Titel: Schutzengel Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Ereignis: Halloween 2018 Erstellt: 09-10-2018 Disclaimer: alles Meins, was nicht entsprechend anderslautend zitiert wird. Erklärung: "Onleihe" wird von Kommunen im Verbund genutzt, um elektronische Medien verleihen zu können. ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* ¢___* Schutzengel Kapitel 1 - Rendezvous mit dem Grauen "Immer auf dem Weg bleiben, entlang der Kennzeichnung!" Silvain ließ sich dezent zurückfallen, trottete etwas langsamer, wartete ab, bis zwischen zwei Grüppchen an einer Biegung eine Lücke entstand. So flink es seine sehr eingeschränkte Sicht, die Schnürschuhe und sein Mut zuließen, überstieg er das Flatterband, schlug sich in die Büsche. Eine kleine Böschung tiefer kauerte er sich zusammen, streifte sogar die Kapuze des Stadion-Parkas über. »Schön leise!« Ermahnte er sich selbst. In der Dunkelheit, trotz kalter, sternenklarer Nacht, würde man ihn wohl hier nicht so einfach ausmachen können. Wer würde sich schon das Spektakel entgehen lassen wollen? »Ich zum Beispiel.« Genau. Er wollte ganz sicher nicht hier sein oder zumindest nicht auf der Kuppe der Anhöhe, hoch über den Baumwipfeln. Wenn er jetzt ganz still hier abwartete... ¢___* Silvain neigte ganz sicher nicht zur Rebellion. Nein, häufig registrierte man ihn gar nicht mal. Das war nicht immer so gewesen. Drei Monate seines Lebens zumindest hatte er, als plangemäß gezeugtes Wunschkind, eine recht komfortable Situation genossen. Soweit man das mit dieser kurzen Lebensspanne überhaupt wertschätzen konnte. Danach geriet die souveräne Voraussicht seiner Eltern erheblich aus dem Ruder. Den verlorenen Kurs fanden sie nicht mehr. Einer Fehlkalkulation geschuldet, in gewisser Überschwänglichkeit, stellte sich heraus, dass der PLAN schicksalhaft torpediert worden war. Seine Mutter schon wieder schwanger! Mit Zwillingen! Unerhört. Gut, wie schlimm konnte es schon sein, drei kleine Kinder quasi in einem Aufwasch abzuwickeln? Silvain konnte das noch nicht ahnen, wie auch? Fortan stand er förmlich, später auch tatsächlich im Schatten. Mireille und Marielle, gerade zehn Monate jünger, füllten jeden familiären Rahmen vollkommen aus. Er selbst hatte schlichtweg nichts zu bestellen. Klein, extrem kurzsichtig, schüchtern, unglaublich unsportlich, ein fader Langweiler... Als älterer Bruder taugte er ebenfalls nichts, das konnte niemand in Zweifel ziehen. Ein ewiger Fußgänger vor dem Herrn! Silvain verzichtete auf fruchtlose Diskussionen. Wenn Mireille und Marielle eine Meinung hatten, galt diese unumschränkt. Sie waren, das musste man eingestehen, hübsch, clever, energisch und grundsätzlich in der Überzahl. Silvain, blind wie ein Maulwurf, linkisch dank eines gänzlich unerwarteten Wachstumsschubs, dünn und scheu, ging Auseinandersetzungen aus dem Weg, zog sich zu seiner absoluten Lieblingsbeschäftigung zurück: lesen. Wenn anderer Nachwuchs gleich beim geliebten Fußballverein angemeldet wurde, so gelangte Silvain mit zwei Jahren in den Genuss eines eigenen Büchereiausweises. Hin und wieder stellte seine Mutter ihn dort auch einfach ab, wenn sie mit den Zwillingen zu Terminen musste. Er vergaß die Zeit, verlangte keine Aufmerksamkeit (die er ohnehin nicht bekam), sondern blätterte andächtig und behutsam durch Bilderbücher. Man staunte über diesen seltsamen Knirps mit der überformatigen Brille. Silvain staunte über die Welten, die er mittels Zeichen und Buchstaben bereisen konnte. Er las einfach gern. Fachzeitschriften aus der Wissenschaft, Romane, Reiseführer, Lehrbücher... Weil sich sein Konsum nicht mit den Öffnungszeiten deckte, konnte er auch seine liebenden, aber überforderten Eltern überreden, ihm ein elektronisches Lesegerät zu kaufen. Er wollte kein Fahrrad, keine Anschubfinanzierung für den Führerschein, kein teures Smartphone oder eine Spielkonsole. Nur ein Lesegerät, mit dem er drahtlos aus dem Bestand der Bücherei Nachschub erhalten konnte. Vage war ihm bewusst, dass seine Eltern sich sorgten. ER brachte keine Freunde mit. ER wollte nicht ausgehen, Konzertkarten bezahlt bekommen, herumkutschiert werden. ER interessierte sich kein bisschen für Sport, sein Aussehen oder sein Image. ER nutzte sein Mobiltelefon kaum. ER zeigte auch keine Anzeichen irgendwelcher Präferenzen. Gut, die Poster-Zeiten ihrer Jugend waren vorbei, aber nie fielen Namen von netten Mädchen! ER war einfach so ganz anders als seine Schwestern! Silvain fand sich selbst zwar nicht merkwürdig, erkannte jedoch gewisse "Anpassungsschwierigkeiten" an die Erwartungen seiner Umwelt an. Er wurde noch stiller, zurückhaltender, unsichtbarer. Das gelang jedoch nicht immer. Ausgerechnet, wenn der neue Band von Weltraumhändler Vincent Valentine endlich in der Onleihe zur Verfügung stand, auf seinem Lesegerät wartete...! Trotzdem bestanden seine Eltern darauf, dass er Mireille und Marielle begleitete, zur Grusel-, Horror- und Spuk-Veranstaltung auf der alten Burg! ¢___* Silvain überprüfte den Schein der Lesefläche. Nein, man konnte ihn hier bestimmt nicht entdecken! Mit einem erleichterten Lächeln rutschte er auf dem felsigen Brocken zu einem bequemen Sitz auf dem verlängerten Ende des Stadion-Parkas. Endlich konnte er Vincent Valentine begleiten! All die Gemeinheiten und Sticheleien vergessen, die den Aufstieg geprägt hatten! ¢___* Der extremen Kurzsichtigkeit konnte man durchaus die Mitschuld an Silvains Unsportlichkeit geben. Wer schlecht sah, bewegte sich zögerlicher, musste sich auf die Größe der Brillengläser beschränken. Bekam immer wieder Bälle ab. Schmerzhaft, wenn man nicht einen Weg fand, sich dem deprimierenden Geschehen zu entziehen. Da gab es noch eine andere Eigenschaft, die Silvain prägte: fürchterliche Schreckhaftigkeit. Manchmal machte er förmlich einen Satz, zuckte in jedem Fall heftig zusammen, als habe ihn ein Stromstoß ereilt. Deshalb verabscheute er Grusel-, Horror-, Splatter-, Guts'n'Gore-Streifen aus tiefstem Herzen. Selbst wenn er die Handlung kannte, wenn er wusste, wann das Alien aus der Brust des Androiden platzen würde: das änderte gar nichts. Er fuhr stets elektrisiert zusammen. Ganz gleich, wie sehr er sich vornahm, nicht zu reagieren, sich die wissenschaftliche Unmöglichkeit diverser Horrorgeschehen vorzuhalten! In der Folge litt er natürlich auch noch unter Albträumen. Das machte ihn ebenso wie Kurzsichtigkeit und Unsportlichkeit zur Zielscheibe von Häme und Spott. Ein kleiner Schisser. Nun, ein 16-jähriger, dünner Angsthase, der überhaupt nichts drauf hatte. Deshalb erschien es Silvain widersinnig, seine Schwestern auf die Burg begleiten zu müssen. SIE wollten ihn gar nicht dabei haben, sondern dort ihre Freunde treffen. ER wollte ganz sicher nicht dort sein. IHRE Eltern wollten die Nacht aushäusig verbringen, ein Konzert besuchen und im Hotel übernachten. Deshalb oblag es ausgerechnet Silvain, für das Wohlergehen seiner Schwestern Sorge zu tragen. Widerrede ausgeschlossen! Ein hoffnungsloses Unterfangen. Silvain entschied, sich zu subtrahieren. ER würde lesen können, seine notorischen Schwestern treiben, was auch immer sie wollten und woran er sie nicht hindern konnte. Außerdem hatte er oft genug gehört, dass ER niemals Gefahr liefe, von Gruselgestalten angegangen zu werden. Alle wussten doch von Teenie-Horrorstreifen, dass nur die sexuell Aktiven oder Attraktiven lohnenswerte Zielobjekte waren! ¢___* Silvain vergaß die Kälte, den harten Stein, die Dunkelheit, das ferne, bunte und schaurige Treiben. Den Blick gebannt auf die Oberfläche des Lesegeräts gerichtet glitt er durch exotische Welten, lernte gleichzeitig geschickt getarnt physikalische Phänomene kennen, die neuesten Erkenntnisse über Dinosaurier, Biochemie... Silvain zog Geschichten vor, die nicht darin gipfelten, dass "Helden" andere "Böse/Hässliche/Ureinwohner/Primitive" niedermachten, irgendwelche Schätze stahlen oder dergleichen. Dass triumphiert, unterworfen, indoktriniert wurde. Er wollte wissbegierig betrachten, neugierig, aufgeschlossen, hoffnungsvoll. Ja, die Wissenschaft löste nicht alle Probleme, kannte nicht alle Antworten, bedurfte auch einer Ethik! Sollte man nicht staunen dürfen? Fasziniert sein, verwundert, beeindruckt von Welten, die wir nur durch Gucklöcher unserer bescheidenen Möglichkeiten erahnen konnten? Mit beschränkten Sinnen ausgestattet und noch limitierterem Verstand? Musste es immer Gier sein statt Neu-Gier oder Wissbe-gier-de? Wenn der Mensch sich selbst nicht als Gipfel, als Krone begreifen würde, was könnte man an Erkenntnissen gewinnen? Silvain genoss die philosophischen Betrachtungen, scherte sich nicht darum, was vor allem seine Schwestern über die "faden Storys" dachten. IHN interessierten zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte eben nicht so sehr! Hauptsächlich verlangte es ihn nämlich danach, seine Ruhe zu haben. Einfach existieren zu dürfen, ohne ständig von seiner humanoiden Umgebung belagert zu werden. Wenn man selbst doch nur ein biochemisches Raumschiff hätte, das sich selbst erhielt und reparierte, wie ein lebendiger Organismus, und einen Passagier mitversorgte! Wäre das nicht wunderbar? Glich die Reise durchs Leben nicht auch einer abenteuerlichen, unbekannten Route allein durch die Dunkelheit des Nichtwissens? Silvain fand durchaus, dass er mit sich allein recht gut auskommen könnte. Nicht, dass er allen anderen die Existenz abspräche, ganz und gar nicht! Eine gewisse Distanz wäre ihm sehr genehm! Die verlangte auch sein Unterbewusstsein. Vorwarnungslos und rapide, als ihn eine starke Stableuchte in ihren blendenden Fokus nahm. ¢___* "Himmel, Arsch und Zwirn!" Das glaubte Silvain, eher nebensächlich, zu vernehmen, während er gleichzeitig gewohnt ungeschickt eine Anhöhe herunterpurzelte, dabei seine Sammlung an Hämatomen erweiterte. Keine Woche ohne blaue Flecke! Sein Sturz endete in einem freundlichen, aber stacheligen Busch. Mühsam sich orientierend, die Brille gerichtet (aus Erfahrung mit Ohrbügeln und besonders robust ausgelegt) blinzelte Silvain hektisch im Trommelfeuer seines Pulses. Eine grässliche Fratze drängte sich in seine Wahrnehmung. Prompt schrie er vor Schreck auf. Nur umkippen konnte er nicht mehr, er lag ja bereits rücklings in der unbequemen Flora. "Jetzt kreisch doch nich so! Fallen einem ja die Ohren ab!" Polterte eine heisere, aufgebrachte Stimme. "Wo hast du das Spray?!" Silvain, dem die Glieder zitterten (was nicht selten vorkam), blinzelte in den Scheinwerfer, der widerwillig Richtung Boden wanderte. "Zunge verschluckt, oder was?! WO IST DAS SPRAY?!" Hilflos zuckte Silvain mit den Schultern, schüttelte andeutungsweise auch noch den Kopf, bemühte sich, sein Zähneklappern zu unterdrücken. Vor Schreck wurde ihm schon ganz flau! Bevor er Protest einlegen konnte, klopfte ihn das Ungeheuer selbstherrlich ab, offenbar enttäuscht. "Was treibst du überhaupt hier?!" Silvains Unterarm wurde freigelegt und gedreht. Er trug den Stempel: der berechtigte durchaus zum Aufenthalt. Bloß nicht HINTER dem Flatterband. "Also?!" Bange präsentierte Silvain, um sich nicht die Zunge zu Tatar verarbeiten zu lassen, sein geliebtes Lesegerät. Schützend verpackt, instinktiv an den Leib gepresst hatte es die rollende Rosskur im Herzen von Mutter Natur unversehrt überstanden. "...lesen?! Du hockst hier herum und liest?!" Energisch wurde er am Ärmelsaum gepackt, die Anhöhe hoch gezerrt. "Da du offenbar lesen kannst, wenn auch nicht sprechen, erinnere dich mal an die Schilder: auf den Wegen bleiben!" Silvain stolperte und taumelte im strengen Zug nach oben. "Entschuldigung!" Stammelte er schließlich, grub vergeblich die Hacken in den Asphalt. "Ich möchte doch lieber gehen." Das Monster, unzweifelhaft beschäftigt beim Veranstalter, loderte ihn förmlich auf Grasnarbenhöhe herunter. "Noch ein Schild für dich, Leseratte: den Anweisungen des Personals ist Folge zu leisten!" Deshalb sah sich Silvain mit schmerzenden Gliedern in hohem Tempo zur Burgruine beschleunigt. ¢___* "Gott, bist du ein Weichei!" Silvain protestierte nicht. Dazu war er mit den Nerven zu sehr zu Fuß. Sämtliche Schrecken, die anderen wohl gruseligen Genuss einjagten, hatten ihn zusammenzucken, aufkeuchen, hochspringen, stolpern und Zähneklappern lassen. Man hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, das gesamte Panoptikum aus Literatur, Film und Fernsehen aufgeboten. Die historische Kulisse war geschickt ausgenutzt. Die Aufführung bediente gehobene Ansprüche, die jede Set-Ausstattung beeindruckt hätte. Silvain zu seinem Leidwesen auch. Praktisch sekündlich und ohne Erbarmen. Er goutierte die durchaus großartige Leistung ganz und gar nicht, aus persönlicher Veranlagung. Ja, er wollte nicht hier sein, wollte das alles gar nicht sehen! "Und, hast du die Arschgeigen mit dem Pfefferspray erwischt?" Sein Begleiter fauchte als Antwort auf die mit rauer Stimme formulierte Frage, schubste Silvain enerviert recht grob in die Personalräume, wo man gerade Erste Hilfe leistete an einem spektakulär blutig aufgeschrammten Schienbein. Silvains Kreislauf reichte es endgültig: er verabschiedete sich in den Keller. ¢___* "Na, das ist ja wieder mal typisch! Endlich wach, Prinzessin?!" Silvain versuchte, die Stimme einzuordnen. Er weigerte sich standhaft, die Augen aufzuschlagen. Horror. Gruselgestalten. Genau. Wollte er gar nicht sehen. Ein kurzer Stoß traf ihn in die Rippen. "Jetzt spiel hier nicht die Leiche! Ist schon eng genug!" Bevor Silvain sich eine Taktik überlegt hatte, wurde er an den Aufschlägen seines Stadion-Parkas in eine sitzende Haltung gerissen. Reflexartig rollten sich die Augenlider hoch. Ein heiseres Kreischen schloss sich an. Das grässlich entstellte Gesicht vor ihm rollte ebenfalls. Die Augen. "Kannst du dich vielleicht mal einkriegen, ja?! Was treibst du überhaupt hier?!" Die Stimme. Sie kam Silvain bekannt vor. "Lesen." Krächzte er, weil sich die Fäuste um seine Parka-Aufschläge merklich ballten. "Lesen. Warum bin ich nicht überrascht?!" Ironie. Bissig. Silvain verwünschte die Schlieren auf seinen Brillengläsern. Sein Blick wanderte eilig an einem eindrucksvoll zerlumpten Kostüm herunter. Unwillkürlich würgte er, als er den nicht nachgemachten Verband erkannte. Weshalb man sich wohl temporär die recht enge Liege teilte. "Sind deine Schwestern nicht in der Nähe?" Automatisch wanderten Silvains Schultern hoch zu seinen Ohren. "Eher nicht, wie? Warum sollten sie sich auch mit DIR abplagen?" Silvain tastete nach seinem geliebten Lesegerät, umklammerte es wie einen Trost spendenden Talisman. Er schluckte. Sich entschuldigen, rasch Abgang einleiten, irgendwie durch das Grauen gelangen, danach heim. Wäre zumindest ein guter Plan. Bevor er jedoch die Gelegenheit ergreifen konnte, leitete ein heftiger Luftzug ein Entree hinter ihm ein. "He, sexy Vogelscheuche, was macht die Haxe?" "Nerv nicht! Irgendwer musste ja wohl die Scheiß-Lichterkette bergen, bevor wir hier abfackeln!" "Schon gut, schon gut, du Held! Nimm dich lieber vor den Slashern in Acht, so knackig, wie du ausschaust!" "Depp!" Die Tür flog ins Schloss. Bei Silvain rutschte ganz altmodisch der letzte Groschen ins Sparschwein. "Linus?" ¢___* "Wen hast du denn erwartet?! Die Zuckerfee?!" Silvain wagte nicht, in das entstellte Gesicht zu blicken, kniff die Augen zusammen. Auch das noch! Von allen Katastrophen des letzten halben Jahres kumulierte sich hier gerade die höchste Steigerung. Schlimmer ging es gar nicht mehr! Ausgenommen vielleicht noch ein streunender Meteorit auf Kollisionskurs mit der Erde. Wenn man bei "Linus" an den Schmusedecken-Charakter aus dem Ensemble der Peanuts des kongenialen Charles M. Schulz dachte... Oder sich zu Astrid Lindgrens "Bullerbü"-Kosmos und Konsorten verirrte... Lag man vollkommen und definitiv falsch. Der Vize-Kapitän der Hockey-Mannschaft maß mühelose 1,90m mit breiten Schultern und muskulösen Sprinter-Beinen. Die Wikinger "Wickie"-kupferroten Locken durften sich nur auf der Schädeldecke ringeln, ringsherum auf Millimeter gestutzt. Dazu Friesen-blaue Augen in einem sehr kantigen, nordisch geprägten Gesicht. Man erwartete förmlich, dass Linus Breitschwert oder Doppelaxt zückte, um anschließend aus Schädeln in Walhalla Met zu saufen, bis Ragnarökk eintrat! Silvain verstand, warum alle in Deckung gingen, wenn dieser Nordmann mit Hockeyschläger heranpflügte! Nicht, dass er sich jemals freiwillig in den Weg gestellt hätte. In einer achtzügigen Klassenstufe konnte man sich bei vollkommen gegensätzlichen Beschäftigungsvorlieben wunderbar aus dem Weg gehen. Was hatten auch ein notorisch unsichtbarer Büchernarr und ein sehr beliebter Schulsportler gemeinsam?! Wenn sie nicht mal dieselbe Klasse besuchten? Die Sache mit dem Hund, kurz vor den Sommerferien. Silvain hatte sich auf dem Heimweg befunden, wie immer zu Fuß, gebeugt unter seinem schweren Rucksack. Entgegen anderslautender Gerüchte nicht auf sein geliebtes Lesegerät konzentriert! Nein, er verhielt sich grundsätzlich nicht wie ein Smombie-Cousin, sondern achtete aus schmerzhafter Erfahrung auf den Weg. Der stellte auch gar nicht das Problem dar, sondern das Eckgrundstück mit dem Maschendrahtzaun, eher eine ausgedörrte Brache bei der Sommerhitze. Wo man eigentlich mit nichts zu rechnen hatte. Ausgenommen der kapitale Bullterrier, der für Silvain unerwartet dort zu Gast weilte, sich anschlich, mit aller Gewalt lautstark anschlagend gegen den Zaun warf. Gefühlter Zentner Kampfgewicht und mehr Dezibel als ein Düsenjet beim Starten! Urzeitliche Überlebensinstinkte sprangen unverzüglich an. Silvain taumelte, Gefahr für Leib und Leben annehmend, nach links, stolperte, zu Tode erschrocken vor dem geifernden Angreifer, einem Herzkasper nahe. Linus, auf einem schweren Hollandrad, nahm mit pedaliertem Schwung die Kurve sportlich, wollte einen Zusammenstoß vermeiden. Er stieg dabei über den Lenker ab. ¢___* Keine gebrochenen Knochen, aber Schürfwunden und Prellungen. Ein vor Schmerz zischender, athletischer Bursche. Silvain hatte sich sofort entschuldigt, sogar mühsam das tonnenschwere Hollandrad aufgerichtet. Die blitzenden Augen, die angespannten Sehnen: Gnade oder Vergebung schien nicht zu erlangen. Brüsk wurde er abgewiesen, stehen gelassen, während man das Rad schiebend davon tappte. Natürlich hatte er nach dem Schock Albträume gehabt, den Eltern sofort gebeichtet, was geschehen war. Die darauf hinwiesen, dass ein Bursche von der beschriebenen Größe nicht auf dem Gehweg zu radeln hatte. Außerdem sei der Halter des Köters zu belangen, wenn schon! Es kam jedoch noch schlimmer. Wie ihm seine aufgebrachten Schwestern in drastischen Worten erklärten: er hatte den Vize-Schulkapitän des Hockeyteams verletzt! Kurz vor dem entscheidenden Spiel! Endlich einmal hatte die Schulmannschaft es bis zum Endspiel geschafft! Man konnte Landesschulmeister werden! Hätte können. Wenn nicht der Vize-Schulkapitän bei einem Unfall so lädiert worden wäre, dass er nicht eingesetzt werden konnte. Silvain war für die nächsten zwei Wochen die meist verachtete Person im gesamten Landkreis. Mindestens. Spießrutenlauf par excellence. Die Sommerferien erlösten ihn glücklicherweise. Er hatte sich persönlich entschuldigt, durchaus. Im Kreis seiner Schulkameraden, die ihn wohl gern gelyncht hätten, hatte Linus ihn angeknurrt, er solle sich verziehen, ein Unfall eben, was soll's. Silvain bedauerte diese Verkettung unglücklicher Umstände intensiv und gründlich. Bloß schien es ihm dringend geboten, sich lieber in Luft aufzulösen, als weiteren Unmut hervorzurufen. Deshalb hatte er