Titel: Selbst gefunden Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Phantastik Ereignis: Halloween 2012 Erstellt: 30.09.2012 Spielt nach "Selbst gemacht". <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ <3~~~~ Selbst gefunden Kapitel 1 - Twilight Zone? Thomas blickte nicht auf, als er die leichten Schritte hörte. Wie immer hielten sie kurz vor ihrer großen Küche inne, zögerlich. Ihr Besitzer wappnete sich für die Begrüßung. "Guten Morgen." Wünschte Shinji Mishima tapfer und lächelte vorsichtig. "Morgen." Brummte Thomas im tiefsten Bass, deutete auf ein in Tuch eingeschlagenes Päckchen am Ende des gewaltigen Arbeitstisches. Es war mit kleinen Mondhasen bedruckt und über jede Kritik erhaben, da sein Bruder Jirou es ausgewählt hatte. "Hab deine Brotzeit da hingestellt. Ohne Milchzucker, kannst also den Muffin gefahrlos verputzen." "D-danke schön... Thomas!" Shinji musste immer noch mit sich ringen, ihn direkt wie einen engen Freund anzusprechen. Oder, zutreffender, wie einen Schwager. Thomas nahm ihm das nicht krumm und verhielt sich extra brummig, polterig und grimmig, damit diese Hemmschwelle bald der Vergangenheit angehörte. Er gab sich wortkarg, grunzte Antworten und schnaubte immer mal wieder. Dabei war er durchaus des Japanischen mächtig. Auch wenn er ganz und gar nicht danach aussah. "Tee." Deklarierte er und ließ einen Becher vor Shinji auf die Platte hüpfen. "Das Omelett kommt gleich. Greif zu, soll ja nichts verkommen!" Andere hätten "Guten Appetit" gewünscht, aber hier war wenig Fingerspitzengefühl und sehr viel Haustyrann gefragt. Shinji mümmelte artig und baumelte stillvergnügt mit den Beinen. Zuerst hatte er sich noch geniert, weil Thomas grundsätzlich für alle Mahlzeiten im Haus zuständig war und seine Kreise zu stören zu ernsthaften Verstimmungen führte. Nun schien es für alle Beteiligten die einfachste Lösung, sich verwöhnen zu lassen. Auch Jirou hatte ihm das empfohlen und darauf hingewiesen, dass es ja auch genug andere Aufgaben im Haushalt gab, die man übernehmen und sich damit nützlich machen konnte. Thomas schmunzelte in seinen rotgoldenen Bart, als Shinji erwartungsvoll aufblickte, den Kopf zum Eingang drehte. Er war immer bereit gewesen, die Personen, die sein Bruder schätzte, ebenfalls positiv aufzunehmen. Und auch den Mann gern zu haben, den sein Bruder so sehr liebte. Doch Shinji warb durchaus für sich selbst, auch wenn er so scheu und verzweifelt um Teilhabe bemüht war. Er hatte ein gutes Herz, unerwartet großen Mut und machte seinen Bruder glücklich. DAS genügte Thomas vollkommen. Nun, es war auch amüsant zu beobachten, wie die beiden sich zueinander verhielten, wenn sie sich dessen nicht bewusst waren. Gerade zum Beispiel, da nahm sich keiner etwas, wie sie mit einem erwartungsfrohen Leuchten auf dem Gesicht den Eingang nicht aus den Augen ließen, wenn der Freund nahte. "Morgen!" Trällerte Jirou fröhlich, die gewohnt überlangen Locken noch feucht, der elegante Bart exakt gestutzt, der perfekt die feinen Konturen seines Unterkiefers betonte. Die tiefschwarzen Augen funkelten agitiert, als er sich ohne viel Federlesen über Shinji beugte. Dessen Kinn mit einer geschickten Hand (und fünf Langfingern, wie Thomas zu bemerken pflegte), nach oben dirigierte, um ihn küssen zu können. "Oh..." Murmelte Shinji atemlos, leicht errötet, als Jirou ihn freigab. Jirou dagegen grinste seinem hünenhaften Bruder zu, der betont eine buschige rote Augenbraue nach oben wandern ließ. "Willst du auch einen?" "Hast wohl Hummeln im Hintern, die ne Abreibung brauchen, was?" Knurrte Thomas im Bass und drückte seinem Bruder einen großen Teebecher in die Hand. "Pflanz dich und lass den Schmarrn!" Jirou lachte gut gelaunt, nahm artig Platz und inspizierte das Frühstücksangebot. "Muffins! Super!!" Schon griff er zu, polsterte seine schmalen Wangen aus. Seit ihrem zehnten Lebensjahr kannten sie einander, und er wusste seinen Bruder zu nehmen. Den roten Riesen, ein grimmiger Rübezahl, der nur wenig im Bassbariton von sich gab und auf jeden einschüchternd wirkte. Den Bruder, weder blutsverwandt, noch durch legale Absprachen gebunden, der einfühlsam und klug ein bescheidenes Leben an seiner Seite führte, kaum jemanden hinter die Fassade des fremden Recken sehen ließ. "Vergiss nachher deine Brotzeit nicht!" Ermahnte Thomas, der sich bereits zum Aufbruch rüstete. Er arbeitete in einem Feinkostgeschäft und war dort für die feinen Fleischwaren zuständig. Was nicht ausschloss, dass er selbst auch schlachtete, mit ruhiger Hand und großer Sicherheit. Die anderen Männer seines Metiers hatten Respekt vor ihm. Einige Angestellte des Bahnhofkaufhauses, in dem sich die Delikatessenabteilung befand, verabscheuten ihn, weil er Tiere umbrachte. Mit bloßen Händen! Thomas selbst diskutierte das nicht. Er hatte sein Handwerk beim Großvater gelernt, ohne Privilegien als Verwandter. Und er hielt es für besser, ruhig und zuversichtlich seine Arbeit mit Respekt vor der Natur zu erledigen, als sich in diverse moralische und ethische Ansichten verstricken zu lassen. "Du hast mir doch keine gekochten Eier reingepackt, oder?" Jirou hatte den zweiten Muffin verschluckt und beäugte misstrauisch sein Paket, in ein Tuch mit frechen Waschbären eingeschlagen. "Eier sind gut für die Gesundheit." Verkündete Thomas eisern, verstaute sein Mittagessen, -das Tuch war mit lachenden, dickbäuchigen Schweinen verziert-, in seinem ledernen Säckl. Ein Mitbringsel aus der Heimat seines Vaters, strapazierfähig und auf seine Körpermaße angepasst. "Ich mag keine gekochten Eier!" Quengelte Jirou und schlürfte seinen Tee lautstark. "Umso mehr Grund, sie zu verputzen, dann sind sie nämlich weg." Stellte Thomas grummelnd in den Raum. "Spült mir bitte noch das Geschirr ab, bevor ihr geht. So, gute Arbeit, bis heute Abend!" "Du bist ganz gemein zu deinem lieben, älteren Bruder!" Grollte Jirou ihm mit hochgeschraubter Stimme hinterher, bevor er angesichts Shinjis verwirrtem Gesichtsausdruck in ein Grinsen ausbrach. "Also..." Shinji beugte sich vertraulich zu ihm, befürchtete, dass Thomas noch in Hörweite war. "Ich bin mir ziemlich sicher..." Aber Jirou ließ ihn den Satz nicht vollenden, sondern küsste ihn lange und liebevoll, bis ihr beider Herzklopfen jedes andere Geräusch übertönte. Natürlich war sich auch Jirou sicher, dass Thomas nur in seine eigene Brotzeit gekochte Eier gepackt hatte! <3~~~~ Das Delikatessengeschäft hatte zahlreiche Stammkunden. Die Bahnhöfe und ihre Kaufhäuser waren schließlich der Mittelpunkt jedes Bezirks, der sie umgab. Die meisten von ihnen hatten sich wie auch die Pendler längst daran gewöhnt, dass der rotbärtige Recke, dessen Haare in einem dicken Zopf stets unter einem blütenweißen Stofftuch verschwanden, trotz seiner exotischen Erscheinung ihre Sprache beherrschte und ihre Schriftzeichen lesen konnte. Aber er war keiner von ihnen. Thomas war sich der Distanz durchaus bewusst. Sie begleitete ihn seit seiner Geburt. Die ersten Jahre seines Lebens hatte er in einem Land verbracht, in das er äußerlich recht gut gepasst hatte. Unter Menschen, denen er ähnelte. Was nicht bedeutete, dass die Distanz dort nicht dieselbe gewesen war. Jeder, der ihn ansah, registrierte die tiefschwarzen Augen, das etwas spitze Kinn und später auch die kuriose Versammlung der Zähne im Unterkiefer. Wer es wusste, was sich schnell herumsprach, der erinnerte sich daran, dass seine Mutter eine japanische Tänzerin war! Genau, DIE Frau! Also suchte man nach dem "fremden" Einfluss. Er selbst tat es auch, inspizierte sich selbst. Beim Äußeren gab es da wenig zu entdecken, doch innerlich... was WAR das Erbe seiner Mutter? Sie war eine Schönheit, auch heute noch, agil und schlank wie eine Gerte, biegsam, fröhlich, manchmal kopflos, abenteuerlustig und optimistisch. Sie folgte Impulsen, hatte für den Haushalt nichts übrig, sang gern einfach los und alberte herum. Niemand konnte ihr das übelnehmen, ihr Charme war so einnehmend, dass Fehler ihr mit einem Lächeln nachgesehen wurden. Thomas liebte seine Mutter, ohne jedoch ihrem Charme zu verfallen. Er kannte ihre Rastlosigkeit, ihre Unfähigkeit, sich mit aufreibenden, trivialen Dingen des Alltags befassen zu müssen. Und kam sich deshalb ein wenig so vor, als hätte er hauptsächlich das Erbe seines Großvaters väterlicherseits angetreten: er war stoisch, eher wortkarg, umsichtig, fleißig und gierte ganz sicher nicht nach Aufregung. Sein leiblicher Vater ähnelte da eher seiner Mutter, sehnte sich auch nach mehr als der Arbeit im Familienbetrieb. Wobei er schon als Rebell galt, weil er sich nur für die Buchhaltung und Geschäftsführung verantwortlich zeigte. Aber weder jemals geschlachtet, noch anschließend auf vielfältige Weise Fleisch, Sehnen und auch Knochen verarbeitet hatte. Es lag ihm einfach nicht. Eine Märchenwelt, in die es die Mutter verschlagen hatte. Raus aus der reisenden Revue in ein Idyll mit großen Bauernhäusern, Bergen, grünen Almwiesen, Schneemassen, Föhn, Tagen ohne Sonne, wenn die Regenwolken einfach nicht weichen wollten und wahren Riesen um sie herum. Thomas konnte ihre Faszination verstehen, aber auch, warum sie nach acht Jahren ohne Wehmut diesem Land ihren Rücken gekehrt hatte. Heimlich hatte sie ihm Japanisch beigebracht und über flüchtige Bekannte Bücher besorgt, damit er japanische Schriftzeichen kennenlernen