg befassen oder einen mittelalterlichen Druck aufstöbern. Nicht unbedingt eine Lektüre, die man hier erwarten konnte, vor allem, weil der jüdische Historiker auf die Seite der Römer gewechselt war. Ganz zu schweigen von dem perfid-cleveren Trick, sich dem Massenselbstmord seiner Kameraden zu entziehen. "Ich bin jedenfalls entschlossen, mich vor Ort umzusehen!" Ray erhob sich geschäftig. "Wenn es Spuren gibt, dann bei Jerusalem! Dieser 'unappetitliche Fetzen', wie du es zu bezeichnen beliebst, stammt von dort, aus einer Höhle in den Bergen." "Wo er einfach so herumlag?" Florean kletterte aus seiner hölzernen Bettstatt, glättete sein Nachthemd. Wacker unterdrückte er das Bedürfnis, sich am ganzen Körper zu kratzen, um die vermaledeiten Sandkörner abzustreifen. "Nein, nein!" Ray rollte die aufgekrempelten Hemdsärmel herunter, fahndete in den Hosentaschen nach seinen Manschettenknöpfen, bevor er sie in der geöffneten Weste fand. "Wie üblich in Tonkrügen konserviert. Wenn man die gut verplombt und einigermaßen geschützt unterstellt, ist ihr Inhalt lange haltbar." Florean seufzte profund, trat an den wackeligen Waschtisch, begann missmutig, seine hellblonden Haare zu striegeln, schnitt im kreisrunden, angeschlagenen Spiegel Grimassen. Ray trat hinter ihn, legte ihm beide Hände auf die Schultern, grinste triumphierend. "Ich verspreche dir, dieses Mal bleiben wir an Land!" ~+~ "Eine heilige Pflicht für jeden Gläubigen, hat er gesagt!" Florean zürnte seinem Reisegefährten übellaunigst. "Auf den Spuren Christi wandeln, ha!" Sein Wüstenschiff stieß ein kollerndes Stöhnen aus, spuckte gezielt in den Staub. Schwankend, in einer Art Kreisbewegung, schaukelte Florean auf uralten Karawanenwegen durch die Einöde, hoch oben auf einem Tier, dessen Gelenke unzweifelhaft falsch montiert worden waren. Seekrank konnte er nicht werden, aber der ungewöhnliche Gang des Dromedars und das steife Verharren im Sattelgeschirr trug nicht zu seinem Wohlbefinden bei. »Dromedar-krank!« Dachte er wütend. »Ich wusste ja, dass er mir etwas vorenthalten hat!« Zornig richtete er seine Augen auf Ray, der in der von losen Gewändern, ebensolchen Hosen und gewickelten Stoffen geprägten Kleidung der Beduinen mühelos auf seinem Dromedar ritt. Das gehorchte ihm nicht nur, sondern beugte sich auch willig seinen Fußbewegungen. Sie hatten sich einer Karawane angeschlossen, zum Teil bestehend aus Pilgern, die die heiligen Städte des Islam besuchen wollten, zum Teil Beduinen, die im Auftrag Dritter Waren und Güter transportierten. Ihr Anführer galt als erfahren und freundlich. Er hatte nach einem ausführlichen Gespräch mit Ray keine Bedenken, die beiden 'Franzosen' aufzunehmen. Die Landschaft war öde, die Sonne glühend heiß, das reflektierende Glitzern von Staub und Sand blendete die Augen. Florean hatte sich zwar mit der ihm fremden Bekleidung angefreundet, die Ray auf einem Markt erstand, aber er war dazu übergegangen, sich komplett zu verhüllen, die Augen hinter einer Nickelbrille mit runden, geschwärzten Gläsern zu verbergen. Obwohl man hier bereits Europäer, Nachkommen der 'Kreuzritter', zu Gesicht bekommen hatte, fühlte er sich beängstigend fremd und allein. Seine allzu helle Haut, die goldglänzenden Haare, die ungewohnte Augenfarbe: wie eine Puppe starrte man ihn nicht nur an, sondern fasste ungeniert nach seinen Händen oder Haaren. Nur um sicherzugehen, dass er kein 'Geist', sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut war! Von Oase zu Oase leitete sie der Karawanenführer auf uralten Spuren. Florean konnte nicht glauben, dass man hier mit schweren Rüstungen auf Pferden versucht hatte, die heiligen Städte des Christentums zurückzuerobern. Man atmete glühende Hitze und ewigen Staub, kaute auf Sand. An Waschen mit Wasser war gar nicht zu denken. Außerdem ging ihm durch den Kopf, was er Grabungsberichten über Ägypten entnommen hatte, Gegenstand in den Gazetten, die Ray mit sich führte. "Verschluckte" die Wüste nicht ständig aufgegebene Bauwerke? Ragten nicht gewaltige Pyramiden gerade zu einem Bruchteil aus den Dünen heraus? Er konnte nur hoffen, dass Ray nicht beabsichtigte, mit ihm ein weiteres Ausgrabungsfeld zu eröffnen! In einer überdimensionierten "Sandkiste" herumzubuddeln! Dabei wären sie mutmaßlich auch nicht die Ersten. In Jericho hatten schon andere Expeditionen nach Siedlungsresten geforscht. Sollte man derartige Unterfangen nicht besser Forschern und Experten überlassen? Zunächst galt es allerdings, lebendig und ungesotten bis nach Jerusalem zu kommen. ~+~ Ray tupfte Florean die Stirn ab, schob ihm zum Kauen einige Pfefferminzblätter in den Mund. Er hoffte, dass es ihn abkühlen würde. Noch drei Tage würde ihre Reise bis nach Jerusalem andauern. Er durfte nicht riskieren, dass man sie hier zurückließ. Deshalb war es notwendig, dass Florean durchhielt, nicht von seinem Dromedar kippte. Beruhigend wiegte er Floreans Haupt auf seinem Oberschenkel, massierte ihm die schmerzenden Schläfen. Wenigstens war es noch nicht so arg, dass Florean sich übergeben musste! Ein wenig abseits des Verbands, in dem sie reisten, hatten sie das Lager aufgeschlagen, um die Nacht zu verbringen. Die Steppenlandschaft, durchzogen von freundlichen Streifen blühender Vegetation, erschien ihm recht einladend, zumindest verglichen mit den Ausflügen in die Sandwüste, an die er sich vage erinnerte. Aber für Florean waren diese Anstrengungen wohl zu viel. "Sobald wir angekommen sind, finden wir ein großes Bad für dich." Versprach er Florean leise, streichelte ihm über die Haare, schob Pfefferminzblätter nach. "Dann ruhst du dich aus, versprochen!" Insgeheim überlegte er, seinen Cousin Michel Raoul zu kontaktieren, um ihm auch Florean anzuvertrauen. Der sollte sich erkenntlich zeigen, immerhin hatte er ihm Laila geschickt! ~+~ Florean wusste genau, dass er nicht hier sein sollte. Ray hatte ihn gebeten, nicht ohne seine Begleitung in Jerusalem auszugehen, ihm als Anerkennung für seine Duldsamkeit versprochen, verschiedene heilige Orte aufzusuchen. Doch nachdem Ray sich bereits seit zwei Tagen mit einem einheimischen Führer in Jericho amüsierte, war Floreans Geduld erschöpft. Nicht eingerechnet die vier Tage fiebriger Erschöpfung, die ihn delirierend auf das unbequeme Lager gezwungen hatten! Er langweilte sich entsetzlich in ihrem Quartier, hatte sämtliche Schriftstücke, die Ray bei ihm gelassen hatte, ausführlich studiert. Möglicherweise, das gestand er ein, lag Ray mit seiner Theorie über den Verbleib des Tempelschatzes nicht falsch. Was allerdings nicht bedeutete, dass seine Vorstellung zutraf. Schon als er in seinen hellen Tagesanzug gekleidet die ersten Schritte durch die hochgemauerten Gassen lenkte, gewann er den Eindruck, dass er besser auf Rays Empfehlung gehört hätte. Überall starrte man ihn an, durchaus neugierig. Weil er nicht Teil einer Pilgergruppe war, ohne einheimischen Führer orientierungslos herum flanierte, zunehmend verschreckt wirkte. Tatsächlich hatte Florean sich in dem Gewirr der eng bebauten Stadt verirrt. Er konnte nur hoffen, wenigstens irgendwie den Tempelberg zu finden. Niemand verstand Französisch, er wiederum konnte nicht entschlüsseln, was man ihm sagte. Ängstlich sah er sich um, fühlte sich bedrängt durch die allgegenwärtigen Kinder, die an ihm zupften und zerrten, nach Münzen verlangten. Er beschleunigte seine Schritte, senkte den Kopf, marschierte blindlings, hoffte, irgendwo auf einen hilfsbereiten Pilger zu treffen, der ihm weiterhelfen würde. So prallte er auch unversehens bei einer scharfen Kehre in einen mittelgroßen Mann, der ebenso wie er einen dreiteiligen Anzug aus ungefärbtem Leinenstoff trug. Überrascht blickte Florean auf, traf eine ebenfalls geschwärzte Brille und ein sanftes Lächeln in einem glatten, ovalen Gesicht. Ein ungewöhnlicher Hut, durchaus elegant, bedeckte das Haupt seines Gegenüber. "Ah, mein Herr, haben Sie sich verirrt?" Wurde er höflich in seiner Muttersprache adressiert. Verlegen erwiderte Florean die Geste. "In der Tat. Darf ich so unverschämt sein und Sie um die Direktion zum Tempelberg bitten?" "Mit Vergnügen begleite ich Sie, mein Freund." Antwortete der Fremde mit dem ungewöhnlichen Hut, bot Florean vertraulich den Arm. Der hängte sich ein, dankbar für den souveränen Schutz, den der mittelgroße Mann ausstrahlte. Entsprechend der Etikette stellte er sich vor, als sie ihre Schritte durch die Gassen lenkten. "Ich darf mich Ihnen bekannt machen? Mein Name ist Florean de Rochefort." "Ah, ein Pilger?" Der sanft geschwungene Mund mit den schmalen Lippen lächelte. "Vielleicht sogar aus dem schönen Paris? Welch eine Freude!" Florean lächelte, nickte. Was schadete es schon zuzugeben, was ohnehin ein jeder in Erfahrung bringen konnte? "Ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Monsieur de Rochefort! Bescheiden darf ich mich meinerseits vorstellen. Man nennt mich El Jaguar negro." ~+~ Florean wurde schnell bewusst, dass er es mit einem außergewöhnlichen Mann zu tun hatte. Nicht nur der Name, der ihm sehr merkwürdig erschien, indizierte, dass dieser "Jaguar Negro" (Familienname?) ein Weltenbummler war. Der außergewöhnliche Hut, nach dem er nun zu fragen wagte, wurde Jipi-Jipa genannt und stammte aus Ecuador! Südamerika! Hastig bemühte sich Florean um einen Anknüpfungspunkt, da Südamerika ihm ungefähr so vertraut wie die Mondoberfläche war. Also hasardierte er, erkundigte sich zögerlich, ob 'Monsieur Jaguar' möglicherweise geschäftlich hier weilte. Er habe gelesen, man wolle erneut den Panama-Kanalbau in Angriff nehmen. 'Monsieur Jaguar' verneigte sich höflich, konterte so elegant wie nichtssagend, dass ein bescheidener Geschäftsmann wohl immer unterwegs sei, seinen Handel zum Erblühen zu bringen. Es beruhigte Florean, dass sein neuer Bekannter keinerlei Anstalten traf, ihm Obligationen und Anteilsscheine aufdrängen zu wollen. Er verstand nicht das Geringste von diesen Zertifikaten und verfügte überdies nicht über einen Centime. Deshalb hielt er es für reine Zeitverschwendung, sich mit derartigen Gedanken zu belasten. Tatsächlich erreichte er unter Führung des ungewöhnlichen Mannes in kürzester Zeit und kaum belästigt von den unvermeidlichen Kinderscharen den Tempelberg. Als Heiligtum verschiedener Religionen wurde hier streng auf sittsames Benehmen geachtet. Florean folgte dem in Kinderjahren erlernten Ritual, entrichtete seine Gebete, hauptsächlich aber riskierte er einen neugierigen Blick in die Runde. Gewissermaßen in seinen Erwartungen gedämpft durch die langen Reisen erhoffte er keineswegs, ein zweites Notre Dame vorzufinden. Ein kleiner Schauer ergriff ihn, als er verinnerlichte, dass er wirklich hier, am Grab Jesu Christi betete. Wer hätte das gedacht? Jemals erträumt? 'Monsieur Jaguar' wartete höflich auf ihn, erstaunte ihn darüber hinaus mit der Information, dass der Zugang zur Grabeskirche durch zwei Familien gewährleistet wurde, die dem Propheten Mohammed folgten, und zwar schon seit Generationen! Ob umgekehrt wohl die Schlüssel zu einer Moschee jemals einem römisch-katholischen Geschlecht anvertraut werden könnten? Nachdenklich kontemplierte Florean diese 'Enthüllung', während er sich auf die Orientierungsfähigkeit seines Begleiters verließ. Ray hätte es zweifellos gefallen, diese ironische Wendung des Schicksals zu erfahren! Er seufzte lautlos, vermisste seinen Freund unerwartet heftig. In melancholischer Stimmung erreichten sie Floreans Quartier, wo sich 'Monsieur Jaguar' formvollendet verabschiedete, der Hoffnung Ausdruck gab, man werde sich in Kürze erneut begegnen. Florean pflichtete ihm von Herzen bei. Er schämte sich durchaus dafür, bei seinem neuen Bekannten den Eindruck frommer Versenkung erweckt zu haben, während er doch ganz irdisch und egoistisch auf die baldige Rückkehr seines Freundes wartete. Erst am Abend des folgenden Tages kehrte Ray von seiner Expedition nach Jericho zurück. Vertraulich berichtete er Florean nach einer ausgiebigen, wenn auch sparsamen Wäsche von seinen Erkenntnissen. "Ich habe mit einem Vertreter eines Beduinenstamms gesprochen. Sie sind wirklich über alte Tonkrüge in einer Höhle gestolpert, die von einem abgerutschten Abhang bis dato verschüttet war!" Er strahlte Florean an, der sich Geduld geschworen hatte, aufmerksam lauschte. "Sie haben mich auch zu der Höhle geführt, aber leider war der Inhalt der übrigen vier Tonkrüge schon zerfallen." Ray zuckte mit den Achseln. "Papyri, kein Pergament, vermute ich." Florean richtete sich auf. "Also ist unsere Suche zu Ende? Gibt es keine weiteren Hinweise mehr?" Gekonnt kappte Ray eine Zigarre, sog genießerisch ihr Aroma ein, von einer Rauchwolke eingehüllt. "So verloren ist unsere Schatzsuche noch nicht. Es beweist, dass es Verstecke mit Botschaften aus der Zeit der jüdischen Aufstände gibt." Er beugte sich vor, klopfte Asche ab. "Wenn wir davon ausgehen, dass die Juden mit einem möglichen Scheitern rechneten, werden sie auch Vorkehrungen für diesen Fall getroffen haben." Er schmauchte gedankenverloren. "Sie waren sich ja nicht alle einig, weißt du? Es gab so viele unterschiedliche Fraktionen, Radikale, Gemäßigte, Schriftgelehrte, eher weltlich-römisch Orientierte. Sie MÜSSEN eine Botschaft hinterlassen haben!" Florean rieb sich nachdenklich das Kinn. "Hältst du es für möglich, dass man den Schatz heimlich geborgen haben könnte? Ich meine, damals? Dass wir deshalb keine Nachrichten mehr finden, weil sie nicht mehr notwendig sind?" Ray produzierte gekonnt Rauchkringel, die zur Zimmerdecke stiegen. "Nein." Entschied er. "Nein, einen solchen Fund hätte man nicht verschweigen können. Es wäre aufgefallen, wenn irgendwo unerwartet Münzen in den Umlauf gebracht worden wären." Er strich sich über die schwarzen Haare, die sich nach der Wäsche leicht kringelten. "Ich vermute, dass es nach dem Aufstand keinen mehr gab, der wusste, wo der Tempelschatz verbogen worden war. Die Botschaften fand man nicht. Deshalb auch die Legenden, die Suche über all die Jahrhunderte." Sie teilten ein bedächtiges Schweigen. Florean entschloss sich, die unmittelbare Zukunft zur Sprache zu bringen. "Wie soll es denn nun weitergehen? Du kannst doch nicht ernsthaft erwägen, die Umgebung von Jericho umzugraben?" Ray grinste gutmütig. "Nein, im Augenblick habe ich wirklich genug Sand und Staub genossen." Er zögerte ein wenig, bevor er fortfuhr. "Ich werde mich darum bemühen, in der Ecole pratique d'Etudes Bibliques im Dominikanerkonvent St. Etienne ein paar Thesen zu diskutieren, wenn ich dort einen interessierten Ansprechpartner finde. Möglicherweise kann ich dort auch in Erfahrung bringen, wo man bereits gegraben hat und mit welchem Resultat." Ray vertraute darauf, dass längst nicht all das, was man herausfinden konnte, auch schriftlich publiziert wurde. Er kannte die Wirksamkeit der Mund-zu-Mund-Propaganda, schätzte sie als hilfreich ein. "Aha." Florean nickte. Wenigstens bedeutete es nicht, dass er erneut zur Gemeinschaft mit Dromedaren gezwungen wurde! Ray erhob sich, spazierte angespannt zum Fenster. "Vorher allerdings werde ich für dich ein Billett für den Zug nach Jaffa erwerben. Dort soll dich Michel Raoul abholen." "Wie bitte?!" Florean sprang auf. "Was hat das zu bedeuten?!" Er ballte die Fäuste, starrte seinen Reisegefährten herausfordernd an. Hatte er all dies Ungemach durchlitten, um wie ein unartiger Schuljunge abgeschoben zu werden?! Und schon wieder auf ein Schiff?! "Ganz einfach." Ray drehte sich zu ihm um. "Ich habe gleich nach unserer Ankunft hier eine Nachricht an ihn geschickt, damit er dich erwartet. Er liebt es ja, mit seiner teuren Segelyacht anzugeben, dann soll er sich auch nützlich machen!" Mittlerweile musste Michel Raoul auch in Reichweite sein. Dafür hatte er einige Lira hingeblättert, um die eilige Zustellung zu garantieren. "Aber warum?! Aus welchem Grund?!" Florean trat auf Ray zu, funkelte ihn empört an. "Habe ich dich etwa enttäuscht?! Bin ich nicht hier, ungeachtet all dieser unerfreulichen Erfahrungen?!" "Florean." Ray schlug nun einen strengen Ton an. "Willst du etwa ständig in diesem Zimmer bleiben?! Langweilst du dich nicht entsetzlich?!" "Ich habe mich vorher auch schon gelangweilt, besten Dank! Ich bin durchaus in der Lage, diesen Zustand auszuhalten!" Fauchte Florean zurück. Wenn man eins dem französischen Adel zutrauen konnte, dann unerträgliche Langeweile und lähmende Konversation ohne Wimpernzucken zu ertragen! Bevor er seine erblich bedingte Toleranz unterstreichen konnte, winkte Ray brüsk ab. "Gib dir keine Mühe, Florean, mein Entschluss steht fest. Ich will dich nicht hier allein lassen. Ich kann noch nicht absehen, wie lange ich hier meine Nachforschungen betreiben werde. Deshalb ist es das Beste, wenn du bei Michel und Laila bleibst. Ich bin sicher, du wirst dich glänzend unterhalten." Abgesehen davon, dass es ihn fuchste, wie gut sich Michel und Florean darauf verstanden, adlige Müßiggänger zu geben! "So!" Knurrte Florean finster, einen feuchten Film auf den Amethyst-Augen. "Sind wir also wieder bei meiner mickrigen Existenzberechtigung als dein Sklave, ja? Ein Schmuckstück ohne eigenen Willen oder Gedanken?! Fein, tu doch, was du willst, Ray Balzac de Courande! Aber wage nicht, mir noch mal vorzugaukeln, es würde dich kümmern, wie ich mich befinde!" Aufgebracht schloss Florean sich im Schlafzimmer ein, verweigerte Ray den Zugang. Der nächtigte daraufhin im Salon auf einer nicht sonderlich bequemen Ottomane. ~+~ Tag 3 Im trotzigen Schweigen nickten die beiden Freunde einander lediglich frostig zu, als Ray zwei Tage später Florean an der provisorisch wirkenden Bahnstation verabschiedete. Im Gegensatz zum Orient-Express herrschte hier trotz der Ersten Klasse eine eher dem Wilden Westen ähnliche, rustikale Ausstattung vor. Großraumdurchgangswagen statt Abteile, Holzbänke entlang der Wände, offene Plattformen. Glücklicherweise waren gerade keine großen Pilgerzüge eingetroffen, sodass Florean mit seinem Überseereisekoffer ausreichend Platz für sich hatte. Ausgestattet mit einem großzügigen Barvermögen in Franc und Lira saß er steif auf seiner Holzbank, ärgerte sich über Rays Gefühlskälte und dessen Uneinsichtigkeit in sein ungehobeltes, rücksichtsloses Verhalten. Er fürchtete sich davor, allein in der ihm vollkommen fremden Hafenstadt Jaffa zu stranden. Die Fahrt sollte eigentlich gute drei Stunden dauern. Aufgrund von Schäden an den Gleisen, die auf Florean ohnehin einen dürftigen Eindruck machten, benötigte er die dreifache Zeit für die Strecke von beinahe 90 Kilometern. Durchgeschüttelt, verschwitzt und ausgehungert, da er nicht gewagt hatte, seinen Koffer allein zu lassen und irgendwie mit den Verkäufern von Datteln und einfachen Fladen sowie heißem Tee zu verhandeln, verließ er als einer der wenigen Passagiere der Ersten Klasse widerwillig den Wagen. Ein Träger hatte sich seines Überseekoffers bemächtigt, was Florean nicht übelnahm, da er kaum imstande war, dieses Gewicht auch noch zu tragen. Wohin sich wenden? Der Träger wartete geduldig, nachdem man festgestellt hatte, dass Florean kein Wort von dem verstand, was der Träger als Kommunikationsgrundlage anbot. Wohingegen Florean nicht wusste, ob er sich zum Hafen bringen lassen sollte. Oder lieber in ein Hotel? Welches war geeignet? Wie sollte er das dem knorrigen Mann übermitteln? Als sich abzeichnete, dass eine Entscheidung auf sich warten ließ, marschierte der Gepäckträger einfach los. Nach seiner reichlichen Erfahrung mit Pilgern, die sich in feine Anzüge hüllten, suchten die die Unterkunft für Pilger auf, waren nach dem Irrgang durch die ihnen unvertraute, verwinkelte Altstadt dankbar, wenn er sie ablieferte. Was sich in barer Münze auszahlte. Ermattet trottete Florean hinter dem energisch ausschreitenden Mann her. Schließlich konnte er nicht im Bahnhof bleiben! Entsprechend erleichtert lächelte er, als der Gepäckträger ein Gebäude ansteuerte, das in für ihn lesbaren Lettern als 'Fremden-Hospital' fungierte. Florean erinnerte sich gelesen zu haben, dass zahlreiche Einwanderer sich bemühten, die alten Bibelstädte neu zu beleben, auch wenn das erhebliche Entbehrungen mit sich brachte. Von lokalen Auseinandersetzungen ganz zu schweigen. Erfreut drückte er dem Gepäckträger eine fürstliche Entlohnung in die schwielige Hand, wandte sich an der bescheidenen Rezeption, die eher an ein Kloster erinnerte, an die streng gekleidete Dame dahinter. Sie verstand genug Französisch, um Floreans Ersuchen zu begreifen, winkte ihm, ihr zu folgen. Ein kräftiger Bursche nahm sich seines Überseekoffers an. Florean wurde in eine spartanische Zelle mit Klappbett, Stuhl, Waschgarnitur und vergittertem Fensterchen geleitet. Fürwahr eine sehr christliche Unterkunft! Florean wagte nicht zu streiten. Weil er zu spät für das zeitige Abendessen gekommen war, erhielt er ausnahmsweise noch Brot, körnigen Käse, getrocknetes Obst und selbst gepressten Traubensaft auf einem Tablett ins Zimmer serviert. Erschöpft, aber standesbewusst spülte sich Florean zuerst den Reisestaub ab, bevor er seines Mahlzeit verzehrte, um sich auf der Pritsche auszustrecken. Entgegen seinen Erwartungen schlief er sofort ein. ~+~ Florean schreckte hoch, als höflich, bestimmt an seine Zimmertür gepocht wurde. Es sei Zeit zur Laudes, dem Frühgebet! Verwirrt blinzelnd blickte sich Florean um, mühte sich, seine Umgebung mit seiner letzten Erinnerung in Einklang zu bringen. »Mon Dieu!« Seufzte er stumm, durchaus treffend. Nachdem er sich darüber versichert hatte, dass die spartanische Büßerzelle seine Unterkunft in Jaffa darstellte, dechiffrierte sich für ihn auch die Botschaft des aufdringlichen Klopfers. Musste er wirklich am Frühgebet teilnehmen? Es half nichts, ermahnte er sich selbst, als er mit zittrigen Beinen dem bescheidenen Bettgestell entstieg. Man wäre beim Frühstück schlecht angesehen, wenn man sich nicht den liturgischen Gepflogenheiten anpasste! Ein Frühstück benötigte er dringend, wie seine wacklige Konstitution bewies! Nach einer sehr eiligen Wasch- und Bekleidungsaktion, die erfreulicherweise glückte, eilte Florean mit den letzten der Pilger in die angeschlossene Kirche. Nervös bemühte er sich, es seinen Nachbarn in der unbequemen Kirchenbank gleichzutun, um nicht unangenehm aufzufallen, als ignorant zu gelten. Nach dieser ersten Tortur für seine Nerven war er ausgesprochen dankbar für das rurale, schmackhafte Frühstück. Es unterschied sich nicht sonderlich von den Mahlzeiten der letzten Tage, verzeichnete glücklicherweise einen bedeutend geringen Anteil an Staub- oder Sandkörnern. Anschließend fragte Florean den Vorsteher der Herberge, der Dienst tat, ob man nicht seinen Überseekoffer verwahren könne, bis er bei der Hafenmeisterei in Erfahrung gebracht habe, wann seine Passage eintreffe? Diese Bitte wurde ihm gewährt. Auch stellte man ihm angesichts der Nebenreisezeit für Pilger in Aussicht, erneut eine Nacht in der Herberge verbringen zu können. Dieses Mal allerdings pünktlich zur Vesper, wenn eine Nachtmahlzeit in Anspruch genommen werden sollte! Florean sagte eifrig zu, platzierte den kreisrunden Strohhut, der ihm nach der Begegnung mit dem weltgewandten 'Monsieur Jaguar' recht provinziell und altbacken vorkam. Er hielt unerschrocken auf den Hafen zu. Jaffa war nicht so groß wie Jerusalem. Er konnte die salzige Meeresbrise riechen. Es sollte ihm auch gelingen, die Hafenmeisterei auf eigene Faust zu finden! In der Tat, Madame Fortuna lächelte ihm zu. Rasch konnte Florean sich in das niedrige Gebäude schieben. Dort herrschte ein reges Kommen und Gehen, raumgreifende Gesten, laute Silbenkanonaden, geschäftiges Umherlaufen. Jaffa spielte für die Versorgung des Hinterlandes mit Baumaterial, sei es für Bahngleise oder andere wichtige Zwecke, eine herausragende Rolle. Passagierverkehr trat zu dieser Jahreszeit dagegen eindeutig zurück. Schließlich gelang es Florean durch rustikales Ellenbogenausstellen und Schieben, einen Mitarbeiter des Hafenmeisters auf sich aufmerksam zu machen. Der verstand zwar kein Französisch, begriff aber anhand der Gestik, dass Florean nach einem Segelschiff Ausschau hielt, das aus Tanger kam, Astarte hieß, wie die Schutzgöttin der Seefahrer. Leider jedoch lag die Astarte nicht vor dem Hafen auf Reede. Enttäuscht arbeitete sich Florean durch das umtriebige Gewühl hinaus, schlenderte durch den bescheidenen Hafen. Antik, viel zu klein für den Wasserverkehr, gerade mit einem provisorischen Steg ausgebaut. Deshalb lagen zahlreiche Schiffe vor dem Hafen, wurden durch Leichter entladen, Passagiere ausgebootet. Was nun? Er konnte nur darauf warten, dass Michel Raoul mit der Astarte eintraf. Zu Ray gab es keinen Weg zurück. Der hatte ihm ja eindeutig und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihn nicht mehr an seiner Seite bei dieser Schatzsuche haben wollte. Seufzend wandte er sich schließlich ab, flanierte durch die engen Gassen. Er sah unerwartet vor einer kleinen Schenke inmitten der alten Männer, die dort ihren schwarzen Kaffee schlürften, einen Mann in einem hellen Anzug hinter einer aufgefalteten Zeitung. Über die ein ungewöhnlicher Hut lupfte. Jipi-Jipa, Monsieur Jaguar! Erfreut strebte Florean der offenen Schenke unter einem einfachen Holzdach zu, räusperte sich höflich, um die Aufmerksamkeit des emsigen Lesers auf sich zu lenken. "Ah!" Die Zeitung, sehr frisch, gerade mal eine Woche alt, wurde akkurat gefaltet. 'Monsieur Jaguar' erhob sich, ergriff Floreans emsig ausgestreckte Hand, um sie kurz zu schütteln, begleitet von einer knappen Verbeugung. "Monsieur de Rochefort, welch ein Vergnügen, Sie erneut zu treffen!" "Ganz meinerseits, ganz meinerseits!" Sprudelte Florean hervor. Endlich ein Mensch, der mit ihm in seiner Muttersprache kommunizierte, ihn nicht ungeniert anstarrte! "Bitte!" Einladend wies 'Monsieur Jaguar' auf einen freien, eher grob gezimmerten Stuhl. "Bitte, mein Freund, seien Sie so freundlich, mir Gesellschaft zu leisten!" Er winkte nach dem Schenkenwirt, der ebenso neugierig wie die übrigen Männer der Unterhaltung zu folgen versuchte, adressierte ihn im fließenden Idiom der Region. So kam auch Florean in den Genuss der an Teer gemahnenden Flüssigkeit, die in kürzester Zeit seinen Puls in die Höhe trieb. Ungezwungen vertraute er 'Monsieur Jaguar' den Zweck seines Aufenthalts an, ohne exakt in Erfahrung zu bringen, was genau sein zuvorkommender Bekannter eigentlich hier in Jaffa tat. Danach lenkte 'Monsieur Jaguar' das Gespräch geschickt auf das gesellschaftliche Leben in Paris, zu dem Florean trotz der finanziellen Einschränkungen durchaus Einiges zu bemerken hatte. Sie verplauderten den Vormittag, schlürften stark gesüßten Tee und knabberten getrocknete Datteln. Unerwartet näherte sich ein kleiner, sehniger Mann in eher schlichter Aufmachung, einfache Hosen und eine geknöpfte Hemdbluse, der Segeltuchstoff verwaschen und ausgebleicht. Er verneigte sich ehrfürchtig vor 'Monsieur Jaguar', übermittelte in einer kehligen Sprache eine Botschaft. 'Monsieur Jaguar' antwortete ebenfalls, für Floreans Ohren wenig elegant, entließ den exotischen Mann mit einem knappen Nicken. Der entfernte sich wieselflink und eifrig. "Mein lieber Freund!" 'Monsieur Jaguar' erhob sich. "Wollen Sie mir die Ehre erweisen, mich auf mein Schiff zu begleiten? Da könnten wir noch ein wenig plaudern. Es böte sich Ihnen die Möglichkeit, aus nächster Nähe das Eintreffen der Astarte zu beobachten." Florean erhob sich ebenfalls, zögerte leicht. "Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, mein Herr! Ich möchte Ihnen jedoch keinesfalls zur Last fallen! Die Umstände..." "Ah was!" Graziös winkte der 'Monsieur' ab. "Bah, was für Umstände?! Keine Rede davon! Bitte, mein Freund!" Damit nahm er Floreans Arm. "Begleiten Sie mich! Bereiten Sie mir das Vergnügen Ihrer Gesellschaft!" Ungezwungen führte er Florean weiter, Richtung Hafen. "Ich werde Ihr Gepäck auf mein Schiff bringen lassen! Wenn die Astarte in Sicht kommt, sie muss ja auf Reede ankern wie alle Schiffe, geben wir Signale und bringen Sie sicher hinüber! Bitte gewähren Sie mir diese Ehre!" Wer hätte dieses Angebot abweisen können, gleichzeitig überschwänglich und höflich hervorgebracht?! Florean jedenfalls gewann den Eindruck, dass seinem neuen Bekannten tatsächlich an seiner Gesellschaft gelegen war, was ihm durchaus schmeichelte. Außerdem wusste er ohnehin nicht, wie er seine Zeit bis zum Eintreffen des Segelschiffs verbringen sollte, mit dem Michel Raoul ihn auflas. Untergehakt wie beste Freunde flanierten sie geruhsam zum provisorischen Pier. Dort wartete bereits ein Boot auf sie. Und Floreans Überseereisekoffer. Das überraschte ihn ein wenig. Unter den sehnigen, nicht sonderlich großen Männern der Bootsmannschaft, die allesamt exotisch wirkten, auch wenn sie gleichförmig in einfache Hosen und Hemden gekleidet waren, erkannte er den Boten von der Schenke. Umsichtig half der 'Monsieur' Florean höchstselbst in das Boot. Man legte ab, ruderte zügig aufs Meer hinaus. Dort lagen zahlreiche Schiffe vor Anker, zumeist der Materialversorgung dienend. Leichter schoben sich an ihrem Ruderboot vorbei Richtung Behelfspier. Florean hielt sich an der Bootswand fest, atmete flach. Es schaukelte stärker, als ihm genehm war. Hinter einem großen Segler tauchte ein anderes Schiff auf, so ungewöhnlich und seltsam, dass Florean es zunächst für eine Täuschung hielt. Der Schatten, den das Kastenboot mit den hochgezogenen Enden auf das Wasser legte, war real. "Das~das ist das Schiff?!" Erkundigte er sich verblüfft. Vage erinnerte er sich, in einem alten Konversationslexikon einmal eine ähnliche Abbildung gesehen zu haben. "In der Tat." 'Monsieur Jaguar' lächelte fein, die dünnen Lippen zuckten. "Das ist mein Schiff. Eine Dschunke, wie Sie unzweifelhaft sofort erkannt haben." Florean starrte mit halb geöffnetem Mund. Die Dschunke war, obschon nicht das größte Schiff auf Reede, eindeutig imposant. Die Bordwände mahnten wie Festungswälle, Bug und Heck hochgezogen wie eine Sichel. Insgesamt fünf Masten, drei davon erstaunlicherweise versetzt, ragten in mittlere Höhe, noch ohne Segelbespannung. Auf dem kantigen Bug prangten gewaltige Augen, die bedrohlich blickten. Die genaue Anzahl der Decks vermochte Florean nicht zu bestimmen. Er registrierte eine über der Wasserlinie liegende Umrandung, wie eine Art umlaufende Galerie, die das flinke Vorankommen der Seeleute erleichterte. Man ließ Strickleitern herab. Dazu schwenkte eine Art Flaschenzug über die Bordwand hinaus, erlaubte es, Floreans Überseereisekoffer und andere Güter in einen breiten, geflochtenen Kasten zu legen, welcher ohne größere Mühe über die hohen Bordwände gehievt wurde. Tapfer erklomm Florean die Bordwand, fand sich bereits sicher aufgehoben auf dem obersten Deck. 'Monsieur Jaguar', der ihm höflich den Vortritt gelassen hatte, erteilte bereits in der kehligen Sprache Anweisungen. Das ließ die zahllosen kleinen, drahtigen Männer exotischen Aussehens in Aktion treten. "Es ist gewaltig!" Bemerkte Florean ein wenig atemlos, bestaunte die seltsamen Segel, die aus zahlreichen Abschnitten zu bestehen schienen, die mit einfachen Bambuslatten fixiert worden waren. Wanten oder Stage suchte er vergebens. "Ah, begleiten Sie mich doch bitte in meine Suite." Sanft, aber unnachgiebig wurde Florean über das Oberdeck geleitet, eine breite Treppe hinab in ein tieferes Deck geführt. Die Suite übertraf seine Erwartungen. Groß wie ein Salon, mit einer prächtigen Aussicht hoch über dem Wasser und wertvollen Möbeln. Und, wie der Monsieur ihm schmunzelnd präsentierte, einem angeschlossenen Badezimmer mit Toilette, das selbst exklusive Häuser beschämt hätte. Staunend versank Florean in den weichen Polstern einer tiefen Sitzbank, die mit geflochtenem Rattan umrandet worden war. Alles hier wirkte so ungewöhnlich! Fremdartig! "Sagt es Ihnen zu?" 'Monsieur Jaguar' lächelte, kredenzte Florean selbst einen prickelnden, leichten Fruchtwein. "Grandios. Unglaublich, beinahe märchenhaft!" Florean wusste nicht, wie er seine Empfindungen in Worte kleiden sollte, ohne sich zu blamieren. Einem Mann seiner Herkunft stand es nicht zu Gesicht, wie ein Bauer mit offenem Mund zu staunen. Doch er fürchtete, dass man seine Begeisterung allzu mühelos von seiner Miene ablesen konnte. "Das freut mich sehr." Sein Gastgeber klatschte in die Hände. Ein livrierter Diener erschien, um ein Tablett mit verschiedenen Speisen aufzutragen, in feinstem chinesischem Porzellan, hauchdünn und zerbrechlich. Während der Diener in zeremonieller Ergriffenheit langsam Schüssel um Schüssel aufdeckte, damit man die dargebotenen Köstlichkeiten inspizieren konnte, löste Floreans Gastgeber den Hut, rollte einen hüftlangen, lackschwarzen Zopf ab, der gemächlich über seinen Rücken schwang und die aparte Kehrseite streichelte. Es folgte die getönte Brille, sorgsam in ein ledernes Etui verstaut, bevor er Florean gegenüber Platz nahm, der sich noch im Traumland der Phantastik wähnte. Verblüfft starrte er in das erstaunlich verwandelte Gesicht, ohne die Accessoires Hut und Brille ebenso exotisch wie die Crew. Sein Kinn sackte herab, als er 'Monsieur Jaguar' in die Augen sah: die Pigmentierung der Augen wich voneinander ab. Das rechte Auge funkelte in einem warmen, schönen Braun, das Linke allerdings verwirrte mit einer Mischung aus staubigem Grau und mahagonifarbenen Flecken. 'Monsieur Jaguar' lächelte amüsiert über Floreans Miene, beugte sich vor, lud ihn mit einer eleganten Geste ein, zuerst von den Speisen zu kosten. "Ah, mein Freund, es besteht keine Notwendigkeit, sich um meine Sehkraft zu sorgen. Sie ist ganz ausgezeichnet." Bemerkte er sanft, ließ perfekte, perlweiße Zähne aufblitzen. Unerwartet lief Florean ein Schauder über den Rücken. "Bitte!" Sein Gastgeber schnurrte beinahe. "Kosten Sie doch! Ich bin überzeugt, es wird Ihnen munden." Eine kleine Stimme in Floreans Hinterkopf drängte nervös und argwöhnisch, er möge zuerst herausfinden, wer dieser 'Monsieur Jaguar' wirklich war! Von einem einfachen, bescheidenen Händler konnte doch nun wirklich keine Rede mehr sein! Einmal mehr trug Floreans Hunger den Sieg davon. Nach einer auffordernden Geste seines Gastgebers griff er beherzt zu, kostete auch ausgiebig von dem wohlschmeckenden Fruchtwein. So fremdartig ihm auch dies alles erschien, er wollte Mann von Welt bleiben! Waren sie hier nicht schließlich im Hoheitsgebiet des Osmanischen Reiches, wo die Märchen von 1001. Nacht erzählt wurden? »Außerdem wird Ray sich bestimmt entsetzlich ärgern, wenn ich ihm erzähle, was mir widerfahren ist!« Flackerte ihm ein boshafter Gedanke durch den Kopf. ~+~ Das Mahl mundete veritabel ausgezeichnet, hinterließ ein angenehmes Gefühl in Floreans Magengrube. Solcherart in sanftmütige Stimmung versetzt wagte er, sein Interesse am Werdegang und der Profession seines Gastgebers zu zeigen. 'Monsieur Jaguar' verneigte sich leicht, hakte Florean unter, führte ihn auf seinem Prachtschiff herum. Zumindest über das große Deck zum Kastellaufbau, den "Flitzgang" über der Wasserlinie entlang und hinunter zu den Decks. Insgesamt gab es vier davon, doppelwandige Abteile, ein besonderes Abschottungssystem, Kabinen und sanitäre Einrichtungen. Außerdem waren große Frischwassertanks aus Stahl eingebaut. Zusätzlich hatte man gewaltige Lederhäute zu Ballons zusammengenäht und abgedichtet, die ebenfalls als Reservoir dienten. In einem Zelt auf dem Deck wurden verschiedene Nutzpflanzen gezogen, hauptsächlich Küchenkräuter, auch Gemüsestauden. "Verpflegung ist von großer Importanz, wenn man die Crew bei Laune halten möchte." Zwinkerte 'Monsieur Jaguar' mit dem gefleckten Auge. Florean nickte verständig. Er fuhr nicht zum ersten Mal zur See! Dass sich seine Erfahrung jedoch winzig im Vergleich zu den Seemeilen seines Gastgebers ausnahm, konnte er erahnen, als 'Monsieur Jaguar' eher beiläufig bedeutete, dass er regelmäßig zwischen allen Kontinenten kreuzte. Geladen wurde nach seinen vagen Ausführungen alles, was nachgefragt und sicher über längere Fristen transportiert werden konnte. Teure Gewürze, edle Stoffe, seltene Hölzer, auch Bauteile von Maschinen, etwa Dampflokomotiven, Gleise. Tee und Porzellan, exotische Tiere an Liebhaber. Auch Personen, Auswanderer wie die chinesischen Kulis, die als Vertragsarbeiter in die Welt verschifft wurden. Gerade zum Beispiel, erläuterte er gelassen, habe er die völlig verarmte Bevölkerung eines Landstrichs nach Peru in die Hauptstadt Lima vermittelt, wo sie als Kontraktarbeiter ein Auskommen fanden. Auf der Rückreise, beladen mit Rohprodukten aus Südamerika, konnte er wiederum in asiatischen Häfen begehrte Produkte für Europa laden. Eine Stippvisite auf den indischen Subkontinent, danach galt es, im Mittelmeer Geschäfte abzuschließen. Auf dem Rückweg wolle er mit europäischen Kulturgütern erneut asiatische Landstriche ansteuern, Kontraktarbeiter für die Arbeit am Panama-Kanal anwerben. Wichtige Kunden, so erschien es Florean, bildeten die Kolonialmächte, die hauptsächlich heimische Produkte und Maschinen orderten. Durch günstige Preise und erstaunlich zuverlässige Lieferzeiten trotzte er der Konkurrenz der Dampfschiffe. Das Geheimnis, vertraute er seinem beeindruckten Gast schmunzelnd an, bestehe in der Mannschaft, Filipinos und Malaien, seit Jahrtausenden in Seefahrt und Schiffbau erfahrene Menschen. Außerdem habe er noch einen Arzt aus dem Reich der Mitte engagiert und eine routinierte Kombüsencrew aus Vietnam. Florean begriff, dass er sich nicht allein auf einem großen Schiff befand, sondern durch ein schwimmendes Dorf spazierte. Auch wenn es sich mutmaßlich um eine rein männliche "Bevölkerung" handeln musste. Bevor er jedoch wagen konnte, nach einer Sicherheitsmannschaft zu fragen, immerhin galt es, die Autorität des Kapitäns durchzusetzen, geleitete 'Monsieur Jaguar' ihn in sein privates Arbeitszimmer. Es ähnelte einem Studierzimmer an Land: zahllose Bücher reihten sich in eingebauten Regalen aneinander. Ein prachtvoller Globus thronte auf einem Gestell neben einem gemütlichen Studiersessel. Auf einem Lesepult lag ein Foliant aufgeschlagen, wartete auf die Fortsetzung der Lektüre. Fest eingebaut war ein Sekretär mit zahlreichen unterschiedlich großen Schubladen und -fächern, geschmückt mit floralen Einlegearbeiten. Floreans Augenmerk wurde auf ein ungewöhnliches Gestell gelenkt, das verschiedene Spannrahmen auffächerte. Schüchtern, aber magisch angezogen "blätterte" er die einzelnen Rahmen auf. Präsentiert wurden die abgezogenen Felle von verschiedenen Tieren, prächtig anzusehen. Ihnen gemein schien, dass sie eine auffällige Zeichnung hatten, Streifen, Punkte, Ringflecken, Tupfen, Rosetten. "Geschenke." Erklärte 'Monsieur Jaguar', klappte einen Rahmen auf, der das abgezogene Fell eines Jaguars mit Melanismus offerierte. Deutlich konnte man trotz der schwarzen Färbung die Fellzeichnung erkennen. "Ist das ein Panther?" Erkundigte sich Florean ehrfurchtsvoll, streichelte mit den Fingerspitzen vorsichtig über das Fell. "Ein schwarzer Jaguar." Korrigierte 'Monsieur Jaguar' sanft. "Diese Raubkatzen gibt es nur auf dem amerikanischen Kontinent." "Prächtig." Murmelte Florean versunken. Was waren das für fremde Kulturen, die so weit entfernt lebten? Zwar hatte er von Ray angestachelt, der jeden Zeitungsbericht über Entdeckungen in fremden Ländern angeregt verfolgte, durchaus einen gewissen Einblick in die Zivilisationsgeschichte anderer Völker. Dennoch erschien es ihm wenig greifbar, einfach zu phantastisch. »Die Arroganz der Alten Welt!« Pflegte Ray amüsiert zu bemerken. Er winkte stets ab, wenn Florean ihm entrüstet vorhielt, er selbst zähle doch auch dazu! Allerdings konnte Florean sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Ray sich nicht so einordnete. War er Franzose? Oder Beduine? Zählte er zu einer Nation oder einem Volksstamm? »Der alte Streit!« Ray diskutierte nicht gern über diese Thematik. »Die Kolonien und ihre Herren! Ich bin ich selbst allein!« Florean musste sich eingestehen, dass er solche Zweifel nie gehegt hatte. Die Erziehung, die Prägung vor allem durch seine Mutter: er war der letzte Abkömmling eines uralten Adelsgeschlechts, stolz und selbstbewusst. Zweifel hatte er nie verspürt. Die Erkenntnis nagte verstärkt an seinem inneren Schutzwall aus tradiertem Hochmut, dass es die Welt einfach nicht kümmerte. Niemand bestaunte einen "de Rochefort aus dem Geschlecht der royalen Anjous" mehr, versank in Referenzen vor ihm, hofierte ihn. Die Zeiten waren vorbei, er nichts weiter als einer dieser "armseligen, heruntergekommenen adligen Hungerleider", die weder zu arbeiten verstanden, noch in einer anderen Weise für ihren Unterhalt aufkommen konnten. Diese Aussicht bereitete ihm große Sorgen. Offiziell war er verschollen, verfügte über keinen Sou, musste auch erkennen, dass seine körperliche Belastbarkeit nicht gerade überragte. Durchaus gebildet tat er sich schwer mit fremden Sprachen, kannte zwar die Klassiker, scheiterte jedoch bereits bei der simplen doppelten Buchführung eines Kaufmanns. Ohne das Erscheinen des geheimnisvollen Gentleman-Diebs Noir hätte seine Zukunft ausgesprochen finster ausgesehen. »Deshalb ist es auch nicht gerade klug, den einzigen Freund auf der Welt, der dich aushält, auch noch zu verärgern!« Ermahnte ihn seine innere Stimme streng. Sein düsteres Mienenspiel musste seinem Gastgeber aufgefallen sein, der ihn sanft beim Arm nahm, zu einem geflochtenen Korb führte, der etwas versteckt auf halber Höhe von der Decke baumelte. Einen eleganten Finger auf die dünnen Lippen gelegt bedeutete er Florean, sich leise anzunähern, während er selbst eine schwere Decke lupfte. Im Korb schlief ein seltsames Tier. Florean betrachtete es staunend. Da fand sich Pelz, ja, aber auch seltsame, große, ulkig geformte Füße! Ungewöhnlich lange Beine. Und diese niedlichen Ohren! 'Monsieur Jaguar' deckte behutsam wieder die Decke über das ungewöhnliche Wesen. "Das ist ein Koboldmaki." Erklärte er Florean sanft. "Irgendwer hat ihn das letzte Mal an Bord geschmuggelt. Er jagt nachts, der Kleine, in Bäumen, springt von Ast zu Ast. Eigentlich hätte ich ihm keine Überlebenschance eingeräumt, aber die Mannschaft hält ihn wohl bei Laune. Sie befestigen kleine Fleischbrocken an den Masten, damit er jagt und hin und her springt." "Wirklich?" Floreans Amethyst-Augen glänzten vor Begeisterung. "Das würde ich zu gern einmal sehen!" "Aber gern!" Mit einer einladenden Geste wies sein Gastgeber ihn wieder zur Tür. "Zunächst sollten Sie, mein lieber Freund, auch eine Gelegenheit haben, sich ein wenig auszuruhen." Deshalb führte er selbst Florean zu dessen "bescheidener Unterkunft", einer nicht weniger angenehmen Suite. Florean vermutete, dass hier hochgestellte Passagiere untergebracht wurden. Das Mobiliar war vom Feinsten, mit gemütlich wirkenden Teppichen, Vorhangstoffen und einem zierlich bemalten Paravent versehen. Auch hier gab es einen angeschlossenen Sanitärbereich zu bewundern. 'Monsieur Jaguar' lächelte irisierend. "Mein Freund, wollen Sie sich nicht ein entspannendes Bad gönnen? Diesen lästigen Staub der Steppe abspülen?" Damit gewann er Floreans Herz im Sturm, der sich gar nicht mehr an ein solches Vergnügen zu entsinnen glaubte, mit fliegenden Fahnen der Versuchung erlag. "Oh... ich würde gerne..." Zierte er sich der Etikette halber. "Aber..." "Ah, ich akzeptiere keine Ablehnung!!" Verkündete sein Gastgeber streng, um ihm entgegenzukommen. "Sorgen Sie sich bitte auch nicht um die Astarte! Ich habe die Mannschaft angewiesen, mich sofort in Kenntnis zu setzen, sollte sie eintreffen!" "Vielen Dank!" Florean strahlte. "Vielen herzlichen Dank! Sie beschämen mich mit Ihrer Großmut!" Dabei ergriff er die Rechte des exotischen Mannes, schüttelte sie mit beiden Händen überschwänglich. "Oh!" Winkte der mit der freien Linken bescheiden ab. "Aber bitte, mein Freund! Das ist doch gar nichts! Nein, es ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen!" ~+~ »Unglaublich!« Florean trocknete sich die feuchten, hellblonden Haare, während er einen Blick auf den Sonnenuntergang warf. Das Bad, mit aromatischen Essenzen versehen, hatte ihn belebt, die aufgeraute Haut geglättet und das leidige Jucken der Kopfhaut beendet. »Da fühlt man sich doch gleich wie ein neuer Mensch!« Vor allem sehr viel zivilisierter. Florean genoss den Luxus, der ihm hier so selbstlos geboten wurde. Als er dem Badewasser entstieg, in angenehm flauschige Handtücher gewickelt, hatten dienstbare Geister bereits seine Habseligkeiten aus dem Überseekoffer genommen und verstaut. Die Schuhe warteten, auf Hochglanz poliert, artig, dass man sie wieder in Besitz nahm. Die Anzüge waren ausgebürstet worden, die Hemden mit Dampf aufgebügelt. »Was für ein Glück!« Lächelte er der untergehenden Sonne zu. Statt in der kargen Klosterzelle würde er in einem bequemen Bett nächtigen können, zuvor ein wundervolles Abendessen genießen! Da konnten sich die Astarte und Michel Raoul durchaus verspäten! »Außerdem weiß ich nicht, ob Laila endlich...« Fragte er sich versonnen. Niemandem konnte entgehen, dass Rays einigermaßen weltmännischer Cousin Michel Raoul sich ganz unstandesgemäß in Laila vergafft hatte. Sie war nicht nur eine Waise ohne Mittel, sondern so dunkelhäutig und exotisch schön wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Andererseits dickköpfig, waghalsig, eine begabte Taschendiebin und Akrobatin, die ebenso rasch wie Ray den Argot jedes Landes aufnahm und sprach! Wenn Laila sich endlich, wie Florean hoffte, von ihrer fruchtlosen Liebe zu ihrem Retter Ray lösen könnte, hätte der vollkommen vernarrte Michel Raoul sicherlich eine Chance. Natürlich verstieße eine derartige Verbindung nicht nur gegen den guten Ton, sie wäre ein offener Affront! Andererseits wirkte Michel Raoul nicht nur optisch wie eine hellere Kopie seines Cousins. Auch dessen Hartnäckigkeit schien sich vererbt zu haben. Für Florean selbst bedeutete eine Verbindung dieser beiden optisch so gegensätzlich und charakterlich ähnlich gelagerten Menschen, dass Laila ihm mit ihrer durchaus begründeten Eifersucht auf Rays Freundschaft nicht mehr das Leben sauer machen würde. Deshalb hatte er Rays Entscheidung, Laila zunächst nicht mitzunehmen, uneingeschränkt begrüßt. Je länger sie mit Michel Raoul zusammen Zeit verbrachte, ohne dabei Ray als Vergleich vor Augen zu haben, umso größer das Potential für eine gestiegene Zuneigung zum Cousin! »Wenn die Verspätung sich doch nur so begründen würde!« Stoßseufzte er innerlich, kehrte der ertrinkenden Sonne den Rücken zu. Dezent leuchtete eine Öllampe, verbreitete warmes Dämmerlicht. Florean drehte den Docht etwas höher, justierte das Glas wieder korrekt. Über Feuer an Bord eines Schiffes musste man ihn nicht belehren. Er zog sich artig für das Abendessen um, vertraute einer der praktischen Trockenstangen im Badezimmer die Handtücher an. Obwohl eindeutig luxuriös geprägt konnte man sofort erkennen, wie praktisch und durchdacht die Innenausstattung ausgewählt worden war. Es erinnerte ihn ein wenig an die umsichtige Gestaltung der Abteile im Orient-Express. Auch wenn er zugeben musste, dass sein Gastgeber als eindeutiger Sieger aus diesem Vergleich hervorging. Im Spiegel kontrollierte er den Sitz seiner vornehmen Weste, überprüfte anschließend den Sitz seines Fracks. Es klopfte. Auf seine Aufforderung trat einer der kleinen, exotischen Männer ein, präsentierte auf einem silbernen Tablett einen gefalteten Bogen Papier. Fragend nahm Florean die Botschaft hoch, während der Mann mit ausdruckslosem Gesicht wartete. [Mein lieber Freund, ich bedaure sehr, Ihnen nicht beim Abendessen Gesellschaft leisten zu können. Bitte genießen Sie nach Herzenslust alles, wonach Ihnen der Sinn steht. In freundschaftlicher und aufrichtiger Verbundenheit, ganz der Ihre, Monsieur Jaguar.] "Ah." Florean straffte seine Haltung. "Selbstverständlich." Der Diener verneigte sich wortlos, machte kehrt, in der sicheren Erwartung, dass Florean ihm folgen würde. Der Weg war denkbar kurz. Floreans "Kabine" lag in direkter Nähe der Suite seines Gastgebers. Wie bei seiner Ankunft wurde er in den durch schwere Vorhänge abgetrennten kleinen Speisebereich geführt, wo man ihm schweigend aufwartete. Zu seiner Unterhaltung hatte man einen verzierten Vogelbauer aufgestellt, in dem die gefiederten Bewohner sich zwitschernd unterhielten. Florean speiste würdevoll, bedankte sich höflich, auch wenn er stark bezweifelte, dass der ihm aufwartende Mann des Französischen mächtig war, kehrte in seine Kabine zurück. Ein wenig enttäuscht war er schon, keine weitere, ausgedehnte Plauderstunde mit 'Monsieur Jaguar' verbringen zu können. Andererseits war der zweifellos ein vielbeschäftigter Mann. Er dämpfte die Öllaternen, entkleidete sich, polierte die Zähne, striegelte sich die dicken, hellblonden Strähnen, beobachtete im Nachthemd das nächtliche Meer. Überall warnten Positionslaternen vor den auf Reede liegenden Schiffen. Nach Jaffa konnte er von diesem Punkt aus nicht blicken. Würde die Astarte über Nacht ebenfalls einen Platz hier finden? Zumindest der Himmel war klar, die Sterne deutlich zu erkennen. Für einen geübten Navigator folglich eine gute Anleitung, sicher hierher zu finden. Florean wusste nicht zu sagen, wie lange er hinausgesehen hatte, ein wenig betäubt von der überraschenden Stille. Man hörte keine Kommandos, kein Getrampel von eiligen Füßen, nein, auf diesem Schiff herrschte meditative Ruhe! Plötzlich, ohne es sich erklären zu können, überkam ihn das unheimliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Sein Herz stolperte, galoppierte anschließend wie toll. "Das ist doch albern!" Bemühte er sich um Contenance. Warum sollte jemand in seiner Kabine sein?! Zugegeben, er hatte sich in seinen Tagträumen verloren. Das Meer und der Himmel, die sich funkelnd spiegelten, luden ja geradezu ein. Dennoch! Das hinderte seinen Puls nicht daran zu rasen. Ärgerlich über sich selbst, den mangelnden Respekt seines Körpers vor der logischen Argumentation seines Verstandes, was nicht sein sollte, hatte gefälligst auch nicht zu sein!, drehte sich Florean wütend um. Am anderen Ende, direkt neben der Kabinentür, stand eine große Gestalt, in einen knöchellangen Mantel mit Kapuze gehüllt. Zu Tode erschrocken stieß Florean einen heiseren Laut aus, presste sich gegen die Schiffswand. Wie gern wäre er souverän aufgetreten, hätte den ungebetenen Eindringling angeherrscht, was der hier wolle, was ihm einfiele?! Außer einem erstickten Röcheln wollte nichts aus seiner Kehle gelangen! Der Fremde, einen Kopf größer als Florean, wischte in einer nachlässigen Bewegung die losen Seiten des Umhangs über die Schultern zurück. Darunter enthüllte sich in der schwachen Beleuchtung ein knielanges, mit breiten Bordüren verziertes Männergewand, schlanke Hosenbeine, ein breiter Tuchgürtel, in dem ein reichgeschmückter Dolch steckte. Lange weiße Haare schimmerten in dicken Strähnen, hingen lose bis zur Taille. Florean wich das Blut aus dem Gesicht. Sein Körper zitterte, als seine Nerven zerrüttet unkontrolliert zuckten. Er rang krampfhaft nach Luft. Je weniger er scheinbar in seine Lunge saugen konnte, umso hysterischer, panischer schnappte und würgte er. "Du hast doch nicht angenommen, dass ich tot bin, oder?" Schnurrte eine tiefe, sonore Stimme mit einem vertrauten Akzent. Die Hände auf den Mund geschlagen schluchzte Florean am Rande des Erstickens panisch, während ihm Tränen aus den Augen strömten. Die Knie knickten ein. Er sank auf den Boden, die Augen auf den Fremden gerichtet. "Ah." Die Kapuze wurde abgestreift, enthüllte ein gefürchtetes, verhasstes und vertrautes Gesicht. "Hei Bao lässt dich grüßen. Er hat dich als kleine Aufmerksamkeit an mich verschenkt." Florean verstand nicht, hörte nichts mehr als das Chaos in seinem Kopf. Seine Augen drehten sich in den Höhlen. Er fiel bewusstlos auf die Seite. ~+~ Tag 4 Das Meer kühlte langsamer ab als das Land, weshalb sich durch die Thermik eine stete Brise landauswärts bildete. Die Dschunke fing sie in ihren fünf imposanten, beweglichen Segeln ein. Nachdem der diskrete Einbaum sicher unter dem Blitzgang umgekehrt verstaut worden war, wurde das Signal zum Ankerlichten gegeben. Die Geschäfte hier waren erledigt. Die nächste Station hieß Triest. ~+~ Die dem Kreislaufzusammenbruch geschuldete Ohnmacht währte nicht allzu lange. Sie genügte, um Florean zunächst auf das breite Bett in der Wand zu hieven, ihn vom hinderlichen Nachthemd zu befreien, sich selbst lästiger Bekleidung zu entledigen. Florean wand sich, noch nicht ganz zugegen, als ihm mit einem feuchten Lappen über Gesicht und Brustkorb gewischt wurde, nicht eben sanft. Er blinzelte verwirrt, die Wimpern ineinander verwebt, was den Blick trübte. Er sah über sich ein kantiges Gesicht mit spitzem Kinn, dominiert von einer schwarzen Augenklappe und einem wasserblau leuchtenden linken Auge. Zischend zog er durch die Zähne Luft ein, wollte sich schützend zusammenrollen, wegdrehen. Fliehen! Das Gewicht auf seinen Hüften verriet ihm, dass es ein fruchtloses Unterfangen war. "Azla!" Presste er entsetzt hervor. Azla, der Blauäugige Dschinn! Ein sardonisches Lächeln tanzte auf den weichen Lippen. Lange weiße Strähnen fielen auf Floreans nackten Brustkorb. "Sieh an, mon petit chou, du erinnerst dich ja doch an mich!" Neckte er Florean amüsiert ob dessen flackernden, verängstigten Blicks. Florean konnte nicht anders, es war ein konditionierter Reflex: er keuchte, rang erneut asthmatisch um Atem, steigerte sich in eine wahre Hysterie, zuckend und zappelnd. Azla, der über ihm kniete, fing Floreans Handgelenke ein, pinnte sie mit der Linken auf die Matratze, während seine Rechte unnachgiebig Floreans Kiefer packte und fixierte. Er küsste wie ein Raubtier, gierig, ungestüm, dominant. Floreans Lider flatterten arhythmisch. Er senkte sie, erwiderte ebenso ausgehungert den Kuss. ~+~ Wenn es einen Namen für die verdrängten Ängste, Albträume und auch Sehnsüchte gab, musste er "Azla" lauten. Sie waren tabu, selbstverständlich! Abstoßend, verwerflich, ekelhaft, erniedrigend! Eine entsetzliche Schande, eine erlittene Schmach ohne Vergleich! Florean hatte den Mann mit der Haut wie geschmolzener Karamell als Freund von Ray akzeptiert, als einen Retter und Helfer in der Not. Umso verstörender nahm es sich da aus, diesen Mann, der sein Auge verloren hatte, als er Ray beschützte, beim kaltblütigen, geschäftsmäßigen Mord an den Mitgliedern der französischen Gangsterbande "Schwarze Hand" zu beobachten! Damit allerdings war dem Stoff für Nachtmahre noch längst nicht Genüge getan. Um eine vorzeitige Enthüllung zu vertuschen, hatte Azla Florean nicht nur geküsst wie niemand zuvor, sondern auch mit Opium gefügig gemacht, betäubt, getäuscht und schließlich... Daran wollte Florean niemals, auf keinen Fall je wieder denken! Seine Erziehung sah quasi animalische Anwandlungen nicht vor. Eine Aufklärung darüber, was genau zwischen Ehegatten geschah, wenn sie einander "privat" begegneten, hatte er sich aus verschämt verborgener Lektüre in Andeutungen erschlossen. Die Vorstellung, seine Maman etwa hätte ihm auch nur etwas derart Delikates anvertrauen können, war absurd. Gänzlich unvermittelt und arglos taumelte er in einem Rauschzustand in eine ungekannte Ekstase. Von einem anderen Mann auf das Abscheulichste benutzt! Besudelt jenseits aller Maßstäbe! Erniedrigt und vernichtet! Nicht ein Mal nur hatte ihn das grausame Schicksal diesem Unmensch, dieser lüsternen Bestie ausgeliefert, oh nein! Wie sehr sich Florean auch darüber hätte empören können, viel stärker wog die Angst. Weil Azla ihn auf ein heimtückisches Gelände von Empfindungen gelockt hatte, das seine Willensstärke und Entschlossenheit auskonterte. Florean war dazu erzogen worden, quasi imprägniert mit der Vorstellung, animalische Triebe, geschlechtliche Lüste seien verachtenswerte, niedrige, ja sogar unchristliche Neigungen. Die einem wahren, aufrechten Mann nicht anstanden. Sie mussten als Teufelseingebungen bekämpft werden! Dass es ihm nicht gelungen war, nicht gelingen wollte, musste er zwangsläufig als persönliche Schmach, als Demütigung und Vernichtung seines männlichen Selbstbewusstseins begreifen! Vielleicht hätte er flehen sollen, auf Knien um Gnade bitten?! Es hätte Azla wohl nicht umgestimmt. Der doch nichts Anderes bezweckte, als seinen Jugendfreund Ray erst irrezuführen und mit diesen Schandtaten zu quälen! Selbst die Wut über diese Reduzierung auf ein Objekt reichte nicht, die Angst zu überwältigen. Florean hatte entsetzliche Angst vor sich selbst. Vor der Person, die in die leidenschaftlichen Küsse stöhnte, den fremden Speichel willig, gierig schluckte. Die sich wand, wenn eine kundige Hand zwischen die Schenkel glitt, dann höher. Vor seiner finsteren, besudelten, geschwärzten, sündigen Seite. Der es nicht genügte, eine raue Handfläche zu spüren, die seinen Samen schändlich verspritzte, sondern danach verlangte, den teuflischen, sadistischen Mann in sich aufzunehmen. Zwischen den Schenkeln zu fangen, ihn zu verschlingen, aus ihm herauszupressen, was er selbst zuvor geopfert hatte. »So WILL ich nicht sein!« Brüllte in seinem Inneren auch jetzt eine Stimme auf, schrill, hysterisch, aufpeitschend. Azla zumindest focht der widerstreitende Kampf nicht an. Er gab mit einem amüsierten Auflachen Floreans Mund frei, als dessen Erguss ihm auf den nackten, Narben übersäten Leib spritzte. ~+~ Die Gelegenheit war günstig. Florean, splitterfasernackt, beobachtete angespannt Azlas Reaktionen, der am Fenster stand, in die Nacht blickte. Lautlos auf blanken Sohlen schlich Florean sich an, atmete flach, nahm den schmucken Brieföffner vom Sekretär. Hinter seinem Körper verborgen näherte er sich Azla mit der Stichwaffe, holte aus. Er wurde in einer eleganten Bewegung ausgekontert, hart gegen die Schiffswand gepresst. Die Arme verdreht musste er den Brieföffner fallen lassen, sonst wären sie ihm ausgekugelt worden. "Wie dumm von dir." Knurrte Azla an seinem Ohr. "Mein böser, kleiner Goldengel!" Damit biss er Florean kräftig in den Nacken, der vor Schmerz aufschrie. "Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich mit diesem Spielzeug töten?" Schnurrte der dunkelhäutige Mann mit den langen weißen Haaren amüsiert. Er lachte guttural. "Nicht mal deine Kugeln konnten mich umbringen!" Florean senkte den Kopf und schluchzte leise. "Ich hasse dich!" Stieß er schniefend hervor. "Wenn ich 'Monsieur Jaguar' erzähle, wer du wirklich bist...!" "'Monsieur Jaguar'?" Azla gab Florean unerwartet frei. Er lachte so schallend und heftig, dass er sich den Bauch halten musste. "Also wirklich, 'Monsieur Jaguar'?!" Wütend, sehr behutsam die Schultern rollend, drehte sich Florean herum. "Was ist so komisch?!" Fauchte er empört. Er wollte in seiner Schmach nicht auch noch billigen Spott ertragen müssen! Azla grinste unerwartet spitzbübisch, was Florean veranlasste, von ihm zurückzuweichen. Dieser Teufel, dieser Dschinn, hatte gefälligst frei von jeder menschlichen Regung zu bleiben, die man als positiv betrachten konnte! Schwungvoll warf Azla die Haare auf den Rücken, verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Deutlich waren die Einschussnarben zu erkennen, als Florean in seiner Verzweiflung gefeuert hatte. Im Drogenrausch, verwirrt, gequält und eifersüchtig. "Du hast wirklich keine Ahnung, mit wem du es hier zu tun hast." Stellte Azla fest, feixte ungeniert. "Ein wahres Unschuldslämmchen." Spottete er. "Genauso wie vorher, bevor ich dich zum Mann gemacht habe." Zu seiner Beschämung stieg Florean die Farbe in die Wangen. Wütend ballte er die Fäuste. "Ich werde ihm alles erzählen! Was für ein niederträchtiger Verbrecher du bist!" Drohte er mit überschlagender Stimme. "Ach wirklich?" Schnurrte Azla, schnellte vor, drückte Florean förmlich gegen die Wand, die geschwungenen Fäuste mühelos abgefangen und gekapert. "Mon petit chou, was denkst du eigentlich, wie ich hier an Bord gekommen bin, hm?" Erbittert funkelte Florean den größeren Mann an. Er weigerte sich zu glauben, dass sein freundlicher, generöser Gastgeber den wahren Azla kannte! Der musste ihn infam getäuscht haben! "Na, gehen dir die Ideen aus? Wie gut, dass wir uns nicht auf deinen Scharfsinn verlassen müssen." Spottete Azla boshaft, hauchte Florean ins Gesicht. "HRMPF!" Kommentierte Florean indigniert. Seine Gegenwehr blieb erfolglos. Azla bestand nur aus Muskeln, Sehnen und eiserner Entschlossenheit. Sie studierten einander wie verfeindete Katzen in einem Hinterhof, ein Fixieren und Abschätzen, ein Starren und Herausfordern. Azla lächelte, enthüllte perfekte, weiße Zähne, weniger gewinnend als triumphierend. "Na los! Wie lautet deine Erklärung? Was tue ich hier, hm?" Triezte er Florean. "Du widerlicher, abstoßender, gemeiner, niederträchtiger ..." Florean konnte seine Aufzählung an wenig schmeichelhaften Charaktereigenschaften nicht fortsetzen, da Azla ihm mit einem harten Kuss den Mund versiegelte. "Werde nicht vorlaut! ICH habe dich zum Mann gemacht. Du hättest es sehr viel schlechter treffen können." Zischte er Florean ins Ohr. "Ich habe nicht darum gebeten!" Florean bemühte sich um Distanz, aufgebracht und beschämt, weil er von der körperlichen Nähe und ihrem Schlagabtausch erregt war. "Ich verachte dich! Ein anständiger Mensch würde nie...!" "Ha!" Azla ließ ihn unerwartet los, kämmte seine langen Haare auf den Rücken. "DU willst mich über anständige Menschen belehren? Frag doch mal deinen Busenfreund Ray zu dem Thema! Frag ihn mal, wer IHN zum Mann gemacht hat!" Florean wollte das nicht hören. Er hatte nicht die geringste Neigung, sich auf Azlas verlogene, abgefeimte Spielchen einzulassen! Dem es Vergnügen bereitete, ihn zu verwirren, auf falsche Fährten zu locken! "Ray würde mir niemals etwas antun! NIEMALS! Du dagegen hast uns beinahe absaufen lassen!" Hielt er Azla erbost vor. "Pffff!" Schnaubte Azla abwertend. "IHR wolltet doch mit den großen Hunden pinkeln! Da seht gefälligst zu, dass ihr auch das Bein so hoch heben könnt." Er kehrte Florean den Rücken zu, pickte den Brieföffner auf, beförderte ihn wieder auf seinen angestammten Aufenthaltsort beim Sekretär. "Außerdem seid ihr doch entwischt! Kann dann ja wohl kaum von Bedeutung gewesen sein." "Mon Dieu! Bist du so von der elenden Schatzsuche verblendet?!" Brüllte Florean außer sich. "Kein Wunder, dass du deine Seele an den Teufel verkauft hast, um..." Die unvermittelte Ohrfeige traf Florean heftig, schleuderte ihn herum. Automatisch glitt seine Linke hoch, um die malträtierte Wange zu schützen, während er sein Gleichgewicht suchte. "Wer sucht hier Schätze im Dreck, hm?!" Azla ragte vor ihm auf wie ein schwarzer Berg der Finsternis. "Du verzogener, eitler, eingebildeter Bengel!" Er attackierte Florean, der zu spät auszuweichen versuchte, packte ihn bei den Oberarmen, zerrte ihn zum Bett, auf das er Florean schwungvoll schleuderte. Rasch versuchte der, sich herumzurollen, aufzusetzen, zu einem kompakten Päckchen zusammenzuballen. Azla kam ihm zuvor, drückte ihn herunter, ließ sich auf Floreans Oberschenkeln nieder, konnte mit einer Hand dessen Nacken auf die Matratze pressen. Florean winselte. Er ahnte, was kommen sollte. Es hatte sich eine gewisse Routine entwickelt, die damit begann, dass Azla ihn erst von hinten nahm, langsam und bedächtig. Bevor er in der nächsten Runde die Position wechselte, zwischen seine Schenkel drängte, ihn von Angesicht zu Angesicht penetrierte. Dann war er schnell, treibend, unnachgiebig. Florean umklammerte ihn, hieb die Fingernägel in den breiten Rücken, verschränkte sogar die Füße. Vollkommen erschöpft sank er in sich zusammen, weil das Rauschgift und ihr aufreibendes Treiben Tribut forderten. Heute allerdings hatte er zum ersten Mal "nüchtern" und bei Verstand den forcierten Beischlaf erlebt. Das hatte nichts an seinen Reaktionen geändert. "Bitte!" Flehte er keuchend, tastete mit verdrehten Armen nach oben, um Azla zu berühren. "Bitte...!" "Was ist?!" Der packte ihn grob im Nacken, riss Florean an den Haaren den Kopf ein wenig höher. Von Scham erfüllt schloss Florean die Augen. Er wollte sich nicht der Erniedrigung aussetzen, betteln zu müssen, ja, er wusste nicht mal die rechten Worte zu setzen! "... wund!" Presste er endlich heraus, als die Furcht vor unerträglichen Schmerzen überhandnahm. "Du bist wund?!" Azla schnaubte. "Ach wirklich? Warum sollte mich das kümmern?!" Verächtlich klatschte er Florean mit der flachen Hand auf die nackte Kehrseite. "Du willst mich hinterrücks abstechen und erwartest, dass ich auf deine verweichlichte Konstitution Rücksicht nehme?! Warum, zum Teufel?! Was veranlasst dich bloß zu dieser dämlichen Annahme?!" Florean biss sich auf die Lippen, kniff die Augen zusammen, schluchzte unterdrückt. Azla hatte nicht den geringsten Grund, ihn zu schonen. Trotzdem, wider jede Logik, hoffte Florean auf Nachsicht. Darauf, nicht bloß ein Spielzeug zu sein. "Tsk, ich wette, Ray hat dich immer noch nicht gehabt." Brach Azla das unerfreuliche Schweigen, zerrte erneut Floreans Haupt an den Haaren hoch. "Ist das nicht so?" "Ray würde.." Florean schluckte Tränen. "... würde so etwas nie tun!" "Nein." Beinahe gedankenverloren antwortete Azla. "Wahrscheinlich gelingt es ihm immer noch nicht." Er lachte knapp auf. "Was für eine Ironie! Der große Schatzjäger hat nicht den Mumm, um den wahren Schatz zu heben!" Seine Stimme klang jedoch düster, rau und kehlig, keineswegs nach Triumph. Gänzlich unerwartet erhob er sich, verließ das Bett, trat erneut ans Fenster. Ungläubig wagte Florean zunächst gar nicht, sich nach ihm umzuwenden. Zu ungewöhnlich erschien ihm der plötzliche Stimmungsumschwung. War es vielleicht nur eine Finte? "Deine Naivität und fortgesetzte Ignoranz machen es mir manchmal wirklich schwer, dir nicht einfach den Hals umzudrehen." Versetzte Azla gedankenverloren. "Selbst mit einem Schießeisen bist du zu unfähig, mich zu erledigen. Ich sollte dich erwürgen, um dir diese ewige Schande zu ersparen." Florean setzte sich auf, rieb sich den misshandelten Nacken. Er wusste keine Antwort. Tatsächlich konnte er kaum begreifen, was Azla ihm sagen wollte. "Ich bin eben nicht im Dreck aufgewachsen. Da mangelt es mir notwendigerweise an Erfahrungen mit Geschmeiß." Quittierte er schließlich schnippisch. Trotz des gedämpften Lichts konnte er Azla schmunzeln sehen. Ein bisher nie dagewesener Anblick. "Wirklich?" Säuselte er trügerisch sanft. In dem blauen Auge blitzte es auf. "Dabei sollte man doch meinen, gerade die ausbeuterischen, unfähigen, arbeitsscheuen Adligen seien mit Geschmeiß aller Art vertraut? Wie sonst könnten sie als Parasiten überleben, hm?" Die Lippen zusammengepresst setzte sich Florean auf, vorsichtig, raffte ein Laken um den Leib, wich dem inspizierenden Blick aus. Er wollte ganz sicher nicht vor Azla eingestehen, dass er selbst schon große Ängste hegte, was seine Zukunft betraf. Irgendwann würde Ray ihm ihre Auseinandersetzungen vielleicht nicht mehr nachsehen, sich des lästigen Ballastes entledigen. "Warum..." Er räusperte sich. "Warum hältst du dich mit mir auf? Willst du Ray erneut in eine Falle locken und quälen?" Azla bleckte die Zähne, legte den Kopf ein wenig schief, als studiere er etwas Possierliches. "Eine gute Frage, mon petit chou. Ist Ray immer noch bereit, für dich seine eigenen Interessen zu vernachlässigen? Obwohl du ihm nichts zu bieten hast?" Ärgerlich kletterte Florean aus dem Bett, das Laken würdevoll um die schlanke Figur gewickelt. "Was verstehst du schon davon?! Verrätst den Freund, und für was?! Irgendwelche Schätze, die ohnehin verloren gingen! Für dich wird sich bestimmt niemand uneigennützig einsetzen!" Azla knurrte leise, ein gutturales Geräusch, das Florean die Nackenhaare aufstellte. Es klang tatsächlich wie bei einem bissigen Bluthund. "Nein." Wisperte der weißhaarige Mann grimmig. "Uneigennützig nicht. Aber du wärst überrascht, wie viele Personen sich um mich sorgen." Er lächelte sardonisch. "Ach ja?" Entgegnete Florean schnippisch, wechselte in das Badezimmer, um sich ein Glas mit Wasser einzuschenken. "Das müssen wohl die sein, die du noch nicht ermordet hast, wie? Oh, ich vergaß: bist du mittlerweile unsterblich?" Die letzte Gehässigkeit bezog sich auf das Ergebnis der Suche nach dem Schatz des Templerordens. Azla hatte sich nicht für die verborgenen Reichtümer interessiert, nur für den angeblichen Heiligen Gral. Florean und Ray, die gerade noch mit dem Leben davongekommen waren, konnten zumindest einen großen Edelstein in Sicherheit bringen. Alles andere hatte der großen Bauch des Meeres verschlungen. Finster funkelte ihn Azla an, die weißen Augenbrauen zusammengezogen. Bange, verzweifelt tapfer umklammerte Florean sein Glas, warf sich in eine vorgeblich gelassene Pose, spielte die ganze Arroganz einer dem Untergang geweihten Adelselite aus. Instinktiv wich er zurück, als Azla zum Sekretär trat, den Brieföffner aufnahm, sich ihm näherte. Er erwog, sich in das Badezimmer zu flüchten. Dort wäre er ebenfalls gefangen. Ob die Tür Azlas konzentriertem Zorn standhalten würde, wollte er gar nicht erst erproben. "Stell das Glas ab." Fauchte Azla frostig, baute sich vor ihm auf. Florean musterte ihn abschätzig, von den blanken Füßen bis zum Scheitel, zog eine verächtliche Schnute, blickte zur Seite, während er gelassen die Neige Wasser trank. Innerlich zitterte er wie Espenlaub. Seine ganze Vorstellung war vermutlich für Azla lediglich ein Amüsement! Betont langsam platzierte er das geleerte Glas auf dem Sekretär, strich sich müßig hellblonde Strähnen aus dem Gesicht, eine Pose der kultivierten Langeweile. Für einen Aristokraten seines Geblütes die leichteste Übung, quasi eine angeborene Fähigkeit. Blitzartig, schneller ein ein erstickter Atemzug, packte Azla Floreans Rechte, bog die Finger gewaltsam um den Griff des Brieföffners. Zappelnd bemühte sich Florean, Distanz zu schaffen. Er begriff nicht, was genau Azla bezweckte, hegte aber keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht gefallen würde. Seine Gegenwehr blieb erfolglos. Azla zwang ihn, mit dem Brieföffner eine blutige Schramme über die rechte Handinnenfläche des dunkelhäutigen Mannes zu ziehen. Keuchend zerrte Florean an seinem Handgelenk, formte tonlose Silben des Protests, verstört von dieser Entwicklung. Zu seiner Verblüffung gab Azla seine Rechte frei. Der Brieföffner polterte auf die blank gebohnerten Balken. Azla ging geschmeidig in die Hocke, nahm ihn auf, zog ihn in einer geschmeidigen Bewegung über Floreans abwehrend ausgestreckte Rechte. Sofort füllte sich der Riss im Handballen mit Blut. Ohne Verzögerung packte Azla mit der Linken unnachgiebig Floreans rechtes Handgelenk, presste seine eigene Rechte auf dessen Handfläche, zwängte seine Finger zwischen Floreans. Verängstigt umschloss Florean mit der Linken Azlas Handgelenk, wollte sich irgendwie befreien. Der Geruch von Blut, das an ihren Ellen entlang sickerte, auf den Boden tropfte, verursachte ihm Übelkeit. Er verstand nicht, was Azla in seiner Muttersprache murmelte, ob es ein kehliges Gebet, ein Schwur oder eine Verwünschung war. Als er taumelte, ihm die Knie einbrachen, schlang Azla geistesgegenwärtig den freien Arm um seine Taille, stützte ihn. "Halt dich an mir fest!" Wies er Florean leise an. Heftig schluckend gab der den ausweglosen Kampf auf, legte seinen Arm auf Azlas Rechten, grub die Fingernägel in dessen Schulterblatt. In einem seltsamen Pas de deux dirigierte Azla sie in das Badezimmer, wo er endlich die Handflächen separierte, geübt einen Verband um Floreans Hand wickelte. Bei sich selbst half er mit den Zähnen nach, bis die notwendige Straffheit erreicht war. "Warum?" Florean schluckte, lehnte das zweite Glas Wasser nicht ab. Azla lächelte bitter, bot ihm sein scharfes Profil. "Du musst nicht befürchten, unsterblich zu werden. Auch wenn du jetzt Blut von meinem Blut bist." Gab er bissig zurück. »Also muss das mit der Unsterblichkeit mittels Gral fehlgeschlagen sein.