es entschlossen vermieden, Mitgliedern der Schulhockeymannschaft oder Klassenkameraden unter die Augen zu treten. Mit einem solchen Aufeinandertreffen hier rechnete er nicht. Aber es erklärte die Bissigkeit der rauen Stimme. JETZT musste er wirklich das Weite suchen! ¢___* "Ehrlich, was TUST du hier?! Und dann noch abseits des Wegs im Gebüsch?!" Silvain schreckte zusammen, verkroch sich in seinem Stadion-Parka. "Willst du so deine Höhenkrankheit kurieren?! In einer Burgruine? Und bei einem Grusel-Fest?!" Berechtigte Kritik. "He, jetzt klapp schon die Lider hoch!" Eine kraftvolle, warme Hand packte Silvains spitzes Kinn. Er schnappte verschreckt nach Luft, atmete falsch ein. Bekam prompt einen Schluckauf. Die entstellte Miene vor seinen extrem kurzsichtigen Augen und den verschmierten Brillengläsern verzog sich. "Meine Fresse." Stellte die raue Stimme enerviert fest. Silvain konnte nicht mal eine Entschuldigung hervorbringen, weil der Frosch in seiner Kehle noch schneller quakte. Man seufzte profund. "Das ist Erste Hilfe, klar?" Bevor Silvain begreifen konnte, WIE er in den Genuss derselbigen zu kommen anstand, legten sich warme Lippen auf seinen Mund. Verdattert verfehlte Silvain erneut Atemzüge. Sein Schluckauf verzog sich beleidigt ob der primären Aufmerksamkeit auf andere Umstände. Die Gruselfratze entfernte sich wieder. Man konnte kaum die tatsächlichen Gesichtszüge unter der aufwändigen Maske erahnen. "Schon besser." Bekundete Linus sachlich. "Mal ehrlich: wieso tust du dir das hier an? Du bist viel zu schreckhaft, als dass dir der Rummel hier gefallen könnte." Silvain starrte, spürte, wie ihm die Kinnlade sachte Richtung Knie sackte. Hatte~hatte Linus ihn nicht gerade geküsst?! Der ihm sogar sein Lesegerät aus den Händen nahm! "Nabil hat erzählt, dass du Purzelbäume den Hang runter geschlagen hast. Wirklich, du bist blind wie ein Maulwurf und treibst dich im Stockfinsteren im Grünzeug herum?!" Silvain brachte noch immer keine zusammenhängenden Silben über die Lippen. "Ist das Ding noch heil? Netter Einband übrigens, sehr maritim." Was sich auf dem selbst gemachten Schutzumschlag bezog, ein umgearbeiteter Waschlappen mit Pinguin, Leuchtturm und Steuerrad. "Also? Wo ist deine Familie? Du bist doch nicht allein hier, oder?" So langsam musste man wohl doch eine Einlassung von sich geben. Silvain schüttelte seine Verunsicherung behutsam ab. "Meine Schwestern wollten hierher. Ich musste mit." Linus lachte rau auf. "Sag nicht, dass du den großen Bruder spielen sollst!" "Wollte ich nicht!" Protestierte Silvain gekränkt, über sich selbst erstaunt. "Bloß unsere Eltern..." Er verschluckte den Rest, fischte nach seinem Lesegerät. "Was ist mit deinen Eltern?" Seltsam, führte er wirklich ein einigermaßen normales Gespräch mit Wikinger-Linus?! Den Blick auf seine Hände konzentriert, die das Lesegerät in Sicherheit brachten, murmelte er. "Sie wollten auf ein Konzert, bei Freunden übernachten. Meine Schwestern sollten hier nicht allein hingehen." Linus schnaubte. "Lass mich raten: du warst nicht wohlgelitten, hast dich deshalb in die Büsche geschlagen, um dir den ganzen Spaß hier zu ersparen." Womit er zweifelsfrei richtig lag. "Das ist ja bekloppt!" Lautete das nächste, vernichtende Urteil. "Hast du eine Ahnung, wie viele Deppen jedes Jahr aus dem Geröll gepflückt werden müssen?! Und da stolperst du im Dunkeln herum?!" Silvain versteckte sich zwischen seinen Schultern. Linus seufzte bis zum Erdinnern auf. Klar, ein hoffnungsloser Fall, dieser Hockey-Schulmeisterschaft-Saboteur! "Du hättest dir den Schädel einschlagen können. Hier oben gibt es keinen Handyempfang. Was glaubst du, wie lange es gedauert hätte, bis dich jemand findet?!" Es klang sachlich, nicht hämisch oder tadelnd. Silvain umklammerte sein flauschig verpacktes Lesegerät, weigerte sich standhaft, den Kopf zu heben. "Ich wollte bloß lesen." Für lange Momente blieb es sehr ruhig, hörte man nichts weiter als ihre angespannten Atemzüge. "Was ist denn so spannend, dass du dafür Kopf und Kragen riskierst?" Silvain zögerte. Sollte er aufrichtig antworten? Er entschloss sich, den bitteren Trank bis zur Neige zu leeren. "Das neue Abenteuer von Vincent Valentine." "Kenne ich nicht. Worum geht's denn da?" JETZT konnte Silvain nicht länger auf seine Hände in seinem Schoß starren. Er musste einfach den Kopf heben, das grässlich entstellte Gesicht ansehen! Machte Linus sich wirklich nicht über ihn lustig? Trotzdem schauderte er spontan, im Reflex. Die Grimasse, die Linus zog, verbesserte den verheerenden Eindruck nicht sonderlich. "Wirklich!" Die Hand, die zuvor Silvains Kinn geschnappt hatte, kraulte durch dessen wirren, unzulänglich geschnittenen Schopf. "Du solltest nicht hier sein." Silvain versuchte sich an einem schiefen Lächeln. "Ich hätte es auch anders vorgezogen." Er verstummte, weil ihm bewusst wurde, dass er sich mal wieder zu verschroben-elitär ausdrückte. Linus brummte. "Tja, nun wissen wir wenigstens, dass du nicht nur unglaublich schreckhaft bist, nicht schwindelfrei und höhenkrank, sondern auch kein Blut sehen kannst. Und es ist erst kurz nach Mitternacht." DAS klang nun wieder sehr sarkastisch! Es rief Silvain unangenehm in Erinnerung, dass er NACH den Sommerferien erneut für Klatsch gesorgt hatte, unfreiwillig selbstredend. Ein Ausflug in einen Kletterwald zur Förderung des Gemeinschaftssinns, für Silvain ein Horrortrip mit traumatischen Spätfolgen, nahe am Nervenzusammenbruch. Er hatte vorher ja auch nicht ahnen können, dass ihm diese Höhen quasi freischwebend in den Baumwipfeln derart zusetzen würden! Höher als eine dreistufige Leiter war er bisher in seinem Leben noch nicht gekommen! (Nein, er war kein Schwimmbad-Gänger oder Turmspringer oder Gerüstkletterer oder Aussichtsturm-Besteiger! Noch nie!) Quasi auf dem Zahnfleisch, ein zitterndes Nervenbündel, hatte er diesen grauenvollen Ausflug überstanden. Was seine Beliebtheit im Klassenverbund nicht steigerte. "Ich gehe jetzt besser." Entschied Silvain. "Bist du sicher?" Bevor er von der schmalen Liege klettern konnte, hatte Linus ihn mit beiden Händen am Parka gepackt. "Ja, es geht schon." Zwang sich Silvain ein tapferes Lächeln auf die bleiche Miene. "Dann langsam. Ich will nicht, dass du dir hier auch noch den Schädel einschlägst." Wurde er streng angewiesen. Sehr vorsichtig glitt Silvain herunter, stand, ein wenig wacklig, wieder auf eigenen Beinen. Unversehens baute sich auch Linus neben ihm auf. Silvains Blick fiel auf den deutlich sichtbaren Verband. Er schluckte merklich. "Tut es sehr weh?" "Nur wenn ich steppe und beim Spagat." Grollte die raue Stimme über ihm. "Wo hast du dich mit deinen Schwestern verabredet?" Silvain zog die Stirn kraus. "Gar nicht. Ich bin eher ins Hintertreffen geraten beim Aufstieg." Linus hängte sich eine Tasche um. "Du bleibst besser bei mir. Wer weiß, in was für Schwierigkeiten du sonst noch gerätst." Er klang derart entschieden, dass Silvain jede Widerrede für aussichtslos hielt. ¢___* Erst als er in Linus' Windschatten den Raum verließ, der durch die dicken Mauern gut isoliert war, wurden ihm Kälte und Lautstärke des Spektakels erneut ins Gedächtnis gerufen. Linus musste sich abmelden, was die Begegnung mit diversen anderen Beschäftigten zur Konsequenz hatte, die allesamt kunstfertig und albtraumhaft ausstaffiert waren. Auch wenn sie nicht aus dem Hinterhalt agierten, zitterten Silvain bald wieder die Knie. Jetzt noch der Abstieg (AUF DEM WEG!) bis zum Bus-Shuttle! "Komm her!" Wurde er unter Linus' rechten Arm gezogen. "Invalide!" Bellte der zur Erklärung, warum er einer menschlichen Krücke bedurfte. Allerdings hegte Silvain gewisse Zweifel. ER konnte wohl kaum die richtige Unterstützung leisten, musste vielmehr immer wieder rasch nach dem Kostüm greifen, um nicht selbst ins Stolpern zu geraten. Dass auf dem Parkplatz wieder Handyempfang herrschte, konnte niemand übersehen: keine Miene wurde NICHT von Bildschirmen angeleuchtet. "Und, wo sind deine Schwestern abgeblieben?" Silvain fahndete nach seinem eigenen Mobiltelefon. Er nutzte es nur selten. Außer der Familie pflegte niemand mit ihm in Kontakt treten zu wollen. Umgekehrt verhielt es sich allerdings genauso. All die nutzlosen Nachrichten kosteten wertvolle Zeit, die man nicht schmökern konnte! "Oh." Murmelte Silvain, tastete, mit wachsender Nervosität, seinen Stadion-Parka ab. Linus, der ihn entschieden in den Shuttle-Bus dirigierte, damit sie nicht auf den nächsten in einer Viertelstunde warten mussten, schnaubte, sicherte den in den Serpentinen taumelnden Silvain mit einem Arm, während er schlicht das Mobiltelefon requirierte. "Na, ganz reizend. Zucker, die beiden!" Ätzte er. Silvain teilte seine Gefühle in diesem Moment uneingeschränkt. Er hatte tatsächlich den Schlüsselbund NICHT bei sich, obwohl er ihn eigentlich in den Parka gestopft hatte. Wenn die beiden Plagegeister ihn nicht anführten, stand er in Bälde allein vor dem verschlossenen Haus! ¢___* "Nun komm schon!" Silvain zögerte, ballte die Fäuste, um die Blutzirkulation wieder anzuregen. Was sollte er tun?! "Herrje!" Wieder packte Linus ihm ungeniert den muskulösen Arm über die knochigen Schultern, dirigierte ihn einfach vom Busbahnhof weg. "Willst du etwa auf ner Parkbank pennen, oder was?!" Rhetorisch. Silvain seufzte, unterdrückte ein Schniefen. "Wenigstens laufe ich nicht Gefahr, von Monstern angefallen zu werden." Zweckoptimismus. "Wieso das denn?!" Linus klang irritiert. Eine Erläuterung schien angezeigt. "Entsprechend den Filmen fallen nur attraktive Teenager in das Beuteschema." Eine gute Haupteslänge über ihm schnaubte es aufgebracht. "Ja, klar! Weil wir im Kino sind und all die Ungeheuer sich auch brav ans Skript halten! Wie konnte mir das entgehen?!" Silvain schrumpfte, mal wieder, in seine ohnehin dünne Gestalt hinein. "Du pennst bei mir. Keine Diskussion mehr." Wobei Silvain gar nicht erst zu Wort gekommen war und er gar keine Alternative hatte. "Danke." Wisperte er eingeschüchtert. Linus antwortete ihm nicht. Für einen Augenblick, so schien es Silvain, verstärkte sich der Griff um seine Schultern. ¢___* Kapitel 2 - Der "wahre" Wikinger Linus wohnte in einer Mansarde unter dem Dach, eingerichtet in den Sechzigern, zur Jahrtausendwende modernisiert. Schrägdach, ein Raum, abgetrennt durch eine Falttür in einer Schiene ein kleines Bad mit WC, Duschkabinett und Waschbecken unter einer winzigen Dachluke. Zögerlich betrat Silvain das Einzimmer-Appartement. Alles wirkte sehr kompakt, aber ordentlich. "Gib mir deine Jacke." Linus kramte einen einfachen Metallbügel heraus. An einer Holzleiste befanden sich diverse runde Knöpfe, die Kleiderbügel trugen, von der Hockey-Ausrüstung, ein Sakko, eine College-Jacke. "Hier!" Aus einer alten Kommode wurden Kleiderbündel auf ein Futon-Bett mit französischem Maß gelegt. "Zieh dich um. Gut, dass es nicht geregnet hat, sonst sähst du wie ein Erdferkel aus." Linus verschwand im Bad. Man hörte ungeduldiges Grummeln. Silvain glitt linkisch aus seinen Jeans, streifte Pullover und Hemd ab. Natürlich, Sweatshirt und Jogginghose waren viel zu groß! Außerdem merkte er jetzt doch, dass die Abkürzung zur Böschung nicht gerade weich gepolstert gewesen war. "Komm mal, bitte!" Forderte Linus ihn auf. Verlegen tappte Silvain heran. Für zwei Leute war das Bad definitiv zu klein! Das kunstvoll geschminkte Gesicht mit einer ölig glänzenden Schicht bedeckt wandte sich Linus zu ihm um. Unwillkürlich schauderte Silvain. "Lass mal sehen." Einige Bedenksekunden später rollten die Friesen-blauen Augen ungeduldig. "Deine blauen Flecke. Weil du temporär die Hufe hochgeklappt hast, hat sich niemand darum gekümmert." Silvain zögerte. "Also, das geht schon..." Ein langer Arm angelte ihn erst heran. Linus bediente sich quasi selbst. "Echt, es ist spät, ich bin hundemüde, muss das Zeug noch von meiner Visage spachteln...!" Subtil ausgedrückt: mach es mir nicht noch schwerer! Hätte Silvain auch kaum vermocht, wurde er doch erst oben entblößt, herumgedreht, auf engstem Raum mit einer schimmernden Salbe einbalsamiert. Oben wieder schicklich bedeckt, sogar die Ärmel aufgekrempelt, ging es souterrain weiter! Linus ging vor ihm in die Hocke, was seiner Wunde wohl kaum guttun konnte, cremte hier, inspizierte da. "Wirklich, es ist nicht schlimm, ich bin das gewöhnt!" "Was du nicht sagst!" Knurrte es von unten. "Du willst mir hoffentlich nicht weismachen, dass du eine Karriere als Buschhocker und Kletterkünstler anstrebst?!" Silvain verstummte. Es beschämte ihn ja selbst, wie ungeschickt er war, wie ungezogen seine schlaksigen Glieder sich anstellten. "Steig in die Hose, die Hände auf meine Schultern." Wortlos gehorchte er, ließ auch hier zu, dass die Hosenbeine aufgewickelt wurden. "Nimm auch die Wollsocken. Es wird hier nachts kühl, trotz der Dämmung." Gesenkten Hauptes leistete er Folge, schlich sich zum niedrigen Bett. Seine Manieren gewannen trotz der geknickten Stimmung die Oberhand. "Vielen Dank. Wie geht es deinem Bein?" "Halb so wild. Hab schon Schlimmeres überstanden." Ertönte aus dem Bad, von einer längeren Pause gefolgt. Linus streckte den Kopf um die Ecke, zur Hälfte von Farbe befreit. "Mach dir keinen Kopp deswegen, ja? Das war damals nicht deine Schuld." Silvain, der wie ein armer Sünder auf der Bettkante hockte, nickte brav. Offenkundig nicht überzeugend, denn Linus trat zu ihm, ließ sich neben ihm nieder. "Ich mein's ernst. Ich bin dir nicht böse. Ich trage dir nichts nach, klar, Silvain? Jetzt kriech unter die Decke." Eine strenge Aufforderung. Linus kam wieder auf die Beine, um auch die andere Geschichtshälfte per Ölauflage zu befreien. Folgsam, wenn auch beklommen, glitt Silvain unter die breite Decke, rutschte an die Wand, zog die Beine vor den Leib. Trotz Linus' aufmunternder Worte fühlte er sich elend. Nicht nur die Erinnerung an die Kollision plagte ihn, auch der gemeine Streich seiner Schwestern. Wieso hatte es ihnen nicht gereicht zu wissen, dass ein Abend bei der Horror-Veranstaltung ihn zu einem Nervenbündel degradieren würde? Welcher Missetat verdankte er diese Aktion? Im Bad erlosch das Licht. "Ich lasse die Jalousie oben, ja?" Linus knipste auch die Deckenlampe aus, sodass nur noch das Dachfenster für Semi-Düsternis sorgte. "Silvain, gib mir deine Brille. Du verbeulst dir so ja auch noch das Gesicht!" ¢___* Silvain schnappte nach Luft, doch der Brustkorb blieb ihm wie zugeschnürt. Sein Herz raste, in seinen Ohren rauschte es. Kein Sprint mit Olympianorm hätte stärker wirken können. Plötzlich war da Wärme, kraftvoller Widerstand. Eine raue Stimme, leichter Seegang. Silvain japste erbärmlich. Sein Verstand kehrte allmählich ins Diesseits der Realität zurück, wo er eng umschlungen wie ein Kind gewiegt wurde, heiser Silben gemurmelt wurden, wieder und wieder. Dass er keine Angst haben müsse, alles gut sei, niemand ihm etwas tun werde. Silvain schluchzte vor Erleichterung auf. Die Finger noch immer in ein fremdes T-Shirt gekrallt setzte auch die fällige Scham ein. Klar, ein Albtraum, aber dieses Mal in Gesellschaft. Wie peinlich! Und noch vor Linus, dem Wikinger! Den er, sein Gastrecht gänzlich missbrauchend, aus dem Schlaf gerissen hatte! "Schsch, alles gut. Alles in Ordnung, hab keine Angst. Nur ein Traum. Alles gut." Beinahe hypnotisch beschwor ihn die raue Stimme, wurde sein wirres Haar, sein Nacken gestreichelt. Hockte er wirklich auf Linus' Schoß?! Der ließ sich langsam auf den Rücken sinken, ohne dabei Silvain freizugeben, zog ihn auf sich, arrangierte die Decke über ihnen. Schlang einen Arm sichernd um Silvain. "Erzähl mir etwas, Silvain. Von diesem Vincent. Was erlebt er für ein Abenteuer?" Ein Ablenkungsmanöver, um ihn zu beruhigen! Fürsorglich wie bei einem kleinen Kind. Tröstend, aufmunternd. Silvain schniefte beschämt. Halb auf einer fremden Brust liegend begann er stockend zu berichten, wohin er Vincent Valentine so fasziniert gefolgt war. ¢___* Unvertraute Geräusche weckten Silvain aus einer bleiernen Tiefe. Er rollte auf den Rücken, rieb sich über das Gesicht. Eine der wenigen Gelegenheiten, wo er ohne Brille blieb, sonst galt für ihn nämlich: erster Griff am Morgen und letzter Griff am Abend. Während er blinzelnd die Dachschräge anvisierte (nur schemenhaft erahnen konnte), prasselten Erinnerungen hektisch auf ihn ein. Mit einem Aufkeuchen stemmte er sich hoch. "Guten Morgen." Stellte Linus fest, bereits angezogen in Jeans und Sweatshirt. "..Mor~Morgen!" Stammelte Silvain krächzend, senkte eilig den unscharfen Blick. Wofür sollte er sich zuerst entschuldigen? "Wie fühlst du dich? Was ist mit deinen blauen Flecken und den Schrammen?" Es klang inquisitorisch, streng, beinahe mütterlich. Zumindest wie die strikte Variante mit steifer Oberlippe und gestärkter Hemdbluse. "In Ordnung?" Optionierte Silvain vorsichtig. Bei dieser Sorte Fragen kannte er nie die richtige Antwort. Irgendwas schien immer weitere Kritik und Befehle zu provozieren. "Ob ich wohl bitte meine Brille bekommen könnte?" Eruierte er scheu vermintes Gelände. Unerwartet wurde seine Rechte gekapert, was ihm postwendend ein Ächzen entlockte. Unkommentiert schob eine warme Hand sich unter sie, während ihr Gegenstück in seiner Handfläche das Brillengestell absetzte. "Da hast du sie. Ich hab keine zweite Zahnbürste, aber ich mach dir Mundwasser zum Gurgeln. Wenn du angezogen bist, gehen wir frühstücken." Wurde ein Plan aufgestellt. Silvain rüstete sich eilig aus, seine Umgebung geschärft wahrzunehmen. Er räusperte sich. "Wegen heute Nacht: bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken." Linus, der im Separee offenbar die Mundspülung mischte, streckte den Kopf heraus. "Schon gut. Hätte ich mir denken können. War ja ein ziemlich hässlicher Tag für dich." Silvain studierte verblüfft die gefaltete Schiebetür. Kein Vorwurf. Kein Spott. Kein herablassender Kommentar über den Schisser. Umsichtig schlug er die Bettdecke zurück, rutschte zur Bettkante, stellte die Füße (in fremden Wollsocken) auf den Boden. Ausgesprochen unerwartet! Behutsam richtete er sich auf. Jetzt registrierte er schon, dass die Stunt-Einlage des Vortags Folgen zeitigte. "Alles in Ordnung? Ist vielleicht besser, ich sehe mir deine Souvenirs von gestern an." Bevor er Linus widersprechen, ihn abwimmeln konnte, fand Silvain sich in das kleine Bad bugsiert, von übergroßer Leihbekleidung befreit, wurde ganz unaufgefordert erneut eingecremt. "Hier, das Mundwasser!" Nicht mal Protest konnte er anbringen, da Linus ihn beständig beschäftigte! Verflixt gutes Timing! Während er die Backen aufblähte, um brav die Mischung in jeden Winkel zu spülen, beäugte er die Ausstattung. Sehr sparsam. Tatsächlich konnte er sich nicht erinnern, jemals so eine spartanische "Kultur"-Ausrüstung gesehen zu haben: Rasierhobel mit Gabel in Zahnputzglas, Zahnbürste aus Bambus, Seife am Stück, Holzkamm, Glasdose mit einer Art Fett, kleine Braunglasflasche mit Ölen. Als hätte Linus seine Gedanken gelesen, knurrte der hinter ihm. "Tja, Verzeihung, aber für den Kosmetik-Kinkerlitzchen-Kram fehlt mir das Geld. Hoffentlich hat dein Handy keine Powerbank gebraucht." Silvain, noch hamsterbackig, schüttelte eilig den Kopf, spuckte reserviert in den Ausguss. Der Geschmack des Mundwassers erschien ihm ausgesprochen neutral. "Vielen Dank für die Spülung!" Beeilte er sich zu formulieren. "Hier, das Handtuch ist für dich. Gesicht wienern, Schädelwuchs striegeln, dann ziehen wir los!" Mit diesen Kommandos ließ Linus ihn allein. Silvain blinzelte sich im aufgeklebten Spiegel erstaunt an. Dieser Wikinger war