konnte. Darunter war auch ein Märchenbuch, europäische Märchen. Sie waren ganz anders als die japanischen Märchen, die ihm seine Mutter erzählte und wenn er die Bilder betrachtete, so konnte er nicht umhin sich zu wundern, denn hier, wo viele Märchen spielten, sah es wirklich... anders aus! Der Großvater hingegen erlaubte ihm auf seine kurzangebundene Art, die Bücher zu lesen, die das Haus vorhielt. Sie waren eigentlich nicht für Kinder gedacht, die Schrift war jedoch angenehm groß und die Bilder eindrucksvoll. Neben dem "Hausschatz" mit Märchen gab es vor allem alte, deutsche Heldensagen, nordische Sagensammlungen und Erzählungen. Diese Welt fühlte sich für Thomas viel vertrauter an, wenn er die bulligen Männer sah, die ihn umgaben. Der Großvater, der sonst wenig Worte machte, erklärte ihm das, was er nicht verstand. Erst viel später, als er zurückkehrte, um das Familienhandwerk des Großvaters zu lernen, reisten sie gemeinsam. Ein seltsames Paar, den Rhein entlang, in die letzten, urwüchsigen Wälder, bestiegen alte Festungen und folgten den Spuren römischer und "germanischer" Besiedlung. Da waren sie, die "Denkmäler" der Märchen, die ihn als Kind so verblüfft hatten, und nun konnte er sie, mit seinen "japanischen" Augen, auch erkennen. Während wiederum sein "deutscher" Verstand nach Brücken suchte, um japanische Märchen, Volkserzählungen, Buddhismus und grundsätzlich die Mentalität besser zu begreifen. Nein, er war nicht wie seine Mutter eine "Wanderin" in fremden Welten. Er war ein Fremder. Und die einzige wirkliche "Heimat", die er sich wählte, war die Gesellschaft seines Bruders. <3~~~~ Thomas transportierte die Einkäufe in seinem Säckl, so, wie er es gewohnt war. Zumeist kam er vor seinem Bruder und Shinji in ihr verrückt-liebenswertes Haus zurück. Konnte lüften, die Wäsche aufhängen, die Post durchsehen und anschließend seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Backen, nachgehen, wenn ihm der Sinn danach stand. Besonders gesellig war er nicht. Aber das war auch nicht nötig, denn Jirou kannte alles und jeden, machte ihn unermüdlich mit unzähligen Personen bekannt. Und gab mit ihm an. Dieser Gedanke zauberte stets ein Lächeln in Thomas' Mundwinkel, gut im Bart verborgen. Sein charmanter Bruder war ein Ver- und Be-zauberer. Gleichzeitig aufmerksam, feinfühlig und loyal. Er konnte beim besten Willen nicht begreifen, warum Jirou ihn, den bärtigen Hünen, für so bemerkenswert hielt und mit unverbrüchlicher Zuneigung an ihm hing. Doch Jirou tat genau das, und deshalb würde Thomas alles für sein Wohlergehen und Glück tun. Auch wenn er seine Familie wirklich mochte, seine Mutter liebte, den Großvater verehrte: Jirou nahm den kompletten Horizont seiner Gefühle ein. Er stand immer und ausnahmslos an erster Stelle. Deshalb hatte er auch nach dem Ende seiner Ausbildung Deutschland den Rücken gekehrt. Wenn er überall ein Fremder sein würde, dann doch am Liebsten bei Jirou. Der so viele Pläne hatte und ihn vermisste, ihm stets lustige Dinge am Telefon erzählte, sich so sehr anstrengte, etwas aufzubauen. Allein war das schwer, und im Gegensatz zu ihm gab es da kein "Familiengeschäft", in das Jirou einsteigen konnte. Also war es ausgemachte, wenn auch nicht ausgesprochene Sache, dass er seinem Bruder beistehen würde. Wie einer der alten Recken aus den Sagas an seiner Seite stehen, ein treuer Freund und Waffenbruder. Gut, nun waren es ZWEI Brüder, denn Shinji gehörte schließlich auch dazu, aber Thomas war sich sicher, dass sein breites Kreuz auch genug Schatten für so ein zierliches Kerlchen werfen würde. Also war das sein Geschick: dem Bruder und seinem Liebsten zur Seite stehen, im Hintergrund. Und es gefiel ihm so, denn hier hatte er den Anker, sein zu können und zu tun, was ihm beliebte. <3~~~~ Thomas marschierte im gewohnten Schritt nach Hause. Er trug eigens importierte Schuhe, denn für seine Körpermaße fand sich in Japan nichts Vorkonfektioniertes. Er war simpel zu groß, zu breit, zu schwer und anders gebaut. Was den Vorteil mit sich brachte, dass er nicht wie der arme Shinji in irgendwelchen Galoschen, die sich leicht von den Füßen schütteln ließen, herumstolperte. Überhaupt konnte er trotz aller Bemühungen nicht begreifen, warum man so wenig Wert auf GUTES Schuhwerk legte! Was nützte ein bekannter Designername auf dem Treter, wenn man damit nicht laufen konnte?! Er schritt also munter aus, mit langen Beinen und großen Füßen, in einem beschwingten Tempo. Dass man ihm Platz machte, war er gewohnt, sein Schatten war gewaltig und seine Silhouette diente als Herold. Die Passantenmenge reduzierte sich, als er sich ihrem Haus näherte. Unter den Stadtautobahnen gab es zwar Häuser dicht an dicht, doch ihre Pendler würden erst später zurückkehren. In Gedanken bereits bei der Überlegung, ob angesichts der trüben Witterung, die von Regen und Windböen kündete, eine Pastete eine nette Idee für das Abendmahl sein konnte, irritierte ihn der erste Durchlauf einer einfachen Melodie noch nicht. Doch dann, direkt in Höhe des vernachlässigten Schreins, hörte er sie erneut und ihr seltsamer Fehlklang bewog ihn, stehen zu bleiben und zu lauschen. Ja, eindeutig war es eine Flöte, und unzweifelhaft sollte sie eine simple Melodie spielen. Eine Art Hirtenweise, wenn man so wollte, einfachstes Liedgut. Jedoch, und das runzelte Linien in Thomas' Stirn, irgendwie... klang es nicht richtig. Zumindest nicht nach den Harmonien, die er als typisch Japanisch kennengelernt hatte! War es vielleicht eine falsche Note? Nein, das nicht, aber... die Harmonie passte nicht! Als ob die Flöte selbst einen Fehler aufwies! Thomas konzentrierte sich, denn er wollte nun durchaus "orten", wer da so ungewöhnlich musizierte. Und dann entscheiden, ob er wegen des Fehlklangs eine Äußerung wagte. Tatsächlich schien die einsame Melodie aus dem Schrein zu kommen. Doch der bestand aus nicht mehr als einem kaum 2m hohes Mon-Tor, einem Findling, einem verkrüppelten Katsurabaum und einer Pfeifenwinde. Darum eine Schicht aus gammligem Kies und verwehtem Zivilisationsmüll. Die rote Farbe blätterte längst vom verwitterten Holztor ab. Auf dem Findling waren die aufgemalten Zeichen nicht mehr zu erkennen, sodass man nur noch mutmaßen konnte, welchen Naturgeist hier einstmals die Shinto-Spiritualisten verehrt hatten. Der arme Baum verdankte es wohl nur noch einer Laune der Natur, dass er sich hier halten konnte, im Schatten zweier Häuser. Thomas beäugte misstrauisch die Pfeifenwinde mit ihren schönen Blättern. Sie war eindeutig NICHT hier heimisch, und man musste sich sehr wohl fragen, wie es ihr gelungen war, sich am Katsurabaum hochzuranken und zu überleben! Auf dem Kies darunter waren grünliche Spuren von verrottenden Blättern und Moos zu erkennen, dazu verwehte Werbezettel und andere Papiere. Hin und wieder erbarmte sich wohl einer der Senioren in der Nähe und pickte den Müll auf, damit der Schrein nicht vollkommen verwahrloste. Wo aber kam die Melodie her?! Hinter dem Findling befand sich, keine zwei Handbreit Distanz, die Seitenwand eines Gebäudes! "Bekloppt." Murmelte Thomas sonor in seinen Bart, doch er konnte sich nicht von der fehlklingenden Melodie losreißen. Da sich niemand in der Nähe befand, setzte er prüfend einen Fuß auf die Kiesschicht. Saß vielleicht ein Kind unter dem Baum, versteckt von den Blättern der Winde?! "Entschuldigung..." Brummelte er warnend. "... ich glaube, mit der Flöte stimmt was nicht..." In diesem Moment blitzte es gleißend hell vor seinen Augen auf und blendete ihn vollkommen. <3~~~~ "Kruzifix und Herrgottsakra!" Donnerte Thomas, der sich damit des stärksten Kraftausdrucks des Großvaters bediente. Er hielt inne, rieb sich mit der Rechten die Augen. Wie das brannte! Sogleich kam ihm der Gedanke, dass er in einen besonders blöden Schüler- oder Studentenstreich geraten war. Eine dämliche Photofalle mit viel zu grellem Blitzlicht, wo eine Horde Vollidioten sich über die Zeitgenossen lustig machten, die so vertrauensselig der schrägen Melodie auf die Spur kommen wollten. »Na WARTE!!« Dachte Thomas in grimmiger Entschlossenheit. Sobald er wieder mehr als Sternchen sehen konnte, würde er den Verursachern ordentlich den Marsch blasen! Energisch blinzelte er Tränen aus den Augenwinkeln und richtete sich zu seiner imposanten Gestalt auf, der rote Bart vor Ärger elektrisch aufgeladen. Etwas stimmte jedoch nicht. Zwar stand er auf gammligen Kies und vor ihm befand sich auch der Findling, hinter dem der Katsurabaum verkümmerte, eingeschlungen von der Pfeifenwinde, doch dahinter stellte keine Gebäudewand den Horizont dar. Vielmehr schimmerte zwischen wabernden Schwaden eine grünlich-bräunliche Kulisse von Gewächsen, Gräsern und Büschen. »Entweder Trockeneis...« Spekulierte Thomas, der vage eine Vorstellung von Nebelmaschinen hatte, wie man sie im Fernsehen und auf Bühnen einsetzte. »...oder aber...!!