« Schlussfolgerte Florean noch ein wenig betäubt. Nicht, dass er etwas anderes erwartet hatte. "Wenn du jetzt denkst, dass ich mir um dich Sorgen mache..." Begann er, um ihren Streit fortzuführen. Azla packte ihn im Nacken, küsste ihn begehrlich und so ausdauernd, dass Florean röchelnd in sich zusammensackte. Unbeeindruckt ging Azla neben ihm in die Hocke. "Ich gestehe, es wäre wirklich leichter, dich einfach zu erwürgen. Du bist eitel, eingebildet, völlig unfähig, naiv, vertrauensselig und eine zänkische Plage." Wütend, sich über die tränenden Augen wischend, streckte Florean ihm höchst unmanierlich die Zunge raus. Das hatte er von Laila gelernt. Außerdem konnte man zu dieser Geste greifen, wenn man noch um Atem rang. Azla packte blitzschnell zu, quetschte Floreans Zungenspitze zwischen seinen Fingern ein, lächelte dabei boshaft. "Außerdem begreifst du einfach nicht, mit wem du es zu tun hast. Einfach unbelehrbar." Florean protestierte gurgelnd. "Hör jetzt auf mit dem Unsinn." Versetzte Azla ruhig, gab die malträtierte Zungenspitze frei. "Es ist wohl angebracht, dass ich dir begreiflich mache, wie die Dinge stehen." "Und wenn ich darauf nicht den geringsten Wert lege?!" Forderte Florean ihn trotzig heraus, streichelte mit einer Fingerspitze die schmerzende Zunge, rollte und bewegte sie, um sein ganzes Leid zu demonstrieren. Bei Azla hatte er damit keinen Erfolg. Der schob einfach die starken Arme unter seine Achseln und Kniekehlen, hob ihn vom Boden auf, transportierte ihn die wenigen Schritte bis zum eingebauten Bett, kippte ihn dort recht grob ab. Florean protestierte beleidigt. "Grobian! Gefühlloser Klotz!" Im nächsten Moment wurde er auch noch aus dem kunstvoll drapierten Laken ausgewickelt, ganz ohne Rücksicht auf seinen delikaten Zustand! "Für Gefühle kann ich sorgen! Beklage dich aber nicht anschließend, du seist wund!" Beschied ihm Azla kurz angebunden. Erbleicht wich Florean zurück, zog die Beine vor den Körper, wagte keinen Widerspruch mehr. Natürlich gebot ihm sein Stolz, Azla Paroli zu bieten, aber er wollte auf keinen Fall den Bogen überspannen, musste befürchten, dass Azla ebenso gnadenlos mit anderen umging wie mit dem eigenen Körper. "Komm her!" Azla klopfte herrisch auf die Matratze, umschloss Floreans Knöchel, als der sich gegen die Wand presste, zog ungeniert, bis der zappelnde Adlige der Länge nach ausgestreckt lag. Ohne Mühe enterte er das Bett, ließ sich gemächlich, mit einem raubtierhaften Grinsen auf Florean herunter, der nach Luft schnappte. Es war nicht nur Azlas Gewicht, das ihm die Röte in die Wangen trieb. Nein, vor allem der starke Oberschenkel, der sich zwischen seine Beine schob, sein Glied mit Azlas in Kontakt brachte, verursachte ihm Atemnot. Breit grinsend, sehr mit sich zufrieden stützte Azla den Kopf in die unversehrte Handfläche, studierte Floreans Miene, zwischen Furcht und Erregung hin und her gerissen. "Ich hoffe, du wirst mir aufmerksam zuhören." Schnurrte er boshaft, ließ die verbundene Handfläche über Floreans linke Brustwarze gleiten. Der raue Stoff verfehlte die Wirkung nicht. Florean ächzte, wandte eilig den Kopf ab, legte die Rechte trotz der Wunde über seine Augen. Auch wenn es nicht verhinderte, dass Azla ihm jede Gemütsregung ablesen konnte, tröstete doch die Illusion, sich "auflösen" zu können, wenn man nicht mehr den Triumph des Peinigers sah, ein wenig. Den schien diese Flucht nicht anzufechten. Er wisperte vertraulich in Floreans Ohr. "Hat dich Ray nicht gewarnt, nicht mit Fremden mitzugehen? Solltest du nicht auf seinen Cousin warten, hm?" Floreans einzige Reaktion bestand darin, die Lippen zu dünnen Strichen zusammen zu pressen. Er wollte immer noch nicht glauben, dass sich der liebenswürdige 'Monsieur Jaguar' mit dem Blauäugigen Dschinn zusammengetan hatte. Das MUSSTE ein Missverständnis sein! Sanft blies Azla über das errötete Gesicht, lächelte über den dunkleren Farbton, den er damit erzeugte. Er hätte niemals erwartet, dass so ein nutzloser Adelsspross sich nicht auf die Kunst der Verführung verstand, weder kokett noch kapriziös agierte. Florean war tatsächlich ein Unschuldslamm, vertrauensselig, offen und unfähig, seine Erregung zu verbergen. Beängstigend. Nach einem so langen, steinigen, blutigen Weg kümmerte es Azla wenig, ob ihm dieses Risiko das Genick brechen würde. Auf dem Weg zur Hölle, so es sie gab, hätte er wenigstens für eine Weile einen schönen Begleiter. Mehr durfte er gar nicht erwarten. "Es hat dir geschmeichelt, mon petit chou, wie er dich hofiert hat, hm? Oder wolltest du Ray damit eine Lektion erteilen?" Azla gab seiner dunklen Stimme einen amüsierten Klang. Lebhaft konnte er sich vorstellen, wie Ray an den Eigenheiten dieses verwöhnten Adligen verzweifelte. Unter ihm blieb es still. Azla zweifelte nicht, ins Schwarze getroffen zu haben. "Wahrscheinlich ist es auch sinnlos, dir zu sagen, dass du ausgerechnet Hei Bao auf seine Dschunke gefolgt bist, hm?" Er seufzte betont tief. "'Monsieur Jaguar'." Korrigierte Florean erstickt. "Das sagte ich gerade." Schnurrte Azla, hob die Rechte von Floreans Brust, begann, mit dem Daumen dessen Lippen nachzuzeichnen. "Hei Bao bedeutet 'Schwarzer Jaguar'. Der Name sagt dir wohl auch nichts, wie?" Florean schluckte merklich, lockte Azla, ihm über den tanzenden Adamsapfel zu streichen. "Wir haben ein Abkommen." Azla legte den Kopf auf seinem linken Oberarm ab, hielt in seiner Linken Floreans bandagierte Rechte in einer leichten Kurve über dessen Kopf gebogen. "Ich habe Hei Bao einen großen Dienst erwiesen." Azla lachte kalt auf. "Er hat mir den Posten als sein 'Schatten' angeboten. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass er mir ausgerechnet dich als Geschenk verehren würde." Damit bewegte er sich lasziv, um die Reibung ihrer aneinandergeschmiegten Schenkel zu steigern. Den Kopf abrupt wendend stieß Florean, die Amethyst-Augen wütend aufgerissen, empört aus. "Ich lasse mich nicht wie einen Gegenstand verhökern, hörst du?! Niemand hat das Recht..." "Im Gegenteil!" Azla lächelte unter halb gesenkten Lidern hervor. "Jeder glückliche Finder hat alle Rechte über dich. Deine Mutter hat dich an Ray verscherbelt. Wenn du ihm verloren gehst, bist du nicht mehr als herrenloses Gut. Das darf jeder an sich nehmen." "Das~das ist nicht wahr!" Protestierte Florean hitzig, den Tränen nahe, gerade WEIL Azla den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Der unterzog sich nicht einmal der Mühe des Widerspruchs, studierte lediglich die gequälte Miene neben sich. Hastig drehte Florean daraufhin den Kopf zur anderen Seite. "Jetzt gehörst du mir!" Stellte Azla fest, bewegte sich, als suche er eine bequemere Position, einzig zu dem Zweck, Florean noch stärker zu reizen. Er stützte sich auf seinen linken Ellenbogen hoch, packte mit der verbundenen Rechten Floreans malmenden Kiefer, zwang ihm Blickkontakt auf. "Kein anderer Mann wird dich jemals wieder besitzen. Nur ich allein." Sein blaues Auge funkelte unnachgiebig und drohend auf Florean herab. Ein anderer hätte vielleicht erwogen, für diese Gemeinheit dem ungehobelten, niederträchtigen Entführer ins Gesicht zu spucken. Diese Option bestand für Florean nicht. Vielmehr durchlief ihn ein unkontrolliertes Zittern. Er kannte diesen Blick. Mit der gleichen rücksichtslosen Entschlossenheit hatte Azla auch die französische Sektion der "Schwarzen Hand" hingerichtet. Verhandlungen, Bittgesuche, Drohungen, nichts konnte Azlas Entschluss zum Wanken bringen. "Was~was willst du bloß von mir?" Würgte Florean erstickt hervor. In Azlas Gesicht zuckte ein Nerv. Er lächelte abwesend, so beängstigend und irisierend irre, dass Florean fürchtete, Azla habe den Verstand verloren. Azla antwortete ihm nicht. Stattdessen senkte er den Kopf über Florean, küsste ihn. ~+~ Tag 5 Der Blick aus dem Fenster bot eine unerfreulich graue Dunstschicht, die über dem Meer lag. Deshalb machte die Dschunke auch keine bemerkenswerte Fahrt. Es gelang, sie auf dem richtigen Kurs zu halten. Die Crew lauschte konzentriert, ob sich andere Schiffe annäherten. Positionslampen halfen hier nicht viel. Unterdessen fand Florean langsam aus einem tiefen Schlaf in die Realität zurück. Blinzelnd ordnete er ein, was sich über und neben ihm bot. Das zerwühlte Bett gehörte ihm allein. Azla stand wie schon in der Nacht am Fenster, unbekleidet, in voller Glorie seiner zahlreichen Narben. Florean kämmte sich die zerrauften Haare, bemerkte den Verband an seiner rechten Hand, der noch immer treu seines Amtes waltete. Vage erinnerte er sich daran, wie er inmitten schier endloser Küsse weggedämmert war, von Azlas Körperwärme verführt. Der ihn tatsächlich verschont hatte! "Guten Morgen." Murmelte er leise, warf einen nervösen Blick auf den weißhaarigen Mann. Möglicherweise beabsichtigte Azla, sich an ihm schadlos zu halten, da ein neuer Tag angebrochen war? "Vor allem ist er grau!" Knurrte Azla, wischte sich durch die schweren Strähnen, wandte sich Florean zu. Der wickelte sich zögerlich ein Laken um die Schultern . "Wohin fahren wir denn?" Erkundigte er sich hastig, schluckte trocken. "Triest." Entgegnete Azla, gab seinen Posten auf, durchquerte den Raum. Bange beobachtete Florean, wie der Beduine sich auf das Bett setzte, die Beine untergeschlagen. "Komm!" Seine auffordernde Geste ließ keine Zweifel übrig: er verlangte, dass Florean sich auf seine Schenkel platzierte. Sie trugen ein schweigendes Blickduell aus, bis Florean sich ergab, die Augen rieb. Er wusste, dass Azla keine Mühe haben würde, ihm seinen Willen aufzuzwingen. Leider, zu seiner unendlichen Beschämung, erregte ihn die lasziv-hungrige Geste, mit der Azlas Zunge über die Oberlippe glitt! Ungelenk kroch er zu Azla, musste sogar dessen Assistenz in Anspruch nehmen, bis er hautnah vor ihm mit ebenfalls gekreuzten Beinen auf dessen sehnigen Oberschenkeln Platz genommen hatte. "Lass sehen, wie geschickt deine Linke ist, kleiner Prinz!" Schnurrte der Blauäugige Dschinn herausfordernd. Ungeübt und linkisch bemühte sich Florean, Azlas Glied zu bestreichen. Es wollte ihm nicht recht gelingen. Ängstlich suchte er in dem blauen Auge, ob ihm Prügel drohten, wenn er nicht bald Erfolg hatte. Azla unterdrückte ein Lachen. Florean sackte der Kiefer herunter. Wie konnte dieser Unmensch über ihn spotten?! Hätte er ihm nicht die Rechte zerschnitten, wäre...! Azlas Linke hatte keine Mühe, Floreans zaghafte Erektion zu umschließen, die empfindliche Eichel mit dem rauen Daumen zu liebkosen. Deshalb entfuhr Florean kein geharnischter Vorwurf über Azlas Verworfenheit, sondern ein heiseres Stöhnen aus tiefster Seele. "Gib dir mehr Mühe!" Wies Azla ihn zurecht. Es zuckte noch immer verdächtig in dessen Mundwinkeln. Allmählich stieg in Florean der Verdacht auf, dass Azla ihn hauptsächlich für sich beanspruchte, um sich über ihn zu amüsieren. "Du gemeiner Schuft!" Fauchte er indigniert, schnellte vor, um Azla in die Nase zu beißen. Der wich der Attacke reaktionsschnell aus, grinste triumphierend in Floreans wütende Miene. "Vergiss es, mon petit chou! Du bist mir nicht gewachsen." Neckte er ihn. Um sich zu rächen, ballte Florean seine Linke, hoffte, er würde Azla so wenigstens an empfindlicher Stelle zu verstehen geben, wie er dessen Überlegenheit beurteilte. Azla verzog keine Miene. Dafür beugte er sich vor, flüsterte in Floreans Ohr. "Noch ein Mal, und ich finde raus, wie wund du werden kannst." Hastig gab Florean daraufhin die Erektion frei, zog seine gescholtene Linke zurück. Sie maßen sich erneut mit Blicken, Florean nervös, Azla prüfend. Azla dirigierte wortlos Floreans Arme um seinen Nacken, bevor er beide Erektionen in seiner Linken zusammenführte. Florean stöhnte leise, verbarg das Gesicht unter Azlas weißer Mähne in dessen Halsbeuge. ~+~ Etwa eine Stunde später brachte ein Mannschaftsmitglied, nicht mehr livriert, eine Mahlzeit. Gleichzeitig blockierte er das Fenster, kontrollierte schweigend, dass sich keine losen Gegenstände in der Suite befanden. Azla und Florean hatten bereits bemerkt, dass der Seegang sich erheblich gesteigert hatte. Die Dschunke rollte. Der Wind heulte zwischen den Segeln wie ein gepeinigtes Tier. Nur mit einer spärlichen Öllampe beleuchtet, voll bekleidet, gestattete Azla, dass der totenbleiche, mechanisch Gebete murmelnde Florean sich an ihm festklammerte, in seinen Armen Schutz suchte. Er selbst sprach Obst und mariniertem Fisch zu. So ein kleiner Sturm konnte ihn wirklich nicht erschüttern. ~+~ "Ich begreife das nicht!" Michel Raoul wedelte empört mit der Nachricht, die ihm in der Hafenmeisterei überreicht worden war. Laila schnappte sie ihm ärgerlich aus den elegant behandschuhten Händen, überflog mit zusammengezogenen Brauen die wenigen Worte. In höflichem Französisch wurde ihnen eröffnet, dass Monsieur Florean de Rochefort sich entschlossen hatte, ein neues Leben zu beginnen. Man möge nicht mehr mit ihm rechnen. Sie erschrak, als sie den Stempelabdruck auf dem Büttenpapier erkannte: eine stilisierte Raubkatze, neben der sich rechts in einer Spalte zwei kunstvoll-fremdartige Schriftzeichen befanden. "Hei Bao." Murmelte sie tonlos, ließ blass den Arm sinken. "Laila, meine Liebe?" Besorgt fasste Michel Raoul ihre freie Hand, barg sie beunruhigt zwischen seinen. "Meine Liebe, ist Ihnen nicht wohl? Bitte, setzen Sie sich doch!" Da Laila ganz gewiss nicht zu den koketten Manierismen der Damen seiner Gesellschaftsschicht neigte, Ohnmachtsanfälle aus taktischen Gründen für "verdammt erbärmlich" hielt, wie sie sich auszudrücken pflegte, erschütterte ihre Reaktion ihn sehr. Geistesabwesend ließ sie sich tatsächlich von ihm aus dem Trubel um die Hafenmeisterei führen, auf einer Mole platzieren. Ungeachtet des äußeren Eindrucks arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren, erwog und verwarf Alternativen. "Was hat das alles zu bedeuten?" Michel Raoul rieb noch immer ihre Hand, als könnte sie frieren. "Ich begreife wirklich nicht...!" Bevor er mit seiner affektiert-exaltierten Art unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie ziehen konnte, schnellte Laila hoch, so rasch es die lästigen Kleider zuließen, legte die eilig entzogene Hand auf dessen Mund. "Kein Wort!" Michel Raoul blinzelte, deutete an, sich wortreich entschuldigen zu wollen. Deshalb umklammerte sie sein linkes Handgelenk, zerrte ihn rücksichtslos zum provisorischen Landesteg. "Rasch jetzt, keine dummen Fragen!" Herrschte sie ihn an, erstickte Widerspruch im Keim. "Wir müssen sofort auf die Astarte zurück!" "Ich begreife wirklich nicht..." Lamentierte Michel Raoul, allerdings sehr gedämpft. "Wenn du nicht mit aufgeschlitzter Kehle im Wasser treibend enden willst, hältst du jetzt deinen Schnabel und tust, was ich dir sage!" Fauchte Laila ihn bitterböse an. Michel Raoul beugte sich ihrem stählernen Willen artig. Wenn sie ihn aus ihren schwarzen Augen so aufgebracht anblitzte, fühlte er sich so lebendig wie nie. Er musste nur noch einen Weg finden, sie zu überzeugen, dass sie es als seine Gattin gut treffen würde! ~+~ Zuerst waren sie ihm auf dem Tempelberg aufgefallen. Ray nagte an seiner Unterlippe, tupfte sich unauffällig Schweiß vom Nacken. Er neigte nicht zur Paranoia, aber seine Instinkte schlugen so laut Alarm, dass er nicht riskieren konnte, sie zu ignorieren. »Mir bleibt keine Wahl!« Dachte er, als er sie vor seinem Hotel herumlungern sah. Zumindest diese beiden. Er wagte nicht zu spekulieren, wie viele unsichtbare, da gut getarnte Agenten Pinkerton ausgesandt hatte, um seiner habhaft zu werden. ~+~ Der Sturm ließ nach, machte sich gemächlich davon, als habe er lediglich erproben wollen, welche Kräfte ihm zu Gebote standen. Florean lag halb auf Azlas Schoß, den Kopf an dessen muskulösen Bauch gepresst. Sterbenselend fühlte er sich, die Welt wollte einfach nicht stillstehen! Oben und unten blieb variabel! Er hätte heulen mögen vor Wut über seine Schwäche, wäre er nicht damit befasst gewesen, sich mit der Linken verzweifelt den Mund zu versiegeln. Azla hatte einfach eine wärmende Decke über ihn geschlungen, stoisch abgewartet, wie lange es noch dauern würde, bis Triest in Sicht kam. Wenn man nichts ändern konnte, bei Stürmen, ob Wasser oder Wüstensand waren die Aussichten darauf sehr begrenzt, suchte man sich eben einen sicheren Fleck, harrte aus. "Wieso wird dir nicht übel?!" Beklagte sich Florean trotzig, von der Ungerechtigkeit des Schicksals empört. Das blaue Auge funkelte. Es zuckte verdächtig in einem Mundwinkel. Kein Zweifel, dieser teuflische Dschinn amüsierte sich über ihn!! Ärgerlich stemmte sich Florean hoch, vergaß dabei die lädierte Rechte, konnte gerade noch ein Winseln unterdrücken. "Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich KANN dich NICHT ausstehen!" Stippte er mit der Linken gegen Azlas stählerne Brustpartie, funkelte mit rotstichigen Augen. Vor Zorn schnaufte er sogar, die Backen aufgebläht, ein Bild der Entrüstung. Azla grinste. Breit. Für einen Moment konnte man vergessen, dass hier ein Narben gezeichneter, unnachgiebiger und kühl kalkulierender Mann in den Zwanzigern saß, dessen Kerbholz keinen einzigen freien Millimeter aufwies. Es ließ erahnen, wie ein wirklich hübscher Beduinenjunge ausgesehen hatte, der in Fez als Waise überlebte. Florean zog die blonden Augenbrauen zusammen, studierte gedankenverloren die fremd-vertrauten Gesichtszüge. Was war geschehen, um aus Rays bestem Freund einen eiskalten Mörder und skrupellosen Verbrecher zu machen? Seinem Gegenüber entging der Stimmungswandel selbstredend nicht. Florean konnte man wie gewohnt jeden Gedanken vom Gesicht ablesen. Abrupt schob Azla ihn von sich, kam geschmeidig in die Höhe, verließ das Bett. "Wage nicht, die Kabine zu verlassen!" Fauchte er drohend, verschwand. Florean erhob sich langsam, tastete sich wacklig zum Fenster, bemühte sich im Schein der Öllampe, die zum Schutz heruntergelassenen Fensterladen aufzustoßen und zu befestigen. Trügerisch einladend glitzerte das Meer. Der Himmel tupfte sich mit Schäfchenwolken. Eine launige Brise verfing sich in den Segeln. Es schien, als sei der Sturm nicht mehr als eine Fata Morgana gewesen. Als könne nichts hier dieses herrlich blaue Wässerchen trüben. Florean atmete tief ein, fühlte, wie sich einige Verspannungen und Verkrampfungen lösten. An Nahrungsaufnahme war zwar noch nicht zu denken, doch es ging ihm bereits bedeutend besser. »Was nun?« Fragte er sich versonnen. Es bestand kein Zweifel, dass er Azla nicht entwischen konnte. Ohne Legitimation, ohne Mittel und allein mit der Kenntnis seiner Muttersprache konnte er sich nicht durchschlagen. Folglich musste er sich drein schicken. Oder? Wäre Ray bereit, ihm zu helfen? Noch einmal gegen Azla anzutreten? »Hei Bao!« Erinnerte ihn die selten beachtete Stimme seiner Vernunft. »Vergiss nicht, dass es nicht Azla allein ist, gegen den du dich stellen würdest!« Wäre es tatsächlich so furchtbar, an Azlas Seite zu sein? »Abgesehen davon, dass das nicht zwangsläufig eine größere Zeitspanne betrifft. Zugegeben, zähe ist er schon, aber bei so vielen Gegnern genügt bloß ein glücklicher...!« Erneut mischte seine innere Stimme mit. "Sei still!" Zischte Florean sich selbst an, ballte die Fäuste. Was er sogleich bedauerte. Wenn auch nicht sehr. Ja, er fürchtete Azla, da gab es kein Vertun. Manchmal raubte ihm das den Atem, erschütterte die letzten Reserven der Selbstachtung und beschämte ihn zutiefst. Nach all den Abenteuern und Reisen mit Ray, all den unterschiedlichen Menschen, denen er in ihrem Verlauf begegnet war, konnte er niemanden nennen, der ihn gleichzeitig erschüttert, erregt, herausgefordert und über jede Grenze getrieben hatte. Was das etwa Liebe? Oder nichts weiter als verwerfliche, schändliche Lust, animalischer Trieb, eines vernunftbegabten Menschen unwürdig? Florean schloss die Fenster wieder, wandte sich dem Badezimmer zu, überprüfte seinen äußerlichen Eindruck im Spiegel. Hier allein zu sein, in der Kabine, erstickte ihn plötzlich. Er konnte nicht anders. Auch wenn sein Pulsschlag in den Ohren trommelte, öffnete er sehr gefasst die Kabinentür, trat hinaus. ~+~ "Wirklich, Laila, meine Liebe, ich weiß nicht..." Michel Raoul wrang hilflos die Hände. Sogar die wilden Locken seiner aparten Frisur, sorgsam frisiert, ringelten sich unverschämt derangiert in seine Stirn. "Ach, Papperlapapp!" Laila wischte seine ratlosen Bemühungen kurz angebunden beiseite. Wieso waren manche Männer bloß so unbeholfen?! In einer wüsten Mischung aus Argot und Arabisch setzte sie Michel Raouls Mannschaft lautstark darüber in Kenntnis, dass es keinen Landurlaub geben würde. Im Gegenteil, sofort müsse der Anker gelichtet werden. Wer damit ein Problem habe, solle besser gleich über Bord gehen! Da käme er nämlich Hei Bao zuvor! Dieser Name wirkte wie ein Zauberbann: bleichen Gesichts spritzten die bis dahin unwillig-trotzigen Männer auseinander, um die schnittige Segelyacht in Blitzesschnelle aufzutakeln. Michel Raoul staunte fassungslos, warf Laila einen anbetend-bewundernden Blick zu. »Ein Rasseweib!« Purrte er kehlig, wiederholte damit eine der Lieblingsaussagen seines Onkels mütterlicherseits, Schwarzes Schaf und notorischer Schürzenjäger. Laila, die Hände in die zierlichen Hüften gestützt, warf Michel Raoul einen ungeduldigen Blick zu. Hastig eilte er heran. Offenkundig bot sich eine Möglichkeit, diese mirakulöse Entwicklung erklärt zu bekommen. "Ich gestehe, ich bin beeindruckt! Auch wenn ich kaum etwas verstanden habe." Er strahlte sein schönstes Lächeln. "Wundert mich gar nicht." Brummte Laila aufgeräumt, zerrte Michel Raoul weg, ohne Rücksicht auf dessen feinen Cutaway. Sie setzte ihm in ihrem originellen Französisch auseinander, was die Gerüchteküche über den geheimnisvollen Hei Bao kolportierte. Einige Augenblicke später tupfte sich Michel Raoul fahl mit einem Spitzentaschentuch die bleiche Stirn ab, wünschte verzweifelt, die Sonne ginge schon unter, damit er sich etwas Nervenstärkendes einflößen könnte. Laila vertrödelte keine Zeit, sondern suchte nach Briefpapier in Michel Raouls Sekretär, steuerte anschließend die Kombüse an, um sich die härteste Kartoffel aushändigen zu lassen. Sie hatte von Ray das Lesen und Schreiben gelernt. Hier galt es, sehr viel raffinierter vorzugehen. Klug genug, damit Ray die Warnung richtig verstand, jedoch niemand sonst Verdacht schöpfte. ~+~ Azla presste die Lippen zusammen, als er die leichten, unsicheren Schritte spürte. Man konnte sie kaum hören. Das unmerkliche Echo der Planken auf die veränderte Belastung verriet ihm alles, was er wissen wusste. In Armeslänge Abstand lehnte sich Florean an die Reling, spähte hinaus, ob sich schon die Küstenlinie zeigte. Scheinbar gelassen schlenderte Azla heran, beugte sich beiläufig vor und zischte. "Nur ein kleiner Stoß genügt..." "Ich kann schwimmen." Antwortete Florean, bot Azla das Profil, stützte sich sogar mit den Ellenbogen auf. "Ist ein elender Tod, das Ersaufen." Kommentierte Azla boshaft. "Wirklich?" Florean wischte sich abwesend durch die hellblonden Strähnen, schaute unverwandt auf das Wasser. "Was wäre denn zu empfehlen?" "Tun, was ich dir gesagt habe!" Zischte Azla. Ihm war nicht entgangen, dass die Mannschaft den für sie exotisch aussehenden, jungen Mann heimlich beäugte. "Ist durchaus möglich." Gab sich Florean nach einem langen Augenblick generös. "Andererseits endet das Leben ohnehin mit dem Tod. Lässt sich nicht vermeiden." Azla schwieg. Glaubte dieser verzogene Balg etwa, er könne ihn provozieren?! Lächerlich! Geduldig wartete er, bis die wachsende Unruhe Floreans vorgegaukelten Langmut überwand, der einen hastigen Seitenblick riskierte. Ein durchdringender Blick genügte. Florean senkte den Kopf, biss sich auf die Lippen, merkliches Anzeichen seiner Nervosität. Azla lehnte sich vertraulich vor, ohne ihn zu berühren. "Ich sollte dich jetzt einfach 'runterschleifen und so lange begatten, bis du nur noch ein Stück blutiges, rohes Fleisch bist." Trotz der ins Gesicht wehenden, blonden Strähnen erkannte er, wie Florean totenbleich wurde, zu zittern begann. "Jetzt wirst du sofort in unsere Kabine zurückkehren und darum beten, dass sich meine Laune gehoben hat, bis ich dir folge." Wisperte er frostig. Mit einem heftigen Schniefer warf Florean den Kopf in den Nacken, funkelte Azla verzweifelt und aufbegehrend an, bevor er auf den Absatz kehrtmachte, wie von Dämonen gehetzt das Oberdeck verließ. Azla wandte sich wieder dem Meer zu, ignorierte seine auffliegenden, schweren Strähnen. "Es wäre so einfach..." Murmelte er leise in seiner Muttersprache. Dieses zerbrechliche Genick zu brechen. Mit einem Kissen den letzten Odem zu ersticken. Eine schlanke Klinge zwischen die Rippen zu stoßen. Dieser unverschämte, rebellische, von Emotionen getriebene Franzosenbastard war seiner Gnade vollkommen ausgeliefert. Zu seiner Beunruhigung machte ihm diese Tatsache Angst. ~+~ Laila dirigierte die Mannschaft der Astarte, sich zunächst von Jaffa zu entfernen, einen Bogen in südliche Richtung zu schlagen und vor Aschkelon zu ankern. Mit dem Beiboot und ein paar Männern der Besatzung ruderte sie zum vernachlässigten Hafen der antiken Stadt. Gegen eine großzügige Entlohnung versprach ein junger Mann, die Strecke bis nach Jaffa auf einem Maultier zu bewältigen, um dort in der Hafenmeisterei an der Nachrichtenbörse eine Botschaft zu befestigen. Wer sie nicht zu lesen verstand, der konnte nichts damit anfangen. In sich gekehrt, finsteren Blicks erreichte Laila mit ihrer Begleitung die Astarte. "Waren Sie erfolgreich, liebe Laila?" Ganz Charmeur konnte Michel Raoul nicht davon Abstand nehmen, ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Handrücken zu küssen. Obwohl das wirklich kein guter Ton war. "Mehr kann ich nicht tun." Seufzte sie, für ihn ungewohnt niedergeschlagen. "Ah..." Bemerkte Michel Raoul verunsichert und unbeholfen. "...und Monsieur Florean...?" Laila schüttelte stumm den Kopf. Diesen Kampf konnten sie nicht gewinnen. ~+~ Tag 6 Florean wartete am Fenster, unruhig und aufgebracht. Zugegeben, er hatte GEWUSST, wie Azla auf seinen Ungehorsam reagieren würde, dennoch konnte er nicht anders. »Ich KANN mich nicht einfach ergeben!« Konstatierte er vor sich selbst. Nicht mal, wenn es vernünftig war. Irgendein versprengter Rest an trotzigem Stolz trieb ihn an, beharrte darauf, dass er sich wenigstens zu behaupten versuchen musste. Selbst bei Ray hatte er nicht einfach aufgesteckt! »Denken wir doch mal gründlich nach!« Erklang dessen geduldige Stimme plötzlich in seinem Ohr. Florean hatte bis zur Begegnung mit dem geheimnisvollen Gentleman-Dieb Noir den Gebrauch seiner kleinen grauen Zellen darauf beschränkt, unangenehmen Verpflichtungen möglichst kreativ aus dem Weg zu gehen. Deshalb fühlte er sich durchaus ignorant, wenn Ray ihm ohne große Mühe die verwickeltsten Intrigen und Verflechtungen auseinandersetzte. Das berühmte "cui bono?" aufwarf, um ihn darauf zu stoßen, wer mit welchen Interessen agierte. "Was wird hier gespielt? Wer profitiert davon?" Fragte er sich selbst laut. Durch die ständige Gesellschaft von Azla (und die damit verbundenen "Betätigungen") hatte er es sträflich vernachlässigt, sich über seine Situation Gedanken zu machen, stattdessen kindlich gehofft, es würde sich mal wieder ein Retter einfinden. "Wobei mir nicht mal bekannt ist, ob Ray mich überhaupt schon vermisst." Diskutierte er halblaut mit sich selbst. Vermutlich wähnte der Freund ihn froh und munter in der lebenslustigen Gesellschaft seines notorischen Cousins. "Da darf ich wohl kaum auf Hilfe rechnen." Entschied Florean grimmig. Ihm wurde bewusst, dass Azla geschickt seine Fragen zum Warum umgangen hatte. Angenommen, es traf wirklich zu, dass Azla mit dem ominösen Hei Bao eine Absprache getroffen hatte, für ihn zu arbeiten... Aus welchem Grund hatte Hei Bao einen verschollen geglaubten Adligen auf seine Dschunke gelotst? Ging es erneut um einen unwiderstehlichen Köder für Ray? Zu welchem Zweck sollte Ray wohl einbezogen werden? Nach dem zu urteilen, was 'Monsieur Jaguar' aka Hei Bao geladen hatte, bestanden keine Gemeinsamkeiten zu Rays üblichen Interessen. Der bevorzugte Edelmetalle und -steine, Schatzkarten und alte Dokumente. Der Tempelschatz! Konnte es sein, dass Hei Bao ebenfalls auf die angeblich versteckten Talente an Gold und Silber hoffte, einen der Schrift und Sprache kundigen Assistenten benötigte? Wenn Rays Annahmen zutrafen, würde sich der Tempelschatz irgendwo im Landesinneren befinden. Da wäre eine Dschunke hinderlich! Von der Ladung ganz zu schweigen! Oder sollte Ray den Tempelschatz finden, damit die Geisel freikaufen, wenn die Handelsreise der Dschunke sie wieder hierher führte? "Das ergibt alles keinen Sinn!" Beklagte sich Florean ärgerlich, zog eine finstere Miene. Langsam entwickelte er eine profunde und ernsthafte Abneigung gegen vermeintliche Schätze, angefangen mit dem "Familienschatz" im Versteck in Paris über das verlorene Templervermögen bis zum potentiell noch vorhandenen Tempelschatz. Soweit es ihn betraf, erntete man lediglich Narben und anderen Ungemach! Als sich die Kabinentür öffnete, brodelte die Wut über diese unverständliche, absurde, rücksichtslose Gier nach untergegangenen Schätzen so heftig in ihm, dass er Azla anfauchte. "Ich werde mich bestimmt nicht an dieser vermaledeiten Schatzsuche beteiligen! Das ist absolut lächerlich!" Er stemmte die Hände auf die schmalen Hüften, die Wangen attraktiv gerötet. "Ich bin zweifelsohne nicht in Erwerbstätigkeiten erfahren!" Deklamierte er enragiert. "Aber es MUSS doch einsichtig sein, dass man kein Vermögen mit irgendwelchen Buddeleien erwirbt! Im Gegenteil!" Er holte zu einer raumgreifenden Geste aus. "Es kostet ein Vermögen, irgendwelche alten Säulen, Plastiken und Reliefe freizulegen! Wenn ich Ray spreche, werde ich ihm in ALLER gebotenen Deutlichkeit zu verstehen geben, dass ich NICHT gewillt bin, als Druckmittel für derlei Unsinn herzuhalten!" Azla lehnte, die Arme vor der Brust gekreuzt, an der Kabinentür. Er studierte Florean, der leicht außer Atem von seiner geharnischten Ansprache noch immer in Pose stand. Ganz empörte Würde über das absurde Verlangen gewisser Schatzsucher! "Fin." Bemerkte Azla aufgeräumt. "Jetzt sorge ich dafür, dass du entsprechend meinen Anweisungen handelst." Blitzartig erinnerte sich Florean an seine Provokation zuvor. Ebenso eilig wich er zum offenen Fenster zurück. "Willst du springen?" Erkundigte sich Azla ungerührt, streifte den leichten Umhang ab, löste den Tuchgürtel, in dem er unter anderem den geschmückten Dolch trug. Von anderen, versteckten Waffen ganz abgesehen. Florean nagte aufgewühlt an seiner Unterlippe. Was tun?! Körperlich übertraf Azla ihn mühelos, also hieß es, Argumente zu finden und überzeugend vorzutragen! "Warum tust du das?" Sprudelte hastig aus ihm heraus. "Du hast es Ray doch schon gezeigt, damals..." Florean schluckte. "Empfindest du kein anderes Vergnügen, als mich zu quälen?" "Oh, ICH quäle dich also?" Schnarrte Azla kehlig, die Augenbrauen zusammengezogen, baute sich vor Florean auf. "Das müssen ja furchtbare Torturen sein, wenn du dich an mich klammerst, immer wieder meinen Namen stöhnst!" "Tue ich gar nicht!" Platzte es auf Florean heraus, bevor er schamrot zur Seite blickte. "Dumm wie Bohnenstroh." Stellte Azla kaum hörbar fest, attackierte den unvorbereiteten Florean, drehte ihm ohne Mühe einen Arm auf den Rücken. Als der sich zappelnd zur Wehr setzen wollte, galt es lediglich, den Winkel zu verändern, um Florean vor Schmerz wimmernd in die Knie zu zwingen. Azla ließ ein wenig Raum, damit Florean wieder auf die Beine kommen konnte, rückte dann an ihn heran. Er zischte zwischen ärgerlich verkeilten Zähnen. "Du bist nichts als ein weißer, knackiger Junge unter lauter Männern auf einem großen Schiff mit vielen, dunklen Ecken. Sie alle wissen, dass es du es gewohnt bist, von hinten genommen zu werden." Azla fauchte mühsam beherrscht. "Was denkst du wohl, was mit dir geschieht, wenn ich nicht in Reichweite bin, hm?!" Mit der freien Hand stippte er gezielt zwischen Floreans Pobacken, der einen verängstigten Schrei ausstieß. "Du dummer, verzogener Bengel hast KEINE Ahnung, was dir blühen kann. Anschließend kippen sie dich einfach ins Meer, wie Abfall. Glaub bloß nicht, dass irgendwer sich dafür großartig interessiert." Raunte er heiser. Nach einigen hastigen Herzschlägen, die von Floreans Schniefen ausgefüllt wurden, stieß Azla ihn heftig von sich. Florean stolperte, ging in die Knie, kauerte sich zitternd zusammen, massierte sein malträtiertes Schultergelenk behutsam. Azla funkelte auf ihn herunter, eiskalt und verächtlich. "Du warst, bist und bleibst Spielzeug, kleiner Franzosenbastard. Wenn einem das nicht mehr gefällt, wirft man es weg." Mit einem abschätzigen Zungenschnalzen wandte er sich ab, unternahm Anstalten, die geräumige Kabine wieder zu verlassen. Ungelenk, von Panik angetrieben kam Florean auf die Beine, stolperte hastig, taumelnd vor. Doch zu Azlas Verblüffung, der sich halb herumdrehte, eine wütende Attacke erwartete, schmiegte sich Florean bloß an seinen Rücken, umklammerte ihn heftig. Der Blauäugige Dschinn hatte Erfahrung damit, dass man sich ihm zu Füßen warf, ihn anflehte oder verfluchte, versuchte, seine Hände oder Füße zu küssen. Ganz zu schweigen von gewalttätigen Übergriffen. Diese kindliche Geste der Verzweiflung traf ihn unvorbereitet. Selbstverständlich hätte man es als kalkulierten Appell verstehen können, eine gespielte Affektion, um weiterhin seinen Schutz zu erhalten. Dagegen sprach Floreans Unfähigkeit, sich zu verstellen. Er hörte die hastigen, erstickten Atemzüge, das abgewürgte Schluchzen, spürte das Beben des schlanken Leibs hautnah. »Dieser verwünschte Kerl!« Fluchte Azla innerlich. Er WOLLTE sich nicht manipulieren lassen, nicht erweicht werden von Gefühlsausbrüchen! Es stand ihm nicht an, sich um diesen unverständigen, lebensuntüchtigen Bengel zu kümmern! Solche Anwandlungen hatte er hinter sich gelassen. In der Kasbah von Fez. Dennoch legte er seine bandagierte Rechte auf die zitternde Rechte Floreans, atmete tief durch. ~+~ Während ein junger Mann auf einem Muli frohgemut ohne sonderliche Eile die Reise nach Jaffa absolvierte, die ihn zu einem vermögenden Mann machte, wurde in der Hafenmeisterei auf dem Nachrichtenbord eine kartonierte Botschaft angeschlagen. Sie trug das Siegel Hei Baos, bestand in der Vorankündigung, wann man in Port Said eintreffen würde. Mochten die übrigen Nachrichten, zumeist auf Fetzen billigen Papiers hingekritzelt, wenig rücksichtsvoll behandelt werden, diese Botschaft blieb unbehelligt. Sie hatte einen erstaunlich großen, freien Rahmen um sich herum auf dem überquellenden Nachrichtenbord. ~+~ Die Nacht senkte sich über das Meer. Die Dschunke flog pfeilschnell dahin. Die Winde standen sehr günstig. Man würde morgen ungehindert Triest anlaufen können. Nach ihrer Auseinandersetzung hatten Florean und Azla geschwiegen, einander stumm Gesellschaft geleistet. Azla studierte die Gazetten im Licht der Öllampe, während Florean sich in einen niedrigen, tiefen Sessel mit robusten Polstern kauerte, nachdachte. Er glaubte Azla, dass seine körperliche Unversehrtheit von dessen Auftreten abhing. JEDER hatte schließlich Angst vor Azla. Es war ihm allerdings nicht in den Sinn gekommen, dass diese schweigsamen, kleinen Exoten, Malaien und Filipinos, ihm gefährlich werden konnten. Er hatte sie bisher lediglich als Bedienstete, Seeleute angesehen. Florean wurde sich darüber bewusst, dass er ganz automatisch in den Dünkel seiner adligen Herkunft verfallen war. Der alle "braunen Wilden" als bedauerlich zurückgebliebene Wesen betrachtete, die noch nicht die fortgeschrittene Entwicklungsstufe erreicht hatten, deshalb der Belehrung und Erziehung bedurften. Es schien unvorstellbar, ihnen eine besondere Bedeutung zuzumessen, sie als eine potentielle Bedrohung einzustufen. Natürlich konnte es sich auch so verhalten, dass sie zwar neugierig waren, aber kein sexuelles Interesse an ihm hegten. Es genügte jedoch schon, sich vorzustellen, mit wie vielen dieser Männer er auf dem Schiff eingeschlossen war. Ohne sie zu verstehen, ihre Sprache zu sprechen, ihre Beweggründe zu erkennen. Florean überkam Heimweh. Weniger nach einem bestimmten Ort als nach dem Gefühl der Sicherheit. Nach einem langweiligen, geruhsamen Leben. Dieser Traum war verloren. Er krächzte, räusperte sich heiser. "Wie soll es weitergehen? Was hast du vor?" Azla warf ihm einen langen, prüfenden Blick zu. "Ich habe eine Vereinbarung mit Hei Bao." Antwortete er bedächtig. "Das heißt, ich werde sein Schatten sein. Immer da, wo er sich selbst aufhält. Das wird wohl sein Schiff sein." Florean seufzte leise. "Selbstverständlich. Es MUSS ja ein Schiff sein!" Diese Ironie des Schicksals konnte er nicht ohne einen bitteren Ton beklagen. "Bin ich in diese Vereinbarung einbezogen, oder...?" Setzte er seinen Sondierungsfeldzug fort. "Solange seine Geschenke nicht meine Arbeit behindern, besteht für ihn kein Anlass zur Einmischung." Azla faltete die Zeitungen akkurat zusammen. Die versteckte Drohung entging Florean nicht. "Ich werde versuchen, nicht mehr unangenehm aufzufallen. Noch möchte ich nicht sterben." Murmelte er leise. Azla erkannte überrascht, dass es ihm nach all den Jahren in der Hölle erstaunlicherweise genauso ging. ~+~ Der grelle Schrei riss Florean aus Albträumen, in denen gesichtslose, kleine Männer ihn verfolgten in einem hölzernen Labyrinth mit niedrigen Decken und bedrohlichen Schattenwürfen. Er klappte hoch, rang nach Luft, wusste nicht, wo er sich befand. Azlas Arm schlang sich um seine Schultern. Die Finger zerknitterten das Nachthemd. "Ganz ruhig. Es ist bloß dieses verdammte Vieh." Brummte der dunkelhäutige Mann neben ihm. Florean presste die Hand auf seine Brust, um sein Herz daran zu hindern, geradewegs zu zerspringen. Erneut erklang dieser unheimliche, beinahe menschliche Schrei. Hastig riss Florean die Hände hoch, presste sie sich auf die Ohren. Schon der Schlaf hatte ihn gebeutelt, da tat dieser Höllenspuk ein Übriges, ihn in ein Nervenbündel zu verwandeln! "Es ist nur ein Tier. Versuch wieder zu schlafen." Sprach Azla beruhigend auf ihn ein. Nervös machte Florean sich frei, raffte das völlig verdrehte Nachthemd, Beweis für seinen unruhigen Halbschlaf, glitt aus dem eingebauten Bett. Er drehte den Docht so hoch, dass die Kabine taghell erleuchtet wurde. Jetzt erst spürte er, wie sich langsam die angstvolle Starre aus seinen Gliedern verabschiedete. Azla hatte seinem Treiben wort- und ausdruckslos zugesehen, ein Bein lässig aufgestützt. Auf Florean wirkte diese Pose souverän, selbstsicher und ein bisschen überheblich. So, als könne diesen Mann niemals ein Albtraum plagen. Deshalb kehrte er Azla brüsk den Rücken zu, huschte auf nackten Sohlen zum Fenster, öffnete es, damit die kühle Nachtluft ihn erfrischen konnte. Er spürte die profunde Müdigkeit in seinen Knochen, sehnte sich nach tiefem, erholsamen Schlaf. Noch immer geisterten vage Schemen seiner erdrückenden Sorgen in seinem Kopf herum. Er fürchtete, dass sie nur darauf lauerten, erneut aus ihren finsteren Verstecken zu hervorzukommen, wenn er es wagte, die Augen schloss. Lautlos und geschmeidig pirschte Azla sich heran, stellte sich hinter Florean, fädelte die Arme unter dessen vor der Brust gekreuzte. "Ich bringe dich auf andere Gedanken, da schläfst du wie ein Stein." Schnurrte er kehlig. Eigentlich hatte er mit harschem, verlegenen Protest gerechnet, einem Ausweichmanöver, wie es der Verhaltenskodex bei Verführungen vorsah. Florean jedoch drehte sich in der Umarmung, verkroch sich an Azlas Brust, flüsterte heiser. "Du versprichst es, nicht wahr?" Azla verzichtete auf eine verbale Antwort, immerhin war die Frage mehrdeutig gestellt. Im Augenblick wollte er sich ausschließlich darauf besinnen, seiner Lust auf Florean zu frönen. Geübt dirigierte er ihn durch den Raum, reduzierte die Leuchtkraft der Lampe deutlich, bettete Florean auf die zerwühlten Laken. »Zuerst küssen. Dann sehen wir weiter.« Entschied sich Azla. Er wusste genau, wie er Florean zum Zerschmelzen bringen konnte. ~+~ Der Morgen war längst angebrochen, als Florean die Augen aufschlug. Er lag nackt unter den Laken, fühlte sich, während er sich genüsslich räkelte, mehr als ein wenig sündig. Die Erinnerung an ihr aufreibendes, andauerndes, ekstatisches Liebesspiel zauberte eine gesunde Farbe in seine Wangen, entlockte ihm ein genießerisches Stöhnen. Mochte Azla in anderen Dingen rücksichtslos und brutal sein, in der körperlichen Liebe dosierte er die Einsprengsel von unnachgiebiger Härte streng und schlafwandlerisch geschickt. Sein Durchhaltevermögen war beeindruckend, ebenso die Selbstbeherrschung. Florean konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand so variantenreich und atemberaubend küsste wie der Blauäugige Dschinn. Wenn sie "verbunden" waren... Eilig steckte er den Kopf unter ein arg gebeuteltes Kissen, quietschte gedämpft. Eine Schande und Schmach, es einzugestehen. Sich selbst wollte er nicht länger etwas vorgaukeln: es gefiel ihm, mit Azla eins zu werden, sich vollkommen fallen zu lassen, alle Gedanken an Haltung, männliche Ehre, hochfahrenden Stolz und Autarkie zu verbannen. Florean jedenfalls fühlte sich nicht verantwortlich dafür, wie sehr es ihn nach diesem Austausch verlangte. Alle Verantwortung in diesen Momenten lastete auf Azla. Der hatte sich ja selbst in diese Lage gebracht und bisher auch nicht geklagt! Bevor er ersticken konnte, kroch Florean unter den Laken und Kissen heraus. Es wäre, entschied er, in Anbetracht ihres unausgesprochenen Friedens besser, wenn er rasch herausfand, ob sie schon in Kürze Triest erreichen würden. Deshalb streifte er sich das von Azla verschmähte Nachthemd über, durchquerte die Kabine, spähte aus dem Fenster. Man konnte deutlich die Küstenlinie sehen. Das besagte noch nicht viel, immerhin befuhren sie die Adria. Sie waren durchaus nicht allein. Florean entschied sich für eine Katzenwäsche, wandte sich dem Inhalt unter der Wärmehaube zu, die auf einem Tablett neben Obst und einer dick eingepackten Teekanne ausharrte. Der Duft von gebratenen Spiegeleiern und erhitzten Backwaren stieg ihm in die Nase. Er seufzte hingerissen. Da er sich bereits die unerhörte Dekadenz des lüsternen Nacktschlafens gegönnt hatte, fand er nichts dabei, sich ganz unschicklich im Nachthemd niederzusetzen, mit steigender Laune zu frühstücken. Nach dem üppigen Mahl spielte Florean, immer noch unartig gesinnt, mit einem feinen Dessertlöffel, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, erwog seine Optionen. Wenn Azla tatsächlich seiner Aufgabe als 'Schatten' in Triest gerecht werden musste, bedeutete das wohl für ihn selbst, dass er in dieser Zeit unter Deck in der Kabine zu bleiben hatte. Für einen wahnwitzigen Augenblick fragte sich Florean, ob er nicht die Gelegenheit nutzen könnte, sich an Land zu stehlen, Ray eine Nachricht zu übermitteln. Er befände sich auf dem Boden der KuK-Monarchie Österreich-Ungarn! Rasch verwarf er diese Option als unsinnig und sogar gefährlich. Ohne entsprechende Mittel und in Unkenntnis der Sprachen würde er als Ausländer ohnehin verdächtig sein. Verlangte nur eine Person, seine Legitimation zu sehen, konnte er sich gleich im Gefängnis melden. Die politische Lage war instabil genug, dass man überall verdächtige Aufrührer und Attentäter vermutete. Außerdem, wie sollte er eine Botschaft weiterleiten, ohne irgendwelche Mittel? "Vielleicht per Flaschenpost." Brummte er über die eigenen versponnenen Einfälle. So ein Unterfangen konnte nur zum Scheitern verurteilt sein. Als Resultat stand zu befürchten, dass Azla extrem ungehalten reagieren würde. Was ihm widerstrebte. Dieses Eingeständnis brachte ihn in Verlegenheit. War er gegenüber Azla nachsichtig, weil sich keine Alternative bot, wenn er überleben wollte? Oder entsprach es tatsächlich seinem innersten Empfinden? Wie konnte er alles hinter sich lassen, was zuvor geschehen war? Unschlüssig nagte er an einem Daumen, konnte nicht einmal die Entscheidung fällen, sich anzukleiden. Welchen Sinn hatte es auch, sich in einen Cutaway zu werfen, wenn man nicht über mehr Bewegungsraum als die Kabine verfügte? Lautlos betrat Azla diese, überraschte Florean, der gedankenverloren nicht mit einer zeitigen Rückkehr gerechnet hatte. "Reichlich nachlässig. Immer noch nicht dem Lotterbett entstiegen?" Kommentierte der dunkelhäutige Mann provozierend. "Ich wüsste keinen Grund, warum ich mich überhaupt der Mühe unterziehen sollte." Florean posierte betont gelangweilt, studierte mit halb gesenkten Lidern seine Fingernägel ob der Notwendigkeit einer Politur. "Verständlich. Es steht dir gut zu Gesicht, deiner naturgemäßen Bestimmung zu folgen." Erwiderte Azla gelassen. Florean sprang so abrupt auf, dass das Teegeschirr auf dem Tisch tanzte. "Was soll das bedeuten?!" Fauchte er Azla an, stellte sich ihm in den Weg. "Willst du damit sagen, dass ich nur...?!" Hilflos brach er ab. Wie sollte man das formulieren, was Azla so süffisant angedeutet hatte? Ohne sich des Jargons von Hinterhöfen und Absteigen zu bedienen? Azla grinste, unverblümt. "HRMPF!" Florean klappte den Unterkiefer geräuschvoll hoch, machte auf den nackten Sohlen kehrt, marschierte hocherhobenen Hauptes zum Bett. Wie konnte dieser intrigante, unverschämte Ganove es wagen, ihn aufzuziehen zum eigenen Amüsement?! Wie überaus ärgerlich, dass er auch noch darauf hereingefallen, ihm eine Erwiderung ins Gesicht geschleudert hatte! Zumindest den Anfang einer zweifellos gepfefferten Replik... Wenn ihn an der Vollendung nicht seine Erziehung als Gentleman gehindert hätte! Hinter ihm streifte sich Azla mühelos sein knielanges Gewand über den Kopf, ließ den Tuchgürtel zu Boden sinken. Er erwischte Florean, bevor der mit gerafftem Nachthemd wieder trotzig in das zerwühlte Bett klettern konnte, schlang die Arme einfach unter dessen Achseln hindurch, fand mit der Rechten Floreans Glied, während die Linke jeden Protest versiegelte. An den schlanken Franzosen gepresst ließ er Florean nicht in Unkenntnis darüber, wie bereit er war, dessen "Naturtalent" zu huldigen. Stöhnend wand sich Florean, rieb unwillkürlich mit der Kehrseite über Azlas Unterleib, fädelte unbewusst den Saum des Nachthemds noch höher. Azla gab Florean lang genug frei, dass er ihn zu sich drehen, aufs Bett drücken und mit intensiven Küssen aufreizen konnte. Während seine Rechte, des lästigen Verbands seit dem Morgen ledig, gekonnt ihres Handwerks frönte. Er lächelte in einen leidenschaftlichen Kuss hinein, als sich Floreans nacktes Bein um seinen Oberschenkel wand. Dieser goldene Unschuldsengel wusste vermutlich nicht mal, wie lasziv und verlangend er sich verhielt! Das bedeutete keineswegs einen Grund zur Klage. Azla vereinigte ihre deutlich angeschwollenen und glühenden Erektionen in seiner Rechten, erwiderte die sehnsüchtig-drängenden Küsse ebenso engagiert. Er erhob keinen Einwand gegen Floreans Hände, die unruhig über seine Oberarme, die Schulterblätter, durch seine Haare und über sein Gesicht strichen. Er wollte, dass Florean sich vollkommen gehen ließ. Sich ihm rückhaltlos anvertraute. ~+~ Auf dem Rücken liegend, erneut splitterfasernackt, betrachtete Florean blinzelnd den um eine halbe Stunde älteren Morgen. Azla, der sich neben ihn auf die Bettkante gesetzt hatte, um mit einem feuchten Tuch die Spuren ihres gemeinschaftlichen Ergusses abzuwischen, erhob sich, betrat das Badezimmer. Florean, mit der Etikette in diesen Situationen durchaus nicht vertraut, fragte sich, ob alle Männer so umsichtig waren, nach dem Koitus für Reinlichkeit zu sorgen. Oder wurde erwartet, dass man(n) selbst die notwendigen Handgriffe tat? Wenn das zuträfe, so müsste man Azlas Verhalten als fürsorglich einordnen? Der bewaffnete sich gerade wieder, legte sich den knöchellangen Mantel um die Schultern. Er justierte sein Kopftuch zu einem Turban, der auch über das Gesicht gewickelt wurde, um lediglich die lederne Augenklappe und sein linkes Auge frei zu lassen. Anstelle eines eher folkloristisch wirkenden Krummschwerts ergänzte Azla seine "sichtbare" Bewaffnung mit einer zusammengerollten Peitsche. "Bleib hier, während ich an Land bin. Ich habe dir Lektüre mitgebracht, damit du dich nicht langweilst." Erklärte er geschäftig, bereit zum Gehen. Er hatte nicht die Absicht, Florean vorzuwarnen, dass er ihn einschließen würde. "Azla!" Florean stand hinter ihm, in Armeslänge Entfernung, nackt und ein wenig verlegen. Bevor ihn sein Mut gänzlich im Stich lassen konnte, hielt er auf Azla zu, stemmte sich auf die Zehen, legte die Fingerspitzen um dessen Gesicht. Durch den feinen, eng gewebten Baumwollstoff des Tuchs küsste er Azla auf den Mund. Mit gesenktem, hochroten Kopf zog er sich anschließend zurück. Zu ergründen, was seine verwirrten Gefühle ihm eingegeben hatten, ob es sich um eine Mahnung, einen Glücksbringer oder Ausdruck seiner Sehnsucht handelte, dazu war keine Zeit. Azla verließ wortlos die Kabine, verschloss sie hinter sich. Während er auf das Oberdeck glitt, geräuschlos und geschmeidig wie ein Raubtier, fragte er sich nicht zum ersten Mal, ob er sehenden Auges in sein Verhängnis ging. Weil er nach all den Jahren in der Hölle ganz gegen jede Erfahrung diesen unnützen Franzosenbengel beschützen wollte. ~+~ Ray konnte die Zeichen der Zeit lesen, lange schon, bevor sie als Menetekel an der Wand aufleuchteten. Irgendjemand hatte Pinkerton auf seine Spur gesetzt. Zwar hatte er sich im Osmanischen Reich nichts zuschulden kommen lassen, aber das bedeutete gar nichts, wenn Männer mit Einfluss und Geld sich rächen wollten für seine Dreistigkeit, sie bestohlen und düpiert zu haben. Zähneknirschend musste er also seine Schatzsuche einstellen, seine verschlüsselten Notizen und Habseligkeiten im Überseekoffer verstauen und verschwinden. Es gab diverse Wege nach Jerusalem, durchaus, aber Ray, der hinauswollte, entschied sich für einen der schnelleren: den Zug. Durch den Einsatz von Bestechungsgeld konnte er sich einen Platz in der ersten Klasse sichern, trat als Europäer auf, wobei er vorgab, aus der KuK-Monarchie zu stammen. Nicht unwahrscheinlich, seine vergleichsweise helle Hautfarbe, die smaragdgrünen Augen und die schwarzen Haare, widerstrebend mit teurer Pomade geglättet, konnte man nicht unbedingt einer eindeutigen Volksgruppe zuordnen. Während er angespannt mit einer Pilgerbibel bewaffnet Richtung Jaffa ratterte, hoffte, es möge nicht zu den üblichen Unterbrechungen kommen, behielt er sämtliche Passagiere im Auge, die ihm verdächtig erschienen. Wohin sollte er sich wenden? Auf Michel Raoul warten? Der musste ja auf dem Weg zurück nach Tanger sein. Vermutlich. Widerwillig gab Ray der Möglichkeit Raum, dass sein lebenslustiger Cousin sich auch irgendwo anders im Mittelmeer herumtreiben konnte. Besondere Verpflichtungen als sein eigener Müßiggang beschäftigten Michel Raoul wohl kaum. Mit dem Schiff musste er fort. Untertauchen? Sich verstecken? Frankreich schied aus, Italien war ihm zu klein, die KuK-Monarchie von inneren Zerwürfnissen gefährdet. Also in ein Protektorat? Ray drückte die Fingerkuppen so fest in das dünne Papier der Bibel, dass die Seiten hörbar knirschten. Wenn er nicht rasch herausfand, wer exakt hinter dieser Verschwörung steckte, bestand die Gefahr, dass er nicht richtig reagierte. Das konnte sehr unangenehm werden. ~+~ Tag 7 Florean sah auf, als der Schlüssel in der Tür gedreht wurde. Als Azla eintrat, atmete er vernehmlich aus. Der weißhaarige Mann warf ihm einen prüfenden Blick zu, schloss die Tür hinter sich, noch immer vollständig verschleiert. Florean lächelte befreit, klappte das antike Bestiarium zu, das Azla ihm als Lektüre offeriert hatte. Die Ausgabe stammte, wie ihr besonderer Einband verriet, aus der Bibliothek von Hei Bao, der seine kostbaren Besitztümer in eigens angefertigte Lederhäute zum Schutz vor Seewasser einnähte. Er war sich des kritischen Blicks durchaus bewusst, als er aufstand. Er trug nicht etwa seine eigene Bekleidung, sondern ein langes Gewand von Azla, darunter eine schmal geschnittene Hose, die er ungeschickt in der Taille befestigt hatte. "Ist alles gut verlaufen?" Erkundigte er sich, hielt auf Azla zu, der ihn noch immer schweigend musterte. Das verunsicherte Florean. Sein Lächeln zitterte. In den Amethyst-Augen flackerte Nervosität. Wahrscheinlich zweifelte Azla seine Motive an. Die er im Übrigen noch nicht einmal zu erfahren gewünscht hatte! Florean bereute bereits, seiner impulsiven Eingebung gefolgt zu sein. Bedächtig löste Azla das lange Kopftuch, schüttelte den Mantel ab, entledigte sich seiner Bewaffnung, zog mit einem Arm gebieterisch Florean an sich heran. Der kam ihm erleichtert auf halbem Weg entgegen, schlang die Arme um seinen Nacken, küsste ihn hingebungsvoll. Sie hielten sich im Arm, ein wenig unschlüssig darüber, wie sie Worte finden sollten, die nicht sofort den nächsten Waffengang einläuteten. Schließlich wagte sich Azla zuerst aus der Deckung des Schweigens, raunte in Floreans Ohr. "Wir werden beide lernen müssen, uns die Zeit auf dem Schiff zu vertreiben." Ihm graute durchaus davor, Monate eingesperrt zu sein, ohne die Weite der Wüste, die Labyrinthe der Städte. Die Möglichkeit, sich rasch von einem Ort zum anderen zu bewegen. "Wohin fahren wir denn?" Erkundigte sich Florean, schmiegte die Wange vertraulich an Azlas Schulter. Der kraulte den zerbrechlichen Nacken unter den hellblonden Haaren. Eine Liebkosung, die er Florean üblicherweise nur angedeihen ließ, wenn der bereits in einen leichten Halbschlaf gefallen war. "Weniger als eine Weltreise wird es wohl nicht werden." Murmelte er endlich. "Oh. Wie nett." Kommentierte Florean hilflos. Er sah sich schon Monaten zwischen Seekrankheit, Skorbut und Schiffbruch ausgeliefert. "Ich nehme an, wir haben keine Wahl?" Tastete er sich tapfer auf trügerischen Grund vor, riskierte vorsichtig einen Blick auf Azlas Gesicht. Dessen Miene gefror, eine gefühllose Maske. Die Arme, die ihn sicher umfangen hatten, verwandelten sich in eiserne Bande. "Ich verstehe." Antwortete Florean leise. Er war sich nicht sicher, ob er jemals den Mut aufbringen würde sich zu erkundigen, warum Azla sich mit Hei Bao verbündet hatte, wie es zu dieser Vereinbarung gekommen war. ~+~ Ray starrte auf das Nachrichtenbord in der Hafenmeisterei in Jaffa. Fünf Stunden Zugfahrt, ein rasches Ablenkungsmanöver, um unterzutauchen, sich in Windeseile in einen typischen osmanischen Händler zu verwandeln. Seine Unruhe war nach diesem gelungenen Coup gewichen, hatte sich in Zuversicht verwandelt. Sie zerstob gerade, machte einer lähmenden Panik Platz. Lailas Nachricht an ihn war simpel gehalten: die Hand der Fatima auf scheinbar willkürlich Sepia gefärbtem Papier, das Auge wie ein Amethyst. Anhand der stilisierten Strahlen konnte Ray ablesen, dass Laila mit Michel Raoul nach Tanger fliehen wollte. Das verriet ihm der geschickt gefärbte Teil, der die Küstenlinie skizzierte. Die Finger waren ornamental geschmückt. Mit den griechischen Symbolen für "Gata", Katze! Ray musste sich über diese kryptische Botschaft keine weiteren Gedanken machen. Der Anschlag von Hei Bao inmitten des vollgestopften Nachrichtenbords verriet ihm, was Laila angedeutet hatte. Aus irgendeinem Grund hatte der geheimnisvolle, zu fürchtende Hei Bao Florean entführt. Zähneknirschend erkundigte Ray sich nach Möglichkeiten, Port Said zu erreichen. Tatsächlich fand er ein kleineres Schiff, das in Kürze in See stechen wollte, noch mehr zahlungskräftige Passagiere beförderte, darunter jedoch kaum Europäer. Nachdem seine Überfahrt vereinbart worden war, suchte Ray sich eine der kleineren Gaststuben aus. Dort konnten die Männer ganze Tage verbringen, Gebetsketten in der einen Hand, vor sich dampfende Getränke. Ray entschied sich für stark gesüßten Pfefferminztee, wie er ihn aus seiner verlorenen Kindheit kannte, während er eilig Nachrichten verfasste. Er siegelte sie mit einem vorausschauend entwendeten Signet, das zur Beförderung als Britischer Diplomatenpost legitimierte. »Nun stehe ich wirklich am Scheideweg!« Stellte er stumm und grimmig fest. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht erklären, warum der legendäre Hei Bao, Gegenstand der Flüsterpropaganda, sich für ihn interessierte. ~+~ Azla entschied, dass sie etwas für ihre Kondition tun mussten, wollten sie die langen Seereisen einigermaßen anständig überstehen. Außerdem sorgte er sich durchaus, dass Florean in Schwierigkeiten geraten konnte, ohne seinen massiven Beistand in Reichweite. Immerhin galt er als Hei Baos 'Schatten'. Er gestattete Florean, eine seiner eigenen Hosen zu tragen, begann damit, den hellblonden Mann in Abwehrpositionen bei Attacken einzuweisen. Dabei stellte sich zu Floreans großer Scham recht schnell heraus, dass es mit dessen Kondition nicht gerade zum Besten stand. Deshalb schloss Azla Kräftigungs- und Dehnübungen an. Mit dem Einsatz von kleinen Bällen erprobte er Aufmerksamkeit, Beobachtungs- und Reaktionsvermögen seines erschöpften Schülers. Florean war durchaus willig, bemühte sich, seinem "Lehrmeister" zu folgen. Bald überkam ihn ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Wie sollte er aufholen, was Azla scheinbar im Schlaf beherrschte, über Jahre hinweg perfektioniert hatte?! Azla redete nicht, sondern arbeitete mit Demonstration und Kontakt, erwartete, dass Florean genau verfolgte, was wo wie geschah. Für seinen Eleven erstaunlich bewies der dunkelhäutige Mann Geduld und Langmut. Er ließ Florean erst vollkommen erledigt ausruhen, als jede der Übungen erfolgreich absolviert war. Keuchend lag Florean auf den polierten Bohlen, die Augen geschlossen, von Schweiß überströmt. Seine Muskeln zitterten noch immer von der Anstrengung, ganz ohne seinen Willen. Azla nahm ein Handtuch, rollte es zusammen, beugte sich über Florean, hob mit einer Hand dessen Kopf behutsam an, um die Handtuchrolle unter dessen Hinterkopf zu schieben. Die Wimpern verklebt blinzelte Florean hoch, spürte das Streichen der langen, harten Strähnen. Er ließ es geschehen, dass Azla ihn entkleidete, umsichtig und sanft. Der dunkelhäutige Mann schob sich zwischen seine Beine. Florean stöhnte leise, begehrlich, verlangend, als Azla in ihn eindrang, seine Bewegungen den hektischen, heftigen Atemstößen anpasste. Erhitzt, noch geschmeidig von den Übungen umschlang Florean Azla, suchte dessen Lippen, küsste ihn gierig. Vertraut miteinander kamen sie beinahe gleichzeitig, in einem eruptiven, heftigen Akt. Azla richtete sich auf, hob sich Florean auf die gekreuzten Beine, wiegte ihn sanft in seinen Armen, bis der auch wieder ruhig atmete. Florean hob die Hände, legte sie um Azlas Gesicht, studierte dessen ruhige Miene versonnen. Er lächelte vorsichtig, verteilte federleichte Küsse auf die karamellfarbene Haut, liebkoste die ungestalte Narbe an der rechten Augenhöhle. Azla kraulte ihm den Nacken wie einem possierlichen Tier, flüsterte schließlich. "Was nun, kleiner Prinz?" Dessen Fingerspitzen glitten vorsichtig über die ausgeprägten Züge. Seine Blicke wanderten von Azlas bezwingend blauem Auge zu dessen Lippen, hin und her. "Ich bleibe bei dir." Antwortete er leise. Ein verschämtes Grinsen huschte über seine entspannte Miene. "Dass ich dich nicht ausstehen kann, das war gelogen." Der Blauäugige Dschinn feixte. "DAS wusste ich. So, wie du meinen Namen ständig gestöhnt hast." "Unfein!" Quittierte Florean errötend diese ungenierte Anspielung, kniff Azla in die Nase. "Hättest du etwa einen anderen Namen vorgezogen?!" Nun funkelte Azla kriegerisch. "WAG' ES JA NICHT!" Florean grinste spitzbübisch, schnurrte. "Du willst wohl auch, dass ich bei dir bleibe, wie?" Azla antwortete ihm nicht. Er küsste ihn so leidenschaftlich, dass Florean noch lange in seinen Armen zitterte. ~+~ Ray wartete ungeduldig und besorgt in Port Said. Wann endlich traf Hei Bao mit seiner Dschunke ein?! Er hoffte, dass Michel Raoul Laila davon abhielt, zu ihm zu kommen. Ihre Wege mussten sich hier trennen. Er wollte nicht riskieren, sie auch noch in Gefahr zu bringen. »Heirate ihn, Laila, er braucht jemanden, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht!« Sandte Ray seinen inständigen Gedanken aus. Für eine großzügige Mitgift hatte er gesorgt. Was nutzten ihm seine Mittel, wenn er Hei Bao und Pinkerton gegen sich wusste? »Außerdem gibt es nicht oft Disziplinarprobleme auf See.« Ergänzte er zynisch. »Das Meer ist groß, tief und sehr verschwiegen.« Irgendwie musste es ihm gelingen, Florean vor diesem Schicksal zu bewahren. Vielleicht konnte er einen Handel vereinbaren, seinen französischen "Schatz" retten. Wenn dieser verwünschte Hei Bao endlich eintraf! ~+~ "Du bleibst in der Kabine." Entschied Azla, funkelte Florean an, von dem nicht mal die Augen zu sehen waren, da er seine Brille mit den getönten Gläsern trug. Azla hatte ihm zum Schutz gegen die Witterung ebenfalls ein Tuch um den Kopf gebunden. Außerdem, auch wenn er das nicht ausführte, wollte er verhindern, dass gierige Augen seinen Gefährten anstieren konnten. "Wäre es nicht besser, Ray sieht, dass es mir gut geht?" Wagte Florean Protest. Er genoss es, in Azlas Begleitung auf dem Oberdeck der Dschunke frische Luft zu schnappen, flanieren zu können. "Hei Bao wünscht es anders. Wir sind nicht in einer Position, Ansprüche zu stellen." Azla fasste Florean am Oberarm. "Wird Ray mit mir erpresst?" Florean folgte zwar, war aber noch nicht bereit, sich in sein Schicksal zu fügen. Azla zögerte. Da er Florean voran ging, gab es nicht die geringste Möglichkeit, seiner sichtbaren Mimik einen Hinweis zu entnehmen. "Ich weiß es nicht." Gab er schließlich konziliant zurück, gestattete, dass sich Floreans Hand in seine schob, als er an den Stiegen dessen Arm freigab. Hei Baos Anweisung an seinen 'Schatten' lautete, sich in der Nähe verfügbar zu halten. Im Hintergrund, unsichtbar und schweigend. ~+~ Ray schlang sich die beiden ledernen Taschen gekreuzt um den Oberkörper, klemmte den Zipfel seines Kopftuchs ein, um das Gesicht zu schützen. Wasser wurde in den Schleusenhafen gedrückt, stank erbärmlich. Die Pinkertons hatte er für einige Stunden abgeschüttelt. Zumindest die, die deutlich zu erkennen waren. An einen Zufall wollte Ray nicht glauben. Hei Bao hatte die Pinkertons auf seine Fährte gehetzt, trieb sein Wild in die Falle. »Als würde mir Florean nicht bereits genügen!« Zürnte Ray grimmig, trat zu einigen exotisch wirkenden Männern. "Sie sind Noir?" Erkundigte sich einer der Crew mit einem undefinierbaren Akzent, musterte ihn kritisch. Ray war auf der Hut. Diesen Männern konnte man ansehen, dass sie erfahrene Seeleute und eine verschworene Gemeinschaft waren. "Ich bin der Mann, nach dem Hei Bao geschickt hat." Antwortete er vorsichtig auf Französisch. Noch eine weitere Gemeinheit dieses Hei Bao! Ihm nonchalant demonstrieren zu lassen, wie überzeugt er war, ihn in seiner gesamten Verfügungsgewalt zu haben. Grimmig und stumm bestieg er das Beiboot, ließ sich befördern. Zwischen den Segelschiffen und Dampfern lag wie ein Fremdkörper die Dschunke. Rays Herz begann gegen seinen Entschluss zu rasen. Er musste sich zwingen, nicht die feuchten Handflächen an seinem Übergewand abzustreifen. Wollte Hei Bao sich an ihm rächen? Ihn verkaufen an seine Feinde? Ohne Zögern stieg er die Strickleiter hoch, seine schweren Taschen auf den Rücken geschoben. Ein exotischer Mann in einem Livree verneigte sich knapp vor ihm, geleitete ihn hinunter ins erste Deck zu den Kabinen. Höflich klopfte er an die Kabinentür, bevor er sie öffnete, Ray mit einer Geste zum Eintreten aufforderte. Ray blieb, durchaus verblüfft, direkt hinter der Kabinentür stehen, die sich sanft hinter ihm schloss. Dieses Arbeitszimmer mit Bücherregalen und Arbeitstisch, Dekorativem und Notwendigen hätte in ein vornehmes Landhaus gepasst, wirkte in dieser Dschunke jedoch außergewöhnlich. Langsam legte Ray seine Taschen ab, bewegte sich tiefer in den Raum hinein. »Eine Suite.« Erkannte er, unterdrückte die Versuchung, an den eingebauten Regalwänden entlang zu streifen, Buchrücken zu studieren. Erst als er den Arbeitstisch erreichte, neugierig den Blick über die dort sorgsam ausgebreiteten Dokumente schweifen ließ, registrierte er, dass jemand hinter ihm stand. Aufgeschreckt wirbelte er herum, einen verborgenen Dolch in der Rechten. Vor ihm, völlig unbeeindruckt, stand ein mittelgroßer Mann undefinierbaren Alters mit einem hüftlangen, pechschwarzen Zopf. Und dem faszinierendsten Paar Augen, die Ray jemals erblickt hatte. Er rang nach Luft, durch den Schreck aufgeputscht, umklammerte seinen Dolch. "Hei Bao, nehme ich an?!" Knurrte er heiser, hoffte, wenigstens ein kleines Bisschen souverän zu wirken. Hei Bao lächelte, begrüßte Ray in einem sanften Arabisch. Mit blumigen Ausdrücken, so, als sei man sehr vertraut miteinander und habe sich endlich, nach schier endlosen Zeitspannen, wiedergesehen. "Florean." Ray schob das Kinn vor, ignorierte die Geste, sich in einem der ledernen Fauteuils niederzulassen. "Ich bin deshalb hier." Hei Bao musterte ihn gelassen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schmunzelte. "Tatsächlich? Ich habe angenommen, Monsieur Noir, Sie seien hier, um weitere Konfrontationen mit Pinkertons zu vermeiden. Oder auch der Surete." Er lächelte freundlich, während Ray hinter seinem Tuch erbleichte. "Sie sind ein sehr gefragter Mann, Ray Balzac de Courande." Gelassen spazierte Hei Bao zu einem Fauteuil, sank graziös nieder, legte ein Bein über das andere, stützte die Ellenbogen auf die gepolsterten Lehnen. Seine Hände bildeten ein schlankes Dreieck vor seinen amüsiert geschwungen Lippen. Ray stand vor ihm, zwar maskiert und bewaffnet, aber ebenso hilflos wie bange. "Bitte." Hei Bao nickte mit dem Kinn. "Setzen Sie sich, mein Freund. Es ist doch so ungemütlich, wenn man steht." Langsam nahm Ray Platz, steckte den Dolch weg. Er löste den Zipfel des Tuchs, um sein Gesicht zu entblößen. Was für einen Sinn hatte es zu hasardieren, wenn sämtliche Karten, die ihm zur Verfügung standen, bereits aufgedeckt waren? Er starrte in die ungleichen Augen, die sich ihm nicht offenbarten. »Dieser Mann wird mir nichts enthüllen, was er mich nicht zu wissen wünscht.« Erkannte er, seufzte lautlos, sackte ein wenig in sich zusammen. "Was verlangen Sie?" "Ah! Verzeihung, mein Lieber!" Hei Bao nickte heiter, schnippte kurz mit den Fingern. In einer Ray unverständlichen Sprache formulierte er einen Satz. Ein dienstbarer Geist materialisierte sich aus dem Nichts, um Tee zu servieren. Ray lupfte die zierliche Teetasse, eindeutig chinesischer Herkunft, das Porzellan so dünn, dass die Farbe des Tees durch die Struktur schimmerte. Er nippte vorsichtig, zwang seinen Puls, sich endlich wieder zu beruhigen. Seine Lage war schließlich aussichtslos. Folglich hinderte ihn Panik am Denken! Nachdem der Diener sich wieder entfernt hatte, wartete er einen Augenblick, bevor er seine Frage wiederholte. "Was verlangen Sie von mir?" Hei Bao hielt seine Teetasse mit den Fingerspitzen beider Hände, beobachtete Ray durch den sich sanft kräuselnden, aufsteigenden Dampf. "Sie haben keine Vermutung?" Erkundigte er sich höflich, wechselte übergangslos ins Französische. Ray schwieg. Warum sollte er seine Blamage auch noch aussprechen? Sein Gegen Über lächelte wie der legendäre Sphinx, stellte behutsam die Porzellantasse ab. "Sagen Sie mir, wen glauben Sie, dass Sie vor sich haben?" Er entblößte perfekte, perlweiße Zähne. Das war, Ray hörte es genau, keine Drohung, offen oder versteckt, sondern eine höfliche Bekundung von Neugierde. Möglicherweise. Dieses Mal seufzte er laut. Dieses Geplänkel, das das Unvermeidliche bloß hinauszögerte, ermüdete ihn plötzlich profund. "Mir ist bekannt, dass Sie mächtig sind. Verbindungen überall haben, entscheidenden Einfluss ausüben können." Brummte er ärgerlich. "Deshalb befinde ich mich ja wohl in Ihrer UNABWEISBAREN Obhut, nicht wahr?" Hei Baos Mundwinkel zuckten amüsiert. "Es ist Ihnen GANZ UND GAR kein Vergnügen, korrekt?" Ergänzte er samtpfotig. Ray grimassierte säuerlich. "Kommen wir doch lieber gleich zum Geschäft: was soll ich tun, damit Sie diese lästigen Bluthunde zurückpfeifen?" Er spürte den prüfenden Blick. So intensiv, als schäle Hei Bao ihm sämtliche Kleider vom Leib, begutachte ihn wie ein Rossbeschauer. Errötend und beleidigt sprang er aus dem Fauteuil, funkelte auf den Exoten herab, fauchte in der Sprache seines Vaters. "Spar dir diese anzüglichen Blicke, Gangster! Feine Manieren und all dieser teure Tand hier können Gossendreck nicht übertünchen!" Hei Bao zuckte nicht mal mit der Wimper. Verstand er die Sprache der Berber also nicht? Ehe Ray noch Möglichkeiten erwägen konnte, die aus dieser Vermutung erwachsen konnten, federte der Exot blitzartig hoch, verpasste ihm einen solchen Schlag in die Magengrube, dass Ray mit einem erstickten Wehlaut zusammengekrümmt vor dem Fauteuil auf den aufwendigen Knüpfteppich sackte. "Das ist sehr unbesonnen." Plauderte Hei Bao leichthin, während er sich über Ray beugte, den Dolch entfernte, das Kopftuch abwickelte, mit einem ungenierten Ruck Rays Obergewand zerriss. "Wenn du doch zu wissen glaubst, was ich bin, Ray. Du bist für mich nicht unentbehrlich." Damit schlitzte er mit Rays Dolch dessen Hosen auf, wischte dem würgenden Ray mit dem Stoff über den Mund. "Umgekehrt könnte es sein, dass den Personen, die dir nahe stehen, etwas Unumkehrbares zustößt." Ray, plötzlich nackt bis auf seine guten Lederschuhe, stemmte sich ächzend in eine sitzende Position. Die hoch gezwungene Galle hatte ihm Tränen in die Augen getrieben. Sein Mund brannte vor Säure. Hei Bao ging vor ihm in die Hocke, studierte ihn gelassen. "Wenn du noch einmal auf diese lächerliche Weise zu provozieren versuchst, werde ich unsere Unterhaltung auf dem Oberdeck fortsetzen." Er packte Rays Kinn, spuckte in einen Stofffetzen, rieb damit in einer mütterlichen Parodie dessen Kinn sauber. "Vor meinen Männern. Du wirst splitterfasernackt sein." Nach einem langen Moment eindringlicher Musterung kam Hei Bao geschmeidig in die Höhe, füllte ein fein ziseliertes Glas mit einer durchscheinenden Flüssigkeit, reichte es Ray. Der schluckte ohne zu zögern das aromatisierte Wasser. Seine Kehle schmerzte peinigend genug, um diese Offerte zu akzeptieren. Die Zähne zusammenbeißend kam er langsam auf die Beine, funkelte Hei Bao trotzig an. "Ah. Smaragdgrüne Katzenaugen! Verständlich, dass dein Vater deine Mutter erwählte." Lächelte der unbeeindruckt. "Sprechen Sie nicht über meine Eltern!" Fauchte Ray, versprühte Speicheltröpfchen. "Kennen Sie IHRE?!" Ein Schmunzeln tanzte auf den gleichmäßigen, alterlosen Zügen. "Doch, ja. Auch wenn ich mittlerweile ebenso eine Waise bin wie du, mein hitzköpfiger und unbedachter Freund." Ray verstand die Warnung, setzte alles auf eine Karte, spielte den rasenden Wüterich. "Ich will jetzt Florean sehen! Sofort! Sonst rühre ich keinen Finger!" Er ballte die Fäuste. "Na los, liefern Sie mich ruhig aus, Hei Bao! Das ist mir gleich! Vielleicht ziehe ich es sogar vor, einen Prozess zu führen als mich an Ihren Geschäften zu beteiligen!" Hei Bao lupfte die Augenbrauen in einer milden Form des Protests gegen Rays lautstarkes Gebrüll. "Wo IST Florean?! Ich WILL ihn sehen!" Ray schraubte die Phonstärke hoch, hielt sich zurück, Hei Bao zu nahe zu kommen. Mochte der in seinem feinen, exotischen Kostüm auch wie eine Zierpuppe wirken: zugeschlagen hatte er wie ein Goliath. "Ich bedaure. Monsieur Florean de Rochefort ist nicht Gegenstand unserer Vereinbarung." Hei Bao wandte sich dem Teegeschirr zu, füllte ihre Tassen auf. Ray erstarrte, verlor seine mühsam gewahrte Contenance. "Sie haben ihn schon verschachert?! An wen?! Wer ist es?!" Hei Bao blickte erkennbar ernst und missbilligend. "Dämpfe bitte deine Stimme, Ray, sonst muss ICH dafür Sorge tragen. Im Übrigen habe ich den bemerkenswerten Spross des alten Adels nicht 'verschachert', wie du dich auszudrücken beliebst." "Entführt hast du ihn ja wohl?!" Ätzte Ray zurück, ließ sich, ohne es recht zu bemerken, auf einen hitzigen Zank ein. "Also, wo ist Florean?! Oder muss ich erst diese schwimmende Badewanne anstecken?!" In Hei Baos Augen funkelte es. "Womöglich mit deiner sprühenden Phantasie oder deinem geistvollen Witz? Da befinden wir uns ja wirklich in tödlicher Gefahr!" Spott in dieser Situation reizte Ray bis aufs Blut, vor allem die süffisante Überheblichkeit, mit der dieser Schönling sie formulierte! Er sprang Hei Bao an, der sich zur Seite drehte und zupackte, die "Kronjuwelen" in seine Gewalt brachte. Ray brach sofort kalter Schweiß aus, er zitterte unkontrolliert. In intimer Distanz studierte Hei Bao ihn ungerührt. "Deine Arme auf den Rücken. Du wirst schweigen, Ray, bis ich dir das Wort erteile." Verlangte er leise und gesittet. Das unausgesprochene "sonst" verdeutlichte seine Bedeutung unangenehmer, nicht wünschenswerter Konsequenzen mit einem festen Druck. Winselnd gehorchte Ray. Eine ganze, unerträgliche Weile sah Hei Bao ihm einfach nur unverwandt in die Augen. Bebend, mühsam ein Schluchzen unterdrückend, weil sein Atem nicht regelmäßig kommen wollte, gedemütigt und hilflos rührte Ray sich nicht. Seine Lage gestaltete sich ausweglos. Die Hoffnung auf ein glückliches Entkommen schwand rapide. "Sehr inkonsequent. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass du nicht die geringste Vorstellung davon hast, mit wem du es aufnehmen willst." Bemerkte Hei Bao endlich ruhig. Ray öffnete den Mund. Ein kurzer Druck erinnerte ihn quälend daran, dass er noch zu schweigen hatte. Hei Bao beobachtete ihn wie ein Habicht. "Ich habe deinen wertvollen Schatz nicht entführt. Er hat aus freien Stücken meine Einladung angenommen, hier zu übernachten bis die Astarte eintraf." Stellte er die Fakten klar. Die Mundwinkel zuckten spöttisch. "Es hat ihm durchaus gefallen. Die Kabine ist gut ausgestattet, die Verpflegung ausgezeichnet. Ich würde die Verantwortung an deiner Stelle also eher bei deinem unzeitigen Cousin suchen. Oder vielleicht bei dem Mann, der versprochen hat, ihn zu beschützen, aber lieber nach alten Schätzen sucht und sich hinderlicher Begleitung entledigen wollte." Ray presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, um nicht lautstark zu protestieren. Oft genug hatte er Florean gewarnt, sich nicht blenden zu lassen, keinen Fremden zu vertrauen! Dabei wurde ihm, in einiger Verblüffung, bewusst, dass er Hei Baos Version der Ereignisse nicht in Zweifel zog. Dazu sah es Florean viel zu ähnlich, sich arglos und vertrauensselig auf die Dschunke einladen zu lassen! Er senkte die Lider, entschied, diese Erklärung zunächst zu akzeptieren. "Des Weiteren ist Florean de Rochefort nicht Gegenstand unserer Vereinbarung." Hei Bao studierte ihn. Ray unternahm nichts, seine Sorge zu verstecken. Was war aus Florean geworden?! Wenn Florean nicht als Köder diente, warum hatte Hei Bao ihn nicht einfach gehen lassen? Oder war das geschehen, und Florean konnte niemanden um Beistand bitten? Ihn nicht kontaktieren? "Du darfst dich äußern." Erlaubte Hei Bao großmütig, lächelte wieder amüsiert. Räuspernd nahm Ray einen Anlauf, ermahnte sich, bloß keine Unverschämtheiten einzuflechten. Auf diese Weise bliebe ihm verborgen, wo Florean sich nun aufhielt. "Was ist mit Florean geschehen? Wo ist er jetzt?" "Ad 1, ich habe ihn an meinen Geschäftspartner verschenkt. Ad 2, er befindet sich in dessen Obhut." Hei Bao wechselte unvermittelt ins Griechische, was Ray nicht nur beeindruckte, sondern auch zu großer Konzentration nötigte. "Florean ist unschuldig!" Plädierte Ray, vergaß die erforderliche Erlaubnis, sich äußern zu dürfen, kämpfte mit dem Griechischen. "Außerdem war er sehr krank! Wer ist dieser Geschäftspartner? Bitte, ich muss das wissen!" Er wollte sich gar nicht vorstellen, wenn sich wiederholte, was bereits einmal geschehen war. Hei Bao zog eine Schnute, flötete. "Viel zu einfach, mein Lieber. Wie viel ist dir diese Auskunft wert?" "Alles, was ich habe und was ich stehlen kann." Antwortete Ray sofort. Ihm gegenüber, den unnachgiebigen Griff um seine Geschlechtsorgane, lächelte Hei Bao. "Wirklich? Eine großzügige Offerte! Schade nur, dass Monsieur de Rochefort leider nicht Gegenstand unserer Vereinbarung werden kann." "Das~das ist niederträchtig!" Warf Ray ihm erbittert vor, kämpfte mit der Selbstbeherrschung. "Ach, ich habe auch allen Grund, mich zu beklagen!" Erwiderte Hei Bao ungerührt. "Was für eine Enttäuschung! Ein großer Dieb, nun ja, aber wo bleibt dein Verhandlungsgeschick?! Wo ist dein Sinn für Strategie? Bist du derart derangiert von dieser unbedeutenden Einschränkung, dass du alle deine Fähigkeiten vernachlässigst?" Hei Baos Blick wanderte Richtung Körpermitte. "Vielleicht bin ich einfach nicht so gut! Da hast DU dich vielleicht geirrt!" Ätzte Ray mit überschnappender Stimme zurück. Sie musterten sich, Ray aufgebracht und immer noch zitternd, Hei Bao äußerlich ungerührt und selbstsicher. Ein boshaftes Lächeln blitzte in Hei Baos Gesicht auf. "Du möchtest mir damit wohl zu verstehen geben, dass dein Wert für mich von so geringem Nutzen ist, dass ich mich deiner besser entledige?" Rays Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Er ballte die Fäuste auf dem Rücken. "Warum diskutieren wir nicht endlich, was ich tun soll?!" Fauchte er bissig zurück. Hei Bao wartete, studierte Rays grün lodernde Katzenaugen, hob scheinbar konziliant die Arme hoch. "Wie es dir beliebt!" Gegen seinen Willen entwich Ray ein Seufzer. Die empfindlichen Weichteile waren entlassen, hoffentlich noch intakt. "Darf ich?!" Hakte er finster nach, wies auf das überlange Stofftuch. Es bot die einzige Möglichkeit, sich wieder einigermaßen schicklich zu bedecken. "Aber bitte!" Hei Bao wedelte nachlässig mit der eleganten Hand, setzte sich wieder grazil in seinen Fauteuil, verfolgte demonstrativ ungeniert Rays Einwickelunterfangen. Als endlich der Lendenschurz improvisiert war, ließ sich Ray langsam in den freien Sessel sinken. Wieder fixierten ihn die ungleichen Augen eindringlich, wollten ihn schier durchleuchten. Wütend verschränkte Ray die Arme vor der nackten Brust, erwiderte den Blick mit herausforderndem Blitzen. Hei Bao lächelte, entzog seiner sehnigen Gestalt einen winzigen Beutel aus Samt, warf ihn in sanftem Bogen hinüber zu Ray. Der musste seine trotzige Haltung aufgeben, um das Wurfgeschoss auffangen zu können. Ergeben löste er die Seidenverschnürung, öffnete das schwarze Beutelchen, beförderte den Inhalt sanft auf seine freie Handfläche. Es glitzerte in Regenbogenschimmer, funkelte und brillierte. Ray betrachtete die geschliffenen Diamanten verzaubert, ließ sie in seinem Handteller umeinander gleiten. Nur widerstrebend konnte er seinen Blick heben, Hei Bao ansehen. Was bezweckte der mit dieser Vorführung? Lautlos und geschmeidig wie ein Raubtier war der längst an seine Seite geglitten, bot ihm die beiden geschlossenen Fäuste, zwinkerte, als gelte es, einen Zaubertrick zu präsentieren. Ray lupfte enerviert eine Augenbraue, wählte achtlos eine Hand aus. Amüsiert öffnete Hei Bao erst die ausgewählte, dann die andere Hand. In beiden lagen unscheinbare bunte Steinchen. "Sei so freundlich, sie zu sortieren." Erteilte er Ray den Auftrag. Der hielt einen Moment inne, blickte in dieses seltsame Augenpaar. Er senkte den Kopf, begann mit der freien Hand, Steinchen aufzupicken, zwischen Hei Baos Händen hin und her zu transferieren. Als er fertig war, fügte er die geschliffenen Diamanten in einen Handteller hinzu. "Soll das meine Aufgabe sein?" Ray konnte es nicht glauben. Es gab so viele talentierte, erfahrene Diamantenschleifer und Händler! Warum traf ihn dieses Los?! "Ein Vögelchen zwitscherte mir, dass du dich auf Edelsteine verstehst. Nun, auch auf andere Edelmetalle." Hei Bao schmunzelte. "Ach wirklich? Es gibt eine Menge Frauen der Gesellschaft, die mich zweifellos in den Schatten stellen, was Karatzahl und Werttaxierung auf einen Blick betreffen!" Schnaubte Ray verächtlich. "Daran zweifle ich nicht. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass Frauen an Bord eines großen Schiffs, soweit sie nicht Passagiere sind, eine erhebliche Belastung darstellen." Hei Bao trat an seinen Schreibtisch, um die Steine abzulegen, hob den Kopf. Der lackschwarze Zopf tänzelte. "Ich gratuliere. Keine Fehleinschätzung, und noch wichtiger, du hast der Versuchung klebriger Finger widerstanden." Ray knurrte vernehmlich. "Ich habe es nicht nötig, irgendwelche Diamanten zu stehlen!" Zumindest nicht, wenn sie nicht bereits zu einem Aufsehen erregenden Schmuckstück verarbeitet worden waren. Immerhin hatte er einen Ruf zu verlieren, das Prestige zu wahren! "Auch das zwitscherte mir das Vögelchen." An Hei Bao perlten Rays Vorwürfe und Retourkutschen spurlos ab. "Soll ich das so begreifen, dass ich als Rohdiamantenprüfer arbeiten soll?! Hat sich sonst niemand gefunden?! Möglicherweise bezahlst du zu wenig!" Ray federte aus dem Fauteuil hoch. Hei Bao, verstaute die Steine, legte den Kopf ein wenig schief, bemerkte ungerührt. "Ich würde ein Leben, eine Zukunft nicht so niedrig bewerten." "A~ha!" Antwortete Ray ihm bissig in grimmigem Triumph. "Nun bin ich im Bilde! Weigere ich mich, unentgeltlich irgendwelchen Stein-Abraum zu durchwühlen, kann ich mich gleich mit den Fischen bekannt machen, wie?!" "Ich hatte eigentlich eher eine Überstellung an interessierte Parteien im Sinn." Hei Bao gab sich nachgiebig. "Aber wenn dir diese Lösung konveniert..." "Ich traue dir nicht! Es gibt keinen Grund, ausgerechnet mich für diese Tätigkeit auszuwählen!" Mit unfein ausgestrecktem Arm und pointiert ausdeutendem Zeigefinger warf sich Ray ungeachtet der spärlichen Bekleidung in Pose. "Aber Ray! Du hörst nicht sonderlich aufmerksam zu, wenn man mit dir spricht, nicht wahr?" Flötete Hei Bao geziert. Ray ignorierte diese sanfte Warnung beharrlich. "Ich akzeptiere diese Offerte NICHT! Mich interessiert nur das Wohlergehen von Florean!" "Wie halsstarrig. Vernunftgründen nicht zugänglich, unbeherrscht und hitzköpfig." Hei Bao schnalzte tadelnd mit der Zunge. "Dem kann man mühelos abhelfen! Ich habe keinen Bedarf, noch länger hier zu verweilen!" Fauchte Ray. "Das wäre recht unklug." Hei Bao studierte Ray so amüsiert, als würden ihm gerade die possierlichen Kunststücke eines dressierten Haustiers vorgeführt. "Diese Eigenschaft habe ich ja schon mehr als einmal unter Beweis gestellt! Darf ich mich jetzt BITTE an Land entfernen?!" Kommentierte Ray erbost. "Ich bedaure. Das wird wohl nicht möglich sein. Wir sind bereits für die Passage im Suez-Kanal vorgemerkt." Schnurrte Hei Bao süffisant, unverkennbar keineswegs reuig. "Ich WILL gehen! Wenn ich nichts über Florean erfahre, SCHWIMME ich eben an Land!" Rays Stimme überschlug sich vor Wut. "Das würde ich nicht empfehlen, eingedenk deines Abenteuers auf der Suche nach dem Templerschatz." Hei Bao lächelte. Ray erstarrte. Woher wusste dieser erpresserische, scharfzüngige Verbrecher davon?! Zugegeben, er konnte nicht besonders gut schwimmen, dennoch... Endlich begriff er. "Azla. Azla ist das Vögelchen, nicht wahr?" Fragte er tonlos und erbleichend. "Vielleicht ist es besser, du nimmst Platz." Hei Bao musterte ihn wachsam. "Ausgerechnet Azla!" Stöhnte Ray, schlug die Hände vors Gesicht. Ihn schwindelte. Er bemerkte gar nicht, wie Hei Bao seine Oberarme sanft umfasste, ihn in den Sessel dirigierte. "Er bringt ihn um. Schon beim letzten Mal..." Murmelte Ray entsetzt. "Oh, man nennt es zwar den Kleinen Tod, ich habe allerdings nicht den Eindruck gewonnen, dass es ihm nicht behagt hätte." Hei Bao hatte ins Französische gewechselt. Es dauerte einige Herzschläge, bis die Botschaft Rays Verstand erreichte, ob ihrer Bedeutung beschleunigt dechiffriert wurde. Ray warf den Kopf in den Nacken, starrte Hei Bao an. Seine grünen Katzenaugen zogen sich zu Schlitzen zusammen. "Er ist hier." Knurrte Ray, erhob sich drohend. "Florean ist hier. An Azla ausgeliefert!" Er sprang Hei Bao an, zielte auf dessen Kehle, außer sich vor Zorn und Verzweiflung. Diese lächerlichen, infamen Spielereien, bei denen Menschenleben riskiert wurden! Längst war er es leid, die Tage der Ungewissheit und Gewissenspein, die Sorge um seinen besten Freund und die Scham darüber, ihn ins Verderben laufen gelassen zu haben! Hei Bao wehrte ihn ab, wich dem Nahkampf nicht aus, sondern rollte sich ab, schleuderte Ray über sich hinweg gegen den massiven Schreibtisch. Der gewann gegen Rays Schädel und sorgte für bleierne Schwärze. Wachsam näherte sich Hei Bao dem beinahe nackten Mann, kniete neben ihm, betastete geübt Kopf und Glieder. "Azla." Bemerkte er ruhig. Sofort betrat der Blauäugige Dschinn die Kabine. "Dein Freund neigt dazu, mit dem Kopf durch die Wand zu stürmen. Bitte bring ihn in seine Kabine. Bitte unseren bewährten Medicus, sich ein Bild von seinem Zustand zu machen." Hei Bao erhob sich wieder geschmeidig. Azla näherte sich lautlos, studierte Rays bleiche, zwangsläufig entspannte Züge, fädelte seine Arme unter Schultern und Kniekehlen. Ohne Mühe erhob er sich, Ray auf den Armen. "Hat er seine Qualifikationen bewiesen?" Erkundigte er sich ruhig. In Hei Baos Mundwinkeln zuckte es amüsiert. "Ich bin überrascht, dass es ihm gelungen ist, so lange als geheimnisvoller Dieb zu wirken, ohne entdeckt zu werden. Ein selbstmörderisches Temperament." Azlas Blick schweifte kurz über das fahle Gesicht an seiner Schulter. »Du änderst dich wohl nie.« Dachte er halb mitfühlend, halb ärgerlich. Trotzdem bettete er Ray sanft in dem eingebauten Bett, suchte nach dem Arzt. ~+~ Tag 8 "Er hat WAS getan?!" Floreans Amethyst-Augen weiteten sich entgeistert. Azla entledigte sich nonchalant seiner üblichen Bewaffnung, schlüpfte aus seinem Obergewand. "Hei Bao angegriffen. Zweimal." Ergänzte er abschätzig. "Aber~aber was passiert jetzt mit ihm?" In Floreans Stimme klang eindeutig bange Sorge. Das fuchste Azla, auch wenn er sich dafür verachtete. Ray hatte doch nicht die geringste Chance, ihn auszustechen. Oder? Die Unsicherheit wühlte ihn auf, weshalb er Florean unnötig grob am Oberarm packte. "Mach dich endlich bereit!" Florean bockte sofort, stemmte die Fersen in die Bohlen, brach aus dem Zugriff aus. "Erst will ich wissen, was mit Ray ist! Wir sind Freunde, das hast du doch nicht vergessen!" Für einen gefährlichen, verräterischen Moment war Azla tatsächlich versucht, Florean hart ins Gesicht zu schlagen, die Beherrschung zu verlieren, weil der verzogene Franzosen-Prinz ihm widersprach, seine Autorität in Frage stellte, ihn dazu zwang, sich zu erklären, Informationen preiszugeben. Er ballte die Fäuste, grub die Fingernägel tief in die Ballen, um sich streng zu ermahnen. Floreans Miene bewies ihm bereits, dass seine Gemütsregungen heftig genug gewesen waren, um dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Er bot Azla eine verschlossene, hochmütige Maske, reckte das spitze Kinn, bemerkte frostig. "Wenn dir meine Gegenwart und meine Loyalität zu meinen Freunden derart zuwider sind, sollte ich mich wohl besser an Deck verfügen." Rasch wandte er sich ab, fischte ein langes Kopftuch. Azla schnellte vor, umklammerte Florean, sodass dessen Oberarme schmerzhaft an seinen Körper gepresst wurden. Florean keuchte, rang nach Luft, zappelte vergeblich, überrascht von dem Eindruck, dass auch Azla heftiger atmete. Alle Gegenwehr blieb vergeblich. Der hellblonde Mann wurde auf die Tischplatte gedrückt, bis Azla ihm die Arme auf dem Rücken verdrehen konnte. Die Zähne zusammenbeißend, bis der Abrieb knirschte, drehte Florean brüsk den Kopf weg, als sich Azla zu ihm herunterbeugte. Waren Azla und Ray nicht Jugendfreunde? Beinahe Brüder? Hatten sie einander nicht geholfen? Trug Azla es Ray etwa nach, für dessen Leben ein Auge eingebüßt zu haben? Verübelte er es dem einstigen Schicksalsgefährten, nicht ebenso wundersam gerettet und im Schoß einer wohlhabenden Familie geborgen zu werden? All dies wollte er Azla ins Gesicht schleudern, um dieser lächerlichen Rivalität ein Ende zu bereiten! In dieser Position bereitete ihm allein das Luftholen Mühe. "Er schläft in einer Kabine. Der Arzt ist bei ihm. Er hat bloß eine Beule gefunden und Bettruhe verordnet." Raunte Azla in sein abgeneigtes Ohr, rau, widerwillig. "Ich möchte ihn sehen. Immerhin ist er durch meine Schuld..." Brachte Florean leise hervor, durchaus berührt von Azlas ungewohnter Bereitschaft, Konzessionen zu machen. "Unsinn! Kommt nicht in Frage!" Donnerte Azla, hoch aufgerichtet, zerrte Florean herum, hielt dessen Oberarme wie in Schraubzwingen eingespannt. Er funkelte aufgebracht in die Amethyst-Augen. "Sein Schicksal hat er ganz allein zu verantworten! Hei Bao wünscht nicht, dass irgendwer außer mir ihn in der Kabine besucht!" "Er ist meinetwegen hier, oder nicht?! Außerdem, was soll hier schon passieren?! Fliehen kann er ja wohl kaum!" Florean hielt feurig und wacker dagegen. "Er ist NICHT deinetwegen hier! Es geht NICHT um dich! Du spielst keine Rolle, begreif das doch endlich!" Konterte Azla, noch immer aufbrausend, schüttelte Florean grob. "Oh. Danke schön! Vielen, herzlichen Dank, mein werter Herr. Wenn ich so unbedeutend bin, frage ich mich, warum du mich nicht längst umgebracht hast!" Erwiderte Florean giftig, reckte das Kinn erneut. Gelegenheiten gab es zahlreiche! "Ha!" Schnaubte Azla, presste die Lippen aufeinander, um nicht unbedacht herauszuplatzen. Wie konnte er sich auf ein lächerliches Streitgespräch einlassen UND darüber hinaus auch noch die Haltung verlieren?! »Ein kluger Mann hätte damals...« Das wusste er selbst. In dem Moment, als er Florean als Augenzeugen entdeckte, nachdem er die lästigen Mitglieder der "Schwarzen Hand" erschossen hatte, wäre es die Lösung gewesen. Schnell und schmerzlos, von einem Kissen gedämpft. Wider alle Vernunft, wider seine unsäglichen Lebenserfahrungen konnte er es nicht über sich bringen. MUSSTE diese Knospe zum Erblühen bringen und genießen, mit einem leidenschaftlichen Kuss sein Siegel aufprägen. Eine gefährliche, vielleicht todbringende Schwäche. Eine ständige Unsicherheit. Nur ein Stoß mit dem Dolch, und...! Aber dann, Azla betrog sich nicht, wäre es ohne Bedeutung, wie lange seine Frist noch liefe, bis ihn die Hölle verschlinge. Sie taxierten einander, abwartend, abtastend, erforschend. Florean wollte sich nicht rechtfertigen für seine Verbundenheit mit Ray. Mittelbar ERKANNTE er seine Schuld an dessen Schicksal an. Azla verachtete sich für seine Inkonsequenz. Für die nagende Eifersucht. Für die Hoffnung auf Zuneigung. "Wenn du nach ihm siehst, könntest du ihm sagen, dass es mir gut geht. Und er sich nicht sorgen muss?" Florean räusperte sich. Den blitzblauen Blick senkend nickte Azla knapp. "Danke." Brachte Florean hervor, zögerte, um seinen Mut zu sammeln. "Azla... du weißt, dass ich nur dich... mit dir..." Errötend und verlegen stammelnd brach er ab. Der Blauäugige Dschinn sparte sich Worte. Er glaubte nicht an blumige Liebesschwüre, schwülstige Gedichte und sehnsüchtig-frivole Lieder. Die bessere Alternative stellte sich in einigen Schritten dar, Florean dirigierend, bis sie das eingebaute Bett erreichten. Sich gegenseitig entkleiden konnten, beinahe gierig, ungestüm. Hier bestand ihr Kampf nur aus Blicken, winzigen Gesten, aufreizenden Pausen. Als der erste Kuss fiel, zerschmetterte er lächerliche, pompöse Vorstellungen von Siegen und Verlieren, von Über- und Unterlegenheit. Sie verlangten nacheinander, so simpel lautete die Wahrheit. ~+~ Hei Bao vertrieb sich die Zeit an Rays Krankenlager damit, dessen kodierte Notizen durchzusehen, um sie zu dechiffrieren. Einfach zum Kurzweil, nicht etwa in der begierigen Hoffnung auf sensationelle Enthüllungen zum Aufenthaltsort des verschollenen Tempelschatzes. Der Gentleman-Dieb Noir bestätigte sich ihm seine aus zahlreichen, unterschiedlichen Informationen und Quellen gewonnene Erkenntnis existierte nicht mehr im Kopf seines Schöpfers. Dafür agierte Ray zu sprunghaft, zu unüberlegt und hektisch, ja, zu desinteressiert. Nach Hei Baos Begriffen stand Ray vor einer schicksalhaften Verzweigung, haderte mit seiner Ratlosigkeit, welchen Weg er einschlagen sollte. Bereitwillig offerierte Hei Bao die Bereitschaft, ihm einen Denkanstoß zu liefern. Wenn Ray davon absah, sich selbst Kopfnüsse in Form von hühnereigroßen Beulen zu verpassen! Der Arzt, mit den Fährnissen auf See durchaus vertraut, hatte ihn beruhigt, es sei keine ernsthafte Verletzung. Die Schwellung würde wieder zurückgehen. Eine Fraktur oder Stauung von Gehirnsäften habe sich nicht ermitteln lassen. Im Übrigen werde die Medizin den ehrenwerten Gast in Kürze wieder auf die Beine bringen. »Auf den Abtritt.« Vermutete Hei Bao mit trockenem Humor. Es hinderte ihn jedoch nicht daran, in unnachgiebiger Strenge dem Rekonvaleszent die Mischung einzuflößen, wenn dieser mit peinigenden Kopfschmerzen aus der Dämmerung des Geistes erwachte. Tatsächlich verschlief Ray einen ganzen Tag, von wenigen Unterbrechungen abgesehen. Er bemerkte nicht, dass sich Hei Bao, der Schiffsarzt und auch Azla an seiner Seite ablösten, ihn mit Argusaugen überwachten. "...uuuhhhhh!!" Stöhnte Ray leise, versuchte, die Arme unter der leichten Decke, die man ordentlich festgestopft hatte, hervorzuziehen, um nach seinem pochenden Schädel zu fassen. Hei Bao federte alert von seinem Klappstuhl auf, zerteilte eine Zitrone in Scheiben, von denen er eine dem arglosen Patienten zwischen die Kiefer schob. Am Protest durch diesen sauren Knebel gehindert blieb Ray nichts anderes übrig, als die "Medizin" zu schlucken. Lustig stimmte sie ihn gar nicht! Anders jedoch als die Male zuvor klärte sich sein Blick. Er begann, sich in Erinnerung zu rufen, wo er sich aus welchen Gründen befand. Das versüßte ihm die Zitronenkost nicht sonderlich. Hei Bao, die Beine anmutig übereinander geschlagen, demonstrativ Rays Geheimnotizen auf dem Schoß, lächelte. Ray missfiel dies außerordentlich. Es machte ihm bewusst, wie ausgeliefert er war, wie beschämend unbeherrscht er sich benommen hatte, ohne daraus einen Vorteil zu ziehen. Er spuckte die ausgelutschte Zitronenscheibe aus, löste endlich erfolgreich die Arme aus den stofflichen Banden. "Wo..." Er krächzte, räusperte sich geräuschvoll und nahm erneut Anlauf. "Wo ist Florean?!" Neben ihm seufzte Hei Bao profund. "Ich hätte wetten mögen, dass du mir damit keine Ruhe lässt." Seufzte er betont gequält, wechselte in den Modus des Geschäftsmannes. "Unterzeichne den Vertrag, dann wirst du deinen Freund wiedersehen." "Sofort nach meiner Unterschrift." Verhandelte Ray, setzte sich auf. Man hatte ihm ein langes, ungefärbtes Baumwollhemd übergestreift. "So sei es." Beunruhigend rasch gab Hei Bao nach, zwinkerte, erhob sich, entnahm einer in Reichweite platzierten, ledernen Mappe zwei Ausfertigungen des Vertrags. Er breitete sie vor Ray auf dem Bett aus, damit der sie studieren konnte. Die Konditionen bestanden darin, dass Ray für die Zeit der Investitionstätigkeit in das Rohdiamantgeschäft als Prüfer für Hei Bao arbeiten würde. Gegen Kost und Logis, ohne Entgelt, mit der Zusicherung, für Leib, Leben, Gesundheit und guten Ruf würde Sorge getragen. »Im Grunde spielt es nicht die geringste Rolle, was er bietet.« Befand Ray grimmig, betastete vorsichtig die Beule an seinem Kopf. Oder ob man dem undurchsichtigen, verschlagenen, schlitzohrigen, gefährlichen Hei Bao überhaupt trauen konnte. Es war simpel ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte, weil Hei Bao ihn nach allen Regeln der Kunst in die Ecke gedrängt, isoliert und entlarvt hatte. Er tauchte die ungewohnte Pinselspitze in die von Hei Bao angerührte Pfütze aus Tusche, krakelte seine Unterschrift unter beide Exemplare des Vertrags. Anschließend schmolz Hei Bao an einer Flamme eine kleine Stange rotes Siegelwachs, tropfte nacheinander auf die Urkunden, damit Ray sein einziges und wertvollstes Familienerbstück, den Siegelring seiner Mutter, hineindrücken konnte. Hei Bao selbst brachte seinen roten Namensstempel kombiniert mit seinem Signet als 'Schwarzer Jaguar' an. "Dann gehen wir jetzt!" Entschlossen, keinen Augenblick zu verlieren, stemmte sich Ray hoch, wollte die Beine über die hohen Sturzkanten des eingebauten Betts schwingen. Hätte Hei Bao allerdings nicht beherzt zugegriffen, so wäre er vermutlich unsanft auf den Bohlen gelandet. Wacklig und ungelenk stand er nun, entsetzt über die eigene Schwäche. Wie lange hatte er bloß hier gelegen?! Hei Bao hakte ihn unter, lächelte so vertraulich, dass Ray sich zu einem abwertenden Schnauben hinreißen ließ. Genau der Effekt, den Hei Bao hervorrufen wollte. Er lachte amüsiert auf, geleitete Ray aus seiner Kabine. Ray schwankte wie betrunken neben ihm her, noch immer erschrocken darüber, wie zerbrechlich seine Gesundheit sich ausnahm. Vielleicht resultierte diese Kondition jedoch nicht nur aus der durchaus schmerzhaften Beule? Bevor er diesem unbehaglichen Eindruck auf den Grund gehen konnte, hielt Hei Bao sanft, aber bestimmt inne. Scheinbar ziellos streichelte seine Hand über die Paneele unweit einer Kabinentür. Wie überall gab es lediglich eine Funzel, um die Decks in einen dämmrigen Schimmer zu versetzen. Blinzelnd suchte Ray nach einem Hinweis, da schob sich eine schmale Platte zur Seite. Den Zwischenraum dahinter konnte man nicht einsehen, er lag in kompletter Finsternis. Hei Bao dirigierte Ray, drängte ihn dann im Krebsgang hinein in diesen Spalt. Ray taumelte, konnte aber nicht stürzen. Dazu mangelte es schlicht an Platz. Grimmig warf er die Stirn in Falten. Er ahnte, dass dieses Geheimversteck dazu diente, sich mit den Vorgängen der benachbarten Kabinen vertraut zu machen. Hei Bao schob sich neben ihn in die Lücke, verschloss ihr Spionierversteck wieder, hüllte sie in vollständige Dunkelheit. Neben ihm musste Ray sich zwingen, nicht in hektisches Atemringen zu verfallen, weil die Klaustrophobie ihn quälte. Lautlos und geübt schob sich in horizontaler Linie eine schmale Leiste auseinander, bot Ray direkt in Augenhöhe eine Aussicht. Sofort fesselten die Vorgänge in der Kabine seine Aufmerksamkeit. Es war simpel unvermeidlich. Um Florean von seiner Sorge um Ray abzulenken, übte Azla mit ihm unermüdlich Selbstverteidigungstechniken ein. Wenn der hellblonde Mann keuchend, am ganzen Leib vor Anstrengung bebend auf die Planken sank, wechselte er zu einer artverwandten Beschäftigung über. Da sie gewöhnlich störendes Mobiliar und die spärliche Auslegeware beiseite räumten, gerieten ihre rhythmisch-dynamischen Bewegungen direkt in Rays Fokus. Ineinander verschlungen, abwechselnd gierig-drängend und bedächtig-sehnsüchtig tauschten sie Küsse, streichelten sich über die schweißfeuchte, nackte Haut, zausten ohnehin verwirrte Mähnen, hielten mehr als einmal inne, intim verbunden, um einander unverwandt, heftig atmend in die Augen zu sehen. »Nein.« Eine dumpfe, erstickende, bleierne Müdigkeit breitete sich in Rays Kopf, seinem Körper, seiner Seele aus. »Nein.« Nein, hier geschah niemandem Gewalt. Keiner war dem anderen überlegen, triumphierte, bezwang und eroberte. Wie hatte Azla Florean nur in seinen Bann geschlagen?! Bedeutete so wenig, was zuvor geschehen war?! »Warum musst du dich so grausam an mir rächen, Azla?« Dröhnte es in Rays geplagtem Kopf. ~+~ Hei Bao ließ den verstummten, bleichen und völlig in sich gekehrten Ray in der für ihn vorgesehenen Kabine zurück, unter zwei Decken geschoben, mit ausreichend Medizin für zugestopfte Kehlen. Zunächst galt es, sich um das nächste Geschäft zu kümmern. Er hatte für die Kolonialmächte Bauholz, Gleise und Maschinenteile geladen. ~+~ Ray strafte Azla, der ihm die Mahlzeiten in die Kabine brachte, mit Schweigen und demonstrativer Abkehr. Er war nicht bereit, ihm nachsehen zu wollen, was er heimlich beobachtet hatte. Zu grausam, zu demütigend mutete diese Erfahrung an. Azla akzeptierte das verbitterte Schweigen stoisch. Er kannte Ray gut genug, um auf den Ausbruch warten zu können, der unweigerlich die Krönung dieser verhinderten Lektion darstellen würde. Es überraschte ihn auch wenig, dass Hei Bao Rays Verhalten mit einen amüsierten Zucken in den Mundwinkeln wie ein Habicht beobachtete. Dieser Mann machte seinem Namen alle Ehre. Ein gefährlicher Jäger, der geduldig und lautlos seine Beute umkreiste, bis sie sich freiwillig ergab. Aus unerfindlichen Gründen belustigte Rays bockiger Trotz ihn. Azla wischte diesen Gedanken weg. Ray war schließlich alt genug, um auf sich selbst zu achten. ~+~ "Wohin des Wegs?" Knurrte Azla, erwischte Florean im Nacken wie ein ungezogenes Kätzchen. "An Deck? Dem Maki zugucken?" Versuchte Florean vergeblich eine eilige Ausrede zu bemühen. "Wirklich. Darum schleichst du also hier vor Rays Kabine herum?" Brummte Azla, gab das Genick allerdings keineswegs frei. Nicht zum ersten Mal hinderte er Florean daran, sich gegen Hei Baos ausdrücklichen Wunsch mit Ray zu treffen. Florean indessen gab nach. "Warum darf ich ihn nicht besuchen?! Du sagst zwar, dass es ihm gut geht, aber warum wird er eingeschlossen?!" Er bemühte sich, keinen quengelnden, provozierenden Unterton in seiner Stimme zuzulassen, sondern Haltung zu bewahren, rational und gelassen seine Einwände zu formulieren. Azla schlang ihm den freien Arm um die Taille, drehte ihn zu sich herum. "Ich habe es dir bereits erklärt. Es hat sich daran nichts geändert." Antwortete er, ungewohnt geduldig. "Warum redet er nicht mit dir?" Florean legte die Handflächen auf die muskulöse Brustpartie unter dem Oberhemd, blickte konzentriert in das becircend blaue Auge. "Warum fragt er nicht nach mir?" Zu diesem Sujet hatte Azla durchaus greifbare Vermutungen zu bieten. Jedoch nicht Florean gegenüber. "Zwei Möglichkeiten. Wir gehen nach oben und sehen diesem grässlich kreischenden Vieh zu. Oder wir kehren in unsere Kabine zurück, finden raus, ob wir uns nicht besser beschäftigen können." Lenkte er gedehnt ab. Florean studierte Azla schelmisch. Er wippte auf die Zehenspitzen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, grinste spitzbübisch. Gab dem Maki den Vorzug! Azlas Miene blieb undurchdringlich. Er unternahm keine Anstalten, Floreans Entscheidung zu beeinflussen, sondern folgte ihm aufs Oberdeck. Eine Weile beobachteten sie als stumme Zuschauer das Treiben der Crew, die den Koboldmaki mit kleinen Fleischstücken von Mast zu Mast lockten. Ein wenig boshaft begann Azla damit, schrille Jubeltriller auszustoßen. Das verstand der Maki als Aufforderung, ebenfalls zu kreischen, ziemlich verärgert. Florean presste wie ein Kind beide Hände auf den Mund, um nicht herauszukichern, trippelte hinter Azlas geschmeidig-lautlosen Raubtierschritten her, der den armen Maki über das gesamte Deck mit seinen herausfordernden Trillern scheuchte. Das arme Tier verkroch sich schließlich grollend, beendete das Vergnügen. Glucksend hängte sich Florean bei Azla ein, verschob die nächste Attacke auf dessen Langmut auf eine andere Gelegenheit. ~+~ Ray hatte den Lärm auf dem Oberdeck nicht überhören können. Er konnte sich nur eine Person vorstellen, die diese Jubeltriller so mühelos intonierte. Es brachte ihn so auf, dass er in seiner Kabine auf und nieder ging, in hohem Tempo. Ungerecht, unverdient, dass Azla sich amüsierte! Nicht ununterbrochen der verräterische, grausame, verschlagene Verbrecher war! "Was habe ich ihm denn getan?!" Platzte es schließlich laut aus Ray heraus. Sie hatten um den Templerschatz konkurriert, das konnte er durchaus verstehen. Warum setzte er Florean ein, um sich zu rächen? Und für was? Dafür, dass die Waise doch noch eine Familie gefunden hatte? "Ich konnte dich nicht mitnehmen! Du selbst hast mir doch gesagt, es sei in Ordnung!" Haderte er erneut wie vor so vielen Jahren. Vielleicht hatte er Azla wirklich im Stich gelassen. Das rechtfertigte nicht, den unschuldigen, hilflosen, vertrauensseligen Florean zum Werkzeug seiner Vergeltung zu erniedrigen! In seine aufgewühlten Gedanken spazierte Hei Bao, gewohnt geräuschlos, sodass Ray ihn erst bemerkte, als der Mann mit den ungleichen Augen sanft die Kabinentür hinter sich schloss. "Ah! Wie ich sehe, gelingt es unserem Smutje einfach nicht, deinen Geschmack zu treffen, mein Bester!" Bedauerte er flötend. Da Ray seit seinem heftigen Zusammenprall mit dem Schreibtisch nur wie ein Spatz in den durchaus appetitlichen Speisen herumgepickt hatte, konnte er die Kritik nicht ohne Weiteres als unbegründet zurückweisen. "Hier gibt es einfach zu viel, das mir das Essen verleidet." Schnarrte Ray giftig, funkelte Hei Bao erbost an. Hätte der nicht mit Azla gemeinsame Sache gemacht, befänden sich weder er noch Florean an Bord der verwünschten Dschunke! "Oh, wir sind noch immer schlechter Laune." Ungerührt ließ sich Hei Bao in einem Sessel nieder, schlug gewohnt elegant die Beine übereinander, formte ein schlankes Dreieck mit den Händen. "Ich frage mich, ob es Eifersucht oder Missgunst ist, die dich so beschäftigt." Summte er leise, ließ Ray aber keinen Wimpernschlag aus den Augen. Nachdem die Botschaft in ihrer Ungeheuerlichkeit Rays Verstand erreicht hatte, ballte er die Fäuste, baute sich wütend wie ein heftiges Gewitter vor Hei Bao auf. "Eifersucht?! Missgunst?! Lächerlich! Dieser Kerl ist ein Verräter und Verbrecher! Ich würde nie~nie~NIEMALS...!" Schnaubend, die Augen glühend wie ein Stier vor dem Matador, bebte er vor Zorn, konnte nicht mal formulieren, was er niemals tun würde. Unbewegt betrachtete Hei Bao ihn, ohne das amüsierte Zucken in den Mundwinkeln. "Könntest du ES überhaupt?" Ray starrte. Das Blut sackte in seine Füße. Wachsbleich blickte er auf Hei Bao herab, der selbst sitzend, scheinbar fragil so übermächtig blieb. »... er weiß... woher... weiß er...« Ihm knickten ohne Vorwarnung die Knie ein. Hei Bao erhob sich langsam, die ungleichen Augen auf Ray gerichtet, gab ihn nicht frei. "Ruh dich aus. Iss etwas. Wenn du bereit bist, werde ich dir antworten." Damit ließ er Ray allein und erschüttert zurück. ~+~ Ray fand keinen Schlaf, wälzte sich hin und her, verblasste zu einem Schatten seiner Selbst. Er zwang sich, von den Speisen zu kosten, die ihm ein Mitglied der Crew servierte, schmeckte jedoch nichts. Es erschien ihm selbst so, als wären all seine Sinne über Nacht taub geworden, blind, unempfindlich. Hei Bao hatte seine tiefste, quälendste und verborgenste Wunde getroffen. Seine fiebrigen Gedanken kreisten unaufhörlich. Mal fühlte er sich von allen verraten, dann suchte er wieder die alleinige Verantwortung für das Scheitern bei sich. Ausgepumpt, bis ins Innerste erschöpft von Zweifeln und Vermutungen kauerte er mit angezogenen Beinen in einem Sessel, sortierte geistesabwesend eine Schütte von Rohdiamanten. Hei Bao verschaffte sich gewohnt unbekümmert Zutritt, ließ sich Ray gegenüber nieder. "Immer noch verärgert? Dabei steht es dir doch frei, dich überall auf den ersten beiden Decks zu bewegen. Du könntest deine beiden Freunde besuchen." Bemerkte er gut gelaunt. "Azla ist NICHT mein Freund! Er hat mich verraten und betrogen!" Fauchte Ray heiser, schob seine Arbeit auf dem klappbaren Beistelltisch beiseite, um Hei Bao anzufunkeln, die smaragdgrünen Katzenaugen schwarz umflort. "Wirklich? Wann war das genau? Als er Florean nicht einfach abknallte, sondern ihn verführte?" Hei Bao polierte seine Fingernägel am Revers. "Du weißt GAR NICHTS!" Brüllte Ray auf Arabisch, sprang aus dem Sessel, die Hände zu zitternden Fäusten geballt. "Ah nein? Woher rührt bloß diese Überzeugung, dass sich jede Aktion meines 'Schattens' gegen dich richtet? Bist du tatsächlich der Nabel der Welt?" Hei Bao lupfte gleichmütig eine Augenbraue, ein höflicher Zweifel. "Du! DU! Du unterstützt ihn! Gibst du ihm auch Opium?! Unter Mördern und Verrätern ist man sich ja schnell einig, wie?!" Ray deutete auf ihn, sprühte Speicheltröpfchen. Hei Baos ungleiche Augen verengten sich zu Schlitzen. "Du wirst unvernünftig, mein Freund." Warnte er leise. "Und wenn schon! Was kümmert's mich noch?! Bin ich nicht bloß einer deiner Grillen?! Wirst du ihr überdrüssig, geht sie eben über Bord!" Brüllte Ray ungehemmt zurück. Etwas Gefährliches glitzerte in den unterschiedlich gefärbten Augen. "Würde dein Freund Florean dich nicht vermissen?" "HA! Er hat sich doch entschieden! Für diesen~diesen...!" Schnaubte Ray außer sich, rang er um eine passende Beschimpfung. Er fand sie nicht, weil ungewollt sich Erinnerungen einstellten, wie Azla und Florean einander liebten. Ihn würgte, so sehr, dass er nach Luft rang. "Tja. Eifersucht oder Neid, das ist hier noch immer die Frage." Hei Bao erhob sich, musterte Ray kühl. Ray begann, völlig unerwartet, hysterisch zu lachen. Eifersüchtig? Auf wen? Beneiden? Florean vielleicht?! Er würde NIEMALS... wäre auf KEINEN FALL...! Seine geballten Fäuste zuckten. In seinem Inneren staute sich der Druck der ungelösten Gefühle, der unerträglichen Erinnerungen und fehlenden Hoffnungsschimmer auf eine Perspektive so gewaltig an, dass er sich körperlich befreien musste, um nicht zu zerspringen. Folglich begann er damit, Mobiliar umzustoßen und mit rauer Kehle unartikuliert zu schreien, zu toben und wie ein Berserker zu wüten. Hei Bao beobachtete ihn einen Augenblick, um abzuschätzen, ob sich Ray etwa gegen ihn wenden würde, stellte sich ihm demonstrativ in den Weg. Das fiebrige, irre Glitzern in Rays rot umränderten, grünen Katzenaugen warnte ihn ausreichend vor, der Attacke auszuweichen. Er verpasste Ray einen sauberen Aufwärtshaken. Der Uppercut traf zielgenau. Ray ging gefällt zu Boden. ~+~ Tag 9 "Was ist denn passiert?!" Florean wartete besorgt an der Kabinentür auf Azla. Niemandem an Bord war das Gebrüll aus der Gästekabine neben Hei Baos entgangen. Die Mannschaft war bereits darauf eingeschworen, sich nicht einzumischen. Außerdem war der schwarzhaarige Fremde keiner von ihnen. "Ray ist durchgedreht." Azla behielt seine reservierte Miene bei. Gegen seinen Willen sorgte er sich, weil dieses Verhalten nicht zu "Noir" passte. Weil Ray zu klug, zu geschmeidig, zu geschickt war, um sich ohne Aussichten auf Erfolg ununterbrochen mit Hei Bao anzulegen. "Wie geht's ihm?" Florean selbst wickelte Azla aus Kopftuch und Bewaffnung, die Amethyst-Augen begehrlich in Azlas funkelndes, blaues Auge gerichtet. "Ein Kinnhaken hat ihn erst mal auf die Planken geschickt." Gab der dunkelhäutige Mann zurück. »Wirklich, Ray, WOLLTEST du darauf hinaus?! Habe ich dir nicht mehr beigebracht...?!« "Darf ich ihn besuchen? Vielleicht kann ich ja mit ihm reden..." Florean gab nicht auf, die Hände gegen Azlas muskulöse Brust gestemmt. "Nein, Hei Bao hat es untersagt." Azla schlang die Arme fest um Floreans Hüften, wappnete sich für Vorwürfe und wütende Proteste. "Das verstehe ich nicht! Was könnte ich so Furchtbares bewirken?!" Begehrte Florean, frappierend gesittet auf. Azla studierte das offene, attraktive Gesicht seines Liebhabers eindringlich. Es fiel ihm schwer, gegen seine gewohnte Regel zu verstoßen, nie mehr als unbedingt notwendig preiszugeben. Sich anzuvertrauen. Das endete oft tödlich. Manchmal war er selbst der Vollstrecker dieser Weisheit gewesen. "...Florean..." Setzte er schließlich an, beugte sich vor, um in dessen Ohr zu flüstern. "Ich weiß nicht mit Sicherheit, was Hei Bao vorhat. Aber ich glaube~ich glaube, er will Ray helfen." Florean zog seine Hände, ein wenig eingeklemmt, von Azlas Brustkorb ab, schlang sie um dessen Nacken, über die hüftlangen, weißen Strähnen, raunte zurück. "Aber wobei helfen? Was fehlt Ray denn?" Der Blauäugige Dschinn blieb ihm die Antwort schuldig. Er drückte ihn so fest an sich, als könne Florean ein Harm drohen. ~+~ Obwohl der unerwartete K.o.-Schlag Ray nicht mehr als ein sich verfärbendes Kinn eingetragen hatte, lag er für drei Tage fiebernd im Bett. Mal stammelte er französische Phrasen, dann rief er in der Sprache seines Vaters nach den Eltern, warf sich unruhig hin und her. Der Arzt äußerte sich Hei Bao gegenüber besorgt, dass Ray ihnen, nun auf dem Indischen Ozean reisend, verdursten könne, weil es beinahe unmöglich sei, ihn zum Trinken zu bewegen. Etwas hindere ihn am Schlucken. Außerdem schwelle der Kiefer nicht ab, weil Ray die Zähne so fest aufeinander beiße, dass die Sehnen litten. Dämonen quälten ihn. Hei Bao bedurfte keines Dolmetschers, um zu begreifen, was der Medicus ihm schilderte. Er wäre nicht Hei Bao, der Schwarze Jaguar, wenn er sich vor Dämonen fürchtete! Er hatte diesen Kampf gesucht. Und würde ihn gewinnen. ~+~ "Begleite mich." Forderte Hei Bao Azla auf, nachdem sie die Route für die nächsten Tage abgesprochen hatten. Er informierte seine Crew immer, welche Häfen angesteuert werden sollten. Über seine Gründe schwieg er sich aus. Verhandlungen führte er persönlich oder über Mittelsmänner gewisser Organisationen. Im Vorteil durch die flache Bauweise seiner Dschunke konnte er auch Häfen ansteuern, die Dampfschiffe, vor allem auch offizielle Schiffe der Krone, nicht erreichten. Azla begriff, dass er nicht gebeten wurde, in geschäftlichen Angelegenheiten zu assistieren. Zumindest hoffte er, dass es nicht lediglich "geschäftlich" war. ~+~ Rays Fieber war gesunken, seine körperliche Schwäche geblieben. Und eine unerträgliche Wut, aus Verzweiflung geboren. Er wollte losschlagen, nicht nachdenken! Da, das spürte er, lauerte etwas in der Finsternis der Erkenntnis. Etwas, das ihn zerstören konnte. So fegte er unsicher herum, als sich die Kabinentür öffnete, Hei Bao mit Azla eintrat. Ray zischte eine unflätige Bemerkung auf Arabisch, ein Andenken an den Aufenthalt in der Kasbah von Fez. Wie instruiert hielt sich Azla im Hintergrund, auch wenn die hasserfüllten Smaragdaugen ihn zum Ziel gewählt hatten. "Ray." Hei Bao näherte sich geschmeidig, so offenkundig wehrlos in seinen feinen, reich bestickten Seidengewändern, dass es Ray in den Fingern juckte. "Ich kann dein Verhalten nicht mehr tolerieren." "Ah, ich soll nun also zu den Fischen, wie?! Dann hoffe ich, dass du an mir erstickst, wenn sie dir das nächste Mal Fang vorsetzen!" Fauchte Ray kehlig. Hei Bao lächelte skalpellscharf. "Wie reizend, dass du um meine Gesundheit besorgt bist. Ich neige nicht dazu, Fische zu verzehren, die sich von Aas ernähren." Wild um sich blickend suchte Ray nach Wurfgeschossen. Hei Bao hatte für weitere Wutausbrüche Vorsorge getroffen. "Komm doch her, hol mich, Schlitzauge! Vergiss nicht, diesen verfluchten Verräter zur Hilfe zu nehmen!" Brüllte er, entschlossen, wenigstens bis zum Tod zu kämpfen. "Oh, ich bin zuversichtlich, dass ich mit dir allein fertig werde, kleiner Franzosenbastard." Hei Bao lächelte, die Arme leicht aufgefächert. Damit war den Formalitäten Genüge getan, das Geplänkel beendet. Ray stürzte sich allerdings nicht kopflos auf Hei Bao, sondern begann zu kreisen, nach einem Schwachpunkt zu suchen. Hei Bao bewegte sich mit einer geschmeidigen Mühelosigkeit, alert, federnd, wachsam. Ray hatte die Zeit seiner Rekonvaleszenz nicht ungenutzt verstreichen lassen. Da er sich von Feinden umzingelt, von Freunden verraten fühlte, entsann er sich seiner Vergangenheit. Abrieb der Planken, Staubkörner, Krümel: die Mischung jedenfalls war genug, dass man sie einem Gegner mit Verve in die Augen streuen konnte. Er langte folgerichtig in seinen Beutel am Gürtel, ließ die Wachskugeln in die Finger gleiten, die die gefährliche Staubkornmischung enthielten, schleuderte sie nach Hei Bao. Der drehte sich in einer eleganten Bewegung um die Achse, wich aus, startete seinerseits den Angriff. Ray fluchte, riss wie ein Boxer zur Abwehr die Arme hoch, reagierte verspätet, als Hei Bao sich in die Hocke fallen ließ, mit kreiselndem Schwung seine Beine wegsäbelte. Wuchtig krachte er auf die Planken, stöhnte unterdrückt, rollte sich weg, um wieder aufstehen zu können. Das sah Hei Baos Taktik nicht vor. Der wollte ihn auf dem Boden halten, überbrückte deshalb die Distanz, drehte Rays Arme auf den Rücken. Brüllend und zappelnd wehrte sich der, erkannte die Ausweglosigkeit, spuckte Hei Bao ins Gesicht. Daraufhin traf ihn eine schallende Ohrfeige. "Azla!" Bellte Hei Bao, die Hand gebieterisch ausgestreckt. Der dunkelhäutige Mann zögerte nicht, löste seine Peitsche aus dem Waffengürtel, drückte sie in die schlanke Hand. Als Ray das gefürchtete Instrument erblickte, verstärkte er seine Befreiungsversuche, schrie mit überschlagender Stimme Verwünschungen. Erneut verpasste Hei Bao ihm eine Maulschelle, die Rays Kopf herumriss. Während er noch gegen Übelkeit und Schwindel ankämpfte, wurden seine Handgelenke mit dem Peitschenriemen aneinander gebunden. Mit bloßen Händen riss Hei Bao ihm anschließend die Kleider vom Leib, zerfetzte sie, um sich angewidert das besudelte Gesicht abzutrocknen. In Ray stieg die Erinnerung an Hei Baos Drohung auf, der werde ihn nackt vor seiner Crew verhören, wenn er sich ihm widersetze. In seiner Not wandte er sich an Azla, schrie. "Du Verräter! Warum bringst du mich nicht gleich um?! Statt zuzusehen, wie dieser Bastard mich zu Tode foltert! Du bist auch nichts weiter als ein Hund! Ich verfl...!" Weiter kam er nicht. Hei Bao knebelte ihn kompromisslos. Er spürte, dass Azla näher gekommen war, nur einen Schritt zwar, aber es genügte, um ihn zu alarmieren. Grob riss er Ray an den Haaren hoch, den Peitschenknauf in der anderen Hand. Sag ihm, warum du seinen "Schatz" vögelst." Fixierte er Azla bohrend. Ray zuckte. Hei Bao verstärkte prompt seinen Griff in Rays Schopf. Dem strömten die Tränen aus den entzündeten Augen. Azla blickte in das verzweifelte, geschundene Gesicht des Mannes, den er vor Jahren zu seinem Bruder erklärt hatte. Dem er so nahe gestanden hatte wie niemandem. "Weil du es nicht kannst, Ray." Antwortete er schließlich leise auf Hei Baos Forderung, sanft und traurig. Rays Schrei erstickte in den Fetzen seiner Kleidung. ~+~ Unbarmherzig schleifte Hei Bao Ray bis in das unterste Deck der Dschunke, wo sich die Laderäume befanden. Azla musste ihn begleiten, mit einem Klappstuhl und einer flackernden Laterne vorangehen. Im abgelegensten Raum, eingequetscht zwischen abgeteilten Lagern für dicke Ballen ägyptischer Baumwolle, hielt er inne. Die Lampe wurde an einem Haken befestigt. Er zog den Peitschenknauf durch eine Öse an einem Balken, der die Zwischendecke stützte. Die Arme hoch über den Kopf gezwungen, die Haut schon aufgescheuert, dass sie blutete, blieb Ray keine Wahl, als aufrecht zu stehen, wollte er sich nicht die Arme ausrenken. "Du darfst gehen." Beschied Hei Bao, als Azla den Klappstuhl postiert hatte. Azla wandte sich rasch mit wirbelndem Obergewand ab. Er stürmte die Treppen hinauf, bis er das Oberdeck erreichte, wo er gierig die süße Luft eines tropisch warmen Tages einatmete. Ray hatte es nicht tun können. Und er selbst konnte es auch nicht tun. ~+~ Hei Bao streifte sich sein seidenes Obergewand ab. Darunter trug er einen enganliegenden Panzer aus dünn verflochtenen Lederriemen, der die Arme frei ließ, knapp über dem Becken endete. Die schlank geschnittene Hose betonte einen sehnig-schmalen Körperbau, der nur aus Muskeln zu bestehen schien. Ray erblickte durch den Tränenfilm zum ersten Mal den Mann unter der "Zierpuppe". Er konnte erkennen, dass sein Kampf ohne Aussicht auf Erfolg gewesen war. Dieser Gedanke trat in den Hintergrund. Etwas anderes drängte sich vor jede weitere Überlegung. Es konnte nicht nur das flackernde Licht der Laterne sein, nein~nein. Nein. Im warmen Schein erkannte er, dass die sichtbare Haut auf den Armen des anderen Mannes von seltsamen, unregelmäßigen Flecken gezeichnet war. Keine Tätowierungen, so viel konnte man mit Bestimmtheit sagen, außerdem schien das Muster keiner Norm zu folgen. Eine Krankheit? Ein Unfall? Irgendetwas hatte die Haut des Mannes vor ihm entstellt. Hei Bao lächelte, präsentierte seine perlweißen Zähne. Ein Raubtiergrinsen. Er ließ sich elegant im Klappstuhl nieder. "Beginnen wir mit einer Märchenstunde..." ~+~ "In dieser Geschichte gibt es keine schöne Prinzessin, die von einem grausamen Herrscher mit dem Tode bedroht wird, sollte sie ihn nicht unterhalten. Obwohl sie im Land von 1001 Nacht beginnt. Vielleicht wäre es angemessener zu sagen, dass einmal, vor einer gewissen Zeit, ein Junge aus der Wüste kam. Sein Stamm lag wie viele der wandernden Stämme in Fehde. Als sich das Glück wendete, Allah ihnen die Gunst entzog und sie erschlagen wurden, gelang es diesem Jungen allein, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Auf der Flucht vor den Feinden und den Geistern der Toten wanderte er durch die Wüste, bis er nach Ewigkeiten eine Stadt erreichte. Allein und auf sich gestellt blieb ihm keine Wahl als zu stehlen, was er zum Leben benötigte. Doch er hatte nicht umsonst alle Fährnisse überlebt, seinen Verstand geschärft. Bald schon folgten ihm andere Kinder, die ebenso wie er keine Zuflucht mehr hatten. Sie wollten beschützt werden, versorgt, am Leben erhalten. Dieser Junge konnte kämpfen. Konnte töten, wenn man ihn bedrohte. Man fürchtete ihn, weil seine Erscheinung so außergewöhnlich war. Ein teuflischer Geist aus der Wüste, ein Zauberer! Der dem Licht den Rücken zukehrte, die Finsternis zu seiner Domäne erklärte. Wie oft versuchte man, ihn in eine Falle zu locken, um sich seiner zu erledigen! Wenn er nun die Gassenkinder auf sich einschwor? Sie hinter sich sammelte? Was wussten sie nicht alles über die Reichen und Mächtigen? Längst konnte man sie nicht einfach mehr entsorgen, irgendwo verscharren! Es waren sogar Franzosen gekommen, hatten sich eines Gossenkindes angenommen! Was würde als nächstes geschehen? Wer würde in die Finsternis blicken und gefährliche Geheimnisse entdecken?! Als sie erneut berieten, wie man den lästigen Geist aus der Wüste beseitigen könne, kam ihnen der Zufall zur Hilfe. Weit weg, in einem Land aus Entdeckerträumen, wo das Gold rauschte und Siedlungen wucherten, in einer ganz Neuen Welt, lebte ein mächtiger Mann, der zu Reichtum gekommen war. Er gehörte den oberen Schichten der Siedler- und Pionierelite an. Unter dem Deckmantel seiner vornehmen Abkunft verbarg sich ein Herz so schwarz, das selbst die Hölle es ausgespien hatte. Der ehrenwerte John Davies Romwell verfügte über die besten Beziehungen. Die Familie hatte im Bürgerkrieg Waffen an beide Seiten geliefert, unterhielt Beziehungen in die indischen Kronkolonien. Außerdem operierten sie im Untergrund mit einer Verbrecherorganisation, die ihre Gegner einschüchterte oder beseitigte, um die unersättliche Gier nach noch mehr Reichtum zu befriedigen. Die "Schwarze Hand" schlug überall zu, auf eigene und auf Rechnung ihres "Königs" mit dem schwarzen Herzen. Der "König", der ein gewaltiges Reich zu regieren hatte, verlangte nach Zerstreuung. Und labte sich zu gern an braunen Boys. Bedauerlicherweise "hielten" sie gerade mal ein halbes Jahr, manche noch weniger, dann musste man ihre verstümmelten Leichen ins Meer werfen. Also gingen die Häscher des Königs überall auf die Jagd nach schönen, braunen Jungen, die man nicht vermisste oder ihren Familien abkaufen konnte. Stolz sollten sie sein, selbstbewusst und natürlich von schöner Gestalt. Damit es sich lohnte, sie zu zerbrechen. Als einige der "Schwarzen Hand" in Fez weilten, hörten sie von einem dunklen Geist und arrangierten ein Treffen mit verschiedenen Männern. Man vereinbarte einen Handel, den lästigen Wüstendämonen zu entsorgen, sollte er den Fremden nicht zusagen. Sie jedoch hielten diesen braunen Boy für ein herrliches Präsent an den König. Sie versprachen dem Geist, er werde in das Neue Land reisen, wo er reich und mächtig werden könne. Der adoptierte Sohn eines großen Mannes. Der Junge, der zum Dämonen erklärt worden war, konnte diese Gelegenheit, dem Elend zu entkommen, nicht verstreichen lassen. Über kurz oder lang würde er eine Falle zu viel erleben... So verließ er die Wüste und wurde in den Haushalt des Königs mit dem schwarzen Herzen eingeführt. Der schändete den Geist, quälte und demütigte ihn, doch der Dämon aus der Wüste ließ sich nicht brechen. Zähe und unbeugsam überlebte er ein halbes Jahr, nicht bereit, den Tod zu wählen. Stattdessen lernte er seine Umgebung kennen, lauschte in die Finsternis, von der so viel vorhanden war, erfuhr die Geheimnisse und schmiedete einen Plan der Vergeltung. Zunächst konnte er nur überleben, aber die Wüste lehrte ihre Kinder Geduld. Geduld hatte der Rachegeist, der die fremde Sprache lernte und den König herausforderte. Solange der nicht gewonnen hatte, konnte er den Boy nicht töten lassen! Schließlich gab er dem Rachegeist Aufgaben, auf dass er scheiterte. Aus dem Jungen, der die Wüste durchquert hatte, war längst vor der Zeit ein Mann geworden. Ein Mann, der mit eisernem Willen den Traum der neuen Welt lebte, Einfluss und Macht sammelte. Durch die Finsternis preschte, als scheue selbst der Tod zurück, ihm sein Siegel aufzudrücken. Dann kam die Zeit der Vergeltung. Der König wurde alt, aber vom Leben wollte er nicht lassen. So schickte er den Mann aus, der zu seiner Nemesis geworden war, ihm zu Unsterblichkeit zu verhelfen. Als Lohn wollte er ihm sein Königreich überlassen... Der Rachegeist kehrte also zurück in die Wüste. Sein Lebenskreislauf hatte sich aber noch nicht geschlossen. Nun brach die Zeit der Vergeltung an. Anstatt einer Belohnung wollte ihn der König nämlich ermorden lassen, hatte sämtliche Urkunden, die sein Erbe regelten, die seinen Namen dem Wüstensohn überließen, für gefälscht erklären