sehr nett. Beängstigend! ¢___* Silvain vermutete durchaus, dass das aufgeschlagene Schienbein schmerzen musste. Allerdings erschien es ihm seltsam, dass ausgerechnet seine Schultern als Stütze nützlich sein konnten! Was Linus nicht abschreckte, der ihm einen muskulösen Arm umlegte, von liederlichem Nieselregen getarnt, ihren Kurs entschieden lenkte, in eine Filiale einer Bäckerei-Kette. Dort kannte man ihn zweifellos, er wurde mit Namen begrüßt, gefragt, ob er das "Übliche" wünsche. "Ich möchte dich einladen!" Freute sich Silvain über die eigene Geistesgegenwart. Die Friesen-blauen Augen nahmen ihn aus der Höhe in den Fokus. "Bist du sicher, dass deine sinistren Schwestern dir deine Geldbörse unversehrt gelassen haben?" Ein wenig boshaft. Trotzdem. Rapide die ohnehin kaum vorhandene Gesichtsfarbe verloren inspizierte Silvain sein Portemonnaie. "Gehässig und gut organisiert." Kommentierte Linus. "Was willst du frühstücken? Heiße Schokolade auf den Schrecken?" ¢___* Silvain kauerte auf der kleinen Eckbank, leckte sich einen süßen Schokoladenbart von der Oberlippe. Er verzweifelte still vor sich hin. "Ist dir nicht gut? Hör mal, du musst dich nicht zurückhalten, ja?" Linus, der Kaffee und ein bunt belegtes, halbes Baguette verzehrt hatte, studierte ihn konzentriert. Das wirkte grundsätzlich grimmig. "Danke schön. Mir ist ein wenig flau." Antwortete Silvain leise, wohlerzogen. "Hast du Kopfschmerzen? Ist dir schwindlig? Wo tut dir was weh?" Linus beugte sich sofort zu ihm herüber, legte ihm sogar die Hand auf die Stirn unter die wirren Strähnen. "Du wirst doch keine inneren Verletzungen haben, oder?!" Verblüfft über diese vehemente Sorge schüttelte Silvain eilig den Kopf. "Nein, es ist nur... ich habe keinen Appetit. Entschuldigung." Er wollte Linus nicht gerade gestehen müssen, dass er nicht wusste, warum er sich die geballte Gemeinheit seiner Schwestern zugezogen hatte. Über die markanten Gesichtszüge huschte eine Ahnung von bösem Ingrimm. Unwillkürlich schauderte Silvain, schrumpfte in seinem Stadion-Parka stärker ein. "Du solltest dich ein wenig hinlegen. Vielleicht hast du dich ja auch verkühlt." Linus erhob sich geschmeidig, streckte ihm die Rechte hin. "Komm, gerade regnet es ein bisschen langsamer." ¢___* Silvain staunte. Wortlos. Weil er erneut in den geliehenen, übergroßen Kleidern in Linus' Bett lag, zwei Kissen in den Nacken gestopft. Der füllte gerade eine Glasflasche zur Hälfte mit heißem Wasser, verschraubte sie fest, wickelte sie in ein Handtuch ein. "Hier, was Besseres habe ich nicht." Die Wärmflaschen-Alternative ruhte auf Silvains Bauch. Die Decke wurde bis unter sein Kinn hoch gezogen. Linus sammelte sein Lesegerät auf, ließ sich neben ihn auf dem Bett nieder. "Okay, wie komme ich mit dem Ding bis zur Stelle, wo du gestern aufgehört hast?" ¢___* Nachdem Linus herausgefunden hatte, wie er die Seiten per Fingertipp "umblättern" konnte, ruhte seine freie Hand auf Silvains Schopf. Nun, sie ruhte nicht wirklich, sondern streichelte ihm über den Schopf, die Wange. Leicht, sanft, während Linus ihm mit rauer Stimme flüssig vorlas. Obwohl Silvain sich regelmäßig in der Lektüre verlor, vollkommen eintauchte, wenn er Vincent Valentine folgte, war es dieses Mal anders. Ein Teil seiner Aufmerksamkeit protokollierte das Geschehen jenseits der digitalen Welt: dass hier der gefürchtete Wikinger ihm vorlas, ihn umsorgte wie ein krankes Kind, mit Wärmflasche und Aufmerksamkeit. Liebkosungen... Silvain konnte sich nicht entsinnen, dass seine Eltern ihn jemals so behandelt hatten. Trotz seiner chronischen Ungeschicklichkeit war er nie richtig erkrankt. Bei drei Kindern musste man sich seine Aufmerksamkeiten genau einteilen. Nachdem das Kapitel abgeschlossen war, richtete sich Silvain auf. "Danke schön. Mir geht es schon viel besser." Gab er eine Statusmeldung zum Bulletin ab. "Bist du sicher? Keine Schmerzen? Kopf klar? Bauchgrimmen?" Silvain nickte brav. "Vielen Dank. Ich befinde mich wohl." Bestätigte er. Was ein wenig gemein war. Eine Falle. Gewissermaßen. "Na schön. Hätte ja wirklich sein können, dass es Spätfolgen von gestern sind." Verteidigte Linus seine Fürsorge sich abgewandt, um das Lesegerät abzulegen. Das hieß nicht, dass sein Radar abgeschaltet wurde. "Was ist los?" Wieder pfeilschnell und skalpellscharf. Silvain räusperte sich nervös. "Ich bin erstaunt, dass wir uns so flüssig unterhalten können." Linus knurrte. Man meinte förmlich, den Fenris-Wolf im Schatten lauern zu hören. "Tja, entschuldige! Aber 'ich schwör, Alder und Babu'-was auch immer gehört nicht zu meiner Forte. Wir können nicht alle polyglott sein." Mit dem ätzenden Tonfall jedoch Fensterlack abbeizen, ganz mühelos. Ein selbstmörderisches Kichern bahnte sich seinen Weg von Silvains Zwerchfell hoch. Er presste eilig die Lippen aufeinander, wandte den Kopf ab, um sich nicht zu verraten. "Andererseits ist es schon sehr nett, nicht jeden dritten Satz dolmetschen zu müssen." Grummelte Linus, barg die improvisierte Wärmflasche samt ihrem Handtuchmantel. Silvain schmunzelte scheu. "Hoffentlich habe ich jetzt mein Image als degenerierter Höhlenmensch mit IQ-Defizit nicht final ruiniert?!" Linus schnaubte, funkelte aus den Friesen-blauen Augen. "Ich dachte, du könntest mich nicht leiden!" Platzte Silvain amüsiert heraus, bevor er sich bremsen konnte. Der furchteinflößende Wikinger zischte grimmig. "Hör mal, ich hab dir gesagt, dass das damals ein Unfall war! Ob wir wirklich gewonnen hätten, steht in den Sternen, ja?!" Automatisch zog Silvain die Schultern hoch, klappte die Arme vor den schmächtigen Oberleib. Auf der Bettkante ballte Linus die Fäuste. In seinem Gesicht zeichneten sich über den markanten Gesichtszügen merklich Sehnen ab. "Ich wollte dich nicht erschrecken." Unbehaglich visierte Silvain die Bettdecke auf seinem Schoß an. "Entschuldige, das ist ein Reflex. Ich bin ein notorischer Angsthase." "Das ist nicht wahr." Linus atmete tief durch. "Es war sehr mutig, zu mir zu kommen und dich zu entschuldigen, vor meiner gesamten Klasse. Auszuhalten, dass sie dich als Sündenbock ausgewählt haben." Bevor Silvain etwas entgegnen konnte, registrierte er die fast erstickende Anspannung. Dass Linus keineswegs seinen Vortrag schon abgeschlossen hatte. "Du hast im Kletterpark bis zum Ende durchgehalten. Du bist gestern durch die meisten Attraktionen gelaufen, obwohl du so etwas nicht magst." Unwillkürlich schauderte Silvain. "Du bist mutig. Du stehst zu dir, auch wenn andere dich verspotten. Du bist sogar mit mir gegangen, obwohl du geglaubt hast, dass ich dich nicht leiden kann." Silvain empfand das letzte Argument als recht löchrig. Er hatte ja opportunistisch die einzige Gelegenheit wahrgenommen, nicht im Freien ausharren zu müssen, bis seine Eltern sich einfänden! Vor Linus hatte er sich nicht gefürchtet. "Trotzdem scheine ich dir immer wieder unabsichtlich Ärger zu bereiten." Murmelte Silvain, um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern. Allerdings klang seine Stimme eher piepsig und unsicher. "Du hast mir keinen Ärger gemacht!" Donnerte Linus, atmete beherrscht durch. Aus den Augenwinkeln blinzelnd konnte Silvain die geballten Fäuste zucken sehen. "Ich hab allerdings gedacht, mir bleibt das Herz stehen, als du neben Nabil auf den Boden gesackt bist. Das hat MICH erschreckt." "Verzeihung." Murmelte Silvain eingeschüchtert. "Verdammt." Eine Feststellung, seltsam gepresst klingend. "Du hättest nicht da sein sollen." Lakonisch. Bitter. Aber kein Vorwurf. Aus den Augenwinkeln konnte Silvain erkennen, dass Linus starr ins Leere sah, angespannt wie eine Sprungfeder kurz vor der Entladung. Oje. Hatte er dessen Geduldsfaden jetzt etwa auch überstrapaziert?! "Alle können sich mal erschrecken. Angst bekommen." Linus formulierte leise, die Silben schartig, wie geborstenes Glas. "Sich nicht davon beherrschen lassen, das ist mutig. Du bist mutig." Er lachte bitter auf. "Glaub mir, ich muss es wissen. Ich bin nämlich ein Experte in Sachen Feigheit." Silvain starrte ungläubig auf das markante Profil. Sah man es, erwartete man förmlich die Attacke mit Streitaxt, ein unbarmherziges Gemetzel, grimmig, finster, verächtlich! Obwohl es ihm selbstmörderisch vorkam, konnte Silvain nicht schweigen. In Kombination ergaben Wort und Ausdruck einfach keinen Sinn! "Entschuldige bitte, aber ich verstehe das nicht. Du bist doch der beste Angreifer im Hockeyteam?" Hasardierte er sich um Kopf und Kragen. Wieder lachte Linus auf, böse, abschätzig. "Oh ja! Das macht mich nicht mutig, nur zu einem Typen, der mit einem krummen Stock eine Kugel übers Feld drischt." Silvain runzelte unter dem wirren Pony die Stirn. "War es nicht mutig hochzuklettern, um zu verhindern, dass diese Leuchtkette einen Brand auslöst?" Vage konnte er sich noch der Ursache für Linus' malträtiertes Schienbein entsinnen. "Ach was!" Schnaubte der, die Fäuste zuckten. "Irgendwer musste es machen. Ich hab die größte Reichweite." "Ich hätte mich das bestimmt nicht getraut!" Versuchte sich Silvain an einer Aufmunterung. Linus grummelte, keineswegs besänftigt. "Natürlich nicht, weil es unvernünftig wäre. Das hat nichts mit Mut zu tun, sondern mit Verstand." Weil ein Höhenkranker eben selten hilfreich bei derlei Operationen agieren konnte! Silvain grübelte ratlos, wie er die Stimmung verbessern konnte. In gewisser Weise fühlte er sich dafür verantwortlich, weil er Linus ja dauernd in Kalamitäten brachte! Der atmete tief durch, lächelte bitter, eine grimmige Fratze. "Ha, gerade versuche ich es schon wieder!" Er ballte die Fäuste so fest, dass man es deutlich knacken hören konnte. Im Reflex zog Silvain die Schultern höher, schrumpfte. "Ich bin ein Feigling." In Linus' Miene tanzten unkontrolliert Sehnen unter der Anspannung. "Seit drei Jahren gehe ich mir selbst weiträumig aus dem Weg, lüge mir selbst in die Tasche, ducke mich weg." Unter der rauen Stimme, die so vernichtend urteilte, schauderte es Silvain. "Gestern hab ich dich auch angeführt, weil die Gelegenheit günstig war. Weil ich ein feiges Arschloch bin." ¢___* Silvain unterdrückte ein Keuchen. Er konnte Linus' Selbstanklage nicht folgen. Es erschütterte ihn, wie gnadenlos und unbarmherzig der sich selbst abschrieb. "Sie haben dich gleich auf die Pritsche gepackt. Mit mir waren die Johanniter ja schon fast durch. Sie wollten nach den Leuten sehen, die Pfefferspray abbekommen hatten." Linus starrte die Leere nieder, als könnte jeder Blick wie ein Laser alles niederbrennen. "Ich hab ihnen gesagt, dass ich auf dich achte, sofort Bescheid gebe, wenn du zu dir kommst." Die Fäuste zuckten. "Das war natürlich gelogen. Ich hab dich schlafen lassen, mich uneingeladen dazu gequetscht, dich festgehalten. Weil du dich ja nicht wehren konntest." Silvain spürte, wie ihm die Kinnlade herabsackte. Linus hatte die eigene Kreuzigung noch nicht abgeschlossen. "Geküsst habe ich dich auch. Von wegen 'Erste Hilfe'. Ha! Selbstbedienung! Wer zählt da schon mit?! Sehr MUTIG von mir, oh ja!" Zu der unerwarteten Frischluftzufuhr seiner Kehle gesellte sich auch noch eine merkliche Hitze in seinen Wangen. Krächzend brachte sich Silvain ein. "Aber...warum?!" "Weil ich ein feiges Arschloch bin. Sagte ich das nicht bereits?!" Schnarrte Linus zurück. Kehrte ihm sogar den Rücken zu! Das veranlasste Silvain, die Decke abzuschütteln, sich auf die Knie zu begeben. So konnte man schließlich leichter die Bettkante ansteuern! "Stopp!" Donnerte Linus. Erschrocken plumpste Silvain auf seine hinteren Buchstaben, verfolge ungläubig, wie Linus eilig die Hände unter seine eigene Kehrseite schob. "Was tust du da?" "Mich setzen. Auf meine Greifer. Weil ich sie sonst nicht bei mir behalten kann." Silvain studierte die muskulöse Rückenpartie. "Du würdest mich anfassen?" "Exakt." "Oh." Diese ganze Episode nahm nach Silvains Auffassung surreale Züge an. "Verstehe ich das richtig? Du würdest mich anfassen, aber nicht, um mich zu zwiebeln? Zu hauen?" Das zumindest stellte eine vertraute Annäherung seiner Schwestern dar. Linus seufzte durch zusammengebissene Zähne. "ICH würde dich anfassen, wie ich dich schon angefasst habe!, um definitiv unkeusche, strafbare, sexuell übergriffige Handlungen zu begehen. Fortgesetzt." Auf die Hacken gerutscht sortierte Silvain überfordert diese Einlassungen. "...also... magst du mich...möglicherweise?" Konkludierte er zögerlich. Der Wikinger entließ ein Zischen. Man hätte eine direkt bevorstehende Explosion vermuten können. "Ja. Ich mag dich. Sehr." Es klang, als hätte Linus sich gerade in das tiefste Loch des Universums versenkt. ¢___* Silvain frage sich hilflos, was er nun unternehmen sollte. Die Situation übermannte ihn, gar keine Frage. Niemand hatte ihm je gesagt, dass er gemocht wurde, einfach so! Immerhin, so viel Selbstreflexion sprach er sich zu, war er mit seiner Ungeschicklichkeit, der ständigen Schreckhaftigkeit und anderen Charakter-Untiefen mehr als anstrengend. Optisch ganz und gar nicht vorzeigbar, gerade noch erträglich. Zudem ein entsetzlicher Langweiler. Neben seiner Verwirrung empfand er jedoch großes Mitgefühl, weil Linus sich offenkundig sehr plagte. Löste er nicht mit seiner Anwesenheit noch mehr Unannehmlichkeiten aus? Eine Entschuldigung schien angezeigt. Bevor er jedoch entsprechende Worte zusammensuchen konnte, wandte sich Linus auf der Bettkante zu ihm um, saß weiterhin auf seinen Händen. Linien in seinem Gesicht kündeten von einer Qual, die ihn viel älter wirken ließ. "Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es mir leid tut." Ein bitteres Lächeln verzerrte seine Miene. "Trotz meiner ekelhaften Feigheit bringe ich DIE Lüge nicht über die Lippen. Scheinbar lasse ich nach." Silvain betrachtete ihn beklommen. "Ich wollte dir wirklich keinen Ärger machen." Linus schnaubte, bot ihm das Profil. "Wir reden wohl aneinander vorbei. DU machst mir keinen Ärger. Ich kann mich bloß selbst kaum ertragen." Das Rückgrat mit jedem einzelnen Wirbel aufrollend, Zollstock-gerade, ermahnte sich Silvain zu Mut. "Ich finde dich sehr 'erträglich'. Und nett." Nervös schielte er durch die obligatorischen Schlieren und Fingerabdrücke nach den Friesen-blauen Augen. "Aber ich bin NICHT nett!" Stellte Linus grimmig richtig, beugte sich sogar vor, Frostfeuer funkelnd, bedrohlich. "Ich hab dich sexuell belästigt, deine Lage ausgenutzt. Fortwährend." Unruhig wrang Silvain die Hände, die sich nicht am geliebten Lesegerät festklammern konnten. "Ich bin mir nicht belästigt vorgekommen. Dann zählt es nicht, richtig?" Tapfer hielt er dem Friesen-blauen Laserblick stand. Schließlich war es Linus, der sich abwandte, die Zähne in die Oberlippe grub. "Dir ist schon bewusst, dass ich damit weitermachen könnte?" Silvain, immer noch lotrecht sitzend, nickte entschieden. "Das macht mir keine Angst!" Verkündete er höchst entschlossen. Linus warf ihm einen Seitenblick zu. Ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht. "Wieso macht dir das keine Angst? Hattest du schon mal einen festen Freund?" Ein wenig spöttisch klang es schon, aber eben auch rau und unglücklich. Silvain zog die Nase kraus. "Ehrlich gesagt befinde ich mich zum ersten Mal in so einer Situation. Aber bis jetzt ist mir ja nichts passiert." Er knetete seine Finger geistesabwesend. "Ich habe eher den Eindruck, dass du jedes Mal, wenn wir uns begegnen, das schlechtere Ende erwischst." Genau, Verletzungen, verlorene Meisterschaft, nun diese Aufregung! Linus lachte leise, schniefte, schüttelte den Kopf. "Es würde mich wirklich helfen, wenn du dich angewidert von mir abwenden würdest." Soufflierte er. Das wies Silvain entschieden von sich. "Wieso sollte ich? Glaubst du nicht, dass du arg streng mit dir ins Gericht gehst? Ich kann mich absolut nicht über dein Verhalten beklagen!" In diesem Moment zog Linus langsam die Hände unter seiner Kehrseite hervor. Er streckte die Arme aus, fädelte unter Silvains Achseln hindurch, lupfte ihn wie ein Kind, beförderte ihn auf seinen Schoß. Das kam Silvain bemerkenswert vertraut vor. Sie studierten einander aus nächster Nähe. "Du bist gar nicht erschrocken." Konstatierte Linus sachlich. Silvain nickte beipflichtend. "Das passiert nicht immer. Meist bin ich aber abgelenkt, und dann..." Eine Ahnung warmen Atems streifte ihn. Er spürte Linus' Lippen auf den eigenen, eine Hitze verströmend, als könnten sie ihn verbrühen. Anschließend verließen sie ihn, wanderten über seine Wange, den Kieferknochen, tupften die Nasenspitze. "Du kannst ruhig Luft holen." Raunte Linus ihm zu. Perplex schnappte Silvain tatsächlich hörbar nach Atem. Er wurde eng umarmt, in eine gastfreundliche Halskuhle gebettet. Was ihn daran erinnerte: hatte Linus ihn nicht auch so in der Nacht getröstet? Eine Hand legte sich warm auf seinen Hinterkopf, streichelte seinen Nacken, seine wirren Strähnen. "Du hast mir damals so imponiert, als du gekommen bist. Ich war total erschrocken über mich selbst, hatte Angst, mich zu verraten." Die raue Stimme wisperte an seinem Ohr, gar nicht spöttisch, sondern vorsichtig, zögerlich. "Ich bin dir aus dem Weg gegangen. So feige bin ich. Dabei hätte ich dir beistehen müssen. Je mehr ich meinem Schweinehund nachgegeben habe, umso feiger wurde ich." Für einen langen Augenblick blieb nur das Kraulen der warmen Finger. "Aus den Augen-aus dem Sinn hat nicht funktioniert." Das klang wieder gewohnt lakonisch. "Gestern hat der Schweinehund über alle Runden gewonnen, hat förmlichen nen Stepptanz auf meinem bisschen Rest Selbstachtung aufgeführt." Silvain konnte ein mitfühlendes Lächeln nicht verhindern. "Wie sieht er aus?" Wisperte er leise an die Wärme ausstrahlende Halspartie. "Mein Schweinehund?" Für einen Moment klang Linus überrumpelt, nicht bissig, sarkastisch, selbstironisch. "Ja. Wie sieht der aus?" Der furchteinflößende Wikinger grübelte. "Tja, ein räudiger Köter mit schlechten Hauern, Mundgeruch, blutunterlaufenen Triefaugen und lauter Ungeziefer im schmuddeligen Pelz." Silvain schauderte kichernd. "Nicht gerade ein Sympathieträger." Aber DEN Stepptanz hätte er schon, aus sicherer Entfernung, sehen mögen! Linus richtete sich auf, löste seine enge Umarmung ein wenig. Zögerlich folgte Silvain seinem Beispiel, fragte sich, ob er zu vorlaut gewesen war. Ein schiefes Grinsen spielte um Linus' Mundwinkel. "Ich bin mir nicht sicher, ob du die Tragweite meiner Missetaten richtig einschätzt." Silvain betrachtete Linus konzentriert. "Ich kenne dich noch nicht gut, trotzdem bin ich überzeugt, dass ich dich auch mag. Darin habe ich allerdings auch keine Übung." Linus lupfte fragend eine Augenbraue. "Worin hast du keine Übung?" Etwas verlegen, aber tapfer beschritt Silvain den Weg der Offenbarung. "Sowohl im Gemochtwerden als auch im Mögen. Ich meine, Personen mögen. Ich bin lediglich einigermaßen mit der Theorie vertraut." In Linus' Miene zuckte es verdächtig, als wolle sich ein Anflug von Heiterkeit dort unverschämterweise niederlassen. Er hob die Arme, näherte die Hände langsam Silvains Gesicht, pflückte behutsam die Brille vom Nasenrücken. Silvain blinzelte nervös. "Weißt du, ich sehe wirklich sehr schlecht. Am Brillenglas erkennt man das bloß an den Seiten, das täuscht." Linus küsste ihn erneut sanft auf die Lippen. "Das, was du sehen musst, spielt sich vor dem inneren Auge ab." Raunte er kehlig. ¢___* Kapitel 3 - Die Hölle friert zu Hui. Also, das war ja nicht zu erwarten gewesen! Zumindest nach Silvains Urteil. Weil er sich ja immer so ungeschickt anstellte, Arme und Beine linkisch herumhingen, sich nicht brav koordinieren ließen. Nicht dieses Mal. Glücklicherweise