« Er rieb sich die Augen und schnupperte zutiefst misstrauisch. Konnte es sein, dass man mit irgendwelchem Gebräu seines Sinne beeinflusste?! "Eben langt's! Verkündete er grollend, da erschien hinter dem Katsurabaum eine schmächtige Gestalt. "Euch geht's wohl zu gut!" Donnerte Thomas im Bass los, wie ein nordischer Rachegott persönlich. "Was soll der Unsinn hier?! Erst die Leute mit diesem grässlichen Gepfeife nerven, jetzt noch Reizgas und Umweltverschmutzung! Das schlägt dem Fass den Boden aus!" Sein Gegenüber, der zunächst auf sehr spitzen und schmutzigen Zügen einen triumphierenden Ausdruck zur Schau gestellt hatte, starrte ihn ungläubig an. Um dann vorsichtig zurückzuweichen. Thomas jedoch hatte genug von dem Unsinn. Er kannte all die dämlichen Ideen, die sich Studenten so in den Kopf setzten, wenn sie nichts zu tun hatten und die Gelegenheit bekamen, ordentlich über die Stränge schlagen zu können. Oder dies zumindest glaubten. Er packte blitzschnell zu und kaperte einen dünnen Oberarm mit unnachgiebigem Griff. "Überhaupt, was soll das darstellen?! Dieser Zauselkram auf deinem Schädel sieht ja aus, als wäre ein Tier drin verendet! Die könnt ihr gleich verbrennen! Und dieser Fetzen... soll das antik oder gruselig sein?! Schmutzig ja, und stinken tut's auch, aber sonst?! Wahrscheinlich billiger Polyester, oder?!" Der Übeltäter zappelte und wehrte sich gegen Thomas' eisernen Schraubzangengriff, doch hier gab es kein Entkommen: Thomas hatte enorme Kräfte in den Händen und war nicht in duldsamer Stimmung. Also schüttelte er den mutmaßlichen Studenten ordentlich durch und grollte aus tiefster Magengrube. "Also, wo ist diese dämliche Kamera?! Und wo sind deine Spießgesellen?! Dieser Unsinn hier hat sofort ein Ende!" Er erhielt eine erregte, krächzende Antwort, doch sie blieb ihm unverständlich. Gehörte das immer noch zu dieser Inszenierung?! "Mir langt's jetzt, verstanden!!" Brüllte er mit gezieltem Krafteinsatz in Orkanstärke auf den unverständlich Zeternden in der Sprache seines Vaters ein. Das sorgte, verständlicherweise, für einen langen Augenblick atemlosen Schweigens. Thomas blinzelte irritiert. Durch vollkommen verfilzte Flechten der mutmaßlichen Perücke blickten ihn von tiefen Schatten umkränzt große, leicht gerötete Augen an. Grau-grünlich mit braunen Einsprengseln. "Da soll mich doch...!" Bevor er seiner Verblüffung in einem eher unflätigen Ausspruch Gestalt verleihen konnte, hatte sich sein Gefangener herumgewunden. Mit der freien Hand lose Krumen von Dreck aufgeschaufelt und schleuderte sie Thomas ins Gesicht. Reflexartig wich der zurück, ließ den dünnen Arm los und rieb sich den schmerzhaften Schmutz aus den Augen, fluchend und spuckend zugleich. Er verstand nicht, was die heisere Stimme sagte, doch verklebte Wimpernschläge später spürte er, wie sich etwas zielgerichtet über seine Glieder rankte, ihn einwickelte. "He! Was...?!" Fassungslos wehrte er sich gegen die einschlingende Attacke der Pfeifenwinde, deren Ranken wie Drähte fungierten und ihn unerbittlich an den Katsurabaum zwangen. Vor ihm richtete sich der seltsame Schmutzfink auf, reichte ihm nun bis zu den Schultern, wachsam, aber von Vorfreude erfüllt. »Fehlt nur noch, dass der mir eine Nase dreht!« Dachte Thomas erbost und rang energisch das surreale Empfinden von Panik herunter. »Dir werd ich helfen, Freund!« Er spannte seine gewaltigen Muskeln und Sehnen an, von jahrelanger körperlicher Arbeit geprägt. Als Antwort fransten die Ranken aus, drohten zu zerspringen unter der enormen Zuglast. Das spitze, kaum erkennbare Gesicht unter dem grässlich verwilderten Schopf wechselte von Triumph in Entsetzen. Und zerrte aus dem wilden Nest auf seinem Kopf eine offenkundig selbstgefertigte Flöte heraus. Intonierte die so merkwürdig fehlharmonierende Melodie hastig. Das hinderte Thomas nicht daran, sich mit beharrlichem Ingrimm selbst zu befreien. Er verstand auch nicht die eindringlichen Silben, die sein Gegenüber heraussprudelte. Sollte das vielleicht eine Art Beschwörung sein?! War er vielleicht einem bekloppten Religionsfuzzie in die Hände gefallen?! Mit Verve sprengte er seinen rechten Arm frei, entschlossen, nun aber das aufdringliche Grünzeug zu zerreißen, dass es nur so Blätter regnete. Danach wäre dieser schmuddelige Vogel dran, aber so was von!! Um seine Absichten zu unterstreichen, röhrte er donnernd aus der Tiefe seiner Kehle einen Wutschrei. Das Resultat seiner Einschüchterung entsprach jedoch nicht gänzlich seinen Erwartungen. Aufgeschreckt durch seine offenkundig in Bälde erfolgreichen Befreiungsversuche und die Nutzlosigkeit der Melodie verstieg sich der seltsame "Student" auf eine andere Methode, Thomas zum Innehalten zu bewegen. Ungeschickt, aber von wachsender Verzweiflung getrieben nestelte er dessen Hose und Slip herunter, bevor er wie ein Raubvogel zustieß. <3~~~~ Thomas hörte sich selbst einen erstickten Laut ächzen. Er weigerte sich zu glauben, was seine aufgerissenen Augen ihm berichteten: zu seinen Füßen kauerte dieser schräge Vogel und beschäftigte sich völlig uneingeladen mit dem, was der Volksmund (uächz!) einen Blowjob nannte. "Auf--aufhören!" Verlangte Thomas hilflos, presste eilig die Zunge gegen den Gaumen, um nicht vernehmlich aufzustöhnen. Sein Körper reagierte so verwirrt wie er selbst, Kälteschauer, Hitzeschübe und ein paranoider Anfall von Hysterie ob der Nähe primärer Fortpflanzungsorgane zu spitzen Zähnen einer mutmaßlich verrückten Person. Kalte Finger streiften über seine Oberschenkel, das muskulöse Hinterteil, rastlos, haltsuchend, während ihr Besitzer mit stürmischem Ungeschick für stehende Ovationen sorgte. Thomas wusste, dass er nicht anders konnte. Das Chaos der unterschiedlichen Empfindungen lähmte seine Gegenwehr, während sein Verstand Amok lief. Noch NIE war ihm so etwas passiert! Und noch nie hatte... genau! Das war NICHT akzeptabel! Ganz zu schweigen davon, dass er nicht darum gebeten hatte! Nicht mal vorgestellt worden war man sich! Unerhört! Und was sollte das überhaupt?! Erniedrigend auch, dass er kaum zusammenhängende Silben hervorstottern konnte, ein so erbärmlich entwürdigtes Schauspiel bot! Zappeln, zucken, ächzen, sich winden wie ein Aal: nichts half oder sorgte für Distanz. Schlimmer noch: mit einem nur halb zerbissenen Stöhnen ergoss sich sein Samen in ein zweifellos ausgerenktes Mundwerkzeug! Thomas hing in den "Seilen", auch wenn es sich um die Pfeifenwinde handelte. Ihm war schwindelig, seine Knie hatten die Konsistenz von Wackelpudding angenommen, und in seinen Zehen prickelte es, als marschiere ein Ameisenheer unter seiner Haut auf. Sein seltsamer Vergewaltiger angelte sich an seinen Hüften wieder in die Senkrechte, lachte außer Atem triumphierend auf und krächzte unverständliche Worte. Damit war jedoch die Tortur längst nicht beendet. Nein, die schmutzigen Hände griffen zielgerichtet zu, drängelten und schubsten, um sich mehr Platz zwischen Thomas' Beinen zu verschaffen. Der wehrte sich, noch immer fassungslos, doch nun schienen seine üblichen Bärenkräfte nicht auszureichen, die Pfeifenwinde zu sprengen. "Das.. das ist doch verrückt! Lass mich frei!" Forderte er und verabscheute den bangen Unterton in seiner Stimme. Er wollte nicht erneut gedemütigt werden mit einer körperlichen Reaktion, die seinem Verstand so sehr zuwiderlief! Sein Wärter jedoch summte vor sich, sichtlich gehobener Stimmung und bester Dinge, während er mit wachsendem Geschick Thomas' Genitalien bestrich und massierte. Sich dann erneut auf die Knie begab, um hingebungsvoll mit Zunge und viel Speichel seine Erektion zu behandeln. "Hör auf! Hrrf!" Ächzte Thomas, biss die Zähne zusammen, ballte in hilflosem Zorn die mächtigen Fäuste. Selbst wenn er wollte, er konnte seine Kraft nicht mehr so auf den Punkt konzentrieren. Weil ein schnell wachsender Anteil seiner verräterischen Nerven desertierte und sich bereitwillig von dieser unerhörten Erfahrung umschmeicheln ließ. Es tat beinahe weh, so erregt war sein Penis, um die Erleichterung jedoch betrogen. Thomas schämte sich. Er verwünschte seinen Mangel an Erfahrung, seinen Stolz und die verlorene Würde. IMMER hatte er Distanz gehalten. NIE hatte er sich so animalisch-kurzfristige Erregungszustände gestattet in Gesellschaft einer anderen Person. Selbstbeherrschung und Mäßigung. JETZT war er ausgeliefert, erbarmungslos entblößt und Willkür ausgesetzt. Nichts davon schien seinem Peiniger gegenwärtig zu sein. Er drehte Thomas den Rücken zu, raffte das verdreckte, abgerissene Hemd. Strengte sich an, Thomas' Erektion mit der einen Hand in seinen Unterleib zu dirigieren, wo in abschreckender Verrenkung bereits die andere Hand die Pforte weitete. "Tu... tu das nicht!" Krächzte Thomas, zischte die Silben angestrengt. "Du wirst dir weh tun!" Wie hilflos das klang, wie kleinmütig und ängstlich! Er schämte sich selbst für seine erbärmliche Schwäche, verbat sich jedoch, die Augen zuzukneifen, um das Unglück nicht sehen zu müssen. Seine Kiefer mahlten so aufeinander, dass sie hörbar knackten. Ebenso auch die Knöchel in seinen geballten Fäusten. Sein Vergewaltiger winselte unterdrückt, hielt aber unbeirrt daran fest, sich mit Thomas zu vereinigen. Es musste schmerzen, keine Frage, von der Hygiene ganz zu schweigen, doch ein Seufzer der Erleichterung durchmaß den angespannten Leib, als er sich an Thomas' kräftigen Oberkörper lehnte, nach Luft schnappte. Kontraktionen folgten, die sich loslösten vom bewussten Willen ihrer jeweiligen Besitzer. Thomas wollte nicht mitmachen, wurde jedoch gnadenlos überstimmt. Sein seltsamer Partner zielte auf rasche Erlösung ab und schnüffelte gegen die Schmerzen an, versuchte, es sich ein wenig bequemer zu machen, die Position minimal zu ändern. Die Natur folgte dem sexuellen Ruf, und anschließend sackte die halbnackte