lassen. Er instruierte seine "Schwarze Hand", gegen den Dämonen vorzugehen. Der Dämon jedoch hatte in der Wüste zu seinen Wurzeln zurückgefunden und längst erkannt, was der König beabsichtigte. Einen gründlichen Lehrmeister hatte er schließlich in ihm gehabt! So kehrte er zurück in das Reich des Königs, auf Schleichwegen, in der Finsternis, so unsichtbar wie ein Schatten in der Nacht. In seinem Palast, umgeben von all seinen Leibwächtern, wartete der König auf neue Zerstreuung, doch statt brauner Boys kam der Gott der Vergeltung über ihn. Er erprobte an ihm alles, was er in den langen Jahren gelernt hatte. Als ruchbar wurde, was den König ereilt hatte, wollten die übrigen Fürsten der "Schwarzen Hand" ermitteln, wer ihr neuer König sei. Sie alle fürchteten, der verstoßene Sohn könne sich all der Geheimnisse entsinnen, die sie über Jahre hinweg gehütet hatten. Nur zu gern waren sie bereit, ihn zu verkaufen, auszuliefern, sogar an den Teufel persönlich. Allerdings war das ein großer Fehler. Der "Prinz" aus der Wüste hatte keinen vergessen, seine Vergeltung sollte fürchterlich ausfallen. Jeden ihrer Schritte hatte er vorausgesehen und deshalb einen Handel abgeschlossen. Das "Königreich" würde dem Erdboden gleich gemacht, die Pfründe der interessierten Partei zugesprochen, die ihm half, sich zu rächen. So herrschte ein entsetzliches Wüten, damit in der Spanne eines Tages überall auf dem Erdenrund die "Schwarze Hand" dem schwarzen Herzen ihres Königs folgte und ausgelöscht wurde. Nachdem die blutigen Taten vollbracht waren, verschwand der Dämon aus der Wüste und ward nicht mehr gesehen. Seine Legende aber lebte weiter, eine Mahnung an alle, keine Geister aus der Wüste zu rufen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann, ja, dann wacht er vielleicht noch immer darüber, dass das schwarze Herz nicht mehr schlägt." ~+~ Hei Bao erhob sich geschmeidig, positionierte sich vor Ray, dessen Kopf gegen einen Arm gesunken war. "Ich wage zu behaupten, dass du und dein Blutsbruder, der dir mehr als einmal das Leben rettete, sehr viel gemeinsam habt." Flüsterte er in das von Schmerzen gezeichnete, ausgezehrte Gesicht. Ray stieß ein ersticktes Gurgeln aus. Der Knebel verhinderte jede Verständlichkeit. "Es gibt nur einen Unterschied." Dozierte Hei Bao unnachgiebig, packte Rays verschwollenes Kinn, erzwang Blickkontakt. "ER konnte ES tun. Du kannst es nicht." Damit ließ er Ray allein, nahm die Lampe mit sich. ~+~ Ray wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, die er allein in der Dunkelheit verbracht hatte. Sein gesamter Körper schmerzte. Er konnte nicht mehr hören als den eigenen Pulsschlag. Blut sickerte immer wieder an seinen aufgescheuerten Handgelenken an den überdehnten Armen hinunter. Er versuchte in seiner Verzweiflung am Knebel vorbei die Flüssigkeit mit der Zunge aufzufangen. Sollte er hier unten elend zugrunde gehen? Hei Baos Worte verwirrten sich in seinem Kopf. Er wollte nicht glauben, dass sie der Wahrheit entsprachen. Doch... Zu genau erklärte dieses "Märchen", weshalb sich sein Blutsbruder, sein engster Freund, sein Beschützer Azla in den mörderischen Verbrecher verwandelt hatte. Trotzdem wollte er ihm nicht verzeihen, dass er Florean...!! Wie konnte er das tun, nachdem ihm selbst...! Außerdem, wieso sollte Florean "danach" verlangen?! Wieso sollte man so etwas tun können müssen?! Florean hätte doch niemals aus eigenem Antrieb...!! Gezwungen worden war er! Wenn nicht nur durch das Opium, dann mit perfiden Tricks!! Azla hatte ihn nicht getötet, weil~weil er sich rächen wollte! Genau! Weil er bei einem Monster gelandet war, während sein "Bruder" zumindest ohne materielle Not aufgewachsen war! Dennoch... wieso kam Florean nicht wenigstens...?! Erschöpft verlor Ray sich in einen apathischen Dämmerzustand. ~+~ "Bitte!" Florean, der zum ersten Mal Hei Bao seine Aufwartung machen durfte, gelinde gesagt überrascht war von dessen Erscheinung in der exotisch wirkenden Aufmachung, plädierte eindringlich. "Bitte! Ich kann mit ihm sprechen, ihn zur Vernunft bringen!" Hei Bao schälte konzentriert eine Frucht, teilte sie, bot Florean aufmerksam eine Hälfte an. Verwirrt bedankte der sich, wollte sofort wieder beginnen, doch Hei Baos knappes Schnalzen, das an einen Peitschenknall erinnerte, ließ Florean zusammenfahren. "Mein lieber Freund. Ich weiß Ihre Offerte durchaus zu schätzen. Bedauerlicherweise kann ich sie momentan noch nicht annehmen." Hei Bao schob die Schale sorgfältig zusammen, funkelte Florean an. Damit war für ihn der Schlusspunkt unter dieses Thema gesetzt. Florean missachtete die unterschwelligen Signale jedoch. "Bitte, lassen Sie mich doch zu ihm! Ich muss ihm erklären, warum Azla und ich... warum ich..." Florean verwünschte stumm die glühende Röte in seinen Wangen, suchte nach einer unverfänglichen Formulierung. "Das wird nicht nötig sein. Ich bin überzeugt, Ray begreift die Umstände." Beschied Hei Bao kühl, erhob sich, ohne seine Hälfte der Frucht zu verzehren. "Ich darf mich entschuldigen. Die Geschäfte verlangen meine Aufmerksamkeit." "Ja, aber..." Florean rappelte sich überrumpelt auf, tapfer bereit, sich unbeliebt zu machen, gegen jede Höflichkeit zu verstoßen. Wenn er damit nur erreichen konnte, endlich Ray Abbitte leisten zu können! Azla, dem nicht für lange verborgen blieb, dass Florean sich heimlich davongestohlen hatte, um Hei Bao zu sprechen, fasste seinen Liebhaber hart an der Schulter. "Wir gehen. Jetzt." Sein kehliges Knurren drohte erheblichen Ärger an. Florean erbleichte. Er senkte weder den Blick, noch schwankte er. "Ray ist mein bester Freund. Ich KANN ihn nicht im Stich lassen." Wisperte er gefasst, bereit, seine Strafe zu ertragen. Azla dirigierte ihn energisch aus der Kabine, grimmig schweigend. Kaum hatte er ihre eigene Kabine betreten, die Tür geschlossen, gab er Florean aus seinem Griff frei. Der rieb sich verstohlen über die schmerzende Schulter, wich dem zornigen Funkeln nicht aus. Er taumelte leicht, als Azlas Ohrfeige ihn traf, schluckte heftig, vermied jeden Wehlaut, auch wenn die malträtierte Haut wie Feuer brannte. Einen Atemzug später hatte Azla ihn fest in seine Arme gezogen, hielt ihn eng umschlungen. Florean spürte überrascht, wie heftig ihre beiden Herzen schlugen. "Tu das nie wieder." Schnarrte Azla kaum hörbar in die hellblonden Strähnen, hauchte einen Kuss auf die anschwellende Wange. "Nie wieder." Florean sog Luft ein, es klang wie ein Schluchzen. Die Augen tränten, deshalb schloss er sie, presste sein Gesicht in Azlas Halsbeuge. "Wir können nichts tun." Raunte der Blauäugige Dschinn mit belegter Stimme. "Seine Freunde können nichts für ihn tun." ~+~ Tag 10 Ray kam zu sich, als ein nasses, kühles Tuch über seine Augen gebunden wurde. Es sollte die Schwellung lindern. Jemand, den er nicht sehen konnte, rieb seinen Körper ab. Unfähig, sich zu rühren, auszuweichen, musste Ray in ohnmächtiger Hilflosigkeit diesen unerwünschten Kontakt ertragen. Der Knebel in seinem Mund lockerte sich. Lange hatte er keinen Trinkschlauch mehr an den aufgesprungenen Lippen gespürt! Obwohl sein Durst ihn halb wahnsinnig machte, zahlte sich das strikte Training mit Azla als Junge aus: er schluckte vorsichtig, bezwang seine Gier. "Ich nehme an, du hast darüber nachgedacht, was ich dir erzählt habe. Bist du immer noch überzeugt, an dir sei Rache geübt worden?" Natürlich, der verhasste Hei Bao! "... ja! JA!" Krächzte Ray, taumelte, stöhnte, weil er umknickte, mit dem ganzen Gewicht an seinen blutenden Handgelenken hing, bis Hei Bao ihn beschämender Weise aufrichtete. "So, so. Wirklich? Tja, ich kann Azlas Vorgehensweise nur bewundern." Erstaunlicherweise schien Hei Bao diese Antwort nicht aufzubringen. So sehr sich Ray auch anstrengte, er hatte Mühe zu hören, wo sich Hei Bao befand. Seine Stimme schien ständig den Standort zu wechseln! "Ich könnte von mir nicht behaupten, so viel Geduld zu üben. Wenn mich jemand gestört hätte, während ich die lästigen Plagegeister aus Paris zu ihrem Schöpfer schicke, hätte ich gleich: Stich und weg!" Munter plauderte er dahin. "Mörder!" Kommentierte Ray hitzig, hustete gequält. Hei Bao belohnte ihn mit weiteren Rationen aus dem Lederschlauch, aromatisiertes Wasser. "Genau! Ex und hopp! Sauber, komplikationslos. Stattdessen dieser Umstand! Sogar Drogen an ihn verschwenden, um es ihm angenehm zu machen! Tsktsk!" Pflichtete er Ray erfreut bei. "Angenehm?! ANGENEHM?!" Rays geborstene Stimme überschlug sich vor Empörung. Ohne das Opium hätte Florean doch niemals...!! "Angenehm." Wiederholte Hei Bao, so nahe an Rays Ohr, dass der erschrocken wegzuckte, beinahe erneut gestrauchelt wäre. "Angenehm, weil die Realität nicht so hart ist, der Körper weich, warm und entspannt. Es könnte ganz anders sein, beim ersten Mal. Oder nicht?!" Damit packte er Rays rechte Pobacke so kräftig, dass der einen unartikulierten Schrei ausstieß. "Hättest du vorgezogen, dass er an Florean erprobt, was man ihn gelehrt hat?" Unnachgiebig bohrten sich Fingernägel in Rays sehnige Kehrseite. "Vielleicht beneidest du ihn ja auch darum. Immerhin ist es Azla..." "Nein! NEIN!" Schrie Ray außer sich, zitterte heftig. Hei Bao gab ihn frei. "Mir wurde berichtet, dass unser dämonischer Wüstenteufel jede einzelne Gelegenheit verstreichen ließ, Florean zum Schweigen zu bringen." Ray presste die verkrusteten Lippen zusammen, um nichts entschlüpfen zu lassen. Er WOLLTE diese Wahrheit nicht akzeptieren! "Ich kann dir versichern, würde man auf mich schießen, ich würde das SEHR übel aufnehmen." Hei Bao bewegte sich in einem kreisenden Umlauf um Ray. "Was willst du?! Was willst du eigentlich von mir?! Warum~warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?!" Ray stieß die Silben heraus, wartete eine Antwort. Es blieb still. Hei Bao hatte ihn erneut allein zurückgelassen. ~+~ Ray litt erneut Durst. Da er dieses Mal nicht geknebelt worden war, leckte er sich das eigene Blut vom Arm, überwand seinen Stolz, krächzte um Wasser. Hier konnte ihn zwar niemand hören, dennoch~dennoch hoffte er. Hei Bao würde ihn nicht einfach hier verschmachten lassen! Sie waren schließlich noch nicht fertig miteinander! Doch warum~warum tat er ihm das an? Als Ray, schon wieder fiebernd ob der Wunden und seiner schlechten Verfassung, sich die Frage wiederholte, verschmolz sie mit der Frage, warum Azla Florean nicht bei der ersten Gelegenheit erschossen hatte. Aus Rücksicht auf den Freund, mit dem er konkurrierte um den Schatz? Lächerlich. Wenn Florean einfach "verschwunden" wäre wie so viele, was hätte er schon ausrichten können? Nicht mal Azla hätte er etwas beweisen können! Aber der hatte...hatte... Ray stöhnte gequält. Azla hatte Florean verführt. Ihn mit Drogen betäubt, um dessen Widerstand aufzuweichen. Immer wieder hatten die beiden zueinander gefunden. War das wirklich Liebe, diese wahnsinnige Beziehung?! Was fand Florean bloß an Azla? Konnte es sein, dass er Florean gegenüber wie früher war? Wie der Blutsbruder, den Ray so schmerzlich vermisst hatte? Gegen seinen Willen, in seiner Schwäche, riefen sich ihm Hei Baos Worte in Erinnerung: war es Neid oder Eifersucht? War er eifersüchtig auf Florean? Oder neidete er Azla dessen Stärke, trotz ihrer Vergangenheit? Ray schluchzte leise vor sich hin, resigniert und geschlagen. Er hätte es nie tun können. ~+~ Azla hatte sich an die Reling gelehnt, die Arme um Florean geschlungen. Der schmiegte sich bequem an, dankbar dafür, dass er nach zwei Tagen striktem Verbot die Kabine hatte verlassen dürfen. Leise erklärte Azla ihm die Sternkonstellationen. Etwas, woran er früher keine großartigen Gedanken verschwendet hatte. Florean streichelte sanft über die Hände, die auf seinem Bauch ruhten. Er fühlte sich geborgen und sicher bei Azla. Vor allem, weil er wusste, dass der sich wirklich um ihn sorgte. "Azla? Ich werde Hei Bao um Entschuldigung bitten, ja?" Murmelte er sanft, wandte den Kopf, schmiegte sich an eine vertraute Wange. Der hob eine Hand, legte sie behutsam um Floreans Kinn, neigte den Kopf, dessen Lippen zum Kuss zu treffen. Hier, im Schutz der Dunkelheit, musste er nichts vortäuschen oder verbergen. "Das ist nicht notwendig." Antwortete er sanft, zog mit den Fingerkuppen die Linien in Floreans Gesicht nach. Ein wenig fester schlang er den anderen Arm um Floreans Taille, der leise aufstöhnte, sich allerdings nicht wehrte. Er küsste ihn erneut, intensiv und ausdauernd, bis sie beide keuchten. Es bedurfte keiner Worte, um ihre unausgesprochene Sorge um Ray zu teilen. ~+~ Ray wünschte, Hei Bao würde ihn etwas fragen. Nicht nur seinen Leib abwaschen, ihm aromatisiertes Wasser einflößen. Wenn er gerade im Begriff war, seine Sprache wiederzufinden, wurde ihm ein knebelnder Schnitz einer Zitrusfrucht zwischen die Kiefer geklemmt. Gierig nach Austausch saugte er, wurde so lange erneut mit Obst "mundtot" gehalten, bis ein textiler Knebel folgte. Wenigstens hatte Hei Bao die Peitsche gegen einen Strick ausgetauscht und seine Wunden verbunden. Rays Kopf ruckte hoch, als er Hei Bao hörte. Blind und stumm konnte er nicht mehr tun, als seinen Körper leicht zu drehen, um Aufmerksamkeit zu suggerieren. Er erkannte am Klang den Eimer, den Hei Bao abstellte, wappnete sich dafür, Hei Baos Hände mit einem feuchten Lappen auf seinem Körper zu spüren. Ganz gleich, wie oft der ihn schon gewaschen hatte: Ray konnte nicht anders als zusammenzucken, sich verspannen, flach und angestrengt atmen. Hei Bao kommentierte seine Reaktion nie. »Warum sollte er auch?!« Dachte Ray gequält. Dieser unheimliche, unnachgiebige Mann wusste Bescheid. Ray zitterte, als er Hei Baos Körperwärme vor sich spürte, der den Knebel lockerte, um seinen Hals schob, ihm den Wasserschlauch an die Lippen führte. Gehorsam und durstig trank Ray brav, lutschte auch artig die Orangenscheiben, die zwischen seine Kiefer dirigiert wurden. Hei Bao entfernte die Augenbinde. Geblendet blinzelte Ray, obwohl nur die funzelnde Laterne den Lagerraum beleuchtete. Hei Bao, nur eine Handbreit Distanz, studierte ihn eindringlich. "Bist du müde, Ray?" Erkundigte er sich sanft. Zu seiner Beschämung traten Ray Tränen in die Augen. Er spuckte den ausgesaugten Orangenschnitz aus, zog die Nase hoch. "... bitte... Bitte... lass mich frei." Krächzte er heiser. Die ungleichen Augen funkelten. Hei Bao tupfte ihm sanft die Wangen ab, trocknete seine Augen. "Noch nicht. Ein wenig länger wird es noch dauern, mein Freund." Wisperte er leise, freundlich. "Was denn?! Was ist dieses ES?!" Ray schluchzte auf, zu Tode erschöpft, abgemagert. Hei Bao hatte sich schon abgewandt. "Geh nicht! Bitte~bitte!" Ray taumelte. Diese Absicht schien Hei Bao zunächst nicht zu verfolgen. Er entledigte sich einfach seiner schmucken Übergewänder, entblößte sich bis auf den ledergeflochtenen Panzer und eine schlank geschnittene Stoffhose, nahm eine Kürbisflasche hoch, kehrte sich Ray zu. "Es. ES ist etwas, dass deine Freunde nicht tun können. ICH kann es tun. Und das werde ich auch." Bemerkte er leise. Ray verstand nicht, schüttelte den Kopf leicht, als könne er den Nebel daraus vertreiben. Hei Bao lächelte in Rays fahles Gesicht. "Schließ die Augen, Ray." ~+~ Das Öl selbst war nicht wärmer als die Umgebungstemperatur. Wenn Hei Bao es auf Rays Haut verteilte, einmassierte, schien es sich aufzuheizen. Ray wand sich, konnte es nicht vermeiden, schluchzte und keuchte. Ein Entkommen war aussichtslos. Gründlich, vom Scheitel bis zur Sohle, behandelte Hei Bao seinen Körper, ließ keine einzige Stelle aus. Glühend, gegen seinen Willen erregt, schwankte Ray, winselte, weil Hei Baos Hände so kundig waren, seine Erektion "molken", bis er sich stöhnend ergoss. Das genügte nicht. Ermattet, von einem inneren Fieber ausgebrannt, ergab sich Rays Körper, als Hei Bao mit Öl geschmeidig gesalbte Finger in seine Kehrseite einführte. Er weinte erschöpft und wurde ohnmächtig, als Hei Bao sich zurückzog. ~+~ Hei Bao wiederholte das Einölen zwei Mal, ließ Ray erschöpft zurück. Dieses Mal gab er Ray nicht nur aromatisiertes Wasser, sondern eine kräftige Brühe zu trinken. Obwohl es ihm gut tat, begann Ray hoffnungslos zu weinen. Was sollte er tun, damit Hei Bao ihn frei ließ? Der trocknete ihm sanft die Wangen ab, kämmte Rays Haare durch. "Erinnerst du dich?" Fragte er leise. "Woran?" Krächzte Ray, lehnte sich ungeniert an Hei Bao an. Längst war das Seil gelockert worden, doch tiefer als knien kam er immer noch nicht. Statt einer Antwort strich Hei Bao ihm über die abgemagerte Kehrseite. Ray begann unkontrolliert zu zittern. Er schüttelte den Kopf, vehement, presste die Augen zusammen. Da waren keine einzelnen Gesichter mehr, nur eine verschmolzene, überdimensionale, unerträgliche Phantomgestalt! "Ich will sie nicht haben. Ich werde sie auslöschen. Jede einzelne Spur, jeden Gedanken an sie." Verkündete Hei Bao eisern. "Ich kann das nicht! Ich KANN nicht!" Schluchzte Ray. "Aber ich kann." Versicherte ihm Hei Bao, fing Rays Gesicht in seinen Händen ein, hielt es fest. "Sieh mich an! SIEH MICH AN!" Erschrocken gehorchte Ray, blickte in die ungleichen Augen, das vertraut-exotische Gesicht. "Ich werde sie vertreiben. Ich kann es tun." Verkündete Hei Bao unerschütterlich. "DU musst es wollen. Dann wird es wahr." Ray begann zu weinen, kindlich und verängstigt. Seine gequälten Schultern zuckten. Er sackte auf die Knie vor Hei Bao. Wie sollte er sich dieses übermächtige Grauen aus der Seele, aus dem Fleisch schneiden?! Währenddessen begann Hei Bao, im gesamten Rund Windlichter aufzustellen, die nach und nach den unbedeutenden Lagerraum erhellten. Ohne Rays Verzweiflung zu beachten salbte er dessen nackten Leib nach der üblichen Reinigung mit dem duftenden Öl ein, drängte ihm einen unerwünschten Erguss auf. Atemlos, ohne einen Funken Widerstandskraft kauerte Ray mit nach vorn gesunkenem Kopf auf den Knien. Wenn nur ein Ende wäre...! Die unerträgliche Hitze in seinem Körper, eingefangen vom Öl, unmöglich durch seine Haut zu entlassen, das musste sein wie in der Hölle gesotten zu werden! Selbst die Tränen verdampften ihm, dem Hoffnungslosen. Hei Bao studierte die elende Gestalt schweigend, löste die Verschnürungen seines Panzers, streifte sich die schlank geschnittenen Hosen ab. Gründlich und mit Bedacht verteilte er das Öl auf der eigenen Haut, bis sie wie polierte, marmorierte Bronze glänzte. Er ging vor Ray in die Hocke, nahm dessen fahles Gesicht in seine Hände. "Ray." Drängte er streng. "Ray!" Die flackernden Katzenaugen konzentrierten sich mühsam auf auf ihn. "Ray." Leise adressierte er seinen Gefangenen. "Sieh mich an. Sieh mich genau an und vergiss keinen einzigen Flecken!" Damit erhob er sich, der Aufmerksamkeit gewiss, drehte sich langsam um die eigene Achse. Blinzelnd, ermattet wagte Ray jedoch nicht, dieser Aufforderung zu entfliehen. Wie fremdartig dieser Hei Bao wirkte, so exotisch und animalisch mit seiner gezeichneten Haut! Rührte daher der Name, von dieser unerklärlichen Beschaffenheit? Während er darüber nachsann, die Gedanken ein träger Brei, kreiselte Hei Bao um ihn, schmiegte sich endlich an ihn, umschlang ihn mit Armen und Beinen. Ray wand sich, wollte ausbrechen, diese brennende Flammenwand ihres Kontakts abschütteln. Umsonst, selbstverständlich, auch sein Flehen. Hei Bao war nicht geneigt, ihn entfliehen zu lassen. Die eleganten, kraftvollen Hände wanderten ungehindert über Rays Leib, eroberten jeden Zentimeter, geschickte Taschenspieler, die ihn wechselseitig ablenkten, bis er nicht mehr ein, noch aus wusste. Er erstarrte in zitternder Angst, als Hei Bao ihm wie die Male zuvor reichlich mit Öl benetzte Finger in den Anus einführte, hielt die Luft an, die Zähne verkeilt. In seinem Kopf ballten sich verwirrte Erinnerungen an die Kasbah, die dunkelsten Winkel, wo es schäbige, mit Staub gebackene Fladen nur gab, wenn er... Hei Baos Hand riss ihm das Kinn hoch, legte sich unbarmherzig um seine Kehle, zwang ihn, Luft zu schöpfen, während unverständliche Silben in sein Ohr gesummt wurden. Er kannte diese kehlige Sprache nicht, ein eigentümlicher Singsang, der so eindringlich in sein Bewusstsein stürmte, verdrängte und niederwalzte, was störte. Ray wusste nichts von den zärtlichen Komplimenten, den klassischen Liebesschwüren, den Hymnen, die man sang, wohin ihn der 'Schwarze Jaguar' zu entführen trachtete. Einzig die ungewöhnliche Melodie der warmen, gefühlvollen Stimme bezwang seine Angst. Die Repetition der Verse wie ein Refrain brannte sich in sein Gedächtnis. Der Rhythmus, beschleunigter Herzschlag, der unter diesem Gesang schwebte, dirigierte Hei Baos Hände. Seinen Leib, als er eroberte, was vor Jahren gestohlen worden war. ~+~ Ray fand sich auf einer ausgerollten Strohmatte wieder, die Handgelenke von Fesseln befreit. Um ihn herum tanzte das Licht aus zahlreichen Quellen. Hei Bao, der Schwarze Jaguar, hockte neben ihm, tupfte ihm bedächtig Schweißperlen von der Stirn. Ray erinnerte sich, stöhnte leise auf. Über ihm lächelten perlweiße Zähne, nicht spöttisch, nicht triumphierend. Erleichtert. Vorsichtig rollte sich Ray zur Seite, zog mühsam die Knie unter den Leib, um sich aufzurichten. Trotz des Ölfilms, der die Glieder, Muskeln und Sehnen geschmeidig halten sollte, spürte er jeden Knochen schmerzhaft. Zögernd, zitternd hob er die Hand, streckte sie nach Hei Bao aus, berührte ihn, wie ein Zweifelnder, Ungläubiger mit den Kuppen zaghaft an der Wange. Hei Bao selbst nahm bedächtig, um Ray nicht zu verschrecken, dessen kundschaftende Hand, legte sie unter die eigene auf seiner Wange. Er beugte sich vor, den Blick unverwandt in die smaragdgrünen Katzenaugen gerichtet, bis die Distanz es unmöglich machte. Sanft berührte er Rays Lippen, die er während dem letzten Fieberschub nach ihrer ersten Vereinigung mit Honig bestrichen hatte, erprobte einen Kuss. Ray reagierte ebenso vorsichtig, ungelenk, bange. Wen hatte er schon jemals wirklich liebkost? Ein zerreißendes Sehnen gespürt, das ihm auferlegte, den Liebsten zu verschlingen? Kundig angeleitet von Hei Bao, der den Honig leckte, immer wieder hinabtauchte in die verborgene Dunkelheit hinter der Palisade starker Zähne, das Terrain sondierte, erwiderte Ray diese Artigkeiten, küsste diesen Fremden, der ihm so nahe war und doch so unergründlich fern. Er schlang die Arme um Hei Baos Nacken, schluchzte erleichtert auf. So viel Druck war von ihm genommen, endlich der Selbstekel, die Verachtung besiegt worden! Hei Bao wiegte Ray auf seinem Schoß wie ein Kind, streichelte ihm durch die verfilzten Haare, kreiste über dessen Rücken, als Ray sich einen Schluckauf zuzog. Er wiederholte die unbekannten Silben, die er ihm vor einiger Zeit so eindringlich in die Seele gesungen hatte. ~+~ Obwohl Ray sich vorgenommen hatte, mit seinen Kräften sparsam zu haushalten, wollte er sich selbst Öl und Staub abspülen. Bereits nach kurzer Spanne zitterte er, konnte den Lappen kaum halten, nicht mehr stehen. Hei Bao fing ihn ab, bevor er unsanft auf die Planken schlagen konnte, bettete ihn auf die ausgerollte Strohmatte. "Ray. Gemach! Einen Sieg muss man genießen können." Sanft streichelte er ihm über die glühende Stirn. "... so schwach!" Krächzte Ray heiser, über sich selbst verärgert. War ihm nicht tonnenschwerer Ballast abgegangen?! Warum fühlte er sich so matt und träge wie ein satt gefressenes Raubtier?! Hei Bao schmunzelte, über Ray gebeugt. "So ungeduldig! Allerdings bin ich das auch, tsktsk." Ein wenig versonnen runzelte er die Stirn. Ray blinzelte ihn fragend an, legte die Hände auf Hei Baos Unterarme. "Noch einmal. Bitte gewähre mir noch einmal Gastrecht in deinem Leib." Wisperte Hei Bao auf Arabisch. Unwillkürlich errötete Ray bei diesem poetisch vorgetragenen Ansinnen, suchte in den ungleichen Augen nach einer Erklärung. Nach den Gründen, warum Hei Bao seine Dämonen verjagen wollte. Er rang erst nach Luft, teilte die Lippen, brachte aber keinen verständlichen Laut hervor. "Ich darf?" Hei Bao lächelte aufmunternd auf ihn herab, löste seine Arme sanft aus Rays Händen, streichelte ihm klebrige Strähnen aus dem glühenden Gesicht. "Wirst du mich auch ansehen?" Ray nickte hastig. Sich vergewissern, dass es Hei Bao war, der Dämonentöter? Unmöglich, es nicht zu tun! Über ihm funkelten Hei Baos Augen. Er bleckte die Zähne wie ein Raubtier, ließ sich zu Ray hinab. Wie anders war es dieses Mal! Kein fremder Gesang in Rays Ohren, nicht der beinahe glitschige Kontakt, wenn sich ihre Haut berührte. Hei Bao begann mit einem zärtlichen Schnäbeln, sanften Liebkosungen, einem bedächtigen Erkunden, als hätte er Ray nicht bereits oft berührt, gewaschen, gesalbt. Diese Erkenntnis allerdings verwandte er ungeniert, ihn zu locken, mit Küssen, Streicheleinheiten, dem Zungenspiel zu verführen. Zum ersten Mal spürte Ray, dass er Hei Baos Zuneigung WOLLTE! Kein schamhaft-schüchternes Wünschen, sondern ein starkes, quälendes Verlangen. Das war mehr als schnöde Lust, dem Trieb geschuldet. Unerfahren und in Seelenpein gestürzt wusste er damit nicht anders umzugehen, als nach Hei Baos Gesicht zu suchen, sich anzuklammern. Der ließ sich Zeit, auch wenn es ihn im Verborgenen durchaus marterte. Hei Bao war entschlossen, alle "Nebenbuhler" zu vertreiben. Wenn Ray Lust empfand, wenn er nach einem Liebsten verlangte, sollte EINZIG UND ALLEIN sein Gesicht vor dessen Augen schweben! Seine Stimme seine Ohren umwerben, seine Berührung ihn in Verzückung versetzen! Er duldete keine Rivalen neben sich, mochten sie auch finstere Albträume eines verwaisten Kindes sein! Mit abgewogen steigernder Leidenschaft liebkoste und küsste er Ray, umhegte dessen Erektion, hielt ihn eng an sich gezogen, dass er sich niemals verloren und bange fühlen sollte. Kein Zweifel, kein Zögern, kein Verschrecken. Wie von selbst teilte Ray schwer atmend, mühsam gegen die ungewohnte Lust, sich vollkommen in der Ekstase zu verlieren, die Beine, hieß Hei Bao willkommen. Noch mehr, noch viel stärker, ja, unzertrennlich wollte er bei ihm sein! Hei Bao nahm sich die Herzschläge heraus, in Rays Gesicht zu blicken, ihm ohne Worte zu versichern, dass NICHTS ihm wehe würde. Er besiegelte das stumme Versprechen mit einem langen, intensiven Kuss, bevor er zum zweiten Mal in Ray eindrang. ~+~ "Ich~ich kann doch selbst..." Murmelte Ray, beschämt und verlegen, aber auch sehr erschöpft. Er "ritt" auf Hei Baos Schoß, ihm zugewandt, die Arme um dessen Nacken geschlungen, dessen schweren Zopf in einer Faust gefangen. Hei Bao streichelte mit der freien Hand über seinen Rücken, während die andere damit beschäftigt war, den austretenden Samen von Rays Unterleib zu wischen. "Ruh dich ein wenig aus, Ray." Beschied Hei Bao ihm leise. Es verstand sich für ihn von selbst, den eigenen Samen zu entfernen. Immerhin hatte er großzügiges "Gastrecht" genossen. "Oh." Kommentierte Ray, als ihm bewusst wurde, dass er noch immer Hei Baos geflochtenen Zopf umklammerte. Der lächelte, neckte ihn sanft auf Französisch. "Mir scheint, meine bescheidene Kopfeszier hat es dir angetan, werter Herzensfreund. Unwillig warst du, sie mir zu erstatten, während wir uns Amors Segen erfreuten." Ray erglühte verlegen, öffnete die Hand, sah die Kerben der eigenen Nägel im Fleisch. Hatte er sich tatsächlich an Hei Baos Zopf geklammert wie an einen Anker in stürmischer See? "Mein Liebster. Ich werde, du gestattest, ihn dir überlassen, zu deiner Freude, wenn ich, aller Sorgen ledig, ihn nicht mehr brauche." Summte Hei Bao in einer heiteren Melodie. Impulsiv war Ray versucht zu entgegnen, es liege ihm sehr viel mehr an dem, was der Zopf am Ende hüte als am Zopf selbst, doch in plötzlicher Scheu brachte er gar nichts mehr hervor. Hei Bao zwinkerte ihm zu, um ohne amüsierter Triller oder Spott zu ergänzen. "Es ist mir durchaus ernst, Ray. Er soll dir gehören, das verfüge ich." "Dann~dann gestatte ich dir einstweilen, ihn noch zu hüten." Ray räusperte sich hastig. Es klang weniger hochtrabend und unverschämt, als er beabsichtigt hatte, da seine Stimme ihn im Stich ließ. Der Adressat seiner "Großmut" lachte heraus, funkelte Ray blitzend an. "Ich danke dir." Versetzte Hei Bao ohne Zierrat. Ray wagte ein herausforderndes Grinsen, ein Schatten seiner charmanten Maske als "Noir". Demonstrativ schloss er die Finger wieder um den Zopf, legte das Haupt wieder auf Hei Baos Schulter ab, von der bleiernen Müdigkeit eingeholt. Hei Bao ließ seine perlweißen Zähne in den Lichterkranz blecken. Er hatte die schönste aller ungewöhnlichen Katzen angelockt, war nicht willig, sie jemals wieder in eines anderen Obhut zu entlassen. ~+~ Hei Bao verfügte, dass der erschöpfte Ray in seiner Kabine untergebracht wurde und niemand ihn zu behelligen habe. Da Ray beinahe ständig schlief, die aufregenden Erlebnisse, die Zeiten zwischen dunklem Wachen und finsteren Träume verarbeitete, konnte er sich unbesorgt den eigenen Geschäften widmen. Entlang den Küsten führte sie ihre Route, zwischen den Inseln noch einmal Menschenfracht anheuern, die für den Panamakanal auf immer ihre verarmte, von Hungersnöten und Ausbeutung geplagte Heimat verließen. Für ein erbärmliches Kopfgeld gekauft wanderten sie in die unteren Decks, streng kontrolliert von Hei Baos Mannschaft aus erfahrenen und verschworenen Seeleuten. Proviant musste gefasst werden. Ihr Ziel hieß schließlich der südamerikanische Kontinent! Florean starrte sehnsüchtig aus dem Kabinenfenster. Wann hatte er sich das letzte Mal an Land die Füße vertreten? Azla hatte es ihm nicht erlaubt. Es schien ihm trotz der "Verkleidung" zu gefährlich. Noch konnte Florean sich nicht ausreichend zur Wehr setzen und außerdem... Außerdem, fürchtete der Blauäugige Dschinn, dass es Florean wohl niemals gelingen würde, das für ein kompromissloses überleben notwendige Misstrauen zu entwickeln. Erfreut wandte er sich um, als die Kabinentür sich öffnete. "Azla!" Er sprang auf, hielt auf den dunkelhäutigen Mann zu, schlang ihm ungeniert die Arme um den Nacken, strahlte in das blaue Auge. "Würdevoll und reserviert wie immer." Knurrte der "Wüstenteufel". Der freie Arm, den er Florean um die Taille schlang, konterkarierte seine Kritik. Florean unterdessen befleißigte sich, das Kopftuch zu entfernen, stemmte sich auf die Zehenspitzen, küsste Azla hungrig. Er hatte ihn so sehr vermisst! Die Stirn aneinander gelegt schöpften sie beide gierig Atem. Azla schob den anderen Arm vor, auf dem er Kleider transportierte. Hei Bao hatte dafür Sorge getragen, dass Azlas Garderobe nicht mehr für zwei reichen musste, sondern exakt entsprechend des Zuschnittes für Florean Obergewänder, Hosen, Kopftücher und zwei Umhänge zunähen lassen. "Für mich?!" Verblüfft betrachtete Florean die Geschenke, die Azla auf dem Bett ausbreitete, nachdem er die notwendigen, dichtmaschigen Moskitonetze hochgerollt hatte. "Wir fahren nach Südamerika." Erklärte Azla zögerlich. Er wusste nicht genau, wie viele Tage sie auf hoher See verbringen würden, außer Reichweite von Häfen oder Land. Er konnte nur hoffen, dass es keine Stürme gab. Ihm graute davor, Florean allein der Seekrankheit überlassen zu müssen, wenn Hei Bao nach ihm verlangte. "Ist das weit? Warst du schon mal so weit weg?" Fragte Florean unbefangen. Reisen "mit dem Zeigefinger auf der Landkarte" verliehen ihm keine Vorstellung von dem, was die Realität bot. Nein, sie hatten ihn bisher gelangweilt, weil nie zu erwarten stand, dass er jemals die heimatlichen Gefilde verlassen würde. Wo war er nun bereits gewesen! "Sehr weit." Antwortete Azla reserviert, streichelte durch die hellblonden Strähnen, die so seidig weich ganz anders beschaffen waren als seine eigenen Haare. Sie verführten ihn dazu, Florean beständig liebkosen zu wollen wie ein Schoßtierchen. Dessen Amethyst-Augen studierten ihn erschreckend aufmerksam. Zu Azlas Unmut erwies sich sein Gefährte gelegentlich als bedrohlich sensibel, drohte an Verborgenem zu rühren. "Du willst mir nicht davon erzählen." Schlussfolgerte Florean aus der versteinerten Mimik des weißhaarigen Mannes, den er mittlerweile recht gut einschätzen gelernt hatte. Vielleicht, da war er ehrlich mit sich selbst, nur deshalb, weil Azla sich nicht mehr so strikt vor ihm verschloss. Azla schwieg. "Macht nichts." Bekundete Florean großzügig, schmiegte sich in die Handfläche, die seinen Nacken kraulte. "Wenn du bei mir bist, soll es mich nicht kümmern, wo wir uns befinden." Lächelnd wandte er sich ab, um über die neuen Kleider zu streichen, ein goldener Prinz in Azlas zu großen Gewändern. Dem wurde die Kehle eng. Nicht zum ersten Mal begriff er uneingeschränkt, warum Ray alles gewagt hatte, diesen "Schatz" zu gewinnen. Da war ein Zauber, eine Magie, die durch alle Wände schritt, Schlösser öffnete, Finsternis erhellte. Beinahe brutal schlang er die Arme um Florean, presste sich an dessen Gestalt, hielt ihn gefangen. Florean rang nach Luft, wehrte Azla nicht ab. Nein, ihm gefiel dessen seltene, ungestüme Gunstbezeugung über alle Maßen. "Je t'aime." Schnurrte er in den dichten weißen Haarvorhang, der ihn ebenfalls einhüllte. Er ahnte mehr, als er es mit Bestimmtheit zu sagen wusste, wie tief er damit in Azlas Seele vordrang. Zum ersten Mal allerdings hörte er Azla antworten. "Mein Licht." ~+~ Tag 11 Ray löffelte langsam den Gemüseeintopf, tunkte zerrupftes Fladenbrot ein. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit fühlte er sich bei klarem Verstand und kräftig genug, sich wieder Gedanken über die Zukunft zu machen. Hei Bao hatte ihn seit ihrem Liebesakt im Unterdeck lediglich höchstpersönlich mit frischer Wäsche und Mahlzeiten versorgt. Ob er nur geträumt hatte, dass sich dessen sehniger, gefleckter Leib an ihm geschmiegt, ihn in die Arme genommen hatte, während er schlief? "Warum?" Fragte Ray laut, schob das Geschirr ein wenig von sich weg. Warum hatte Hei Bao so viel Mühe auf ihn verwendet? Unbestritten war, dass, wenn er daran dachte, wie sie sich berührt hatten, wie sich der dicke Zopf in seiner Hand anfühlte, nur und ausschließlich Hei Baos exotisches Gesicht vor ihm schwebte, dessen melodiöse Stimme fremde Silben in sein Ohr raunte. Ihn überlief ein wohliger Schauer. »Nie~nie hätte ich gedacht...« Körperliche Zuneigung war für ihn verloren gewesen seit damals. Jetzt schienen diese Erinnerungen tatsächlich ausgelöscht zu sein, die unheimlichen Albträume eines Kindes, von Bestien ohne Gesicht und feste Gestalt. Ein Nachtmahr, der vertrieben worden war. Hei Bao hatte jedoch eine Lücke hinterlassen, die ihm zum ersten Mal begreiflich wurde. Dieses schmerzhafte Ziehen in seiner Brust. Ray seufzte leise, erhob sich langsam, ging zum Fenster, blickte auf eine üppige Dschungellandschaft hinter einem bescheidenen Hafen, nur aus Holz und Rohrgewächsen angelegt. Wann würde Hei Bao die Zeit finden, zu ihm zu kommen? Hieße es, in die eigene Kabine zurückkehren zu müssen, wenn seine Gesundheit wiederhergestellt war? ~+~ Ray musste sich in Geduld üben, bis sie bereits auf hoher See waren. Eingeschlossen in Hei Baos geräumige Kabine hatte er zwar ausreichend Muße, in dessen Bibliothek zu stöbern. Alle anderen Fächer, besonders des Schreibtisches, waren mit ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen gegen neugierige Langfinger gesichert. Er paradierte ungeduldig auf und nieder, als er hörte, wie das Schloss entriegelt wurde. Hei Bao lupfte gedankenverloren eine Augenbraue, als Ray auf ihn zuschoss. "Endlich!" Stieß er hervor, wurde sich bewusst, wie er auf Hei Bao wirken musste. "..ich..." Räusperte er sich. "... ich wollte... wollte..." "Geht es dir gut?" Hei Bao schmunzelte ungeniert. Die Mundwinkel zuckten. "Ich denke, ich habe dir ausreichend Lektüre zum Zeitvertreib überlassen, oder nicht?" Ray ließ die Arme sinken. Seine Schultern sackten spannungslos herab. Selbst sein ungelenk gebundener Zopf im Nacken schien die Spannung zu verlieren. "Ah. Ah, wie dumm von mir. Selbstverständlich." Murmelte er tonlos, senkte den Blick auf die Planken, verneigte sich steif. "Ich danke für die Gastfreundschaft. Es war unerhört generös, mir Ihre eigene Kabine zu überlassen. Da ich wiederhergestellt bin, werde ich umgehend diese Gefilde räumen. Entschuldigen Sie mich." Abrupt machte er kehrt, wollte mit bebenden Händen seine Kleider aus dem Wandschrank räumen, zu einem unordentlichen Häufchen zusammenfügen, als Hei Baos Stimme ihn innehalten ließ. "Was fehlt dir, Ray?" Wütend fegte Ray herum, funkelte Hei Bao mit smaragdgrünen, glasklaren Katzenaugen aufgebracht an. "Was mir fehlt?! Hier, da schmerzt es mich so sehr, dass ich kaum atmen kann!" Er schlug sich auf die Brust. "Wirklich? Und ich vermute, dieses Ungemach entspringt meinem Tun?" Hei Bao näherte sich im Katzenschleichgang, bedächtig, alert. "Nein! Nein, verantwortlich bin ich ganz allein!" Spuckte Ray heftig aus, raffte hastig seine Kleider zusammen. "Aber was soll ich tun?! Keine eisernen Bande können ein Herz halten, wenn es frei fliegen will und sich eine neue Heimat sucht!" Versetzte er giftig. Nicht unbedingt poetisch. Ray konnte nicht an sich halten. Er verwünschte seine lächerliche Hoffnung, die nur in Enttäuschung enden konnte! Hei Bao hielt ihn auf, legte die Hand auf Rays Brust, blickte ihm tief in die Augen. "Seltsam. Wie kann ich hören, was angeblich entflogen ist?" Lächelte er herausfordernd. Ray funkelte in das ungleiche Augenpaar. "Nur ein hohles Echo!" Zischte er. "Unvernünftig. Es nicht einzusperren und anzuketten." Tadelte Hei Bao, klopfte auf Rays Brustkorb, bleckte seine perlweißen Zähne. "Wie, mein Freund, schlägst du vor, sollte man dieses große Loch ausstopfen?" Ein grollendes Knurren entwich aus Rays Kehle. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Ich bin ein Dieb! Also werde ich entsprechend handeln!" Fauchte er. Hei Bao musterte ihn schweigend, trat einen Schritt zurück. "Ist das eine gutgemeinte Warnung?" Erkundigte er sich im Plauderton. "Nein! Ein Versprechen." Brummte Ray, ließ die Kleider achtlos fallen, trat über sie hinweg, baute sich vor Hei Bao auf. "Ich werde dein Herz stehlen. Dann wohnt es hier in diesem Käfig und kann dich im Auge behalten." Flüsterte er, klopfte sich auf die Brust. Hei Bao lachte leise. "Was sollte es sehen, dass es nicht schon längst wüsste?" "Dich. Dich wird es sehen." Wisperte Ray, einen Wimpernschlag von Hei Bao entfernt. Unvermutet versteinerte Hei Baos Miene. "Niemand sperrt mich jemals in einen Käfig." Versetzte er eisig. "Wir werden sehen." Wiederholte Ray mit zusammengebissenen Zähnen seine Herausforderung, raffte die am Boden verstreuten Kleider zusammen, verließ grußlos die Kabine. ~+~ Aufgebracht ließ Ray die Kleider einfach auf seinem Bett liegen, stürzte die Treppe hinauf auf das Oberdeck, um sich Bewegung zu verschaffen. »Dummkopf! Einfältiger Esel! Aus welchen Grund verlierst du nur stets und ständig die Contenance, wenn du mit ihm sprichst?!« Schalt er sich selbst. Sich hinreißen zu lassen, Begeisterungsfähigkeit, ja, das mochte wohl angehen, wenn man auf der Jagd nach einem besonderen Schatz, einem edlen Schmuckstück, einer außergewöhnlichen Entdeckung war. Nicht jedoch gegenüber diesem unerträglich, von sich selbst eingenommenen Gangster! Ray zweifelte nicht daran, dass Hei Bao der Kopf hinter der Beseitigung des "Schwarzen Königs" war. Außerdem musste er älter sein, als es den Anschein hatte. Von nicht zu spezifizierender Herkunft. »Ein Herumtreiber!« Knurrte Ray, marschierte im Sturmschritt über die Außengalerie, da er das Oberdeck angefüllt mit ärmlich wirkenden Männern gefunden hatte. Vage entsann er sich, dass es wohl die Kontraktarbeiter sein mussten, die man aus den Unterdecks in Gruppen an die Luft ließ. »Heimatloser Strolch auf einer beflaggten Badewanne!« Schimpfte er grimmig, trug den Gesichtsausdruck eines Zitronenvorkosters zur Schau. In diesem Moment erblickte er, eher beiläufig, weil er sich gänzlich auf seine vernachlässigten und missachteten Gefühle konzentrieren wollte, zwei Gestalten in Burnus-ähnlicher Aufmachung. Die weiße Mähne, die im frischen Seewind wehte, konnte nur zu Azla gehören, doch wer war der Begleiter? Da hörte er bereits einen euphorischen Ruf. "Ray! RAY!" Verblüffend flink ließ sich Florean, kein anderer konnte es sein!, auf den Blitzgang der Galerie herunter, eilte Ray entgegen, warf sich ihm ungebremst in die Arme. "Es geht dir gut! Oh Ray, ich habe dich vermisst! Ich wollte bestimmt nicht, dass dir meinetwegen etwas geschieht!" Schniefte Florean, zerrte sich den Tuchzipfel aus dem Gesicht. Derart besprudelt wusste Ray nicht, ob er zuerst nicken, Kopfschütteln oder Florean tadeln sollte für dessen Arglosigkeit, ausgerechnet auf eine unbekannte Dschunke zu steigen! Einmal mehr drängte sich die Vermutung auf, Hei Bao habe auch diesen Schachzug längst geplant, um ihm zu bedeuten, es wäre von Vorteil, sich mit ihm zu verbünden, wolle er weiterhin über das Wohlergehen seines Freundes wachen. "Geht es dir gut?" Behutsam schob er Florean ein wenig von sich, um ihn betrachten zu können. "Ja. Ich bin glücklich, Ray." Offen strahlte ihn der einzigartige Juwel an, den er auf seiner Suche nach den Templerschätzen wirklich gewonnen hatte. Unwillkürlich seufzte Ray nachsichtig, konnte leider das hellblonde Haar nicht wie gewohnt zausen, um Florean zu necken, da es unsichtbar unter dem Kopftuchturban blieb. "Bitte verüble es mir nicht...Azla...und ich..." Florean leckte sich zögerlich, verlegen die Lippen. "Solange er gut auf dich achtet, will ich es noch einmal übersehen." Gab Ray streng zurück, kniff ersatzweise in Floreans Nasenspitze. "Wie großmütig! Dann werde ich auch KEIN WORT darüber verlieren, dass du dich ganz ungezogen rar gemacht hast!" Brummte Florean, rächte sich, indem er Ray fest in eine Wange kniff. Bevor Ray eine gespielt bissige Bemerkung formulieren konnte, hatte Azla die beiden Freunde erreicht. Über Floreans Schulter hinweg sah er Ray offen ins Gesicht. "Bitte vertragt euch doch! Diese unselige Schatzsucherei haben wir nun wirklich abgeschlossen, oder nicht?!" Mischte sich Florean ungeduldig in das stumme Abtasten der Blutsbrüder. "Ich wünschte~ich wünschte so sehr, ich hätte dich mitnehmen können, mein Bruder." Wisperte Ray leise in der Sprache seines Vaters, die nur Azla verstehen konnte. Azlas blaues Auge blinzelte. "Und ich wünschte, ich wäre dir gefolgt, kleiner Naseweis." Antwortete der Blauäugige Dschinn kaum hörbar. Zu seiner Beschämung traten Ray Tränen in die Augen. Was hätte er mit Azla an seiner Seite erreichen können! Welches unaussprechliche Leid hätte er ihm erspart. Azla tat den ersten Schritt, legte behutsam die Arme um Ray, zog ihn an sich. Musste er nicht dankbar dafür sein, dass dieser verlorene Bengel mit dem grünen Katzenaugen noch immer fähig war, Tränen zu vergießen? Trotz all des Unglücks, das ihn so früh getroffen hatte? "Immer noch bist du so verletzlich, dass ich mich sorgen muss." Flüsterte er in ein unter dichtem schwarzen Haar verborgenes Ohr. Ray schniefte erstickt. "Ich kann nicht anders, mein Freund! Wie sehr ich mich auch bemühe." Gut verborgen vor neugierigen Blicken lächelte Azla, klopfte Ray auf den Rücken wie einem Säugling. "Was für eine Plage du doch bist!" So flüssig gingen ihm die kehligen Silben über die Lippen, als hätte er sie gestern erst ausgesprochen, wenn er wieder einmal das trotzige Findelkind vor Schwierigkeiten bewahrt hatte. Nun brachte sich auch Florean ungeduldig in Erinnerung. "Ich votiere dafür, dass wir uns verbünden. Immerhin sind wir jetzt ja gemeinsam auf der Reise!" Widerstrebend machte sich Ray von Azla los, wischte sich mit dem Ärmel verstohlen die Augen, pflichtete ihm bei. "Ganz recht. Wer weiß schon genau, was unser Gastgeber auszuhecken trachtet." Azlas warnender Blick hinderte Florean im letzten Moment daran, impulsiv zu erkunden, wie intensiv die Bekanntschaft Rays mit Hei Bao beschaffen war. So beschied er sich darauf, energisch seine Begleiter anzutreiben, sich in ihrer Kabine bei einem Krug abgekühlten Tees die Spinnweben aus dem Kopf zu spülen. Ein neuer Anfang sollte gemacht werden. ~+~ Hei Bao hielt inne, als er im Halbdunkel einer einsamen Laterne den Schemen einer Person in seinem Bett gewahrte. "Ein unerwarteter Besuch. Welchem Umstand verdanke ich diese Ehre?" Bemerkte er reserviert. Ray, der aufgrund der langen Warterei eingedöst war, setzte sich langsam auf. "Ich möchte dich einladen. Bitte nimm meine Gastfreundschaft an." Wisperte er heiser, die Kehle trocken. Abwartend wandte sich Hei Bao ab, sortierte scheinbar beiläufig Folianten in seine Bibliothek. "Plagt dich die Langeweile so sehr? Oder glaubst du, auf diese Weise zu stehlen, was du einzusperren hegst?" Er hörte Ray getroffen keuchen. "Ist es so ein Vergnügen, mich zu verspotten?" Antwortete er bitter. "Bist du hier, weil die Schmerzen unerträglich geworden sind? Schnürt es dir wieder die Kehle ab? Legt sich wie eiserne Banden um deine Brust? Obwohl doch nichts mehr darin haust, was zerquetscht werden kann?" Hei Bao gelang der boshaft-verächtliche Ton perfekt. Ray blieb einen Moment sehr still, antwortete leise, forschend. "Wie gut du dich darin auskennst. Persönliche Erfahrung, möchte man meinen." "Eine Meinung, die unausgesprochen bleibt, sollte sie nicht Konsequenzen haben." Fauchte Hei Bao frostig. Ray schob die dichten Moskitonetze zur Seite, entstieg dem eingebauten Bett, blank und bloß. "Ich glaube auch nicht, dass dein Herz jemals diesen Käfig von außen geschaut hat. Wie könntest du also nachfühlen, was mich quält." Sie maßen einander mit feurigen Blicken, trotzig, überheblich, vorwurfsvoll. "Du kannst es nicht stehlen!" Zischte Hei Bao endlich. "Ich weiß. Ich weiß das längst. Aber wenn ich dir nahe bin, lässt sich die Pein vielleicht lindern." Lächelte Ray müde, senkte geschlagen den Blick. "Wie unklug von dir, dein Herz in einen fremden Käfig entwischen zu lassen!" Spottete Hei Bao, musterte Ray von der Sohle bis zum verwirrten Schopf eingehend. "Dem muss ich widersprechen. Wo könnte es besser und sicherer aufgehoben sein als in der uneinnehmbaren Festung Hei Baos?" Unnachgiebig verschränkte Ray die Arme vor der nackten Brust. Sein bezeichnender Blick traf Hei Baos unter feiner Seide verborgenem Brustpanzer. "Wirklich. Mir war so, als wolltest du etwas entwenden? Da, greif zu. Wenn du kannst." Schnarrte der grimmig. "Ich danke." Deutete Ray eine Verbeugung an, marschierte auf Hei Bao zu, legte die Hände um dessen Kopf, widerstand dem bösen Blitzen in den ungleichen Augen, küsste ihn sanft. "Kommst du nicht zu mir, suche ich dich auf. Wenn dein Herz so einsam ist, dass es meines zur Gesellschaft verlangt, werde ich unermüdlich an der Festung pochen, bis mir Einlass gewährt wird." Wisperte er an Hei Baos Ohr. Er erwartete, grob weggestoßen zu werden, abgestreift wie ein lästiges Insekt. Hei Baos Miene blieb unleserlich, eine undurchdringliche Maske. »Warum ist er so empfindlich, wenn ich andeute, seine Liebe gewinnen zu wollen? Erfahrener Schmerz oder höhnische Verachtung für die Liebe selbst?« Dachte Ray. Wie dem auch sei, er konnte nicht mehr weichen. Nicht allein seines Stolzes Willen. Nein, dieser hochfahrende, selbstsichere, undurchsichtige Mann, der gleichzeitig grausam und zärtlich sein konnte, zog ihn magisch an. Ein vielschichtiges Rätsel, ein mehrdeutiger Orakelspruch, ein Buch mit sieben Siegeln. Vielleicht musste es ihm genügen, in Hei Baos Nähe zu sein. Manches konnte man nicht stehlen, nicht durch List oder Betrug erlangen. Es wurde zum Geschenk. Oder unerreichbar. Langsam streichelte er über Hei Baos Arme, fing den schweren Zopf ein, hob ihn zum Kuss an die Lippen. Seine Augen ließen keinen Wimpernschlag ihre ungleichen Pendants aus dem Fokus. "... tollkühn..." Raunte Hei Bao lauernd. "Mehr Schneid als Verstand. Hast du so schnell vergessen..." Zum ersten Mal erlebte Ray, wie Hei Bao abrupt verstummte, für einen Moment Ärger über die eigene Spottlust enthüllte. Er antwortete nicht, hielt es für überflüssig. Natürlich war ihm bewusst, dass Hei Bao ihm Schmerzen, Demütigung und Seelenpein zufügen konnte. Wie gefährlich es war, sich auszuliefern, so unerfahren und schon gezeichnet. »Ich muss es wagen!« Ray sprach sich selbst Mut zu. Wenn er nicht agierte, nicht Farbe bekannte, würde alles zerfließen, sich auflösen. Es wäre nichts mehr als eine noble Tat, die vollbracht bereits dem Vergessen anheim fiel. Ein wenig linkisch begann er, die verzierten Knopfleisten zu öffnen, Hei Baos Zopf als Unterpfand zwischen die Kiefer geklemmt. Hei Bao beteiligte sich gemächlich, seinen Körper freizulegen. Beinahe wäre ihm ein verräterischer Seufzer entschlüpft. Es war so eigentümlich, so charakteristisch, dass dieser berühmte Dieb sich von seinen Gefühlen beeinflussen ließ! Nicht einmal erwog, das zu rauben, was er begehrte, wenn heimliches Stehlen nicht zum Ziel führte! Nicht zu fordern und zu drohen, sondern sich zu offenbaren, ohne Schönfärberei und Trugbilder mit seinen wahren Beweggründen warb. Entweder ein Akt der unerhörten Courage oder geradezu entsetzliche Dummheit... Hei Bao mochte sich nicht vorstellen, wie man Rays erschreckenden Adel ausnutzen konnte. Er selbst sah sich als unbeugsamer Freigeist, als oberster Richter über sich selbst. Ungebunden und souverän, nicht lächerlichen Grillen nachjagend, sich in heimtückischen Gefühlsgefilden verirrend. »Von Leidenschaften geknechtet.« Er weigerte sich, seine Seele, sein Herz, seinen Verstand einfangen zu lassen, strafte jeden mit herablassender Verachtung, der ihm bedeutete, wie erhebend und unvergleichlich es doch sei, in emotionaler "Sklaverei" zu leben, abhängig von wankelmütigen Launen Dritter! Deshalb waren Herz, Seele und Verstand frei, hatten keinen Partner nötig. Waren nicht als unvollkommen, als halb gebrandmarkt! Ray würde nichts anderes erhaschen als leere Luft, zerstobene Schemen... Ganz real hatte der ihn quasi geschält, musste noch aus den gerafften Hosenbeinen schlüpfen, schmiegte sich an ihn, strahlte seine angenehme Wärme aus. Hei Bao packte Ray grob im Nacken, zischte ihm ins Ohr. "Hat man dich nicht gewarnt, was geschieht, wenn man versucht, auf einem Tiger zu reiten?" Damit spielte er auf ein altes Sprichwort zu den Tierkreiszeichen an. "Ich lasse trotzdem nicht los." Antwortete Ray standhaft, klemmte sich zum Zeichen seiner Entschlossenheit Hei Baos Zopf zwischen die Zähne. "Wir werden sehen!" Grollte Hei Bao, fasste Rays Rechte, zog ihn zu seinem Bett. ~+~ Ray keuchte wimmernd, die Augen zusammengepresst, von Schweißperlen benetzt. Er hatte Hei Bao mit seiner Zuneigung bedeckt, die gefleckte Haut geküsst, gestreichelt, sich an ihrer Wärme gelabt. Den Beweis angetreten, dass er sich darauf verstand, ihm den Hof zu machen, die Ekstase hervorrief, die den Liebesakt krönte. Es kümmerte ihn vorgeblich kaum, dass Hei Bao ihn im Halbdunkel anfunkelte, die Hände müßig unter dem Nacken verschränkt. Ein Pascha, der verwöhnt zu werden verlangte. Innerlich zitterte er vor Nervosität, glaubte sich aber ausreichend präpariert, jede Hürde zu nehmen. Bis jetzt. Hei Baos elegante Hände stützten kraftvoll sein Becken, linderten den Schmerz ein wenig. Trotzdem entrang sich Ray ein klägliches Schluchzen. Den Schwarzen Jaguar hatte er reiten wollen, die Einsamkeit in seinem Inneren tilgen durch dessen glühende Hitze. "Die Hände auf meine Schultern." Kommandierte Hei Bao beherrscht, der sich ebenfalls nicht unbedingt wohlfühlte. Rays Körper umschloss ihn an neuralgischer Stelle so dicht, dass er sich an eine Schraubzwinge erinnert glaubte. Ray beugte sich vor, rollte den Rücken ein. Tränen tropften auf Hei Baos nackte Brust. Sanft, beruhigend redete er in einer Ray unverständlichen Sprache auf ihn ein. Die Worte bedurften keiner Übersetzung, allein seine Stimme, seine Gelassenheit sollten Ray anleiten, sich zu entspannen. Den Schmerz auszublenden, bevor sie beide ernsthaften Schaden erlitten. Wenn Rays Kräfte nur nicht nachließen! Die stützenden Arme zitterten bedenklich. Die aufgestellten, angewinkelten Beine zuckten hektisch. Die Zähne zusammengebissen entschied sich Hei Bao für eine Attacke. Blitzartig stieß er mit beiden Armen Rays Becken hoch genug, um ihre Körper zu trennen, fing den vor Schmerz Winselnden in seinen Armen auf. ~+~ Ray drehte den Kopf weg, verbarg die rot geränderten Augen unter einem übergelegten Arm. "Gleich ist es vorbei." Tröstete Hei Bao, der zunächst ein Kissen unter Rays Kehrseite geschoben und ausgerüstet mit Lappen, einer Ration Wasser und einer Wundsalbe dem Schauplatz der Tragödie seine Aufwartung machte. Halb erstickt, weil er keinen weiteren Wehlaut entschlüpfen lassen wollte, harrte Ray gequält aus, bis Hei Bao befand, dass der Ersten Hilfe Genüge getan sei. Als er nach dem Verstauen der Utensilien zu Ray unter die dünne Decke kroch, wäre der gerne ins Leere verpufft. Hätte sich in ein dunkles Loch verkrochen, um metaphorisch seine Wunden zu lecken. Hei Bao nahm auf sein Zartgefühl jedoch keine Rücksicht, sondern drehte ihn gewaltsam zu sich herum, bettete ihn in seine Arme. Schob ihm sogar kulant den eigenen Zopf in die geballte Faust. "Nun haben wir wohl beide ausreichend Muße, über unsere Unzulänglichkeiten zu kontemplieren." Bemerkte Hei Bao schließlich im Plauderton. Ray würgte an Tränen, nicht nur den körperlichen Schmerzen geschuldet, sondern vor allem der Enttäuschung über sich selbst. "Wenn du es wünschst, kann ich dir etwas zur Betäubung geben." Hei Bao kreiste mit der Hand über Rays verkrampften Rücken. "Verzeihung." Brachte der mühsam über die aufgesprungenen Lippen. Hei Bao stellte die Liebkosungen ein, drehte sich mit dem überrumpelten Ray einmal um die eigene Achse, sodass er auf ihm zu liegen kam. "Ich hätte es nicht zulassen dürfen." Stellte er leise, eindeutig reuig fest. Ein unerwartet bitteres Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. "Es kommt nichts Gutes heraus, wenn einer aus Mutwillen spielt und ein anderer wahrhaft ehrlich ist." Für Ray, der ungläubig lauschte, die Kehle gesäuert durch hochgezwungene Galle, klang dies, als könne er Hei Bao nicht dazu bewegen, ernsthaft sein Werben zu akzeptieren. Dabei begriff der exotische Mann doch ohne jeden Zweifel, wie es um Rays Absichten bestellt war! Unterdessen hatte Hei Bao sich aufgestützt, Rays Mienenspiel studiert. War es wirklich nötig gewesen, dem Grünschnabel eine Lektion zu erteilen? Ihn herauszufordern, in die Enge zu treiben, unbedingt ausloten zu wollen, wie weit Ray zu gehen bereit war? »Feige bist du. Und warum? Wenn du dich solcher Methoden bedienst, gibt es Anlass, sich zu fürchten?« Hielt er sich stumm vor. Den Anlass musste es geben, hätte er sonst so unleidlich, gehässig, berechnend boshaft agiert?! »Wenn er mich gar nicht...?« Heftig packte er Rays Handgelenke, drückte sie neben dessen Kopf auf die dünne Matratze. "Niemals! Niemals lasse ich mich fangen!" Zischte er. Ray blinzelte erschrocken, von dieser unerwarteten Attacke vollkommen überrascht. Für Hei Bao jedoch waren die Fronten geklärt, der Form Rechnung getragen. Solange es Ray nicht einfiele, ihn zu seinem Besitz, seiner Verfügungsgewalt untergeordnet anzusehen, solange war er willens und bereit, mit ihm sein Leben zu teilen. Bevor Ray seine Verblüffung abstreifen konnte, sich aus dem Griff befreien, war er unerwartet der Umklammerung ledig. Dafür schob sich Hei Bao von ihm weg zwischen seine Beine, drückte sie mit den sehnigen Schultern auseinander, beugte sich mit funkelnden Augen über Rays Unterleib. Sehr tief musste Ray die Zähne in den schwarzen Zopf schlagen, als Hei Bao ihn für den Schmerz entschädigte. Ihn zärtlich, provozierend, leidenschaftlich und kundig liebkoste, bis selbst die pochende Pein in einem ekstatischen Rausch verschwand. Während Ray schwer atmend, die Glieder noch nachbebend von seinem Höhepunkt, die Haut feucht überzogen lag, fragte er sich erschöpft, ob das wohl Hei Baos Verständnis von einem "betäubenden Schmerzmittel" war. ~+~ Tag 12 Wie jede Nacht, wenn sie auf hoher See waren und menschliche Fracht geladen hatten, kontrollierte Hei Bao höchstpersönlich alle drei Stunden die unteren Decks. Zahlenmäßig wären die Passagiere seiner Crew weit überlegen, auch wenn diese bewaffnet und zu allem entschlossen waren. Deshalb schlüpfte er persönlich wie ein Schatten hinunter, horchte und beobachtete. Bei Aufrührern oder Meuterern kannte er keine Gnade: hier war er Richter und Henker zugleich. Lieber ein schwarzes Schaf verlieren als durch leichtsinnige Nachsicht gleich die ganze Herde. Die angeheuerten Arbeiter verhielten sich trotz der Enge und der ewigen Dunkelheit bei trübem Funzellicht ruhig. Die Matrosen blieben alert, warnten ihn, es könne das Wetter umschlagen. Hei Bao vertraute ihnen, teilte ihre Befürchtung. Vorsorglich ließ er alle Luken schließen, jede Öffnung verbarrikadieren, die Ladung auf ihre Befestigung überprüfen. Auch wenn seine Dschunke schon einigen Stürmen getrotzt hatte, wollte er keine unnötigen Risiken eingehen. ~+~ Azla wurde vor dem Einsatzbefehl von Floreans ersticktem Ächzen geweckt, dem es kaum gelang, sich noch rechtzeitig in das Separee zu schleppen. Die Dschunke rollte nicht bemerkenswert. Es genügte, Floreans empfindlichen Magen in heftigen Aufruhr zu versetzen. Er erbrach sich in schauerlichen Krämpfen, rang schluchzend nach Luft. Azla drehte ihm den Kopf zur Seite, wischte ihm mit einem feuchten Lappen das Gesicht ab, kommandierte ihn auf seine Arme. "Entschuldigung." Murmelte Florean, der sich erbärmlich vorkam und fühlte. "Es macht nichts." Versicherte Azla ihm mit schlafesrauer Stimme, wickelte Florean warm, beinahe erstickend in verschiedene Decken ein, legte ihm ein nasses Tuch über die Augen. "Ich werde nach dir sehen." Versprach er, streichelte durch Floreans klebrige Strähnen, bereits verschwitzt. "Bleib flach liegen." Florean zog eine Grimasse. Er konnte sich nicht vorstellen, überhaupt auf die Beine zu kommen. Ihn schwindelte. Er schämte sich ein wenig vor Azla, der ihn so hilflos und recht unappetitlich erlebte. "Versuch zu schlafen." Azla hatte sich angekleidet, küsste Florean auf die Stirn. Es widerstrebte ihm, Florean so elend zurückzulassen. Es gab wenig, wie er ihm die Seekrankheit erleichtern konnte. Hei Bao erwartete ihn bereits, sandte ihn tief in die unteren Decks. Auch dort, das roch und hörte Azla zu seinem Leidwesen, gab es Opfer der Seekrankheit. Er band sich sein Tuch vor das Gesicht, machte sich auf einen harten Einsatz gefasst. ~+~ Der Sturm tobte heftig, brachte sie allerdings nicht gefährlich von ihrem Kurs ab. Hei Bao verteilte eine großzügige Portion gegorenen Fruchtsaft, der die Anstrengungen seiner Crew belohnte. Persönlich hatte er bewährte Kürbisflaschen in die unteren Decks gebracht, mit Kräutersud gefüllt, der als Hausmittel gegen die Übelkeit fungierte. Er wurde mit Mohnsaft versetzt, um für Linderung und Schlaf zu sorgen. Gegen Abend, während er die nächste Wachmannschaft und den Steuermann instruierte, atmete er dankbar die frische, reine Seeluft ein. Da sah er Ray wacklig über das Oberdeck taumeln, obwohl der Seegang sich merklich gelegt hatte. "Hatte ich dich nicht gebeten, in der Kabine zu bleiben?" Erkundigte er sich tadelnd bei Ray, dessen Bewegungen jedem verrieten, warum er derart ungelenk marschierte. Ray warf ihm einen fahlen Blick zu, umklammerte die Reling. "Ich brauche frische Luft. War die ganze Zeit bei Florean." Mehr blieb nicht zu erläutern, Hei Bao war im Bilde. Er schlang einen Arm um Rays Taille. "Wir gehen jetzt langsam nach unten." Seufzend schickte sich Ray drein, registrierte die prüfenden Blicke nicht, die Hei Bao ihm zugedachte, die kalte Haut zur Kenntnis nahm. Kaum dass sie Hei Baos Kabine erreicht hatten, dirigierte er Ray in sein üppiges Badezimmer, schälte ihn rigoros aus seinen durchgeschwitzten Kleidern, rieb dessen helle Haut mit Wasser, duftenden Kügelchen und einem groben Lappen ab, bevor er ihn dazu bewegte, sich auch mit Öl einsalben zu lassen. In ein wadenlanges Gewand gehüllt hieß er ihn anschließend auf das Bett sinken, damit er sich davon überzeugen konnte, dass die wundgeriebene Passage abheilte. Ray ließ ihn ohne Gegenwehr gewähren, verlangte lediglich den schwarzen Zopf, den er mit dem Daumen bestrich. Hei Bao suchte die Kombüse auf, besorgte sich zwei Portionen Eintopf und steinharte Brotfladen, seine erste Mahlzeit seit dem Aufstehen in den frühen Morgenstunden. Er gestattete nicht, dass Ray sich wieder aus dem eingebauten Bett erhob, sondern löffelte ihnen beiden abwechselnd Eintopf in den Mund, stopfte mit Brotstücken nach. Langsam fielen Ray die Augen zu, auch wenn er artig kaute. Die wohlige Wärme, Hei Baos unvermutete Fürsorge, die anstrengende Wacht beim gepeinigten Florean, das alles forderte Tribut ein. Geschmeidig schlüpfte Hei Bao zu ihm, legte sich bequem auf die Seite, streichelte sanft mit den Fingerspitzen über Rays Wangen, bis dessen Atemzüge tiefen Schlaf verrieten. Er bettete sein Haupt behutsam auf Rays Brust, lauschte den Herzschlägen. »Wenn er nicht stehlen will, nicht rauben oder plündern: was bleibt mir dann?« Sinnierte er erschöpft. ~+~ Weil Florean noch zwei Tage sehr angegriffen war, kaum etwas bei sich behalten konnte, leistete Ray ihm Gesellschaft, lenkte ihn ab, indem er ihm etwas vorlas oder mit ihm spielte. Sie sprachen auch über die letzten Tage ihrer Schatzsuche, spekulierten, ob Michel Raoul es gelungen war, Laila für sich zu gewinnen. Nur ein Thema blieb außen vor: wie es zwischen Hei Bao und Ray stand. Florean erkannte aufgrund seiner jüngst gewonnenen Erfahrungen, dass Rays ungewohnt steife Haltung auf ganz bestimmte Aktionen zurückgeführt werden konnte, zögerte, sich tatsächlich nach der Ursache zu erkunden. Auch wenn Azla sich unbeirrbar ausschwieg, konnte Florean vermuten, dass es da in der gemeinsamen Vergangenheit etwas gab, das so unerfreulich sein musste, dass keiner daran rühren wollte. Ray seinerseits schämte sich seiner erlittenen Schmach viel zu sehr, um auch nur in Erwägung zu ziehen, seinen Freund um Rat zu bitten. Außerdem drehte es sich ja nicht um den körperlichen Aspekt allein! Widerwillig, dann gerecht hatte er anerkannt, dass Florean und Azla einander wirklich zugeneigt waren. Ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte, in gleicher Intensität ausgeprägt schien. Er selbst hatte sich verloren in einem undurchsichtigen, allzu erfahrenen Mann, für den er nicht mehr als eine kurzweilige Spielerei, ein Zeitvertreib sein mochte. Zu allem Überdruss zeigte sich noch, dass er selbst unter großen Opfern und persönlicher Überwindung nicht fähig war, Hei Bao Anerkennung abzutrotzen! Was half es da, auf die endlose See zu starren, sich in Tagträumen zu verlieren?! Als Florean ihm bedeutete, er wolle sich ein wenig hinlegen, entschloss sich Ray deshalb, in Hei Baos Bibliothek zu stöbern, um sich abzulenken. Er streifte durch die Kabine, blätterte kurz in dem aufgeschlagenen Folianten auf dem Lesepult. Aus reiner Gewohnheit paradierte er zu Hei Baos Schreibtisch. Zu seiner Verblüffung befand sich eine lederne Mappe auf dem polierten Holz, lud geradezu ein, sie aufzuschlagen, sich über ihren Inhalt zu informieren. Neugierig genug ließ Ray sich nieder. ~+~ Als Hei Bao seine Kabine betrat, dort Ray blass, zusammengesunken an seinem Schreibtisch fand, wusste er, dass seine Falle zugeschnappt hatte. ER war ein unbarmherziger Jäger und heimtückischer Räuber. "Ist es wahr?" Selbst Rays Stimme klang bleich. "Sehr gut möglich." Gab sich Hei Bao konziliant, umrundete seinen Schreibtisch, stellte sich hinter den sitzenden Ray, legte ihm die Hände auf die Schultern. Er war überzeugt, dass Ray wusste, dass er diesen einzigartigen Köder ausgelegt hatte, um ihn zu "fangen". An sich zu binden. Als Ausgleich für ein Herz, das sich nicht einsperren lassen wollte. "Was hast du damit vor?" Ray zitterte ein wenig. Sanft rieb Hei Bao ihm die Oberarme, beugte sich tiefer über die Rückenlehne, gab sich nachdenklich. "Das ist eine sehr mächtige Waffe, mein Freund. Allerdings kann man sie nur einmal einsetzen." Er richtete sich auf, betont beschwingt. "Du verstehst also sicher, dass ich dich für den Rest deines Lebens überwachen muss, damit du nichts verrätst, nicht wahr? Andernfalls sehe ich mich gezwungen, dir gleich hier die Kehle durchzuschneiden." Ray jedoch ging auf diese Drohung nicht ein. In dem Augenblick, als er begriffen hatte, was da vor ihm lag, WUSSTE er, was Hei Bao beabsichtigte: einen zwingenden Grund zu haben, ihn für sich allein zu behalten. Er wollte sich erheben, diese lähmende Taubheit abschütteln. Seine Beine gehorchten ihm nicht, sodass er unsanft zurück auf den Stuhl plumpste. "Was willst du tun?" Erkundigte er sich verstört. Hei Bao gab seine Position hinter dem Stuhl auf, lehnte sich an die Schreibtischkante, kaperte Rays kalte Hände, begann, sie müßig zu reiben. "Hast du dir mal die großen Dampfkessel angesehen, die sie auf den Kreuzern neuerdings einbauen? Ich höre immer, wie viel Knoten sie machen, all die Schwärmerei, um wie viel schneller und effektiver sie sind." Bemerkte er vorgeblich beiläufig. Rays smaragdgrüne Katzenaugen betrachteten ihn verwirrt. "Diese Dampfmaschinen sind genau wie die Nationen, die sie einsetzen. Wie diese Zeit jetzt." Hei Bao hauchte in Rays Handflächen, darauf konzentriert, einen nicht vorhandenen Kälteschock zu bekämpfen. Er blickte auf, ließ Rays Hände in seinen eigenen vor seinem Schoß ruhen. "Sie stehen unter dem Diktat der Maschine, die endlos frisst. Immer mehr Kohle verschlingt sie, nie ist es genug. Höher muss der Druck steigen, noch schneller soll sie alles antreiben." Ernst studierte er Rays bleiches Gesicht. "Es ist ein Wettrennen. Jede Nation steckt ihre Kohleberge ab. Irgendwann ist jeder Flecken Erde verteilt. Dann belauern sie sich gegenseitig. Die Maschine verlangt nach mehr. Immer größer wird der Druck, sie zu füttern, die anderen zu übertreffen, bloß nicht zurückzubleiben." "Wovon sprichst du?" Ray leckte sich unruhig über die ausgetrockneten Lippen. Er wollte nicht schlussfolgern, was Hei Bao ihm skizzierte. "Diese Maschine wird irgendwann explodieren, alles zerstören, was in ihrer Nähe ist." Hei Bao lächelte ohne Humor, traurig, voller Gewissheit. "Und du willst... hiermit?!" Ray taumelte hoch. "Denkst du wirklich...?!" Er schwankte. Hei Bao fing ihn auf, stützte ihn, die Arme um Rays Hüften geschlungen. "Ich weiß es nicht. Wie gesagt, diese Waffe kann man nur ein einziges Mal einsetzen." Gestand er ein. "Was tun wir? Was können wir tun?" Ray schauderte. Hei Bao hatte ja recht. Der handelte nicht bloß mit irgendwelchen Gütern, nein, seine tatsächliche, heimliche Ware bestand in Informationen. Durch ein Netzwerk von Zuträgern, Spitzeln, Einflussreichen oder Aufrechten hörte er, was der Wind "sang", verstand die Zeichen zu lesen. Ray griff reflexartig zu, als Hei Bao ihn von sich schieben wollte, hielt sich an ihm fest. "Eine Weile noch, ein bisschen länger werden wir Geschäfte machen können." Hei Bao stand aufrecht, verübelte die Finger nicht, die die Seide seines Obergewandes zerknitterten, so klammerten sie. "Und dann?" Ray entspannte sich, als Hei Bao ihm mit beiden Händen über Rücken und Kehrseite streichelte. "Dann werden wir uns verbergen, auf einem kleinen Schiff, immer unterwegs. In der Neuen Welt kann man noch verschwinden. Viele Völker sind dort verschluckt worden, vor langer Zeit." Hei Bao lächelte wie ein Raubtier. Ray lehnte sich schwer auf Hei Bao, wisperte. "Mir ist so, als hätte ich gerade erst erfahren, dass sich die Erde um die Sonne dreht und keine Scheibe ist." Hei Bao fädelte seine Arme unter Rays Achseln hindurch, umarmte ihn sanft. Er spürte das leise Zittern, das Ray noch immer erschütterte. "Keine Angst. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht." Flüsterte er zärtlich. "Und was ist mit dir? Weißt du nicht zu viel über zu viele Leute?" Erkundigte sich Ray, fasste sich. "Sorgst du dich etwa um mich?" Fragte Hei Bao kokett zurück. "Ja!" Beschied Ray unverblümt. Hei Bao betrachtete ihn unter halb gesenkten Lidern, beugte sich vor, raunte kehlig in Rays Ohr. "Ich bin einer von den Bösen, Ray. Damit kenne ich mich aus." "Dann hüte dich unbedingt vor den Guten, ja?" Ray nahm Hei Baos Gesicht in seine Hände, küsste ihn auf den Mund. Lächelnd erwiderte Hei Bao die Liebkosung. "Das wird deine Aufgabe sein, mein Freund." Skeptisch lupfte Ray eine Augenbraue. "Sag, hast du das wirklich alles geplant?" Von wegen Rohdiamantprüfer! Leise lachend küsste Hei Bao Ray erneut, länger und leidenschaftlicher, beinahe gierig. An seinen Lippen wisperte er. "Ich wollte dich haben. Seit dem Empfang in Paris, als du so ungeniert die Botschafter um ihre Devotionalien erleichtert hast." Ray staunte ungläubig. "Du warst da?! Ich wusste gar nicht...!" "Ich bin ein weit gereister Mann." Hei Bao leckte ihm über die Kehle, schnappte sich ein Ohrläppchen, benagte es neckend. Erschauernd vor Lust schmiegte sich Ray enger an Hei Bao. "Also doch..." Murmelte er bebend. Wie dumm! Da hatte er tatsächlich etwas zu stehlen versucht, was ihm längst übereignet worden war! ~+~ Azla hielt Florean gewohnt umsichtig fest, als sie gemeinsam den Sternenhimmel studierten. Bald würden sie die südamerikanische Küstenlinie zu Gesicht bekommen. Sie schwiegen einträchtig, innig, tauschten hin und wieder einen verschworenen Händedruck aus, eine Botschaft der Verbundenheit. Azla wandte aufmerksam den Kopf, als er leise, geschmeidige Schritte hörte. Florean folgte seinem Beispiel, ganz ohne die frühere Angewohnheit, sofort Erkundigungen einzuziehen. Hei Bao spazierte, einen Finger sparsam in Rays Rechte eingehakt, mit ihm über das Oberdeck, um sich ein ungestörtes Plätzchen zu suchen. Sie ließen sich oberhalb der Eilgalerie nieder, Beine baumelnd, jeder einen Arm zur Sicherheit im gespannten Tauwerk geschlungen, während sie aneinander gelehnt Händchen hielten. Ab und an wisperte einer dem anderen etwas ins Ohr, gedämpftes Prusten folgte. Florean schüttelte ungläubig, skeptisch den Kopf. "Mondsüchtig." Urteilte er weise. Vielleicht waren es aber auch simpel die Nebenwirkungen einer Ersten und Einzigen Liebe. ~+~ Clemens Bergmann, von seiner Schwester (Jose-)Fine abschließend und unumstößlich Lemmie genannt, trat sich ordentlich die schweren, knöchelhohen Schnürstiefel ab, bevor er in die weitläufige Wohnküche trat. Draußen gefror der Atem in der Dezemberluft. Hier drinnen war es nicht wesentlich besser. Lemmie hatte sich jedoch bereits an die klimatischen Bedingungen in dem Handtuch-schmalen Hinterhaus gewöhnt. Er schälte sich, leidlich behindert durch seine alte, Daunen gefütterte Winterjacke, die fatal an die erste Version des Michelin-Männchens erinnerte, aus den Rucksackgurten, lupfte die handgestrickte, kunterbunte Mütze von seinem Kopf. Es folgte der ebenso fabrizierte Schal. Alles wurde ordentlich an der Garderobe aufgehängt. Käpten flanierte gelassen hinein. Lemmie erlag nicht dem Trugschluss, der Haus- und Hofmeister ihrer Wohngemeinschaft befände sich rein zufällig zur gleichen Zeit am selben Ort. "Einen Augenblick noch, Käpten!" Bat er, nahm seinen Rucksack hoch, steuerte auf den gewaltigen Kühlschrank zu. Zutreffend handelte es sich eher um einen Industriegefrierschrank mit Klarsichtfront, bei dem ein findiger Bastler das ausrangierte Stück so frisiert hatte, dass nicht mehr alles gefror. Lemmie hatte versprochen, für ein feines Mittagessen am kommenden, zweiten Adventssonntag zu sorgen, als kleines Dankeschön für seine WG-Genossen, die ihm bei der kleinen Geburtstagsfeier eine Woche zuvor geholfen hatten. Zugegeben, eigentlich fiel Lemmies Geburtstag auf den 23. November, dem er auch seinen Taufnamen verdankte. Unter der Woche konnte man die Studierenden, die er in Köln kannte und mochte, nicht erfolgreich einladen. Der Bachelor-Studiengang, Semesterarbeiten, Neben- und Aushilfsjobs, das alles kostete Zeit, machte eine Koordination nahezu unmöglich. So wurde eben am ersten Adventssonntag nachgefeiert, mit selbstgebackenem Kuchen, Plätzchen, Kartoffelsalat, heißen Frankfurter Würstchen, Frikadellen und im Backofen gegrillten Spaghetti-Nestern. Deshalb lud er aus den Untiefen seines Rucksacks aus, was es am nächsten Tag geben sollte. Aufgrund des stark eingeschränkten Budgets, das er im dritten und entscheidenden Jahr seines Studiums, Bachelor of Engineering, genauer Bauingenieur mit Schwerpunkt Wasserwirtschaft, nicht durch einen Nebenjob aufbessern konnte, bestand das frugale Menü in dezenter Anlehnung an die saisonalen Höhepunkte aus Chicken Nuggets, Pommes Frites, Rote Grütze aus dem Halbliterbecher mit Bourbon-Vanille-Soße. Nun gut, es war keine Gänsekeule mit Pellkartoffeln und Rotkohl, aber optisch doch schon nahe dran, oder? Außerdem schob er Milch und Eier in den umgebauten Gefrierschrank, bevor er in SEIN Fach im montierten Küchenschrank (eher eine Zeile mit 2 Meter Gesamtlänge) eine Schachtel Cornflakes, einen Becher Erdnussbutter und rustikale 'NATO'-Kekse deponierte. »Verhungern muss ich jedenfalls nicht.« Stellte Lemmie befriedigt fest, blickte nach unten. Käpten zerquetschte mit den Vorderpfoten energisch die lächerliche Spielmaus, die irgendjemand ihm geschenkt hatte. Sie quäkte gequält. "Aye Aye!" Salutierend tippte Lemmie sich mit zwei Fingern an die Schläfe, lächelte freundlich zu Käpten hinunter. Käpten war der Chef im Ring, der Herr im Haus, der große Zuchtmeister. Niemand wusste genau zu sagen, wann ein kleines, aber energisches Britisch-Kurzhaar-Katerchen mit leuchtend orangefarbenen Augen in das Hinterhaus gekommen war. Käpten hatte es im Sturm erobert, als sein Territorium markiert und unerbittlich verteidigt. Er herrschte uneingeschränkt. Ein befreundeter Schreiner hatte sogar in jede Tür eine kleine Katerklappe eingebaut, damit Käpten sich ungehindert bewegen konnte. Lediglich der Waschraum für Damen blieb ihm versperrt, immerhin war Käpten ein Gentleman. Er sorgte für Ordnung und Disziplin in der Wohngemeinschaft. Käpten hasste laute Musik, dämliche Mobiltelefon-Jingles, dreckiges Geschirr und aufdringliches Parfüm. Für Katerspielzeug hatte er nichts als Verachtung übrig. Trockenfutter ignorierte er majestätisch. Das brachte ihm von Ahnungslosen den Ruf ein, ein "verzogener Britisch-Kurzhaar-Kater" zu sein, der offenkundig unter Neurosen litt. Man konnte sich unschwer vorstellen, dass Käpten umgekehrt der Meinung war, einige der "Jungen", die er großmütig gelegentlich in seinem Haus duldete, seien einmal zu oft vom Baum gefallen und nicht auf den Pfoten gelandet. Hunger musste er nie leiden. Alle brachten ihm etwas mit, wollten heimlich das niedliche Katerchen verwöhnen. Käpten war nicht korrumpierbar. Nur weil er sich herabließ und verzehrte, was ihm dieser oder jene in seine stets blitzblank sauber zu haltende Schüssel füllte, bedeutete das noch längst nicht, dass er sich zu Zugeständnissen bereiterklärte. Wer zu laut telefonierte, schräg sang oder die Anlage aufdrehte, bekam es mit Käpten zu tun. Der apportierte die erbärmliche Quietschmaus, baute sich demonstrativ auf vor den ungezogen Übeltätigen. Er malträtierte das Kunststoffvieh so lange, bis die Erkenntnis durchgedrungen war, dass ihm die Geräuschkulisse äußerst missfiel. Obwohl er den Putzplan (Geschirrmaschine anstellen und später ausräumen, Spüle abwischen) nicht lesen konnte, wusste Käpten exakt, wann es Zeit war, an diese Pflicht zu erinnern. Er balancierte zwischen den aufgetürmten Hügeln benutzter Glas- und Porzellanwaren so lange, bis klappernd und klirrend die ersten Opfer in die Spüle krachten, wo längst kein Platz mehr für Nachschub war. Dabei war selten Bruch zu beklagen. Das Geräusch genügte, die zusammenschreckenden WG-Bewohnenden an ihre Aufgaben zu erinnern. Konvenierte ihm ein Duft nicht, nieste Käpten tadelnd. Half das nicht, würgte er Haarbälle aus, die er demonstrativ zum Quell des Gestanks beförderte. Es gelang ihm immer innerhalb kürzester Frist, sämtliche der wechselnden WG-Bewohnenden zu trainieren, um seiner Auffassung eines bequemen und ordentlichen Zuhauses zu entsprechen. Einen Rivalen hatte er dabei nicht zu fürchten. Fine hatte Lemmie berichtet, dass in ihrem dritten Studienjahr einmal ein großer Streuner ins Hinterhaus gelangt war, sich einzurichten gedachte. Käpten hatte ihm einen erbitterten Kampf geliefert, aus Hinterhalten attackiert, von oben schwere Gegenstände auf den Eindringling gestoßen, schließlich geschickt die Stereoanlage aktiviert, die laut brüllend den bemitleidenswerten Streuner derart entsetzt hatte, dass er panisch mit gesträubtem Fell auf die verbogene Wäschespinne im Hof gestiegen war. Dort hatte Käpten dann mit perfider Grausamkeit gelauert, jedes Mal drohend spektakelt, wenn der Streuner versuchte, wieder auf die betonierte Erde hinabzusteigen. Erst gegen Abend, als Käpten hocherhobenen Katerhauptes SEIN Haus betreten hatte, um sich einen Imbiss zu gönnen, war der völlig demoralisierte Straßenkater davon geschossen, als hätte er sich den Pelz verbrannt. Er ward nie mehr gesehen. Seit diesem Triumph musste wohl unter den Felinen die Legende ihren Lauf genommen haben. Es kam nie mehr ein anderer Rivale in das Hinterhaus. Da Lemmie von Haus aus nicht an Tiere gewöhnt war, bemühte er sich durch Beobachtung und Ratschläge seiner WG, mit Käpten gut auszukommen. Er respektierte Käptens Anspruch als unangefochtener Herr des Hauses, beging nie den Fehler, ihn bekuscheln oder streicheln zu wollen. Da Käpten ihm eine Botschaft zu übermitteln versuchte, signalisierte Lemmie uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Käpten, an die Begriffsstutzigkeit und Ignoranz der übergroßen "Jungen" gewöhnt, erhob sich elegant, ließ das Quäkmäuschen liegen, spazierte voraus. Ab und an wandte er den Kopf leicht. Die grazilen Schnurrhaare zuckten. Man wusste ja nie, wo diese "Jungen" mit ihrem Kopf waren! Lemmie folgte ihm artig, ahnte schon, was ihn erwartete: der "Herrensalon". Das schmale Hinterhaus war einstmals ein Teil einer großen Metzgerei gewesen. Im Erdgeschoss, wo die Wohnküche eingerichtet war, hatte man vor Jahrzehnten geschlachtet. Im Stockwerk darüber befanden sich drei Zimmer und der "Waschraum für Damen" plus Toilette auf halber Treppe, im nächsten Stockwerk das Pendant für die männlichen Bewohner, allerdings Waschraum und Toilette kombiniert. Lemmie mochte sich gar nicht vorstellen, dass in diesen ehemaligen Wohnungen (die Badezimmer waren ursprünglich Wohnküchen gewesen) Mehrgenerationsfamilien gehaust hatten. Alles schien ihm klein und bescheiden. Vielleicht wuchsen die Generationen aber einfach nur in alle Dimensionen? Käpten wischte durch die Katerklappe, während Lemmie notgedrungen die Tür öffnete, den "Herrensalon" betrat. Komplett gefliest gab es zwei Duschköpfe, einen Bodenabfluss, ein offenes Regal für Handtücher und Hygieneartikel, ein sehr tiefes Doppelwaschbecken unter einem beklebten Spiegel (um die blinden Flecken zu verbergen) und eine Toilette, schamhaft von einem Duschvorhang umrundet. Außerdem noch Käptens Katerkiste. Lemmie seufzte stumm, als Käpten sich neben seinem privaten "Örtchen" niederließ, ihn streng anblickte. Eigentlich wäre ja der Faule Sack... doch der Gedanke war müßig. Lemmies derzeit einziger männlicher WG-Genosse Johannes Baptist, kurz Hannes, sehr häufig nur "der Faule Sack", sollte sich mit ihm beim Reinigen des Kistchens abwechseln. Allerdings neigte der Philosophie-Student dazu, bei bloßer Andeutung körperlicher Arbeiten entweder entsetzliche Schmerzattacken undefinierbarer Herkunft zu erleiden oder urplötzlich vom Erdboden zu verschwinden. Ddas nehme ich sofort in Angriff." Versicherte Lemmie, der seinem Namen als Sanftmütiger durchaus Ehre erwies, Käpten. Es ging ja nicht an, dass Käpten darunter litt, dass Hannes, der Faule Sack, sich ständig seinem Anteil an Pflichten entzog! Um sich ein wenig schadlos zu halten, ging Lemmie neben der verborgenen Toilettenschüssel in die Hocke, kramte in einem dort abgestellten Karton. Die hier deponierte Lektüre war keineswegs schlüpfrig oder verwerflich. Vielmehr neigte der tiefsinnig brütende Faule Sack dazu, die Feuilletons verschiedener Gazetten hier zu sammeln, um sie in Ruhe zu studieren. Man konnte mit ihnen auch sehr gut das Katerkistchen auslegen. Nachdem Lemmie die alte Ladung Katzenstreu samt Gazetten in einem Plastikbeutel entleert hatte, blätterte er im Angebot. Ein mit Leuchtstift eingekreister Artikel behandelte eine Ballett-Aufführung an der Deutschen Oper in Berlin im vergangenen Frühsommer. "Das Ballett Schneewittchen ist nichts für Kinder. Zu brutal und zu Sex beladen... Musik von Gustav Mahler..." Las er Käpten vor. Lemmie sah Käpten in die orangefarbenen Augen. "Nein. Das würde dir nicht gefallen." Schüttelte er den Kopf. Deshalb war es dafür prädestiniert, im Katerörtchen unten zu liegen, eine Kunstkritik der anderen Art. Er kramte nach weiterem Füllstoff, stieß auf eine lädierte, eselsohrige und mit Wasserflecken verunzierte, aufgequollene Ausgabe von »Schlafes Bruder«. "Ein weiteres Indiz, warum der Kerl hier Stunden verbringt." Bemerkte Lemmie boshaft . Nach Studium des Umschlagtextes entschied er, dass dieses deprimierende Werk weder ihm noch Käpten sonderlich zusagte. Kurzerhand beförderte er das unappetitliche Buch in den Abfallsack, ergänzte Käptens Thron mit zwei alten Ausgaben des Stadtmagazins. Käpten schien zufrieden, inspizierte abschließend das frisch verteilte Katzenstreu gründlich. Als er davon spazierte, dabei ganz kurz, kaum merklich, das schöne, dichte, blau schimmernde Fell an Lemmies Hosenbein rieb, wusste der das Lob sehr zu schätzen. Käpten war eben ein Kater von Charakter! ~+~ Tag 13 Nachdem sich Lemmie umgezogen hatte, betrat er den ersten Stock. Üblicherweise teilten sich die drei Zimmer hier Desiree, Malena und Kryztyna. Letztgenannte war jedoch vorzeitig zu ihrer Familie gefahren, sodass er nur noch auf Malena, Lena gerufen, und Desi stoßen konnte. Desis Zimmertür war angelehnt. Lemmie klopfte höflich, steckte nach einem Anstandsmoment den Kopf in ihr kleines Reich. "Hallo, Desi, wollen wir?" Erkundigte er sich höflich, erwiderte unwillkürlich ihr breites Lächeln. Desi, die sich selbst als Kölsche Möhrsche bezeichnete, zwinkerte ihm im Spiegel zu, wo sie gerade ein buntes Band inspizierte, mit dem sie ihre krause Löckchenpracht hochgebunden hatte. Ihre gesamte rheinisch-kenianische Familie lebte im Umkreis von Köln. Sie war durchaus getroffen, dass Desi sich dafür entschieden hatte, in eine WG nach Deutz zu ziehen. Andererseits musste man akzeptieren, dass der heimische Trubel nicht geeignet war, ein zügiges Studium zu garantieren. Da sie beinahe gleichzeitig mit Lemmie einzog, verstanden sich die beiden prächtig. Desi zeichnete sich durch großmütige, gute Laune und die rheinische Version von Laissez-faire aus. Das kommodierte mit Lemmies eher nachdenklich-zurückhaltendem Wesen hervorragend. "Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich." Desi erhob sich, stülpte nacheinander dick gepolsterte Ski-Handschuhe über. Ihr Overall verriet, dass sie bereit war, sich an die Kärnerarbeit zu begeben. "Die gute zuerst, bitte." Lemmie lupfte die Augenbrauen interessiert. "Wir haben mehr Platz zum Ausräumen." Desi grinste, schlug die Ski-Handschuhe lautstark gegeneinander. "Damit komme ich auch schon zur schlechten Nachricht: Lena fällt aus." Sie angelte neben die kleine, bunt bemalte Kommode, auf der sich der Standspiegel und eine Unmenge von Schachteln, Dosen und Boxen befanden, die diverse Accessoires enthielten. Lemmie nahm einen großen, flachen Karton mit blauem Dekor entgegen. "Adventskalender Weihnachtszauber." Las er folgsam ab, schüttelte probeweise, warf einen fragenden Blick in Desis funkelnde Augen. "Lena hat sich gestern für den Tag der offenen Türen entschieden." Erklärte sie grinsend, tippte mit einem dick verpackten Finger auf die dekorative Verpackung eines renommierten Süßwarenherstellers. "Dafür verehrt sie heute auf Knien den Porzellangott." "Oha." Murmelte Lemmie, überschlug die konsumierte Menge süßer Kalorienbomben. "Ich wusste gar nicht, dass Pralinen so eine verheerende Wirkung haben?!" Bekannte er ehrlich verwundert. Er selbst aß eher selten Schokolade, wusste aber von Fine, dass Frauen und Schokolade ein beinahe mythisches Band miteinander verknüpfte. "Ich schätze, der achte Grappa war schlecht." Schmunzelte Desi, hakte sich bei Lemmie unter, der sichtlich schluckte. Malena maß gerade 1,55m ohne Absätze, zählte eher zu den Fliegengewichten. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie sie eine derartige Menge Alkohol verarbeitet hatte. "Na ja, jedenfalls hat sie einen richtig üblen Kater und fällt deshalb aus." Schloss Desi, stoppte abrupt, weil Käpten sich vor ihrer Zimmertür platziert hatte. "Na, Käpten, willst du uns etwa begleiten?" Desi sprach mit dem Hausherrn grundsätzlich vernünftig, neigte nicht dazu, ihn zu verhätscheln. Deshalb war Käpten des Öfteren in ihrem Zimmer zu finden, wo sie auf Desis Bett saßen, in bunten Tüchern, Haarspangen und Ohrringen wühlten. "Warum hat sie diese Orgie abgehalten?" Erkundigte sich Lemmie besorgt. Lena gehörte erst seit einem Semester zu ihnen, hatte auf ihn bisher nicht den Eindruck einer zu extremen Aktionen neigenden Person gemacht. "Tjaaaaa!" Desi, die natürlich Bescheid wusste, dehnte genüsslich die Silben. Sie liebte Klatsch und Tratsch wie alle anderen. Solange es nicht bösartig oder hämisch wurde. Während sie zum Dachboden hinaufstiegen, setzte sie Lemmie ins Bild. "Du kennst doch diesen schmalzigen Eintänzer, der sie mal hierher begleitet hat, oder? So die Marke Rizzo, die Ratte!" Sie streckte demonstrativ die Zunge raus. "Der komische Vogel fungierte wohl als ihr Freund. Sie hat herausgefunden, dass er nicht nur bei ihr auf der Balz war." Desi schüttelte spöttisch den Kopf. "Sie ist also gestern wutschnaubend zu ihrem Gockel gerauscht, hat ihn zur Rede gestellt." Auf dem Dachboden schaltete Lemmie zuvorkommend die verstaubten Grubenlampen an. "Das verlief nicht gut. Deshalb die Orgie." Desi seufzte beim Panoramablick über die Berge an Sperrmüll. Lemmie zog aus seiner hinteren Jeanstasche Arbeitshandschuhe, die er üblicherweise im Rahmen der Praktika während seines Studiums benutzte. "Glaubst du, wir können etwas für sie tun?" Erkundigte er sich mitfühlend. "Leise rumpeln!" Lachte Desi, knuffte ihn freundschaftlich. "Ich glaube, nachdem sie sich über den Zustand der Welt ausgekotzt hat, geht's schon wieder aufwärts mit ihr." Dieser Auffassung musste Lemmie sich mangels anderer Optionen anschließen. Er hatte sich, ohne Scham darüber zu empfinden, noch nie betrunken. Fine, die in allem sein Leitstern war, hielt es für ziemlich erbärmlich, wenn man sich zudröhnen müsse, um eine Entschuldigung für die Offenbarung seines "wahren Ichs" zu finden. Lemmie fand ihre Argumentation wie stets schlüssig, machte sie sich zu Eigen. Außerdem schmeckten ihm weder Bier noch Wein sonderlich, von stärkeren Kalibern ganz zu schweigen. Selbstredend sorgte eine solche Auffassung nicht gerade für Popularität. Wie immer, wenn jemand die sozialen "Gruppenregeln" nicht verinnerlichen wollte. Fine winkte regelmäßig unbeeindruckt ab. Man könne sich nicht nach der dusseligen Meinung irgendwelcher Konsensherdentiere richten, wenn der eigene Brägen noch ordnungsgemäß funktioniere! Frei nach Immanuel Kant: selbst denken! Dieses Motto wurde Lemmie eigentlich seit seiner Geburt zum Vorwurf gemacht. Er denke einfach zu viel nach, wolle keine abschließende Meinung pflegen, bis er nicht alles geprüft habe! Sei grundsätzlich zu introvertiert! Regelmäßig schnaubte Fine mit in die Hüften gestützten Fäusten, funkelte verächtlich und fauchte. "Die Grauen Zellen, soweit man sie noch hat, sitzen nun mal innen drin. Ist ja wohl besser, dass er seine eigenen benutzt und sich nicht auf die Schwachstromleistungen anderer Papageien verlässt, die bloß nachplappern, was irgendwer ihnen vorgebetet hat!" In solchen Situationen stand Lemmie still neben Fine, die, wie ihm schien, schon alles überdacht, auch ausgesprochen hatte, sodass er sich nicht genötigt sah, etwas zu ergänzen. Fine vertrat ihn tadellos, weshalb ihm diese ausbleibende Reaktion auch noch als "notorische Maulfaulheit" ausgelegt wurde. Ganz zu schweigen von dem "erbärmlichen Schwesterkomplex", den er da pflege! Um seiner eigenen Wahrheit die Ehre zu geben: Lemmie orientierte sich immer und zuerst an Fine. Wenn das ein Komplex war, nahm er dies als Faktum hin, störte sich nicht daran. Seine Schwester Fine war clever, hatte ihre eigene Meinung, wusste genau, wer sie war und was sie wollte. Wenn er entscheiden musste, ob er sich eher ihrer Auffassung oder der ihrer Eltern anschließe, ergab sich das Urteil von selbst. Seinen Eltern missfiel das außerordentlich. Ganz zu schweigen von dem Ärger, den sie mit Fine hatten! Eigentlich stammten sie aus Süddeutschland, waren mit der kleinen Tochter nach Flensburg, hoch im Norden, gezogen. Der Vater konnte eine Stelle als Organist antreten, die Mutter arbeitete als Gemeindeschwester. So weit, so gut. Unerfreulich nur, dass Fine, die NIEMALS Josefine, amerikanisch Josey oder gar altmodisch Finchen genannt werden wollte, sondern auf Fine wie Italienisch "Ende" gleich BASTA bestand, von jeher ihren eigenen Kopf hatte! Eine unbeeinflussbare Persönlichkeit mitbrachte, seit sie "aus dem Ei geschlüpft" war. Soweit Lemmie sich erinnern konnte, folgte er Fine wie ein treuer, stummer Hund. Die Eltern vermuteten sogar eine Weile, er könne gar nicht sprechen, sei vielleicht zurückgeblieben. Bloß ergab sich für Lemmie nie die Notwendigkeit, etwas sagen zu müssen. Fine achtete auf ihn, verstand ihn ohne Worte, verhätschelte ihn jedoch nicht, sondern behandelte ihn wie einen Freund. Sie störte sich überhaupt nicht daran, dass Lemmie nichts sagte, erklärte ihren Eltern glatt, dass Lemmie (Clemens verabscheute sie) vollkommen in Ordnung sei. Der Diagnose einer Siebenjährigen glaubte man selbstredend nicht, sodass Lemmies erste verständliche Äußerung der verschreckte Schrei nach Fine war, als er mit seiner Mutter allein beim Kinderarzt im Behandlungszimmer saß, sich mit kalter Gerätschaft abhorchen lassen sollte. Nur Fines promptes Erscheinen, die ihn darüber aufklärte, warum er diese ihm unverständlich unerfreuliche Prozedur aushalten solle, beruhigte ihn. Das verbesserte das Verhältnis Mutter-Tochter nicht gerade. Fine jedoch hielt sich damit nicht auf. So wie sie das nie tat. Sie hängte sich nicht an die Eltern, wollte nicht kuscheln, suchte keine Zuflucht bei ihnen. Das konnte man merkwürdig finden. Fine tat das nicht. Sie war sie selbst, stand für sich selbst ein. Fine. Basta! Deshalb liebte Lemmie Fine wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Auch wenn sie tobte, schrie, vor Wut heulte, Niederlagen einstecken musste: Fine blieb Fine. So wollte er auch sein. Deshalb hatte er sich für den Studiengang entschieden. Es war auch Fines Fachgebiet. Selbstredend hatten ihre Eltern gehofft, Fine würde irgendetwas studieren, was sie nicht schon wieder zum Gespräch der Nachbarschaft machen würde. Etwas Soziales, undefinierbar Weibliches. Fine hörte sich die Vorschläge der Eltern an, ließ ihre Meinung gelten. Sie tat das, was sie selbst wollte, brachte die entsprechenden Noten mit, bewarb sich bei der Universität in Köln, weit genug weg von den Eltern. Sie suchte sich eine Wohngemeinschaft, verkündete selbstbewusst ihre Erfolge, unterbrach ihr Studium für ein Jahr, um bei einem Projekt in den Niederlanden mitzuarbeiten, das sich mit Wohnungsprojekten auf dem Wasser beschäftigte. Arbeitete nebenher noch, schloss ihr Studium erfolgreich ab. Lemmie, der seine ältere Schwester sehr vermisst hatte, auch wenn sie E-Mails und kleine Videos austauschten, freute sich schon darauf, zu ihr zu kommen. Das hatte nur bedingt funktioniert. Nach dem Abschluss entschied sich Fine, die einen Zeitvertrag bei einem Bauunternehmen hatte, sich für eine besondere Stelle zu bewerben. Nachhaltige Wasserwirtschaft. In Wellington, Neuseeland. Sie wurde akzeptiert, packte gut gelaunt ihre Sachen, um Lemmie ihr Zimmer in der WG zu überlassen. Stolz auf ihren Erfolg, zugleich traurig konnte Lemmie sie nur verabschieden. Nun lag noch viel mehr zwischen ihnen als eine Bahnfahrt! Damit jedoch nicht genug. Kaum angekommen und eingelebt, lernte sie bei einem Ausflug mit dem Team Tam Tawhai kennen, einen Ranger, der Besuch durch die unberührten Landschaften und Nationalparks führte. Fünf Jahre jünger, mit Maori-Vorfahren, sehr zurückhaltend, ein Experte für das (Über-)Leben fernab der Zivilisation, der sich außerdem für den Naturschutz einsetzte. Lemmie konnte es kaum glauben, als er, noch im ersten Semester, von Fine erfuhr, dass sie erstens in Neuseeland bleiben, zweitens Tam heiraten und er selbst drittens in Bälde Onkel sein würde. Fasziniert betrachtete er im kurzen Video Fine, die mal wieder BASTA! getan hatte, was ihr richtig erschien. Dazu Tam, der so alt wie er selbst war, gelassen in die winzige Kamera blickte. Der Ranger entstammte einer großen Familie, die von den Frauen geführt wurde. Er hatte offenkundig überhaupt kein Problem damit, sich mit seiner eigenwilligen Schwester zu vertragen! DAS war wirklich eine Premiere. Fine fand, in seiner Erinnerung, die meisten Jungs anstrengend. (Umgekehrt mutmaßlich auch.) Weil die so stereotype und wirre Erwartungen an eine Frau hegten, definitiv ihrem eigenen Leben hinderlich waren! Wobei sie dem ganzen "Romantik- und Liebesschmus" sowieso eine Absage erteilte. Das widersprach jeder Vernunft und musste besser zu lösen sein. Tam schickte in einem gut verständlichen Englisch ruhige Grüße, machte auf Lemmie den Eindruck, ihn könne gar nichts erschüttern. Nicht mal die Schwangerschaft (Lemmie zweifelte keinen Moment daran, dass Fine erstens Tam in ihre Absicht eingeweiht und zweitens sie auch geplant hatte) bereitete dem jungen Mann größeres Kopfzerbrechen. Er würde ihr Kind eben mit zur Arbeit nehmen, da wäre es ja an der frischen Luft. Wickeln, füttern, Kinderkrankheiten: Tam kannte sich da bereits aus, wozu hatte man schließlich Geschwister? Lemmie konnte nur staunen. Tam gefiel ihm. Der wirkte einfach wie ein Mann, der ebenso wie Fine genau wusste, wer er war und was er wollte. Tam würde, das hoffte Lemmie zuversichtlich, Fine genauso schätzen wie er selbst. Zur Eheschließung konnten sie nicht anreisen, es blieb auch bei einer nicht-religiösen Feier, die jedoch vom gesamten Tawhai-Clan besucht und ausgiebig gefilmt wurde. Fine gehörte bereits zu ihnen, das bemerkte Lemmie, ein wenig traurig. Auch wenn ihre Worte, ihre spöttischen Blicke, ihr ein wenig raues, offenes Lachen ihm stets im Ohr, vor Augen, in Gedanken waren: er vermisste sie schmerzlich. Auf eine dumpfe, leise, versteckte Weise. Bald würde er sie wenigstens für eine kurze Weile in Person sprechen können. Sie wollte mit Tam und Söhnchen Henri für die Weihnachtstage nach Deutschland kommen. Ein teurer Flug, sie hatten sicher sparen müssen, vermutete Lemmie. Wie er Fines praktischen Verstand kannte, wusste sie genau, wie sie sich arrangierte. Henri, seinen Neffen, würde er dann zum ersten Mal sehen, nicht bloß auf Video. Auch wenn er äußerlich immer mehr seinem Vater glich: in den gewitzt funkelnden Augen glaubte er Fine zu sehen. Henri strahlte grundsätzlich pausbackig, marschierte schon stramm neben seinem Vater her, grüßte immer mit "hello, Lemmie Lemmie, bye bye!" Lemmie fragte sich, ob er ein guter Onkel sein konnte. Eigentlich wusste er nicht so genau, wie er mit Henri Verbindung aufnehmen sollte. Fine hatte ihn zwar instruiert, er möge kein Spielzeug senden, davon gab es im Tawhai-Clan genug, aber reichte es für einen Onkel aus, dem kleinen Neffen zweisprachige Bilderbücher zuzusenden? Konnte Henri überhaupt etwas mit seinem Onkel anfangen, diesem fremden Menschen, den er noch nie leibhaftig gesehen hatte? Würde er als Onkel anerkannt werden, da sich doch vor Ort aus dem Tawhai-Clan bereits so viele Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen und Omas und Opas fanden? Oder bliebe er nicht mehr als ein merkwürdiges Phantom? Eine Sagengestalt wie der legendäre "Onkel aus Amerika", von dem man allenfalls eine überraschende Erbschaft erhoffen konnte? Gedanken über Gedanken. Lemmie konnte nicht anders, wusste gar nicht, wie man leben konnte, ohne sich über die eigene Umwelt und die Gesellschaft Gedanken zu machen. »Wahrscheinlich denke ich mal wieder zu viel.« Sagte er sich oft im Stillen. Allerdings änderte das nichts. Vielleicht, auf seine ganz eigene Weise, war er auch wie Fine. Er dachte. Immer und stets. Basta! ~+~ "Ob das alles reinpasst?" Desi hob fragend die Augenbrauen, katapultierte Lemmie schnurstracks in die Gegenwart zurück. Ihre Skepsis war durchaus berechtigt. Der Dachboden war seit Jahren vollgestopft worden, wie es schien. Vor der bevorstehenden Renovierung des Hinterhauses, die vor allem der neuen Gesetzgebung zur besseren Energienutzung geschuldet war, hieß es entrümpeln, bevor der Dachboden endlich abgedichtet und gedämmt wurde. Zur Entrümpelung hatten sich die WG-Genossen entschlossen, weil sie ihren Vermieter, einen älteren Herren aus der Kernstadt, der zweifelsfrei keinen Gewinn mit seiner Vermietung erzielte, sehr schätzten. So ein bisschen Ausräumen, das schafften sie doch mit Links! Allerdings schrumpfte das Team von fünf auf nunmehr zwei Personen. "Die schweren Sachen am Besten zuerst. Wir können gegebenenfalls später noch stopfen." Schlug Lemmie bedächtig vor. "Gebongt! Lass uns mal diese Räuberhöhle ausräuchern!" Desi schlug lautstark die Ski-Handschuh-gedämmten Hände gegeneinander. Glücklicherweise gab es kaum schwere Restposten, sah man von einem alten Kohleofen ab, der schon in seine Einzelteile zerfiel. Ansonsten wurde ein ganzes Panorama der vergangenen Jahrzehnte und des Hausrats geboten. Zerdrückte Lampenschirme, eingerollte, vergilbende Reste von Tapeten, mottenzerfressene Gardinen, stinkende Gummi-Duschvorhänge, zerbrochenes Geschirr, demolierte Klappstühle. Dazu Koffer, Schachteln und und und... Soweit es ging, packten sie die Einzelteile in die alten Vorhänge oder Teppiche, schulterten sie über den "Buckel", schafften sie ächzend runter in den Hinterhof, wo ein Container bereits wartete. Als sie schon ordentlich vorangekommen waren, legten sie eine Pause zum Wasserfassen ein. Die abgestandene, trockene Luft sorgte für eingestäubte Kehlen. "Hier hat wirklich niemand mal geräumt!" Stellte Desi schnaufend fest. Lemmie nickte zustimmend. Sie waren beide nicht mit der Vorgeschichte der Nutzer des Hinterhauses vertraut, kannten nur die kargen Fakten, die die anderen Studierenden ihnen beim Einzug mitgeteilt hatten. Für Studien, der Neugierde geschuldet, blieb keine Zeit. Sie wollten fertig werden, bevor es draußen zu dunkel wurde. Lemmie schob sich in einen Winkel neben dem Kamin, der schlecht einzusehen war, um dort die Überbleibsel von Generationen aufzulesen. Er blieb mit einem Fuß hängen, ruderte Halt suchend in der staubigen Luft, stolperte Richtung gemauerter Wand. Es knirschte lautstark. Lemmie wusste, dass er irgendetwas zertrümmert hatte. "Lemmie?! Alles in Ordnung?!" Besorgt kam Desi heran, zwängte sich in den Hindernisparcours. "Nichts passiert." Lemmie stieß sich von der Wand ab, lächelte verlegen. "Entschuldige! Ich bin ins Stolpern gekommen." "Und hast gleich noch etwas erlegt." Bemerkte Desi grinsend, deutlich erleichtert, dass er sich nicht verletzt hatte. Ihr schmutziger Ski-Handschuh wies auf einen kaputten Lattenrost, der nun noch stärker in Mitleidenschaft gezogen worden war. "Wo du hintrittst, regnet's Splitter!" Lachte sie, wandte sich um, reichte ihm einen Besen. Lemmie grinste gewohnt gutmütig, schob mit dem Kehrgerät die Trümmer zusammen, damit man sie auf einen alten Vorhang befördern konnte. Nach zwei weiteren Fuhren standen sie allerdings vor einem Hindernis. In Form einer alten Kiste. Oder eher Truhe? Grobe, unlackierte Sperrholzbretter mit einem geneigten Deckel machten einen eher provisorischen Eindruck. Obwohl sie mit gemeinsamen Kräften schoben und drückten, bewegte sich der Kasten keinen Millimeter. "Wozu dient das Ding überhaupt?!" Ärgerlich über den Widerstand der Kiste rieb sich Desi den unteren Rücken. "Eine Streusandkiste?!" Das erschien auf einem Dachboden eher unwahrscheinlich. Lemmie enthielt sich eines naseweisen Kommentars. Stattdessen griff er nach einem bereits verbogenen, alten Stehlampenfuß, beäugte kritisch das Vorhängeschloss, das ihre Wissbegierde ausgebremst hatte. Desi lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, hob fragend eine Augenbraue. "Im Film funktioniert das immer." Gab Lemmie mit einem zögerlichen Lächeln und einem Schulterzucken seine Absicht bekannt. Er studierte noch einmal Lampenfuß und Vorhängeschloss am Riegel, holte entschlossen aus, rammte mit Kraft den Lampenfuß gegen den alten Riegel. Mochte das Holz auch im Laufe der Jahre in dieser staubig-trockenen Atmosphäre förmlich versteinert sein: der Zahn der Zeit hatte rostig am Riegel genagt. Mit einem lauten Krachen barst der Riegel vom splitternden Holz. Das Vorhängeschloss verlor den Halt, sauste polternd Richtung Mauer. "WoW! Du kannst!" Lobte Desi euphorisch, applaudierte frenetisch. Lemmie grinste verschmitzt-verlegen, stellte behutsam den lädierten Stehlampenfuß ab. Neugierig öffnete er die nun nicht mehr hinderliche Klappe der Kiste, spähte in ihr Inneres. "Na, wer hätte das gedacht?!" Entrüstet schüttelte Desi den Kopf. Ihre Empörung war verständlich. Bisher hatte sich vor allem Papier als schwerste Last entpuppt, in Form von alten Büchern und Katalogen, Zeitschriften und Journalen, in jede freie Ritze gepresst. Auch hier fanden sich alte Journale, längst vergessene Groschenheftchen und vollkommen verschlissene Taschenbücher. Die Kiste stank förmlich nach verrottendem Papier. Lemmie richtete sich auf, sah sich nach aufgegebenen Kartons, Koffern und Taschen um. Man würde einen Teil des Papierwusts in Auflösung umschichten müssen. Es sollte danach auch möglich sein, die lästige Kiste zu bewegen. Desi seufzte, ging ebenfalls neben dem Kasten in die Hocke, um Gewicht zu verlagern. "Langsam reicht mir's." Vertraute sie Lemmie an, dem es genauso ging. Doch lieber einmal schmutzig werden und es hinter sich bringen, als am nächsten Tag noch mal die Tortur! Außerdem wollte er ja sein kleines Dankeschön zelebrieren! "Wir sind ja beinahe fertig. Wie's aussieht, passt auch alles in den Container." Bemerkte er deshalb aufmunternd. Nachdem sie sich ein paar Mal nachdrücklich auf die Ladung gestellt, heftig gehopst hatten. Während Desi die erste Fuhre aus der Kiste nach unten in den Hof brachte, sortierte Lemmie akribisch den Rest des Sperrmülls zu Häufchen. Man konnte sie abzählen und sich ausrechnen, wann es "Feierabend!" hieß, weshalb er diese Taktik bevorzugte, um Desi aufzuheitern. Noch einmal tauchte er in die Kiste ab, die noch immer wie angenagelt schien, obwohl sie bereits um einige Papierberge erleichtert worden war. Inmitten dieser belang- und bedeutungslosen Journale und Heftchen befand sich zu seiner Überraschung ein in Klarsichtfolie verschweißtes Päckchen. Überrascht hob er es heraus, studierte es eingehend. Auf dem Päckchen befand sich ein Aufkleber mit der Adresse des Hinterhauses. Der Adressat war ein gewisser Alan Smithee. »Hier stimmt was nicht!« Ging ihm durch den Kopf, während er sich langsam von den Knien auf die Hacken zurücksetzte, das Päckchen betrachtete. "Was ist los? Hast du was Bedeutendes gefunden?" Desi beugte sich über ihn. Lemmie runzelte die Stirn, wischte sich einen Schmutzstreifen darüber. "Das ist schon merkwürdig." "Inwiefern?" Interessiert ging Desi neben ihm in die Hocke, verbiss sich ein Grinsen angesichts Lemmies schmutzstarrenden Gesichts. Bedächtig und vorsichtig drehte Lemmie das Päckchen. "Ich habe es in der Kiste gefunden, unter diesen alten Ausgaben aus den frühen Siebzigern. Wenn ich mir aber die Verpackung anschaue, kann es unmöglich so alt sein." Er wies auf das Päckchen. "Aha?" Desi, die Lemmie gut kannte, wollte weitere Indizien hervorlocken. Sie konnte sehen, wie es hinter den graugrünen Augen arbeitete. "Der Name. Alan Smithee." Lemmie tippte auf den von Plastik geschützten Umschlag mit der Adresse. "Was ist damit?" Desi nahm ihm das Päckchen aus der Hand, schüttelte kräftig. "Wenigstens tickt es nicht!" Verkündete sie feixend, was Lemmie zu einem Lächeln verführte. "Das ist ein Pseudonym. Weißt du, wenn Regisseure in Amerika sich von ihrem Film distanzieren. Irgendwie dubios, oder?" Erläuterte er nachdenklich, grübelnd. "Definitiv." Desi nickte, blickte sich suchend um, nutzte einen alten Nagel, um kurzerhand die Plastikummantelung des Päckchens aufzureißen. "Mr. Smithee wird sich schon nicht beschweren." Verkündete sie kategorisch, als sie Lemmies besorgten Blick auffing. "Ich will jetzt wissen, was da drin ist!" Damit zog sie zunächst das Schreiben aus dem Umschlag. Ihre Ski-Handschuhe hinterließen hässliche Schmutzabdrücke, sodass sie zunächst ihre Hände freilegte, bevor sie den Inhalt überflog. Nun runzelte sie auch die Stirn, erwiderte Lemmies fragenden Blick, der ebenso verwirrt von dem Inhalt war. Danach bedauerte der John F. Kennedy International Airport, dass das Gepäck leider nicht auf dem Flug 990 "New York City-Kairo" transportiert wurde, sondern versehentlich eine andere Route genommen hatte. Deshalb der Versand an die angegebene Anschrift mit der Bitte um Nachsicht für den Fehler. "Aber was ist da drin? Warum hat's jemand hier in dem alten Papierzeug verkramt?" Desi brachte das Problem auf den Punkt. "Sehen wir es uns später an." Schlug Lemmie schließlich widerstrebend vor. Nach dem Datum zu urteilen lag das Päckchen seit beinahe zehn Jahren hier. Man konnte nicht von einem Eilbedarf ausgehen. Deshalb begaben sie sich schnaufend daran, den gesamten Dachboden zu entleeren. ~+~ Desi klopfte ihre Ski-Handschuhe kräftig gegeneinander. Der Schmutz blieb ihr treu, dafür öffnete sich im Vorderhaus ein Fenster. Frau Blöcher rief nach ihnen. Frau Blöcher, deren Nachname auf "Blööcher" gedehnt wurde, regierte über das Vorderhaus wie Käpten über das Hinterhaus. Sie war eine Institution, lebte schon "eeeeeewich" hier. Desi und Lemmie hatte sie offenkundig ins Herz geschlossen, da die beiden des Öfteren in den Genuss kamen, die Wohnküche zu betreten und ein Schwätzchen mit Frau Blöcher zu halten. "Na, wie isset, ihr zwei beiden?" Begrüßte Frau Blöcher sie freundlich, eine rundliche, "proppre" Dame, die ihre frisch ondulierten Löckchen gern unter farbenfrohen Kopftüchern schützte. Desi grinste, gab die einzig mögliche Antwort. "Jooood! Und sälbst?" Das ebenso eindeutige Echo folgte. Lemmie, der sich erst an die ihm fremde Mundart hatte gewöhnen müssen, überließ es Desi, die Unterhaltung zu bestreiten. Frau Blöcher machte es ihm dieses Mal leicht. Sie wollte nämlich die beiden "Möhrchen" zur einer ordentlichen Portion Erbseneintopf einladen, nachdem sie so geschafft hatten! Wer hätte da widerstehen können? Lemmie und Desi vergaßen ihren seltsamen Fund in der WG-Küche, huschten eilig unter die jeweiligen Brauseköpfe, schlüpften in frische Kleider. Sie fanden sich rasch wieder bei der netten Nachbarin ein. Frau Blöcher nahm Rücksicht auf Desis Entschluss, sich fleischlos zu ernähren, obwohl sie selbst ohne "Flönz unn Blotwoosch" nicht auskommen könne und verarbeitete nur Gemüse. In der aufgeheizten Wohnküche löffelten sie artig den dicken Eintopf, während Frau Blöcher mit Desi die letzten Neuigkeiten der E- und F-Prominenz durchging, schließlich bekanntgab, welchem außergewöhnlichen Ereignis der Friseurbesuch am Morgen geschuldet war. Damit Lemmie ihr auch folgte, bemühte sie sich um Hochdeutsch. Oder eine Variante davon. "Isch jehe morge met dä Pänz en de Zoo. Mer luhrens do de kleenen Pinguine an!" Sie gestikulierte heftig. "De kleene graue Fluuschige! Do gibt ed su ene Kindä Pinguin!" Die Übersetzung lieferte Desi gleich mit, die die Stirnfalten abzählte und Lemmie beisprang. "Im Zoo gibt's Kinder-Pinguine~Moment!" Unterbrach sie sich grinsend. "Ich meine Pinguin-Nachwuchs. Den bekommen morgen die Enkel zu sehen." "Ah." Nickte Lemmie rasch, um Frau Blöcher nicht zu verärgern, die ihm möglicherweise gram sein konnte, weil er nach beinahe drei Jahren Aufenthalt hier immer noch einer Dolmetscherin bedurfte. "Am Anfang tragen sie erst graues Flanell und später dann Frack." Frau Blöcher, die weder nachtragend noch pedantisch war, nickte eifrig, blätterte vor ihnen ausgeschnittene Bilder hin, die sie sorgfältig in ein Schulheft geklebt hatte. Pinguine zählten offenkundig zu den neuen Favoriten, nachdem sie sich erst für Dampflokomotiven und danach für Dinosaurier begeistert hatte. Lemmie mutmaßte, dass diese Entwicklung den aufgeweckten Enkeln geschuldet war, die sehr oft bei ihrer Großmutter zu Besuch waren und für Aufregung sorgten. Während Frau Blöcher mit Desi diskutierte, ob man kritischen Grundschulkindern steppende und singende Pinguine zumuten könne, schweiften Lemmies Gedanken dezent ab. »Was ist wohl in dem Päckchen? Und wieso Alan Smithee?« Fragte er sich. ~+~ Tag 14 Desi hatte ihm das Versprechen abgerungen, mit der feierlichen "Eröffnung" des Päckchens zu warten, bis sie auch dabei sein konnte. So blieb Lemmie am Sonntagmorgen, dem ersten Advent, nichts anderes übrig, als seine schmerzenden Knochen zu ignorieren. Er verband seinen altersschwachen Laptop mit dem Internet. Zu seiner Verblüffung ergab die Recherche über den Flug ein beunruhigendes Ergebnis. Der Flug 990 von New York City nach Kairo, 31.10.1999, endete mit einem fatalen Absturz in der Nähe von Nantucket vor der Ostküste im Meer. Über die Ursache herrschte Unklarheit. Fakt jedoch war, dass 217 Menschen ihr Leben verloren hatten. Lemmie grübelte ratlos über diese Enthüllung nach. Konnte "Alan Smithee", den es ja gar nicht geben sollte, an Bord gewesen sein? Hatte sich deshalb niemand mehr um das Päckchen gekümmert, das angeblich Gepäck enthielt, versehentlich in eine andere Maschine geladen worden war? Wer hatte das Päckchen versteckt? Und warum? Wenn es nicht gefunden werden sollte, wieso wurde es nicht vernichtet? "Das gefällt mir gar nicht." Murmelte er zu Käpten, der es sich auf der Mikrowelle bequem gemacht hatte, ihn aufmerksam musterte. »Du siehst zu viele Action-Filme.« Ermahnte er sich selbst. »Es ist voreilig, in diese Geschichte etwas hineinzugeheimnissen!« Trotzdem konnte er es kaum erwarten, dass Desi endlich in die Wohnküche kam. ~+~ "Noch mal von vorne!" Desi massierte sich die Schläfen. Sie wirkte angestrengt, bewegte sich steif, mutmaßlich Folge der gestrigen Kärnerarbeit. Lemmie nickte, konnte gut nachvollziehen, dass sich die bisher ermittelten Hinweise phantastisch ausnahmen. "Der Flug, mit dem dieses Päckchen gehen sollte, von New York nach Kairo, ist am 31.10.1999 vor der Ostküste ins Meer gestürzt. Keine Überlebenden. Die Umstände konnten nicht aufgeklärt werden." Rekapitulierte er. "Warum haben die das Päckchen weggeschickt? Wenn niemand überlebt hat, wo soll das Päckchen landen?" Desi schlürfte ihren gesüßten Milchkaffee müde. "Möglicherweise bei Angehörigen?" Lemmie spekulierte nachdenklich. "Andererseits könnte es sich auch einfach um einen Standardbrief handeln. Beim Landen stellt die Bodenmannschaft fest, dass falsches Gepäck eingeladen wurde, leitet es weiter. Man legt anhand der im Computer gespeicherten Anschrift noch ein kurzes Schreiben bei." "Gut. Das Päckchen ist hier, aber warum hat's niemand geöffnet, sondern in den alten Kram da oben gestopft? Wieso Alan Smithee?! Wer soll das sein?!" Desi raufte die krausen Locken. "Ja, das ist alles sehr seltsam." Pflichtete Lemmie ihr bei, schob ihr das Teppichmesser zu. "Wir sollten uns Gewissheit über den Inhalt verschaffen, meinst du nicht?" Mit einem grimmigen Blick schnappte sich Desi das Werkzeug, zerteilte das Klebeband fachgerecht. Nun konnte man den darunter befindlichen Karton öffnen. "Jetzt bin ich aber mal gespannt!" Murmelte sie, klappte mit ausgestrecktem Arm die Deckelhälften auf. Man konnte ja nicht wissen, was darin steckte! Es ereignete sich nichts Bemerkenswertes. Also beugten beide ihre Häupter über das Päckchen. "Was ist das denn?!" Mit spitzen Fingern fischte Desi den Inhalt heraus: - ein zusammengerolltes Stück Stoff, steif gewebt. - eine Kupferblechtafel. - ein wasserdicht geschlossener Beutel. - eine Schatulle aus geschwärztem Zinn. - zwei mit Blei verschlossene Glasplatten, in einen mit Luft gepolsterten Umschlag gebettet. Verwirrt betrachteten sie die Ausbeute. "Kein weiteres Schreiben." Stellte Desi fest, schüttelte und klopfte auf den Karton. Unterdessen sortierte Lemmie vorsichtig die Einzelteile. Sie waren alle klein und verschiedenartig. Man konnte keinen direkten Zusammenhang erkennen. "Ob das ein Scherz ist? Was soll das alles?" Desi brummte kritisch. "Hmmmm. Erscheint mir doch recht aufwändig für einen Scherz. Oder?" Murmelte Lemmie, der noch kein Urteil abgeben wollte, aber vermutete, dass eine Äußerung Desis Unmut lindern konnte. Desi schnaubte, widmete sich ihrem Milchkaffee. In diesem Moment stolperte Lena in die Wohnküche. Sie wirkte nicht so, als habe der gestrige Tag ihrer persönlichen Kondition geholfen. "Ich zieh aus!" Verkündete sie schniefend, konzentrierte damit alle Aufmerksamkeit auf sich. ~+~ Zur Verblüffung der verbliebenen WG rückte am folgenden, ersten Werktag eine Baudekorationsfirma an, zog trotz der nieselig-nebligen Witterung ein Baugerüst hoch. Da die Renovierungsarbeiten erst im Januar stattfinden sollten, hatte niemand mit dieser Entwicklung gerechnet. Es schien seine Richtigkeit zu haben. Eingedenk der Mahnungen des Vermieters verstauten die WG-Bewohnenden ihre wenigen wertvollen Besitztümer seufzend in den Schließfächern der jeweiligen Fakultäten an der Universität. Obwohl es bei ihnen wirklich nichts zu holen gab, wusste man nie, ob sich nicht doch Langfinger der günstigen Gelegenheit eines Baugerüstes bedienen wollten. Lemmie verfügte lediglich über Bekleidung und Hygieneartikel, seinen alten Laptop und ein klappriges Fahrrad. Mobiltelefon mit Mini-Kamera und Musikabspielgerät residierten in seinem bewährten Rucksack. Der gesamte Rest seines bescheidenen Besitzes bestand in Büroutensilien fürs Studium. Hauptsächlich hielt er sich an der Fakultät auf, schrieb, las und arbeitete dort auch. Für mehr blieb angesichts des straffen Studienplans für den Bachelor auch keine Zeit. Die Ermahnung veranlasste ihn jedoch, am nächsten Tag den Karton mit den seltsamen Fundstücken in eine Plastiktüte zu packen und mit zur Universität zu nehmen. Dort, so nahm er sich vor, konnte er herausfinden, was es mit dem merkwürdigen Inhalt auf sich hatte. ~+~ In den Arbeitsräumen gab es Anschlüsse für Laptops, außerdem Zugang zum Netzwerk der Universität und die Möglichkeit, weitere Medien leihweise zu nutzen, zum Beispiel Großdrucker, Kopiergeräte, Scanner, Kameras und Videotechnik. Lemmie breitete systematisch vor sich auf dem Tisch aus, was der Karton enthalten hatte. Zumindest konnte er eine augenfällige Gemeinsamkeit verbuchen: ganz gleich, welches Medium gewählt worden war, alle enthielten Schriftzeichen. In das Stück steif gewebten Stoff waren, nach seiner Vermutung, arabische Schriftzeichen eingestickt, wobei man einen Metallfaden genutzt hatte. In das Kupferblech und ein Aluminiumblech hatte man jeweils Schriftzeichen eingeschlagen bzw. gestanzt. Daneben war auf handgeschöpftes schweres Papier bzw. auf Papyrus geschrieben worden. Das in Glasscheiben eingeschlossene, mit Blei luftdicht verkleidete Schriftstück schien Pergament zu sein, also gegerbtes Leder. "Aber was ist das alles?" Nachdenklich rieb er sich über die Stirn. >Logisch denken, eins nach dem anderen!< Hörte er Fines spöttische, leicht heisere Stimme in seinem Ohr. »Genau.« Pflichtete er ihr bei. Jemand, oder verschiedene Personen, hatten sich bemüht, Texte so aufzuzeichnen, dass sie nicht sofort dem Zahn der Zeit zum Opfer fielen. Deshalb, dachte man streng logisch, musste es sich bei dem Text um etwas Bedeutsames handeln. »Warum so viele unterschiedliche Schriftsprachen? Wieso hat sich niemand dieses Päckchens angenommen, wenn der Inhalt bedeutend ist?« Lemmie entschied, dass ihm vermutlich die auf schwerem Papier geschriebenen Texte weiterhelfen konnten. Sie mussten, so glaubte er, jüngeren Datums sein. Er sortierte die Ausbeute erneut, betrachtete die Schriftbilder. Der bestickte Stoff, das konnte Arabisch sein. Die unterschiedlichen Papierdokumente mit verblassender Tinte aufgezeichnet... Das Schriftbild erschien ihm derart geschnörkelt, dass er nicht mal sicher war, ob es sich um Französisch, Englisch, Spanisch oder sonst etwas handelte. Das Stück Kupferblech, in das man Zeichen geschlagen hatte, sah für Lemmie eindeutig nach Latein aus. Nicht dass ihm das eine Hilfe gewesen wäre, da er sich kaum noch an die Vokabeln erinnern konnte und hier offenkundig mit Abkürzungen gearbeitet wurde. »Seltsam.« Dachte Lemmie, legte als nächstes das gestanzte Aluminiumblech daneben. Diesen Text verstand er. Es handelte sich um seine Muttersprache. Ohne sich um die Schatulle und das Blei-verkleidete "Glas-Sandwich" zu kümmern, überflog er die Mitteilung. [An Kaiphas, Hohepriester von Jerusalem. Auf dein Geheiß wurden die Anhänger des gekreuzigten Jesus, Sohn von Josef aus Nazareth, nach Galiläa verwiesen. Die Leiche haben wir entfernt. Entsprechend deiner Anweisung haben wir die Höhlen beobachtet. Es sind keine weiteren Versammlungen zustande gekommen. Joram] Lemmie runzelte die Stirn. »Das ist doch wohl nicht das, was ich glaube? Oder?« Zögerlich legte er das Blech auf die Seite, widmete sich der Schatulle. Sie war verfärbt und schwarz angelaufen, was ihn ein wenig an altes Tafelsilber erinnerte. Er hob sie an, betrachtete sie von allen Seiten. Sie war klein, gerade mal die Größe einer Zigarettenschachtel. Offenkundig würde er sich eines Werkzeugs bedienen müssen, wenn er sie öffnen wollte. Er stellte sie zunächst auf die Seite, hob das seltsame "Glas-Sandwich" an. Ein Stück Pergament, gegerbte Tierhaut also, war zwischen zwei Glasplatten gepresst worden, die man mit einem Bleiband luftdicht verbunden hatte. Er spähte durch die Glasschicht, konnte quadratische Schriftzeichen erkennen. Sie erinnerten ihn an die Gedenktafeln, die er an verschiedenen Orten, hauptsächlich in Erinnerung an jüdisches Leben und Sterben, vor allem in Folge des Dritten Reichs, gesehen hatte. »Hebräisch?« Vermutete er ratlos. Auf was genau war er hier gestoßen? War dieser Alan Smithee ein Privatsammler? Ein Historiker? Welchen Sinn hatte diese merkwürdige Kollektion? "Hmmmm..." Brummte Lemmie halblaut vor sich hin. In jedem Fall konnte es sein, dass diese Fundstücke wertvoll waren, deshalb wollte er sich vorsehen, sie nicht aus Unkenntnis beschädigen. Er packte sie zunächst wieder in den Karton, dachte darüber nach, wie er gleichzeitig ihr Geheimnis lüften und sie dabei fürsorglich behandeln konnte. ~+~ Lemmie entschloss sich nach einigem Grübeln, die Texte und ihre Präsentationsweise abzulichten, mit den Digitalkameras, einem Zollstock und eingestelltem Zeitstempel. Danach, entschied er, würde er sich Hilfe suchen. Es war immer noch nicht auszuschließen, dass er auf einen seltsamen Scherz gestoßen war. Ohne Not wollte er sich nicht lächerlich machen. Trotzdem gingen ihm die merkwürdigen Worte des deutschen Textes nicht aus dem Kopf. Konnte es wirklich einen Zusammenhang geben mit...? Bevor er sich intensiv seiner privaten Schnitzeljagd widmen konnte, für die er eigentlich gar keine Muße hatte, meldete sein Alltagsleben prioritäre Ansprüche an. Es gab Arbeiten abzuliefern, Texte zu verfassen, sämtliche Kurse zu besuchen! Am folgenden Wochenende wurde Kriegsrat gehalten. Die letzten drei "Mohikaner" der WG wollten Lena natürlich helfen, ihren kurzfristigen Umzug zu bewältigen. Deshalb war auch die anschließende Woche mit zahlreichen Ansprüchen verbunden. Am Samstag vor dem dritten Advent wurde ein kleiner Umzugswagen mit Lenas Habseligkeiten gefüllt. Sogar der Faule Sack ließ sich blicken, glänzte allerdings wie gewohnt eher durch unnütze Ratschläge. Er bot sich zumindest an, den Umzugswagen zu chauffieren, was den anderen durchaus gelegen kam. So dauerte es bis zur letzten Woche vor dem vierten Advent, bis Lemmie dazu kam, sich seinem "Projekt" zu widmen. Er nahm sich Zeit und den Karton, bat Desi um ihre Unterstützung. Sie leuchtete mit ihm die Fundstücke so aus, dass die Aufnahmen mit den Digitalkameras der Fakultät gut genug gelangen, um sie im Netz der Universität zu veröffentlichen. Auf die Idee hatte sie der ahnungslose Hannes gebracht. Am Vorabend hatte er einen Flyer fallen gelassen, mit welchem die Fachschaft des Instituts für Altertumskunde um Mitspielende und Besuch ihrer alljährlichen Theateraufführungen anlässlich der "Saturnalien" warb. Die drei verbliebenen WG-Bewohnenden waren nicht an einem Rollenspielposten interessiert, aber der Hinweis brachte Desi auf eine zündende Idee. Wer, wenn nicht die Studierenden der Klassischen Philologie, könnten beim Entziffern der unbekannten Texte helfen?! Möglicherweise könnten sie auch bei der Vermittlung assistieren, wenn man herausfinden wollte, wie alt und "echt" die Fundstücke tatsächlich waren! Angesichts des Umstandes, dass die Fachschaft "Saturnalien" abhielt, die man durchaus als Vorgänger karnevalesken Treibens mit der Umkehrung der Standespositionen innerhalb der Gesellschaft ansehen konnte, stimmte Lemmie ihr zu. Zumindest hoffte er, wenn sich die gesamte Geschichte als Ente erweisen sollte, dass ihnen mit Humor begegnet wurde. Nachdem sie gemeinschaftlich Bild um Bild geschossen und dank Desis Freundin, einer Juwelierin, auch noch die Schatulle unter Vermeidung größerer Schäden geöffnet hatten, speicherten sie alles im Universitätsnetz. Unter Lemmies "Nummer", dem allgemeinen Nutzungskonto, das der Registernummer auf dem Studierendenausweis entsprach. Auch vergaßen sie nicht den Brief des Flughafenbetreibers und Lemmies kurze Notiz zu den bisher gewonnenen Erkenntnissen. Wie einfach sich das mit einem kleinen Blog bewältigen ließ! Recht zufrieden mit ihren Fortschritten bat Lemmie im allgemeinen Forum der Universität um Hilfe, verwies auf die gespeicherten Aufnahmen. Vielleicht fand sich ja jemand, der die Schriftbilder erkannte und der Sprachen mächtig war? ~+~ Kyousuke Iwaki füllte methodisch die leichte Reisetasche. Seine klassisch schöne Miene wirkte angestrengt. Diese Routine verlangte ihm keine besondere Aufmerksamkeit ab, sodass seine Gedanken in andere Regionen schweiften. Die hatten gar nichts mit seinem Reiseziel gemein. Sie führten in ein dunkles, tristes, kaltes und einsames Loch. Mit einem heftigen Ruck schüttelte er die Schimären einer unerfreulichen Zukunft ab, hoffte, sie würden ihn nicht ausgerechnet in einsamen Stunden erneut heimsuchen. Er konnte sie nicht brauchen, nicht jetzt und bestimmt nicht später. Eine wässrige Sonne blinzelte durch den Spalt zwischen den schweren Übergardinen in das Schlafzimmer, das er sich mit seinem jüngeren Liebhaber Youji Katou teilte. Hier, in Tokio, sah der Winter bloß nach Regen, Taifunen und noch mehr Regen aus. Im Augenblick bewies der Himmel ein Einsehen, teilte die dickbäuchigen, grauen Wolken, damit die Sonne einen abschätzigen Blick auf den ausufernden, wuchernden Moloch der Metropole werfen konnte. Einen geradezu krassen Kontrast zu dieser trübseligen, melancholischen Stimmung bildete die Geräuschkulisse, die aus dem Badezimmer drang. Kyousuke konnte ein verschmitztes Grinsen nicht unterdrücken, als er Youji singen hörte. Youji hatte eine durchaus angenehme Stimme, einen schönen Tenor, der geübt und treffsicher die Melodie intonierte. Dazu bemühte er sich um eine möglichst korrekte Aussprache des Textes. Was ihm, zumindest nach Auffassung seines Lebenspartners, sehr viel besser gelang als Kyousuke selbst. "Can anybody find me somebody to love? Each morning I get up, I die a little Can barely stand on my feet Take a look in the mirror and cry Lord what you're doing to me I have spent all my years in believing you But I just can't get no relief, Lord! Somebody, somebody Can anybody find me somebody to love?" Youji schmetterte gerade den Refrain, als irgendein nicht näher erkennbarer Gegenstand ebenfalls schmetterte. Auf die Fliesen. Während Freddie Mercury weiter im Takt trällerte, hörte er Youji ganz geerdet schimpfen. "I work hard every day of my life I work till I ache my bones At the end I take home my hard earned pay all on my own - I get down on my knees And I start to pray Till the tears run down from my eyes Lord - somebody - somebody Can anybody find me - somebody to love? (he works hard) Everyday - I try and I try and I try - But everybody wants to put me down They say I'm goin' crazy They say I got a lot of water in my brain Got no common sense I got nobody left to believe Yeah - yeah yeah yeah" Gebannt lauschte Kyousuke den für ihn unsichtbaren Vorgängen, ließ das Packen sein. Nun erst mischte sich Youjis Stimme wieder in den Chor. "Oh Lord Somebody - somebody Can anybody find me somebody to love?" Wasser rauschte, es klapperte. Das musste nach Kyousukes Auffassung der Nassrasierer sein, den Youji benutzte. Leicht gedämpft, offenbar trocknete der jüngere Mann sich gerade Hals und Gesicht ab, pflichtete er der legendären Rock-Combo wieder bei. "Got no feel, I got no rhythm I just keep losing my beat I'm ok, I'm alright Ain't gonna face no defeat I just gotta get out of this prison cell Someday I'm gonna be free, Lord! Find me somebody to love Can anybody find me somebody to love?" Glücklicherweise verzichtete Youji auf den euphorisch überzogenen Schlussrefrain. Das hätte sein Stimmumfang wohl doch nicht fehlerfrei bewältigen können. Kyousuke schüttelte seine Versunkenheit ab, zog den massiven Reißverschluss zu, hob die lederne Reisetasche probeweise an ihren kurzen Tragehenkeln an. »Leicht genug.« Befand er. Üblicherweise wäre es ihm zu wenig Wäsche gewesen für eine Woche. Für diesen Auftrag wurde ihm Bekleidung gestellt. Er setzte die Reisetasche vor seinem Bett ab, trat ans Fenster, um durch den kleinen Spalt zwischen den schweren Vorhängen hinaus zu spähen. "Iwaki-san!" Youji, lediglich in ein Handtuch gehüllt, bereits sauber rasiert und dezent nach einem teuren Rasierwasser duftend, flitzte mit einem jungenhaft-schelmischen Grinsen heran. "Die darfst du nicht vergessen!" In seiner Hand lag eine kleine Schachtel. »Die verflixten Haftschalen!« Kommentierte Kyousuke stumm, der sich NIE gestattete, laut ausfällig zu werden. Er verabscheute seine Kontaktlinsen, ebenso die adrette, randlose Brille. Es half nichts: zum Lesen oder bei der Arbeit mit den Telepromptern hatte er keine Wahl. Es ging hier nicht um Drehbücher, die man auswendig lernen konnte. Für einen Augenblick glaubte er, Youjis Grinsen beziehe sich auf den Altersunterschied und seine nachlassende Sehkraft. Sofort sah er sich eines Besseren belehrt. Youji zwinkerte zwischen neckisch in die Stirn fallenden Strähnen hindurch, schmiegte sich an Kyousukes Rücken, drückte ihm zärtlich einen Kuss auf die Wange. "Schau mal! Sogar die Sonne kommt raus!" Strahlte er aufgekratzt. Kyousuke konnte sich nicht helfen, er WAR angesteckt, lächelte mit. Youjis offene Art, die ungefilterte Demonstration von Gefühlen berührte ihn immer wieder, zeigte ihm auf, was er selbst nicht vermochte. "Schade, dass wir schon los müssen." Schnurrte der nun gar nicht mehr so jungenhafte Mann an seinem Ohr in einem rauen, kehligen Stöhnen. Mit den Händen über Youjis blanke Arme streichend gestattete sich Kyousuke ein zustimmendes Seufzen, schmiegte sich noch einen Augenblick länger in die vertraute Umarmung. »Nur eine Woche.« Dachte er bitter. »Nur eine Woche bist du nicht bei ihm! Das ist doch nichts! Reiß dich zusammen!« Es war schwer, sich nicht umzuwenden, das Gesicht in Youjis Halsbeuge zu vergraben, dessen Geruch mit jedem Atemzug zu inhalieren. Ja, die Vorstellung, ihn loslassen zu müssen, erfüllte Kyousuke zu gleichen Anteilen mit Ingrimm und Trauer. "Ich ziehe mich noch rasch an, ja?" Youji entschlüpfte seinen Händen, entzog ihm die Wärme. Seine nackten Fußsohlen tappten auf den polierten Holzdielen. Weg von ihm, aus dem Schlafzimmer. Kyousuke schloss die Hand um die Kunststoffschachtel, unterdrückte den beinahe überwältigenden Drang, sie zum Bersten zu bringen. ~#~ Youji betrat das begehbare Ankleidezimmer, angelte aufs Geratewohl heraus, was ihm konvenierte. Er hatte ein ureigenes Gespür für Mode, die ihn kleidete und dachte selten darüber nach, wie er was arrangieren oder an sich drapieren sollte. »Man wird ja ohnehin ausgezogen. Also, was soll der Stress?« Lautete sein Motto. Im bodentiefen Spiegel kontrollierte er seine Erscheinung. Er trainierte häufig in einem Fitnessstudio, wobei er dort auch gut Texte lernen konnte, die ihm sein jungenhafter Manager auf ein Speichermedium sprach. Seine Hüften waren schmal, seine Figur elegant und sportlich zugleich. Er konnte es sich leisten, tief auf den Hüftknochen reitende Hosen zu tragen oder mit einem offenen Hemd herumzulaufen. Gerade studierte er weniger die eigene ästhetische Erscheinung als vor seinem geistigen Auge die Gestalt seines Geliebten. »Iwaki-san ist so dünn geworden.