hatte Linus die Führung übernommen, was gewisse Katastrophen schon ausschloss. Dennoch. Keine blauen Flecken. Keine Schrammen oder Kratzer. Nicht zappelig ein Veilchen verpasst, ein Schienbein (noch stärker) lädiert. Nein. Blank und bloß lag er an Linus' Seite geschmiegt, halb auf dessen hartem, aber sehr warmem und muskulösem Leib, wurde im Arm gehalten und gestreichelt, nachdem er auf dessen Oberschenkeln geritten war, gelernt hatte, wie ein Zungenkuss funktionierte. Gebeten worden war, die einäugige Klapperschlange nicht zu kneifen. Was Silvain ohnehin nie getan hätte, selbst wenn er ohne eine amüsierte Übersetzung gleich begriffen hätte, welches Organ gemeint war. Linus war trotz all seiner finsteren Andeutungen keinen einzigen Moment lang grob, dominierend oder gar brutal vorgegangen, obwohl Silvain überwältigt worden war. Bei so vielen Premieren eigentlich auch nicht verwunderlich! Diese elektrisierende Hitze zu spüren, Herzrasen, Atemnot, den Verlust der gestrengen Kontrolle... Dabei jedoch nicht allein zu sein, sondern einen Gefährten zu haben, einen Anker, einen Spiegel der eigenen Emotionen und Empfindungen. "Wie geht es dir? Alles in Ordnung?" Linus strich ihm über die Wange, die Kieferlinie. Silvain versuchte sich im Kuscheln. "Danke schön. Ich fühle mich sehr gut." Versicherte er aufrichtig. Seine harte, aber lebendige Unterlage vibrierte leicht, als Linus leise lachte. "Ich habe zu danken. Deine Absolution hat mir Mühlsteine vom Hals gelöst." "So schlimm?" Widerwillig, aber besorgt entschlüpfte Silvain der Umarmung, setzte sich auf, kurzsichtig blinzelnd. Linus fing rasch seine Hände ein, hielt sie fest. "Wenn man jemanden mag, will man ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, nicht wahr?" Eine rhetorische Frage. Silvain drückte behutsam die starken Hände. "Ach so, Schwierigkeiten! Ich stecke ständig in kleineren Schwierigkeiten. Darin habe ich Übung. Kein Grund zur Besorgnis!" Er lächelte auf Linus herunter, dessen Mienenspiel er kaum erahnen konnte. Verflixte Unschärfe! Einen Ruck später lag er auf Linus' breitem Brustkorb, wurde wieder in die Decke gewickelt. "Du hast nicht den Eindruck, dass ich ein ganz anderes Kaliber Schwierigkeiten bin? Nach den vergangenen Erfahrungen?" Hakte der streng nach. Silvain grübelte einen Augenblick, die dünnen Arme unter das spitze Kinn gefaltet. Herrje, ihm GEFIEL es wirklich sehr, Linus' nackte Haut und dessen muskulösen Körper direkt zu spüren! "Wenn es dir jetzt besser geht, ist das für mich ausschlaggebend. Die Vergangenheit habe ich ja auch überstanden, richtig?" Linus antwortete ihm gar nicht. Das fand Silvain mit jedem verstreichenden Atemzug immer beunruhigender. Bevor er schließlich nachfragen konnte, verstärkte sich Linus' Umarmung beinahe schmerzhaft. "Deswegen mag ich dich so sehr, Silvain. Du bist einfach großartig." ¢___* Aller Großartigkeit zum Trotz meldete sich Silvains vernachlässigte Magengrube, die endlich Gehör finden wollte. Das veranlasste Linus, ihrem Schäferstündchen ein Ende zu setzen, dafür gemeinsam zu kochen. Zumindest in wieder bekleidetem Zustand Trockennudeln kochendem Wasser anzuvertrauen und dazu Kürbis-Ketchup anzurühren. Mit minimaler Ausstattung an Geschirr hockten sie an einem kleinen Klapptisch (Flohmarkt, eigentlich für Kleinkinder gedacht), füllten Reserven auf. Silvain, jetzt wieder mit Brille, betrachtete Linus dabei. "Also, wo habe ich überall Soße?" Erkundigte der sich mit einem Lächeln. Ob er das auch seinen Klassenkameraden hin und wieder zeigte? Es verwandelte seinen sonst so ingrimmigen Ausdruck in staunenswerter Weise. "Kein Soßenfleck." Gestand Silvain. "Ich merke nur gerade erneut, wie wenig ich dich kenne." Sofort verwandelte sich Linus' Miene in gemeißelte Sorge. Es veranlasste Silvain, mutig über den Klapptisch zu langen, mit den Fingerspitzen über eine kantige Wangenpartie zu streichen. "Ich hatte von dir ein ganz anderes Bild, weißt du? Wie von einem streitlustigen Wikinger. Was ja auch ein unzutreffendes Klischee ist." "Und das bin ich nicht? Ein streitlustiger Wikinger?" Noch immer arbeiteten die Sehnen in den markanten Gesichtszügen. "Vielleicht auf dem Hockeyfeld." Pflichtete Silvain unerschrocken bei. "Wenn wir uns unterhalten, steigen mir ganz andere Bilder in den Sinn!" "Von steppenden Schweinehunden und einäugigen Klapperschlangen?" Ein klein wenig boshaft returnierte Linus, mit einem angedeuteten Lächeln in den Mundwinkeln. Silvain schmunzelte schüchtern. "Ja, das auch. Du bist eloquent und bringst mich zum Lachen. Du bist sehr fürsorglich und aufmerksam. Ich habe nicht das Gefühl, dich zu behelligen." Linus runzelte die Stirn. "Was meinst du mit behelligen?" Etwas verlegen rutschte Silvain auf seiner Kehrseite herum. "Nun, mit meiner Schreckhaftigkeit. Ich bin auch ziemlich ungeschickt und langweilig. Mit mir kann man sich schlecht über Sport oder Musik unterhalten." "Das heißt, wir werden nicht über das Libretto von Mozarts Zauberflöte diskutieren?" Sarkasmus pur. Silvain lachte. "Ich dachte eher an Hitparaden. Oder Playlists, oder wie man das nennt. Und ich kenne mich auch gar nicht bei Serien aus." "Also ein veritabler Kulturbanause! Da haben wir ja was gemeinsam. Wie du siehst, habe ich es auch nicht so mit Serien oder Musik." Linus' Geste fing sein kleines Appartement ein, wo man weder Fernseher noch Computer entdecken konnte. Linus legte den Kopf schief. Die Friesen-blauen Augen funkelten. "Mit der Wikinger-Nummer habe ich mir alle Leute vom Hals gehalten. Da siehst du das Ausmaß meiner Feigheit." Silvain wrang nervös seine Hände, wie immer, wenn das Lesegerät nicht als Rettungsanker in der Nähe war. "Sprichst du nur mit mir so?" Wieder zuckten merklich Sehnen in den markanten Zügen. "Hin und wieder rutscht mir mal was raus. Um die Irritationen abzumildern, knurre und poltere ich übellaunig herum. Feige, aber effektiv." Ein verächtlicher Tonfall, erneut. "Das muss sehr anstrengend sein." Bemerkte Silvain leise. Linus blinzelte, lachte knapp auf, rau, abgehackt. "Das habe ich mir ja selbst zuzuschreiben, also bitte kein Mitgefühl!" Silvain senkte den Kopf, verknotete seine Finger ineinander. "Ich bin nicht sicher, ob mir das gelingt. Wenn es dir nicht gut geht, betrübt mich das schon." Weiter kam er nicht, weil Linus einfach den Tisch beiseite geschoben, ihn fest an sich gezogen hatte. "Ich mag dich. Ich mag dich so sehr!" Das klang ganz und gar nicht nach einer blutrünstigen Wikinger-Losung. Silvain schmuste trotzdem befreit zurück. ¢___* Linus bestand darauf, ihn nach Hause zu eskortieren. Es hatte aufgefrischt, Nebelbänke und Nieselregen verzogen sich. Außerdem dämmerte es schon. Ganz selbstverständlich hielt Linus seine Hand. Silvain empfand dies als sehr angenehm, weil er so selten Gefahr lief, zu stolpern und hinzuschlagen. Außerdem prickelte es ein wenig in seiner Magengrube und eigentlich jedem Nervenende. "Ey, Linus!" Sie zuckten unisono zusammen, als der Ruf sie erreichte. Silvain verkroch sich automatisch in seinem Stadion-Parka. Unwillkürlich verstärkte sich auch der Händedruck. Linus fegte herum, sich halb vor Silvain schiebend. "Warst du gestern auf der Burg, Mann? Ey, ist das deine Süße?! Lass mal sehen!" Sofort warf Linus seine 1,90m-Silhouette mit jedem Muskel in die Waage. Eine imponierende Erscheinung. "Ja, war ich, und nein, du Blindschleiche! Das ist Silvain." Seine raue Stimme kochte vor Ärger. "Wer, Mann?! Ey, was..." Silvain, nicht länger verdeckt, blinzelte unbehaglich, hielt den Atem an. Natürlich registrierten die drei Jugendlichen ihre verschränkten Hände. Waren das Klassenkameraden von Linus? Leute aus dem Schulhockeyteam? Linus trat einen Schritt vor. In fast komödiantischer Hektik wichen die drei bulligen Jugendlichen zurück, stierten mit teils offenstehendem Mund. "Tja, danke für das Gespräch, Leute und schönen Abend noch. Kevin, mach die Futterluke zu, sonst frieren dir die Zehen ab." Silvain fand sich etwas beschleunigter bewegt, weg von dem Trio. Fieberhaft überlegte er, was er sagen sollte. Linus, der sehr angespannt gewirkt hatte, kam ihm zuvor. "Wahrscheinlich bricht in der Hölle gerade die Eiszeit aus. Und in fünf Minuten sind wir berühmt." Gallig. Sich auf seine Füße konzentrierend wartete Silvain die nächste Explosion ab. "Tja, so viel zu meinem Kaliber an Schwierigkeiten! Ich hatte dir ja gesagt, dass ich ein feiges Arschloch bin." Silvain schluckte, registrierte Feuchtigkeit auf seinen Handflächen. Linus wirkte nicht so, als würde er ihm temporär die eigene Hand zwecks Trocknung zurückerstatten. "Jetzt habe ich dich schon wieder mitreingezogen. Vielleicht gehst du sogar als großer Verführer durch." Sarkasmus. Selbstanklage. Verachtung. Die dürren Schultern gestrafft stemmte Silvain zu allem entschlossen die Absätze seiner Schnürschuhe in die Gehwegplatten. Das bremste Linus tatsächlich ab. "Fühlst du dich besser? Jetzt, wo du ganz gewiss kein 'feiges Arschloch' mehr bist?" Ihm zitterte zwar die Stimme, aber Silvain wich nicht von seinem Impuls ab. Langsam wandte sich Linus zu ihm herum. Man hätte die frostige Miene des Wikingers erwartet, stattdessen irrlichterte ein schiefes Grinsen über das markante Gesicht. Linus seufzte, streckte die freie Hand aus, strich lose Strähnen aus Silvains Gesichtsfeld. "Ich bin erleichtert, dass ich nicht mehr weglaufen kann. Bloß..." Er atmete tief durch. "Bloß ohne dich hätte ich mich das nicht getraut. Entschuldige." Silvain lächelte scheu, aufmunternd. "Ich bin froh, wenn ich dir helfen kann. Und wenn Andy Warhol Recht behält, sind es ja bloß 15 Minuten Ruhm. Das geht vorbei, richtig?" Zunächst stutzte Linus verblüfft. Er lachte auf, zog Silvain in seine Arme, lupfte ihn so hoch, dass kaum noch die Zehenspitzen Bodenkontakt hatten. "Du bist einfach großartig, Silvain!" ¢___* Silvain bat Linus ins Haus, immerhin hatte der ihm Gastrecht gewährt, ihn durchgefüttert. Wenn man der Theorie von Beziehungsarithmetik Glauben schenken durfte, agierten sie nun als Paar! Was er seinen Eltern nicht anvertraute, die verwirrt die ungekannte Neuigkeit eines Freundes registrierten. War das nicht der radelnde Sturzvogel?! Bevor diesbezügliche inquisitorische Aufklärung begehrt werden konnte, dirigierte Silvain Linus nach oben, in sein bescheidenes Zimmer. Das Reihenhaus hatte eigentlich für vier Personen reichen sollen, nicht für fünf. Linus blickte sich interessiert um. Überall Bücher, meist günstige Ausgaben, definitiv gebraucht, zum Teil schon vergilbend. Auf dem schmalen Bett ein seltsamer Genosse, aus einem Kissen gefertigt, dem man Zipfel abgebunden hatte. "Was ist das?" Höflich bediente er sich nicht einfach, sondern gestikulierte. Silvain, dem die Tristesse seines Zimmers bis dato nicht bewusst gewesen war, schreckte zusammen. Prompt legte Linus ihm die Arme um die Schultern, agierte als lebendige Wärmedecke. "Oh, das ist Wutz. Meine Großmutter hat ihn für mich gemacht. Zu dritt hat man ja eher wenig eigene Spielsachen." Womit Silvain umschrieb, dass das Gros in den Besitz seiner Schwestern übergegangen war. Auf jüngere Geschwister musste man Rücksicht nehmen. Sie hatten ja auch das größere Zimmer. "Darf ich?" Etwas verlegen reichte Silvain Wutz weiter. Angehäkelter Ringelschwanz, aus der Kissenfüllung modellierte Arme, Beine, Ohren und Schnäuzchen, mit einem festen Band ein Hals simuliert, der Kopf und Rumpf separierte. Aufgenähte Knopfaugen, eingestickte rote Wangen. Linus lächelte. "Enchanté, Wutz. Wir haben die Vorliebe für unseren Bettgenossen gemeinsam." Silvain errötete dezent. Während Linus Wutz wieder artig auf dem schmalen Bett absetzte, bat er um Nachsicht für die mangelnde Unterhaltsamkeit seiner vier Wände. "Entschuldige bitte, dass ich leider außer Büchern nichts bieten kann." Linus küsste ihn sanft auf den Mund. "Wenn du die hier alle gelesen hast, woran ich nicht zweifle, wird uns Gesprächsstoff nicht so schnell ausgehen." Die Friesen-blauen Augen glitzerten verschwörerisch. "Außerdem habe ich viel Zeit in einem ähnlichen Papierfriedhof verbracht, als ich jünger war. Aber davon erzähle ich dir ein andermal." ¢___* Linus verabschiedete sich lächelnd mit dem Versprechen, sich am nächsten Morgen in der Schule zu treffen. Jetzt gab es schließlich keinen Anlass mehr, einander ängstlich aus dem Weg zu gehen! Nachdenklich kehrte Silvain in sein kleines Zimmer zurück. Als er an seinem mageren Schreibtisch die Schublade herauszog, grüßten ihn spottend Schlüsselbund und Bargeld. So, als könne er seinem eigenen Gedächtnis nicht trauen, hätte, zerstreut und geistesabwesend, tatsächlich ohne sie das Haus verlassen. Silvain zweifelte nicht an sich selbst. Dazu bekam er ohnehin keine Gelegenheit. Zunächst verlangten seine Eltern Aufklärung. Was er mit diesem riesigen Burschen zu schaffen hatte! Seien sie wirklich befreundet?! Er stecke doch wohl nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten, oder?! Werde gemobbt? Um gemobbt zu werden, müsste man in der Gegenwart anderer Leute vermutlich sichtbarer sein, als Silvain zuließ, vermutete er selbst. Andererseits hielt er es für taktisch unklug, seinen Eltern allzu viele Details zuzumuten. So blieb er streng bei den Fakten, nämlich Linus' Einsatz als gruseliger Vogelscheuche und dessen Einladung, bei ihm zu übernachten. Alles ganz harmlos, immerhin waren sie Schulkameraden, Linus ganz und gar nicht nachtragend! Sehr viel unerfreulicher verlief das Verhör seiner Schwestern, die glücklicherweise recht spät zurückkehrten, sodass nicht zu befürchten stand, dass sie Linus begegneten. Andererseits wurde Silvain sofort mit den "Erkenntnissen" der sozialen Medien zu diesem Skandal vertraut gemacht. Dass man ihn mit dem Wikinger gesehen hätte, Hand in Hand! Und gemeinsam gefrühstückt sollten sie auch haben! Und jetzt gestand er hier noch einfach, dass er bei Linus geschlafen hatte?! Marielle und Mireille beäugten ihn wie einen gemeingefährlichen Aussatzerkrankten, der von einem außerirdischen Parasiten besiedelt wurde. Silvain, der eine ungekannte Aufsässigkeit in sich registrierte, konterte knapp, er werde irgendwelche Gerüchte vom Hörensagen nicht kommentieren und schloss sich in seinem Zimmer ein. ¢___* Die Prominenz weckte unschöne Erinnerungen an die Zeit vor den Sommerferien. SEHR sichtbar zu sein, überall einen Spießrutenlauf zu absolvieren. Silvain fühlte sich unwohl, trotz Parka und Kapuze über dem Kopf. Ob es Linus auch so ging? Oder noch viel schlimmer? Immerhin traute man dem Wikinger wahrscheinlich nicht zu, einen Freund zu haben. Vielleicht war dessen so verachtete 'Feigheit' nicht gar instinktive Vorsicht, die Teenagerjahre einigermaßen unbeschadet zu überstehen? Würden ihn seine Freunde jetzt schneiden? Dürfte er nicht mehr im Hockeyteam mitspielen? Von diesen Sorgen angetrieben überwand Silvain die eigene Angst, marschierte in Todesverachtung am eigenen Klassenzimmer vorbei auf die andere Seite der dreistöckigen Raumcontainer, die im Quadrat ihre Unterbringung darstellten. Auf der freien Balustrade wich man ihm aus, verstummten Gespräche. Zumindest die, die nicht visuell an einem kleinen Bildschirm festklebten. Silvains Herz klopfte bis zum Hals. Bevor er nach Linus fragen konnte, polterte es hinter ihm schwingend auf dem Laufsteg. Linus marschierte breitbeinig und rasch heran, etwas außer Atem. "Morgen! Bin spät dran, entschuldige!" Er fasste Silvain um die magere Taille, beugte sich vor, küsste ihn sanft auf die Lippen. "Können wir zusammen Mittag essen? Ich muss unbedingt was mit dir besprechen." Silvain nickte überrumpelt, blinzelte ungläubig zu Linus hoch. Der, ganz Wikinger, offenbar für Attacke votierte. Volle Kraft voraus mit dem Drachenboot! Mit Friesen-blauem Funkelblick Kristalle sprühend seine Umgebung bepflasterte, ob sich irgendwer erdreistete...! Die Klingel ertönte, das Licht blendete auf. "Geh rasch zu deiner Klasse." Raunte Linus ihm zu, lächelte aufmunternd, zwinkerte. "Ich halte nach dir Ausschau." Silvain marschierte brav wie aufgezogen die Balustrade entlang zurück. So ganz real fühlte sich die Gegenwart gerade nicht an, aber innerlich warm und weich und bunt und fröhlich! ¢___* Silvain konnte sich nicht als intimer Kenner der Einsteinschen Erkenntnisse und Theorien zur Zeit-und-Raum-Relativität ausweisen. Dennoch schien es ihm, als dehnte sich die Viertelstunde Ruhm erheblich länger aus, als man befürchten musste. Direkt angesprochen wurde er zwar nicht, aber in sicherer Distanz um ihn herum schwirrten die Stimmen. Was ein Glück, dass er sozialmedial nicht vertreten war! Befand er selbst. So konnte sich seine Verunsicherung nicht noch potenzieren. Lieber konzentrierte er sich auf Linus, der so ganz anders war, als der äußere Anschein vermuten ließ. Keine Anstalten getroffen hatte zu leugnen, was sie verband. Für ein 'feiges Arschloch' ein recht unerwartetes Verhalten, nicht wahr? Ob ihn die Sorge um sein Wohlergehen wohl ermutigt hatte? So wie er selbst umgekehrt in "feindliches" Terrain marschiert war, um Linus zu treffen? ¢___* "Da ist noch Platz." Stellte Linus fest, laserte tödliche Blicke durch die Mensa. Stühle scharrten, eilig wurden längst geräumte Tabletts aufgelesen, verzog man sich. Silvain in seinem Windschatten konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Die meisten anderen Schüler spritzten vor Linus weg, als habe der sich eine hochansteckende Krankheit zugezogen. Die Mädchen hingegen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Linus wirkte noch grimmiger als gewöhnlich. "Haben sie dir arg zugesetzt?" Erkundigte Silvain sich, nachdem er linkisch Platz genommen hatte, mal ohne mit den Tischbeinen schmerzhaft zu kollidieren. Ihn traf ein überraschter, kämpferischer Blick. "Dir etwa? Wer?!" Nun musste Silvain einfach kichern. Linus zog die Augenbrauen zusammen. "Entschuldige! Ich dachte nur gerade, dass wir beide sehr besorgt um den anderen sind. Das ist gut, nicht wahr?" Die Friesen-blauen Augen funkelten. "Tja, mein bisschen Courage ist sehr bemüht, sich im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten zu rehabilitieren." Selbstironisch. Impulsiv touchierte Silvain Linus' Hand mit den Fingerspitzen. "Spring jetzt bitte nicht aufs Drachenboot, um alle niederzumetzeln, ja?" Linus starrte ihn mit gespannten Gesichtszügen an. Silvain grinste ungeübt. Ein Lächeln zeichnete sich langsam auf Linus' Miene ab. "Nein." Versprach er leise. "Kein Blutbad nach dem Suppenkoma, mein Wort drauf." Er schnaubte. "Ohnehin bin ich mir gar nicht sicher, was DIESES Mahl auslösen wird." Silvain runzelte ebenfalls die Stirn. "Soweit ich das identifizieren kann, soll es Spinat darstellen. Mit Kartoffelbrei." Die vorgebackenen Spiegeleier hatte er lieber weggelassen. Ihn schauderte schon allein bei der Vorstellung. Sie ähnelten eher Schaumgummileisten. Linus grummelte. "Man sollte meinen, die Fama von Spinat und Käptn Popeye hätte sich inzwischen als Kommafehler aufgeklärt." Missmutig verquirlte er die unterschiedlichen Konsistenzen zu einem sämigen Brei. Silvain tat es ihm mutig nach. "Vielleicht sollte man kochen lernen? Und sich selbst was mitbringen. Allerdings wäre es immer kalt." Linus spülte mit Wasser nach. "Ohne Kühlschrank sieht es bei mir schlecht aus. Ich kann auch nicht einfach was aufs Fensterbrett stellen, wenn es nachts friert." Verlegen leckte Silvain sich die Lippen. Er hatte nicht bedacht, wie spartanisch sich Linus' Wohnsituation ausnahm. "Wenn es uns nicht umbringt..." Versetzte Linus sarkastisch. Silvain mümmelte schweigend, während er nachdachte, ob er nicht