Vogelscheuche auf Thomas' Füße, der sich gleichzeitig befreit und zum Heulen elend fühlte. <3~~~~ Thomas war von Natur aus kein Mensch, der rasch seinem Temperament die Zügel schießen ließ. Ja, ein wenig erfüllte es ihn mit Stolz, dass er als beherrscht, kontrolliert, sogar als stoisch galt. Diese Eigenschaften verhinderten jedoch nicht die sehr seltenen Anfälle von infernalischem Zorn. Und dieser stieg gerade unaufhaltsam, ja, freudig erwartet in ihm auf, von den Zehen über seinen partiell entblößten Leib bis hoch in die roten Haarspitzen. Während er hier nämlich hing, eingeschnürt wie eine Roulade, mit herabgelassenen Hosen, plapperte der verrückte Kauz vor ihm munter in einer Sprache, der er nicht mächtig war. Und entblödete sich nicht mal, ihm auch noch auf der vermurksten Flöte vorzupfeifen! Ein unbändiger Ur-Zorn kochte in Thomas hoch. Er spannte die Muskeln, biss auf die Zähne, ballte die gewaltigen Fäuste, knurrte guttural vor Wut. Trotz wackliger Knie sprengte er nach und nach in unerbittlicher Verbitterung die grünen Bande. Funkelte unbarmherzig in das kaum erkennbare schmutzige Gesicht, dessen Besitzer hektisch vor ihm gestikulierte, hilflos pfiff, unverständlich plädierte und sich schließlich ihm zu Füßen warf. "...duuuuuuu!" Röhrte Thomas aufgebracht im Bass, beugte sich herunter und packte mit Widerwillen den schmutzigen, verschlissenen Stoff, zerrte den Träger auf die Zehenspitzen. Der, in verständlicher Panik, versuchte sich zu wehren, paddelte nach Thomas' Gesicht und den Händen, schlüpfte schließlich aus dem zerreißenden Kittel und kroch eilends zwischen Stein und Katsurabaum. Nicht, dass er dort ein sicheres Versteck gefunden hätte. Wäre Thomas weniger aufgebracht über seine Demütigung, die schmählichen Begleitumstände seines ersten sexuellen Kontakts in Gesellschaft gewesen, so hätte er zweifelsohne darüber gestutzt, dass sein Gegenüber nicht das Heil in der Flucht suchte. So aber zog er sich erst die Hosen sittsam hoch und anschließend mit sittlichem Widerwillen an der mutmaßlich vollkommen verwilderten Perücke, schien sie doch einfacher zu packen als der verdreckte, zusammengekrümmte Leib. Seine Annahme erwies sich in zumindest einem Punkt korrekt: sein Widersacher jaulte und wurde unerbittlich aus dem Versteck gezerrt. Hauptsächlich darin begründet, dass Thomas ihn an den Haaren herbeizog. Der begriff seinen Irrtum durchaus, doch in derart furioser Stimmung, förmlich kochend vor Wut, hielt er sich nicht mit Petitessen auf. Zahltag! <3~~~~ Bevor er den um sich schlagenden, schimpfenden, kratzenden Verrückten mit ein paar Watschn bekannt machen konnte, die für ein angemesseneres Verhalten sorgen würden, entfleuchte aus dem verwilderten, stinkenden Mopp die dort deponierte Flöte. Und prallte auf den Findling, der sauber eine Bruchstelle im verholzten Stängel fand. Schneller noch als geplante Maulschellen sorgten die beiden mit nonchalanten "Plopp" auf den schmutzigen Kies fallenden Bruchstücke für eine schockstarre Stille. Dann jedoch stieß der Schmutzfink ein derart verzweifeltes Heulen aus, dass es Thomas durch Mark und Bein ging. Ohne Rücksicht auf den Schmuddelschopf sackten ihm die Knie weg, barg er die beiden Bruchstücke mit zittrigen Händen, presste sie an einen knochigen Brustkorb und schluchzte aus der Tiefe seiner Seele auf. Thomas ließ los. Erstens war es kein Vergnügen, in dieses verwilderte Vogelnest zu greifen und zweitens... war sein unbändiger Zorn mit dem bodenlosen Kummer dieses Waldschrats einfach verpufft. Das war kein Zorn, keine Rache, kein Quengeln oder Jammern. Nein, es war der Ausdruck purer Verzweiflung. Voller Schmerz und ohne jede Hoffnung. Das war mehr, als er selbst in größtem Zorn ertragen konnte. Folgerichtig ging er in die Hocke und streckte die Hand aus. "Lass mal sehen, ja? Vielleicht kann man sie wieder zusammenfügen." Er sprach ganz normal, mit gedämpfter Stimme, registrierte gleichzeitig, dass das schluchzende Bündel Elend ihn nicht verstand. Nur die Geste begriff. "Ich nehme sie dir nicht weg." Versicherte Thomas beruhigend und wünschte sich Jirous Charme herbei. Denn ihm wurde zu seiner Verärgerung auch schon die Kehle eng und das Letzte, was er wollte, war hier aus Sympathie auch noch mitheulen! Der seltsame Kauz weinte laut, ungehemmt und so unmanierlich wie ein kleines Kind. Tränen, Rotz, es leckte förmlich überall und verklebte schmuddelige Strähnen mit einer ungesund käsigen Gesichtsfarbe, wo der Dreck weggespült wurde. "Das ist verrückt!" Entfuhr es Thomas plötzlich und er staunte selbst über sein Unterbewusstsein, das sich so bemerkbar machte. Er KONNTE schlichtweg nicht hier sein. Nichts davon war real. Oder logisch. Zumindest nach "normalen" Maßstäben. Mit einem blitzschnellen Griff entwand er dem heulenden Schmutzfink beide Flötenbruchstücke, stemmte sich hoch und knurrte donnernd. "Ich bring sie dir morgen wieder. Sieh zu, dass du dann gewaschen bist!" Natürlich verklangen seine Worte unverstanden. Doch nach einem verklebten, rotgeränderten Blick aus den ungewöhnlich gefärbten Augen klappte der komische Kauz knochige Beine vor den Leib. Schlang ebenso dürre Arme um sie und schluchzte untröstlich gegen die spitzen Kniescheiben. "Jetzt wart halt bis morgen!" Schnaubte Thomas in der Sprache seines Vaters, machte beschämt-indigniert kehrt, las seine Tasche auf... Als er den Fuß außerhalb des Kieselbereichs setzte, stand er wieder in der mittlerweile nassen, semi-dunklen Realität der größten Metropolregion der Welt. <3~~~~ "DAS ist absolut bekloppt, irrational und unmöglich." Murmelte Thomas in seinen Bart, während er solitär in seiner geliebten Küche mit Fetzen Bastelleim getränkten Papiers an der Bruchstelle der fehlharmonischen Flöte hantierte. »Von demütigend peinlich und beschämend ganz zu schweigen!« Ergänzte seine innere Stimme gallig. Tropfnass, verwirrt und reichlich spät war er im heimatlichen Hafen eingelaufen. Eine normale Reaktion wäre gewesen, nach einer heißen Dusche auf die Rückkehr seines Bruders zu warten und dessen Meinung zu seinem Problem zu eruieren. Was Thomas jedoch GETAN hatte, war nach einer hastigen Dusche in aller Eile den Picknickkorb zu packen. Laternen, Decken und Kissen ins Gewächshaus auf dem Dach zu verteilen und unbarmherzig seinem Bruder und Shinji ein Rendezvous bei Kerzenlicht aufzunötigen. So konnte er unbeobachtet in der Küche werkeln und ENDLICH seinen Verstand wieder gebrauchen! Das Resultat war jedoch nicht sonderlich befriedigend. Oh, die Pappmaschee-Bauchbinde der Flöte konnte durchaus funktionieren, wenn sie getrocknet war (Isolierband war NICHT für alles eine Lösung!)! Aber das Zeugnis, das ihm sein Verstand ausstellte, entbehrte jeglicher Schmeichelhaftigkeit. Erstens war es vollkommen unlogisch, dass er an demselben Ort ganz andere Dimensionen wahrnahm. Zweitens entsprach sein "Erlebnis" in Ablauf und Dramaturgie einem ganz grottigen Porno, bloß mit der Vegetarier-Variante anstelle der üblichen Tentakel. Was postwendend zu drittens führte, nämlich der Unmöglichkeit, sich Jirou anzuvertrauen. Wirkte das Ganze denn nicht so, als gingen ihm ob der Liebesgeschichte seines Bruders die eigenen Hormone durch?! Und dann auch noch in so PROFANER, ja LANGWEILIGER Weise?! "Das ist bekloppt!" Manifestierte Thomas entschieden und deponierte die Flöte zum Trocknen auf Zeitungspapier. Doch wider alle Logik und möglicherweise Dröhnung durch Drogen, Rauschmittel, gefährliche Gase oder weiß der Geier was noch HATTE er dieses Erlebnis als real empfunden. Die Flöte war ein Beweis. Dann natürlich auch noch... nun, eine gewisse prickelnde Sensation subäquatorial des Gürtels. Was also konnte er tun? Nun, alles negieren, sich einreden, er habe geträumt und die ganze Episode vergessen. Oder, als Arbeitshypothese für den Moment, annehmen, er sei tatsächlich beim alten Schrein in eine andere Dimension geraten. Angelockt von einem Irren mit einer grässlichen Flötenmelodie, der unbedingt Sex mit ihm wollte. Oder zumindest sein Sperma. »Igitt!