« Ja, auch wenn er keine Gelegenheit bekam, das Gewicht seines Liebsten per Waage überwachen zu können, weil der sich diese Aufregung verbeten hatte, war Youji dennoch nicht ohne Maßstab. Fragil und zerbrechlich wirkte sein Partner. Knochen und Sehnen traten deutlich unter der hellen Haut hervor. Es war ihm durchaus bewusst, dass Kyousuke seit jeher zum eher ätherischen Typ zählte, mit seiner beinahe weißen, glatten Haut und den schwarzen Haaren einem japanischen Ideal entsprach. Aber nun schien es ihm, als reduzierten sich die Muskeln selbst! Von Fett brauchte man ohnehin nicht zu reden! Irgendetwas setzte seinem Iwaki-san zu, davon war Youji überzeugt. Unter Stress, das wusste er zu gut, verlor der ältere Mann rasch an Gewicht, beinahe so, als wolle er sich in Luft auflösen. "Spitz im Gesicht ist er auch geworden!" Vertraute Youji flüsternd seinem Spiegelbild an. Zwar griff er in diesen Situationen gewohnt unerschrocken zur Hausmannskost, bewirtete seinen Schatz eigenhändig, doch wie sollte er das bewerkstelligen, wenn sie aus beruflichen Gründen getrennt waren?! Eilig wickelte er sich einen Schal um den Hals. "Wenn er wiederkommt, dann...!!" Versprach er seinem reflektierten Zwilling. ~+~ Kyousuke blinzelte noch heftig, als er Youji in ihre Garage folgte. Diese vermaledeite Haftschale für sein linkes Auge "kratzte". Kein tatsächliches Kratzen, aber sie störte ihn, weshalb er blinzelte und nun tränte ihm das Auge! Youji, der mit Kyousukes Reisetasche vorangegangen war, wandte sich vom Kofferraum um, erschrak. "Ist dir etwas ins Auge geraten?" Erkundigte er sich besorgt, fasste unter Kyousukes Ellenbogen, um ihn am ungelenken Reiben zu hindern. "Nein, bloß..." Kyousuke seufzte und verschluckte eine ärgerliche Erklärung. Was sollte das Jammern auch?! Er war nun Mitte Dreißig, hatte die Halbwertszeit überschritten, würde vermutlich in Kürze eine Gehhilfe benötigen! "Mach die Augen zu und setz dich, ja?" Umsichtig geleitete Youji ihn zur Beifahrerseite, half ihm in den sportlichen Wagen. Er legte den Sitz so weit zurück, dass er halb über seinem Liebhaber gelehnt behutsam Augentropfen verabreichen konnte. Das half. Unerwartet blickte Kyousuke ihm lange, sehr lange in die Augen. "...ich werde dich jeden Tag anrufen, Iwaki-san." Murmelte Youji mit plötzlich belegter Stimme. Er fühlte sich erschreckend unbehaglich, seinen Liebsten ziehen zu lassen, wenn der nicht bereits geschäftig Pläne schmiedete, hochkonzentriert seine Aufgaben durchging. Kyousuke hob den Arm, streichelte Youji über die hellbraunen Haare, glitt über dessen Wange, ließ seine Handfläche dort einen langen Moment ruhen. "I love you." Wisperte er mit einem Anflug von Röte im Gesicht. Wie gut, dass es Fremdsprachen gab! ~+~ Kyousuke schreckte aus einem oberflächlichen Dösen hoch, als Youji vor dem Flughafen die Kurzzeitparkplätze ansteuerte. Es war noch etwas ungewohnt, nicht von seiner Assistentin Frau Mizumi im Firmenwagen der Agentur abgeholt zu werden. Kyousuke selbst hatte ihr streng verboten, ihn zu begleiten. Er schätzte sie sehr, war überaus dankbar dafür, dass sie seit Jahren loyal für ihn arbeitete, auch jetzt noch, nachdem sie Mutter geworden war, eigentlich andere Prioritäten hätte setzen können. Deshalb achtete er streng darauf, dass sie nicht ohne Not von ihrer Familie getrennt wurde. Er selbst hatte keine Kinder und sich seit langer Zeit mit dieser Entwicklung angefreundet. Zuerst waren es die beruflichen Umstände, der Stress und die Karriere als Pornodarsteller, addierend dazu der Zwist mit seiner Familie. Nun existierten diese Gründe nicht mehr. Vermutlich wäre es seinem älteren Bruder, der bereits ein Kind hatte, eine Erleichterung, wenn er auch den Fortbestand des Familiennamens gesichert hätte. In Kyousukes Augen war es dazu zu spät. Er konnte sich nicht vorstellen, einen anderen Menschen außer Youji so innig, so schrankenlos in sein Herz, sein Leben und seine Seele einziehen zu lassen. Youji war es auch, der Kinder mit in sein Leben brachte. Besonders zu dessen kleinem Neffen Yousuke fühlte sich Kyousuke hingezogen. Er freute sich jedes Mal, wenn sie Youjis Eltern und dessen Zwillingsschwester Youko mit ihrer Familie besuchten. Da konnte er mit den Kindern herumtoben, ein Nickerchen halten oder mit ihnen spielen. Selbst Youji neckte ihn, dass er vernarrt in die Kinder sei, sie zu sehr verwöhne. Kyousuke konnte nicht anders. Wenn er beruflich verreiste, versäumte er nie, auch für die Kinder eine Kleinigkeit einzupacken und zu verschicken. In seiner Jugend hatte es an solchen Aufmerksamkeiten gemangelt. Er wusste, dass die Katous ihre Kinder nicht verzogen. "Bereit?" Youji wandte sich ihm zu. Kyousuke konnte in dessen Augen lesen, dass die eigentliche Frage "geht es dir auch wirklich gut?" gelautet hatte. Um die Sorgen seines Liebhabers zu zerstreuen, streichelte Kyousuke lächelnd über die neuen Sitzbezüge. Rotes Velours, in einer Nuance, die genau zur silberfarbenen Lackierung und den dunklen Holzeinlegearbeiten passte. Ein wenig old school, wie Youji grinsend eingestanden hatte, aber ihm gefiel es. Kyousuke mochte es, wie samtig sich das Gewebe unter seiner Hand anfühlte. "Gefällt's dir?" Youji strahlte erfreut. Er mochte seinen Sportwagen, der als Klassiker galt. Allerdings war er nicht so verrückt, sein Gefährt zu vermenschlichen und Unsummen in das Tuning zu investieren. "Anschmiegsam und weich. Ich möchte gar nicht aussteigen." Kommentierte Kyousuke aufrichtig. Youjis Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde ernst. Wollte er impulsiv empfehlen, nicht abzureisen? Es wäre umsonst, natürlich, das wussten sie beide. Dennoch kam Youji die Aufgabe zu, verrückte Ideen zu entwickeln, um Kyousuke auf andere Gedanken zu bringen. Kyousuke konnte den suchenden, besorgten Blick nicht länger ertragen, wandte sich ab, öffnete die Tür. Das zwang Youji, ebenfalls auszusteigen, die Reisetasche aus dem Kofferraum zu heben. Wie immer herrschte viel Trubel. Kyousuke ging zielstrebig voran, wollte sich keine abschweifenden Gedanken mehr gestatten. Wenn er sich diese Blöße gab, würde Youji sich nur sorgen. Er durfte ihn auf keinen Fall bei seiner Karriere behindern, das verbat ihm sein Ehrgefühl. Youji hatte mehr als einmal unter Beweis gestellt, dass er ihn über alles stellte, auch über seinen Erfolg. Er fand den Schalter, checkte bei der günstigen Fluglinie ein, die ihren Hauptsitz in Sapporo hatte. Dorthin musste er auch fliegen. Youji reichte neben ihm das Gepäck hinüber, lächelte freundlich, während die Servicedamen aus dem Häuschen gerieten. Jedermann bzw. -frau erkannte Youji mühelos. Gleich zwei Dramen liefen derzeit im Fernsehen, in denen er eine Heldenrolle übernahm. Außerdem arbeitete er als Modell, hatte eine Christmas-CD aufgenommen und warb für verschiedene Produkte. Kurzum, Youji war ein Star. Der Mann, von dem die Frauen träumten und den besonders die Männer seines Alters zum Vorbild nahmen. Dabei entsprach er keineswegs dem tradierten Bild: er war direkt, offen, westlich orientiert und unangepasst. Er schämte sich weder für seine Vergangenheit als Pornodarsteller, noch ließ er sich von den Spielregeln des Mediengeschäfts einschüchtern. Kyousuke lächelte ebenfalls, überließ es Youji, Autogramme zu verteilen und seinen Charme zu versprühen. Gelassen schlenderte er zur Abfertigung, warf einen Blick auf die zahlreichen Bildschirme, die von Werbeblöcken unterbrochen Nachrichten und Informationssendungen ausstrahlten. In Sapporo schneite es. Die Temperatur wurde als angenehm bezeichnet. Wenn man es gewohnt war, wie ein Eskimo zu leben. Youji holte ihn ein, fasste ihn schwungvoll um die Taille, küsste ihn unerwartet sanft auf die Lippen. Natürlich löste seine Affektionsbekundung Aufsehen aus. Kyousuke störte sich nicht mehr daran. Alle wussten schließlich, dass sie ein Paar waren. Manchmal KOTZTE es ihn an, sich ständig verstecken zu müssen! Dabei wusste er ja, wie die Welt beschaffen war, dass nur die dünne Tünche Ruhm ihn und Youji davor bewahrte, geächtet, gemobbt, ausgegrenzt und verfolgt zu werden. "Pass gut auf dich auf, ja?" Youji lehnte seine Stirn an, studierte ihn eindringlich. "Das gilt auch für dich!" Kyousuke gab sich betont forsch, klemmte Youjis Nasenspitze zwischen Mittel- und Ringfinger, funkelte ihn an. Ohne auf die anderen Menschen zu achten umarmten sie sich noch einmal. Kyousuke passierte die Sperre. Noch einmal drehte er sich nach Youji um, der ihm zulächelte, eine Hand zum Gruß erhoben. Kyousuke nickte unmerklich, zwang seine Gedanken auf die bevorstehende Aufgabe. ~+~ Tag 15 »So sieht also meine Zukunft aus.« Stellte Kyousuke melancholisch fest, während er an der Bar saß, vor sich ein Glas Single Malt Whisky, in dem die elegant konisch-geformten Eisklumpen funkelten und glitzerten. Er achtete darauf, nicht mehr als ein Glas "on the rocks" zu trinken. Zusammen mit seinem Appetit war auch seine Alkoholtoleranz gesunken. Beschwipst durfte er keinesfalls erscheinen. Das besondere Aroma des Getränks wärmte ihn, reizte seinen Magen. »Weil du gelogen hast!« Tadelte ihn sein Gewissen unnachgiebig. »Nicht gelogen. Lediglich ein wenig die Tatsachen aufpoliert.« Stellte Kyousuke richtig. Wie hätte er auch sonst Youji antworten sollen, wie sein Tag gewesen war?! Wie eine Vision der zukünftigen Hölle?! Kyousuke wusste, dass es zu Ende ging. Sein Typ war nicht mehr so gefragt. Auch wenn man ihm bescheinigte, dass er alterlos schön war, so war er doch kein "richtiger" Mann. Die Werbekunden blieben aus. Als Schauspieler wurde er durch die Charakterrollen zwar wahrgenommen, aber Kunstkino zog nicht gerade die Massen an. »Sie verfügen einfach nicht über die charismatische Qualität eines Toshirou Mifune!« Hatte ein Produzent ihm ins Gesicht gesagt, ein wenig abschätzig. »Wenn man älter wird, ist eine dramatische Ausstrahlung das Pfund, mit dem man wuchern kann.« Kyousuke konnte nicht wuchern, zumindest nicht mit einem gezeichneten Gesicht. Sein Erfolg hatte darauf beruht, einem vergangenen Ideal entsprechend schön zu sein. So sehr er sich auch bemühte: nun sorgte seine äußerliche Attraktivität dafür, dass man ihm keine andere Rolle abnahm. Das war natürlich nicht alles. Weil er mit einem Mann zusammenlebte, mit dem vitalen Youji, mutmaßte jeder, er sei die "Frau" in der Beziehung. Wer wollte schon mit einem Mann werben, der privat eine "Frau" war? »Lächerlich.« Kyousuke nippte an seinem Whisky, unterdrückte diszipliniert eine Grimasse. Sie galt nicht dem Getränk, sondern seinen bitteren Gedanken. Eine "Frau", er? Es war Youji, der für ihn kochte, der es verstand, neuen Hausrat auszuwählen! Der gelegentlich putzte, die Wäsche machte! Er seufzte leise. Was er allen anderen verübelte, war ihm selbst eingeprägt wie ein Brandmal: wer die Beine breitmachte, war die "Frau". Dabei wusste er doch am Besten, dass das Unsinn war. Eine lächerliche Vorstellung. Ein Mann war nicht unterlegen, wenn er sich penetrieren ließ. Müßig, sich zu beklagen. Er konnte nicht ändern, was in anderen Köpfen vorging. Eigentlich sollte er damit zufrieden sein, was er erreicht hatte und akzeptieren, dass seine Karriere zu Ende ging. Das war schwierig, wenn man überall Youjis Konterfei sah. Sich unterlegen fühlte. Kyousuke ärgerte sich über sich selbst, schämte sich für diese kleinlichen Gedanken. Youji trug nicht die geringste Schuld daran, dass er das Ende seiner Karriere erreicht hatte. Dass ein lächerlicher Stolz und unnötiges Konkurrenzdenken ihm das Leben vergällten. »Dass ich einfach nicht weiß, wie es weitergehen soll. Danach.« Als Hausfrau jedenfalls konnte er nicht fungieren, dazu mangelte es ihm nachweislich an Kenntnissen und Fähigkeiten. Er musste wohl oder übel wie bisher weitermachen, als Gastgeber in einer Nachmittagssendung, die Urlaubsorte vorstellte, Kulinarisches aufbereitete. Als graue Eminenz mit verblassendem Ruhm neben einer ewig kichernden, schrill trillernden Frau fungieren, die sich einzig durch ihre Beziehung zu einem der Produzenten auszeichnete. Gerade jetzt, auf dieser Tour in die Nähe von Sapporo, wo sie ein Themendorf porträtierten, erwies sich ihre Persönlichkeit als besonders enervierend. Erst erklärte sie ihn zum Intellektuellen, weil er in den Drehpausen las, dann stolperte sie über ihren Text, hielt alle auf. Youji hatte schon über sie gespottet. Neben dieser Zierpuppe galt eine ausgetrocknete Zimmerpalme als intellektuell. »Trübe Aussichten.« Jedenfalls war es kein besonderes Vergnügen, die Drehtage mit ihr verbringen zu müssen. Sah so seine Zukunft aus? Senioren- und Hausfrauenfernsehen? Bis er wie ein Zombie verstaubte? Kyousuke nahm einen großen Schluck, stellte das bauchige Glas akkurat wieder auf die Papierserviette. Allzu gern hätte er sich jetzt in Youjis Umarmung eingekuschelt, dessen munterem Geplauder gelauscht und zuversichtlich in ihre Zukunft geblickt. Stattdessen wartete ein einsames Zimmer, ein viel zu großes, kaltes Bett und eine unruhige, von Sorgen geprägte Nacht auf ihn. ~+~ Youji ignorierte geübt die Aufhübschungsarbeiten an Frisur und Gesicht, während er in einem Magazin für den Haushalt blätterte. Die Werbung versprach zahlreiche Rezepte für saisonale Erzeugnisse und Gelegenheiten. Wie ein eifriger Schüler studierte er die Anweisungen und Anmerkungen, erwog, was für ein Menü an Heiligabend für ein so verliebtes Pärchen wie sie geeignet war. Lediglich die Weihnachtstorte hatte er schon bestellt. Sie überstieg seine Fähigkeiten. "Würdest du einen Eintopf essen? Ich meine, an Heiligabend?" Erkundigte er sich beiläufig bei dem Stylisten, der an seinen Strähnen herumzupfte. "Viel zu fett! Du glaubst gar nicht, was das mit meinen Hüften anrichtet! Bei dir allerdings...!" Kommentierte der aufgeregt. Youji grinste frech, bleckte die Zähne. "Ich hab mit Hüftgold nicht so viel Probleme. Liegt am Workout." Fügte er anzüglich an. "Oooooohhhhh! Oh la la!" Trillerte der Coiffeur begeistert. "Genau!" Stimmte Youji großzügig zu. Er hoffte zumindest sehnsüchtig, dass sich das "Workout" an das opulente Menü anschließen würde. ~+~ Kyousuke war strikt erzogen worden. Deshalb rollte er weder mit den Augen, noch kommentierte er bissig die Fehlversuche von "Ginger". Sie hatten für diesen Drehtag einige Häuser ausgewählt, die nach den Anden, den Appalachen nun die europäischen Alpen repräsentieren sollten. Viel Holz, Giebeldächer, Balkone mit gedrechselten Holmen, die weiße Außenfassade mit Wandmalereien verziert, die an Winterlandschaften erinnerten. Vor künstlichem Schneegestöber, das an diesem eisig kalten, klaren und deshalb sonnigen Tag mit einer Maschine erzeugt werden musste, warteten kostümierte Angestellte auf ihren Einsatz. Sie trugen typische Aufmachungen der Bergregion, die sie repräsentieren sollten. In diesem Fall von seltsamen Filzhüten mit buschigem Schmuck bis zu klobigen Schuhen, die Kyousuke im ersten Anlauf fehlerfrei als "Haferlschuhe" bezeichnete. Alles klappte wie am Schnürchen, bis die unselige Ginger in ihren Plateaustiefelchen stolperte, gegen eine eingepflanzte Kiefer prallte, die dezente Dekoration aus Strohsternen, Engelshaar, roten Kugeln und Lichterketten herunterriss. Kyousuke seufzte nicht mal, während man Ginger aus den Trümmern pflückte, sie mahnte, nicht zu heulen, damit ihr Gesicht nicht unschön aufquoll. Er wartete nicht ab, dass man ihr das Engelshaar vom Kostüm kämmte. Die metallischen Fäden erwiesen sich als sehr anhänglich am Polyestergewebe. Er schlug dem magenkranken Aufnahmeleiter vor, man könne in der Zwischenzeit die Aufnahmen für die kulinarische Sparte in Angriff nehmen. Nicht, dass ihm diese Aufgabe besser gefallen hätte. In einem warmen Pullover mit Ajourmuster und darüber einer weißen Kochschürze fühlte er sich professionell genug. Ein Konditormeister erklärte ihm ohne Nervosität, wie man eine Rüeblitorte herstellte. Kyousuke konnte mit Varianten punkten, die auf den japanischen Markt und Geschmack abgestimmt waren. Gemeinsam kandierten sie Nüsse, warben für diese Attraktion des Themenparks. Nach dem Mittagessen sollten die einzelnen Zimmer des größten Hotels vorgestellt werden, gekrönt von der "Kaiserlounge", einer ganz in weiß gehaltenen Zimmerflut. Auch hier hatte man eine Wandmalerei mit einer Winterlandschaft angebracht. Es gab viel Holz im Dekor und einen weißen, gemauerten Kamin, vor dem ein bunter Flickenteppich lag. Ginger kicherte, trillerte eintönig, wie supertoll alles sei! Während Kyousuke als Gastgeber durch die Zimmer schritt und den Zuschauern erklärte, was sie geboten bekamen. Um den Tag abzurunden, besuchten sie dann noch, heimelig von altmodisch gedämpften Leuchtern in ein wohliges Ambiente gehüllt, ein "Werkhaus", in welchem der Besuch sich selbst am Handwerk der Alpen versuchen konnte. Zu diesem Zweck wurde offeriert, einen kleinen "Fleckerlteppich" wie vor dem Kamin selbst herzustellen. Stoffreste, die bereits zu einem langen Faden zusammengefügt worden waren, konnten an kleinen Rahmen über neutrale Spannfäden per Schiffchen gewebt werden. Ein einzigartiges und originelles Souvenir für die Daheimgebliebenen! Kyousuke hoffte bloß, dass die Heimreise bald anstand. ~+~ Youji legte den Hörer auf, absolvierte einige Dehn- und Streckübungen. Er vermisste Kyousuke, besonders nach den abendlichen Telefonaten. In dessen Stimme konnte er die Müdigkeit hören, die resignierte Frustration mit den Umständen. Den Versuch, ihm die eigene Unzufriedenheit vorzuenthalten. "Bin doch kein Kind mehr!" Schmollte Youji beleidigt. "Du könntest mir ruhig ein wenig vertrauen, Iwaki-san!" Vor allem an-vertrauen! Er wollte nichts erzwingen. Das würde wieder Schuldgefühle bei seinem Liebsten auslösen, das kannte er schon. Unruhig lief er in ihrem Schlafzimmer auf und ab. Wie sollte er seinem Iwaki-san helfen? Wie die düsteren Wolken vertreiben? War ihre Liebe nicht stark genug, um jede Schwierigkeit zu überwinden?! "Doch! Ist sie!" Grimmig hieb er die Faust in die offene Hand. "An Heiligabend, da starten wir mit neuen Kräften!" Deshalb hatte er sich extra freigenommen, jede Einladung von Kollegen abgesagt, auch seinen Freunden abgewinkt. Dieser Tag gehörte den Verliebten. Zu denen er GARANTIERT zählte. Er würde seine Chance nutzen, um Kyousuke auf andere Gedanken zu bringen, jawohl! Mit diesem eisernen Entschluss kroch er unter die warme Bettdecke und schmiegte die Wange in das Kopfkissen. In Kyousukes Bett. ~+~ Die Gegend um Sapporo zählte nicht erst seit den Olympischen Winterspielen zu den großen Wintersportorten. Alles, was Spaß machte, wurde auch erprobt. Zusätzlich zu diesem Angebot gab es auch das große Schneefestival, bei dem zahlreiche Figuren aus Schnee geformt wurden. Grund genug, die Gegend zu besuchen, am Spektakel teilzunehmen oder sein Geschick auf den Brettern, die die Ski-Welt bedeuteten, zu beweisen. Kyousuke war schon mal mit seinem athletischen Partner zum Skifahren aufgebrochen, hatte sich gar nicht so ungelenk angestellt. Allerdings konnte er Youji nicht das Wasser reichen, das gestand er sich selbst ein. Es gefiel ihm sehr, dessen geschmeidiger Eleganz auf dem Snowboard zuzuschauen, von einem Liegestuhl aus, ein gutes Buch auf dem zugedeckten Schoß und eine dampfende Thermoskanne Tee neben sich. An diesem Tag sah ihr geschäftiger Plan vor, sich dem zu widmen, was Leib und Seele zusammen hält: Spezialitäten der Alpenregion. Allerdings galt das nicht grundsätzlich für die Bestandteile! Am Morgen suchten sie nämlich erst eine Molkerei auf, die an die örtliche Universität angeschlossen war und sowohl zu Lern- als auch zu Produktionszwecken betrieben wurde. Passend in einen gefütterten Overall und Gummistiefel gekleidet berichtete Kyousuke aus dem Stall, wo die gefleckten Holsteiner wiederkäuend Milch gaben. Anschließend besuchte er die benachbarte Käserei. Dort demonstrierte er, hygienisch verpackt vom Häubchen bis zu Plastiküberschuhen, wie Käse, Quark, Joghurt und weitere Milcherzeugnisse hergestellt wurden. Das gesamte Team zeigte sich erleichtert, dass ohne Mühe jede Aufnahme saß, weil Ginger ihre Laktose pflegte, gar nicht erst mit diesem Part der Reportage in Tuchfühlung kommen wollte. Zum ersten Mal genoss Kyousuke seinen Auftrag. Eigentlich war er ein wissbegieriger, gelegentlich sogar neugieriger Mensch. Seine anerzogene Zurückhaltung hinderte ihn nachdrücklich daran, diesem Verlangen nachzugeben. Hier konnte er jedoch als "Schauspieler" agieren, Fragen stellen, die Nase in Dinge stecken, die sonst für ihn tabu blieben. Seine ruhige, aufmerksame Art, die gar nicht dem gewohnt schrill-flippigen Interview-Stil bei Reisereportagen entsprach, trug nicht unwesentlich dazu bei, dass sich seine Gesprächsparteien entspannten. Gegen Mittag hieß ihr Ziel ein gewaltiges Chalet, mit ausladendem Satteldach und Holzverschalung, das nur noch bedingt an die bescheidenen Ursprünge dieser Hausbauart erinnerte. Kleinere Dimensionen hätte der "Hüttenzauber" allerdings nicht haben dürfen. Hier wurden rund um einen gewaltigen, gemauerten Kamin an langen Tischen und Bänken Spezialitäten aus den Alpenregionen serviert. Käsefondue, Raclette, Rösti, Mohnnudeln, Spätzle, Knödel aller Art: die hauseigenen Produkte wurden verarbeitet. Sie lockten zahlreiche Gäste an, die Schulter an Schulter gemütlich saßen, den Blick auf die verschneite Landschaft um sie herum gelenkt. So deftig und zünftig wie die Gerichte war auch die flüssige "Begleitung": Jagertee, Grog, Glühwein, Rum, sogar warmes Malzbier. Die japanische Vorstellung von alpiner Gastlichkeit. Obwohl bis zu 300 Personen in den großen Raum passten, wirkte das Ambiente intim. Dafür sorgten die geschickte Ausleuchtung und die rustikale Dekoration. Kyousuke spazierte durch die angeschlossene, hochtechnisierte Großküche, spitzte in Töpfe, Pfannen und gewaltige Ofenschlünde, bevor er selbst mit dem Team an einem Langtisch Platz nahm. Sie mussten auch einige der Köstlichkeiten verzehren. Gingers schrilles, beinahe obszönes Stöhnen kommentierte jeden Bissen oder Schluck. Am Nachmittag nach diesem opulenten Mahl waren alle dankbar für eine Pause. Auch Kyousuke zog sich in sein vergleichsweise unpersönlich-kahles Hotelzimmer zurück, um Youji eine elektronische Nachricht zukommen zu lassen, dass er an diesem Abend nicht erreichbar sei. Er wickelte sich in die warme Decke, schlief aber nicht, sondern döste bloß gedankenverloren. Wenn Youji das nächste Mal einige freie Tage hätte, am Jahreswechsel zum Beispiel, wollte er sich mit ihm einigeln. Nicht mehr das Bett verlassen, sondern lieben und reden. Naschen und kuscheln. Einfach die Kälte der Einsamkeit vertreiben, die sich langsam bis ins Mark seiner Knochen fraß. ~+~ Zu einem Themenpark gehörten unterschiedliche Attraktionen, sportliche, kulinarische, aber auch gruselige. Aus eher schwierig nachzuvollziehenden Gründen hatte man sich eine schottische Burg ausgewählt, trutzig und massiv, die aus der Schneelandschaft aufragte. Zu diesem malerisch "verfallenden" Gemäuer führte eine organisierte Nachtwanderung mit Fackeln auf altertümlichen Schneeschuhen. Selbstredend ein Höhepunkt der Reportage. Unterwegs wurden die Wandernden nämlich von gruseligen Gestalten angegangen. Haarige Rübezahls, ebenso haarige Yetis, dazu wehklagende Weiße Frauen und boshafte Irrlichter! Ginger kreischte beinahe ununterbrochen, klammerte sich so eisern an Kyousukes Oberarm, dass der die Druckstellen deutlich spürte. Außerdem pfiff es bereits in seinem Ohr von ihrem schrillen Spektakel. In Sichtweite der dunklen Gemäuer, die von Fackeln in einen schauerlichen Schattenwurf gekleidet wurden, erschien erneut eine Frauengestalt. Allerdings keine der europäischen Sagen- und Mythenwelt, sondern eine Schneefrau. Die Yuki-onna mit ihren riesigen, schwarzen Augen und langen Haaren schwebte über dem Boden, lautlos, bedrohlich. Langsam hob sie den Arm mit den langen Ärmeln an, deutete auf die kleine Wandergruppe. Ginger fühlte sich auserwählt, schrillte alarmiert in höchsten Tönen, gab mit den klobigen Schneeschuhen Fersengeld. Zumindest versuchte sie es. Eisige Windböen frischten auf. Die Fackeln zuckten und spuckten, flackerten wild. »Zugegeben, die Effekte sind sehr gut.« Befand Kyousuke. Dass deshalb die dumme Trine so kopflos davonzurennen versuchte, war nun doch übertrieben! Nicht nur übertrieben: unerwartet überschlug sich die hammelnde, stolpernde Ginger, als unsichtbare Geisterhände über sie hinwegstrichen, rollte einige Meter durch den verharschten Schnee und prallte gegen einen arglos herumstehenden Baum. Der Einschlag regnete Schnee und Nadeln auf die für einige Augenblicke verstummte Ginger herab. Ihr Wehgeschrei ertönte wie eine Sirene. Dieses Mal hatte sie allen Grund zum Kreischen: sie hatte sich den Arm gebrochen! ~+~ Der Schreck über diesen Unfall (und die möglicherweise daraus erwachsenden Konsequenzen) saß dem Team noch in den Knochen. Die Show musste weitergehen, wie der magenkranke Aufnahmeleiter nicht ohne eine gewisse Erleichterung verkündete. Da sie die Nacht in dem "alten" Gemäuer gebucht hatten, musste auch die Reportage in den Kasten! Kyousuke sah sich durchaus in der Lage, diese Aufgabe auch allein zu bewältigen. Mit einem Rundgang durch die Nachbildung einer schottischen Burg eröffneten sie die Fortsetzung der abenteuerlichen Nachtwanderung. Eine Austauschstudentin im Kostüm berichtete über Schlossgeister, geheime Falltüren und die Auswirkung von Kriegen auf den Burgenbau. Im großen "Rittersaal" gab es bei Fackelschein ein Nachtmahl, gewürzten Glühwein, Brot-ähnliche Kuchen mit Trockenobst und Butterflocken. "Toasted tea cake" war besonders beliebt, das Rösten der widerstandsfähigen Kuchenstücke an der offenen Feuerstelle. Kyousuke verzichtete auf den Glühwein, entschied sich für einen besonderen Kräutertee, der anregend duftete. Es erstaunte ihn selbst, dass er Appetit verspürte. Auf gerösteten Teekuchen mit gesalzener Butter! ~+~ Gingers Einsatz stand zur Disposition. Deshalb wurde der Drehplan geändert. So hatte Kyousuke Zeit, die Thermalquellen zu besuchen, sich selbst eine Entspannung zu gönnen. Anschließend durchstreifte er die Souvenirläden, um all das vorzustellen, was der Besuch verschicken konnte. Eine gute Gelegenheit, im Anschluss an die eigenen Freunde, Youjis Familie, seine Assistentin und die Agentur Päckchen zu versenden. Kyousuke war so zufrieden mit sich selbst und gelassen, dass Youji nach einem weiteren der langen Drehtage telefonisch um Streicheleinheiten bettelte. So kam es, dass sie weit entfernt voneinander sehr anregende Spielchen mit Regieanweisungen betrieben, die in einen seligen Schlummer mündeten. ~+~ Nachdem das Schneefestival abgehakt war, sich die Drehtage dem Ende neigten, besuchten sie noch das "Weihnachtswunderland". Hier wurde nicht nur Spielzeug aus Holz hergestellt und verkauft (was Kyousuke gleich zu einem weiteren Päckchen Richtung Paten-Kinder verführte), sondern auch rund ums Jahr traditionelle Weihnachtsartikel hergestellt. Europäische Weihnachtsartikel. Räuchermännchen, Weihnachtspyramiden, Strohsterne, Nussknacker, Baumschmuck aller Art, Kerzen und Kerzenhalter, Krippen und vielerlei andere Artikel, die man sogar international versandte. Außerdem gab es eine Weihnachtsbäckerei. Plumpudding, Lebkuchen in allen Variationen, Kekse und Spezereien, was das Herz begehrte. Es schien wirklich unglaublich, dass sich ein eigentlich auf wenige Tage im Jahr spezialisiertes Unternehmen rechnete! Andererseits konnte man sich schlechterdings unmöglich dem Zauber dieser "Handwerker-Kleinstadt" entziehen. So hübsch hatte man die Manufakturen gestaltet, dass sie an die sagenhaften Dörfer von Zwergen erinnerten, die im Märchen kunstfertig allerlei Gegenstände herstellten. Kyousuke blieb an einem Bastelset hängen. Sein Lebensgefährte liebte Spielereien jeder Kategorie. Manchmal kam es dabei allerdings zu Kollateralschäden, deshalb musste Kyousuke sorgsam abwägen, was er für ungefährlich erachtete, um damit Youjis Spieltrieb befriedigen zu können. Schließlich entschloss er sich, einen Baukasten für eine traditionelle Weihnachtspyramide zu erwerben. Die vorgefertigten, leichten Holzteile wurden durch kleine Kerzen ergänzt. Zu Werbezwecken hatte man eine unbestückte Pyramide aufgebaut. Sie verfügte schon über die Flügel, die Kerzen fehlten jedoch, weshalb man nur mit dem Atem eine Drehbewegung initiieren konnte. Nussknacker und Engel flitzten umeinander, immer im Kreisrund, dazwischen Tannenbäumchen und Schneemänner. »Hübsch!« Testierte Kyousuke lächelnd. »Und romantisch, mit Kerzenbeleuchtung.« ~+~ "Das kannst du doch nicht machen!" Seine weiblichen Kollegen schmollten, protestierten unisono. Youji schwelgte bereits in Vorfreude, quittierte diese Wehklage mit einem keck in die Luft geblasenen Kuss. Heute war der Festtag der Verliebten!! Er würde UM KEINEN PREIS ein Rendezvous mit seinem Schatz sausen lassen!! Da konnten sie die hübsch geschminkten Mäulchen noch so sehr verziehen, an sein Ego als Star des preisgekrönten TV-Dramas appellieren: Youji schwebte förmlich über dem Trottoir. Mit einer Einkaufsliste beschwert flitzte er durch die Geschäfte, holte telefonisch georderte Artikel ab, bestieg ein Taxi. Er hatte noch ein paar Stunden Zeit, ihr geräumiges Einfamilienhaus aufzuräumen und zu schmücken, das opulente Festmahl vorzubereiten und sich schick in Schale zu werfen, bevor das Flugzeug landete! ~+~ Kyousuke ließ den USB-Stick mit der skizzierten Winterlandschaft durch die Finger gleiten, ein Werbepräsent der Tourismusbehörde, versehen mit allerlei Aufnahmen, Dokumentationen und jeder Menge Angeboten. Außerdem konnte man es an einem großen Schlüsselring um den Finger kreisen lassen, wenn man sich langweilte. Auch wenn die letzten Drehtage ohne die enervierende Sirene Ginger vergangen waren, wollte Kyousuke nur noch nach Hause. Zu Youji. Sein freches Grinsen sehen, die jungenhaften Augenaufschläge, die attraktive Gestalt. In dessen Arme fallen, tief seinen Geruch aufsaugen. Ihn küssen, als gebe es kein Morgen. ~+~ Youji turnte mit einer Küchenschürze bewaffnet zwischen Töpfen, Pfannen und dem Herd hin und her. Während er lautstark populärerer Musik aus dem Internetradio seine Stimme andiente, bewies er wieselflink sein Geschick als Koch. Leichte Speisen, das hatte ihm der Coiffeur geraten, also gab es erst eine Consommee. Anschließend einen Gang mit gedämpfter Meerbrasse auf einem Gemüsebett mit Herzoginkartoffeln und als Dessert ganz klassisch ein Mousse au Chocolat. Für ein intimes Diner war gedeckt, das beste Geschirr mit Stoffservietten und neuen Kerzen im Kandelaber. Der Countdown zählte herunter. Youji kribbelte es im ganzen Leib vor freudiger Erwartung. ~+~ Bereits beim Landeanflug wurde Kyousuke klar, dass etwas nicht stimmte. Auffällig viele Flugzeuge warteten an den jeweiligen Slots zur Abfertigung. Das gesamte Areal wirkte wie abgedunkelt. Als die Maschine ausrollte, wechselte die Crew in die Notbeleuchtung über. Eine leichte Unruhe machte sich breit. Über Lautsprecher teilte der Kapitän mit, dass auf dem Flughafen eine Bombendrohung eingegangen sei. Deshalb dürfe nur die Notversorgung eingeschaltet bleiben. Sämtliche Kommunikation nach außen sei unterbunden worden. Kein Internet, kein Mobiltelefon. Es bestehe jedoch kein Grund zur Sorge, die Spezialeinheiten durchleuchteten den kompletten Flughafen und alle ankommenden Maschinen. Man müsse sich jedoch auf eine längere Wartezeit gefasst machen. Dann verteilten die Flugzeugbegleiterinnen Decken. Die Nacht senkte sich über den Flughafen Haneda. Es wurde empfindlich kalt. ~+~ Unruhig starrte Youji auf die Uhr. Sie hatten am Vortag vereinbart, dass Youji seinen Iwaki-san nicht am Flughafen abholte. Der würde ihn dafür sofort anrufen, wenn er gelandet war. Dann sollte es per Taxi nach Hause gehen. Dieser Zeitpunkt war längst überschritten. Das Mousse au Chocolat saß wieder im Kühlschrank, die Brühe war ausgekühlt, ebenso der Fisch. Keine Nachricht auf seinem Mobiltelefon, kein Anruf! Hatte Iwaki-san etwa den Flug verpasst? Youji tigerte auf und ab, kaute an einem Daumennagel, dann an einer Haarsträhne. Wieder und wieder bemühte er sich, Kyousukes Mobiltelefon zu erreichen, doch die stoische Mitteilung, der Teilnehmer sei nicht zu erreichen, änderte sich nicht. Nervös genug wählte er die Flughafenauskunft an. Selbst hier konnte er nicht durchkommen, sondern wurde auf eine Warteschleife geleitet, die von einer technischen Störung sprach. Kurz nach Mitternacht schließlich wurde die inoffizielle Nachrichtensperre aufgehoben. Mutmaßliche Terroristen hatten eine so konkrete Bombendrohung ausgesprochen, dass man sich gezwungen sah, den Flughafen komplett abzuriegeln, jede einzelne ankommende Maschine peinlich genau zu durchleuchten. Aus Angst vor einer per Mobiltelefon ausgelösten Explosion wurde das öffentliche Kommunikationsnetz "ausgeschaltet". Bisher war noch keine Bombe gefunden worden. Die Durchsuchung würde zweifelsohne bis in die Morgenstunden fortgesetzt werden. So lange konnten auch die Passagiere nicht aus dem Gewahrsam innerhalb der Flugzeuge entlassen werden. Jede einzelne Person musste überprüft werden. Youji stöhnte laut auf, sackte schwer auf einen Küchenstuhl, beugte sich vor, den Kopf in den Händen. "Hoffentlich...!" ~+~ Beinahe monoton klickten die 108 Gebetsperlen neben ihm aneinander, während die Frau lautlos Silben formte, mit Inbrunst betete. Kyousuke fror, zwang sich, diese Empfindung zu unterdrücken. Ruhig, schicksalsergeben, sehr gedämpft warteten sie seit über drei Stunden darauf, dass man ihr Flugzeug durchsuchte. Immer wieder glitt sein Blick über das Rollfeld, hin zu den Gebäuden, die in einer Semi-Dunkelheit lagen. In der Ferne hatten sie beobachten können, wie man in Bussen nach Ewigkeiten Passagiere abtransportierte, über das Flugfeld zu einem nicht öffentlichen Ausgang. Wann wären sie wohl an der Reihe? Kyousuke hoffte, dass Youji die Nachrichten gesehen hatte, dass er sich nicht um ihn sorgte. Zumindest nicht an Ungewissheiten litt. Gab es wirklich hier, in Japan, Terroristen, die an Heiligabend etwas in die Luft sprengen wollten? Passierten solche Dinge nicht weit weg, im Rest der Welt? Übermüdet und steif kauerte Kyousuke sich zusammen. »Wenn ich das hier unversehrt überstehe, werde ich ihm jeden Tag sagen, dass ich ihn liebe.« Schwor er sich selbst. Die Vorstellung, Youji nie mehr begegnen zu können, allein in die Ewigkeit einzutreten, erschütterte ihn bis ins Mark. ~+~ Tag 16 Kurz vor Weihnachten, also quasi den letzten hektischen Tagen, vor Abgabeterminen, Panik-Einkäufen, Last-Minute-Reisebuchungen und Verwandten-Tortur, rechnete Lemmie nicht mit einem großen oder raschen Echo. Er freute sich darauf, Fine, Tam und Henri bei ihren Eltern in Flensburg zu treffen. Man konnte allerdings nur darauf hoffen, dass die Eltern Fines Entscheidungen akzeptiert hatten, dass kein Streit darüber ausbrach. Dessen war Lemmie sich keineswegs sicher. Um sich abzulenken, weil es ihm gar nicht zusagte, allein in dem quasi leeren, vollkommen eingerüsteten Hinterhaus zu sitzen, verbrachte er bis zum Schließen seine Zeit in der Fakultät. Desi wirbelte jeden Tag mit diversen Familienmitgliedern oder Freunden durch die Gegend. Es bestand kein Zweifel daran, wo sie ihre Feiertage verbringen würde. Hannes, der Faule Sack, nutzte sämtliche Weihnachtsfeiern aus, zu denen er sich auf irgendeine Weise Zutritt verschaffen konnte, ließ es sich gut gehen. Lemmie saß vor dem Universitätsnetz, den eigenen, verdächtig röchelnden Laptop daneben, bemühte sich, Ordnung in eine sehr verwirrende Konstellation zu bringen. Eigentlich sollte er das angesichts der kuriosen Wege, die sich das Wasser oft suchte, längst gewöhnt sein. HIER beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass es sich bei den Fundstücken um jeweils einen arabischen, einen altgriechischen, einen lateinischen, einen mittelfranzösischen, einen kastilischen und einen deutschen Text handelte. Die Zeichen, die er erkennen und transkribieren konnte, hatte er im Internet und in kostenfreien Übersetzungsmaschinen nachgesehen. Mit durchwachsenem Erfolg. Eins schien jedoch nicht von der Hand zu weisen: alle Texte, die er bisher ohne Hilfe geprüft hatte, behandelten denselben Inhalt. Den Inhalt, den er der Aluminiumblechtafel entnommen hatte. Warum war diese kurze Passage, diese simple Mitteilung so bedeutend, dass man sie aufbewahren wollte, in verschiedene Sprachen übersetzte? Konnte es sein, dass es sich hier um etwas sehr Altes handelte? Lemmie recherchierte, sammelte, brütete über der Ausbeute. Er neigte nicht zu schnellen Urteilen, nahm Unbekannte in einer Gleichung erst heraus, wenn er überzeugt war, dass sie als Platzhalter ihren Zweck erfüllt hatten. Seine "Schnitzeljagd" bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wenn er sich nicht irrte, wenn alles kein abgekartetes Spiel war... Dann schien die Konstellation von "Hohepriester Kaiphas" und "Jesus, Sohn von Josef aus Nazareth" und "Jerusalem" direkt auf neutestamentarische Ereignisse anzuspielen. Die Bibelforschung, auf die er natürlich bei der Suche stieß, sorgte für vertiefte Falten, beinahe schon Furchen in seiner Stirn. Historisch belegt war ein gewisser Kaiphas als Hohepriester, sozusagen oberste religiöse Autorität in Jerusalem, der über den zweiten Tempel mit dem Tempelbezirk wachte und mit eigenen Ordnungskräften ausgestattet war. Außerhalb unterstand Jerusalem wie ganz Judäa der römischen Kontrolle. Seit der Besetzung durch römische Truppen, dem Protektorat, brodelte es in der heterogenen, jüdischen Bevölkerung ohnehin. Zeitgenössische Quellen schilderten diverse Sekten und Wanderprediger, die auf einen "Messias" hinwiesen, das bevorstehende Ende der Welt verkündeten. Das sorgte angesichts der unsicheren Verhältnisse in Rom nicht für Wohlgefallen. Überhaupt schien es ein grundsätzliches Unverständnis zu geben. Auf der einen Seite der bildgewaltige Vielgötterglaube der Römer mit ihrer Toleranz gegenüber örtlichem Götterglauben, auf der anderen Seite ein nicht gegenständlicher, quasi unsichtbarer Einzelgott, der radikal alle anderen Glaubensrichtungen negierte. Selbst die jüdische Volksgruppe waren sich nicht einig. Sie setzten sich zusammen aus Schriftgelehrten, isolatorischen Sektenanhängern, Wanderpredigern, römischen Staatsbürgern, Untergrundkämpfern und Agitatoren gegen die Besetzung, Kollaborateuren und einfachen Leuten, die bloß ihren gewohnten Tagesablauf beibehalten wollten. Wenn man den neutestamentarischen Angaben Glauben schenken wollte, erschien ein auch aus außertestamentarischen Quellen belegter Wanderprediger namens Jesus. Der bezeichnete sich nicht nur als "Messias", sondern wollte auch noch als "Gottes Sohn" gelten. Er sorgte im Tempel für Aufruhr, indem er die dort emsig tätigen Geschäftsleute vertrieb, gegen die Herrschaft der Schriftgelehrten öffentlich opponierte. Das resultierte in einem vom Hohepriester Kaiphas betriebenen, vom römischen Präfekten Pontius Pilatus bestätigten Hinrichtungsbefehl. Jesus von Nazareth war entsprechend den Chroniken weder der erste noch der letzte Wanderprediger, der auf die übliche Weise, Geißelung und Kreuzigung, getötet wurde. Schon vorher sammelten Umherziehende Menschen um sich, die zum Teil mit Illusionen und Tricks die einfachen Bewohner beeindruckten. Gefährlich schien diese "Folklore" den römischen Statthaltern der Provinzen nur, wenn sie mit dem Aufwiegeln gegen die Besatzung verbunden wurde. Problematisch nahm sich die Botschaft des Joram aus, was die Meldung betraf, man habe die Leiche entfernt. Also wurde der gekreuzigte Körper aus dem durchaus üblichen Felsengrab genommen. Und dann? Zu welchem Zweck? Hier wurde es richtig ungemütlich. Deshalb stützte Lemmie den Kopf in die Hände, fühlte sich unbehaglich. Im ältesten Evangelium des neuen Testaments, dem Markusevangelium, schilderten die Verfasser, wie drei Frauen aus der Anhängerschaft von Jesus nach der Grablegung den Ort aufsuchen, das Grab offen und leer vorfinden. Ein junger Fremder weist sie auf das Offenkundige hin, rät, die Jünger sollten sich nach Galiläa wenden. Man werde sich dort wiedersehen. In den vorliegenden Handschriften (Codex Sinaiticus und Codex Vaticanus) endete diese älteste Schilderung an dieser Stelle. Die sich anschließenden Verse in der offiziellen Fassung könnten später angefügt worden sein. Oder der Originaltext kurz nach der Entstehung des Evangeliums bereits verloren gegangen sein. Was wäre, wenn die Botschaft des Joram authentisch war? Wenn man, aus welchen Gründen auch immer, die Leiche entfernt hatte und einen Posten aufgestellt, der die Anhänger des Hingerichteten davon abhalten wollte, seiner ständig dort zu gedenken? Wenn die Leiche also weggeschafft, möglicherweise an einen anderen Ort verbracht worden war: gab es dann eine Auferstehung? Lemmie wühlte sich durch Berichte archäologischer Grabungen und historischer Quellentexte. Wie es schien, hatten die heterogenen Parteien gegen die römische Herrschaft überall Widerstandsnester im Geheimen etabliert. Sogar, wie man herausgefunden hatte, den relativ kleinen Ort Nazareth komplett untertunnelt! Die Aufstände erwiesen sich weniger spontan als koordiniert und geplant. Allerdings immer bezogen auf die Betreibenden, die nicht einer Meinung waren. Stellte man sich vor, in den Felsen, in denen es natürliche Höhlen und Gänge gab, würden sich Verschwörer heimlich treffen, unbeobachtet von den römischen Legionen, wäre es zum Beispiel untunlich, dabei beobachtet zu werden. Deshalb konnte die trauernde Gefolgschaft eines verurteilten Aufrührers unerwünschtes Augenmerk auf andere lenken. Warum der Hinweis auf Galiläa? Wusste man über Nazareth Bescheid? Oder über andere konspirative Gruppen? Bedeutete der geschilderte Ausbruch im Tempel eine Radikalisierung der durch Jesus begründeten Bewegung? Oder wollte der Hohepriester Kaiphas die lästigen Störenfriede einfach nur vertreiben, um weiterhin eine religiöse Selbstverwaltung mit dem römischen Statthalter vereinbaren zu können? Indem er bewies, dass er "seine Leute" unter Kontrolle hatte? Wären sie in Galiläa, beträfe das Problem den ohnehin übel beleumundeten Herodes Antipas! Dessen Liebesbeziehung zur Schwägerin und dem Verwandtenkrieg sorgte bereits für großen Unmut unter der jüdischen Bevölkerung. War die Botschaft des Unbekannten eine Drohung? Eine Warnung, sich schleunigst einen anderen Wirkungskreis zu suchen? Dahin zurückzukehren, wo man "aufgegabelt" worden war? Nachdenklich betrachtete Lemmie die für ihn rätselhaften, quadratischen Schriftzeichen hinter dem schützenden Glas. Wenn dieser Text das "Original" war, der Ursprung all dieser Übersetzungen und sich als zeitgenössisch entpuppte... Lemmie stufte sich selbst nicht als religiös im engeren Sinne ein. Wie Fine war er getauft worden. Ihrem Beispiel folgend hatte er es abgelehnt, sich konfirmieren zu lassen. Fine hatte ihre Auffassung schlüssig und energisch verkündet. Sie weigerte sich, an die dubiosen Erzählungen ihr völlig fremder Personen zu glauben, die suggerierten, der beschriebene Gott benötige "Dolmetscher", um seinen eigenen Kreaturen seinen Willen mitzuteilen. »Wenn einer Gott ist, muss er doch wissen, wie er seinen Leuten klarmacht, was er von ihnen will.« Stellte sie trotzig fest. Überhaupt "rochen" alle Texte verdächtig nach Manipulation von Leichtgläubigen, Heilsuchenden und Orientierungslosen. Befand Fine. »Wer selbst denken kann, sollte selbst denken!« Entschied sie, erklärte im selben Atemzug, dass es besser wäre, »was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu«, als Credo zu erheben. Statt immerfort auf die Deutungshoheit vorgeblich göttlicher Botschaften abzustellen. Auserwählte waren ihr grundsätzlich suspekt, die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod fragwürdig, da es weder Beweise dafür gab, noch "etwas" blieb, das dieses Leben führen konnte. Selbst wenn es ein Leben nach dem Tod gäbe, so existiere es ganz unabhängig davon, ob sie daran glaube oder eben nicht. Im Grunde drehe sich doch alles um eine Sinnsuche. Woher kommen wir, warum tun wir das und wohin gehen wir? Diese Fragestellung entspräche den theoretischen Modellen von einem möglichen Zustand vor dem Urknall, im weitesten Sinn der Verhaltensforschung und der ebenso theoretischen Überlegung, wie sich das Universum entwickle. Expandieren, schrumpfen, explodieren... und was war um das Universum herum? Fine fand es keineswegs entsetzlich, bei der Feststellung zu bleiben. Gerade weil man Teil des universellen Systems sei, könne man es nicht abschließend beurteilen, da man die Gesetzmäßigkeiten des "Außerhalb" nicht kenne. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn müsse man eben mit sich selbst abklären, dabei die Endlichkeit der eigenen Existenz berücksichtigen. »Selbst denken und carpe diem!« Das wäre wohl die bessere Variante zu allen Religionen. Obwohl sie selbst niemals missionierte, sondern nur antwortete, wenn man sie befragte. Missionierung hielt sie für "unappetitlich" und unsittlich. Eine Überzeugung solle für sich selbst sprechen und nicht über Phrasendrescherei an das Publikum "gebracht" werden! Wenn ohnehin alles auf das "Glauben" hinauslief, weil es keine Beweise gab. Lemmie glaubte an Fine. Ihre Beweisführung dafür, dass man ohne eine Religion mit einem ordentlichen Scheißedetektor gut leben konnte, überzeugte ihn restlos. Was nicht gleichbedeutend mit einer laxen Haltung gegenüber den Theorien war, die er nun entwickelte. Wenn seine Vorstellung zutraf, wenn dieser Joram tatsächlich die Leiche versteckt hatte... Was würde mit all den Menschen geschehen, die daran glaubten, dass es keine Leiche gab, weil Jesus in den Himmel gefahren sein sollte? Was würde mit der christlichen Religion, welcher Prägung auch immer, geschehen? Hätte es überhaupt eine Bedeutung? War dieses Mosaiksteinchen so wichtig? Dafür sprach, dass man über Jahrhunderte hinweg den Text übersetzt und bewahrt hatte. Was war geschehen, dass dieser potentiell bahnbrechende Fund in einem Karton auf einem Dachboden in Köln-Deutz endete?! Wie passte der Flugzeugabsturz in dieses Szenario? Wer hatte diese Übersetzungen aufbewahrt? Wer sollte hier der Empfänger sein? Wer logierte unter dem Pseudonym Alan Smithee? "Das ist lächerlich!" Murmelte er schließlich, schob die Brille hoch, rieb sich unter dem dünnen Rahmen die brennenden Augen. Als ob er zu viele aufgeblähte Hollywoodfilme gesehen hätte! Verschwörungsszenarien unter Beteiligung irgendwelcher Geheimsektionen des Vatikan! Vielleicht sollte ihn das Pseudonym Alan Smithee besser vor übereilten Rückschlüssen warnen?! Um sein Gewissen zu beruhigen, überflog Lemmie erneut sein Hilfegesuch im Forum, das neutral gehalten war, simpel darum bat, den Inhalt der Fundstücke zu entziffern und übersetzen. Auch seine dokumentierten Schlussfolgerungen blieben, nach seiner Vorstellung, streng bei den Fakten. »Also keine müßigen Spekulationen mehr über irgendwelche Verschwörungen und biblischen Verwicklungen!« Ermahnte er sich selbst. Wahrscheinlich würde er mit Fine herzlich darüber lachen, wenn er ihr von dieser verrückten Schnitzeljagd erzählte! ~+~ [FÄLLT OSTERN AUS?!] Lemmie traute seinen Augen kaum, als er die marktschreierische Überschrift einer der größten Tageszeitungen las. Drei Tage vor Heiligabend schweiften seine Gedanken nur noch nach Flensburg und zum erhofften Besuch aus Neuseeland. Er trat an den Kiosk heran, die Brille nass vom Nieselregen, überflog fassungslos die spärlichen Informationsbrocken unter der Schlagzeile. [Jesus' Leiche verschleppt- aufsehenerregende, historische Zeugnisse entdeckt!] Ihm wurde abwechselnd eiskalt und kochend heiß. Notschweiß prickelte auf seiner Haut. Das konnte~durfte nicht wahr sein! Aber es gab keinen Irrtum: auf Seite 2 hatte man seine Aufnahme des hinter Glas eingeschlossenen Pergaments abgebildet. Mit der Unterschrift: [Aramäische Botschaft entschlüsselt! Hohepriester gab Leichenraub in Auftrag!] "Sach ens, kopst do jez de Ziggung?" Wurde er nachdrücklich ermahnt. Lemmie blinzelte, überflog rasch die angebotenen Gazetten. Diese Meldung schien allein in dem Boulevard-Blatt vertreten zu sein. Mit klammen Fingern fischte er einige Münzen aus der Hosentasche, entschuldigte sich heiser. Der spärliche Leitartikel verwies darauf, dass alle Angaben einer Meldung aus dem Internet entnommen worden seien, entdeckt in den Foren der Altertumsforschung einer renommierten Universität. "...oh nein!" Stöhnte Lemmie entsetzt. Er hatte nicht bedacht, dass seine interne Anfrage möglicherweise nach außen geleitet wurde, man seine Überlegungen, es könne sich auch um einen perfiden Scherz handeln, schlichtweg unterschlug! Sofort musste er sich ein Bild darüber verschaffen, wer genau was wusste. Und wie er dieses Schlamassel aufklären konnte, ohne sich erheblichen Ärger einzuhandeln. Als er schwitzend und atemlos in der Fakultät eintraf, begab er sich sofort an einen der Arbeitsplätze. Die ominöse Ankündigung, Ostern werde ausfallen, hatte eine Lawine ausgelöst. Übersetzungen kursierten, heftige Streitgespräche wurden geführt, über die Urheberschaft der "Veröffentlichung" spekuliert. Feinde des Christentums? Radikale Islamisten? Notorische Atheisten? Je mehr Beiträge Lemmie ansteuerte, umso hysterischer schien sich die "virtuelle Welt" zu gebärden. Drohungen wurden ausgestoßen, das Ende der Welt beschworen, die Echtheit angezweifelt, Beschuldigungen ausgetauscht, gegeneinander gehetzt. Ihm graute. "Das habe ich niemals gewollt." Flüsterte er entsetzt. Wie sollte er diesen Wahnsinn beenden? Konnte es jemand überhaupt noch? Die weltweite Vernetzung und der Sensationshunger entwickelten sich zu einem digitalen Albtraum. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er ins reale Leben übersprang. The Geeks Were Right from The Faint Eyeballs float in wet green grass I got a chainsaw motor that's filled with rain But when it sings like Bach eyes all bulging When the pink sun drops the eyelids fold While I'm in deep REM sleep or twilight zones I take a freight elevator and press fast forward I get to grind these teeth and peek through time If I could bring things back, they'd feed back wild When I saw the future, the geeks were right Egghead boys with thin white legs They got modified features and software brains But that's what the girls like The geeks were right When I saw the future, the geeks were right Predator skills, chemical wars, plastic islands at sea Watch what the humans ruin with machines Eyeballs float in wet green grass I'm in a chainsaw choir in dreams that bend To let me cut their time and stretch out Bach I make the dry eyes roll and wet eyes cross While I'm in deep REM sleep or twilight zones I take the freight elevator and press fast forward So I can grind these teeth and peek through time If I could bring things back, they'd feed back wild And when I saw the future, the geeks were right ~+~ Lemmie versuchte zunächst, sämtliche eingestellten Beiträge und Dateien zu löschen, die mit seinem Benutzerkonto verbunden waren. Er wusste selbst, dass es nur noch ein Ausdruck der Hilflosigkeit war. Längst hatten sich die Informationen verselbstständigt, wurden außerhalb seines Zugriffs abgespeichert und verbreitet. »Wann wird der Erste hier anfragen?« Dachte er besorgt. Über kurz oder lang, wobei eher kurz anzunehmen war, würde man bei den Altertumsforschenden Erkundigungen einziehen, woher diese die Informationen hatten. Man würde die Originale sehen wollen. »Da stoßen sie auf mein Benutzerkonto!« Das war unumgänglich. Wenn diese Schriftstücke, allen voran das "verglaste" Pergament tatsächlich authentisch waren, hatte man jahrhundertelang Sorge dafür getragen, dass ihr Inhalt geheim blieb. Wie sich jetzt zeigte, aus gutem Grund. Auch wenn die Wahrheit möglicherweise auf längere Sicht befreiend sein konnte. Lemmie versuchte, sich eine Geschichtsschreibung ohne den Einfluss des Christentums vorzustellen. Er konnte es nicht. Auf den mutmaßlichen Vorstellungen eines jüdischen Wanderpredigers und den später kolportierten Legenden zu seinem Leben und Wirken fußte eine ganze Zivilisation. In allen positiven und negativen Aspekten. Konnte eine solche potentielle Enthüllung in einer vordergründig säkularisierten Gesellschaft wirklich fundamental erschütternd sein? Wurden damit schon die Grundwerte des Zusammenlebens in Frage gestellt? Lemmie wollte das nicht glauben. Aber er zweifelte. Deshalb war ihm angst und bange zumute. Auf keinen Fall wollte er Zwist, Unruhen, handgreifliche Auseinandersetzungen oder gar Todesfälle verantworten! "Was soll ich nur tun?" Haderte er mit sich selbst. Zur Polizei gehen, sich stellen? Aufgrund welcher Anklage?! Höchstens konnte man ihm vorwerfen, das Postgeheimnis verletzt zu haben, indem er ein an Alan Smithee gerichtetes Päckchen geöffnet hatte. Fraglich auch, ob sich durch seine "Verhaftung" umkehren ließ, was wie eine Lawine unaufhaltsam das öffentliche Bewusstsein überschwemmte. Wohin er sah, Anzeigetafeln, Laufbänder, die ganze Welt diskutierte und spekulierte, ohne dass es schon einen Beweis für die Echtheit des Pergaments gab! Unglückseliger Weise wurden die anderen Bilder und ihre Texte flink entziffert und übersetzt. Das bestätigte Lemmies Vermutung, es handle sich um Übersetzungen des mutmaßlich aramäischen Originaltextes. Am Liebsten hätte er geschrien. "Ihr habt das Original nicht! Wieso verbreitet ihr das alles?! Erstmal müsste man doch mit der C14-Methode das Alter bestimmen!" Lemmie eilte schließlich nach Hause, den Karton in seinem Rucksack verstaut. Würde er sich noch mal in die Fakultät wagen können? Oder musste er lediglich auf einen Anruf warten, der ihn herbeizitierte?! Hannes war wie gewohnt absent. Desi hatte ihm eine Nachricht und Katzenfutter für Käpten hinterlassen. Sie bot ihm an, sie anzurufen, wenn er reden wolle. Kraftlos sackte Lemmie in der Wohnküche auf die Sitzbank. Natürlich, Desi zog die richtigen Schlussfolgerungen, hatte längst begriffen, wer der unglückliche Urheber dieser katastrophalen Entwicklung war! Lemmie entschied, dass er sie außen vor lassen würde. Sie hatte ihm geholfen. Das musste ja niemand erfahren! Freunde verriet man nicht. Er kramte sein Mobiltelefon heraus, rief seine Eltern in der Hoffnung an, Fine möge schon eingetroffen sein. Ein wenig pikiert teilte ihm seine Mutter mit, die Abflugdaten hätten sich verschoben. Im Übrigen wäre es ungewohnt, dass er sich nach seinen Eltern erkundige, da er doch sonst kein Interesse zeige! Lemmie schluckte diesen Vorwurf zu seinen anderen Sorgen herunter. Widerspruch wäre unehrlich gewesen. Er hatte seinen Eltern jedenfalls nichts zu berichten, meldete sich deshalb nur sporadisch. Dass sie ihm seine unverbrüchliche, grenzenlose Loyalität zu Fine übelnahmen, trug er ihnen nicht nach. Er hatte sich für Fine entschieden, es nie bereut, nie revidiert. Anschließend versuchte er, Fine über das Internet zu erreichen, doch der Anrufaufbau scheiterte. So blieb es bei der Bitte, sich bei ihm sofort zu melden, über Mobiltelefon oder per elektronische Nachricht. [Ich stecke in großen Schwierigkeiten, Fine. Bitte hilf mir!] In dieser Nacht zog Käpten in Lemmies Zimmer, bewachte mit orangefarben glühenden Augen dessen unruhigen Schlaf. ~+~ Nach dem Aufwachen kontrollierte Lemmie sofort seinen elektronischen Briefkasten und das Mobiltelefon. Es fand sich keine Nachricht, weder von Fine, noch von der Universität. Während Lemmie niedergedrückt eine trockene Brötchenhälfte vom Vortag herunterwürgte und eine Niederlage im Kampf mit der kapriziösen Kaffeemaschine einsteckte, erörterte im Radio gerade eine Diskussionsgruppe die Bedeutung dieser "Entdeckung", die in aller Munde war. Ein Teilnehmer, Physiker und Philosoph, der auch Vortragsreihen zur Vereinbarkeit von Quantenphysik mit christlicher Glaubenslehre hielt, bemerkte, dass die Auferstehung im Gefüge der christlichen Glaubenstheorie vergleichbar mit dem Higgs-Boson in der Quantenphysik sei. Dieses Elementarteilchen, das bisher nur hypothetisch "existiere", weil ein Nachweis noch nicht möglich sei, weise im Modell allen anderen Teilchen ihre Masse zu. Deshalb heiße es auch scherzhaft "das Gottesteilchen". Die Parallele bestehe darin, dass ohne die postulierte Auferstehung, also das unerklärliche Verschwinden der Leiche und spätere Sichtungen des Messias, er nichts weiter als einer der zahlreichen jüdischen Wanderprediger geblieben wäre. Während die in naher Zukunft positive Beweisführung zur tatsächlichen Existenz des Higgs-Bosons die Theorie bestätige, bedeute der Beweis einer simplen Leichenverschleppung für die Glaubenslehre, dass ein Grundpfeiler ihrer Überzeugungskraft eingerissen werde. Wenn es keine Auferstehung gebe: was unterscheide dann den Wanderprediger Jesus von anderen Predigern? Unwillkürlich starrte Lemmie auf seinen Rucksack, neben dem Käpten sich reinlichst der Fellpflege widmete. Dieses kleine Stückchen Pergament ein Anti-"Gottesteilchen"? Oder vielmehr ein Anti-Christus-Teilchen? Ein anderer Teilnehmer vertrat die Auffassung, dass die ganze Aufregung unbegründet und die weltweite Hysterie übertrieben sei. Es spiele nach zweitausend Jahren doch keine tatsächliche Rolle mehr, ob ein historisch verbürgter Wanderprediger bewiesen auferstanden sei. Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod sei angesichts der Verbreitung des Christentums und auch artverwandter Glaubensrichtungen offenkundig ein Streben, das ganz typisch und archaisch zum Menschen gehöre, ein Aufbegehren gegen die Endlichkeit, sich aus den Fesseln physischer Existenz lösen zu wollen, sozusagen metaphysisch zu werden. Wer könne ohnehin nach so langer Zeit nachvollziehbar bezeugen, was damals wie geschehen sei? Wenn man von Aufzeichnungen zehre, die unbekannte Personengruppen mindestens 30 Jahre nach dem Kreuzigungstod begonnen hatten? Wie viel Propaganda, Wunschdenken und teilweise fanatisches Sendungsbewusstsein mischten sich bereits in diese Texte? »Ich wünschte, alle würden so denken!« Kommentierte Lemmie stumm. Im Strudel des Hype bezweifelte er, dass eine so nüchterne Schlussfolgerung ausreichend Gehör finden würde. Er schaltete um, hörte Anrufe, die als Urheber dieser "Lüge" neidische Moslems oder rachelüsterne "Israeliten" ausmachten. "Bekloppt!" Schnaubte Lemmie empört, war dankbar, dass der Moderator selbst darauf hinwies, dass in der islamischen Glaubenslehre Jesus als Prophet in der Zeitenfolge vor Mohammed verehrt werde. Warum sollten Anhängende des Islams solche "Propaganda" verbreiten? Was hätten Menschen jüdischen Glaubens davon, einen anderen Juden, nämlich Jesus, an dessen Eigenschaft als "Sohn Gottes" und entscheidender "Messias" sie nicht glaubten, als sterblichen Menschen zu "entlarven"? Hatten sie jemals andere Rede geführt?! "Das ist ja nicht mehr zum Aushalten!" Protestierte Lemmie ungewohnt laut, würgte das Gerät aufgebracht ab. Ja, durch seine Naivität war eine Lawine in Gang gesetzt worden. Das bedeutete nicht, dass er sich jeden Unsinn anhören musste! Käpten warf ihm einen kryptischen Blick zu, weil Lemmie sich so ganz gegen seine Gewohnheiten echauffierte. "Verzeihung." Entschuldigte sich Lemmie verlegen. Seine Frustration und der unerquickliche Schlaf setzten ihm zu. Außerdem wusste er noch immer keine Lösung für sein drängendes Problem, wie er mit den Fundstücken umgehen sollte. Zwei Tage vor Heiligabend wünschte er sich ganz intensiv, er möge aus diesem Albtraum erwachen, nach Hause, zu Fine und den Eltern reisen können. ~+~ Tag 17 "Ach..." Lemmie seufzte verhalten, fingerte ein Stofftuch aus seiner Parkatasche, verteilte den Nieselregen auf den Brillengläsern gleichmäßig. Das änderte jedoch nichts an der Situation: aufgrund eines akuten Wasserschadens war die Fakultät geschlossen worden. "Bekloppt! Drüben beim Philosophikum gab's n Rohrbruch!" Hörte er jemanden in der Menge der tropfenden, frierenden Studierenden grummeln. Lemmie umklammerte seinen Rucksack, nestelte hektisch am Schal, den er eng um die Kehle gebunden trug. Plötzlich fühlte er sich wie eingeschnürt. Ungewohnt eilig drängte er sich mit gemurmelten Entschuldigungen durch die Menge der Wartenden. Möglicherweise WAR es paranoid anzunehmen, dass diese Serie von Unglücksfällen etwas mit der ungeplanten Veröffentlichung der Fundstücke zu tun hatte... »Aber warum ausgerechnet meine Fakultät und das Philosophikum? Wo die Altertumskunde untergebracht ist?« Er ermahnte sich selbst, nicht albern zu sein, auch nur im Traum anzunehmen, er befände sich in einem Hollywoodfilm, mit Verfolgungsjagden und Verschwörungen! »Guck mal in den Spiegel! Siehst du irgendwo James Bond? Oder Indiana Jones?! Wohl eher nicht!« Verspottete er sich selbst. Ja, im Augenblick, in den beschlagenen Glastüren, konnte er bloß einen dick vermummten, mutmaßlich jungen Mann mit nassem Anorak, ausgefranstem Strickschal, partiell feuchten Jeans und schweren Halbstiefeln ausmachen, der Mühe hatte, durch die verschmierten Brillengläser irgendwas zu erkennen. »Beinahe ein Eierkopp! Bloß ein ECHTER Eierkopp wäre nicht so blöd gewesen. Die kennen sich nämlich mit elektronischen Medien aus!« Resümierte er kritisch. Diese selbstkritische Analyse half ihm auch nicht weiter, weshalb er Optionen erwog. Sollte er sich vielleicht in die allgemeine Bibliothek zurückziehen? In die Mensa gehen? Oder lieber in der öffentlichen Bibliothek eine trockene Zuflucht nehmen, um sein Studium voranzubringen? Missvergnügt ob dieser zusätzlichen Komplikationen machte sich Lemmie auf den Weg zur öffentlichen Bibliothek. ~+~ Die Zeit war ihm wie im Flug vergangen. Er hatte rigoros sämtliche Gedanken an die Fundstücke, die Frage nach der Authentizität und dem Schicksal von "Ostern" verbannt. So viel Eskapismus gönnte er sich! Außerdem beruhigte ihn die Atmosphäre ganz von selbst, schallgedämmt, wenig besucht, eine Oase der Stille und Konzentration. Allein sein knurrender Magen und einsetzende, stechende Kopfschmerzen hatten ihn daran erinnert, dass er seine kontemplative Versenkung in die Problematik Schleusenbetrieb und Naturschutz aufgeben musste. »Panama ist auch nicht an einem Tag gebaut worden.« Spielte er auf die Erweiterung des Panamakanals und die befürchteten Folgen für die Umwelt an. Er verließ sein Refugium, trat in den dunklen Nachmittag hinaus. An einem Kiosk stillte er seinen großen Hunger mit "Rievkooche", entschied, dass es höchste Zeit war, die ständig aufgeweichten Kleider zu wechseln. Eine heiße Dusche, einen dampfenden Becher mit Marzipan aromatisierter Schokolade: das wäre wohl der Gipfel des Hochgenusses! Eher beiläufig lauschte er dem Radio, das der Betreiber laufen ließ. Ein Lokalsender informierte das Publikum über die aktuellen Nachrichten, weltweit und direkt vor der Haustür. Lemmie merkte auf, als die Sperrung der Straße, an die das Hinterhaus angrenzte, aufgrund eines Großbrands verkündet wurde. Heftig setzte die Lawine der unerfreulichen Ereignisse ein, verdrängte das Wohlgefühl des satten Magens abrupt. »Das kann doch nicht etwa...?!« Lemmie raffte seinen Rucksack, stürzte hinaus in den ewigen Nieselregen. ~+~ Der Widerschein von Blaulichtern, der beißende Gestank... Lemmie würgte es bereits, schob sich den Schal über Mund und Nase. Absperrungen der Einsatzkräfte verhinderten, dass Unbeteiligte zu nahe an den Unglücksort herankamen. Bevor er sich bei einem Polizisten erkundigen konnte, welches Haus betroffen war, denn die ganze Straße war abgeriegelt, sah er Käpten. Käpten, der wie ein kompakter, blau schimmernder Fellball auf einer Mauer saß, unvermittelt seine orangefarbenen Augen ihm zuwandte. Lemmie spürte, wie ihm eisig kalt wurde. Käpten verließ den Hinterhof nie. Er war kein Streuner. Es gab nur einen Grund, warum er das Weite gesucht hatte, wie ein Sphinx Wache hielt: das Hinterhaus brannte. ~+~ Lemmie wusste nicht genau zu sagen, warum er kehrtgemacht, klamm vor Nässe und Kälte davon gestapft war, zunächst ohne Ziel. »Erst die Fakultät, dann das Institut und nun das Haus...« Wieder und wieder kreiste diese Reihe in seinem Kopf. Zufall? Wirklich? Weil ihm alles schmerzte, von seinem dröhnenden Kopf angefangen, betrat er ein Kaufhaus, dicht gepackt mit Menschen, die noch eilig Geschenke besorgten. Die wogende, drängende, schubsende Masse bereitete ihm Herzrasen und Atemnot. Er zwang sich mit geballten Fäusten und abgezählten Schnaufern, die Ruhe zu bewahren. In der Elektronikabteilung liefen die Nachrichten, darunter auch ein "lokales Schaufenster". Lemmie schwitzte und fror zugleich, während er fassungslos die Aufnahmen verfolgte, die dokumentierten, wie das Hinterhaus lichterloh brannte. Von den drei Bewohnenden war zumindest eine Person in Sicherheit, da sie sich nicht während des Ausbruchs im Haus aufgehalten habe, verkündete man. Aufgrund der beschleunigten Ausbreitung vermutete man unter Vorbehalt, dass es sich um Brandstiftung handeln müsse. Eine Explosion wurde ausgeschlossen, obwohl Anwohnende "Knallgeräusche" gehört haben wollten. Brandstiftung. Brandbeschleuniger. Er musste sich an einer Säule festhalten, weil ihn schwindelte. Konnte das sein? Hatte jemand es auf die Fundstücke abgesehen, wollte sie zerstören? »Wenn das so ist...« Lemmie biss sich so fest auf die von der Witterung geschundenen Lippen, dass sie in kleinen Rissen bluteten. »Diese Personen mussten wissen, wer WIRKLICH die Fundstücke aufgetan hatte. Wenn sie im Haus gewesen waren, musste ihnen auch klar geworden sein, dass sie dort nicht zu finden waren.« Auch nicht in der Fakultät oder im Institut. "Zwei Vermisste." Drängte sich die Realität in seine hämmernden Kopfschmerzen. Energisch wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, nachdem er die verschmierte und somit temporär nutzlose Brille abgenommen hatte. »Hannes oder Desi?« Lemmie wienerte die Gläser sauber, kramte mit zusammengepressten Lippen in seinem Rucksack nach seinem Mobiltelefon. Er fand es nicht. »Verflixt!« Fluchte er stumm, glaubte sich zu erinnern, dass er beim Verstauen am Morgen recht achtlos vorgegangen war, da er die lästigen Fundstücke mit sich herumschleppte. »Desi wird sicher...!« Versuchte er sich zu beruhigen. Die ganzen vergangenen Tage hatte sie bei ihrer Familie verbracht. Sie wäre bestimmt nicht einfach in Haus zurückgekehrt, oder? Dafür gab es ganz sicher keinen Grund! »Und Hannes, der ist sowieso 'elementar'!« Damit hatten sie scherzhaft auf die Parallele zu Elementarteilchen hingewiesen, die entweder an einem bestimmten Ort ODER zu einer bestimmten Zeit vorhanden waren. Hannes schien selbst auf die gleiche Art durchs Leben zu driften. »Sie haben ihn bloß noch nicht erreicht.« Hoffte Lemmie, strengte sich an, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Ein sanfter Gong wies die Kundschaft daraufhin, dass in einer halben Stunde geschlossen werde. »Und dann?!« Lemmie kramte in einer Hosentasche nach einem Kaugummi, löste ihn aus dem Papier, schob ihn sich zwischen die schmerzenden Kiefer. Eigentlich neigte er nicht zu Migräne, aber im Augenblick hatte er Mühe, Tränen zu unterdrücken, weil der stechende Schmerz in seinen Schläfen kaum zu ertragen war. Zwei Dinge nährten die Pein noch zusätzlich. Erstens verfügte Lemmie über nicht mehr als das, was er auf dem Leib trug. Zweitens musste er irgendwo übernachten, sich verstecken können, bis er wieder zu einem klaren Gedanken fähig war. ~+~ Seine Barschaft war nicht groß, das Girokonto ebenfalls stark geschröpft. Lemmie dachte nicht zweimal darüber nach, sich in der angeschlossenen Apotheke starke Kopfschmerztabletten zu kaufen. Er hatte das Gefühl, selbst seine Sicht verändere sich, werde von seltsamen, farbigen Punkten und Schlieren beeinträchtigt. »Vielleicht sollte ich mich melden.