doch mal... wenigstens hin und wieder... Quasi wie ein Picknick! "Silvain?" Linus tippte ihm sanft mit der Fingerspitze auf den Handrücken. "Oh?!" Prompt zuckte Silvain zusammen, fragte sich beschämt, wie oft Linus ihn wohl angesprochen haben musste, bis er in die Gegenwart zurückzukehren geruhte. Der lächelte ihn amüsiert an. "Entschuldige, dass ich deine intime Auseinandersetzung mit den Geheimnissen des Daseins unverschämt unterbreche, aber wir müssen gleich los. Und ich wollte dich noch was fragen." Silvain, noch dezent gerötet, nickte hastig. "Verzeihung, ich höre jetzt zu! Bestimmt!" Linus lachte leise. "Danke sehr. Es gibt noch zwei Vorstellungen auf der Burg, am Mittwoch und am Samstag. Möchtest du mitmachen, als Schutzengel?" "Schutzengel?" Verwirrt blinzelte Silvain hinter seiner Brille, als könne die Sehschärfe auch seine Geistesgegenwart beeinflussen. Ihm gegenüber zwinkerte Linus verschwörerisch. "Das sind Personen, die Besuch betreuen, der Ruhe braucht, eine Pause, etwas Abstand. Oder der sich verlaufen hat." "Ich bin doch aber sehr schreckhaft?" Gab Silvain zögerlich zu bedenken. "Schutzengel und ihre Begleitung werden nicht erschreckt, sie sind tabu. Du musst auch nicht geschminkt werden." Versicherte Linus entschlossen, fasste einfach am Tablett vorbei nach Silvains Hand. "Überlege es dir bitte. Wenn du magst, frag deine Eltern, ja? Du kannst bei mir übernachten. Ich garantiere auch, dass wir am Donnerstag pünktlich im Unterricht sind." Obwohl Silvain durchaus Unbehagen verspürte angesichts der Horrorparade, nickte er tapfer. "Das mache ich. Und wenn ich mich erschrecke, ist das nicht schlimm. Du bist ja da." Linus lächelte ihn an. "Genau. Ich bin da. Ich werde alle vergrämen, die dir übel mitspielen wollen!" Ein wenig theatralisch. Trotzdem. Silvain strahlte Linus an, weil dessen Miene so lebendig, so freundlich wirkte. Die Friesen-blauen Augen so zärtlich blickten. ¢___* Silvain hatte noch nie das Hockey-Training besucht, sich auf einer der gemauerten Bänke niedergelassen, gegen Kälte angekämpft und zugesehen. Aufwärmeinheiten, schnelles Passspiel. Man musste wirklich hochkonzentriert sein. Keine Pausen, kein langwieriges Taktieren. Ein Hochgeschwindigkeitsspiel. Silvain studierte die Spieler. Wie gingen sie mit Linus um? Distanziert, abwartend, ausgrenzend? Auch am zweiten Tag rangierten sie in örtlicher Prominenz an der Spitze des gesellschaftlichen Interesses. Vor allem, weil Linus ihn auch an diesem Morgen sanft auf die Lippen geküsst hatte. Vorhin in der Pause öffnete er einfach seine College-Jacke, zog Silvain in eine enge Umarmung. Der fror in der dünnen Regenjacke, denn der Stadion-Parka war wegen Schmuddeligkeit einkassiert worden. WENN seine Mutter zur Reinigung fuhr, dann mit ALLEN Kleidungsstücken, die nicht der Waschmaschine anvertraut werden konnten, ob ihm das nun zusagte oder nicht! Linus schien das schiere Aufkeuchen der Umgebung gar nicht zu beachten. Er sprach einfach weiter, rieb Silvain dabei den Rücken, diskutierte mit ihm Unterrichtsinhalte. Deshalb hatte Silvain ganz opportunistisch gekuschelt, sich fremde Wärme gestohlen. Außerdem freute es ihn, dass Linus nicht mehr ganz so kriegerisch in die Gegend funkelte. Wenn man wusste, wie er lächeln konnte, Esprit in den Friesen-blauen Augen tanzte, wollte man diese martialische Maske einfach nicht mehr sehen! Silvain tappte mit den Füßen, um die Blutzirkulation anzuregen. Linus' College-Jacke hielt wenigstens seinen Oberkörper warm! Er würde, entschied er, sich eingehend mit den Hockeyregeln befassen. Genau. Damit er sich anständig mit Linus über zumindest EINE Sportart unterhalten konnte! ¢___* Silvain transportierte neben seinem überformatigen Schulrucksack auch noch einen schlichten Seesack aus leichtem Stoff. Übernachtungsgepäck. Wer hätte gedacht, dass er jemals in diesen Genuss kommen würde? Natürlich hatte sich blitzartig verbreitet, dass er mit Linus im Einsatz bei der "richtigen" Halloween-Nacht auf der Burg sein würde und danach bei Linus übernachtete! Der noch nie irgendwen in seine vier Wände eingeladen hatte! Dessen Eltern ja auch nie zu den Sprechtagen kamen. Ganz schön mies von diesem übellaunigen Nordmann! Mireille und Marielle jedenfalls erklärten den Eltern, dass Linus definitiv eine Macke haben musste, wenn er mit der langweiligen Leseratte Silvain freiwillig Zeit verbrachte. Silvain verzichtete mit geballten Fäusten auf eine flammende Verteidigungsrede für seinen Freund. Erstens lauerten seine Schwestern geradezu auf einen verbalen Lapsus. Zweitens wusste er selbst nicht viel über Linus' Biographie. Drittens freute er sich viel zu sehr auf ein weiteres Abenteuer an Linus' Seite, um sich die Laune verderben zu lassen! Der beförderte ihn nach Schulschluss auf dem Sozius/Gepäckträger des Hollandrads nach Hause, wo er sein Gepäck und den Rucksack abstellte, fest, beinahe erstickend umarmt wurde. "Ich weiß, wir müssen gleich los zum Bus, aber ich BRAUCHE jetzt Erste Hilfe!" Stieß Linus heiser hervor, küsste ihn, gar nicht keusch, sondern sehr leidenschaftlich, sodass Silvain ausgesprochen, wenn auch wortlos dankbar für die warme Hand war, die ihn im Stolperschritt mit wackligen Knien zur Haltestelle dirigierte. ¢___* Die Maskenbildnerin arbeitete im Akkord. Man sprach nur gedämpft, half sich bei den Kostümen. Sah man mal den Entstehungsprozess, musste man sich nicht so sehr vor dem Ergebnis erschrecken, bemerkte Silvain. Er wurde in einen bodenlangen, weißen Kittel gehüllt, mit Reflektoren ausgerüstet. Auf seinem Kopf thronte etwas erhöht ein Lichterkranz. Zur Basisausstattung gehörten eine starke Stablampe und ein Walkie-Talkie. Als "Schutzengel" wurde er mit den anderen instruiert, wo er sich zu positionieren hatte, was er tun sollte, wie er helfen konnte und selbst Hilfe bekam. So ganz sicher war sich Silvain seiner selbst nicht, als er mit gelupftem Saum durch die Dunkelheit zu seiner Position stapfte, aber um ihn herum waren ja die anderen. Und Linus. Selbst wenn er sich erschreckte, Angst würde er nicht haben! ¢___* "Du bist ganz durchgefroren!" Stellte Linus fest, umarmte, noch immer als grässlich entstellte Vogelscheuche ausstaffiert, den Nicht-mehr-Schutzengel Silvain auf dem Parkplatz. Der letzte Bus war noch nicht eingetroffen. "Sch~schon!" Gestand Silvain zitternd ein, kuschelte ungeniert. "Aber~aber es war schön!" Weil er Verantwortung übernommen hatte, aufgeregten, verschreckten Besuch beruhigen konnte, trösten, zu einem Ruheplatz führen, wo es hell und warm war. Nicht alle steckten die fortgesetzten Gruseleien so einfach weg. Niemand hatte IHM aufgelauert, sich an seinem Erschrecken ergötzt. Zudem ließ sich Linus immer mal wieder blicken, um sicherzugehen, dass sich auch alle an die Regeln hielten. "Nächstes Mal musst du was Wärmeres unterziehen!" Entschied Linus. "Hm~Hm." Signalisierte Silvain Konsens, ließ sich halten, liebkosen. Linus half ihm auch in den Bus, bot wie beim letzten Mal Stütze und Halt. Sie verabschiedeten sich von ihrer müden Begleitung, zum Teil ebenfalls noch aufwändig geschminkt und kostümiert. Unter Linus' muskulösem Arm fühlte Silvain sich sehr geborgen. "Wir machen noch einen kurzen Abstecher, ja?" Leitete Linus einen Umweg ein, der sie zu einem kleinen, etwas verwilderten Park führte. Oder mehr einem Durchgangsweg mit wenig frisierter Vegetation. Linus löste sich von Silvain, zog aus seiner Kostümjacke ein fadenscheiniges Tuch. Im Zwielicht der Straßenlaternen verfolgte Silvain überrascht, wie Linus vor einem Gebüsch in die Hocke ging. Er brannte langsam eine Wunderkerze ab. Linus erhob sich wieder, trat an Silvains Seite, fasste dessen Hand. "Die ist für Captain Spectacular. Meinen Kater. Ich hab ihn hier vergraben, vor etwa drei Jahren." Die raue Stimme klang noch brüchiger als gewohnt. "Er war sehr krank und schon alt, fast 18 Jahre. Mein Leben war damals echt beschissen. Ich wollte ihn nicht verlieren." Ein gepresster Atemzug. "Er konnte mir ja nicht sagen, was für ein egoistischer Drecksack ich bin. Damals habe ich begriffen, dass es keine Happyends gibt. Keine Garantien. Nur Enden." Silvain schob behutsam seine freie Hand um ihre verschränkten. "Ich hab also mein Sparschwein geleert, bin mit ihm zum Tierarzt gegangen, damit Captain Spectacular einschlafen kann." Linus atmete erneut tief durch. "Mitten in der Nacht bin ich aufgestanden, hab ihn mit seiner Lieblingsdecke hier verbuddelt, dabei die beschissenen Ski-Handschuhe ruiniert, die ich ohnehin nie benutzt hätte." Mit einer brüsken Geste wischte er sich über die Augen. "Er war ein feiner Kerl. Hat mich mein ganzes Leben begleitet. Ein richtiger Freund." Heftig blies er Luft aus, räusperte sich. "Deshalb komme ich jedes Jahr hierher. Heilige interessieren mich nicht. Meine Familie ist...na ja. An Captain Spectacular möchte ich mich erinnern." Er löste sich von Silvains Händen, um die Reste der Wunderkerze aufzulesen. "So, jetzt können wir." Beherrscht, aufgeräumt. Ganz der Wikinger. Silvain fasste nach der freien Hand, drückte sie. "Danke schön." Wisperte er scheu. "Danke, dass du mich mitgenommen hast." Linus blickte kurz zu ihm herunter, seufzte mit entknitterten Gesichtszügen. "Ich bin nicht mehr feige, weil du bei mir bist. Also sollte ich mich viel eher bedanken. Danke, Silvain." Der lächelte hoch. "Gern geschehen. Wäre es wohl möglich, noch etwas Warmes zu trinken? Ich friere jetzt doch ein wenig." Was Linus veranlasste, ihn im Laufschritt zu seinem Appartement zu befördern. ¢___* "Riecht lecker." Kommentierte Linus aus seinem winzigen Bad, entfernte per Ölfilm die Schminke. Silvain, zusätzlich noch in eine Decke gewickelt, rührte das Pulvergemisch in beiden Tassen. "Ich hoffe, dass es auch schmeckt. Ich habe es noch nicht erprobt, weißt du?" Er wollte sich als ordentlicher Gast erweisen, etwas mitbringen. Zum Frühstück hatte er auch extra Geld deponiert, um Linus nun WIRKLICH einladen zu können! Der ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder, oben ohne, noch mit Handtuch behangen, rieb sich über die kupferroten Locken auf seiner Schädeldecke. "Entschuldige, dass ich mich nicht nach Drehbuch wie ein brünftiger Hirsch auf dich stürze, aber ich bin wirklich müde." Selbstironisch spöttelnd. Silvain reichte eine Tasse an. "Soll ich das vielleicht übernehmen? Obwohl es eher ein Stolpern als ein Stürzen wäre." Bot er höflich an. Linus grinste im Schutz der Tasse. "Können wir das verschieben? Stürzen und stolpern und Brunft?" Silvain zwinkerte, faltete die Decke auf, damit Linus auch darunter schlüpfen konnte, lehnte sich bequem an. "Das war heute wirklich ein schöner Tag." Resümierte er leise. Linus brummte gedämpft, rollte sich ein wenig ein, um ihn auf eine kalte Wange zu küssen. "Das bekommen wir noch mal hin. Versprochen." Silvain lächelte hoch. Er fand Linus auch großartig! ¢___* Kapitel 4 - Wie man zur Axt im Wald wird Es gab kein Vertun, keine Zweifel mehr. Silvain, DER Schulmeisterschaftssaboteur, Langweiler, Bücherwurm, das schreckhafte Klappergestell HATTE bei Linus übernachtet. Zusammen gefrühstückt hatten sie auch. Und überhaupt! Die hielten Händchen! Oder Linus, DER Wikinger, nahm den dürren Angsthasen in den Arm. Küsste ihn auf den Mund! Wenn das jetzt nicht schwul war?! Silvain sorgte sich schon ein wenig, weil Linus' Gesichtszüge stets einfroren, er ein bedrohliches Air annahm, wenn man wagte, ihn anders als sachlich anzusprechen. Er fand, dass er das Sujet thematisieren sollte, denn Linus war ja tatsächlich sehr nett. Aufmerksam und fürsorglich. Sanft. Humorvoll. Nur mit sich selbst so unbarmherzig, dass er den Panzer auch nach außen noch trug, die Stacheln aufstellte. Obwohl man sich mit Kritik zurückhalten sollte, wenn man selbst so wenig vom Leben verstand. Silvain schob seine Skrupel und Zweifel beiseite. Duckmäusertum war NICHT angezeigt. "Ob du wohl nach dem Unterricht etwas Zeit für mich hättest? Oder ist noch ein Training angesetzt?" Linus, der mit grimmiger Miene zähe Puffer erlegte und zersäbelte, blickte auf. "Sicher habe ich Zeit für dich! Wo wollen wir uns treffen, am Tor?" Silvain nickte erleichtert. Die erste Hürde war genommen. Jetzt musste nur noch sein Rückgrat halten! ¢___* Es nieselte ungemütlich. Linus hielt Silvains Hand, während er mit der anderen das Hollandrad dirigierte. Das bewunderte Silvain maßlos. ER wäre mit dem schweren Drahtesel bestimmt schon umgefallen! Und zwar mit beiden Händen am Lenker. "Ich möchte gern etwas Persönliches besprechen." Schöpfte Silvain nervös Atem, hüstelte prompt. "Es ist mir nicht entgangen, dass deine Klassenkameraden dir aus dem Weg gehen." Linus schnaubte. "Ich vermute, du machst ihnen Angst. Was ich schade finde, denn du bist ein wunderbarer Mensch." Vor lauter Erleichterung, dass er seine vorformulierte Ansprache auch ausgesprochen hatte, kam Silvain fast ins Stolpern. Linus' Hand, die mit dem Arm im Reflex hochschnellte, fing ihn im Tiefflug ab, sodass er, im festen Griff, keine Bruchlandung hinlegte. Angespannt wartete Silvain auf eine Reaktion. Er konnte erkennen, dass Sehnen in Linus' Gesicht tanzten, auch wenn der ihm nur das Profil bot. "Ich kenne die meisten schon lange. Und hab sie ziemlich lange belogen, darüber, wer ich wirklich bin." Linus sprach leise. "Ich will kein Mitleid. Oder Spott. Ich will eigentlich gar nicht, dass sie mich richtig kennen." Silvain betrachtete ihn bekümmert. "Ich mag keine Enttäuschungen. Abhängig davon sein, ob andere einen mögen." Verächtlich lachte Linus auf. "Tja, ich möchte gern ein richtig harter Brocken sein. Terminator mit John Wayne ohne Kippen quasi. Und ohne grässlichen Akzent." Er schnaubte. "Ist natürlich feige. Ein aufrichtiger, ein mutiger Mensch würde sich von so was nicht einschüchtern oder unterkriegen lassen. Aber ich bin eben eine Charakter-Wanze." Silvain stutzte, stolperte erneut, dieses Mal weniger spektakulär. "Charakter-Wanze." Wiederholte er verdattert. "Das stelle ich mir merkwürdig vor." Linus zog ein schiefes Grinsen. "Kein schöner Anblick, kann ich dir versichern." Die freie Hand in der Parka-Tasche geballt sprach sich Silvain Courage zu. "Ich entschuldige mich, dass ich dir zu nahe getreten bin. Ich kenne deine Kameraden ja auch nicht." Linus blieb stehen, wandte sich halb herum, weil das Hollandrad stur geradeaus gerichtet blieb. "He, Silvain, du hast nicht den geringsten Grund, dich zu entschuldigen. Gib mir bitte etwas Bedenkzeit, ja?" Seine raue Stimme blieb sanft, leise. Ein zerknittertes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Silvain nickte schon heftig, bevor er überhaupt an Worte denken konnte. Linus atmete tief durch, bot ihm das markante Profil. "Was meinst du, ob du schon Freitag bei mir schlafen darfst? Oder wäre das zu vermessen?" Schüchtern zupfte Silvain die freie Hand aus der Parka-Tasche, legte sie auf ihre verschränkten. "Ich frage meine Eltern! Es ist schön, Zeit mit dir zu verbringen." Was, wie er empfand, endlich einmal klar und deutlich ausgesprochen werden musste! Immerhin hatte er bisher nicht gerade erfreuliche Erlebnisse in seiner Biographie vorzuweisen. Über ihm lächelte Linus nachsichtig. "Gleich werde ich einen unverzeihlichen Fauxpas begehen!" Kündigte er verschmitzt an, beugte sich zu Silvain herunter, küsste ihn zärtlich auf die Lippen. "Du bist so süß, dass ein Diabetiker glatt tot umfallen würde!" ¢___* "Also, raus mit der Sprache! Was treibt dich in Gedanken um?" Silvain zuckte reflexartig zusammen, während ein Teil sich heimlich darüber wunderte, wie Linus sich ausdrücken konnte. Definitiv nicht wie der erwartete wortkarge Wikinger kurz vor dem Berserker-Modus! Er zog die Schultern höher, was seinen gewaltigen Schulrucksack und den aufgebundenen Seesack hochschnellen ließ. Linus befreite ihn ungezwungen von der Last. So konnte man auch kaum das kleine Appartement betreten. Die Friesen-blauen Augen funkelten zu ihm runter, während sein Gepäck mühelos abgepflückt hinter der Tür deponiert wurde. Ebenso selbstbewusst schälte Linus ihn auch aus dem Stadion-Parka, bevor er die eigene Jacke abstreifte. Silvain seufzte leise, wrang unwillkürlich die Hände. Linus legte ihm eine Hand auf die manuelle Verknotung, dirigierte sie zu seinem Bett, klopfte auffordernd auf die Matratze, dort Platz zu nehmen. Silvain machte kehrt, murmelte. "Verzeihung, einen Augenblick bitte!" Er ging vor seinem massiven Gepäck auf die Knie. Dort fischte er einen mehrfach gefalteten Bogen Papier ab, baute sich vor Linus auf, schluckte unbehaglich, räusperte sich. "Ich bin gehalten...ich habe versprochen, dass ich...dir das gebe. Zum Lesen." Ohne Linus anzublicken schwenkte er die dünnen Arme aus, überreichte das Faltblatt. "Wie aufmerksam. Ganz allerliebst." Kommentierte Linus mit rauer Stimme sehr trocken. "Ich gehe doch nicht fehl in der Annahme, dass deine reizenden Schwestern ihren Verehrern auch diese wertvollen Informationen zukommen lassen?" Rhetorisch formuliert und ausgesprochen sarkastisch. Silvains knochige Schultern besuchten schon seine Ohrläppchen, so sehr schrumpfte er in sich zusammen. "Entschuldigung... wirklich, es tut mir leid...aber ich habe mein Wort gegeben..." Er wollte sich nicht um zwei Nächte bei Linus bringen, indem er Proteste erhob. Unerwartet fand er sich blitzartig beschleunigt, heruntergezogen auf muskulöse Oberschenkel, in kräftigen Armen eingefangen. Vor Schreck japste er auf, sah endlich wieder in die Friesen-blauen Augen. Zürnte Linus ihm sehr? In dessen Miene tanzte etwas Abgründiges, Spöttisches. Genau wie in seiner rauen Stimme, die geschmeidig bittere Dosen an Gift verabreichte. "Ich werde mich nicht lumpen lassen und SELBSTVERSTÄNDLICH Stellung beziehen, nicht wahr?" Betont sorgsam faltete er den Bogen zusammen, deponierte ihn neben sich wie eine preiswürdige Urkunde. Dabei enthielt der Text diverse Mahnungen und Hinweise zu oralen und analen Sexualpraktiken und ihrer unerwünschten potentiellen Folgen. Silvain presste beschämt die Lippen aufeinander, verkrampfte die Hände. "Was das O betrifft, so muss ich gestehen, dass ich auch subäquatorial ein haariger Sack bin. Kein Vergnügen für beteiligte Parteien, möchte ich meinen." Mit der Säure in Linus' sanftem Säuseln hätte man mühelos Stahlplanken durchlöchern können. "Zum A darf ich dir versichern, dass die Vorstellung, meinen Piephahn wie beim Bockbieranstich in IRGENDWAS zu rammen, bei mir SÄMTLICHEN Enthusiasmus abtötet." Silvain konnte nicht anders, als Linus mit herabsackendem Kiefer anstieren. "Ich möchte mir natürlich kein Urteil über anderer Personen privates Vergnügen anmaßen." Gerade zündeten die Lunten im Minenfeld ihrer noch jungen Beziehung. "Allerdings gehöre ich nicht zur recht chauvinistischen Garde, die den HAMMER schwingen und zeigen muss, wie und wo der hängt." Linus schnarrte gallig. "So viel zum A und O von meiner Warte. Ist es angezeigt, eine eidesstattliche Versicherung zu unterzeichnen oder genügt mein Wort?" Silvain blinzelte. "Bockbieranstich." Kam ihm fassungslos über die Lippen. Von den anderen Assoziationen ganz zu schweigen. "..." Er sollte etwas sagen, unbedingt sogar! Zu recht reagierte Linus verärgert! Doch ihm kamen keine Worte in den Sinn. Nein, er meinte sogar, das Knistern der Lunten zu HÖREN, die davor standen zu explodieren! Da legte sich eine warme Hand in seinen Nacken, parkte seinen Kopf in eine vertraute Halskuhle, wurde er eng umschlungen, spürte die angespannten Atemzüge am eigenen Leib. "Entschuldige. Das war unpassend, widerwärtig zotig und gehässig. Ich habe mich hinreißen lassen und