« Kommentierte seine innere Stimme angefressen. Appetitlich war schon der Kauz nicht gewesen, aber das andere "Vergnügen", nachdem er sich Thomas' "besonderer Aufmerksamkeit" versichert hatte... würg! "Stimmt." Pflichtete sich Thomas entschieden bei. Hygienisch war das nicht! Und da er ohnehin zugesagt hatte, die blöde Flöte ihrem heulbojigen Besitzer zurückzuerstatten, konnte er auch gleich für Zucht und Ordnung sorgen! Hormonell gesteuerte Billigphantasien aus der rosa Porno-Ecke?! PAH!! <3~~~~ Natürlich kam er sich ein wenig deppert vor, wie er da mit einer großen, prall gefüllten Plastiktüte vor dem heruntergekommenen Schrein stand und zögerte, den Fuß auf die schmuddeligen Kiesel zu setzen. Es dunkelte bereits, nur die umgebenden Scheinwerfer an den Gebäuden wiesen ihm den Weg. Wobei für einen "Weg" gar kein Platz war! Und, so sehr er auch starrte: hinter dem Baum kam bloß eine Gebäudewand! Ende, aus! "Kruzifix!" Schnaubte Thomas und sofort auch in die lädierte Flöte. Dieses Mal blendete ihn kein greller Blitz und sorgte für Desorientierung, es war mehr ein Blinzeln... und rings um den Schrein waberte eine unerfreuliche Dunkelheit. Hinter dem Stein kroch, schmutzig und verfilzt, der seltsame Kauz hervor. Zögerlich und bloß richtete er sich auf, den Arm kratzend und kaute eine schmuddelige Strähne. "Da!" Eröffnete Thomas eloquent ihre erneute Begegnung und streckte dem Schmutzfink die verarztete Flöte entgegen. Misstrauisch wurde sie von einem ausgestreckten Arm abgefischt. Die zerkaute Strähne ausspuckend hauchte der Kauz prüfend hinein. Die Flöte klang, noch immer, so fehltönend wie zuvor. Der "Schutzverband" erwies sich als zumindest vorerst hilfreich. Durch die dreckigen Zauseln glaubte Thomas, ein Lächeln blitzen zu sehen, obwohl das schwer zu sagen war. Dann tänzelte der sehnige Schmuddel munter auf ihn zu, die Rechte nach Thomas' Schritt langend. Der schaltete jedoch seine gewaltige Pranke vor und hielt die freche Hand fest. "So nicht, Kamerad!" Dröhnte er befehlend. "Erstmal wird sich gewaschen! Wie du ausschaust, das geht doch nicht!" Sein Gegenüber verstand selbstredend kein Wort, antwortete jedoch ebenso energisch und wies mit einem markanten, eingekerbten Kinn entschieden auf Thomas' Schoß. "Nix da!" Thomas stellte die Tüte neben sich, packte auch das zweite Handgelenk, das der Rechten zur Hilfe kommen wollte. Lupfte beide so hoch, dass der Dreckspatz auf den Zehenspitzen balancieren musste. Er nutzte die partielle Hilflosigkeit, beide Handgelenke in der Linken zu fangen, während er mit dem vorausschauend in der Hosentasche deponierten Kabelbinder Daumen aneinander band. Der Kauz machte sich los, zerrte und zuppelte, schnatterte dabei grollend, doch Thomas kannte sein Werkzeug: so einfach ließ sich ein stabiler Kabelbinder nicht entfernen, da konnte man auch mit den Zähnen ziehen und zerren! Seelenruhig packte er seine zahlreichen Mitbringsel aus, schüttelte die erste Mülltüte auf und schnappte dann den Kauz im Nacken. Nun, nicht sofort, denn unter der dreckigen Mähne hieß es erst mal tasten und suchen. Mit ehernem Griff dirigierte er den verhinderten Flötisten zum Findling, dort Platz zu nehmen, während er mit der Rechten eine veritable Gartenschere ratschen ließ. Das brachte sowohl Protestgeschrei als auch Gegenwehr zum Stillstand. "Verzeihung, eine Machete hatten sie nicht im Angebot." Brummte er sarkastisch, um dann mit Verve Knäuel und Filz abzusäbeln, manchmal fingerdick verklettet. Es dauerte eine ganze Weile, dem verwahrlosten Schopf den Garaus zu machen. Derart konzentriert auf seine Arbeit, dass er seine Umgebung vergaß, registrierte Thomas erst mit der Verspätung, dass unter einer nun auf Millimeter gestutzten Naturkrause ein markant geformter Schädel hauste. Der große Ähnlichkeiten hatte... mit einer römischen Büste! Nicht nur das willensstarke, maskulin gekerbte Kinn, nein, auch die gerade, klassische Nase, ausdrucksstarke Augenbrauen, ein ovales Gesicht und eine adrett hohe Stirn... Thomas blinzelte. Warum hatte er bloß erwartet, in einem japanischen Schrein einen japanischen Waldschrat vorzufinden?! Nun, dieser hier vor ihm, noch von Dreckschichten eingehüllt, hatte zwar Schlupflider und eine eher feine Haut (wo man sie denn erkennen konnte) ohne Ansätze eines Bartes... Doch der gesamte Eindruck, ganz zu schweigen die imponierende Augenfarbe, war eindeutig.... westlich. "Donnerkeil!" Murmelte er überrascht. Doch Thomas wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich von dieser Überraschung hätte übermannen lassen! Ohne die Zappelei des nun sehr sauber geschorenen, jungen Mannes zu beachten, angelte er eine Familienpackung Einmalwaschlappen und Trockenshampoo in Reichweite. Bewaffnet mit diesen wichtigen Meilensteinen der Zivilisation und Hygiene machte er sich erbarmungslos über den Schmuddel her. Gegenwehr war zu erwarten. Thomas hantierte jedoch geübt und mit der ganzen Souveränität einer Glucke: bevor nicht das letzte Fitzelchen sauber geschrubbt war und der ehemalige Kauz dezent nach Zitronenreiniger duftete, legte er keine Pause ein. Anschließend wickelte er ihn in eine sommerliche Yukata, denn hier mit blankem Po herumzuspringen, das gehörte sich nicht! "So!" Thomas stemmte zufrieden die mächtigen Hände in die Hüften, zwei Müllbeutel voll mit Haaren, unerbittlich getrimmten Nägeln und Schmutztüchern. Aber nun wirkte sein "Klient" richtig manierlich und vorzeigbar. Damit war Teil 1 seiner Mission erledigt. Er drückte seinem unerwartet in sich gekehrten Gegenüber eine vorausschauend geöffnete Flasche Wasser in die Hand und öffnete einen Eiweißriegel. Die Dinger waren grauenvoll, und er hatte inständig gehofft, niemand, der ihn kannte, würde ihn beim käuflichen Erwerb derartiger Geschmacklosigkeiten beobachten, doch was sein musste, musste getan werden! Wenn der seltsame Bursche so scharf auf Eiweiß war, konnte er sich die Zähne hieran abnagen! Das Wasser wurde nach Schnüffeln freudig verkostet, der Eiweißriegel jedoch mit einem Stirnrunzeln verschmäht. Stattdessen wanderten begehrliche Blicke auf Thomas' Schritt. "Das ist lächerlich." Belehrte er entschieden in ein erwartungsvoll blickendes Gesicht, packte sicherheitshalber die noch immer angeleinten Daumen. "Du musst was Anständiges essen! Ich bin kein Futter, verstanden?! Menschen essen Menschennahrung..." Thomas seufzte und brach ab. Er konnte sich selbst nicht mehr zuhören. Hatte im intensiven Bann der graugrünen Augen, die mit lodernder Lust und offenkundigem Appetit seine Genitalien in den Fokus nahmen, auch keine schlüssige Argumentation, warum er sich verweigern sollte... Rasch schüttelte er den Kopf und erwehrte sich solcher Gedanken! Was sollte das denn?! Zucht und Ordnung, Ruhe und Anstand!! Nur weil dieser Hungerhaken ihn mit Hundeblick anglotzte, würde er doch nicht die Flinte ins Korn werfen! Und sich etwa... vernaschen lassen! In diesem Augenblick ertönte ein kollerndes Knurren. Und es rührte unzweifelhaft aus der eingesunkenen Magengegend des momentan adretten Ex-Schmutzfinks. "Herrschaftszeiten!" Schnaubte Thomas empört. Weil es ihm nun reichte, er aufgeräumt hatte und quasi im Begriff war, wieder in die Realität und die Vernunft zurückzukehren, säbelte er auch die Daumen frei, das gebot schließlich die Höflichkeit! Seine "Eliza" jedoch besaß nicht die Zurückhaltung, ihren "Dr. Doolittle" mit Aufmerksamkeiten zu verschonen. Mit einer heimtückischen Attacke von hinten, die jedem Rugbyspieler Respekt abgenötigt hätte, brachte der Ex-Kauz Thomas zu Fall und nutzte die sich bietende Gelegenheit schamlos aus. Thomas, in Gefahr, die Kronjuwelen perforiert zu finden, schickte sich drein. Er verstand nicht recht, warum dieser seltsame Bursche ihm zufrieden zulächelte und Anstalten unternahm, sich für die nächste Runde rittlings auf seinem Schoß niederzulassen, doch Thomas zeichnete sich durch eine pragmatische Voraussicht aus. Nicht nur Pfadfinder waren allzeit bereit und für alles gerüstet! Er machte, mit hochroten Wangen, von einer Tube Gleitgel Gebrauch, denn wenn er schon einen Wilden "füttern" musste, dann gefälligst angenehm für alle beteiligten Parteien! Zu seiner Verblüffung hörte er seinen aufgezwungenen Liebhaber zum ersten Mal fröhlich lachen. »Ja, mei!« Gab Thomas nach und entschied, ganz entgegen der Losung, die er sich selbst aufnotiert und in die Hosentasche gesteckt hatte, dies alles für einen vogelwilden Traum zu halten. <3~~~~ "DAS IST KEIN TRAUM!" Letterte der zerknitterte Zettel entschieden. Und da Thomas ihn fehlerfrei lesen konnte, wusste er auch um die Wahrhaftigkeit dieser Feststellung. Denn wenn man träumte, konnte man keine Buchstaben oder Schriftzeichen entziffern. Die dafür vorgesehene Hirnregion pennte nämlich auch! Folglich befand er sich in der Realität. Die bestand darin, dass er -SCHON WIEDER- von einem ihm unbekannten Verrückten vernascht worden war. Deprimierend. Und unmanierlich. Schließlich waren sie einander nicht mal vorgestellt worden! Thomas, sittsam bekleidet, saß neben seinen zwei Müllsäcken auf dem Kies und studierte den Kauz auf dem Findling, der fröhlich und noch immer unbeirrbar auf der Flöte Misstöne produzierte. Dann sah er sich um, doch jenseits der Kiesel schien nichts Wahrnehmbares zu existieren. Wo GENAU war er hier? Kurzentschlossen fischte er sein Mobiltelefon heraus und studierte die Applikationen. Irgendwo sollte es auch eine Anwendung geben, die den Aufenthaltsort per Satellitenortung bestimmte. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd. Nach unerschütterlicher Überzeugung seines Mobiltelefons befand er sich exakt dort, wo sich der vernachlässigte Schrein zwischen zwei Gebäude quetschte! Thomas schnüffelte dezent. Nun, wenn es ein Bewusstsein beeinflussendes Gas war, dann roch es nicht. »Reizend!« Knurrte er innerlich. »Die japanische Version der Twilight Zone, bloß mit einem Gastarbeiter im alten Schrein!