« Erwog er, als er in die nasskalte Nacht hinaustrat, von einem auffrischenden Wind zusätzlich ausgekühlt. Üblicherweise sorgten doch Einsatzstäbe bei solchen Brandkatastrophen für eine Unterbringung der Obdachlosen, oder nicht? Außerdem würde es bestimmt den Rettungskräften die Arbeit erleichtern, wenn sie wüssten, dass sich niemand in den rauchenden Trümmern befand. Lemmies nagendes Gefühl der Bedrohung überwog diese logischen Argumente. Irgendjemand da draußen hatte herausgefunden, wer die Fundstücke verwahrte. Diese Person schreckte nicht davor zurück, großen Sachschaden anzurichten, sogar Menschen- und Katerleben zu gefährden. Beweisen konnte er das nicht. Deshalb würde man ihn wohl für paranoid halten, nicht ernst nehmen. »Ich muss darüber nachdenken!« Hämmerte sich Lemmie in den pochenden Schädel. »Erst muss ich nachdenken!« Dafür musste er einen sicheren Ort finden, wo niemand ihm zusetzen konnte. Lemmie begann, sich vom Dom aus im ersten Hostel durchzufragen. Über einen Jugendherbergsausweis verfügte er nicht. Wie ihm die freundliche Dame am Empfang mitteilte, waren durch die Feiertage dort die meisten Gruppenunterkünfte schon ausgebucht. Die Aussicht, sich kreisförmig vom Stadtkern nach außen zu arbeiten, um noch eine Unterkunft zu finden, die sein Budget nicht sprengte, ließ Lemmie erbleichen. Gegen einen stark gesüßten Tee und ein mit Wurst, gekochtem Ei und Essiggurken belegtes Brötchen durfte er sich rasch des Internetzugangs bedienen, der eigentlich nur den Übernachtungsgästen zur Verfügung stand. Seine Notlage musste wohl den rettenden Engel gerührt haben. Tatsächlich bestätigte auf seine Anfrage ein Hostel im Stadtteil Ehrenfeld, noch ein Bett für ihn zu haben. Lemmie sagte zu, bedankte sich herzlich trotz erheblicher Kopfschmerzen, bestieg die U-Bahn, um entlang einer der großen Straßenzüge von der Kernstadt aus sein Ziel zu erreichen. Einfacher wäre es gewesen, mit Jugendherbergsausweis gleich in Deutz zu bleiben, quasi um die Ecke. Andererseits hielt er die Distanz nicht für schlecht. Lemmie fand das beleuchtete Haus rasch, meldete sich am Empfang, zahlte und "mietete" Handtücher, um sich duschen zu können. Niemand kommentierte sein äußerst spärliches Gepäck. Gerade fand eine muntere Feier im angeschlossenen Café statt. Live-Musik wurde gespielt. Deshalb fanden sich nicht nur Übernachtungsgäste ein. Die Gelegenheit nutzend nahm Lemmie seinen Rucksack gleich mit in den Nassraum, duschte heiß, gurgelte anschließend die Kopfschmerztabletten herunter. Es missfiel ihm, aber unter dem Sweatshirt mussten Unterhose und T-Shirt als Nachtwäsche reichen. Zwar bestand die Möglichkeit, die Wäsche zu waschen und einem Trockner anzuvertrauen, doch Lemmie verzichtete darauf. Er war schlichtweg zu müde. Also drapierte er Jeans, Sweatshirt, Parka und ausgewrungene Socken zum Trocknen vor einem Heizkörper, kroch in sein Etagenbett, den Rucksack halb unter den Kopf gestopft. Eigentlich wollte er noch darüber nachdenken, was er am nächsten Tag... Betäubt von Schmerzmitteln und Erschöpfung fiel er sofort in tiefen Schlaf. ~+~ Lemmie erwachte, weil sich zwei Übernachtungsgäste munter unterhielten. Als er sich aufrichtete, nach seiner Brille fahndete, bemerkten sie ihn, entschuldigten sich, ihn aufgeweckt zu haben. Hastig antwortete Lemmie. "No worries, I was already awake. Please, don't mind me!" Immerhin hatte er sich einfach in ihre Gruppe gedrängt. Das war ihm mit erstaunlich klarem Kopf sehr peinlich. Verstohlen betastete er seinen Rucksack. Der Inhalt war unangetastet und vollständig. Er kletterte aus dem Hochbett, kleidete sich rasch an, bevor er noch einmal den Waschraum aufsuchte, die gemieteten Handtücher apportierend. Als er vor einem Waschbecken stand, eine Katzenwäsche absolvierte, sprach ihn sein "Beckennachbar" an, dem nicht entgangen war, wie spartanisch Lemmie "reiste". "Looks like ya galfriend tossed ya out?" Vermutete der junge Mann mit den hüftlangen Dreadlooks freundlich, offerierte Lemmie seine Waschcreme. "Com'on, take it! We guys gotta stick togetha!" Lemmie wollte das freundliche Angebot nicht zurückweisen, reinigte sich mit der flüssigen Seife das Gesicht. Gemeinsam mit dem munteren Weltreisenden aus Goa leistete sich Lemmie die Teilnahme am Frühstücksbuffet. Während er dem bunten Sprachengewirr ausnahmslos fröhlicher, erwartungsfroher Gäste lauschte, kaute er bedächtig, überdachte seine Lage. Zunächst wollte er sich auf den neuesten Stand bringen, was den Brand betraf. Da er als zahlender Gast auch Zugang zum Internetanschluss des Hostels hatte, bemühte er sogleich die Nachrichtenseiten. Der Polizeibericht, auf den er stieß, ließ keinen Raum für Zweifel: der Brand im Hinterhaus war vorsätzlich gelegt worden. Man hatte drei unterschiedliche Brandherde ausgemacht, an denen eindeutige Spuren von Beschleunigern gefunden worden waren. Dieser Umstand erklärte auch, warum das gesamte Haus in kürzester Zeit gebrannt hatte. Von drei Hausbewohnern wurde nun noch einer vermisst. »Und das bin ich!« Dachte Lemmie grimmig. Schlimmer jedoch nahm sich nach zwei Tagen der Hysterie die großformatige Ankündigung aus, man habe den Urheber der Veröffentlichung zum Fall "Leichendiebstahl Jesus" identifiziert. Darunter, in nicht besonders guter Qualität, sah ihm sein eigenes Gesicht entgegen. So, wie er vor der Ausstellung des Studentenausweises digital abgelichtet worden war. Zugegeben, die Ähnlichkeit litt unter dem typischen "Verbrecher-Foto"-Syndrom. Das trat offenkundig bei Ausweisaufnahmen auf, ließ alle Menschen entweder wie verschreckte, stark erkältete, fleckige und übernächtigte Karnickel oder wie blutrünstige, debile Axt-Meuchelnde wirken. Lemmie nagte an seiner wunden Unterlippe, suchte fieberhaft nach einer Antwort auf diese Herausforderung. Es würde nicht lange dauern, bis entweder die Polizei selbst oder die Medien kombinierten, dass der gesuchte WG-Bewohner identisch mit dem Studierenden war, der im Universitätsnetz um Hilfe bei der Übersetzung alter Texte gebeten hatte. Die nun den Globus bewegten. »Nicht nur diese beiden Parteien suchen nach dir!« Buchstabierte er sich selbst langsam, um die aufkeimende Panik zu kontrollieren. »Sondern auch die Leute, die keine Skrupel haben, ein Haus abzufackeln.« Lemmie stützte den Kopf in beide Hände. In Filmen pflegten die notorischen Helden sich mit allerlei Tricks der Verfolgung zu entziehen, stellten ihren Häschern Fallen, um triumphierend wie Phönix aus der Asche aufzuerstehen und alles aufzuklären. Im Augenblick jedoch jagten sich in seinem Kopf lediglich Horrorvorstellungen von angezapften Mobiltelefonen, ausgespähten E-Mail-Konten und überwachten Bankkonten. War das realistisch? Die Angaben, die er im Forum eingetragen hatte, konnten alle überprüfen. Es gab schließlich Aushänge, anhand derer man zu einer Ausweisnummer auch den Namen erfuhr. Möglicherweise, darum hatte er sich nicht sonderlich gekümmert, existierte in einem sozialen Netzwerk auch eine Auflistung der Studierenden der Fakultät mit ihren Hausanschriften. Ein unverfänglicher Anruf bei seinen Eltern würde ebenfalls genügen. Konnte darüber hinaus sein Leben ohne Hindernisse erforscht werden? Wie einfach war es, seinen E-Mail-Verkehr heimlich mitzulesen? Oder sich Zugriff auf seine Bankbewegungen zu verschaffen? »Offiziell ist ein richterlicher Beschluss notwendig.« Hoffte Lemmie. Andererseits musste sich lediglich die Polizei an die Regeln halten, die Wahrung seiner Bürgerrechte ernst nehmen. »Wenn ich mich jetzt stelle? Einfach aufs nächste Revier marschiere?« Spekulierte er. »Festnehmen können sie mich nicht. Befragen schon, aber ich kann ja nicht mal beweisen, dass ich verfolgt werde.« Zweifellos würde man ihn irgendwann gehen lassen. »Bis dahin hat die Presse bestimmt erfahren, dass ich aufgetaucht bin.« Wenn es der Presse bekannt wurde, mussten es auch die Brandstifter wissen. Eine ihm eigentlich fremde Wut stieg ihm in die Brust, loderte dort züngelnd und fauchend. Es war nicht gerecht! Dass man ihn verfolgte, ihm das Haus über dem Kopf anzündete, die Habseligkeiten dreier Mietparteien, eines alten Vermieters und eines Katers vernichtete! »Irgendjemand will verhindern, dass die Originale vorgelegt werden. Dass die Wahrheit über ihre Beschaffenheit und ihr Alter ans Licht kommt!« Schlussfolgerte er zornig. Das war ihm Grund genug, sich zu wehren. Jetzt erst recht! ~+~ »Ich hätte das schon längst bemerken sollen!« Tadelte sich Lemmie stumm, während er sich einen kostenfreien Kaffeenachschlag gönnte. Aus seinem Rucksack hatte er einen leicht lädierten Collegeblock gezogen, notierte mit dem Bleistift Eckpunkte seiner Schnitzeljagd. Von der Veröffentlichung im Universitätsforum führte der erste Pfeil zum Institut für Altertumskunde. Jemand hatte dort von seinem Problem erfahren, außerhalb des Universitätsnetzes die Bilder und Notizen veröffentlicht. »Und dann?« In einer Online-Ausgabe des größten deutschen "Bilder/-ungs"-Blattes tauchten seine Notizen und die Bilddateien auf. An den Verbindungspfeil seines Ablaufdiagramms malte Lemmie ein Fragezeichen. »Wie kommt, vor allem nach solchen Debakeln wie den angeblich gefundenen Hitler-Tagebüchern, eine große Tageszeitung darauf, diese Informationen zu publizieren?« Im Journalismus Tätige würden doch die Quelle überprüfen?! Da das Institut zuerst genannt worden war, wenn er sich richtig entsann, konnte diese "Quelle" zumindest nicht mit den Originalen "wuchern". Wer hatte den Ausschlag dafür gegeben, diese Nachricht so exklusiv und exponiert zu bringen? »Irgendjemand wurde befragt. WUSSTE bereits, dass es einen historischen Text gab. Hat vielleicht falsch reagiert, zu spät abgewinkt.« Folgerte Lemmie, übermalte das Fragezeichen mit einem dicken Ausrufezeichen. Langsam zog er einen Verbindungspfeil von den Fundstücken auf dem Dachboden zu dem seltsamen Flugzeugunglück vor zehn Jahren. Vor diesem Ereignis war das Feld blank, der Werdegang seiner Fundstücke völlig im Dunklen. »Wenn sie über Generationen und fast zwei Jahrtausende weitergegeben worden sind...« Hatte man nicht erst im vergangenen Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Entdeckungen in den einstigen Provinzen Judäa und Galiläa gemacht? Reste von uralten Pergamenten in Tonkrügen entdeckt, ein verstecktes Archiv in alten Höhlen? Dieses aramäische Pergament, hinter Glas geschützt, war nicht irgendwo verborgen worden, sondern wurde, wenn er richtig vermutete, von Person zu Person weitergereicht. Deshalb entstand auch ein Fundus an Übersetzungen des Textes. »Ein aktives Versteckspiel...« Demnach sollte es nicht dem Zufall überlassen werden, was aus dem Original wurde. »Wenn es Personen sind, denen diese Fundstücke anvertraut werden, besteht auch die Möglichkeit, dass die Information darüber bekannt wird.« Zumindest weiteren Personen, die nicht unmittelbar als "Schatzhütende" fungierten. »Kann das sein?« Lemmie biss sich schmerzhaft in die lädierte Unterlippe. Konnte es sein, dass die Jagd nach den Originaltexten so rücksichtslos betrieben wurde, dass man in der Vermutung, sie seien an Bord eines Flugzeugs, für einen Absturz sorgte?! Oder handelte es sich vielleicht um eine perfide Manipulation, wurde der Absturz genutzt, um den Eindruck zu erwecken, die Texte seien auf ewig verloren?! Möglicherweise, indem man vorgab, einer der abgestürzten Passagiere habe sie mit sich geführt? »Das klingt verrückt!« Lemmie rieb sich nachdrücklich die Furchen in der Stirn. Verrückt, ja, aber nicht unwahrscheinlich. Wer auch immer zuletzt im Besitz der Originale gewesen war, konnte tatsächlich in großer Angst um sich und die Texte beschlossen haben, ihren kompletten Verlust zu inszenieren, um die Häscher abzuschütteln. Mit einem manipulierten Schreiben dafür sorgen, dass das vermeintlich fehlgeleitete "Gepäck" sicher ankam. »Wieso ist es auf dem Dachboden gelandet?« Konnte es sein, dass "Alan Smithee" oder wie auch immer die Kontaktperson hieß, unerwartet nicht mehr in der Lage gewesen war, ein besseres Versteck zu finden? Eilig das Päckchen verstaute, nicht mehr dazu kam, es aus dem Notbehelf zu bergen? »Das führt mich nicht weiter.« Lemmie zog einen Strich zwischen Entdeckung und Absturz. Solange er nicht wusste, wer das Hinterhaus bewohnt hatte oder wenigstens freien Zugang gehabt hatte, war es müßig, diese Problematik zu erörtern. »Jedenfalls..« >... ist der Kopf dicker als der Hals und der Arsch so gebaut, dass er beim Gehen nicht auf den Boden haut!< Hörte er unvermutet Fines raue, spöttische Stimme. Unwillkürlich musste er lächeln, als er sich ihrer Aussprüche erinnerte, wenn er für ihren Geschmack zu bedächtig an eine Angelegenheit heranging. Wie gern hätte er jetzt mit ihr gesprochen, nachgesehen, ob es eine elektronische Mitteilung von ihr gab! Lemmie widerstand der Versuchung, da sein Ablaufdiagramm vor ihm lag. Da draußen gab es Personen, die ebenfalls auf der "Schnitzeljagd" waren, skrupellos genug, Hab und Gut zu vernichten. Als sie anhand der veröffentlichten Dateien erfahren hatten, dass nicht nur die Originale unerwartet wieder aufgetaucht waren, sondern auch das möglicherweise gefälschte Schreiben zur "Gepäck-Odyssee" eine schlüssige Verbindung herstellen konnte, mussten sie reagieren. Diese Reaktion bestätigte den Medien, dass sie es nicht mit einer "Ente", einem "Hoax" oder Studentenstreich zu tun hatten. Jemand, der Bescheid wissen konnte, war nervös geworden. »Deshalb werde ich jetzt so paranoid wie möglich sein müssen!« Schlussfolgerte Lemmie. Er war kein passionierter Kinogänger, kannte durchaus einige der größeren Produktionen, in denen der Held von finsteren Gegenspielern verfolgt wurde. Regel Nummer 1: Überleben. Wenn man gemäß Kintopp überleben wollte, musste man so wichtig werden, dass man lebend von größerem Nutzen als tot war. »Tjaaa...« Kopierte Lemmie schweigend Desis gewohnte Ouvertüre zu einer Enthüllung. Unglückseliger Weise konnte die ganze Welt inzwischen seine spärlichen Erkenntnisse zu den Fundstücken im Internet nachlesen. Damit blieb ihm nur ein Pfund, mit dem er wuchern konnte: das Wissen um den Aufenthaltsort der Originaltexte. Bis zu deren Prüfung auf Authentizität und Alter lag noch kein BEWEIS vor, der den globalen Aufruhr rechtfertigte. Noch konnte man jede Interpretation als Spekulation abtun und die Echtheit des aramäischen Textes anzweifeln. »Deshalb muss ich mir genau überlegen, was ich mit den Fundstücken mache.« Lemmie legte unwillkürlich die Hand auf seinen Rucksack. Ihr Aufenthaltsort war sein Trumpf. Was zu Regel Nummer 2 führte: Tarnung. Das zumindest stellte ein Problem dar. Er hatte nicht genug Bargeld, um sich neu einzukleiden. Von chirurgischen Kunstgriffen ganz abgesehen. Es stand außer Frage, dass er weiterhin unbehelligt durch Köln ziehen konnte. Irgendjemand würde ihn erkennen. SO schlecht war die Aufnahme ja leider nicht, die in den Gazetten prangte. Regel Nummer 3: Verbündete finden. Hier wurde es schwierig. Im Spielfilm hatte der tapfere Einzelkämpfer zweifelnde, aufrechte Helfende bei den Streitkräften, den Ermittlungsbehörden oder sonst einer einflussreichen Organisation. Im wahren Leben, vor allem außerhalb der Vereinigten Staaten hatte Lemmie keine dezidierte Vorstellung davon, wer ihm in dieser Angelegenheit helfen konnte und musste. Außerdem, das wurde ihm jetzt mit erstickender Deutlichkeit bewusst, saß er hier fest. Die Fahrkarte nach Flensburg war verbrannt. Eine neue konnte er nicht erwerben, dazu fehlte ihm das Geld. Möglicherweise wurden Bankkonto, Telefon und E-Mail-Konto bereits überwacht. Wenn er irgendwo unterschlüpfen wollte, musste er sich ausweisen. »Vielleicht sind sie schon da.« Ihm wurde flau. In Flensburg. Bei seinen Eltern und Fine. Warteten darauf, dass er sich in seiner Not an die Familie wendete. "Scheiße." Murmelte Lemmie tonlos. Wenn er nicht rasch die richtigen Entscheidungen traf, wäre alles umsonst. Die Zeit arbeitete gegen ihn. >Carpe diem!< Fines Stimme riss ihn aus der schockierten Starre. >Los doch, Lemmie, gib dir einen Ruck!< Er zog die Brille vom Nasenrücken, polierte die Gläser nacheinander sehr gründlich. Als er sie wieder auf ihrem gewohnten Platz justierte, funkelten die graugrünen Augen entschlossen und tieftraurig zugleich. »Ist recht, Fine.« ~+~ Tag 18 Es regnete noch immer an diesem letzten Tag vor Heiligabend. Überhaupt schien es so, als bestehe die gesamte Welt nur noch aus Nässe. Unten auf den Gehwegplatten, der Schnürlregen und oben Grau in Grau dichte, dräuende Wolken. Lemmie maskierte sich mit Kapuze und Wollschal, ging so geduckt wie die meisten, die nicht an einen Regenschirm gedacht hatten. Sein erster Gang in die "gefährliche Welt eines gehetzten Schatzfinders" führte ihn in die Filiale einer Drogeriekette. Er schob sich durch die Gänge bis zur Kopfseite, um das Angebot an Haarpflegeprodukten zu inspizieren. Direkt neben ihm unterhielten sich kichernd zwei aufgebrezelte Mädchen. Oder junge Frauen? Selbst ein Blick in einen der montierten Spiegel brachte keine Aufklärung. Dazu waren Makeup und Aufmachung zu vieldeutig. Sie warfen ihm unter dick bemalten, schwer Kajal-gezeichneten Lidern spöttische Blicke zu, während sie vor einem Glaskasten den Inhalt diskutierten, mit schrillen, zu lauten Stimmen, in einer Lemmie unverständlichen Sprache. Er beachtete sie nicht. Früher war er oft mit Fine einkaufen gewesen, die auf einem Zettel mit alphabetisch sortierten Erzeugnissen bestand. Den konnte man halbieren. Jeder zog im Supermarkt los, um "Beute" zu machen. Deshalb kaufte er auch regelmäßig Slipeinlagen, Tampons und Deodorants ein, die schockierten oder abschätzigen Kommentare ignorierend. Ihre Mutter war von Fines "Einkaufslektionen" peinlich berührt. Fine tat das mit einem vernichtenden Blick ab, erklärte ungerührt, dass ein moderner, selbständiger Mensch gleich welchen Geschlechts IMMER in der Lage sein sollte, die wesentlichen Dinge des Alltags einkaufen zu können. Sie habe nicht von ihrem zehnjährigen Bruder verlangt, Kondome und Gleitgel zu kaufen, OBWOHL er dazu durchaus in der Lage sei! Lemmie fand, selbstverständlich, dass Fine uneingeschränkt recht hatte. Zugegeben, für Tampons hatte er persönlich noch keine Verwendung gefunden, wie zweckentfremdend sie auch sein mochte. Trotzdem wollte er imstande sein, das passende Produkt als kritischer Käufer auswählen und beurteilen zu können! Fine kannte sich ja schließlich auch hervorragend mit Pflegeprodukten nach der Rasur aus, obwohl ihr einfache Einwegrasierer für Damen sicher genügten! In den klugen, herausfordernden Augen seiner Schwester wollte er kein feiger Idiot sein, der aufgrund überkommener Geschlechterschranken zurückwich! Ihre Mutter hielt es für beschämend, dass Fine nichts dabei fand, Lemmie darüber zu unterrichten, wie weibliche Hygiene funktionierte. Oder ihn dazu anhielt, sich auf die Toilettenbrille zu setzen, wenn es sich nicht um ein Urinal handelte. »Lemmie, man soll über so viel wie möglich Bescheid wissen. Das kann mal nützlich sein. Wenn man Bescheid weiß, versteht man auch die Arbeit und das Verhalten anderer besser zu würdigen.« Auch wenn er es vor den Eltern nie ausdrücklich zugegeben hätte: seine Einstellung, seine Erziehung, seine moralische und ethische Richtschnur verdankte er allein Fine. Aus diesem Grund konnten die beiden neben ihm kichern und glucksen, immer wieder "Schwuler" erwähnen: das kümmerte ihn nicht. Nachdenklich streifte er die Regale, nahm schließlich eine Schachtel heraus, um die Aufschrift zu studieren. Neben ihm hatte sich zu den zwei albernen Kicherlisen eine junge Verkäuferin gesellt, die mit einem Schlüsselbund hantierte. Dabei pries sie monoton die Vorzüge einer Produktserie an. "Mit nur zwei Klicks perfekte Farbpflege! Die Indefectible Gold-Serie hat verschiedene Farbtöne. Erst wird die Farbe für 16 Stunden versiegelt, dann folgt eine Pflegeschicht. Ich würde Ihnen die Nuance Golden Berry vorschlagen, die wundervoll mit Ihrem Teint korrespondiert." Lemmie unterdrückte mannhaft ein Grinsen, als ihm durch den Kopf schoss, wie Fine diese Reklame kommentiert hätte. >Wie jetzt? Der Lippenstift textet meine Haut zu? Flaggt er mit Pickeln? Morst mit Herpesbläschen? Oder wie?< Ihm jedenfalls war es unverständlich, wie man für einen Lippenstift, auch wenn er trügerisch "indefectible" hieß, in einer goldfarbenen Hülse steckte, fast 12 Euro ausgeben konnte. >Camouflage, Lemmie! Das Gesetz des Dschungels!< Fine dozierte, wie immer ein forsches Funkeln in den Augen. >Tarnung ist alles! Kriegsbemalung oder Grundsanierung, je nachdem. Wenn's bloß um Schmiermittel geht, reicht Vaseline allemal.< Fine schminkte sich jedenfalls nicht. Was sie auch gar nicht nötig hatte, nach Lemmies Auffassung. Möglicherweise war sie nicht schön oder konventionell gefällig. Sie hatte KLASSE. Ihre ihm so vertrauten Gesichtszüge waren apart, sprachen für sich selbst. Schnickschnack benötigten andere. Fine war Fine. Basta. Während das Triumvirat noch disputierte, entschied er sich für eine Packung, stapfte zur Kasse. Regel Nummer 2 stand an. ~+~ Mit gerunzelter Stirn studierte Lemmie die Packungsanweisung. Er hatte sich eine Toilettenkabine im Bahnhof gesucht, den Rucksack aufgehängt, Anorak und Sweatshirt ausgezogen, um seine Taille geknotet. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, obwohl es erst später Vormittag war. Der Reiseverkehr begann vermutlich schon, nicht alle mussten bis Heiligabend arbeiten. Vorsichtig die dünnen Einweghandschuhe übergestreift rammte Lemmie, wie die Gebrauchsanweisung verlangte, den Inhalt der Tube mit der Farbcreme in die kleine Flasche mit der Entwickleremulsion. Er schüttelte kräftig... kräftiger... und hoffte, dass die Mixtur danach die gewünschte Konsistenz hatte. Der schwierige Part begann. Er hatte keinen Spiegel, um zu kontrollieren, ob er die unschön anzusehende Creme sorgfältig genug auf seinem trockenen Schopf verteilte. Das war nicht zu ändern! Nachdem er den kompletten Inhalt der Flasche auf seinem Kopf verteilt hatte, starrte er frierend, denn es zog mächtig in der öffentlichen Bedürfnisanstalt, auf die Uhr. Zehn Minuten sollte die Pampe auf seinem Kopf verbleiben. Es juckte ihn jetzt schon, sie loszuwerden. Als die vorgegebene Zeit verstrichen war, verließ Lemmie die Kabine, Rucksack und Schal über den linken Unterarm gehängt. Auch wenn er spürte, wie man ihn misstrauisch/ungläubig ansah, konzentrierte er sich allein darauf, die unansehnliche Mischung von seinem Haupt zu spülen, ohne sich gleich mitzutaufen. Als er sich aufrichtete, den eigenen Schal zum Frottieren nutzte, konnte er auch ohne Hilfsmittel Brille erkennen, dass die erhoffte Wirkung eingetreten war. Seine ursprünglich dunkelbraunen Haare wiesen eine abscheulich blonde Färbung auf. Nicht perfekt selbstredend, dazu war der Farbsprung zu groß. Es reichte für eine seltsame Melange, die ihn von sich selbst entfremdete. Gut zu Gesicht stand sie ihm jedenfalls nicht, wie er entschied. Vielmehr wirkte sein Teint kränklich blass. Rasch streifte er sein Sweatshirt über, wickelte den Anorak um sich. Widerstrebend nahm er die der Packung beigefügte Pflegecreme, gelte sich die Strähnen an den Schläfen entlang nach hinten. Dafür war sie zweifelsohne nicht gedacht, härtete zu einem klebrigen Panzer aus. »Wie ein tödlich verwundetes Stachelschwein!« Testierte Lemmie seinem Erscheinungsbild. Nicht schön, aber hoffentlich selten, und so weit weg von dem "Fahndungsbild" wie möglich. ~+~ Im "Haupposamt", der größten Postfiliale, konnte Lemmie sich aufwärmen. Den tropfnassen, fleckigen Schal hatte er in der Bahnhofstoilette opfern müssen. Das spürte er nun. Trotzdem war er sehr mit sich zufrieden. Hier konnte er Regeln 1 und 3 umsetzen. Zumindest hoffte er, dass seine Entscheidung richtig war. Der rege Betrieb störte ihn nicht im Mindesten. Er ließ sich Zeit. Sorgsam kopierte er die Anschriften, die er sich am Morgen in seinem Collegeblock notiert hatte. Ebenso gründlich erwog er jede Formulierung. Als er anstand, um seine Sendungen aufzugeben, fiel sein Blick auf die allgegenwärtigen Monitore. Abwechselnd mit Produktwerbung wurden per Laufband Nachrichten eingeblendet. Jetzt wurde offiziell nach ihm gesucht. Als Zeugen. Medien belagerten bereits eine Hälfte eines Zweifamilienhauses in Flensburg. Lemmie presste die Lippen fest zusammen. Er konnte nur hoffen, dass es nicht schlimmer wurde. ~+~ Es war nicht angenehm, durch den Nieselregen ziellos umher zu spazieren. Lemmie hätte es auch durchaus vorgezogen, sich irgendwo im Warmen aufzuhalten. Er wollte Überwachungskameras und Institutionen meiden, bei denen man sich ausweisen musste, deshalb wanderte er umher, stellte sich mal hier, mal da unter, fror und dachte nach. Er musste Zeit gewinnen. Der unsichtbare Gegner, den er nicht einschätzen konnte, dessen Reichweite und Einfluss ihm unbekannt waren, durfte ihn nicht zu fassen kriegen. Gleichzeitig sollte in den Behörden der Verdacht geweckt werden, dass hier etwas nicht stimmte. Hatten sie schon herausgefunden, dass er nicht für die Brandstiftung in Frage kam? Zogen sie Rückschlüsse aus seiner Veröffentlichung der Fundstücke und seinem Verschwinden? Er dachte an Fine. Sicher war sie schon bei den Eltern, mit Tam und Henri. Belagert von Medienvertretern und sicher auch von der Polizei befragt. Bisher hatte Fine immer für Aufruhr gesorgt. Jetzt, da war er sich ziemlich sicher, führte er einsam an der Spitze der persönlichen Enttäuschungen seiner Eltern. »Ich habe das wirklich nicht gewollt.« Entschuldigte er sich im Geiste bei ihnen. »Es war nie meine Absicht, euch zu verletzen oder vor den Kopf zu stoßen.« Lemmie fragte sich, was seine durchaus gläubigen Eltern davon hielten, dass ausgerechnet ihr Sohn dazu beitrug, dass man die Auferstehung ihres Heilands in Zweifel zog. Möglicherweise sogar belegte, dass es sie nie gegeben hatte. Dass ihre Überzeugung auf einem über Jahrhunderte gesponnenen Gespinst aus Halbwahrheiten und nützlichen Phantastereien bestand. Dass menschliches Wunschdenken, die Sehnsucht nach Ewigkeit und Transzendenz ausgenutzt worden war, um unterschiedlichen Zwecken zu dienen. Ob sie sich beschmutzt, um ihre Hoffnung betrogen fühlten? Verraten? Wütend? Zutiefst verletzt und gedemütigt? »Das wollte ich nicht. Das will ich nicht.« Lemmie fühlte sich elend. Obwohl er selbst nicht an die Überzeugungen seiner Eltern glaubte, für sich einen eigenen Weg gefunden hatte, graute ihm davor, anderen Menschen "ihren Anker" im Leben wegzunehmen, aus einer Gewissheit eine zweifelhafte Illusion zu machen. Hätte er aber die Fundstücke vernichten sollen? Nachdem man sie über Jahrtausende aufbewahrt und gehütet hatte? Wem hätte er sie anvertrauen können? Wen damit belasten? War diese "Wahrheit" wirklich noch so universell, so fundamental? Sein Kopf begann erneut, heftig zu schmerzen. ~+~ Hunger und Durst trieben Lemmie schließlich in die Filiale einer Schnellimbisskette. Er suchte sich eine einsame Ecke, verfolgte unbehaglich den seltsamen Mix, der über die Monitore flackerte. Laufbänder brachten Kurzmeldungen, während im Vollbild Musikvideos abliefen. Ohne Appetit kaute er, konsumierte betäubt die weltweiten Nachrichten. Demonstrationen, Belagerung von Zeitungsverlagen, wüste Drohungen... Die Vorstellung, es habe keine Auferstehung gegeben, sondern die "Enthüllung" sei eine perfide Lüge von Feinden des Christentums, agitierte eine Menge Menschen. Weitere Schuldzuweisungen jagten einander. Irgendwo triumphierte eine Terrororganisation, dass jetzt die verhassten Kreuzritter untergehen würden. Bombendrohungen kursierten, mal gegen Nachrichtensender und Verlage gerichtet, mal gegen religiöse Einrichtungen. »Die Welt spielt verrückt.« Ohne einen Anflug von Amüsement fragte Lemmie sich, ob der vor zweitausend Jahren angekündigte Weltuntergang nicht vielleicht damit eingeleitet wurde, dass ein "Messias" verkündete, es gebe KEINE "Zukunft" nach dem Tod. Er schluckte weitere Kopfschmerztabletten. »Seltsam. Ich habe keine Probleme mit Prüfungen oder Tests.« Stellte er fest. »Aber jetzt...« Jetzt fühlte er sich ausgelaugt, überfordert, eingeschüchtert und hilflos. Langsam wurde er auch müde. Eine gefährliche Schwäche in seiner Lage. ~+~ Es war die beste Möglichkeit, befand Lemmie. Deshalb saß er hier, trocken und warm, in der Nachtvorstellung, sah sich den neuen Streifen des Regisseurs James Cameron an. Nicht unbedingt aus Begeisterung für das Sujet oder die Tricktechnik, auch konnte er der Euphorie für "Avatar" nicht ganz folgen. Nein, der Grund war simpel: der Film dauerte allein schon 166 Minuten. Dazu kamen natürlich noch Werbung, Trailer und so weiter. Gleichbedeutend mit über drei Stunden Unterkunft. Er konnte seine schmerzenden Glieder ausruhen, vielleicht sogar dösen, unentdeckt im Dunkeln. Hätte man ihn nach dem Inhalt des Streifens befragt, so konnte Lemmie bloß angegeben, dass es streckenweise recht laut geworden sei. Dass er zwischen den Kampfhandlungen irgendwie den Faden verloren habe und dass ihm Sigourney Weaver mit dunklen Haaren als Alien-Entsorgerin besser gefiel. Tatsächlich erhob er sich als einer der Letzten, um langsam das Kino zu verlassen. Heiligabend in den frühen Morgenstunden. Da und dort fanden sich die ersten Personen zur Arbeit ein, strebten müde und eilig ihrem Ziel entgegen. Lemmie, die Kapuze über den Kopf gezogen, leidlich erfrischt von seinem unruhigen Halbschlaf im Kinosessel, überdachte seine Möglichkeiten. Die frische Nachtluft, endlich nicht von Regen geschwängert, vertrieb die dumpfen Kopfschmerzen, knackig kalt und erstaunlich trocken. Gemächlich zuckelte Lemmie los. Es gab genau zwei Tankstellen, die er häufiger zu Gesicht bekam, wenn er per Fahrrad unterwegs war. Die eine befand sich auf der Deutzer Seite, die andere südlich der Altstadt. Beide hatten rund um die Uhr geöffnet. Die Bewegung tat ihm gut. Seine Glieder erwärmten sich. Die albtraumhaften Sorgen verzogen sich lauernd in den Hintergrund. »Bis jetzt ist alles gut gegangen.« Munterte Lemmie sich auf. >Sagte der Mann, als er aus dem 31. Stockwerk fiel.< Ergänzte Fine in seinem Hinterkopf lachend. Lemmie grinste. Natürlich geschahen irgendwo auf der Welt zu genau diesem Zeitpunkt aufgrund der Veröffentlichung der Fundstücke Dinge, die definitiv nicht "gut" waren. Hier und jetzt konnte er nichts daran ändern. Im Augenblick hatte er keine akuten Probleme. Das sollte man genießen! Als er die Tankstelle erreichte, entschied er sich für eine große Flasche koffeinhaltiger, süßer Brause und eine Stange Butterkekse. Nicht gerade ein Frühstück für Champions, doch es würde ihn auf Touren bringen. Außerdem musste er mit seinen bescheidenen Mitteln haushalten. Die gerade gelieferten Tageszeitungen brüllten unerfreuliche Schlagzeiten in die schon feiertäglich gestimmte Welt. Es schien leider so, als würde das Fest des Friedens, der Liebe und der Hoffnung dazu aufrufen, auf spektakuläre Weise die müden Augen der Öffentlichkeit auf diverse mutmaßliche oder tatsächliche Missstände zu lenken. Lemmie wollte sich nicht einreden, dass die "Enthüllung" ein Katalysator für unterschwellig brodelnde Unzufriedenheit war. Er wünschte sich intensiv, die Medien würden sich auch auf andere Themen kaprizieren. Wenn alle ständig nach der Einschätzung zum Thema befragt und die radikalsten Meinungen gesendet wurden, trug das seiner Auffassung nach nicht zur Beruhigung der Lage bei. Er gönnte sich zum Aufwärmen einen Kaffee, zog erneut los. Inzwischen belebten sich die Straßen. Die öffentlichen Verkehrsmittel erhöhten den Takt. Obwohl unverändert nach ihm gesucht wurde, befand er sich noch auf freiem Fuß. Das feierte Lemmie als Erfolg. Wenn er Heiligabend noch durchhielt... noch ein wenig mehr Zeit "auf der Flucht" verbrachte... konnte es gelingen. ~+~ Bereits ab 6:30 Uhr öffneten Kirchen und der Dom, sodass Lemmie eine relativ warme Sitzgelegenheit hatte, sich bloß unauffällig verhalten musste. Danach entschied er, sich Kaffee und ein süßes Plunderstück zu gönnen, um den "Tiger im Tank" mit Zucker zu motivieren. Ungeduldig wartete er darauf, dass auch die öffentliche Bibliothek ihre Pforten aufstieß. Hier wurden auch die Tageszeitungen ausgelegt. Da recht wenig Betrieb herrschte, konnte Lemmie sich mit den aktuellen Presseerzeugnissen vertraut machen. Als Pfand gab er pro Ausgabe seinen Schlüsselring, der ja jeden Nutzen verloren hatte. Es wurde wild spekuliert, zumindest schien mittlerweile von der Polizei bestätigt worden zu sein, dass das Hinterhaus vorsätzlich abgebrannt wurde. Zu den seltsamen Schadensfällen in der Fakultät und dem Institut wollte man sich noch nicht abschließend äußern. Auch gab es keinen Kommentar zu den forensischen Untersuchungen im Universitätsnetz. Dafür erhöhte sich der internationale Druck auf die Regierung, möglichst rasch zu erkunden, ob die abgelichteten Fundstücke authentisch waren, weil es sich um eine staatsübergreifende Angelegenheit handelte. Ein Staatspräsident, dessen Eskapaden ganz Europa konsternierten, verkündete großspurig, man werde am Heiligabend für das Glaubensbekenntnis demonstrieren und jeden Verleumder gerichtlich verfolgen. Vom Vatikan war kein Kommentar zu erhalten. Je nach politischer Einstellung der Zeitungen differierten auch die Leserbriefe, die abgedruckt wurden. Lemmie las sie alle, fand seine widersprüchlichen Gedanken dort gespiegelt. Am frühen Nachmittag, nach einer immer anstrengenderen Lektüre, konnte er sich nicht länger konzentrieren, nicht mehr stillsitzen. Außerdem knurrte ihm erneut der Magen. Er verließ also die öffentliche Bibliothek und überlegte, durch die Kapuze einigermaßen getarnt, wo er sich günstig etwas zu essen und neue Informationen verschaffen konnte. >Also wirklich! Du bist ja genauso sensationshungrig wie die Meute, die du dafür verachtest!< Hörte er Fine spotten. »Das liegt daran, dass ich wirklich WISSEN muss, wie weit die anderen Parteien sind!« Verteidigte sich Lemmie verschämt. »Amüsant finde ich das überhaupt nicht.« >Bist du sicher, dass sie dir alles verraten?< Fine blieb skeptisch. »Nein.« Dachte Lemmie sorgenvoll. »Ich bin sicher, dass aus 'ermittlungstaktischen Gründen' eine Menge nicht publiziert wird. Es gibt bloß keine Alternative.« Er entschied sich für einen Eintopf bei einem rollenden Imbiss, der recht gut frequentiert war. Da es unter dem vorgespannten Zeltdach zog, unternahm niemand Anstrengungen, das Gesicht mehr als nötig freizulegen. "Mach ens lauter!" Brummte ein vierschrötiger Mann, wies auf den zum Schutz gegen Fettablagerungen eingetüteten Ghettoblaster. Gerade liefen die Nachrichten. Zu Lemmies Bestürzung schienen wirklich alle aufzumerken. Die Meldung über eine Störung des Betriebs auf dem Flughafen Tokio interessierte nicht sonderlich. Danach wurde die Pressekonferenz der Ermittlungsbehörden übertragen. [Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir mitteilen, dass ein vorsätzlicher Brand in einem Wohnhaus in Köln sowie Schäden in zwei Gebäuden der Universität in Köln nicht nachweislich in Zusammenhang stehen. Als unzutreffend hat sich die heute Mittag verbreitete Meldung erwiesen, es handle sich bei der unidentifizierten Leiche einer männlichen Person in Deutz auf der Schnellbahnstrecke Köln-Frankfurt am Main um den vermissten Clemens Bergmann, 23 Jahre alt. Er wird noch immer dringend als Zeuge gesucht. Andere Zeugenaussagen haben laut Staatsanwaltschaft eindeutige Belege erbracht, dass der Vermisste sich zum mutmaßlichen Zeitpunkt der Brandstiftung nicht in dem Wohnhaus befand. Die forensische Untersuchung der Daten im Netz der Universität Köln hat ergeben, dass die Dateien, die Aufnahmen von Texten auf unterschiedlichen Trägermaterialien in verschiedenen Sprachen enthalten, dort angefertigt und mit den Benutzerdaten des Vermissten eingespeist worden sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Vermisste einem Unglücksfall oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Wir bitten daher erneut die Bevölkerung um Mithilfe. Fotos des Vermissten sind im Internet und in den Tageszeitungen veröffentlicht worden. Hinweise dazu nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.] Lemmie senkte den Kopf, schaufelte mit hochgezogenen Schultern seinen Eintopf. »Leiche? Sie haben jemanden auf den Gleisen gefunden und für mich gehalten?« Ihn schauderte. Er konnte nur beten, dass es ein Zufall war. Dass sich ein unglücklicher Mensch dort umgebracht hatte. Und nicht eine Verwechslung einem Unbeteiligten zum Verhängnis wurde. »Dreh jetzt nicht durch! Denk lieber nach! Was tun wir jetzt?!« Ermahnte er sich selbst streng, biss sich auf die Unterlippe. Zunächst mal mit dem Brötchen säuberlich den Plastiknapf auswischen. Das ließ ihm Zeit, die über den Äther ausgestrahlten Kommentare mitzuhören. Die Einschätzung eines Verbindungsmannes zur Polizei wurde erfragt. Der mutmaßte zunächst, dass man bereits Telefon-, Bank- und E-Mail-Konten des Vermissten überwachte, da dazu jeder Kommentar verweigert wurde. Er stellte auch darauf ab, dass, soweit der Student des Bauingenieurwesens noch am Leben sei, er sich noch immer im Raum Köln aufhalten müsse. Zuletzt habe er nämlich in einem Hostel dort übernachtet! Freunde und Kommilitonen hätten ihn als ruhig, zuverlässig und reserviert beschrieben. Niemandem sei etwas an ihm aufgefallen. Auch habe er sich bisher nicht besonders für Religion oder alte Schriften interessiert. Die Familie verweigere jeden Kommentar und stehe unter Polizeischutz, da es anonyme Drohungen gegen die Angehörigen des Vermissten gegeben habe. Noch stehe allerdings gar nicht fest, ob er im Besitz der Originalschriftstücke sei oder lediglich seine Kontaktdaten zur Verfügung gestellt habe. Auch hätte eine noch nicht abgeschlossene Untersuchung der Dateien nicht den entscheidenden Schluss zugelassen, dass es sich um authentisches Material handle. Dazu müsse man zwingend die Originale untersuchen. Es wurde weiter darüber spekuliert, warum sich der Vermisste nach dem Brand nicht bei der Polizei gemeldet habe. Welche Absicht er verfolgte, als er seine Anfrage ins Universitätsforum gestellt habe. Ein politischer Beobachter kommentierte anschließend den Druck der internationalen Gemeinschaft auf die Bundesregierung. Dass man, um sich nicht zu blamieren, schnellstmöglich den Aufenthaltsort des Vermissten ermitteln müsse. Weiterhin wäre es angeraten, die Originale bei Auffinden unverzüglich einer mit internationaler Expertise besetzten Untersuchungsgruppe vorzulegen, um Manipulationsvorwürfen entgegenzutreten. Lemmie löste sich widerstrebend, schlenderte mit gesenktem Kopf los. Seine "Tarnung" würde nicht ewig halten. Es stand zu befürchten, dass man, sofern genug Personal trotz der bevorstehenden Feiertage aktiviert werden konnte, ziemlich schnell Polizeikontrollen durchführen würde. »Ob sie schon Verdacht geschöpft haben?« Erwog er unruhig. »Vermuten sie bereits, dass da eine Gruppe mitmischt, die die Veröffentlichung der Originale um jeden Preis verhindern will?« Jedenfalls gab es Beweise, Zeugenaussagen, die ihn bezüglich der "Unglücksfälle" entlasteten. Das zumindest war ein Lichtblick. Der trübte sich allerdings rasch, als er sich daran erinnerte, dass seine Familie unter Polizeischutz stand, weil es Drohungen gegeben hatte. »Wer droht? Und mit was?!« Empörung mischte sich mit Schuldgefühlen und ohnmächtiger Angst. Er konnte seinen Eltern und Fine mit Henri und Tam nicht helfen, saß hier fest! Selbst wenn er irgendwie nach Flensburg gelangen würde, was sollte er da ausrichten?! Würde es ihnen helfen, wenn er sich sofort stellte? Nein. Solange er noch unterwegs war, auf der Flucht, bestand die Chance, dass die Polizei Erkenntnisse gewann, die ihm nicht zu Gebote standen. Es konnte seine unbekannten Gegner dazu verleiten, Fehler zu machen. Noch konnte er nicht aufgeben. ~+~ Tag 19 Es begann wieder zu nieseln. Obwohl Lemmie sich im Gedränge nicht mehr geschützt fühlte, musste er es versuchen, um nicht aufzufallen. Vorgeben, ein müßiger Passant zu sein, sich vor der Bescherung noch mal die Füße vertreten zu wollen. Unwillkürlich, vielleicht auch, weil sich seine müden Füße eine Pause erbaten, ließ er sich mittragen, landete im Dom zur Christvesper. Familien mit vielen Kindern besetzten Sitzgelegenheiten und Schoße. Die Bänke vor dem Altar füllten sich rasch. Lemmie blieb nahe der Türen, lauschte Worten und Chormusik. Vielleicht war es blasphemisch, doch er hatte das Gefühl, als ginge es weniger um eine alte Legende, die zitiert wurde, sondern mehr um die Gemeinschaft so vieler unterschiedlicher Menschen unter einem Dach, die friedlich und fröhlich gestimmt waren. Ein Gefühl des Zusammenhalts, der frohen Erwartung, der Hoffnung. Würde es ausgelöscht werden, wenn sich erwies, dass der Wanderprediger ebenso sterblich wie jeder andere gewesen war? Oder könnte man jenseits der Tatsachen einen Weg finden, die eigene Sehnsucht und Suche nach Zuversicht zu stillen? Zweifel nagten an ihm. Hatte er das Richtige getan? Würden andere richtig entscheiden? War die "Wahrheit" den Kummer wert, den ihre "Entdeckung" ausgelöst hatte? Er schämte sich dafür, ausgerechnet hier, an einem Ort der christlichen Überzeugung, Zuflucht gefunden zu haben. Sich in der Gemeinschaft zu verstecken. »Obwohl ich alles zu Fall bringen könnte. Ohne es zu wollen.« Als man anschließend den Dom verließ, ertönte der "Dicke Pitter", die St. Petersglocke, die größte, schwingende Glocke der Welt. Eine Gänsehaut überlief ihn. Er musste den Impuls unterdrücken, sich panisch durch die Menge zu drängeln. Was hätte es auch geholfen? Der Glockenton, die gewaltigen Vibrationen, liefen durch Mark und Bein. Ein Entwischen schied aus. Nieselregen setzte ein. Dazu frischte ein böiger Wind auf. In kürzester Zeit fror Lemmie erbärmlich. Außerdem war er müde, litt unter heftigen Kopfschmerzen. Zweifellos war es keine gute Entscheidung, die Kopfschmerztabletten mit dem letzten Rest der Brause herunterzuspülen. Ihn plagte unerträglicher Durst. Was nun? Warten, bis die Christmette kurz vor Mitternacht begann? Und dann? Lemmie erkannte an seinen zitternden Gliedern, dass er das Ende der Fahnenstange erreicht hatte. Er konnte nicht mehr viel länger durchhalten. Hier gab es keine Zuflucht mehr. Wohin sollte er sich wenden? Die Geschäfte schlossen. Rollläden wurden heruntergelassen. Der Wind heulte durch die Häuserschluchten. Er sah mit tränenden Augen hoch zum Dom, der angestrahlt wurde. »Fine, Fine, was mach ich jetzt nur?« Plötzlich konnte er kaum den Drang unterdrücken, nach ihr zu rufen, wie früher die Arme um sie zu legen, sich dort getröstet und geborgen fühlen. Seiner selbst wieder sicher in einer Welt, die ihn zu ständigen Zweifeln zwang. Er konnte sie nicht erreichen, brächte sie vielleicht sogar in Gefahr. "Am Liebsten möchte ich mich verkriechen..." Murmelte er niedergeschlagen und unendlich einsam. Bisher hatte es immer einen Ort gegeben, zu dem er zurückkehren konnte, eine Zuflucht in Zeiten der Not. Ruckartig hob Lemmie seinen Blick vom nassen Pflaster hoch. Es GAB noch eine Hoffnung! ~+~ Der Fußmarsch war lang. Lemmie spürte, wie unter der eisigen, nassen Kälte seiner Haut eine unerfreuliche Hitze entstand. Fieber. Obwohl er durch das Leben an der Küste eigentlich mit Wetterkapriolen vertraut und abgehärtet sein sollte, passierte es ihm gelegentlich, dass er sich ein glühendes Fieber einfing, wenn er zu lange an der frischen Luft herumgelaufen war. »Hilft nichts!« Spornte er sich an. Einen Fuß vor den anderen setzen, Blick auf Pflaster oder Asphalt. Ab und an mal umschauen, orientieren. »Wird schon!« Bemühte er sich um Optimismus. Um sich ein wenig abzulenken, dachte er an Fine. Auch wenn sie nicht in greifbarer Nähe war, blieb sie immer an seiner Seite. In seinen Gedanken. Der helle Leitstern an seinem Himmel. Er wollte sie noch einmal sehen. Was auch immer aus dieser verflixten Schnitzeljagd wurde, einmal noch wenigstens! Fine war ja nicht Super-Woman, deshalb wollte er wirklich sicher sein, dass es ihr gut ging. Worte genügten da nicht, man musste sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Es am ganzen Körper spüren. Die Gewissheit. Dass alles gut war. »Dann bin ich bereit. Für was auch immer kommt.« Dachte Lemmie. Wenn es Fine nur gut ging. ~+~ Der überdachte Eingang des unscheinbaren Gebäudes war dunkel. Lemmie hatte sich anhand der montierten Platte darüber versichert, dass er vor dem richtigen Haus stand. Heruntergelassene Rollläden verrieten nicht, ob sich tatsächlich jemand im Inneren aufhielt. Lemmie war entschlossen, dies herauszufinden. Energisch drückte er mit eisigem Finger den Klingelknopf. Hörte er da nicht Schritte? Oder spielte ihm sein schmerzender, Fieber geplagter Kopf schon einen Streich? Tatsächlich wurde die breite Tür geöffnet. Ein älterer Mann mit Glatze, einer alten Bifokalbrille und einer Taschenlampe in einem verwaschenen, orangefarbenen Mönchsgewand betrachtete ihn fragend. "Ja, bitte? Kann ich Ihnen helfen?" Erkundigte er sich höflich. "Ja! Bitte!" Lemmie krächzte, räusperte sich, hielt ausreichend Abstand, um den Mann nicht zu verschrecken. "Bitte verzeihen Sie die späte Störung, aber... können Sie mir wohl Kirchenasyl gewähren?" ~+~ "JuhUUUUU!" Jubelte vollkommen unerwartet eine Stimme fröhlich, ließ sowohl Lemmie als auch den älteren Herren im Mönchsgewand zusammenschrecken. Im gleichen Moment flammte auch die Beleuchtung wieder auf, hüllte den Eingangsbereich in warmes Licht. Beide blinzelten, warfen sich verlegende Blicke zu. "Bitte? Wären Sie so freundlich?" Lemmie umklammerte seine Anorakärmel, ein vergeblicher Versuch, sich gegen die Kälte zu wappnen. "Können Sie das noch mal wiederholen? Ich habe es leider nicht richtig verstanden?" Sein Gegenüber wirkte verwirrt. Lemmie leckte sich nervös über die Lippen, befürchtete, dass der mutmaßliche Mönch ihn mittlerweile identifiziert haben musste. Oder nicht? Er holte tief Luft. "Ich bitte um Kirchenasyl. Im Tempel. Bitte." "Kirchenasyl?" Verdutzt neigte der ältere Mann den Kopf. "Ich bin nicht sicher, ob..." Seine Überlegungen wurden unterbrochen, eine Stimme rief. "Onkel Abt? Kannst du mal kommen?" "Äh...ah..." Ein hilfloser Blick traf Lemmie, der ihn ebenso ratlos erwiderte. "Ähem, Chai..." Der Abt wandte sich rasch Lemmie zu. "Wollen Sie wohl so nett sein und hier warten? Gleich komme ich zu Ihnen." Damit machte er kehrt, eilte mit leise klatschenden Sandalensohlen über Linoleum einen kurzen Flur entlang, betrat einen anliegenden Raum. Lemmie zögerte kurz, betrat das Gebäude, schloss sacht die Pforte hinter sich. Er tropfte, erschöpft und ein wenig schwindlig von der unerwarteten Wärme, die ihm ins Gesicht geblasen wurde, auf eine große Eingangsmatte. Er hatte keine Kenntnis darüber, ob ein buddhistischer Tempel auch die Möglichkeit besaß, "Kirchenasyl" zu gewähren. In der Not wollte er es wagen. Vermessen und ungehörig wäre es ihm erschienen, sich in einer christlichen Gemeinde um Zuflucht zu bemühen. Das GING einfach nicht an eingedenk dessen, was in den letzten Tagen passiert war! Über eine Moschee in seiner Laufweite wusste er nichts, hätte es dort nicht riskiert, ebenso wenig bei einer Synagoge. Jede Religion, die entfernt etwas mit Jesus als Juden oder Propheten zu tun hatte, konnte er mit seiner Anwesenheit nur in Schwierigkeiten bringen, fürchtete er. Das wollte Lemmie auf keinen Fall. Deshalb trat er von einem eisigen Fuß auf den anderen, hoffte intensiv, soweit sein angeschlagener Zustand das zuließ, hier an diesem Ort großmütig Zuflucht zu erhalten. Als Lemmie spürte, dass sich die Zimmerdecke im Flur langsam zu senken begann, marschierte er aufgezogen und wacklig zugleich über den Flur zu dem Raum, in dem der Abt verschwunden war. Er wollte wirklich nicht unhöflich sein, aber wenn er sich nicht bald irgendwo hinsetzen konnte... Am Türstock abgestützt brachte er seine Anwesenheit in Erinnerung, sah einen dezent geschmückten Raum, ausgelegt mit Sitzkissen aller Art und Größe, die Wände mit bunten Seidentüchern behängt. Der Abt stand im Raum, blickte zur Zimmerdecke. "Entschuldigen Sie. Bitte, darf ich mich vielleicht setzen?" Lemmie flüsterte heiser. "Wie? Oh!" Der Abt warf ihm einen erschrockenen Blick zu. "Wir haben Besuch?" Erkundigte sich eine Stimme über Lemmie, der nun erst registrierte, das direkt neben dem Türsturz eine Stehleiter postiert war. Schwarze Schuhe mit weißen Kängurus als Markenemblem, darüber aufgerollte, dunkelblaue Hosenbeine. Ihr Besitzer kletterte gelenkig die quietschende Stehleiter herab, bis er den Kopf senken, nach Lemmie schauen konnte. Der blinzelte fiebrig. "...nur kurz hinsetzen...?" Kämpfte verzweifelt gegen den Zwang an, die Lider zu senken. Wären seine Augen geschlossen, das wusste er, würde er umfallen. "He...das ist doch... Lemmie?!" Unerwartet riss ihn die Stimme aus dem verlockenden, verhängnisvollen Dunkel. "..ja..?" Seine Kiefer wollten ihm schon nicht mehr gehorchen. "Lemmie, was ist mit deinen Haaren passiert?!" Lemmie antwortete nicht mehr, sondern rutschte schwer am Türstock zu Boden. ~+~ Wie lange seine Ohnmacht gedauert hatte, konnte Lemmie nicht abschätzen. Als er zu sich kam, lag er in dem geschmückten Raum auf einigen Kissen, während ein beißender Geruch in seine Nase stieg. "So was! So was!" Kommentierte der Abt über ihn gebeugt besorgt, verschraubte ein kleines Fläschchen. "..Änchul..gung..." Lemmie würgte, hatte das Gefühl, ihm würde gleich der Speichel aus dem Mund laufen. Bevor dieser beschämende Moment der Schwäche eintrat, fasste ihn jemand sehr professionell unter dem Hinterkopf, setzte ihm eine Schale an den Mund. Lemmie schluckte artig. Es schien sich um Brühe zu handeln. Das Salz prickelte auf seiner Zunge. Er fühlte sich von Augenblick zu Augenblick besser. "Wie lange bist du schon unterwegs?" Hörte er die Stimme, die ihn so vertraut ansprach. "Deine Kleider sind nass, du bist ganz kalt und hast..." Eine schlanke Hand legte sich auf seine glühende Stirn. "... ja, du hast auch Fieber." "... bitte... Asyl..." Murmelte Lemmie, drehte den Kopf. Er wollte wissen, wer mit ihm sprach. Ohne seine Brille konnte er die Gesichtszüge nicht eindeutig erkennen. Erstaunlicherweise schien der Sprecher dies jedoch zu begreifen, beugte sich tief über ihn. "Erinnerst du dich an mich, Lemmie?" Lemmie sortierte eine schöne, hellbraune Hautfarbe, einen Wust wilder, schwarzer Haare, ein breites Lächeln mit weichen Lippen und eine Reihe perfekter, weißer Zähne. Er kniff die Augen zusammen. Sein Verstand lief offenkundig noch auf Handbetrieb, aber irgendwie... ja, irgendwie...! "Chai. Chai Watcharananan. Wir waren in der Mittelstufe eine Weile zusammen..." Der junge Mann zögerte. Die Erleichterung wich Verlegenheit. "Na ja, das ist schon eine Weile her." Ungelenk stützte Lemmie sich auf die Ellenbogen, blinzelte entschlossen. "Entschuldigung, aber ohne Brille..." Rechtfertigte er sich. "Oh, natürlich, klar!" Die Stimme klang zwar munter, aber Lemmie gewann den untrüglichen Eindruck, dass er sich einer Gemeinheit schuldig gemacht hatte. Er setzte sich auf, nahm die ihm höflich hingestreckte Brille entgegen, justierte sie, blickte in ein Paar sehr dunkelbrauner Augen. "Ist schon sechs Jahre her." Bemerkte Chai betont fröhlich. "Damals war ich auch noch kleiner und hatte ne andere Frisur!" Er grinste, presste die Hände so an den Kopf, dass die dicken, schwarzen Strähnen streng zurückgekämmt wirkten. Lemmie schwieg, betrachtete ihn stumm. "Du weißt noch, wer ich bin?" Chai rieb sich verunsichert unter der Nase. "Ich habe dich nicht vergessen." Antwortete Lemmie leise. Um keine weitere Verlegenheit aufkommen zu lassen, ergänzte er angespannt. "Und du weißt, dass ich in Schwierigkeiten stecke?" Chais Grinsen franste aus, auch wenn er spielerisch an einer unschön gefärbten Haarsträhne zupfte. "Ja, also diese Frisur...!" "Also... wegen des Kirchenasyls...Ich bin wirklich nicht sicher, dass..." Brachte sich der Abt höflich in Erinnerung. "Kann er nicht hier bleiben, solange ich noch die Elektrik in Ordnung bringe, Onkel Abt?" Chai ließ Lemmie nicht aus den Augen. "Wir sind Freunde." Als erkläre das alles. Als spielten sechs Jahre keine Rolle. Als hätte es nie sein Liebesgeständnis gegeben. ~+~ Tag 20 Lemmie saß auf Kissen in einer Ecke, mit einer weiteren Tasse Brühe versorgt, die ihn langsam innerlich erwärmte. Auch wenn man eigentlich bei Fieber nicht frieren können sollte. Er sah stumm zu, wie Chai mit der Stehleiter und einer Werkzeugkiste die Leuchtkörper überprüfte, Schäden reparierte. Aus den leisen Gesprächen, die er mit "Onkel Abt" führte, konnte Lemmie schließen, dass es einen Defekt gegeben hatte, er um Abhilfe gebeten worden sei. »Ich wusste gar nicht...« Lemmie strich den Gedanken sofort. Wenn er damit anfinge zu sinnieren, was er alles NICHT über Chai Watcharananan wusste, würde er vermutlich kein Ende finden. Hätte er nicht dessen Augen gesehen, diesen Erinnerungsblitz, hätte er ihn wahrscheinlich nicht mal erkannt. Umgekehrt befand er sich in deutlich schlechterer Position. Chai hatte ihn sofort, trotz seiner scheußlichen Frisur, identifiziert. »Absurd.« Dachte er, senkte die Lider. »Schlimmer als in jedem Hollywood-Streifen!« ~+~ Lemmie erwachte aus seinem unruhigen Schlummer, weil Chai ihn behutsam, die Hände auf seine Schultern gelegt, wach schüttelte. "Lemmie, aufwachen! Zeit zu gehen!" In der Hocke befanden sich ihre Augen auf der gleichen Höhe. Bis sein Verstand wieder auf Touren kam, stand Lemmie bereits, registrierte, dass Chai sich in einen Blouson wickelte, auf dem ein Firmenemblem prangte. Freundschaftlich umarmte er den Abt, der einen besorgten Blick auf Lemmie warf. "Ist es wirklich in Ordnung...?" Chai sammelte seinen Werkzeugkasten ein, nickte. "Bestimmt! Wir sind Freunde. Bei mir ist er gut aufgehoben. Hier könnte er doch schlecht über Nacht bleiben." Lemmie begriff, dass aus dem Kirchenasyl im buddhistischen Tempel nichts zu werden drohte. Bevor er Einwände erheben konnte, zupfte Chai ihn auffordernd am Ärmel. "Komm, Lemmie, ist nicht weit bis zu mir. Da kannst du duschen und dich ausschlafen." "Ich möchte wirklich nicht... ich wollte nicht..." Lemmie verlor den Faden, setzte neu an. "Es tut mir leid, dass ich so viel Umstände..." "Einen schwierigen Weg soll man ausgeruht betreten. Geh ruhig mit Chai." Riet ihm der Abt besänftigend. "Danke schön." Murmelte Lemmie leise, erwiderte die Geste des Abtes, der die Handflächen in Brusthöhe aneinander legte, sich leicht verneigte. Auch Chai tat es ihm nach, grinste. "Fröhliche Weihnachten, Onkel Abt!" Wünschte er, bevor er Lemmie zum Ausgang dirigierte. Schweigend gingen sie nebeneinander her, einige Meter die Straße entlang, bis Chai neben einem alten VW Golf stehen blieb, nach einem Schlüssel fahndete. "Steig ein." Forderte er Lemmie betont ungezwungen auf, während er selbst vom Beifahrersitz kraxelte, nachdem er die Verriegelung händig gelöst hatte, seine Werkzeugkiste hinter dem vorgeklappten Fahrersitz verstaute. Der Motor grummelte ärgerlich, als er zu so später Stunde noch arbeiten sollte, zeigte sich gnädig, sprang an. "Was ist eigentlich mit deinen Haaren passiert?" Während Chai zunächst der A559 folgte, fragte er beiläufig, um das unbehagliche Schweigen zu unterbrechen. Lemmie grimassierte müde. "Ich habe sie gefärbt... gestern Morgen?" Er seufzte. "Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor." Chai warf ihm einen Seitenblick zu, bemerkte kritisch. "Sieht furchtbar aus. Erinnert mich fatal..." "...an ein überfahrenes Stachelschwein?" Half Lemmie großzügig aus. Ein Blick in den Seitenspiegel hatte ihm bestätigt, wie verheerend sich nicht nur seine Aktivitäten als Figaro auf sein Erscheinungsbild ausgewirkt hatten. Er wirkte wie ein Zombie seiner selbst. Chai nahm die Ausfahrt Gremberghoven, orientierte sich in Richtung Porz. Von der Steinstraße wechselte er auf die Hauptstraße Richtung Zündorf. "Ich wusste nicht, dass du in Köln lebst." Bemerkte Lemmie leise. Wieder spürte Lemmie einen Seitenblick auf sich ruhen, bevor Chai ihm antwortete. "Du wirst lachen, aber ich wohne sogar in einer Straße, die deinen Namen trägt." Er fuhr von der Hauptstraße ab, Richtung Köln-Wahn. Einige Augenblicke später bog er links in eine Stichstraße ab, die tatsächlich Lemmies Taufnamen trug, sich als "Gasse" verstand. Als Chai vor einem Mehrfamilienhaus den Motor abgestellt hatte, das schon bessere Jahre und mehr Farbe gesehen hatte, blieben sie einen langen Moment im Auto sitzen. "Bist du sicher, dass du mir helfen willst?" Erkundigte sich Lemmie leise, hielt die dunkelbraunen Augen mit seinen graugrünen fest. In Chais Gesicht zeichnete sich langsam, zögerlich ein nachdenkliches Lächeln ab. "Komm schon!" Er wandte sich ab, stieß die Wagentür auf. ~+~ Chais kleine Wohnung befand sich direkt unter dem Dach, zwei Zimmer, eine kleine Küche und ein winziges Badezimmer mit Dusche. Unschlüssig blieb Lemmie auf der Fußmatte stehen, fühlte sich schmutzig und unbehaglich. "Hier! Kannst deine Schuhe drauf stellen." Chai breitete einige Lagen Reklamezeitungen aus. Er erleuchtete seine Wohnung, schob Lemmie von der Wohnungstür weg, um sie zu schließen, an ihrer Rückseite die eingehängten Haken zu benutzen. Auch Lemmies Anorak landete dort, fürsorglich mit weiteren Zeitungsstreifen am Boden bedacht, falls er tropfen sollte. "Dusche und Rasur? Hier rein! Ich suche dir frische Wäsche raus." Offerierte Chai knapp. "Danke schön." Murmelte Lemmie verlegen, schob sich in das winzige Bad. Es erinnerte ihn eher an ein Kämmerlein, niedrig und eng. Chai hatte jeden Millimeter ausgenutzt. Über der Dusche hing knapp unter der Decke eine Art Wäschespinne, über dem Spülkasten der Toilette war ein Teleskopregal montiert, ebenso umbaut auch das Waschbecken. Quer dazu hatte er unter der Decke Leinen gespannt, eng genug, dass man auch etwas darüber legen konnte. Wie zum Beispiel eine Stange Toilettenpapier. Mit dem Rücken zur angelehnten Tür zog Lemmie sich aus, rümpfte beschämt die Nase, als ihm der eigene Körpergeruch bewusst wurde. Er hängte seinen Rucksack an einen der zahlreichen Haken, betrat, die Brille noch auf der Nase, die Dusche, um die vorhandenen Flaschen auf ihren Inhalt hin zu untersuchen. Als er spürte, wie die Tür geöffnet wurde, zog er eilig den Duschvorhang zu. "Ich lege dir die Handtücher auf den Lokus." Verkündete Chai aufgeräumt. "Der Rasierer hängt neben dem Waschbecken. Klamotten kommen noch." Damit ließ er Lemmie allein. ~+~ Chai war Lemmie erst in der 9. Klasse wirklich aufgefallen. Sie gingen nicht in dieselbe Klasse, hatten deshalb erst bei einigen Wahlpflichtkursen gemeinsamen Unterricht, sodass es nicht weiter verwunderlich war, dass er ihn bloß vom Sehen als Schulkameraden erkannte. Was er von Chai damals wusste, war das übliche: in Thailand geboren, die Mutter früh an einer entzündlichen Infektion gestorben. Der Vater wurde nach einem Taifun durch einen Erdrutsch verschüttet, war vermutlich tot. Er musste aufs Land zu den Großeltern, bis "Onkel Mok" ihn mit zehn Jahren nach Deutschland holte. Chai war zierlich, trug die schönen, schwarzen Haare meist in einem dicken Zopf, lachte viel und ohne Scheu, schien nie schlechte oder trübe Laune zu haben. Er war beliebt, auch, weil Onkel Mok, der wirklich ein älterer Bruder der Mutter war, als Original galt. Onkel Mok war seines Zeichens Koch und Rock'n'Roll-Rebell. Freunde, die bereits ausgewandert waren, hatten ihm als jungen Mann angeboten, nach Deutschland zu kommen und in ihrem Spezialitätenrestaurant zu arbeiten. Onkel Mok, der am Liebsten als Amerikaner auf die Welt gekommen wäre, griff sofort zu. Ihn störte das ungewohnte Klima nicht, die merkwürdige Sprache oder die Distanz der Menschen. Er war bereit, ein Rock'n'Roller zu werden, und zwar richtig! Also gelte er sich eine Tolle, die Elvis beneidet hätte, trug immer hochgekrempelte Jeans, weiße T-Shirts und eine Lederjacke mit rotem Halstuch. Er suchte sich auch sofort einen Tanzclub, begeisterte alle mit seinem "urigen" Amerikanisch, das alten Filmen oder Liedern entstammte. Dass die Amerikaner Flensburg, seine neue Heimat, schon verlassen hatten, störte ihn nicht. Genug Überbleibsel waren ja geblieben. Außerdem lag Flensburg am Wasser, war einfach schön. Zwar ganz anders als seine ehemalige Heimat, doch sein Entschluss, alles sofort annehmen zu wollen, ließ für Reue keinen Platz. Onkel Mok war fest entschlossen, hier seine Rock'n'Roll-Wurzeln zu schlagen. An die harte Arbeit war er gewöhnt. Die Freizeitmöglichkeiten waren neu. Als Onkel Mok auf Freya traf, die blond, groß, aber überhaupt nicht kühl war, sondern pinkfarbene Söckchen und Petticoats trug, konnte ihn gar nichts mehr von Flensburg trennen. Den Waisen Chai nach Deutschland zu holen erwies sich nicht als so einfach. Angesichts der eigenen Biographie wollte er ihm einen besseren Start ins Leben verschaffen. Die Großeltern litten in stummer Trauer und Resignation unter dem Tod des einzig verbliebenen Sohnes. Moks Familie hatte so viele Mitglieder, die auch von seinem Salär zehrten, dass sie noch einen weiteren Esser, den sie kaum kannten, nur ungern aufgenommen hätten. So kam Chai zu Mok, der ihm als Erstes einschärfte, dass er hier im Land der unzähligen Möglichkeiten angekommen sei. Fast Amerika, bloß nicht so groß, dafür direkt am Wasser. Hier könne man sein, wie man eben sei, nicht so, wie andere es verlangten! Chai, der ein bisschen Englisch und kein Wort Deutsch sprach, für sein Alter zu klein und zierlich war, seine erste Flugreise überstanden hatte und bei einem ihm lediglich durch spärliche Briefe bekannten Onkel landete, musste tapfer sein. Einen Weg zurück, das hatte Onkel Mok ihm unverblümt gesagt, gebe es nicht. Die Flensburger nahmen Chai gewohnt reserviert, dann aber sehr herzlich und fürsorglich auf. Deshalb entwickelte Chai auch Zuneigung und Vertrauen in die Menschen seiner neuen Heimat. Wenn Lemmie ihn gelegentlich einmal sah, war er von Jugendlichen umringt, die mit ihm lachten, ihn in alles einbezogen. Lediglich sein Äußeres und sein Name erinnerten noch daran, dass er erst vor wenigen Jahren nach Flensburg gekommen war. Lemmie kannte seine Klassenkameraden durchaus. Da er in dieselbe Schule wie Fine ging, blieb er in den Pausen einfach bei ihr. Ein stiller, kleiner Schatten, der aufmerksam verfolgte, worüber Fine sich unterhielt, mit wem sie stritt oder lachte. Fine schickte ihn nie weg oder genierte sich für ihren anhänglichen kleinen Bruder. Sie rechtfertigte sich nicht für seine Anwesenheit, lief aber zur Hochform auf, wenn jemand es wagte, Lemmie zu hänseln. Ihre wenigen Freunde ersparten sich jeden Kommentar, merkten mehr als einmal überrascht auf, wenn sich Lemmie nach konzentriertem Nachdenken zu Wort meldete. Dumm war er bestimmt nicht, der kleine "Lemming"! Manchmal konnte man glatt vergessen, dass er fünf Jahre jünger war! Zweifellos lag es auch daran, dass Lemmie, um mitreden zu können, sich nicht nur mit eigenem Lernstoff beschäftigte, sondern auch las und nachschlug, was Fines Pensum betraf. Dass er kaum enge, gleichaltrige Freunde hatte, registrierte er gar nicht, nicht mal an seinen Geburtstagen, wenn Fines Freunde vorbeischauten, um mit ihm zu feiern. Fines Schulabschluss kam nach 13 Jahren, noch vor dem G8-Zirkus. Lemmie, frisch in die neunte Klasse gekommen, war plötzlich allein. Er blieb in den Pausen für sich, störte ja niemanden!, dachte nach und vermisste Fine. Irgendein naturwissenschaftliches Wahlfach, das teilte er mit Chai. Sie waren in ein Team eingeteilt worden, um Experimente durchzuführen und die Ergebnisse zu protokollieren. Das war wirklich das erste Mal, dass er mit Chai sprach. Er mochte Chai. Der ärgerte sich nicht, weil er nachdenken wollte und musste, bevor er sich für eine Meinung entschied. Der nahm es ihm nicht übel, wenn er nicht ständig redete. Oder vielmehr kaum etwas sagte. Irgendwann, schleichend, unmerklich, hatte es sich zwischen ihnen eingebürgert, dass Chai ihn um Nachhilfe bat, wenn er etwas nicht verstanden hatte oder noch mal erklärt haben wollte. Das ging weit über ihr Wahlpflichtfach hinaus. Lemmie half gern. Es freute ihn, wenn Chai befreit grinste, seufzte. "JETZT hab ich's auch kapiert!" Wenn Chai mit seinen Freunden unterwegs war, größere Rad- oder Bootstouren, lud er Lemmie ein, ihnen Gesellschaft zu leisten. Es machte tatsächlich Spaß, vermittelte Lemmie ein Gespür dafür, wie er mit Gleichaltrigen umzugehen hatte. Am Ende der zehnten Klasse, während des großen Schulfests, geschah etwas, das Lemmie nie vermutet haben würde. Ein wenig abseits des Trubels rund um ein großes Feuer zog Chai ihn in die Schatten einiger Bäume, sah ihm direkt ins Gesicht. "Lemmie, ich bin verliebt in dich." Erklärte er. An die folgenden Momente konnte Lemmie sich beim besten Willen nicht mehr als bruchstückhaft erinnern. Perplex, ja, vollkommen verblüfft und überrumpelt war er gewesen. Ein Gefühl der Unwirklichkeit hatte ihn ergriffen. Hatte Chai ihn wirklich auf die Lippen geküsst? Oder spielte ihm sein Gedächtnis einen wirren Streich? Lemmie war sich nicht sicher, ob er ein Wort herausgebracht hatte. Ob er oder Chai zuerst vor die Bäume getreten und wieder zu den anderen gegangen war. Er wusste, dass er vollkommen betäubt ins Bett gefallen war, sich wünschte, tief ausschlafen zu können, weil ihm der Kopf so schmerzte. Er hatte darüber nachgedacht. Natürlich. Das konnte er nicht vermeiden, es war eine eingebaute Automatik. Lemmie wusste nicht, wie sich "Verliebtsein" anfühlte. Die vage Diagnose von "Schmetterlingen im Bauch", "rosaroter Brille" etc. erinnerten ihn eher an Nebenwirkungen irgendwelcher halluzinogener Pilze. Bewusstseinstrübung durch hormonelle Supernova, sozusagen. Da er sich gar nicht anders als gewöhnlich fühlte, alltäglich und ohne seltsame Anwandlungen, schloss er, dass er nicht verliebt sei. »Wenn man nicht verliebt ist, ist es unlauter, die Liebe von jemand anderem zu konsumieren!