jetzt noch unseren Abend verdorben." Nun klang Linus' raue Stimme vertrauter, leise, sanft. Selbstanklagend. Silvain wickelte die dünnen Arme um den trainierten Brustkorb. "Ist nicht schlimm. Ich verstehe das vollkommen. Nur, weißt du, ich musste es versprechen. Da ich bei dir sein wollte..." Linus atmete tief durch. "Positiv ist zu vermerken, dass deine Eltern Interesse an deinem Wohlergehen zeigen. Ich hätte das angemessener würdigen sollen." "Nicht nötig!" Rutschte Silvain raus, bevor er sich besinnen konnte. "Oh, ich meine, es ist in Ordnung, nicht wahr? Abgehakt, richtig?" Linus' Stimme nahm schon wieder diesen unerfreulich boshaften Tonfall an. Zudem ahnte Silvain, dass "Eltern" kein agreables Thema zu sein versprachen. Nervös richtete er sich auf, um tapfer weiterer Kritik ins Antlitz zu sehen. Linus betrachtete ihn eindringlich, die Sehnen merklich gespannt über den markanten Knochen. "Ich würde nie etwas tun, was dir Unbehagen oder gar Schmerzen bereitet. Ganz sicher nicht." Hastig nickte Silvain Konsens. "Das weiß ich! Ich zweifle nicht an dir, Linus! Wirklich, ich vertraue dir ganz und gar!" Den Kopf abgewandt schnaubte Linus grimmig. "Das habe ich mir vermutlich selbst zuzuschreiben. Wer wie eine Axt wirkt, muss sich nicht wundern, dass im Wald gewarnt wird." Silvain hob die Hände, legte sie sehr vorsichtig um Linus' Wangen, dirigierte dessen Haupt, sich ihm wieder frontal zuzuwenden. "Bitte, Linus, können wir das nicht hinter uns lassen? Wenn ich deinen Wasserkocher benutzen darf, würde ich gern..." Der Rest seiner Frage blieb unausgesprochen, da seine Zunge anderweitig okkupiert wurde. Erst als Atemnot ihn zum Japsen brachte, gab Linus ihn wieder frei. Verlegen blinzelte Silvain durch die beschlagenen Brillengläser. Himmel, er glühte ja förmlich! Unterdessen leckte sich Linus in beiläufiger Erotik die Ahnung von Speichel von den Lippen. "Verzeihung, ich hatte dich unterbrochen." In seinen Friesen-blauen Augen glitzerte ein spitzbübisches Lächeln. Silvain erwiderte es erleichtert. Der kriegerische Air schien sich aus Linus' Zügen verabschiedet zu haben. "Oh, ja, ob ich wohl deinen Wasserkocher benutzen darf? Ich habe eine neue Mischung mitgebracht!" Linus entließ ihn mit angedeuteter Verbeugung aus der Umarmung, nahm jedoch selbst seinen Wasserkocher in Betrieb. Er reichte zwei robuste Henkeltassen an, in denen man Pulvergemische wild anrühren konnte. Sie schnupperten unisono interessiert. Silvain, im Dampf nahezu blind, ließ sich von Linus zurück zum Bett eskortieren. Nachdenklich nippte er an seinem Getränk. "Ich glaube nicht, dass ich jemals zum Oktoberfest gehen kann mit diesen Bildern im Kopf." Bemerkte er versonnen. Linus neben ihm lachte leise. "Verzeihung, habe ich jetzt einen lang gehegten Traum zerstört?" Silvain wandte den Kopf, stellte brav seinen Becher auf dem Boden ab, bevor er näher an Linus heranrückte. Wirklich, wie lästig es war, dass die Brillengläser sich beschlugen! Die Zunge hatte er sich auch dezent verbrüht! Er rutschte unter einen einladenden Arm, lehnte sich gemütlich an Linus' gastfreundliche Seite. "Eigentlich nicht. Kohlensäurehaltige Getränke vertrage ich nicht gut. Auf Schlager verstehe ich mich gar nicht." Ihn schauderte unwillkürlich bei der Erinnerung an Linus' Vergleich. Der stellte auch seinen Becher ab, fasste Silvains Kniekehlen unter, arrangierte ihn sich auf den gekreuzten Oberschenkeln, sodass der im rechten Winkel gut angeschmiegt werden konnte, schloss die Arme um ihn. "Ich möchte dir gern etwas erzählen. Über mich. Damit wenigstens du weißt, wer ich wirklich bin." ¢___* "Wenn ich von vorne beginne, sollte ich wohl meine Eltern vorstellen. Was vielleicht illustriert, warum ich so verkorkst bin. Heute würde man ihre Beziehung wohl als on-off neumodisch beschreiben. Ein klassischer Fall von: passt weder zusammen noch funktioniert ohne einander. Ich bin eigentlich ein Betriebsunfall. Das haben mir unabhängig voneinander beide Parteien bestätigt. Mal ging es eine Weile gut, dann hatten sie sich in den Haaren, lautstark. Also trennten sie sich. Dass der ständige Ausnahmezustand nicht überall herrscht, habe ich erst in der Grundschule bemerkt. 'Familie' wie in der Werbung oder in Kinderserien kannte ich nicht. Alles, was ich allmählich begriffen habe, war, dass der Leumund meiner Eltern recht durchwachsen war. Sie hatten wechselnde Beziehungen, was auch alles nicht ohne Drama abging. Ich habe mich geschämt. Jedes Mal, wenn ich mithörte oder direkt angesprochen wurde, was bei mir zu Hause los sei, wollte ich mich verkriechen. Das habe ich übrigens auch gemacht, als wir noch woanders wohnten. Ich habe mir Captain Spectacular geschnappt, bin mit ihm auf den Dachboden verschwunden. Bei einem Verschlag hatte das Vorhängeschloss eine Macke, sprang auf, wenn man geschickt rüttelte. Dahinter lagerten Umzugskisten mit alten Reclam-Ausgaben. Die habe ich gelesen, um mir die Zeit zu vertreiben und bloß nicht runter in das Kriegsgebiet zu müssen. Nach der Grundschule habe ich keinem mehr von meiner Familie erzählt. Eingeladen hatte ich schon vorher niemanden, aber ab dem Zeitpunkt bin ich auch nicht mehr zu anderen nach Hause mitgegangen. Niemand sollte wissen, was bei uns los war. Wenn man erst mal damit anfängt, bleibt man dabei: nichts sagen, nichts erzählen, immer Distanz halten, jedes Interesse abblocken. Vor drei Jahren etwa ging es dann richtig rund. Schluss mit Zusammenraufen, gegen einander, aber mit Schmackes. Ich war quasi unsichtbar. Captain Spectacular ging es schlecht und ich merkte, dass ich auch nicht gerade der Herde nachlief. Da kam so viel zusammen. Um das zu kompensieren und weil ich so wütend war, habe ich mit dem Hockey angefangen. Da konnte ich zornig sein, rennen, mich verausgaben. Niemand hat gewagt, mich zu hinterfragen. Ich wollte keine Zweifel wecken oder die Person sein, die ich versteckt habe. Also habe ich mich verschanzt und bin immer weiter auf diesem Weg marschiert. Niemand weiß über meine Familie Bescheid. Über mich. Also kann mir niemand was anhaben." ¢___* Linus' Miene hatte sich im Verlauf seiner Schilderung merklich verhärtet. Der Wikinger trat an die Oberfläche. Der gefürchtete Angreifer und Vize-Kapitän der Hockey-Mannschaft. Der bissige, unbarmherzige Spötter. "Selbst die Schulbehörde hat keine Ahnung. Meine Mutter lebt mit ihrem aktuellen Partner im ersten Stock. Gleiche Anschrift." Ergänzte er bitter. Seine Lippen kräuselten sich verächtlich. "Also weiß niemand, dass ich hier oben hause, seit fast zwei Jahren. Aber besser als unten." Er wandte sich ab, die Kieferknochen knackten unter der Anspannung. "Tja, so werden die eingeklagten Unterhaltszahlungen meines Vaters wenigstens sinnstiftend verwendet." Silvain beäugte das vertraute Profil bestürzt. "Für den bin ich nur noch ein zeitlich begrenzter Posten auf der Sollseite seines Kontos, leider nicht steuerlich absetzbar." Er schnaubte gallig. "Quasi das, was man als Furunkel am Arsch einordnen würde: überflüssig, lästig und bald nicht mehr als eine schlechte Erinnerung." Silvain schluckte schwer. Ihm schnürte sich die Kehle zu. Was sollte er sagen? Linus atmete hörbar durch. "Habe ich dir schon mal gesagt, wie angenehm es ist, nicht jeden Satz in einfacher Sprache erklären zu müssen?" Er schnalzte spöttisch mit der Zunge. "Deshalb hatte ich mir ja eigentlich Schweigen auferlegt, doch meine Disziplin diesbezüglich lässt zu wünschen übrig." Silvain dachte an das heimliche Grab von Captain Spectacular. Dass Linus wohl auch zu diesem Zeitpunkt begriffen haben musste, dass er schwul war. An den Gram in dessen Gesicht, als der sich ihm offenbart hatte. Er stemmte sich mit einem Ruck hoch, schlang die dünnen Arme um Linus' Nacken, hielt ihn fest. Wollte diesen mageren Trost aufbieten, wenigstens einen winzigen Protest gegen die Härte der Umstände anmelden. Kein Wunder, dass Linus sich in einen Wikinger verwandelt hatte! Den anderen, den wahren Linus mochte er viel lieber. "Ich weiß, dass ich feige bin. Zu feige, um mir vor anderen einzugestehen, dass ich auf dem Holzweg dahin trample." Linus' raue Stimme drang sehr leise, gequält an sein Ohr. "Mein lächerlicher Stolz hält mich davon ab. Besser, sie fürchten mich, als dass sie erkennen, was für ein armes, schwules Schwein ich doch bin." Silvain klammerte vehementer. Hatte Linus nicht auch berechtigte Zweifel? Was konnte er selbst da schon anbieten? Wenn all die anderen Linus ausgrenzten, über ihn den Stab brachen, ihn nicht mehr respektierten? Dennoch. Dennoch erschien es Silvain eine fürchterliche Ungerechtigkeit, dass alle nur den Wikinger "kannten". Nicht den fürsorglichen, amüsanten, spitzzüngigen, nachsichtigen, liebenswerten Linus! "Jetzt habe ich die Stimmung wohl vollends verdorben. Ich sollte mir gratulieren, ein wahrer Ausbund an Lebensfreude!" Sarkastisch und selbstverächtlich, in munterem Tonfall forciert. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll!" Bekannte Silvain aufgewühlt, schmiegte sich schmerzhaft eng an den muskulösen Leib. "Wie kann ich dir Mut zusprechen, wo ich doch selbst kein gesellschaftliches Gewicht aufbieten kann?!" Kurzatmig keuchte er. "Ich möchte dir beistehen, unbedingt! Ich hätte dich nicht drängen sollen, obwohl ich deine Lebensumstände gar nicht kenne!" Linus schob ihn von sich, sanft, aber unerbittlich, ein schiefes Lächeln auf den angespannten Gesichtszügen. "Herrje, Silvain, weißt du nicht, wie sehr du mir schon beigestanden hast?! Du bist jetzt hier, immer noch. Ich bin nicht mehr allein." Silvain blinzelte, klammerte sich an Linus' Oberarme. "Das ist doch nichts Besonderes! Ich möchte mehr tun! Niemand soll schlecht von dir sprechen! Du bist so tapfer und liebenswert!" Er keuchte, weil ihm der raue Hals ein Räuspern abverlangte, seine Brandrede schnöde unterbrach. Linus pflückte Silvains Hände aus dem Sweatshirt-Stoff, hielt sie fest. "Bitte bleib einfach bei mir. Dann bringe ich die Courage auf, kein wandelndes Klischee mehr zu sein." ¢___* Silvain spülte mit dem abgekühlten Getränk seine Kehle durch, angekuschelt an Linus, der ihn umarmte, die Beine leicht angewinkelt, die eigene Front als Stütze anbietend. "Ist es dir nicht zu unbequem?" Erkundigte er sich leise, wandte halb herum. Im Schein des Teelichts, das Linus angezündet hatte, registrierte er eine wohlige Versunkenheit. "Unbequem? Mit zwei Kissen in meinem breiten Kreuz?" Linus schmunzelte. "Nun ja..." Silvain seufzte. "Ich bin ja eher eckig. Und ungelenk. Das ist nicht gemütlich." Prompt wurde er noch enger umarmt, ein wenig gebeutelt. "Findest du mich etwa gemütlich? Gebaut wie ein Gorilla?!" Lachte Linus leise an seinem Ohr. Das lockte Silvains Widerspruch hervor, auch wenn ihm Röte in die Wangen stieg. "Keineswegs wie ein Gorilla! Du bist genau richtig portioniert für einen Athleten! Objektiv gesprochen. Außerdem schön groß!" Hinter ihm stutzte Linus. "Schön groß? So viel kleiner bist du gar nicht, oder? Etwa 1,80m, nicht wahr?" "1,77m." Korrigierte Silvain wahrheitsgemäß. "Allerdings war ich, bis ich gewachsen bin, immer klein." Auch ohne Linus' dezentes Prusten registrierte er bei Revision dieser Aussage eine gewisse Komik, seufzte über sich selbst. "Was ich ausdrücken wollte, war, dass ich stets der Kleinste war. Leicht zu übersehen oder zu ignorieren." Versonnen fixierte er die Kerzenflamme. "Man sollte es nicht vermuten, aber die äußere Erscheinung prägt das Selbstverständnis enorm. Ich fühle mich immer noch klein." Linus küsste ihn zärtlich auf die Wange. "Für mich genau richtig. Perfekt angepasst. Beinahe schon 'custom-made', wie der Wichtigtuer sagen würde." Vor ihm arrangierte Silvain Arme und Beine. "Da bin ich mir nicht sicher. So ganz habe ich mich noch nicht sortiert, weißt du? Ich bin nicht absichtlich ungeschickt. Die Abstimmung klappt bloß noch nicht." Linus schmunzelte. "Bis jetzt hat bei uns noch alles ganz phantastisch funktioniert." Was Silvain das Blut in den Kopf schießen ließ. Selbstredend eine beabsichtigte Reaktion. Er fädelte die eigenen Finger zwischen Silvains, die sich gewohnt bei Aufregung ineinander klammern wollten, weil kein Lesegerät als Talisman in Reichweite war. "Also, ich mag deine roten Locken! Die sind besonders schön und sprühen rote Funken im Sonnenschein!" Beeilte sich Silvain, von seiner Verlegenheit abzulenken. "'Siehst aus, als stände dein Kopf in Flammen! Wie ein Feuermelder!'" Linus grollte hinter ihm, mit barscher Stimme. Wer auch immer diese Aussage getroffen hatte: freundlich nahm sie sich nicht aus. "Hat der Vater meines Vaters festgestellt, als wir uns ein Mal begegnet sind, unfällig. Andererseits hat er meine Mutter auch eine 'verdammte Hexe' genannt." Silvain drückte Linus' Hände empört. "Wie garstig! Es sind ganz prachtvolle rote Locken! Außerdem noch selten, ein rezessives Gen! Sie stehen dir außerordentlich gut!" Verteidigte er vehement seine Auffassung. Wirklich, Linus' Sippe schien sich nicht gerade durch Wohlwollen auszuzeichnen! "Gut zu wissen." Wisperte Linus in seinem Nacken. "So kann ich meine charakterlichen Defizite optisch ein wenig ausgleichen." Auf dem glatten Parkett der Süßholzraspelei fühlte Silvain sich wie auf hoher See ohne Kompass und Karte. "Ich finde, es gibt nichts auszugleichen!" Hasardierte er hilflos. "Zudem bist du sehr attraktiv! Alle finden das! Meine Schwestern sagen das auch." "Nicht mehr als Tarnung und eine gefällige Verpackung." Spottete Linus. "DU bist hingegen wirklich schön." "Ich?!" Abrupt drehte sich Silvain halb herum, ungläubig, aus dem Konzept gebracht. Linus wich seinem Blick nicht aus, löste ihre Hände, um einige Strähnen aus Silvains Stirn zu pflücken. "Ja, du." Silvain erwog, wie er möglichst behutsam dringend angezeigte Kritik formulieren konnte. "Es könnte sein, dass eventuell eine gewisse Voreingenommenheit..." Begann er. "Mein Urteilsvermögen trübt?" Setzte Linus lächelnd fort, um dann ernster, konzentrierter Silvains Miene zu betrachten. "Keineswegs. In deinen Augen ist Wahrhaftigkeit, Silvain. Wohlwollen, Wärme, Aufrichtigkeit. DAS ist Schönheit, die bleibt." Er hob behutsam die Brille von Silvains Nasenrücken, die Ohrbügel berücksichtigt. "Mir gefallen auch deine Hände und Füße sehr. Sie sind elegant, fast wie bei den klassischen Statuen." "Oh." Kommentierte Silvain überwältigt. "Deine Lippen allerdings..." Ein kritischer Zeigefinger zog Konturen nach. "Die bereiten mir Sorgen." Linus konnte kaum ein Kichern unterdrücken, weil Silvain seinen neckenden Tadel noch nicht als Einleitung zu einer weiteren Liebkosung erkannte, sondern prompt erschrocken blinzelte. "Ja, tatsächlich!" Stellte Linus streng fest. "Sie führen mich ständig in Versuchung!" Der er auch ungeniert nachgab, in einen Kuss lächelte, als Silvain erleichtert die Arme um seinen Nacken legte. Er zwinkerte, schloss mit einem Eskimo-Nasen-Gruß dieses Intermezzo ab. "Ein wenig ratlos bin ich bei deiner Haarpracht. Ist das eine Reminiszenz an die Beatles, die Ramones oder...?" Silvain zögerte. "Entschuldige, aber ich bin nicht sonderlich bewandert...die Ramones?" Linus quittierte die Offenbarung mit einem spitzbübischen Kuss auf die Nasenspitze. "Die waren lange vor unserer Geburt mal berühmt-berüchtigt. Ich habe ihre Albumcover nachgeschlagen, weil es an der Trinkhalle deshalb fast eine Prügelei gegeben hätte." "Du liebe Güte." Murmelte Silvain kaum aufgeklärter. "Die Frisur." Erläuterte Linus schmunzelnd. "Was mich zu deiner Haarpracht zurückbringt." Silvain seufzte beschämt, blickte unter sich. "Weißt du, der Friseur hat sich beschwert, wie widerspenstig sie sind, dazu noch die Wirbel! Einfach unmöglich!" Er atmete tief durch. "Also habe ich mich entschlossen, lieber selbst die Schere zu benutzen, wenn es so eine Zumutung ist. Es spart ja auch Geld." Linus strich ihm einige Augenblicke schweigend durch die wirren Strähnen. "Wie genau stellst du das an?" Verlegen zog Silvain die Schultern hoch, blinzelte vorsichtig in die Friesen-blauen Augen. "Ich nehme einfach ein Haarbüschel, säble die Spitzen ab. Drei Fingerbreit." Was gewissermaßen die etwas ungewöhnliche Konstellation auf seinem Schädel illustrierte. Außerdem ersparte es ihm Ärger. Wer wollte sich schon Vorhaltungen für den eigenen Schopf machen lassen, den man ja üblicherweise nur anderen zumutete, selbst gerade mal im Spiegel zu ertragen hatte? Linus glättete wirre Strähnen. "Das ist doch bestimmt anstrengend, oder? Soll ich dir das nächste Mal helfen?" "Oh, würdest du? Wenn es dir keine Mühe bereitet!" Strahlte Silvain. Just in diesem Augenblick begriff er, dass er sich optisch angemessener aufstellen musste, wenn er Linus nicht blamieren wollte! Daran hatte er ja vorher keinen Gedanken verloren! "Was ist?" Instinktsicher strich ihm Linus über die Wangen. Linkisch wrang Silvain die Hände in seinem Schoß. "Mir ist gerade erst aufgegangen, dass ich mein Äußeres aufpolieren sollte. Darum habe ich mich bisher nicht sonderlich gekümmert." "Meinetwegen?" Dieses Mal ahnte Silvain die Fallgrube. "Meinetwegen." Korrigierte er höflich, löste eine Hand, um tollkühn durch die roten Locken zu streichen. "Schließlich möchte ich viel Zeit mit dir verbringen. Du musst mich häufig sehen. Also ist ein adrettes Erscheinungsbild wichtig." Konkludierte er bemüht sachlich. Linus lächelte. "Geschickt argumentiert. Fast bin ich geneigt, mich überzeugen zu lassen." "Immerhin..." Silvain sammelte Courage. "Immerhin mag ich ALLES an dir! Da will ich mich nicht lumpen lassen!" Brachte er mit so viel Verve und Selbstbewusstsein wie irgend möglich heraus. "So, so." Stellte Linus leise fest, goutierte das hochgereckte Kinn. "Darf ich mich dir jetzt zur Verkostung andienen? Wenn du alles an mir magst." Nicht gerade subtil. In diesem Moment musste Linus an sich halten, um Silvain nicht vor Rührung und Liebe zu erdrücken. Selbst im Kerzenschein konnte er die Röte in den mageren Wangen erkennen. "Gern. Ja, sehr gern. Ich bin dann so frei." Silvain glitt auf die Knie, damit er Linus besser küssen konnte. ¢___* Der Geruch von Pfefferminze weckte Silvain auf. Gewohnt kurzsichtig-orientierungslos schraubte er sich hoch, schauderte prompt in der akuten Kälte. Weil er, gänzlich gegen seine Gewohnheit, vollkommen unbekleidet war! "Guten Morgen." Bemerkte eine raue Stimme amüsiert. Weicher Stoff legte sich um Silvains Schultern. Linus' Sweatshirt, Der beugte sich herunter, überreichte ihm behutsam eine dampfende Tasse. Die Quelle des Aromas, das Silvain in die Gegenwart befördert hatte. "Guten Morgen!" Beeilte er sich blinzelnd zu versichern, pustete rasch, spülte den Mund. "Entschuldige bitte, sind wir sehr spät dran? Oh, bin ich gestern einfach eingeschlafen...?" Vage erinnerte er sich, dass sie ausgesprochen aufmerksam zueinander gewesen waren. Ohne A und O zu involvieren. Linus lachte leise. "Hast du denn gut geschlafen? Süße Träume gehabt?" Silvain zog die Nase kraus. "Bedaure, ich kann mich leider nicht entsinnen. Aber ich fühle mich sehr wohl!" Bekannte er aufrichtig, blinzelte hoch. Zumindest Linus wirkte sehr gut gelaunt und entspannt. "Hier, deine Brille." Tauschte der gerade aufmerksam Tasse gegen Nasenfahrrad, ließ sich auf der Bettkante nieder, küsste Silvain zärtlich auf den Mund. "Wenn du dich anziehst und die Beißer polierst, können wir der Flüssignahrung etwas Festes hinterherschicken." Errötend nickte Silvain eilig. Er registrierte in allen Einzelheiten, dass Linus sich lediglich Boxer-Shorts übergestreift hatte. Trotz der sehr frischen Temperaturen in der Mansarde! So im vollem Licht und aller Glorie