« Das war nicht sonderlich komisch. Zum ersten Mal verwünschte er seine Abneigung gegen Horrorfilme japanischer Prägung. Denn die hätten ihm ja nun möglicherweise dienlich sein können, oder?! Pragmatisch räusperte er sich, um das unsägliche Getröte auf der lädierten Pfeife zu unterbrechen. "Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden." Eröffnete er höflich einen weiteren Anlauf der Konversation, deutete dann, wie er es gelernt hatte, auf seine Nasenspitze und ergänzte. "Thomas. Mein Name ist Thomas." Die graugrünen Augen mit den braunen Einsprengseln studierten ihn aufmerksam aber ratlos. "Thomas." Wiederholte er geduldig, legte sich die Hand auf den Brustkorb. "Thomas." Dann, obwohl es ihm leicht widerstrebte, da er durchaus manierlich erzogen worden war, richtete er einen Finger auf den verhinderten Flötisten. "Dein Name?" Zweimal absolvierte er den Durchlauf, erst seinen Namen zu nennen, dann erwartungsvoll auf den sehnigen Burschen zu deuten. Bis offenkundig war, dass sich ein Problem abzeichnete, das nichts mit der Verständigung zu tun hatte: sein Gegenüber verfügte nicht über einen Namen! "Na klar!" Grummelte Thomas selbstkritisch. Gesetzt den Fall, außerhalb des gekiesten Areals existiere nichts, so hauste sein Gastgeber allein mit einem Findling und einem Baum hier. Die wohl beide nicht gerade die Notwendigkeit mit sich brachten, sich zwecks eindeutiger Ansprache einen Namen zu geben. "Tao." Entschied er. "Dann heißt du eben Tao!" Es bedurfte einiger Gesten, bis "Tao" verstand, dass er ab sofort auf "Tao" hörte. Seinem Lächeln nach zu urteilen schien ihn diese unkonventionelle Taufe zu erfreuen. Thomas rappelte sich auf und sammelte seine Habseligkeiten ein. Er war sich nicht sicher, ob an diesem Nirgendwo die Zeit ähnlich verging wie im Irgendwo der Realität, aber er wollte nichts riskieren. Seine Aufbruchsbereitschaft versetzte Tao in Unruhe, der die Flöte in den Gürtel der Yukata steckte und Thomas umklammerte, stürmisch auf ihn einredete. "Auszeit!" Verlangte Thomas angesichts des Überfalls. "Ich versteh kein Wort! Und außerdem hab ich meinen Part erfüllt, oder? Die Flöte ist wieder da und in einem Stück." Zumindest solange der Bastelkleber und das getrocknete Papier Bestand hatten. Nun war es an Tao, eine Scharade aufzuführen, unheimlich untermalt von den Ranken der Pfeifenwinde. Die Quintessenz, sofern Thomas sie richtig auffasste, was ihm selbst mirakulös angesichts der Umstände vorkam, resultierte darin, dass Tao mit dem Flötenspiel willige Opfer herbeilockte, um von ihrem "Lebenssaft" zu zehren. "Wohlsein!" Knurrte Thomas leicht angewidert ob dieser Zwangslage. "Wie viele 'Lebensspender' sind denn schon aufgekreuzt?" Er hegte nämlich den Verdacht, dass das misstönende Gepfeife nicht gerade Scharen begattungsfreudiger Interessenten anlockte. Seine Gesten, die abgezählten Finger, das Deuten auf die eigene Nasenspitze und Taos verlegenes Herumnagen an der eigenen Unterlippe sprachen Bände. Das musikalische Vermögen sorgte für eine extreme Diät, die auch das abschreckend dürre Erscheinungsbild erklärte. "Na herrlich!" Grummelte Thomas in seinen roten Bart hinein. Er war die Nummer 1 und auch noch der einzige Spender?! Das verhagelte es ihm entschieden, sich auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden. "Die Flöte." Er streckte eine große Hand aus, fordernd. "Wenn wir eine anständige besorgen, könnten vielleicht andere Leute vorbeikommen!" Zögerlich überreichte Tao ihm das lädierte Stück verholztes Rohr. Thomas studierte sie erneut eingehend, ärgerte sich über die Semi-Dunkelheit an diesem Nirgendwo. War es nun aus einem Gras oder doch einem dünnen Ast gefertigt? Er konnte es nicht bestimmen. "Pass Acht!" Wandte er sich seufzend an Tao, der ihn eindringlich beäugt hatte. "Ich schau, dass ich eine richtige Flöte besorge, ja? Dann komm ich wieder, und die Sache ist erledigt!" Prompt hängte sich ihm Tao wie ein Mühlstein um den Hals, flehte in der ihm unbekannten Sprache, wollte ihn nicht ziehen lassen! Thomas sah sich um, doch er konnte nichts erkennen, mit dem man den Verlauf der Zeit bestimmen konnte. Schnaubend schüttelte er Tao ab und löste die Armbanduhr von seinem Handgelenk. Sie war nichts Besonderes, sah man davon ab, dass sie kein digitales, sondern ein analoges Zifferblatt hatte. "Guck!" Energisch band er sie um ein zerbrechlich wirkendes Handgelenk und tippte auf die Zeiger. "Wenn der da zweimal rund ist, dann komm ich wieder, ja? Ja?!" Widerwillig und bange schickte sich Tao endlich drein, ein kleines Häufchen Elend, das neben dem Findling kauerte, wie zuvor die Beine eng vor den Leib gepackt, mit Baby-Seehundblick. Demonstrativ steckte Thomas die lädierte Flöte ein. "Jetzt schau halt nicht so bedröppelt drein!" Wies er Tao an und kraulte spontan den sehr kurzen Krausschopf. Dann machte er entschieden kehrt, begleitet von zwei großen Müllsäcken... und fand sich in der Gegenwart, von Regenschauern empfangen, wieder. <3~~~~ Kapitel 2 - Verdammte Mondhasen! "Da ist was im Busch." Bemerkte Jirou amüsiert und schmuste vergnügt mit Shinji, der ihn flüsternd darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Thomas erst NACH ihm zurückgekehrt war! Und nun, während er Pflanzerl für Vegetarier zubereitete, mit grimmigem Blick in der Sprache des Großvaters in seinen roten Bart murmelte. Jirou hielt diese Reaktion für äußerst bemerkenswert aber nicht besorgniserregend. Irgendetwas beschäftigte seinen stoischen Bruder ganz gewaltig. Das war gut, denn ab und an eine Herausforderung konnte nicht schaden, um ihn aus der Reserve zu locken. Es war nämlich schon eine ganze Weile her, dass Thomas sein eigenes "Süppchen" kochte und vor einem offenkundig komplexen Problem stand! <3~~~~ Es war mal wieder einer DIESER Tage. Wo sich Thomas wie Gulliver im Land der Lilliputaner vorkam, von allen beglotzt wurde und man ungeniert über ihn tuschelte, so, als bestünde nicht die geringste Chance, dass er jedes Wort verstand. Eingedenk seiner Zusicherung, für Tao eine richtige Flöte zu besorgen, damit der sich gefälligst wie alle Sirenen klassischer Literatur seine Opfer ordnungsgemäß und melodisch angeln konnte, hatte er seine Mittagspause genutzt, um ein Musikaliengeschäft in Bahnhofsnähe aufzusuchen. Üblicherweise fanden sich hier Liebhaber von Partituren, angehende Stars mit ihren Gitarrenkoffern und Mütter, die für ihre Kinder das passende Werkzeug zur Verlärmung der Nachbarschaft suchten. Thomas stach natürlich hervor wie eine Tomate unter Erbsen. Hatte er sich etwa verirrt? Diese Ausländer konnten ja keine Schriftzeichen lesen, richtig? Und wie groß er war! Dieser komische Bart! Wie sollte man ihn rauskomplimentieren, wenn er kein Wort Japanisch verstand?! Üblicherweise ertrug Thomas diese Behandlung mit stoischem Gleichmut. Er kannte diese Leute alle nicht und würde sie vielleicht nie wieder sehen, also bedeutete ihm ihre Meinung recht wenig. Heute jedoch, durch das miese Wetter schon übel gelaunt und mit der Erkenntnis konfrontiert, dass er keine Ahnung hatte, wie man die passende Flöte herausfand, veranlasste ihn jeder dämliche Kommentar zu seiner Person zu einem finsteren Niederstarren. In fließendem Japanisch verlangte er dann eine Flöte für Anfänger zu sehen, kein Plastik bitte schön, aber robust und pflegeleicht. Die peinliche Stille, die von geflissentlichem Herumhuschen und sich eilig Wegverfügen gefolgt wurde, war nur ein schaler Sieg. Wenigstens aber hatte er eine einfache Flöte erstanden, die hoffentlich (er selbst war ja keineswegs ein Virtuose!) ihren Zweck erfüllte! Einige Stunden später, in ein gewaltiges Regencape gehüllt, das einem Zelt ähnelte, stand er nun tropfend vor dem vernachlässigten Schrein, trat dann auf den Kies. Ein Blinzeln später empfing ihn Tao mit erfreutem Geplapper, präsentierte stolz die Uhr, bevor er sich sofort an Thomas' Hosenschlitz jenseits der durchscheinenden Kunststoffhülle zu schaffen machen wollte. "Moment mal!" Donnerte Thomas, sorgte für ein überraschtes Innehalten. Systematisch lud er sich die Tüte ab, stellte sein Säckl daneben, streifte sich das Regencape über den Kopf und atmete tief durch. Es roch hier wenigstens nicht so gammlig-feucht! Er fischte aus der Tüte eine neue Flasche Wasser, die hocherfreut begrüßt wurde, dann Einmaltücher, um Tao energisch abzuledern. Der, gierig Wasser schluckend, ließ diese mütterliche Geste über sich ergehen und gluckste sogar vergnügt. Besänftigt durch diesen Empfang präsentierte Thomas als nächstes die frisch gekaufte Flöte. Tao nahm sie zögerlich an, studierte sie eingehend, bevor er scheu hineinblies. Zaghaft intonierte er die Melodie, mit der seine Opfer angelockt werden sollten. Sie klang noch immer falsch. "...das gibt's doch gar nicht!" Protestierte Thomas grollend im Bass, nach einem nicht sonderlich erfreulichen Tag durchaus frustriert. Wie konnte es sein, dass trotz der richtigen Tonfolge UND einer neuen Flöte die Melodie IMMER NOCH so schräg schrammelte?! Tao streckte ihm entschieden die Flöte hin. Offenkundig nahm er die Kritik persönlich und wollte diese Einschätzung seiner Fähigkeiten mit einer Herausforderung kontern. Thomas knurrte, nahm seinen Kauf entgegen und beäugte das Instrument misstrauisch. Zögerlich legte er die Finger auf die für seine Begriffe viel zu eng gelagerten Löcher und entließ einen stetigen, vorsichtigen Luftstrom in das Mundstück. Nach mehreren Anläufen, seine Finger zu sortieren, kämpfte er unerbittlich gegen die Melodie an. Nun, schön klang es nicht, da er mit dem Rhythmus Schwierigkeiten hatte, aber trotzdem stimmte jeder einzelne Ton. Stirnrunzelnd streckte er Tao erneut die Flöte hin, damit der sich noch mal bewies. Flott, aber immer noch im gleichen Fehlklang. "Da soll mich doch...!" Thomas raufte sich den roten Bart und zog gewittrig die Augen zusammen. Wie konnte es sein, dass sie mit demselben Instrument dieselbe Melodie spielten, sie sich bei Tao aber vollkommen merkwürdig anhörte?! Was für eine Sauerei war das denn?! Tao hatte inzwischen das Interesse an diesem ominösen Mysterium verloren. Schließlich