« Das wäre ja eine egoistische Täuschung, ein eigensüchtiger Verrat. Deshalb bat Lemmie Chai um ein Gespräch, setzte ihm leise, bedächtig auseinander, wie es um seinen Gefühlshaushalt bestellt sei. Dass er sich nicht als würdig empfinde, dessen Zuneigung anzunehmen. Hatte Chai es schon geahnt? Lemmie war sich nicht sicher, er kannte solche Szenen nur aus Spielfilmen. Häufig endeten sie in Geschrei, Vorwürfen und Tränen. Im wahren Leben hatte er keine Ahnung, war dankbar dafür, dass Chai ihm nicht so begegnete, es gefasst aufnahm. Ihre Wege hatten sich getrennt, denn Chai ging vom Gymnasium ab. Lemmie versuchte nicht, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Er berichtete Fine, die zwischen Köln und den Niederlanden pendelte, von diesem denkwürdigen Ereignis, bat wie gewohnt um ihre Einschätzung. Fine gab ihm recht. Chai war bestimmt, auch wenn er viel zu höflich war, von der Absage enttäuscht. Da seine Gefühle verletzt waren, sollte es auch seine Entscheidung sein, ob er jemals wieder etwas mit Lemmie zu tun haben wollte. Seltsamerweise, daran erinnerte sich Lemmie, während er sich die Seife abspülte, hatte er keine Gedanken daran verschwendet, dass Chai wie er auch ein Junge war. Fine hatte ihn immer dazu angehalten, den Gegenüber zuerst als Person, als Charakter wahrzunehmen, nicht als Mann oder Frau oder Varianten des Spektrums. So wie er sich selbst in erster Linie als "Lemmie" begriff, nicht als männliche Ausgabe der Spezies Homo sapiens. »Dass ausgerechnet er mir hilft...« Die Schuldgefühle, die in ihm aufstiegen, belegten eindeutig, dass er sich zwar nicht seiner damaligen Entscheidung schämte, jedoch Unbehagen empfand, den Freund "im Stich gelassen" zu haben. Ihm einen Dienst nicht erwiesen hatte. Er raffte den Duschvorhang vorsichtig, schob ihn auf die Seite, um nicht das winzige Bad unter Tropfwasser zu setzen. Erwartete Chai von ihm, dass er die Sprache auf ihre letzte Unterhaltung vor sechs Jahren brachte? Oder wollte der den Mantel des Schweigens über die Vergangenheit breiten? Ratlos angelte sich Lemmie ein Handtuch, frottierte sich rasch, rubbelte durchaus konsterniert seinen Schopf trocken. »Definitiv gruselig.« Testierte er erneut. Nein, scheußlich traf es noch besser. In einem kleinen Plastikkorb fanden sich quer über dem Waschbecken eine Garnitur Leibwäsche, Wollsocken und ein Jogginganzug. Lemmie schlüpfte in die Wäsche, streifte Socken und Jogginghose über, bevor er vom Angebot des elektrischen Rasierapparates Gebrauch machte. Das verbesserte sein Erscheinungsbild im Spiegel nur unwesentlich. Er säuberte das Waschbecken umsichtig, zog sich den Joggingpullover über den Kopf, justierte die Brille. Ohne die klebrige Pflegecreme des Haarfärbemittels fielen ihm seine Haare wie gewohnt ins Gesicht. Nun ähnelte er, in gewisser Weise, seinem Fahndungsfoto ein wenig. Als er sich umsah, bemerkte er, dass seine Kleider und der Rucksack verschwunden waren. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Hastig trat er aus dem winzigen Badezimmer, wäre beinahe mit Chai zusammengestoßen, der aus der lukullischen Einmannzelle gerade ein Tablett balancierte. "Fertig? Ah! Jetzt siehst du dir schon etwas ähnlicher." Chai grinste. "Entschuldigung, meine Kleider... und mein Rucksack...?" Lemmie ging auf das neckende Kompliment nicht ein. Chai hob die Augenbrauen ein wenig. "Der Rucksack steht im Wohnzimmer vor der Heizung, damit er trocknet. Deine Kleider habe ich in die Waschmaschine im Keller gesteckt. Die hatten auch eine Dusche nötig." Er zwinkerte. "Entschuldigung! Danke und... entschuldige, dass ich dir solche Umstände bereite." Lemmie lief vor Scham rot an, murmelte verlegen. "Tust du nicht." Hörte er Chai sagen, während er auf seine Wollsocken starrte, sich gar nicht auszumalen wagte, wie sehr er gestunken haben mochte! "Komm in die gute Stube, ich habe Tee und ein paar Pfannkuchen gemacht." Mit gesenktem Haupt folgte er Chai in das kleine Wohnzimmer unter der Dachschräge. Tatsächlich hockte sein Rucksack wie ein erlegtes Tier auf einer Zeitung vor dem Heizkörper. "Bitte setz dich" Chai stellte das Tablett auf einem niedrigen Tisch ab, der vor einer Bettcouch stand. "Danke schön" Lemmie klappte artig zusammen. "Vielen Dank auch für die Wäsche. Und die Dusche." Chai schmunzelte. "Du hast dich nicht verändert. Immer noch so höflich wie früher." Lemmie nahm stumm eine Tasse Tee und einen Teller mit puderbezuckerten Pfannkuchen entgegen. Für einen Moment betrachtete er das Dekor, Ostfriesische Teerose auf weißem Porzellangrund. Die rosenfarbene Blüte im Mittelpunkt, daneben rote, knuddelige Knospen und Blattgrün. Chai bemerkte seinen Blick, lächelte sanft. "Die habe ich von Flensburg mitgenommen. Freya hat sie mir geschenkt. Onkel Moks Freundin, erinnerst du dich?" "Ja." Lemmie nickte, strich mit dem Daumen über die Teerose. "Wir hatten auch solches Porzellan. Wie geht es deinem Onkel und Freya?" Erkundigte er sich höflich. Chai war nicht entgangen, dass Lemmies Gedanken an einem anderen Ort weilten. Er wusste genau, wo sich dieser Ort befand. "Es geht ihnen gut. Sie haben letztes Jahr geheiratet." "Das ist schön." Kommentierte Lemmie, nippte an seinem Tee. Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. Nicht nur die Sahnewolke vom Rand verriet, dass Chai ihm einen Willkommensgruß servierte. Er ahnte unter dem herben Geschmack auch den Kluntje, der am Tassenboden langsam sein Kandis abgab. "Wie geht's Fine?" Erkundigte sich Chai, alle Aufmerksamkeit wie ein Habicht auf Lemmie gerichtet, damit ihm keine verräterische Regung entging. Lemmie zögerte, starrte ins Leere, balancierte seine Teetasse in halber Höhe. Es dauerte eine Weile, bis er sich zu einer Antwort aufraffen konnte. "Gut. Es geht ihr gut. Sie hat einen Sohn, Henri. Zwei Jahre alt." "Lebt sie in Flensburg? Wo deine Eltern sind?" Chai nahm Lemmie die Porzellantasse behutsam aus der bebenden Hand. "Nein." Lemmie schien es überhaupt nicht zu registrieren. Sein fahles, maskenhaftes Lächeln fratzte das Bücherregal hinter dem Fernsehgerät an. "Sie wohnt in Wellington. Neuseeland. Für die Feiertage ist sie zurückgekommen..." Lemmie presste die Handballen gegen seine randalierenden Schläfen. Diese verwünschte Migräne!! Ohne es zu merken wiegte er sich leicht vor und zurück, murmelte kaum hörbar. "... möchte sie noch mal sehen... Fine... noch mal sehen..." Chai zögerte nicht, dass Geschirr beiseite zu stellen, sich direkt neben Lemmie zu platzieren, die kühlen Hände auf dessen Wangen zu legen. Die Stirn gegen Lemmies gelehnt raunte er eindringlich. "Lemmie, was ist denn los? Willst du mit ihr sprechen? Rufen wir sie an, ja?" "..nein...nein." Lemmie schüttelte den Kopf, stöhnte leise. "Nicht anrufen. Im Rucksack...Tabletten..." "In Ordnung, ich hol sie dir." Widerstrebend gab Chai Lemmie frei. Er stand auf, holte den Rucksack, breitete dessen Inhalt auf dem niedrigen Tisch aus. Die Kopfschmerztabletten fanden sich in einer zerdrückten Kartonage. "Ich bring dir Wasser." Entschied Chai, nachdem er besorgt die Anzahl der ausgedrückten Plastikkapseln überschlagen hatte. Entschieden zu viel Schmerzmittel für einen einzigen Kopf! Lemmie angelte nach den Tabletten, hielt inne, als er bemerkte, wie sehr seine Hände zitterten. »Nimm dich doch zusammen! Bist du nicht sauber, in Sicherheit und hast es warm?!« Ermahnte er sich durch die Wellen der Pein. Sein Kopf, der jede Verlagerung um einige Grade übelnahm, ignorierte diese Aufzählung geflissentlich. Er bemerkte nicht, dass Chai zurückkehrte, seine zitternde Linke nahm, zum Wasserglas führte, sie darum schloss. Eilig spülte Lemmie die Tabletten herunter, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. "Willst du dich flach legen?" Chai kämmte ihm Strähnen aus dem Gesicht, angespannt und besorgt. Lemmie schüttelte langsam den Kopf, was er sofort bereute, kämpfte mit heftigen Brechreizattacken. Es dauerte eine unerträglich lange Weile, bis er ächzend Luft holen konnte, ohne würgen und krampfen zu müssen. "...tut mir leid... Wirklich, es tut mir leid..." Flüsterte er gepresst. "Kein Grund dafür." Antwortete Chai strikt, tupfte mit einem feuchten Waschlappen über Lemmies Gesicht. "Ich glaube, du hast Fieber. Wie lange warst du unterwegs?" Lemmie bemühte sich, die verklebten Wimpern zu trennen, um die Augen zu öffnen. "..weißt du, was ich... getan habe?" Fragte er gurgelnd. Automatisch reichte Chai ihm das Wasserglas, stützte seine zitternde Hand ab. "Wenn du diese seltsame Geschichte meinst, da kenne ich nur das Zeug aus dem Fernsehen. Nachrichten und so." Chai setzte sich zurück, studierte Lemmies vertraut-fremdes Profil. Er konnte deutlich erkennen, dass es hinter dem bleichen, schmerzerfüllten Gesicht arbeitete. "...ich möchte... möchte nicht, dass du in Gefahr gerätst." Seine graugrünen, entzündeten Augen suchten Chais dunkelbraune. "Jetzt stecke ich schon mittendrin." Chai streckte die Hand aus, um Lemmie erneut verfärbte Strähnen aus dem Gesicht zu kämmen. Lemmie, eine Wange gegen die Couchpolsterung geschmiegt, betrachtete ihn stumm, abgekämpft. Chai hatte sich verändert, einen Schub getan. Die Schultern waren breiter, die schönen Haare zu einem wilden Fransenschnitt frisiert, sein Lächeln wachsamer, vorsichtiger geworden. In seinem Blick konnte er keine Häme, keine Vergeltungsfreude lesen. Langsam beugte sich Lemmie vor, klappte seinen Laptop auf. Darin lag, provisorisch in Papiertaschentücher gewickelt, eine gestanzte Aluminiumtafel. Leise begann er, von Desi und Käpten, Frau Blöcher und Hannes, dem Dachboden, dem "verlorenen" Gepäck und den verrückten Tagen danach zu erzählen. ~+~ Tag 21 An Schlaf war nicht zu denken. Youji ließ den Fernseher laufen, tigerte auf und ab, setzte sich kurzzeitig auf die Couch, um erneut seinen nervösen Gang aufzunehmen. Es durfte nichts passieren! Die Vorstellung, seinen Iwaki-san zu verlieren, bereitete ihm würgende Angst. Nie zuvor hatte er sich so sehr verliebt, als er diesem einen Mann begegnete, so stolz und schüchtern zugleich, hochfahrend und bange, kühl und scheu. Er wusste, dass sie ohne einander nur schlecht mit dem Leben zurechtkämen, in dieser künstlichen Scheinwelt, die von Illusionen und Gaukeleien zehrte. Ohne eine Rettungsleine zu einem anderen, realen Menschen würde einem die Seele ausgesaugt, der traurige Rest wie Abfall ausgespien. "Iwaki-san... Iwaki-san..." Flüsterte er immer wieder. Nur nicht den Mut verlieren, nie die Zuversicht aufgeben! Wahrscheinlich machte sich sein sanfter, zärtlicher Geliebter mehr Sorgen darum, wie es ihm jetzt erginge. Dass er schmollen möge oder enttäuscht sein! Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über Youjis angespannte Züge. Sein Iwaki-san war wirklich nicht verwöhnt, ein untypisches Nesthäkchen! Immer besorgt, um Ausgleich bemüht, niemandem weh und allen wohl. Nun, beinahe. Es verblüffte Youji noch immer, dass ER die einzige Person war, der gegenüber sein Iwaki-san süffisant-hochfahrend begegnet war. Als sie Konkurrenten im Pornofilm-Milieu waren. Reserviert, distanziert, ja, das hatte der Leumund schon verkündet, ein klassischer Prinz, aber spöttisch oder arrogant? Niemals! Ohne es zu merken musste er schon damals, bei ihrer ersten Begegnung, die Grundfesten seines Liebsten erschüttert haben. »Gerade weil ich ihm so viel bedeute...!« Genau deshalb musste er anders als in seiner "wilden" Jugend darauf achten, was er sagte und tat. Erwachsen werden. Zumindest etwas erwachsener. Umgekehrt konnte er sich selbst nicht vorstellen, ohne seinen Geliebten zu sein. Kyousuke Iwaki war DER besondere Mensch in seinem Leben, seine Inspiration, sein Motor, sein Rückhalt! Weil es ihn gab, weil sie zusammen waren, konnte er jeden Tag mit Energie und Zuversicht beginnen. Es DURFTE ihm einfach nichts zustoßen! ~+~ Kyousuke war vollkommen erschöpft, verfroren und erledigt, als er mit den anderen Reisenden, seine Reisetasche in der Hand, an einem Busbahnhof abgesetzt wurde. Einige winkten energisch nach Taxen, um den anderen zuvorzukommen. Die Nerven lagen blank. Er wollte sich nicht an den Streitigkeiten beteiligen, marschierte einfach los. Vielleicht konnte er unterwegs ein Taxi anhalten. Möglicherweise wurde ihm durch die Bewegung auch warm? Eine Viertelstunde später, entlang der Bahnlinie, die ihm als Orientierungspunkt diente, konnte er ein freies Taxi anhalten. Die ersten Werktätigen waren schon wieder unterwegs. Langsam belebten sich die Außenbezirke der Metropole. Müde lehnte er sich in den Sitz, dankbar für das höfliche Schweigen des Fahrers. Trotz der Bewegung an der kalten, von Regen getränkten Luft fror er noch immer. Als das Taxi vor der Garage hielt, riss Youji bereits die Eingangstür auf, beleuchtete den kurzen Gehweg. Lediglich in Jeans und ein dünnes Sweatshirt gehüllt stürzte er hinaus, riss Kyousuke in seine Arme, noch bevor der die Reisetasche vom Trottoir heben konnte. Diskret entfernte sich das Taxi. "Iwaki-san...Iwaki-san..." Stöhnte Youji in das Ohr seines Liebsten, hielt ihn fest, mit aller Kraft, presste sich an den schlanken Körper. Kyousuke lehnte sich schwer auf ihn, wisperte heiser. "Katou, bitte lass uns reingehen. Es ist so kalt hier." Kaum hatte er die letzte Silbe ausgesprochen, da hatte Youji bereits die Reisetasche hochgerissen, führte ihn an der Hand hinein ins Haus. Im Eingang streifte er eilig die Slipper ab, kniete sich vor Kyousuke, um die Schnürsenkel der gefütterten Stiefel zu lösen. "Danke." Kyousuke lehnte mit der Schulter an der Wand. Glücklich zu Hause drohte die Erschöpfung ihn zu übermannen. "Ein Bad!" Drängte Youji heiser, fasste ihn unter. "Ich werde dich aufwärmen, Iwaki-san!" Sie meisterten die Treppe, auch wenn Kyousuke Mühe hatte, die Beine zu heben. Im Badezimmer pellte ihn Youji aus seinen Kleidern, während er die Wanne aufheizte. Hastig streifte er sich selbst seine textilen Hüllen ab, um bei Kyousuke auf den Fliesen zu knien. Der kauerte auf einem niedrigen Badehocker, unterdrückte ein Zähneklappern. Es war weniger der Temperatur als seinem psychischen Zustand geschuldet. Mit zärtlichem Nachdruck rieb Youji ihm die Glieder ab, massierte aufgeschäumtes Shampoo in die lackschwarzen Haare, schmiegte sich selbst eng an den älteren Mann, ließ ihn spüren, dass er da war, handfest und warm. Er half Kyousuke auch umsichtig in die hohe Wanne, hielt ihn in seinen Armen, achtete darauf, dass sein Partner nicht von der Hitze benommen wurde. Ein dezenter Sprudeleffekt half, die matten Glieder ein wenig aufzulockern. Sie sprachen nicht. Das war einfach nicht nötig. Einigermaßen aufgetaut ließ sich Kyousuke sogar in den Pyjama helfen, nachdem Youji ihn abgetrocknet hatte. Vor seinem Bett im Schlafzimmer zögerte er allerdings. "Stimmt was nicht, Iwaki-san?" Youji beäugte ihn besorgt, kämpfte mit den lästigen Knöpfen seines Pyjama-Oberteils. Er trug im Bett am Liebsten Boxershorts. Die waren leicht abzustreifen, wenn man sich Vergnügen verschaffen wollte. "..." Kyousuke brachte die Silben im ersten Anlauf nicht über die Lippen. "Lass uns zusammen schlafen, ja? Ich habe dich so sehr vermisst!" Bot Youji an. Kyousuke schenkte ihm ein bleiches Lächeln. Diese Worte hätte ER aussprechen müssen. Willig ließ er sich unter die Decke ziehen, kuschelte sich beinahe erstickend eng an seinen Liebhaber. Vage, im Halbschlaf, registrierte er, wie Youji ihm über den Rücken und durch die Haare streichelte, beruhigend, zärtlich. Er wisperte nur einmal heiser. "Katou..." Dann fielen ihm die Augen zu. ~+~ Youji erlegte seinen Wecker mit einem ärgerlichen Handkantenschlag. Er seufzte, sank in Kyousukes Kopfkissen zurück. Zur Arbeit WOLLTE er wirklich nicht gehen! Nicht nur, weil die "Nacht" sehr kurz ausgefallen war, nein, er sorgte sich um Iwaki-san! Der schlief an seiner Seite, an ihn geschmiegt wie an ein Stövchen, so tief und fest, dass nicht mal ein Feuerwerk ihn aus den Träumen gerissen hätte. Unwillig löste er sich behutsam aus der Umarmung, erhob sich, stopfte sorgsam die Decke um Kyousuke fest. Der "Tag" vor dem Fenster war düster, grau und peitschte Regenwolken über den Himmel. Eigentlich sollte man sich bei so einem Wetter im Bett verkriechen! Mit einem ärgerlichen Zug um die Mundwinkel verließ er das Schlafzimmer, erleichterte sich rasch im Badezimmer, warf sich einen Frottee-Bademantel über. Das Telefon blinkte hysterisch. Youji funkelte es bitterböse an, verzog sich in die Küche, wo er ein Glas Orangensaft frühstückte. Er wagte sich pflichtgetreu, wenn auch wenig erfreut an das SOS-morsende Kommunikationsgerät. Natürlich, Anrufe seiner Eltern, seiner Schwester, von Frau Mizuno, dem Aufnahmeleiter... Alle wollten erfahren, wie es Iwaki-san ging oder wann er zur Arbeit kommen würde! Zunächst telefonierte er kurz mit seinen Eltern und seiner Schwester, um ihnen zu versichern, dass seinem Lebenspartner nichts geschehen sei. Er beantwortet Frau Mizunos aufgeregte Nachricht, gab ihr im Vertrauen eine kurze Einschätzung darüber, wann man mit der Aufnahme der Arbeit rechnen könne. Nach seinem Dafürhalten verdiente Iwaki-san einen freien Tag, um sich zu regenerieren! Frau Mizuno teilte seine Auffassung durchaus, versicherte, sie werde sich mit der Agentur um Vermittlung bemühen. Dass Kyousuke nach einer Reise mit derartig gastronomischen Schwerpunkten immer noch gertenschlank zurückkehrte, verblüffte sie ebenfalls. Die weiteren Anrufe ließ er unbeantwortet. Das hatte ja wohl Zeit! Nicht so viel von diesem kostbaren Gut stand ihm allerdings zur Verfügung. Auch an diesem Tag wurden weitere Folgen der beiden TV-Dramen aufgezeichnet! Das bedeutete, dass er bald aufbrechen musste. ~+~ Kyousuke erwachte, für einen Moment desorientiert. Er erkannte sein Schlafzimmer, auch wenn es in ein trübes Licht gehüllt war. Er setzte sich auf, blickte um sich. Neben dem Bett wartete sein Mobiltelefon, blinkend. »Katou... musste sicher zum Set...« Ermahnte er sich, bevor die Enttäuschung ihn überwältigen konnte. Er spielte die Nachricht ab, die Youji für ihn mit dem Mobiltelefon aufgezeichnet hatte. Wie zerknirscht er sich entschuldigte, versicherte, er werde so schnell wie möglich zu ihm zurückkehren! Kyousuke lächelte, strich mit dem Daumen über den kleinen Bildschirm, als könne er den virtuellen Youji liebkosen. Seufzend erhob er sich, wickelte sich in seinen Hausmantel, den Youji für ihn einladend drapiert hatte, wanderte durch ihr Haus. Selbstredend konnte er den blinkenden Anrufbeantworter nicht unbeachtet lassen, erledigte artig seine Korrespondenz. Frau Mizuno, seine kompetente Assistentin, hatte bereits einen freien Tag ausgehandelt. Außerdem sah es so aus, als wäre die Postproduktion ihrer ausgedehnten Reportage nicht so umfangreich, weil Ginger nicht allzu oft gepfuscht hatte. So konnte er sich wenigstens seiner Freizeit gewiss sein. Im Anschluss meldete er sich bei Youjis Eltern und bei Youko, der Zwillingsschwester. Sie bedankten sich alle für die bereits eingetroffenen Präsente, auch wenn Youko klagte, dass ihr notorischer Nachwuchs bereits das Haus in Trümmern zu legen drohte! Eine kleine Werkbank für Kinder aus Holz, das war doch gerade für Yousuke eine Einladung! Diese nicht ganz ernst gemeinte Klage amüsierte Kyousuke, der artig Abbitte leistete. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Yousuke eifrig herumwerkelte, mit großen, funkelnden Augen, Katou so ähnlich, dass es ihm manchmal den Atem raubte! Nach einer aufwärmenden Dusche zog er sich an, betrat die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. So entging ihm nicht, was Youji für den vergangenen Abend vorbereitet hatte. Die traurigen Reste waren noch nicht entsorgt worden. Beklommen schüttete er die abgesetzte Consommee weg, beerdigte den zerfallenen Fisch. Die Schokoladennachspeise konnte noch verzehrt werden, aber sie wirkte traurig und allein in ihrer vornehmen Dessertschüssel. Obwohl höhere, beziehungsweise niederträchtige und abgefeimte Gewalt eingegriffen hatte, fühlte sich Kyousuke schuldig. Er hatte seinem Lebenspartner weder ein schönes Weihnachtsfest gewünscht, ihn seiner Liebe versichert, noch war es ihm gelungen, sein Reisemitbringsel zu überreichen. »Armselig! Du solltest dich schämen!« Kanzelte er sich selbst ab. Er nippte lediglich an seinem Tee, verzichtete auf feste Kost, bemühte sich, seine Schmutzwäsche ordnungsgemäß dem Waschvollautomaten anzuvertrauen. »Wenn du wenigstens kochen könntest! Da hättest du die Möglichkeit, ein wenig wiedergutzumachen!« Hielt er sich vor. Wie war das noch mit seinem Vorhaben, sich für einige freie Tage mit Katou einzuigeln? Sollten sie etwa die Tapete von der Wand kauen?! Wütend, weil er in den eigenen Augen eine derart schwache Vorstellung bot, zog Kyousuke sich um, steckte die Börse ein, sammelte die Autoschlüssel auf. Ganz UNFÄHIG war er doch nicht!! ~+~ Youji lächelte, als er aus dem Fond des Firmenwagens kletterte, dem Fahrer zuwinkte. Das Haus war erleuchtet, was bedeutete, dass sein Liebhaber aufgestanden war, offensichtlich Aktivitäten frönte! Als er die Tür öffnete, umschwebten ihn appetitliche Aromen. Kyousuke stürzte herbei, noch mit einer Schürze geschmückt, offenkundig von seiner frühzeitigen Rückkehr überrascht. "Hello darling!" Schmetterte Youji wie ein Startenor, strahlte Kyousuke an. Der streifte eilig die Schürze ab, warf sich Youji in die Arme. Nun war ER von dieser Entwicklung überrascht. Das hinderte ihn keineswegs daran, die Arme fest um den älteren Mann zu schlingen, sich übermütig mit ihm im Kreis zu drehen. "Guten Abend." Schmunzelte er vergnügt in Kyousukes Gesicht. Mit einem offenen Lächeln antwortete Kyousuke ebenso sanft. "Guten Abend." Artig stellte Youji ihn wieder auf die Füße, streifte seine Turnschuhe ab. Als er sich gerade den Parka von den Schultern schütteln wollte, packte Kyousuke die Aufschläge mit beiden Händen, sodass Youjis Arme, die halb in den Ärmeln steckten, gefesselt waren. "Ich..." Kyousuke holte tief Luft, verdrängte die aufkeimende Scham. "Ich liebe dich, Katou." Da war es heraus, die erste Erfüllung seines Gelübdes! Youjis Augen weiteten sich ungläubig. Mit offenem Mund starrte er Kyousuke an. Ohne Ankündigung schniefte er heftig, zog Kyousuke in eine leidenschaftliche Umklammerung, schluchzte. "Ich liebe dich auch, Iwaki-san! Über alles, für immer und ewig!" Mit klopfendem Herzen schmiegte sich Kyousuke an Youji an, lauschte auf dessen heftig pochenden Pulsschlag, die hastigen Atemzüge. Er wusste um Youjis impulsive Natur, die heftigen Gefühlsausbrüche. Zuerst hatte er sich geschämt, fand sie unpassend. Nun wusste er sie mehr als zu schätzen. Er vertraute auf sie, provozierte sie, genoss ihren Sturm, der ihn mitriss, keine Erklärungen verlangte. Youji machte es ihm einfach. "Ich habe dir auch etwas mitgebracht. Möchtest du es nicht auspacken?" Wisperte er in die dicken, hellbraunen Strähnen, küsste das mit einem schlichten Ring geschmückte Ohrläppchen. Youji stöhnte leise. "Ich weiß, dass du auch gekocht hast und ich zuerst duschen sollte, aber..." Er zog sich ein wenig zurück, sah Kyousuke ins Gesicht. In seinen Augen loderte ungeschminkter Hunger, ein beinahe archaisches Verlangen. "Das Essen kann warten." Bestimmte Kyousuke heiser, rieb sein Becken an dem des jüngeren Mannes. ~+~ "Nicht aufhören!" Protestierte Kyousuke atemlos, kauerte vor seinem Liebhaber, die Wange in Youjis Kopfkissen vergraben, dessen Duft ihn wie ein wertvolles Parfüm umgab. Ohne seinen Appell zu beachten zog sich der jüngere Mann zurück, streichelte nachdrücklich über die sehnige Kehrseite seines Liebhabers. Er beugte sich tief über ihn, schmiegte sich ganzkörperlich an, raunte in die feuchten, schwarzen Strähnen. "Lass mich dich sehen, Iwaki-san! Bitte!" Wie konnte er da widerstehen?! In seinem Körper pochte es nachdrücklich, spitzte sich besonders in seinem erregten Glied zu einer Wünschelrute zu, die auf einen Fluss gestoßen war. Zittrig, ungelenk rollte er sich erst auf die Seite, ganz auf den Rücken, steckte verlangend die Arme nach seinem Liebsten aus. Youji umfasste die weißen Hände, drückte sie leidenschaftlich an seine Lippen, leckte begehrlich über die Handteller, bevor er die Fingerspitzen in seinen Mund führte, an ihnen saugte. Kyousuke winselte. Er war zwar ein routinierter Profi, was Pornodarstellungen anging, aber Intimitäten mit Youji brachten ihn beinahe beschämend schnell an die Grenzen der Leidensfähigkeit. Er WOLLTE auch nicht ständig geduldig, reserviert, überlegen sein! Seine Wangen brannten, seine Augen tränten, er hörte den eigenen Atem wie abgehackt über die aufgesprungenen Lippen raspeln. "Katou!" Fauchte er kehlig, entzog seine Hände der feuchten Aufwartung, packte hellbraune Strähnen. "Sofort!" Youji blinzelte, lächelte wie ein Raubtier unter halb gesenkten Lidern. Sein erster Vorstoß in Kyousukes Leib hatte genug Schwung, um diesen einige Zentimeter hoch Richtung Kopfende des Betts zu treiben. Kyousuke entrang sich ein unartikulierter Schrei. Er grub die Fingerspitzen in Youjis Oberarme. Keuchend belauerten sie einander. "...Katou..." Winselte Kyousuke schließlich. Seine aufgestellten Beine zitterten so heftig, dass er die Muskelkrämpfe bis in seinen Bauch spürte. Auch wenn Youjis Oberschenkel unter seinem Hintern ihn abstützten, musste er aus eigener Kraft die halbe Rückwärtsrolle aushalten. Youji beugte sich tiefer. Sein Anhänger streifte prickelnd über Kyousukes Brustbein. Er haschte die flache Plakette mit den Zähnen, schloss die Augen, als Youji ihm Tränen aus den Winkeln leckte. "...Iwaki-san..." Wisperte Youji zärtlich, zog sich zurück, um die Knie zu spreizen, unter Kyousukes Rücken zu fassen, ohne erkennbare Mühe den älteren Mann auf seinen Schoß zu heben. Der klammerte sich instinktiv am breiten Rücken seines Liebhabers fest, konnte einen weiteren Ausruf aber nicht ersticken, als er hochgehoben wurde. Zwar konnte er das eigene Gewicht mit den auf die Matratze aufgestellten Füßen ein wenig abfangen, aber zitternde Knie und die Schwerkraft arbeiteten gegen ihn. Youji federte in ihrer intimen Verbindung. Mit jeder Bewegung entlockte er Kyousuke ein heiseres Stöhnen, presste den älteren Mann eng an sich. Der schluchzte, keuchte und feuerte ihn gleichzeitig an, eruptierte gegen seinen muskulösen Bauch. Das hinderte Youji nicht daran, immer wieder in seinem drängenden Rhythmus zuzustoßen, bis er selbst Erlösung gefunden hatte. Selbst lange Augenblicke nach diesem elysischen Höhepunkt hielt er Kyousuke fest in seinen Armen, wiegte ihn wie ein Kind, wisperte immer wieder, wie sehr er ihn liebte. ~+~ Tag 22 Chai mümmelte nachdenklich einen abgekühlten, zusammengerollten Pfannkuchen, nahm Schlucke von seiner achten Tasse Tee. Im Radio wurde das Ende der Christmette übertragen, bildete den Hintergrund ihres konspirativ-ermatteten Schweigens. "Wir könnten es morgen versuchen. Fahren wir nach Flensburg!" Schlug er leise vor, wandte sich zu Lemmie um, der in eine Decke gewickelt neben ihm döste. Lemmie blinzelte, setzte sich ungelenk auf. Chai nagte an einem Daumen. "Normalerweise brauche ich mit dem Golf sechseinhalb Stunden. Wenn wir gegen Mittag losfahren, sind wir abends da." Neben ihm seufzte Lemmie leise. "Das Haus meiner Eltern steht unter Polizeischutz. Wir kommen nicht an sie heran." Er schreckte auf, als Chai ihn bei den Schultern packte. "Wir müssen nur nahe genug herankommen, oder?! Du willst Fine doch sehen, nicht wahr?! Sie halten sie ja nicht fest!" Lemmie presste die Lippen aufeinander. "Wir fahren erst zu Onkel Mok." Erklärte Chai eifrig sein Vorhaben. "Ich rufe ihn morgens an! Er ist zwar bei Freyas Leuten, aber ich habe seinen Zweitschlüssel. Von Onkel Mok aus rufe ich bei deinen Eltern an." Er konnte Lemmies zweifelndem Gesichtsausdruck entnehmen, dass sein Plan noch nicht exakt genug war. "Du hast Fine doch von mir erzählt, oder?" Chais dunkelbraune Augen wurden schwarz. "Von damals? Wenn ich nach ihr frage, versteht sie, was los ist, ohne dass ich dich erwähnen muss. Wir machen einen Treffpunkt aus." Lemmie senkte den Kopf. "...ich wusste nicht, was ich tun sollte. Fine weiß immer Rat... und ich wollte niemanden verletzen..." Antwortete er heiser, beschämt. Chai entwich ein Schnauben, bevor er es zurückhalten konnte. Lemmies Schwesterkomplex war legendär. Wie hätte der auch anders handeln können? "Hauptsache ist, dass sie begreift, wer ich bin und sich mit mir trifft. Da kannst du sie auch sehen." Chai fasste Lemmie unters Kinn, zwang ihn, wieder Blickkontakt aufzunehmen. Zu dem DANACH schwieg er sich lieber aus. Eine Zukunft über das erhoffte Wiedersehen mit Fine hinaus gab es nicht. "So wird's gemacht!" Bestimmte Chai energisch. "Jetzt gehen wir schlafen, damit wir morgen... ich meine heute.. fit sind!" Er federte von der Couch hoch, wickelte Lemmie geschickt aus der Decke, half ihm auf die Beine. "Komm!" Am Handgelenk zog er ihn hinter sich her in sein kleines Schlafzimmer. Ein flaches Bett, eingerüstet mit bunten Kissen, stand in einer Ecke unter der Dachschräge neben dem Fenster. Am Fußende wartete ein alter Bauernschrank und unterhalb des Fensters neben dem Bett ein winziger Klapptisch mit einer angeschraubten Leuchte. "Zieh schon mal den Anzug aus, ich räume noch ein bisschen auf und komme nach." Ordnete Chai an, ließ Lemmie allein zurück. Der sank schwer auf die niedrige Bettkante, den Kopf in beiden Händen. Er wollte, ja er WOLLTE so gern zu Fine! Aber irgendwo in seinem Inneren zweifelte er am Erfolg ihres Vorhabens. Vielleicht, weil er es nicht verdient hatte. Weil er ohne es zu beabsichtigen, so viele Menschen unglücklich gemacht hatte. Weil er sich nicht genierte, die Hilfe eines Freundes auszunutzen, den er vor sechs Jahren so schlecht behandelt hatte. ~+~ Chai räumte den niedrigen Tisch ab, spülte in der winzigen Küche das Teegeschirr, ging leise hinunter in den Keller, um nach der Wäsche zu sehen. Sie war glücklicherweise durch das gesamte Programm gelaufen, musste nur noch geborgen werden, damit er sie in seinem Badezimmer aufhängen konnte. Lemmies Geschichte gab ihm zu denken, deshalb hatte der Schlaf sich hinten anzustellen. Außerdem rechnete er damit, dass die Müdigkeit Lemmie besiegen würde, bevor er sein Schlafzimmer betrat, damit weitere Peinlichkeiten unterband. Dabei genierte er sich keineswegs, vor sechs Jahren in Lemmie verliebt gewesen zu sein. Es tat weh, die Hilflosigkeit und den Schmerz in den graugrünen Augen zu sehen. Es erinnerte ihn an jenen Tag, als er mit klatschnassen Händen und rebellierendem Magen auf Lemmies Antwort wartete. Der Ausdruck war derselbe. Trotzdem kam es ihm nicht einen Sekundenbruchteil in den Sinn, Lemmie nicht zu helfen, ganz gleich, wie schwierig oder gefährlich es sein würde. "Du bist ein Dummkopf." Schalt er sich selbst. Sechs lange, ereignis- und erfahrungsreiche Jahre waren verstrichen. »Und ich liebe ihn noch immer.« ~+~ Chai rüttelte Lemmie behutsam an der Schulter. Es ging auf Mittag zu. Er hatte eine Mahlzeit vorbereitet, die hoffentlich die lange Fahrt erträglich machen würde. Lemmie schreckte hoch, murmelte. "Käpten?! Was ist?!" "Nicht Käpten. Ich bin ein bisschen größer als dein Kater." Chai musste grinsen, reichte Lemmie die hektisch gesuchte Brille. "..oh... Entschuldigung!" Lemmie räusperte sich mit trockenem Hals. "Manchmal weckt er mich, deshalb... tut mir leid." Chai kämmte Lemmie Strähnen aus dem Gesicht. "Guten Morgen und frohe Weihnachten." "...frohe Weihnachten." Murmelte Lemmie, die Augen niedergeschlagen. Es war seinem Gesicht abzulesen, dass er dieses Weihnachten nicht als "froh" betrachtete, sich daran eine erhebliche Mitschuld gab. "Wasch dich, gurgel mit Mundwasser und komm frühstücken!" Betont unbeeindruckt federte Chai von seinem Bett hoch, verließ sein kleines Schlafzimmer. Lemmie orientierte sich, achtete darauf, sich nicht den Kopf anzuschlagen, rutschte dann Richtung Bettkante. Neben dem Bett, auf einem Klapphocker, wartete bereits seine gewaschene und gebügelte Kleidung. Er wechselte rasch die Sachen, huschte ins Badezimmer, um sich zu erleichtern und Chais Anordnungen Folge zu leisten. Im Wohnzimmer wartete ein Frühstück. Nun, Suppe, Nudeln mit gedünstetem Gemüse, ein Spiegelei pro Nase, aufgebackene Tiefkühlbrötchen und natürlich viel Tee. "Tja, mehr kann ich leider nicht bieten. Bitte iss trotzdem ordentlich. Wird ein langer Tag." Erklärte Chai, winkte Lemmie heran. "Danke. Danke für alles." Lemmie presste die Lippen zusammen, sah Chai dann direkt in die Augen. "Du hast so viel für mich getan." Chai lächelte bloß, konnte keine Silbe über die Lippen bringen. Stattdessen wandte er sich ab, um Kluntje in die Porzellantassen zu setzen, mit Tee aufzufüllen, bevor er die Sahnewolke kleckerte. Schweigend verzehrten sie das üppige Frühstück gegen Mittag. Obwohl es sehr eng war, bestand Lemmie darauf, beim Abwasch zu helfen. Chai packte anschließend eine kleine Kühltasche mit belegten Brötchen voll, füllte Tee in eine Thermosflasche ab. "Ich werde gleich noch mal die Route prüfen. Ein Navi kann ich mir nicht leisten. Hast ja meinen armen Golf gesehen." Erklärte Chai, verkabelte einen kleinen Mobilcomputer, um sich ins Internet zu wählen. Lemmie, der auf der Couchkante neben ihm hockte, wagte scheu eine persönliche Frage. "Warum bist du nicht bei deinem Onkel? Zu den Feiertagen?" "Oh. Ich habe Notdienst. Arbeite bei einem Elektrobetrieb." Chai hob abgelenkt die beweglichen Augenbrauen. "Ah. Deshalb warst du im Tempel. Bist du schon fertig mit der Ausbildung?" Lemmie lächelte. "Hmmm." Brummte Chai abwesend. "Gesellenbrief. Abschluss als Elektroniker mit Fachrichtung Energie- und Gebäudetechnik. Geht auch mit mittlerer Reife." Er zog einen Daumen an den Mund, nagte an der Kuppe. "Was ist los?" Erkundigte sich Lemmie leise, fast ein wenig betäubt. Hatte er es nicht geahnt? Chai huschte mit der Maus, neue Seiten wirbelten, weitere Anfragen... Abrupt stand er auf und trat ans Fenster. Lemmie drehte den kleinen Computer zu sich. Die Ausfallstraßen wurden vollständig kontrolliert. Straßensperren überall. Sie saßen in Köln fest. ~+~ Die geleerten Teller stapelten sich auf der Seite, während der Laptop vor Youji auf dem Esstisch präsidierte. Eingeschoben war der USB-Stick mit der skizzierten Winterlandschaft, die Werbung für den Themenpark bei Sapporo. Youji bediente das Touchpad, während sein linker Arm sich vertraulich um Kyousukes schmale Taille schmiegte. Der saß in Pyjamas und einem Hausmantel auf seinem Schoß, die Arme um seinen Nacken geschlungen. Mit leiser, noch ein wenig aufgerauter Stimme erklärte er ihm die anpreisenden Bilder auf dem Bildschirm. Youji selbst trug lediglich eine Pyjamahose und darüber den offenen Frotteemantel. Er strahlte genug Körperwärme aus, um auch Kyousuke damit aufzuheizen. "Denkst du, wir sollten mal zusammen dort hinfahren, Iwaki-san?" Youji hauchte einen Kuss auf eine noch immer dezent glühende Wange. Sein Liebhaber war nach dem Sex beinahe überirdisch schön, wie er kategorisch feststellte. Deshalb wollte er um jeden Preis verhindern, dass sich andere an diesem Anblick labten! "Das wäre schon schön..." Kyousuke zögerte, tippte mit einer Fingerspitze gegen die unbestückte Weihnachtspyramide, die Youji natürlich sofort mit Feuereifer zusammengesetzt hatte. "Aber?" Youji musterte ihn forschend. Kyousuke lehnte die Stirn gegen seinen Kopf, senkte die Lider. "Iwaki-san? Ist dir nicht gut?" Besorgt streichelte Youji ihm über die Wange, kämmte die dicken, schwarzen Strähnen hinter die Ohren. "...ich möchte nur.." Hastig presste der Ältere die Lippen zusammen, ärgerlich, dass ihm überhaupt etwas so Egoistisches entschlüpfen konnte. "Was möchtest du?" Youji verlegte sich aufs Küssetupfen. "Bitte sag es mir doch, ja? Bitte? Bitte, Iwaki-san?" Bettelte er ungeniert. Ein nachsichtig-kritisches Schmunzeln prägte sich in Kyousukes Mundwinkel. "Bin ich so einfach zu manipulieren?" Erkundigte er sich ohne Verärgerung. Youji lächelte verschmitzt. "Sicher nicht! Ehrenwort! Es liegt bloß daran, dass ICH so schwer von Begriff bin! ALLES muss man mir sagen, das kennst du ja!" Erläuterte er in einem trügerisch beflissenen Tonfall. Kyousuke seufzte, weniger ob dieses klugen Schachzugs, als seiner eigenen Feigheit geschuldet. Er küsste Youji auf die Lippen, schmuggelte seine Zungenspitze in die verheißungsvolle Hitze dahinter, hielt sich schadlos an der euphorischen Begeisterung, mit der er empfangen wurde. Ein wenig außer Atem, mit Speichel gezeichnet, lösten sie sich voneinander. "Ich möchte..." Kyousuke räusperte sich, hielt den fragenden Augen stand, die ihm stets offen und vertrauensvoll begegneten. "... ich möchte gern einige Tage nur mit dir verbringen. Allein." Bevor Youji mit aufhellendem Gesichtsausdruck sein Einverständnis bekunden konnte, versiegelte Kyousuke ihm mit einem Finger die geöffneten Lippen. "Ich meine, ich möchte mit dir allein sein. Nur wir beide. Kein Telefon, keine Termine, keine Paparazzi. Nur du und ich." Youji küsste die Fingerspitze. "Dann tun wir das." So schlicht und einfach. Kyousuke lächelte erleichtert und dankbar dafür, das er nicht argumentieren musste. An ihm vorbei angelte Youji nach dem Laptop. "Hier können wir uns nicht verstecken." Erläuterte er, streichelte Kyousuke mit der freien Hand über den Rücken, beharrlich und sanft, wie man ein Kind liebkoste. "Wir müssen einen kleinen Ort finden..." Er wandte den Kopf. "Nehmen wir die Neujahrswoche, ja?" "Kannst du dir das auch erlauben? Mit den Dreharbeiten für die TV-Dramen?" Kyousuke konnte dem Glück noch nicht trauen. Youji lächelte. "Ich habe mir schon vorher freigenommen. Wir haben uns ein paar freie Tage verdient." Vor Erleichterung sank Kyousuke in sich zusammen. Nun erst wurde ihm wirklich bewusst, wie sehr er seine spärlichen Reserven geplündert hatte, wie wichtig es ihm war, mit Youji allein zu sein, ohne Zeitdruck. "Ein kleiner Landgasthof..." Youji murmelte, den Blick auf dem Bildschirm gerichtet. "...eine heiße Quelle wäre nett..." Er drückte einen schmatzenden Kuss auf Kyousukes Wange. "Wo ich meinen Iwaki-san ganz für mich alleine habe!" Triumphierend summte er vor sich hin. Der legte ihm eine Hand unter das Kinn, drehte seinen Kopf, erwiderte die feuchte Aufmerksamkeit intensiv, verwöhnte Youjis Lippen und seine Zunge. "...wow..." Krächzte der jüngere Mann, blinzelte. "Gerade rauscht mein Blut aus dem Kopf." Kyousuke schmunzelte, zupfte dezent verlegen an den hellbraunen Ponysträhnen. "Wirst du mich auch noch lieben, wenn ich ein halbblinder, klappriger, arbeitsloser Ex-Schauspieler bin?" Bemühte er sich um einen koketten Tonfall, scheiterte kläglich. Youji studierte die vertrauten, klassisch schönen Züge, unterdrückte einen tadelnden Ausruf. Er konnte nicht begreifen, warum sein Iwaki-san das Selbstvertrauen eines besoffenen Mistkäfers pflegte! "Ich werde dich immer lieben." Erklärte er geduldig. "Auch wenn du weder halb blind noch klapprig bist. Es gibt überhaupt keinen Grund, so eine schlechte Meinung von sich selbst zu haben!" Herausfordernd klemmte er Kyousukes Nasenspitze zwischen zwei Fingern ein. "Das sagst DU!" Rutschte es Kyousuke heraus, bevor er sich eilig abwandte. Für einen langen, sehr langen Moment blieb es still in ihrer Küche. "Geht es schon wieder um unseren beruflichen Wettstreit? Ist das wirklich wichtig?!" Youji schnaubte, betont überdrüssig. Die Hände auf die spitzen Knie gestützt, den Kopf gesenkt suchte Kyousuke nach einer angemessenen Antwort. "Ich werde alt, Katou. Die Angebote bleiben aus. Ich habe keine Vorstellung davon, was ich machen soll, wenn es zu Ende geht." Vertraute er seinem Liebhaber mit leiser, belegter Stimme an. »Endlich! ENDLICH hat Iwaki-san sich einen Ruck gegeben!« Dachte Youji ohne Frohlocken. "Nun hör mal! Du kannst tun, was immer du möchtest! Ich stehe zu dir, Iwaki-san!" Verkündete er betont streng, drehte Kyousuke unnachgiebig zu sich herum. Kyousuke seufzte. Wenn er wenigstens eine Vorstellung davon hätte, was er wollen könnte! Youji feuerte munter und energisch drauf los. "Du könntest schreiben! Du bist klug und liest viel! Oder ein kleines Unternehmen gründen! Wie wäre es mit einem Geschäft für Obst und Gemüse aus der Region? Oder Blumen? Du magst doch Pflanzen gern!" "...ich weiß nicht" Kyousuke fühlte sich leicht überfahren, vor allem aber schüchterte ihn das Leuchten in Youjis Augen ein. Wenn der sich für etwas begeisterte, kannte er kein Halten. "Nein, NEIN!" Nun erstrahlte er förmlich. "Ich weiß es! Kindergärtner! DAS wäre doch etwas für dich! Du liebst Kinder. Selbst mein notorischer Neffe vergöttert dich!" "Aber..." Kyousuke zögerte. Es stimmte schon, er hatte mit Kindern nur gute Erfahrungen gemacht, aus welchem mirakulösen Grund auch immer. Andererseits gab es ein wesentliches Hindernis für diese Zukunftsvision. "...aber Katou... alle Welt weiß, dass ich mit dir zusammenlebe. Welche Eltern werden mir schon ihre Kinder anvertrauen?" Sofort zog sich Youjis Gesicht zu einer gewittrigen Wolke zusammen. "Youko und Keita haben kein Problem damit! Was soll der Quatsch überhaupt?! Soll das etwa heißen, mit mir zusammen zu sein züchtet pädophile Neigungen, oder wie?!" Kyousuke erbleichte, weil er auf gar keinen Fall Youji irgendeine Schuld oder Verantwortung zurechnen wollte! Bevor er aufgelöst eine Entschuldigung stammeln konnte, zog ihn Youji in eine erstickende Umarmung. "Unsere Liebe ist nicht pervers." Flüsterte er rau in Kyousukes Schopf. "Denkst du nicht, es wäre für alle Kinder schön, als Vorbild einen glücklich verliebten Mann zu sehen anstatt eines ständig abwesenden, vielleicht geschiedenen Vaters?" An seiner Schulter lachte Kyousuke beschämt auf. "Verzeih mir, Katou. Ich habe wohl meinen Schneid verkauft!" "Aber nein! Du bist nur erschöpft! Kein Wunder, nach dieser harten Arbeit und dem Chaos auf dem Flughafen!" Sofort sprangen Youjis 'Iwaki-san'-Verteidigungsmechanismen an. Energisch drehte er dem Laptop den Saft ab. "Gehen wir wieder nach oben, ja?" Dabei strahlte er in Kyousukes müde Augen, das immer noch beschämte Lächeln. Der erhob sich gehorsam. Eine Hand blieb jedoch als Pfand in Youjis liegen. Mit sportlich-elastischer Grazie folgte Youji seinem Beispiel, zupfte an ihren verschränkten Fingern. "Iwaki-san..." Er zögerte für einige Sekunden. "Auch wenn ich jünger und quasi noch ein Kind bin..." Er rollte mit den Augen, um wieder ernst zu werden. "... du kannst auf mich bauen. Was auch geschieht, wir bleiben zusammen." Kyousuke lächelte vorsichtig. "Ich erinnere mich trotz meines fortschreitenden Alters noch: in guten wie in schlechten Tagen, in Armut und in Reichtum." Wiederholte er leise. "Das verspreche ich." Antwortete Youji ihm entschlossen. Er zweifelte nicht an seiner Liebe. "Ich bin wirklich müde." Gestand Kyousuke ein, weniger eine körperliche Ermattung als eine seelische. Wie verwöhnt er war, dass er ständig von Youji Aufmunterung einforderte! Der ihn fürsorglich hinauf ins Schlafzimmer geleitete, ihn aus dem Hausmantel pellte, ihm die Decke aufschlug. Verlangend streckte Kyousuke die Hand nach ihm aus. Meist schliefen sie getrennt, wenn es wirklich nur um die Nachtruhe ging, aber heute war das Bedürfnis überwältigend, Youji direkt neben sich zu spüren. Der jüngere Mann entledigte sich achtlos des Bademantels, der auf dem noch von ihrem Liebesintermezzo zerwühlten Bett landete, kroch bei Kyousuke unter. Er nahm ihn in den Arm, im stark gedämpften Licht eine vertraute Silhouette. "Alles wird gut, Iwaki-san. Ganz bestimmt!" Wisperte er. Kyousuke entsann sich seines Gelübdes, konstatierte ein wenig beschämt, dass es leichter zu erfüllen war, wenn er Youji nicht ungehindert ins Gesicht sehen musste. "Ich liebe dich, Katou." Murmelte er verlegen, verbarg sein glühendes Gesicht in dessen Halsgrube. "Ich liebe dich auch, Iwaki-san." Schnurrte Youji, wickelte sie warm in die Decke. Er lauschte auf die sich beruhigenden Atemzüge, saugte den vertrauten Geruch seines Liebhabers ein. Bevor ihm die Augen zufielen, sann er auf eine Möglichkeit, Kyousuke zum Kindergärtner ausbilden zu lassen. Erfahrung mit den schwierigen Sprösslingen der Katous hatte er ja weiß Gott genug! ~+~ Tag 23 "Wahrscheinlich überwachen sie auch in Flensburg alle Straßen." Bemerkte Lemmie schließlich tröstend. Chai wandte sich zu ihm um, studierte das bleiche, gefasste Gesicht. Lemmie hatte mit der Situation abgeschlossen. "Ruf sie an! Ruf Fine an! Du kannst wenigstens mit ihr sprechen!" Brach es aus Chai heraus. Die Lippen so fest zusammenpressend, dass alles Blut aus ihnen wich, schüttelte Lemmie den Kopf, blickte zur Seite. So viel Kraft stand ihm nicht mehr zu Gebote. "Besser, ich gehe jetzt." Formulierte er mühsam, erhob sich von der Couch. Chai baute sich vor ihm auf, die Fäuste geballt. Dass er keinen Kampf führen konnte, dass ihre Lage aussichtslos war, schüttelte ihn innerlich vor Wut. Lemmie lächelte traurig, so verloren und einsam. Brach ihm das Herz. Ruppig zog er ihn an sich, umarmte ihn so fest, dass es schmerzte. Um die erstickende Pein irgendwie erträglich zu machen. ~+~ LONELY DAY from System of a down Such a lonely day And it's mine The most loneliest day of my life Such a lonely day Should be banned It's a day that I can't stand The most loneliest day of my life The most loneliest day of my life Such a lonely day Shouldn't exist It's a day that I'll never miss Such a lonely day And it's mine The most loneliest day of my life And if you go I wanna go with you And if you die I wanna die with you Take your hand And walk away The most loneliest day of my life The most loneliest day of my life The most loneliest day of my life Such a lonely day And it's mine It's a day that I'm glad I survived ~+~ Chai hielt Lemmies Hand fest, die Finger ineinander verschränkt, wies den Weg. Nur wenige Passanten begegneten ihnen. Ein tückischer, nasser Wind peitschte am Rhein entlang durch die Straßen. Etwas mehr als eine halbe Stunde dauerte ihr Marsch zur Polizeiwache im Nachbarstadtteil Porz. Mal war Chai einen halben Schritt voraus, dann führte Lemmie. Die Fingerknöchel schmerzten ihnen, aber keiner ließ los. In Sichtweite des Gebäudes blieb Lemmie stehen. Chai wandte sich zu ihm um. "...weiter..." Lemmie leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. "Weiter kannst du nicht mitgehen, Chai. Ich will dich nicht mit reinziehen. Nicht noch mehr." Verbesserte er sich mit einer Grimasse. Mit einem Schritt verkürzte Chai die Distanz zwischen ihnen, sah Lemmie lange an, schweigend, während in seinem Gesicht Sehnen arbeiteten. Er atmete schließlich tief aus. "... in Ordnung." Lemmie öffnete langsam die Hand, zwang sich zu einem Lächeln. "Danke. Für alles. Ohne dich hätte ich es nicht so weit geschafft." Chai legte ihm die Hände ums Gesicht, raunte rau. "Gib nicht auf, Lemmie. Du bist so weit gekommen." Lemmie blinzelte hinter seinen schlierigen Brillengläsern, schmunzelte kläglich, wollte sich bedanken, doch Chai schnitt ihm jedes Wort ab. Dieses Mal küsste er Lemmie nicht mehr wie ein scheuer Teenager. ~+~ Die Kapuze über den Kopf gezogen, die Schultern wie einen Schutzpanzer hochgeschoben, die Hände tief in den Anorak-Taschen näherte sich Lemmie der Polizeiwache. Er spürte Chais Augen in seinem Nacken, wusste ihn im Häuserschatten, ihm unverwandt hinterher blickend. Als er vor der Gegensprechanlage stand, atmete er tief durch, drückte den Rufknopf. "Ja bitte?" Fragte eine Männerstimme gedehnt nach. Lemmie schob sich die Kapuze vom Kopf, hob den Blick, um in das Kameraauge zu sehen. "Guten Tag. Mein Name ist Clemens Bergmann. Sie suchen nach mir." ~+~ Es dauerte eine Weile, bis man die zuständige Staatsanwaltschaft erreicht hatte. Lemmie saß in einem abgeschirmten Raum, vor sich die Aluminiumplatte und seinen Ausweis. Als er sich auf dem unbequemen Stuhl zurecht setzte, spürte er etwas in seiner hinteren Hosentasche knistern. Irritiert fasste er hinein, zog einen platt gebügelten, vielfach gefalteten Zettel heraus. Bevor er ihn unter die Lupe nehmen konnte, betraten mehrere Personen den Raum. "Herr Bergmann? Bitte begleiten Sie uns. Wir möchten gern Ihre Aussage aufzeichnen." ~+~ Lemmie wusste nicht, wie viele Becher des aufgesprudelten Wassers er schon getrunken hatte, um seine heisere Kehle wieder anzufeuchten. Er erzählte von Anfang an, ließ kein Detail aus. Bis er zur Frage kam, wo er an Heiligabend übernachtet hatte. Chais Identität wollte er nicht preisgeben. Er fand, dass es für die Ermittlungen nicht notwendig war. "Wo sind die anderen Originale? Sie haben ja nur die Aluminiumplatte hier vorgelegt." Der Leiter der Ermittlungen wechselte zu einem anderen Thema. Lemmie seufzte leise, straffte seine erschöpfte Gestalt. "Das weiß ich nicht." Bekannte er ruhig. Er sah in ungläubige Gesichter, ergänzte seine Aussage. "Sehen Sie, ich wollte die Originale in Sicherheit bringen, nachdem diese seltsamen Dinge passiert sind. Deshalb habe ich sie per Einschreiben und eigenhändige Auslieferung verschickt." "Ja... aber an wen denn?!" Zum ersten Mal schmunzelte Lemmie spitzbübisch, auch wenn er das Gefühl hatte, sein Gesicht würde zerbröckeln nach all der Anspannung. "An den Bundespräsidenten. Ich glaube, er ist an schwierige Entscheidungen gewöhnt." ~+~ Lemmie befand sich zu seiner eigenen Sicherheit in einer Arrestzelle des Polizeipräsidiums. Er war vollkommen erschöpft, konnte kaum glauben, dass er fast einen ganzen Tag mit Erklärungen, Erläuterungen und Beantwortung von Nachfragen verbracht hatte. Zu seiner Erleichterung waren alle einzelnen Sendungen sicher im Präsidialamt angekommen. Man hatte sich, nicht nur dem internationalen Druck geschuldet, sehr schnell zur Etablierung einer Kommission mit Expertise entschlossen, die alle Fundstücke untersuchen sollte. War damit alles gut? Auf sein Bitten hin hatte man ihn Nachrichtensendungen ansehen lassen. Sein Auftauchen und auch die Sicherstellung der Fundstücke wurden noch geheim gehalten. Aus ermittlungstaktischen Gründen. Da draußen, außerhalb des "Kokons" der Sicherheitskräfte, tobte noch immer die Diskussion um die "Wahrheit". Lemmie ahnte, auch wenn man ihm das nicht direkt gestand, dass er so lange in "Schutzhaft" bleiben würde, bis auch alle ausgewählten Personen mit Expertise an einem geheimen, sicheren Ort untergebracht waren, damit ihre Untersuchungen vom Druck der Öffentlichkeit und verschiedenen Interessengruppen nicht beeinflusst wurden. Das bedeutete, dass man ihm nicht gestatten konnte, Kontakt nach außen aufzunehmen, besonders nicht zu Fine oder seinen Eltern. Lemmie rieb sich die Augen, erschöpft und resigniert. Wie lange würde er warten müssen, bis er sie das nächste Mal sah? Es schien ihm, als verliere er sie, durch die Distanz entfremdet. Er konnte nicht mehr an ihrem Leben teilnehmen, verpasste Veränderungen. Als er sich auf der Pritsche ausstreckte, hörte er das leise Knistern des vergessenen Zettels in seiner Hosentasche. Lemmie setzte sich auf, fahndete erneut nach dem gefalteten Papier. Als er es aufklappte, erinnerte die Handschrift ihn vage an längst vergessene Hausarbeiten. [Lieber Lemmie, ich sehe dich an, wie du schläfst und stelle fest, dass du dich kaum verändert hast. Du bist noch genauso liebenswürdig, nachdenklich und freundlich, wie ich dich in Erinnerung habe. Als dein Name in den Nachrichten zum ersten Mal fiel, war ich von den Socken. So eine verrückte Geschichte, das passte überhaupt nicht zu dir! Jetzt, nachdem du mir alles erzählt hast, bewundere ich dich für deinen Mut. Ich glaube, niemand kann würdigen, wie gründlich du alles überdacht, jede Seite betrachtet hast. Eine sehr schwere Bürde, die du allein tragen willst, um niemanden zu gefährden. Deshalb will ich alles daran setzen, dass du Fine siehst. Als du vorhin von ihr gesprochen hast, klang es für mich nach endgültigem Abschied. Dazu kommt es nicht, gemeinsam tricksen wir diese verrückten Häscher aus! Ich werde dich zu Fine bringen. Wenn du deine Erklärungen bei der Polizei abgegeben hast, werde ich dich aufspüren. Na ja, deine Haare können so nicht bleiben, finde ich! Außerdem, damals war ich sehr traurig, aber nicht böse auf dich. Jetzt, wo ich mehr Erfahrungen gemacht habe, sehe ich auch, dass mein damaliges Ich ziemlich naiv war. Und rücksichtslos. Ein bisschen davon ist noch übrig. Ich bin jetzt doch ein wenig nervös, dabei schreibe ich dir bloß... aber einmal habe ich es ja schon ausgesprochen. Also... ich liebe dich. Für das, was sich auch nach sechs Jahren nicht verändert hat. Und dafür, wie du neben mir geschlafen hast. Für den Kuss, den ich dir geben werde. Ich werde es noch mal versuchen: Dich davon zu überzeugen, dass wir zwei ein gutes Team sind. Dass es nichts ausmacht, wer wen zuerst geliebt hat. Ich habe gelernt, nicht schnell aufzugeben. Werde ich jetzt auch nicht. Du weißt ja, wie hartnäckig ich sein kann. Und dass du immer eine Antwort wusstest. Ich weiß, du wirst darüber nachdenken. Ich werde mich nützlich machen, falls es uns nicht im ersten Anlauf gelingt, deine Fine zu erreichen, also mach dir darum keine Sorgen. Deshalb... bis wir das Schlamassel hinter uns haben! Chai] ~+~ Tag 24 Es kamen immer wieder Fragen, ansonsten war Lemmie von lähmender Tatenlosigkeit eingekesselt. Zu seiner Sicherheit musste er versteckt bleiben. Es gab keine andere Beschäftigung als Essen, Schlafen und Warten. Lemmie zählte die Tage, wusste, dass Fine mit Tam und Henri zurückgeflogen sein musste. Verständlich, sie hatten beide eine Aufgabe, ihr eigenes Leben. Da konnte man ja nicht ewig warten. War es Chai gelungen, ihr wenigstens eine Nachricht zu übermitteln? Es kümmerte ihn nicht mehr sonderlich, ob sich die Fundstücke als authentisch erwiesen oder nicht. Die Vorstellung, es könne sich alles anders verhalten, als man seit Jahrtausenden geglaubt hatte, war bereits um den Globus gewandert. Weil er so viel Muße hatte, dachte er darüber nach, warum seine "Vorgänger" es nicht gewagt hatten, diese Diskussion in Gang zu setzen. Ob sie jemals gezweifelt hatten. Warum sie diese schwere Bürde getragen hatten, von etwas so Bedeutendem, Gefährlichen und gleichzeitig Banalen Kenntnis zu haben. Wie möglicherweise aus einer heimlichen Aktion gegen gewöhnliche "Sektierer" eine ganze Religion entstand, bloß weil man die Unruhestifter unauffällig vertreiben wollte. »Könnte sein, dass der Sinn des Lebens darin besteht, trotzdem drüber zu lachen.« Diese Erkenntnis stammte nicht von Fine. ~+~ Am letzten Tag des Jahres wurde eine große, internationale Pressekonferenz in Berlin angekündigt. Die Erkenntnisse der Kommission wurden verkündet, die Methoden belegt und zwecks Nachprüfung veröffentlicht. Außerdem bequemte sich der ermittelnde Staatsanwalt zuzugeben, dass die in den vergangenen Tagen mehr als einmal vorgebrachte Vermutung, man habe Clemens Bergmann auffinden können, zutraf. Auch seine Aussage sei, mit gewissen Auslassungen zum Schutz Dritter, nachzulesen, um ermitteln zu können, wer die sensationellen Originale auf dem Dachboden versteckt hatte. Eine Verbindung zwischen den Absturzopfern und dem Hinterhaus konnte nicht belegt werden. Wie es mutmaßlich auch im Dunkeln bleiben würde, welchen Weg das aramäische Originalschriftstück und seine begleitenden Übersetzungen im Lauf der Jahrtausende genommen hatten. Im Übrigen verlas man die kurze Bitte des "Finders", weder ihn noch seine Familie oder Freunde zu kontaktieren. Er werde keine weiteren Aussagen in der Sache machen. Die Ermittlungen zur Brandstiftung sowie zur schweren Sachbeschädigung an zwei Universitätsstandorten würden fortgesetzt. Es sei auch noch nicht entschieden, wo die Originale der breiten Öffentlichkeit zur Ansicht präsentiert werden könnten. Im Schatten der Konferenz durfte Lemmie, in frisch gewaschenen eigenen Kleidern, arm wie eine Kirchenmaus, das Polizeipräsidium in Köln verlassen. Er blieb stehen, blickte hoch in einen dicht bewölkten Himmel. "Wir wollen an etwas glauben, auch wenn der Augenschein dagegen spricht." So hatte sich der Bundespräsident ausgedrückt, ungeachtet seiner persönlichen Überzeugung nicht gezögert, die ihm von Lemmie per Einschreiben überantworteten Fundstücke zu Untersuchungszwecken freizugeben. »Einer zutiefst menschlichen Sehnsucht eine Gestalt, ein Gesicht geben.« "Was nun?" Fragte sich Lemmie laut. Er hatte eigentlich alles verloren, war heimat- und mittellos, doch zu seiner Überraschung fühlte er sich seltsam erleichtert. »Komisch. Mich drängt es gar nicht, sofort mit Fine Kontakt aufzunehmen.« Dachte er. Selbstironisch diagnostizierte er: die Nabelschnur war durchtrennt. Der Trabant hatte sich aus dem Schwerkraftfeld gelöst, bewegte sich auf seiner eigenen Umlaufbahn. "Allerdings ist es schon peinlich, dass dazu so ein Aufwand nötig war." Schmunzelte er über sich selbst. Langsam setzte er sich in Gang, wollte zum Rhein, auf das Wasser sehen und in Ruhe nachdenken. Jetzt, wo er wirklich frei war, der böige Wind ihm den Kopf frei pustete. ~+~ "Lemmie!" Er hob den Kopf, den er in die Hände gestützt hatte, um auf der Absperrung die Ellenbogen zu postieren. Es nieselte ein wenig. Solange sein Kopf nicht schmerzte, genoss Lemmie die sanfte Liebkosung der winzigen Tröpfchen. Hinter ihm, in ausgebleichte Jeans und ein Wollsakko über einem Rollkragenpullover gehüllt, noch atemlos, stand Chai, wartete ungeduldig darauf, die Straße überqueren zu können. Lemmie lächelte unwillkürlich. So aufgelöst, die Wangen sanft gerötet, erinnerte Chai ihn an seine jüngere Ausgabe. Voller Eifer, strahlend, optimistisch. Als endlich eine Rotphase den Verkehr innehalten ließ, sprengte Chai hinüber, reduzierte sein Tempo, blieb in größerem Abstand stehen. Lemmie wischte sich über den Kopf, wo sehr kurze, dichte Stacheln verrieten, dass hier Haare ans Licht drängten. "Etwas besser so, oder?" Erkundigte er sich zwinkernd. "Sein" betreuender Beamter hatte ihn nicht nur mit Ersatzwäsche und Hygieneartikeln im "Schutzarrest" versorgt, sondern auch großzügig den Haartrimmer der Familie verliehen. "Radikal." Murmelte Chai heiser, räusperte sich, fingerte an zwei goldfarbenen Ohren, die aus der Brusttasche des Wollsakkos ragten. An den Ohren hing ein ganzer Osterhase, mit Stanniol verhüllte Schokolade. Linkisch streckte Chai den Osterhasen aus. "Da, für dich. Sieht so aus, als würde Ostern trotzdem stattfinden." "Danke schön." Behutsam nahm Lemmie das Geschenk entgegen, betrachtete erst den Osterhasen, dann Chai. "Du hast auf mich gewartet." Stellte er eine Behauptung auf. Chai kam näher, zuckte scheinbar beiläufig mit den Schultern, während er auf den Rhein blickte. "Dachte mir eben, du würdest den Trubel nutzen, um abzutauchen." Er sah direkt in die graugrünen Augen. "Gewarnt hatte ich dich auch." "Ja." Lemmie lächelte. Er setzte den Osterhasen vor sich auf einen steinernen Poller inmitten der Absperrung, richtete den Blick ebenfalls auf den Rhein. "Und, wohin willst du jetzt?" Chai scharrte. Die schwarzen Turnschuhe mit dem weißen Känguru-Emblem gruben Spuren in den feuchten Boden. "Das weiß ich nicht. Ich sollte etwas Geld am Automaten ziehen und irgendwo einen Platz zum übernachten finden. Obwohl das schon recht unpraktisch ist, so ohne Ersatzwäsche und Zahnbürste." Lemmie seufzte. "Komm zu mir. Ich hab genau deine Größe und ich mache den besten Tee, den du hier kriegen kannst!" Chai überwand die Distanz, nahm Lemmies Linke. "Bei mir wohnen noch mehr Freunde von dem Hasen!" Lockte er, mit einem Anflug von Verzweiflung. Lemmie lächelte noch immer, jedoch ruhiger, konzentrierter. "Du bist doch bald im letzten Semester, oder? Da willst du doch nicht Geld und Zeit mit der Suche nach einem Zimmer verschwenden, oder? Die U-Bahn fährt auch direkt von hier nach Deutz!" Chai blendete sein charmantestes Lächeln auf. Da Lemmie noch immer keine Antwort gab, setzte er eilig hinzu. "Also, wenn dir der Kater fehlt: vielleicht hält er es hier ja auch aus? Oder lieber ne Zimmerpflanze? Die springt dir nicht ins Bett." Lemmie schmunzelte, rollte die Oberlippe ein, bemühte sich, nicht in amüsiertes Lachen auszubrechen. "Na hör mal! Nun lass mich doch hier nicht so hängen! Jetzt kommt die Stelle, wo du 'ich will' sagen musst!" Beschwerte sich Chai, der energisch an der gekaperten Linken zupfte. Chais Miene, zwischen gerechter Empörung und bemüht feuchtem Hundeblick schwankend, gab Lemmie den Gnadenstoß. Er prustete ungeniert hinaus, lachte so sehr, dass er sich den Bauch halten musste. "Sooooo komisch finde ich das gar nicht!" Schmollte Chai, brachte den Osterhasen in Sicherheit, bevor die Schallwellen ihn in den Rhein befördern konnten. Das Abebben der eruptiven Erheiterung nutzend wischte sich Lemmie mit der Rechten die Augen, richtete sich wieder auf. Er schenkte Chai einen erheiterten Blick, schlang ihm den freien, rechten Arm um den Nacken, zog ihn an sich. Im Reflex erwiderte Chai die Geste, verstärkte die "freundschaftlichen" Bande. "Ich bin so froh, dass du gekommen bist! Vielen Dank, Chai." Hörte er Lemmies Stimme sanft an seinem Ohr. Der drehte den Kopf leicht, um die erreichbare Wange mit einen warmen Kuss zu siegeln. Ohne Lemmie loszulassen flüsterte er. "Ich habe Fine erwischt und mit ihr gechattet. Sie wird ein Gästebett für dich aufstellen, weil sie die nächste Zeit nicht mehr fliegen kann. Sie hat nämlich 'noch nen Braten im Rohr'." Lemmie stutzte, lachte wieder. Die Vibrationen durchliefen Chai, der ein sehnsüchtiges Stöhnen tapfer unterdrückte. "Das waren IHRE Worte!" Ergänzte er mit belegter Stimme. "Dachte ich mir. Dann werde ich noch mal Onkel." Lemmie klang heiter und gelassen zugleich. Obwohl Chai widerstrebend seine Umklammerung ein wenig lockerte, unternahm er keine Anstrengungen, sich aus der Umarmung zu befreien. "Sie sagt auch, dass sie stolz auf dich ist." Berichtete Chai, ließ wie beiläufig die Fingerspitzen über die kurz rasierte Partie am Hinterkopf gleiten. Wie viel besser fühlte sich das an als die völlig verfärbten, klebrigen Strähnen! Lemmie zog den Kopf zurück, sodass er die Stirn an Chais lehnen konnte. Verlegen richteten beide ihre Blicke nach unten, wagten zunächst kein hastiges Blinzeln. "Chai..." Brach Lemmie das scheue Schweigen nach einem Augenblick. "Ist es in Ordnung, wenn mir nicht potentiell übel ist, ich noch aus den Augen gucken kann und nicht über dem Trottoir schwebe?" Es dauerte durchaus einige Sekunden, bis Chai die Bedeutung dieser Frage entschlüsselt hatte. "Absolut! GAR KEIN PROBLEM!" Bekundete er prompt, sehr eifrig. "Gut." Stellte Lemmie befreit fest, suchte den hoffnungsvollen Blick der dunkelbraunen Augen, zwinkerte, neigte das geschorene Haupt, um Chai zu küssen. Vielleicht war er kein Profi, möglicherweise ein bisschen linkisch, aber das spielte keine Rolle. Zum ersten Mal hatte er das überwältigende Gefühl, jemanden ganz fest halten zu wollen, ihn zu durchdringen, ohne einem Schatten nachzuhaschen. Als sie sich voneinander lösten, tilgte Chai behutsam Speichelspuren mit dem Daumen, studierte die graugrünen Augen. Lemmie lächelte noch immer, auf die sanfte Weise, die er seit ihrer Schulzeit kannte. In seinen Augen aber hatte ein Funke gezündet, eine Feuersbrunst ausgelöst. Chai errötete prompt, konnte sich gar nicht erinnern, wann ihm das zum letzten Mal passiert war. Da hatte er wohl einen schlafenden Vulkan aufgeweckt! "Jetzt hätte ich wirklich gern eine gute Tasse Tee." Lemmie zwinkerte, schob seine Hand in Chais. ~+~ Es nieselte fortwährend. Das konnte niemanden davon abhalten, zum Runterzählen des alten Jahres ans Rheinufer zu ziehen. Chai hatte Tee in seine Thermoskanne gefüllt, die Lemmie in seinem Rucksack beförderte. Außerdem transportierte er noch ein Feuerzeug und einige trocken eingeschlagene Wunderkerzen in seiner Anorak-Tasche. Aus offenen Fenstern und Türen plärrten Sendungen. Die Kirchturmglocken begannen dröhnend zu schlagen. Lemmie umarmte Chai, küsste ihn nachdrücklich auf die Lippen, bevor sie mit Tee anstießen, sich ein gutes neues Jahr wünschten. Mit angezündeten Wunderkerzen blickten sie den Rhein entlang, beobachteten die Explosionen der Feuerwerkskörper. Chai drückte Lemmies Hand, die er gar nicht mehr loslassen wollte. Es war ihm gleich, ob seine Wangen rosig glühten. Im Dunkeln sah man das ja ohnehin nicht, oder? Wen wunderte es auch? Nach ihrem ausgedehnten Spaziergang an der kalten Luft zu seiner Dachgeschosswohnung waren sie innerlich erhitzt, außen frostig und von Nieselregen durchnässt angekommen, hatten sich die feuchte Kleidung vom Leib gepellt und... Nun, den Tee hatte es erst viel später gegeben. Erst danach hatte Lemmie eine Nachricht an Fine abgesetzt. "Wird's dir zu kalt?" Lemmie sah ihm ins Gesicht, wischte mit der freien Hand tropfende Strähnen beiseite. "Mir geht's prima!" Antwortete Chai hastig, um mit einem Stoßseufzer zu bekräftigen. "Definitiv waahouuuu!" Lemmie lachte leise. "Genauso fühle ich mich auch. JETZT ist wirklich alles gut." ~+~ "Aber Katou-san!" Protestierte der Aufnahmeleiter irritiert, als Youji nach dem "Cut!"-Ruf sofort aus dem Set sprang, wie ein geölter Blitz zu seinem Regiestuhl hechtete. Dort reichte ihm sein mühsam um Beherrschung ringender Assistent das Mobiltelefon. Das kleine Display füllte sich mit einem Bild aus. Für Youji verlor der Rest der Welt vorübergehend jede Bedeutung. "Guten Tag, liebe Kinder! Mein Name ist Iwaki, und ich freue mich, dass ihr mir zuseht. Heute wollen wir uns mal Frösche anschauen! Habt ihr schon mal einen Frosch in der Hand gehabt?..." Ein verliebtes, hingerissenes Grinsen nahm Youjis lässig-attraktivem Auftritt jede souveräne Überzeugungskraft. Er hatte doch immer gewusst, dass sein Iwaki-san einfach perfekt war!!! Deshalb würde er den Teufel tun, auch nur eine einzige der viertelstündigen Sendungen für Kinder verpassen, die der Filmstar Kyousuke Iwaki täglich präsentierte! ~+~ ENDE ~+~ Danke fürs Lesen und frohe Feiertage! kimera