fühlte Silvain sich doch ein wenig beschämt ob dieses attraktiven Anblicks. Außerdem, wie sollte er bloß das Bett verlassen, wo er selbst ja ganz nackt war?! Linus federte unterdessen hoch, las die Tasse auf, verschwand kurz im Bad, um mit einem großen Handtuch wiederzukehren, das er aufschlug und offerierte. "Schlüpfe hinein. So riskierst du keine Erkältung." Verlegen, aber sehr dankbar wickelte sich Silvain ein, handelte sich dabei einen weiteren, sehr viel forschenderen Kuss ein. "Danke schön." Wisperte er artig. "Ist mir ein Vergnügen." Schnurrte Linus rau, bewies seine beängstigende Voraussicht, indem im Bad bereits Silvains Seesack wartete. ¢___* Seine Anwesenheit schien in der Bäckereifiliale niemanden mehr zu verwundern. Oder dass Linus ungeniert seine Hand hielt. Gestärkt marschierten sie durch frühmorgendliche Nebelbänke, die die trübe Herbstsonne blockierten. Verdauungsspaziergang und auf einem Spielplatz Trainingseinheiten für Linus. Silvain durfte Platz nehmen, bald darauf die College-Jacke hüten. Er bewunderte Linus' Ausdauer ungemein. Das erklärte dann auch, warum er in der Nacht nach zwei sehr erfüllenden Runden aufgesteckt hatte. "Was glaubst du passiert, wenn jemand deine privaten Umstände herausfindet?" Eruierte er vorsichtig. Linus absolvierte auf einer niedrigen Querstange Liegestütz, seufzte. "Na ja, mein Nimbus der Unbesiegbarkeit und Dominanz ist dahin." Silvain blinzelte verwirrt hinter den Brillengläsern. "Du spielst doch noch immer Hockey?" Begann er vorsichtig. Sich aufrichtend und die Arme kreisend nickte Linus. "Das meine ich auch gar nicht. In der Mannschaft habe ich nichts zu befürchten. Körperliche Vertraulichkeiten sind da nicht so üblich, also muss mir auch niemand aus dem Weg gehen." Die Hände reibend signalisierte Silvain unbedingte Aufmerksamkeit, was Linus ein Lächeln entlockte. "Weißt du, ich falle nicht dem Konsum zum Opfer, veröde meine letzten Nervenstränge in sozialen Medien und gammle bis zur Faulheit vor mich hin." Spott spielte um seine Mundwinkel. "Allerdings kann diese individuelle Charakterstärke nicht mehr gelten, wenn sich herausstellt, dass ich gar nicht die Möglichkeit dazu habe, verstehst du?" Langsam nickte Silvain. "Oder, wie jüngst ein Klassenkamerad formulierte: die in der Dritten Welt haben's viel leichter. Wer eh nix hat, brauch auch nich zu verzichten." "Oh." Kommentierte Silvain höflich, biss sich auf die Lippen. "Wenn man keine Mittel hat, kann man sich auch nicht selbst dafür preisen, nicht ständig irgendwas zu kaufen, stundenlang herumzudaddeln oder Ähnliches." Verdeutlichte Linus, stellte das Kreiseln und auf der Stelle hüpfen ein. "Mit anderen Worten: nur mein lächerlicher Stolz wird leiden." Silvain betrachtete ihn bekümmert. "Haltung zu zeigen sollte nicht so schlicht bemessen werden! Ich finde das höchst ungerecht!" Linus lächelte, entzog Silvain seine College-Jacke, fasste ihn einfach um die Hüften, stemmte ihn hoch. Wieder und wieder, ohne erkennbare Mühe. "Ich hab dich gern." Verkündete er schließlich, hielt Silvain fest in der Höhe, den Kopf in den Nacken gelegt. Silvain, der sich eilig auf den breiten Schultern abgestützt hatte, errötete dezent. "Ich hab dich auch sehr gern." Erwiderte er eilig. "Gut zu wissen!" Schnurrte Linus prompt, ließ Silvain quasi fallen, um ihn genau rechtzeitig abzubremsen und ausgiebig zu küssen. ¢___* Kapitel 5 - Zwei- und vierbeinige Schutzengel "Linus?! He, Linus, Sekunde mal!" Was wohl mehr als eine Sekunde in Anspruch nehmen würde. Linus, der ob des Rufs herumgefahren war, gab Silvains Hand nicht frei, blockierte jede Erstattacke sofort durch aufgestellte Schultern. "He, gut, dass ich dich treffe! Weißt du, ob es für heute Nacht auf der Burg noch Karten gibt?" Ein ebenso athletisch gebauter Jugendlicher mit modischer Mohawk-Frisur und teurer Clubjacke eines Modelabels hielt auf sie zu, einen ähnlich aufgemachten Trabanten im Schlepptau. "Nein, keine Ahnung. Ruf ab Mittag am Besten im Büro hier an. Die wissen, ob es noch Restkarten an der Abendkasse gibt." Antwortete Linus nach einem knappen Begrüßungsnicken. "Alles klar, danke, Mann! Vielleicht sehen wir uns da ja noch. Bis dann!" Wieder ein höfliches Nicken. Unterdessen schob sich der Trabant ins Blickfeld. "Ey, sach ma, sin die n Paar?" "Nein, du Penner, die haben den Pattex nicht von den Pfoten bekommen! Bist du blind, oder was?!" Man entfernte sich diskutierend. Silvain, der sich schüchtern hinter Linus hielt, weil er Sportkameraden vermutete, mit denen er nicht bekannt war, gluckste leise. Linus neben ihm grinste schief. "Ich schätze, einige Leute sind gar nicht sonderlich schockiert." Bemerkte er, was Silvain begrüßte. Er wollte nicht, dass Linus schlecht angeschrieben war. Der nahm langsam ihren Spaziergang wieder auf. "Sag mal, wie geht es dir eigentlich in deiner Klasse?" Die raue Stimme klang besorgt. "Hmm..." Silvain sinnierte. "Ich bin ähnlich sichtbar wie bei der verpatzten Schulmeisterschaft." Er drückte Linus' Hand besänftigend. "Allerdings ernte ich weniger wütende Blicke als irritierte. Ein bisschen wie bei einem exotischen Tier." Vorsichtig riskierte er einen Blick auf Linus' Profil. Brach der Wikinger schon an die Oberfläche, vermutete Gemeinheiten blutig zu rächen? "Meine Schwestern sind der Auffassung, dass es reichlich dreist ist. Unverschämt." Damit hatte er Linus' Aufmerksamkeit sofort auf sich gebündelt. Die Friesen-blauen Augen glitzerten gefährlich. "Könntest du dieses Urteil für mich präzisieren? Bitte?" Schnurrte er zu Silvain runter, der sich anstrengte, diese Beschützer-Attitüde nicht mit einem Lächeln zu quittieren. Wirklich, der blutrünstige Wikinger agierte ungeheuer niedlich! "Wie sie mir erklärt haben, bemächtige ich mich ganz niederträchtig eines begehrten Junggesellen und Sportlers." Linus knurrte. "Außerdem stelle ich damit alle Mädchen bloß, die sich um deine Gunst bemüht haben, während ich temporär deine Gesundheit ruinierte." Nun blieb Linus tatsächlich stehen. "Das ist so ein Unsinn!!" Silvain schüttelte den Kopf. "Ganz und gar nicht. Vielmehr ein sehr gerissener, psychologischer Kniff! Meine Schuldgefühle reflektieren auf dich, was dir auf der Seele liegt. Um mich aufzuheitern, lässt du dich auf mich ein. Ich zwinge dich quasi dazu, meiner Verführung zu erliegen." Linus starrte ihn finster an. "So einen hanebüchenen Unsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört! Deine Schwestern sollten öfter mal an die frische Luft gehen!" Empfahl er grimmig. Silvain lächelte, hob die freie Hand, streichelte über die angespannten Sehnen in Linus' Antlitz. "Tatsächlich ist es eine gewisse Offenbarung, meinst du nicht?" Eine kritische Augenbraue wanderte hoch Richtung rotem Lockenschopf. "Ich kann dir gerade nicht folgen?" Was Silvain schmunzeln ließ. "Meine Schwestern sind, wie viele andere auch, der Auffassung, dass du über ungeheuer viel Empathie und Verantwortungsgefühl verfügst. Warum sollten sie sonst annehmen, dass mein vermeintliches Ungemach DIR nachhaltig Sorgen bereitet?" Linus funkelte ihn an, schnaubte. "Deutest du gerade an, dass ich längst durchschaut bin ob meiner lächerlichen Krieger-Fassade und endlich die Scharade aufgeben soll?!" Besorgt fasste Silvain nach Linus' freier Hand. "Nein! Ich weiß ja jetzt, dass viel mehr auf dem Spiel steht!" Linus schnellte vor, Silvains notorisches Erschrecken perfekt kalkuliert, um ihn auszukontern und zu küssen. "Du kannst das, weißt du?" Wisperte er rau, lächelte. "Nein, vielmehr solltest du das, Silvain! Hab keine Scheu, mir den Spiegel vorzuhalten, bitte!" Silvain errötete verlegen. "Entschuldige. Ich bin einfach noch unsicher, ob ich dich nicht doch verletze." Bekannte er leise. Hin und wieder zweifelte er auch an seinem Urteilsvermögen, ob Linus scherzte oder doch im Ernst sprach. "Ich glaube, die Gefahr können wir als gering einstufen." Bestimmte Linus souverän. "Viel eher bin ich es, der dich verletzt. Eine gute Kinderstube geht mir ohnehin ab. Auch sonst ist mein gesellschaftlicher Pli eher so-so." Silvain betrachtete Linus prüfend. "Bist du sicher, dass du gegenüber anderen nicht so geschliffen formulierst?" Die Frage musste gestellt werden, brannte ihm unter den Nägeln! Linus bot ihm das Profil. Wieder zuckten merklich die Sehnen über den aparten Kieferknochen. "Ich kann recht professionell in die Wikinger-Rolle schlüpfen, mich auf meinen eiskalten Zorn konzentrieren, alle nur noch als Spielfiguren einstufen." Ein bitteres Lächeln prägte seine Mundwinkel. "Zumindest gelang es mir bisher mühelos. Andererseits kann ich eine Welt nicht verdammen, in der es dich gibt. Bei mir." Silvain biss sich unwillkürlich auf die Lippen. In diesem Moment wirkte Linus verletzlich und schutzbedürftig, ganz ohne Panzerung, ohne Sarkasmus und Ironie. Der löste ihre Hände voneinander, legte Silvain einen Arm um die Schultern, nahm ihr Schlendergang wieder auf. "Ich habe gute Lehrer gehabt. Oder vielmehr ganz grauenvolle." Beklommen schielte Silvain hoch. Noch immer prägte Bitterkeit Linus' Züge. "Den Vater meines Vaters habe ich nur ein Mal getroffen. Der hatte seine Frau durch permanentes Fremdgehen vergrault. 'Woran die Alte selbst schuld war, weil sie ihm auf den Geist ging'. Meinem Vater ist meine Existenz ein finanzielles Ärgernis, eine lästige Erinnerung aus der Vergangenheit, die man gezwungen ist zu ertragen, bis man nicht mehr von Vater Staat belangt werden kann. Die Mutter meiner Mutter hat gleich verkündet, 'sie habe ihre Blagen auch allein großgezogen, deshalb werde sie den Teufel tun und sich deren Blagen zumuten lassen'. Meine Mutter würde es sehr begrüßen, wenn sie endlich von der Last der Verantwortung befreit würde. Das täte auch ihrer Beziehung gut, immerhin hat sie sich 'nach Jahren der Aufopferung eine bessere Zukunft verdient'." Linus atmete tief durch. "Mit den Beispielen vor Augen ist es ausgesprochen leicht, sich wie ein egomanisches Arschloch zu verhalten." Silvain, der bestürzt die Finger in seinen Stadion-Parka grub, nahm allen Mut zusammen, schlängelte einen Arm um Linus' Hüfte. Das veranlasste Linus, die Hand am tollkühnen Arm seiner Jackentasche anzuvertrauen. "Der einzige Grund, dass ich nicht auch so heruntergekommen wie meine Sippschaft bin, ist Captain Spectacular. Ich gebe bestimmt nur einen sehr mittelmäßigen Kater ab, aber als Mensch habe ich wenigstens die Basislektionen absolviert." Linus seufze leise. "Einander helfen und beistehen, sich kümmern, Schlafplatz und Essen teilen. Einfach da sein, wenn es nötig ist. Ohne Captain Spectacular hätte ich das nicht erfahren und gelernt." Beiläufig streichelte er über Silvains Seite, vermied Blickkontakt. "Diese Märchenvariante 'alle leben froh und glücklich bis ans Ende ihrer Tage', die habe ich nie gekannt. Anfangs habe ich gehofft, sie vertragen sich wieder. Danach sind meine Ansprüche immer weiter gefallen. Am Ende wollte ich bloß, dass sie sich nie wieder begegnen, damit der Terror aufhört." Silvain ballte die Fäuste, schluckte schwer. "Die Horror- und Gruselgestalten, die haben mir keine Angst gemacht. Echtes Grauen sieht anders aus: wenn du merkst, dass sie dich gar nicht mehr sehen, du bloß noch ein abstraktes Problem bist. Nicht persönlich gemeint, nein, gar nicht! Nur eine lästige Komplikation! Keine Person mehr, irgendein Hindernis. Ballast, den man gedankenlos abschüttelt." Linus blieb stehen, wandte sich langsam Silvain zu. "Ich bin von ihrer Gnade abhängig und nicht sicher, ob ich es mir erlauben kann, mich anständig zu verhalten." Er lächelte bitter, im Begriff, wieder in einen Scherz zu flüchten. Silvain zerrte die Fäuste aus den Jackentaschen, kaperte Linus' Hände. "Du bist nicht allein! Ich stehe dir bei, Linus! Und andere bestimmt auch! Eine Familie, das sind nicht bloß Blutsverwandte, das sind vor allem Freunde, die Schulklasse, die Nachbarschaft und noch viele mehr!" Seine kurzsichtigen Augen funkelten hinter den Brillengläsern. "Oh, ich werde meine Schwestern überzeugen, versprochen! Die kriegen wirklich alle klein! Absolut unschlagbar, garantiert!" Sein flammender Appell an Linus' Selbstwertgefühl zeitigte Wirkung. Der schmunzelte. "Erwähnte ich unlängst, wie großartig du bist?" Silvain, noch vor Eifer dezent gerötet, zog verlegen die Schultern hoch. "Jetzt willst du sogar deine Schwestern für mich in die Schlacht werfen." Linus lächelte versonnen. "Komm mal mit, bitte." Löste er eine Hand, zog Silvain in beschleunigtem Tempo durch ein Tor. Dort, im Schutz des Hinterhofs, lupfte er Silvain auf eine niedrige Mauer. Sie hatte genau die richtige Höhe, ihm unzählige, sehr intensive Küsse zu erlauben. ¢___* Die Hilfsschar traf sich für ihren letzten Auftritt in diesem Jahr am frühen Nachmittag. Nicht auf der Burg, sondern darunter, in einer Kleingartenparzelle, wo man mit Waffeln, Gemüseeintopf und Brot die gelungene Saison feierte. Zudem war es geglückt, die perfiden Pfefferspray-Angreifer zu ermitteln, da eine Hundestaffel den Busparkplatz kontrolliert hatte. Silvain hielt sich im Hintergrund. Er war erst jüngst dazugestoßen. Das erlaubte es ihm auch, Linus zu beobachten. Niemand schien ihm hier den Wikinger-Modus abzuverlangen, kam ihm zu nahe, was die persönlichen Umstände betraf. Er unterhielt sich gelassen, warf hin und wieder einen Scherz ein, konzentrierte sich auf die Sache, war, soweit Silvain das beurteilen konnte, sehr wohlgelitten. Kein Wunder, sportlich, großgewachsen, unprätentiös, konzentriert, umsichtig... Eben ein guter Kamerad! Es schien auch niemanden zu stören, dass Linus ihn im Bus mit einem Arm absicherte. Auf der Burg trennten sich allerdings ihre Wege. Die Maskenbildnerin arbeitete seriell. Wer nicht geschminkt werden musste, sollte die Pfade überprüfen. Besorgt ermahnt, ja nichts zu riskieren, durfte auch Silvain losziehen. In der Dämmerung sah er schlechter als bei Einbruch der Nacht, doch in Gesellschaft und mit Stabtaschenlampe unterlief ihm kein Malheur. Der Grusel-freudige Besuch kam. Silvain genoss die Verantwortung, die er trug, Orientierungspunkt und Beistand zu sein, zu beruhigen, zu trösten, sicheres Geleit anzutragen. Er wusste dabei immer Linus in der Nähe, der ungebetene Schreckmomente im Keim ersticken wollte. Frierend, aber glücklich und stolz schmiegte sich Silvain schließlich in Linus' Arm, kuschelte sich an. "Das war toll! Ob wir im nächsten Jahr auch helfen dürfen?" Linus grinste, noch immer schauerlich anzusehen, balancierte sie im Bus während der Serpentinenfahrt aus. "Hab ich wirklich den richtigen Silvain erwischt? Fürchtest du dich gar nicht mehr?" "Schon." Gestand Silvain ein. "Schutzengel sein gefällt mir sehr." "Hmm." Brummte Linus. "Ich hätte da einen Ganzjahresauftrag zu vergeben." ¢___* Nach eiligem Marsch bei einsetzendem Regen erhitzt befreite sich Linus zügig von der Maske. Sie kuschelten sich aneinander in seinem Bett, lauschten müde auf den Trommelwirbel der Tropfen. "Silvain?" "Hmm?" "Ich werde aufhören, die Axt im Wald zu geben." "Das ist schön. Ich mag dich so lieber." "Das könnte mir zu Kopf steigen!" "Meinst du? Komisch, die Wirkung habe ich noch nie gehabt." Linus gab Silvain erst frei, als der japste, durchgekitzelt und ausgiebig geneckt. "Ich bin froh, dass du schreckhaft bist. Sonst wären wir aneinander vorbeigelaufen." Silvain rollte sich leise schnaufend auf Linus ein. "Eine kleine Kollision auf dem Schulkorridor hätte mir auch gereicht. So hast du schmerzhafte Verletzungen erlitten." "Die waren es wert. Ja, sogar den verdammten Köter aus der Hölle." Schaudernd kuschelte Silvain. "Hoffentlich träume ich jetzt nicht davon!" "Iwo! Erinner dich einfach an deinen Auftritt als Schutzengel. Du warst wunderbar." "Hmmm..." Lächelte Silvain erschöpft. "Wir waren alle toll, wenn auch gruselig." Linus lachte leise, kreiste mit der Hand über seinem Rücken, so geduldig und sanft, dass Silvain noch vor dem Gute Nacht-Gruß einschlief. ¢___* Silvain erwachte, weil er das Schließen der Tür registrierte. Von innen. "...uh..." Meldete er sich kurzsichtig zu Wort, streifte einen Teil der Decke ab, um sich verwicklungsfrei aufsetzen zu können. "Guten Morgen, auch wenn der ziemlich feucht ist." Linus kämpfte sich aus Regenjacke und Turnschuhen, stellte eine PET-Tasche ab. "Oh!" Bei Silvain sammelten sich, trotz eingeschränkter Scharfsicht, diverse Erinnerungen. "Du hast Frühstück geholt, weil ich geschlafen und dich auch noch geweckt habe?!" Summierte er bestürzt Fakten. Aus dem Bad hörte er Linus lachen, bevor der nur im T-Shirt und Unterhosen wieder erschien. "Nach all der Aufregung hat es mich nicht gewundert, dass du lebhaft geträumt hast." Neckte er amüsiert. "Es reicht außerdem, wenn einer von uns beiden tropfnass wird." Er nahm auf der Bettkante Platz, reichte Silvains Brille an, strich ihm über den wirren Schopf. "Ich habe heiße Schokolade in der Thermosflasche, belegte Brötchen und Rosinenwecken ergattert. Kann ich dich dafür begeistern?" Silvain nickte so hastig, dass die Strähnen flogen. Eigentlich hatte er ja das Frühstück übernehmen wollen, vielmehr die Zeche! Wirklich, an seiner Kondition musste er unbedingt arbeiten! "Wunderbar!" Zwinkerte Linus aus Friesen-blauen Augen, küsste ihn auf die Nasenspitze. "Da serviere ich sofort!" Während Linus Teller und Tassen organisierte, wieselte Silvain eilig ins Bad: Gesicht waschen, beschämter Blick auf durchnässte Jeans und Socken, Haare striegeln. Ein nutzloses Unterfangen! Er schlüpfte gerade wieder unter die gemütliche Decke, da näherte sich schon Linus wie ein Jongleur. Ein Teil der Ladung blieb auf dem Boden, bis er ebenfalls unter die einladend aufgeklappte Decke geklettert war. Er betätigte sich bestens gelaunt als Proviantmeister. "Was machst du sonst so an Sonntagen?" Erkundigte er sich, tilgte dezent ein Schokoladenbärtchen mit der Zungenspitze. Silvain mümmelte rasch seinen Bissen Rosinenweck. "Also, wenn meine Schwestern Tennis spielen wollen, müssen wir zum Club." Verstohlen leckte er sich auch die Lippen, in der zutreffenden Annahme, er führe ebenfalls einen Schokoladenbart aus. "Sie betreiben das nicht allzu ehrgeizig, sind aber sehr gefragt, so im Doppel, beide Linkshänderinnen. Meine Eltern löffeln auch ein bisschen, aber piano, dem friedlichen Eheleben geschuldet. Ich darf in sicherer Entfernung lesen, solange ich Abstand von der Anlage und der Ballmaschine halte." Irritiert lupfte Linus eine Augenbraue. "Wieso darfst du nicht mitspielen?" Silvain lächelte schelmisch. "Hast du mir mal beim Sport zugesehen? Besonders wenn es um Bälle geht, bin ich eine wandelnde Katastrophe. Von zehn Versuchen habe ich es gerade einmal geschafft, den Ball überhaupt übers Netz zu bringen. Meist treffe ich ihn nicht mal, sondern wedle nur Luft umher." Was ihn keineswegs erschütterte oder bekümmerte. "Aber eine Sache ist schon merkwürdig, rein physikalisch gesehen." Er teilte das letzte Croissant sehr gründlich in der Mitte, um Linus eine Hälfe zu reichen. "Eine der älteren Tennisspielerinnen behauptet, ich würde durch meine Ausstrahlung die Ballmaschine ruinieren. Selbst auf atomarer Ebene halte ich das für ziemlich unwahrscheinlich. Selbst wenn da Teilchen gestrahlt werden. Andererseits gibt das Gerät immer wieder den Geist auf." "Was du ohne Körperkontakt allein durch deine sinistren Gedanken auslöst?" Grollte Linus. Silvain grinste. "Exakt. Deswegen bin ich leider keine physikalisch bedeutende Anomalie, fürchte ich. Es war bloß leichter, den Sicherheitsabstand einzuhalten, um die Dame zu beruhigen, als darauf zu beharren, aus nächster Nähe Interesse