war Thomas in Reichweite und leidlich abgelenkt durch die Flöten, die er nun zum Vergleich beide studierte, die Miene grimmig. Verständlicherweise kam er sich gelackmeiert vor! Eine exzellente Gelegenheit, sich der Ouvertüre zu widmen! Tao schmiegte sich heran, zog blitzschnell den Reißverschluss herunter und schnappte energisch zu! Ihm wurde zwar nach einem Protestlaut Widerstand geleistet, doch was konnte ein Mann schon ausrichten, wenn sein bestes Stück nur durch ein wenig Stoff von sehr scharfen Zähnen getrennt war? Innerlich glucksend vor Vergnügen zerrte Tao die Hose herunter und nutzte den kurzen Moment der Erleichterung, als er seine Kiefer ein wenig öffnete, um auch die Unterwäsche folgen zu lassen. Gegenwehr fürchtete er nun nicht mehr, denn Thomas' Libido reagierte höchst artig und stand prachtvoll zur Verfügung! In der Tat lehnte sich Thomas, angezählt durch die Blitzattacke, rücklings gegen den Findling, ließ die verdammten Flöten Lärmgeräte sein und kraulte mit halb gesenkten Lidern über die kurzgetrimmten Löckchen. Verflixt, das war zu gut! Unanständig gut! Andererseits konnte er wohl kaum mit Tao diskutieren, wenn der ausgehungert war, richtig? <3~~~~ Es war zwar nicht sonderlich bequem auf dem blöden Kies, wie Thomas grollte, aber zeitweise interessierte er sich nicht für spitze Steine in seinem Fleisch. Weil Tao sich mit herabgesunkener Yukata nackt auf seinem Schoß gewunden hatte, sinnlich und absorbiert von ihrer intimen, stampfenden und stoßenden Verbindung. Und Thomas hätte wohl kaum gewagt anzudeuten, er habe diese "Fütterung" nicht selbst in vollen Zügen genossen. Ja, man musste ehrlich bleiben und sich eingestehen: das hatte was. Sogar eine Menge. Wenn sich Sex immer so unkompliziert und leidenschaftlich-lustvoll präsentierte, hatte er wohl seine Zeit mit Abstinenz vertan. Andererseits, und hier mischten sich Pragmatismus, Realitätssinn und Zynismus im Chor ein: die "wirkliche Welt" sah ganz anders aus. Da waren Beziehungen, Machtbalancen, Verbindungen, Kommunikation, Umstände, ja, sogar Vermögensverhältnisse und Dispositionen zu beachten. Nicht mal, wenn er sich einen Partner kaufen würde, konnte er damit rechnen, derart willig und freudig empfangen zu werden. »Nicht, dass ich davon jemals Gebrauch gemacht hätte!« Stellte er in Gedanken sicher. Sein Stolz verbat es sich kategorisch, irgendwen durch "monetäre Vermögensverlagerung" in Sinne eines Dienstleistungsvertrags dazu zu verpflichten, ihm intim nahe zu treten. Tao maunzte gerade erfrischt und bester Laune, zupfte an seinem T-Shirt, um ihn ebenfalls gänzlich zu entblößen. Thomas gab nach und streifte sich das Kleidungsstück über den Schädel, präsentierte zu heller, gesprenkelter Haut eine beachtliche Bepelzung seines Oberkörpers. Das rote Brustfell wurde amüsiert durchpflügt und mit aufgefächerten Fingern beider Hände liebkost. Thomas keuchte leicht, ließ Tao aber gewähren. Er musste JETZT endlich wieder seinen Verstand gebrauchen, möglichst ohne eine Blutunterversorgung im Oberstübchen! Also: Taos Unfähigkeit, eine anständige Melodie zu produzieren, war eine Tatsache. Ebenso war, wie ihm sein Mobiltelefon bewiesen hatte, er am gleichen Ort, den er normalerweise achtlos passierte. Zur passenden Uhrzeit, wie ihm die Armbanduhr, die stolz wieder an Taos Handgelenk baumelte, bewies. »Trotzdem...« Fasste Thomas zusammen und schlang nachsichtig einen Arm um den kuschelnden Tao, dem es offenkundig sehr auf seinem Schoß gefiel. »...sitze ich jetzt NICHT im Schrein bei strömendem Regen und Abendbeleuchtung nackt herum und sorge für öffentlichen Aufruhr.« Das WAR verrückt. Thomas drehte den Kopf und studierte die geleerte Wasserflasche. Mühelos konnte er die Banderole lesen. Ergo: das war KEIN Traum. "Wahrscheinlich bin ich, ganz ohne es zu merken, in einen Kaninchenbau gefallen." Spielte er zynisch auf Alice im Wunderland an. Aber wie es sich auch verhielt, ob nun Kaninchenbau oder andere Dimension: er war real. Und Tao war real. Und der Findling in seinem Rücken. Und Taos Lippen auf seinen, die unbedingt herausfinden wollten, wie er schmeckte. <3~~~~ Dieses Mal war ihr Abschied nicht so aufgeregt und stürmisch, denn Tao, die Uhr präsentierend, erwartete ganz selbstverständlich, dass Thomas ihm am nächsten Abend um die gleiche Zeit erneut seine Aufwartung machen würde. Wie Thomas annahm, der noch immer außer Gestik keine Möglichkeit gefunden hatte, sich verständlich mit Tao zu unterhalten. Und er selbst? Langsam, ohne dem rauschenden Oktoberregen bei zunehmendem Mond Beachtung zu schenken, stapfte Thomas seiner Heimstatt entgegen, ganz in Gedanken versunken. SO konnte es ja wohl nicht weitergehen! Jeden Abend hier herumsumpfen und als williger Samenspender-Sexsklave dienen... ausgeschlossen! Nun, existentielle Notlagen ausgenommen, versteht sich ja von selbst. Wenn man zum Beispiel annahm, dass Tao tatsächlich von seinem Sperma lebte, konnte man sich ja nicht einfach verdünnisieren! Immerhin war man ja doch ein wenig mitleidig, nicht wahr? Der Verstand mischte sich jedoch energisch ein. Lange genug war er an die Seite gedrängt worden, weil sich im Mittelgeschoss irgend so ein unnützes Organ vorgedrängt hatte, was bloß als Ventil diente! Kurz und knapp: der Sache musste auf den Grund gegangen werden! Ob nun Conan oder Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Agaton Sax, blitzgescheit und unerschrocken galt es, die lästigen Hormone abzuwimmeln und sich kühl und konzentriert den Fakten zu widmen! Weshalb Thomas seinem Bruder und Shinji nur einen geistesabwesenden Gruß zurief, um sich, beladen mit einem Teller Keksen und einer Jumbotasse heißer Schokolade, in sein Zimmer zurückzuziehen, wo er eingehend Quellenforschung betrieb. <3~~~~ "Das ist so deppert..." Thomas klappte, schon reichlich spät bzw. früh, das letzte, dünne Bändchen zu und stapelte es ungeachtet seiner gewöhnlichen Ordnungsliebe neben seiner Schlafstätte. Die Augen brannten ihm vor Müdigkeit, aber sein Geist wollte noch nicht aufstecken. Nun, jetzt hatte er ja wohl genug Material, um im Schlaf wild herumzuspekulieren und Optionen durchzuträumen! Thomas löschte das Licht neben sich und senkte die Lider, schnaufte entschieden durch. Von allen Varianten, die er anhand seines "Studiums" entwickelt hatte, erschien ihm diese als plausibelste: Tao musste wohl der Geist der nicht heimischen Pfeifenwinde sein. Und die dämliche Flöte entstammte dem Geist des Katsurabaums, der Tao Unterschlupf gewährte. Sie sollte, wie auch bei westlichen Mythen und Legenden, Anhänger anlocken, die den Geist verehrten und ihm Opfergaben spendeten. Wobei diese unzweifelhaft in diesem Fall sehr... anrüchiger Natur waren. Da wollte man gar nicht erst wissen, was Psychologen zu dieser "Fütterung" diagnostizierten! "Allerdings..." Raunte Thomas sich in der Stille seines eigenen Zimmers selbst zu. "...geht es ja wohl nicht an, dass du ständig diesen verrückten Geist aufsuchst!" Aus Mitgefühl aushelfen, ja, aber eine Dauereinrichtung, nein, auf keinen Fall! Er hatte ein ordentliches Leben, eine geregelte Beschäftigung und ganz sicher keine Muße, sich allabendlich herumzutreiben! Nicht auszudenken, wie er Jirou erklären sollte, was er da jeden Abend veranstaltete! Darüber musste mit Tao gesprochen werden! Entweder lernte der, andere Interessenten anzulocken, oder aber er stellte seine Ernährungsgewohnheiten um! Zufrieden mit diesem Plan drehte Thomas sich auf die Seite und schlief ein. <3~~~~ "Das ist nicht FAIR!" Beklagte sich Thomas bei den Umständen. Im Allgemeinen und im Besonderen. Wie sollte er Tao Grenzen setzen, sich aus dieser Freudschen Mystik-Phantasie-Quasi-Traumdimension verabschieden, wenn sich alles gegen ihn verschwor! Ganz zu schweigen von bestimmten Teilen seiner selbst! Tao nahm diesen vergrätzten Kommentar zur Gesamtsituation nicht weiter ernst, sondern schmuste vertraut mit dem sehr einladenden Brustfell. Er war SEHR zufrieden! Maulfütterung, dann Subäquatorial-Dinner und danach noch süßes Dessert in Form endloser Küsse, was wollte man mehr? Und nicht nur das: er bekam köstliches Wasser, wurde mit diesen angenehm duftenden Tüchern abgerieben und lagerte nun auf einer wundersam gut gepolsterten Matte! Thomas grunzte hilflos und bemerkte mit bedauerlicher Akkuratesse, dass er sich -WIEDER MAL- ganz entgegen seiner festgeschriebenen Strategie verhielt! Gut, er HATTE wie immer Wasser mitgebracht, Einmaltücher und, ja, da war er eben bequem, auch eine gepolsterte Gymnastikmatte und aufblasbare Kissen! Aber das diente ja nur als Überbrückung, quasi! Damit es sich ein wenig leichter gestaltete, ein ernstes Wort... na ja, ernsthafte Gesten mit Tao auszutauschen! Unerklärlicherweise war er dazu nicht gekommen. Was vermutlich daran lag, dass Tao ihn freudestrahlend und fröhlich begrüßt hatte, ihm sogleich um den Hals fiel. Ihn ausgesprochen wirksam in die weichen Knie knutschte und diese momentane Schwäche ausnutzte, sich selbst zur "Beköstigung" zu verhelfen. »SEHR souveräner Auftritt!