vorzutäuschen." Linus schenkte paritätisch die Neige Schokolade in die Tassen aus. "Und du? Was machst du an Sonntagen?" "Nicht viel. Was liegen geblieben ist, manchmal Schulkram. Hauptsächlich treibe ich mich draußen herum, Sport oder mal aushelfen." Neben dem Bett stapelten sich säuberlich Teller und Papiertüten. "Aushelfen?" Silvain fahndete gleichzeitig nach Resten von Kakao-Oberlippenzier. "Im Tierheim in der Nähe. Sauber machen, Decken waschen. Oder bei der Nachbarschaftshilfe hier, Omas Gardinen aufhängen, Birnen austauschen. So was." Silvain staunte Linus überrascht an. Der grinste schief. "Ja, ja, ich weiß: wie kann die Axt überhaupt für so was in Frage kommen, wo alle gleich Deckung suchen?" Er streckte die Hand aus, tilgte mit dem Zeigefinger Schokoladenspuren über Silvains Mund. "Sie stellen keine Fragen, so einfach ist das. Ich komme vorbei, frage, ob ich was tun kann und mache es. Die interessiert meine Sippschaft nicht oder der ganze, traurige Rest. Wenn ich hier zu lange herumsitze, werde ich bloß trüb- und stumpfsinnig. Also, Hintern hoch und raus." "Das ist ja toll!" Bewunderte Silvain unverhohlen. "Ich wäre auch gern so geschickt!" Linus grimassierte. "So eine große Sache ist das gar nicht. Mir hat außer Captain Spectacular bloß niemand allzu viel beigebracht, weißt du? Hier kann ich was lernen, ohne gleich offenbaren zu müssen, was mir an ordentlicher Erziehung abgeht." Silvain hielt, von einem starken Impuls voran gepeitscht, eine Umarmung für DRINGEND angezeigt. Deshalb warf er sich einfach auf Linus, umhalste ihn eng. "Du bist ganz großartig, hörst du? Niemand kann vernünftigerweise anderer Meinung sein!" An seinem Ohr hörte er Linus leise lachen. "Ein wenig voreingenommen bist du aber schon, nicht wahr?" Prompt zog Silvain sich zurück, die Hände auf die muskulösen Schultern gelegt, in aufklärerischer Mission vor Eifer errötet. "Allenfalls marginal! Ist es nicht so, dass Taten zählen?! Du hast unzählige stichhaltige Beweise und viele Menschen, die dich mögen, dir dankbar sind! Mit Verlaub, nicht nur aus mathematischen Gründen: deine Verwandtschaft hat da nichts zu melden!" Schloss er, ein wenig atemlos, seine feurige Argumentationskette ab. Linus kämmte versonnen wirre Strähnen aus Silvains Gesicht, legte die Brillengläser wieder frei. "Du machst es mir wirklich nicht einfach, mich feige hinter meinem albernen Stolz zu verschanzen, hm?" Silvain reckte sein Kinn entschlossen. "Dazu besteht kein Grund, Linus. Du hast nichts, was versteckt werden müsste. Ich werde nichts unversucht lassen, dir das zu beweisen!" Unvermittelt fand er sich eng umschlungen. "Ehrlich, Silvain, du bist so lieb, dass mir ganz schwummerig wird! Von anderen Gefühlen mal ganz zu schweigen.." Da er durch die Nähe ihres Kontakts durchaus eine Vorstellung davon hatte, wo er Auslöser gedrückt hatte, schluckte Silvain tapfer. "Warum widmen wir uns ihnen nicht?" Auch wenn ihm das Herz wild klopfte. Linus stöhnte unterdrückt. "Jetzt kenne ich keine Bremsen mehr!" Eine Ankündigung, die Silvain kein bisschen erschreckte. ¢___* Ein Teil von ihm wunderte sich beiläufig, dass er einfach die lästige Decke abschütteln, splitterfasernackt Linus' Oberschenkel reiten, ungeniert an prominenter Stelle zugreifen konnte. Nicht an sich zweifelte, nicht zögerte, sich nicht fragte, wie er wirkte und aussah. Sondern einfach, wenn auch kurzsichtig, mit dem loslegte, was ihm gerade von Hormonen befeuert in den Sinn kam. Andererseits leistete Linus ihm begeistert Schützenhilfe, sodass es überhaupt nichts zu fürchten gab! ¢___* "Ah, da bist du ja wieder." Linus' raue Stimme klang sehr nahe an seinem Ohr. Kein Wunder, immerhin lag er einfach auf seinem großgewachsenen Freund! "Uh." Kommentierte Silvain, wollte sich brav aufstützen. Trotz kurzem Blackout war er sicher recht schwer und unbequem! Linus hielt ihn unerbittlich umschlungen. "Das war definitiv WOW auf der nach oben offenen Libido-Skala." Schnurrte der ihm zärtlich in die wirre Putzwolle. Silvain teilte diese Meinung, soweit seine Erinnerung reichte, befand jedoch, dass er dringend an seiner Kondition arbeiten musste. Drei Runden, nicht schlecht und mehr als vorher, aber trotzdem! "Entschuldige, meine Knie sind noch weich. Deshalb muss der Lappen warten." Linus klang UNZWEIFELHAFT amüsiert, kraulte ihm den Nacken. Was eine kleine Verlängerung der Kuscheleinheit rechtfertigte, wie Silvain konstatierte. Also schmuste er, richtete sich frech auf dem nackten, muskulösen Körper ein. "Das ist ein sehr nettes Sonntagsprogramm." Wisperte Linus neckend. "Können wir das zur Regel machen?" Silvain kicherte, stemmte sich mit wackligen Armen hoch, um hautnah weiter nördlich zu robben, damit er Linus in die Friesen-blauen Augen blicken konnte. "Es ist jede diesbezügliche Anstrengung wert." Antwortete er schelmisch. Auch wenn sie beide wussten, dass zumindest ein Elternpaar skeptisch reagieren würde. "Festhalten!" Raunte Linus, initiierte eine schwungvolle Rolle. Bevor Silvain ächzen konnte, da er rücklings die Matratze beehrte, ihre Last trug, fischte er den Lappen ab, rollte geschmeidig zurück. Ja, bei aller Hingabe, etwas Hygiene drängte sich auf! Zudem würde man, Regen hin oder her, den Luftaustausch vornehmen müssen. "Waschen, polieren, anziehen und dann?" Erkundigte sich Linus mit funkelndem Blick. "Wir könnten vielleicht etwas lesen." Murmelte Silvain. Für den stets so aktiven Linus sicher eine Zumutung! "Prima." "Es ist auch nicht lang!" "In Ordnung." "Nicht episch a la Krieg und Frieden!" Beeilte sich Silvain zu versichern. Linus schmunzelte, weil IHM nicht entging, dass Silvain die Ayes für seinen Vorschlag noch gar nicht registriert hatte. "Wunderbar. Teil eins von der Schwarte habe ich familiär bis zum Erbrechen schon konsumiert." "Kurzgeschichten, weißt du?" Plädierte Silvain, gestikulierte sogar kurzsichtig, signalisierte GANZ kurze Passagen. "Schwarzer Humor, Roald Dahl. Und wenn du genug hast...!" Manchmal, konkludierte Linus, während er sehr sachkundig mit wachsender Übung die Sauerstoffzufuhr abschnitt, waren Taten UNBEDINGT Worten vorzuziehen. ¢___* Ohne Anzeichen von Ungeduld oder Langeweile hatte Linus ihn lesen und sich ankuscheln lassen. Wirklich, wie schnell man sich an die muskulösen Arme um den eigenen Leib gewöhnte, den mächtigen Brustkorb im Rücken, eine warme Halskuhle, einen vertrauten Herzschlag! Gut, wenn Linus ihm neckend den Atem unters Hemd blies, schreckte Silvain verlässlich zusammen, doch es war ein wohliges Schauern! Silvain gratulierte sich auch zur Auswahl der Kurzgeschichten. Sie trafen Linus' Sinn für schwarzen Humor, eine hintergründige Pointe, kleinere Sticheleien in Nebensätzen. Er mochte das leise, warme Lachen an seinem Ohr, wenn er sich bemühte, die Geschichte möglichst lebendig vorzutragen. "Silvain?" "Ja?" "Mein Zwerchfell ist jetzt sehr trainiert, aber meine Kaumuskeln schlaffen ab, vom nörgelnden Gekröse ganz zu schweigen." Silvain blinzelte. "Oh, du hast Hunger? Herrje, ich habe ganz die Zeit vergessen!" Linus lachte, küsste ihn warm auf die Wange. "Ein Päuschen zum Essenfassen können wir uns gönnen, oder?" "Ja, natürlich! Augenblick!" Eilig gelöst wäre Silvain beinahe aus dem Bett gepurzelt, doch Linus sicherte geübt. "Mein Rucksack! Da habe ich...einen Moment!" Schon preschte Silvain los, das Ungetüm um Bestandteile zu erleichtern, die meisten in Schraubgläsern verstaut, was das nicht unerhebliche Gewicht erklärte. Linus rettete das geliebte Lesegerät in sichere Entfernung, ging neben Silvain in die Hocke. "Ich dachte mir, wie bei einem Picknick, von jedem was." Um Zustimmung heischend nahm Silvain die Friesen-blauen Augen ins Visier. "Dazu vielleicht Tee? Oder Wasser mit einem Schuss Apfelessig?" Erneut bekam er einen Kuss auf die Wange. Linus lächelte ihn zärtlich an. Prompt errötete Silvain leicht, verspürte, etwas unmanierlich, Stolz, dass sein Einfall hier wohlwollend aufgenommen wurde. "Ich sorge für Tisch und Geschirr, hm?" Sogar ein Teelicht, was ihrer Mahlzeit eine festlich-romantische Note verlieh. ¢___* Linus hatte darauf bestanden und Silvain schließlich die Waffen gestreckt: er apportierte das Gepäck! Erstens verfügte er über zu trainierende Muskelmasse. Zweitens hatte er ausreichend Platz auf dem Buckel. Drittens musste sich Silvain vornüber beugen und die Gurte mit den Händen sichern. Was schlichtweg nicht akzeptabel war, da ER eine Hand zu okkupieren wünschte! Wenigstens durfte Silvain seinen leichten Seesack selbst tragen. Man konnte Linus nicht vorwerfen, dass der für Verhandlungen zur Wahrung persönlichen Stolzes taub war. Sie erreichten gerade den ersten Stock, Hand in Hand, als sich eine Wohnungstür öffnete. Linus hielt inne. Die Frau, die in den Flur treten wollte, ebenso. "Guten Tag, Katharina." "Oh, Linus..." "Katharina, darf ich dir meinen festen Freund Silvain vorstellen? Silvain, meine Mutter." Bevor Silvain artig ein "freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen" über die Lippen bringen wollte, wandte die Frau unruhig den Kopf zur Wohnung. "Hallo, ja...du wolltest aber nicht...oder?" "Nein, keine Sorge. Ich begleite Silvain nach Hause. Bis dann." Kurz angebunden, sachlich. Ohne Linus' Hinweis hätte Silvain nie vermutet, dass sich hier Mutter und Sohn unterhielten. Oder vielmehr eine Unterhaltung simulierten. Er ließ Linus eine Weile still marschieren. Gewisse Ähnlichkeiten bestanden schon. Die Haarfarbe beispielsweise, die Wangenknochen. "Wir haben uns auf Vornamen-Basis geeinigt." Silvain drückte vorsichtig Linus' Hand. Der wandte sich halb zu ihm herum, nicht im geringsten vom Rucksack beeinträchtigt, lächelte kriegerisch. "Oh, keine Sorge, inzwischen bin ich recht abgehärtet. Meine Erwartungen sind nahe dem Nullmeridian runtergeschraubt." Beklommen seufzte Silvain. Was IHM einen aufmunternden Händedruck einbrachte. "Ich bin hin und wieder erstaunt, dass wir tatsächlich verwandt sind. Aber ihr geht's wohl genauso." Ein sarkastisches Lächeln tanzte um seine Mundwinkel. "Nun haben wir wenigstens EINE Gemeinsamkeit: wir ziehen Männer vor. Aber ihren Geschmack möchte ich nicht haben." Er schnaubte. "Sie hat Angst, dass ich reinkomme, wenn der andere da ist. Da war's nämlich Antipathie auf den ersten Blick." Linus knurrte, wieder ganz Wikinger. "Allerdings bin ich ein bisschen zu groß, zu schnell und zu schlagfertig in jeder Hinsicht, um mir ins Gesicht zu sagen, dass ich ne widerliche Schwuchtel bin." Silvain blieb stehen. Das veranlasste Linus, ebenfalls innezuhalten. "Tut mir leid, hässliches Thema." Auf die Zehenspitzen gestemmt, die freie Hand in den Sweatshirt-Kragen gegraben überwand Silvain die Distanz, küsste Linus auf die Lippen. Der fasste mit der freien Hand zu, stützte ihn ab. "Ich mag dich, Linus. Sehr!" Flüsterte Silvain eindringlich, beschwörend. Die Friesen-blauen Augen blinzelten kurz. Der Wikinger verlor sich aus Linus' Zügen, machte einem liebevollen Lächeln Platz. "Ich mag dich auch sehr, Silvain. Wie du siehst, habe ich dringend einen Schutzengel nötig. Übernimmst du diesen undankbaren Job?" Silvain streichelte über eine Wange mit den markanten Kieferknochen. "Ich verspreche es. Ich werde mir allergrößte Mühe geben!" Versicherte er mit großem Ernst. "Danke." Raunte Linus, umhalste Silvain fast erstickend. Eine leuchtende, heitere, aufmunternde Person, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gab, hatte er dringend nötig. ¢___* "Hat er dich gerade echt geküsst?! Mit Zunge?!" Mireille und Marielle belagerten Silvain, der sein Gepäck in das eigene Zimmer bugsierte. Silvain keuchte, räusperte sich. Vielleicht wäre doch etwas sportlicher Ehrgeiz von seiner Seite angezeigt? "Das ist zwischen uns so üblich." Antwortete er höflich. Es hätte, trotz aller Impertinenz, keinen Zweck, seinen Schwestern ein aufklärendes Gespräch zu verweigern, die gerade Blicke wechselten. "Und du hast ihm den Zettel gegeben? Über die Sex-Praktiken?" Silvain verteilte den Inhalt seines Gepäcks auf dem schmalen Bett. "In der Tat." Gab er beiläufig zurück. "Das hat ihn nicht abgeschreckt?!" "Nein." Bestätigte Silvain wahrheitsgemäß, deponierte die merklich erleichterten Schraubgläser. Sie würden in die Küche wandern. "Hast du ihn nackt gesehen?!" Nun widmete sich Silvain doch seinen Schwestern. "Durchaus, wenn auch ohne Brille, aber das stellt kein Monopol dar. Nach dem Hockeyspiel duschen die Jungs ja auch..." Mireille und Marielle stöhnten im Chor auf. "Das ist doch nicht dasselbe! Seid ihr wirklich so richtig zusammen?!" Silvain unterdrückte ein verräterisches Schmunzeln. "Das sind wir. Mit allem, was dazu gehört." Details würde er jedoch standhaft verweigern. "Aber warum?! Warum ausgerechnet du?! Ihr habt überhaupt nichts gemeinsam!" Diesbezüglich konnte Silvain seinen Schwestern keinen Vorwurf machen. Auf den ersten Blick wirkte es sehr unwahrscheinlich, der sportliche Wikinger und der schreckhafte Bücherwurm. "Er mag mich. Und ich mag ihn." Erneut stöhnten Mireille und Marielle unisono auf. Eine patentierte Reaktion, die schon ganz andere in die Flucht oder den Wahnsinn getrieben hatte. "Das ist total bekloppt!" "Aber eben auch der Beweis: Liebe macht blind!" Eine für die Schwestern augenscheinlich akzeptable Erklärung für ein Phänomen, das sich jeder vernünftigen Erwartung entgegenstellte. Beide rückten wie eine Wand näher an Silvain heran. "Hoffentlich ist das kein fieser Trick von dir!" "Genau, denk mal an die verlorene Meisterschaft!" Silvain seufzte, ließ den Kopf hängen. "Das tue ich durchaus. Schlimm wäre, wenn andere ihm seine Gefühle zum Vorwurf machen würden. Dabei ist die Disposition ja genetisch bedingt." "Moment mal, hat Linus Ärger, weil er schwul ist?!" "Das ist doch keine große Sache! Wissen doch alle, dass frau nichts zu bestellen hat, wenn das Erbgut so beschaffen ist!" "Eben, ich würde mir eher über den Geschmack Sorgen machen!" Silvain schrumpfte betont in sich zusammen. "Und ich dachte, ihr mögt Linus..." Einige Herzschläge lang blieb es sehr still. Zumindest verbal. Silvains Puls raste. Hätte seine Taktik Erfolg? "Wenn du Linus bei der Stange halten willst, lerne die verdammten Hockey-Regeln!" "Pack dein dämliches Lesegerät weg, wenn er spielt, klar?! Und geh auch zu jedem Spiel!" "Hör ihm zu! Konzentriere dich, wenn er mit dir redet!" "Und mach endlich mal was mit deinen Haaren!" Silvain lächelte innerlich. "Oh, das wird Linus übernehmen." "Was übernehmen?!" "Meine Haare." "Das hat er gesagt?!" Wieder wechselten Blicke mit Lichtgeschwindigkeit die Schwester. "Nett von ihm, finde ich." Strahlte Silvain besonders arglos. "... du lieber Himmel..." Perfekt choreographiert wandten sie sich von ihm ab. Trotzdem konnte er ihre leise Debatte noch hören, als sie ihr eigenes Zimmer betraten. "... Linus gehört quasi schon zur Familie..." "... aber Silly wird's vermurksen! Und dann..." Ja, dann... Silvain lächelte Wutz an. Wenn er sich nicht arg täuschte, liefen gerade in diesem Moment gewisse mobile Geräte in perfekt manikürten Händen heiß, weil man nicht zulassen konnte, dass der Triumph, den Vize-Kapitän der Hockey-Mannschaft in der Familie zu haben, durch den ungeschickten Tölpel-Bruder ruiniert wurde! Dass der imposante Wikinger den Rückzug antrat, wenn man ihm zusetzte! Weshalb sich das diabolische Duo nun mit Priorität anschickte, einen Kreuzzug gegen alle zu führen, die dieses kuriose Pärchen zu kritisieren wagten. Selbst Schutzengel bedienten sich infernalischer Schliche! ¢___* Linus marschierte, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben, durch den Regen. Er hörte seinen Namen, wandte sich um, erkannte hinter einem hell erleuchteten Fenster eine der unzähligen Omas, die ihm winkte. Nur bei ihm funktionierte diese Taktik verlässlich, da er kein Musikabspielgerät sein Eigen nannte, deshalb keine Kabel aus seinem Schädel wucherten. Höflich ließ sich Linus in das Treppenhaus ein, sehr alter Backsteinbau, wurde gleich im Hochparterre abgefangen. Wegen des Rollladens, der nicht mehr hochgezogen werden konnte, weshalb seit dem frühen Morgen die halbe Nachbarschaft geklingelt hatte, um sicherzugehen, dass die zugehörige Bewohnerin wohlauf war. Linus nickte höflich hinunter (er überragte die meisten Omas um mindestens drei Köpfe), schlüpfte aus seinen nassen Turnschuhen und der Jacke, beäugte den Rollladenkasten, einen aufgesetzten, hölzernen Quader. Er bat um alte Zeitungen, den Staubsauger und was sich an Werkzeug so fände. Klare Sache, die Omas sollten nicht auf Leitern herumklettern, um die hölzerne Abdeckung abzuschrauben! Außerdem musste man kräftig zupacken können. Die alten Vorsatzbretter hatten ordentlich Gewicht. Während er werkelte, wurde für ihn eigens das Radio angeworfen, weil junge Männer ja gern über Fußballergebnisse Bescheid wussten, richtig? Die winkende Nachbarin gesellte sich zur moralischen Unterstützung dazu und gab zu bedenken, dass er ja Hockey spiele. Linus kümmerte sich nicht sonderlich um die Fußballligen. Im Radio würde wohl kaum über Feld-Hockey berichtet werden. Er ließ die Omas gewähren, während er im Fundus des seligen Gatten einen neuen Gurt abmaß, die Feder überprüfte, den hölzernen Rollladen aufwickelte und fixierte. Geschickt befestigt ein Trockenlauf, und gleich vier Omas applaudierten begeistert! Wozu zweifellos auch das Likörchen zur Nervenstärkung pro Nase beitrug. Linus grinste in sich hinein, verschraubte die Abdeckung, räumte auf. Natürlich musste er, nach gründlicher Reinigung seiner Selbst, auch Platz nehmen, von den "Soldaten" kosten, die man gemeinschaftlich zusammengestellt hatte: kleine Schnitten, Wasser dazu (Alkohol hatte er höflich abgelehnt) und kostenlose Aktualisierung der Situation in der Nachbarschaft. Was er nie ablehnte. Die meisten Omas hatten nicht viel Geld, kamen gerade so über die Runden, wollten sich aber erkenntlich zeigen für die Hilfe. Da gab es von Hand gemahlenen, frisch gebrühten Filterkaffee, Arme Ritter aus der Pfanne oder auch mal einen Ableger für den Schulgarten. Zusätzlich unbezahlbare Tipps für den Alltag und das Neueste aus dem Viertel. Außerdem bestätigte es Linus in der Vermutung, dass ein subversives Oma-Geheimdienstnetz existieren musste. Nicht EIN MAL schreckte eine Oma vor ihm zurück, obwohl er doch recht martialisch dreinblicken konnte! Ihm gefiel der Gedanke, dass hier die Nachbarschaft aufeinander achtete, ohne sich dabei einzumischen oder aufzudrängen. Er mochte es, sich vor dem Einschlafen kurz die Tagesbilanz vor Augen zu führen und ein positives Fazit zu summieren. Als er die muntere Damenriege verließ, hatte der Regen nachgelassen. Linus entschied, noch einen kleinen Umweg einzubauen. Vor dem Gebüsch, das Captain Spectaculars letzte Ruhestätte markierte, ging er in die Hocke. "Guten Abend, mein Captain." Er sprach leise, vertraulich. "Ich habe einen wunderbaren Freund gefunden: Silvain, der mit mir hier war." Linus lächelte in Erinnerung an die schlanken Hände, die so aufmunternd seine große gedrückt hatten. "Er wird ein wachsames Auge auf mich haben. Was ich hin und wieder bitter nötig habe, wie du weißt." Er atmete tief die kalte, nasse Nachtluft ein. "Danke, mein Captain, dass du mir gezeigt hast, wie man schnurrt und schmust." Langsam stemmte er sich hoch. "Bis bald, Captain." Ein wenig versonnen, aber in Frieden mit sich selbst schlug Linus den Heimweg ein. Er konnte nicht ahnen, dass sein neuer, zweibeiniger Schutzengel gerade mit teuflischer Raffinesse wahre Heerscharen zu ihren Gunsten in virtuellen Marsch gesetzt hatte. ¢___* ENDE ¢___* Vielen Dank fürs Lesen! kimera