« Ätzte er sich selbst an, aber so völlig konnte er sich nicht verdammen. Wer wäre nicht geschmeichelt, mit solchem Elan empfangen zu werden? Und dann... tja, dann musste er sich ins Album schreiben lassen, dass ihm die leidenschaftliche Lust, mit Tao intim zu werden, äußerst gefiel. Dass er sich ungeniert fallen ließ, mit ihm stöhnte, ächzte, sich herumwälzte, auf jede Herausforderung reagierte. Und jeden Höhepunkt bis zur Neige auskostete. "So geht's aber nicht weiter." Brummte er und streichelte gleichzeitig über eine sehr biegsame Wirbelsäule. Und, in gewisser Weise, schien ihm ihre undurchdringliche Umgebung verändert. Zumindest war das, was man NICHT sah, nicht mehr diffus dunkel, sondern nun von einem sonnig-warmen Schimmer erfüllt. Hell und freundlich. Der Effekt war jedoch nicht unbedingt beruhigender, da er sich nun wie im Inneren eines gelb-orangen Luftballons fühlte. "Mein Hirn braucht wohl Horizonte." Stellte er eine These auf. Tao blies ihm perfiderweise ins Ohr und lachte fröhlich auf, als ein reflexartiger Schauer Thomas' nackten Leib durchlief. "Frechdachs!" Knurrte Thomas aus den Tiefen seiner Magengrube und ging zum Angriff über. Mit spitzen Fingern auf der Suche nach Kitzelpunkten! <3~~~~ Jirou grinste, als er seinen Bruder in der Wohnküche ihres Heims empfing. Thomas tropfte zwar nass vor sich hin, die Nase leicht gerötet ob des frostigen Windes, doch das gewisse STRAHLEN in den schwarzen Augen verriet ihm alles, was er wissen musste. Sein stoischer Bruder hatte tatsächlich ein Gspusi gefunden! "Oh!" Kommentierte Thomas gerade ertappt seine Anwesenheit in der Küche. "Guten Abend." "Guten Abend, Romeo!" Feixte Jirou amüsiert. "Du hältst dich ja sehr tapfer an den Zapfenstreich, den wir gar nicht haben!" Thomas grummelte und verspannte sich merklich, was Jirou indizierte, dass hier noch kein Platz war, neckend mehr Informationen einzufordern. "Es... ist kompliziert." Murmelte er schließlich kaum hörbar im Bass. "Darf ich dir trotzdem Glück wünschen?" Jirou erhob sich und klopfte auf eine mächtige Schulter. "Ich freue mich, dass du eine aufregende, neue Bekanntschaft geschlossen hast." "Ja-ah." Antwortete Thomas ungeheuer ausschweifend. Eindeutig fühlte er sich unbehaglich, was nach Jirous Erinnerungsvermögen ein absolutes Novum war. Sein Amüsement verwandelte sich in Besorgnis, und spontan zog er seinen riesenhaften Bruder in eine tröstende Umarmung. "Wird alles gut!" Wisperte er in nasse, rote Löckchen, die dem strengen Zopf entwischt waren. Es war die alte Trostformel seines Bruders. <3~~~~ "DAS... ist unheimlich!" Murmelte Thomas, der sich sogar erlaubt hatte, am Wochenende pünktlich seine "Versorgungsausflüge" zum Schrein zu unternehmen. Nun gerade, bequem auf der Gymnastikmatte lagernd, rücklings an den erstaunlich gemütlichen Findling angelehnt, feststellte, dass er sich nicht allein im "Kaninchenbau" in eine andere Dimension verirrt hatte. Nein, das Äquivalent einer "Iss mich-/Trink mich-"Einrichtung wurde auch geboten! Tao ignorierte gurrend und schnurrend wie gewohnt Thomas' Monologe. Er konnte gerade "Tom" rufen, und "gut! gut!" stöhnen, verweigerte sich jedoch weiteren Vokabeln entschieden. Gesättigt und zufrieden rieb er schmusend seine Wange an Thomas'. Der hatte, mit einer langen Gedächtnisminute an alle Begriffsstutzigen, registriert, dass tatsächlich noch mehr nicht stimmte in seinem augenblicklichen Leben. Nicht nur der fehlende Horizont in diesem "Ballon", nein, jetzt veränderte er sich sogar selbst! Wo war sein Bart geblieben?! Und sein Zopf?! Hastig drehte er Arme und Hände, touchierte ungläubig seine blanken Wangen und wirrte sich durch die gestutzten Locken, die ihn wie eine rote Korona umgaben. Wann war er zum letzten Mal SO unterwegs gewesen?! "Nach der Schule... ja. Nach dem Schulabschluss..." Murmelte er verblüfft. Und glaubte auch, dass ein Teil seiner Muskelmasse, durch die harte Arbeit gewonnen, auch nicht mehr vorhanden war. Bedeutete das etwa, dass er in die Vergangenheit gesprungen und momentan 18 Jahre alt war?! "Jesses!" Schnaubte er grimmig. So langsam entwickelte sich diese Angelegenheit in eine sehr surreale Richtung. Nun, nicht, dass sie nicht schon zuvor erhebliches Potential in dieser Richtung hatte, aber... Tao löste eine umtriebige Hand aus der losen Umarmung seiner Schultern und kraulte ihm begeistert durch die roten Locken, wickelte sie sich um die Finger. Sein vergnügtes Lachen heiterte Thomas unwillkürlich auf. »Das wird noch ein böses Ende nehmen!« Mahnte ihn seine innere Stimme pessimistisch. »Merk dir meine Worte!« Aber wie sollte er es "richtig" machen? Natürlich war es kein Zustand, Tao jeden Abend zu "füttern". Das führte zu nichts! Auch wenn er ihre Intimitäten genoss, so hatten sie, das war nicht zu leugnen, überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Weil sie nicht mal miteinander sprechen konnten! Zum Aufgeben zu viel und zum Fortführen zu wenig. <3~~~~ Es war nicht nur der Vollmond, der schon am Himmelszelt trotz der Lichtverschmutzung der Metropolregion seinen Platz behauptete und Thomas in melancholische Stimmung versetzte. Ein "Herbstmond", von den in höheren Luftschichten ausgebrachten Staubpartikeln rötlich gefärbt, erinnerte ihn immer an seine Gesellenzeit. An den würzigen Geruch von verbrennendem Laub und "Kartoffelfeuer". An die eisig klare Luft im Morgen und Tage mit dem letzten Sonnenschein wie eine Abschiedsvorstellung vor dem drohenden Winter und der zunehmenden Dunkelheit. Hier war selbstredend alles ein wenig anders. Aber da war auch eine unbestimmte Frustration, die in seinem Inneren gärte. Weil er keine Lösung für ein Problem fand, das sich nicht als Problem zu erkennen gab! Tao. Ein Dilemma ohne Ausweg, zumindest ohne eine zündende Idee, wie er allen Beteiligten gerecht werden sollte! Thomas nahm die lädierte Flöte in die Hand und betrat vor dem Schrein den schmutzigen Kies. Im Streulicht der Straßenbeleuchtung verhinderten Schlagschatten, dass man sofort den erbärmlichen Zustand erkannte. Einzig die späte Blüte der vor Kraft nur so strotzenden Pfeifenwinde lenkte den Betrachter auf einen etwas erfreulicheren Anblick. Ein Blinzeln später befand sich Thomas auf "der anderen Seite". Tao erwartete ihn bereits, auch wenn Thomas durch das merkwürdige Hintergrundlicht zunächst geblendet nur eine anmutige Silhouette ausmachen konnte. Nachdem sich seine Augen an das blendende Licht gewöhnt hatten, erkannte er, dass Tao ihn nackt erwartete. Aufgestapelt neben ihm lag alles, was Thomas mitgebracht hatte: die Gymnastikmatte und die Kissen, die Yukata und die einfachen Sandalen, die Wasserflasche und die unverbrauchten, feuchten Tücher. Darüber der aufblasbare Papierball und ein traditionelles Geschicklichkeitsspiel mit Ball an einer Schnur. "Tao?!" Erkundigte sich Thomas perplex und ließ seinen Säckl sinken. Was ging hier vor?! Und was war das für ein seltsames Licht?! Tao kam ihm in gemessenem Schritt entgegen, stieg ihm mit funkelnden Augen auf die Zehenspitzen und schlang ihm die Arme um den Nacken. Thomas seufzte leise in den leidenschaftlichen Kuss, den sie teilten. Für einen Wimpernschlag war er abgelenkt von den neuerlichen Merkwürdigkeiten. So überrumpelten ihn die festen Ranken der Pfeifenwinde vollkommen. Dieses Mal spürte er, wie sich eine seltsame Benommenheit ausbreitete, wie winzige Einstiche Pflanzengift in seinen Körper träufelten. Sofort wurde ihm heiß, ein Schwelbrand, mit dem sein Organismus den Kampf aufnahm. "Tao!" Ächzte Thomas anklagend, doch jeder Versuch, sich aus der Umstrickung zu befreien, trieb nur noch mehr Widerhaken in seine Haut. Tao wich hingegen von ihm zurück, lächelte ihn beseelt und sehr zufrieden an. Hinter ihm färbte sich das grelle Licht heller... und plötzlich begriff Thomas, woher er das seltsame Muster zu kennen glaubte: es war der Schattenwurf der Oberfläche des Vollmondes! "Tom gut!" Verkündete Tao feierlich. "Gut. GUT." "Was soll das hier werden?" Thomas rang mit aufkeimender Panik. Immer dichter wickelten ihn die Ranken ein, bald trug er ja glatt ein Kostüm aus Pfeifenwindblättern! "Tom." Lächelte Tao ihm unverwandt ins Gesicht. "Tao gut." Thomas verstand nicht, was er begreifen sollte, verlegte sich aufs Verhandeln. "Tao, lass mich jetzt hier raus, ja? Das wird mir eben zu viel!" Doch Tao antwortete ihm nicht mehr. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken, so, als befinde sich über ihm etwas Bemerkenswertes, lachte leise auf... und zerfaserte langsam. Seine Gestalt verlor sich im grellen Schein des angestrahlten Vollmondes, wurde durchscheinend, bis sie sich auflöste. Thomas blinzelte, heftig. Zerrte in plötzlich aufbrausender Wut an seinen Banden. "Tao! TAO!" Sein zorniges Röhren fand kein Echo, sein Zappeln jedoch Erlösung. Als hätte eine akute Trockenfäule sie befallen, zerknitterten Ranken und Blätter, schnurrten verfärbt zusammen und fielen schließlich wie Rußflocken zu Boden, wo sie aschgrau zerstoben. Frei von allen Fesseln starrte Thomas fassungslos auf die leere Fläche neben seinen jenseitigen Mitbringseln. "Das... so habe ich das nicht gewollt..." Wisperte er tonlos. <3~~~~ "Nanu? Du bist schon da?" Jirou hob die Stimme an, da er ganz unerwartet die Schritte seines Bruders hörte. Doch weder erhielt er Antwort, noch lenkte ihr Besitzer sie wie stets zur Küche. Als einige Minuten verstrichen und wohl jede eventuell beabsichtigte Reinigungsaktion abgeschlossen sein musste, die Thomas möglicherweise zunächst nicht in seine geliebte Wohnküche geführt hätte, entschied Jirou mit ungutem Gefühl, es sei etwas Profundes vorgefallen. Sein hünenhafter Bruder gehörte jedoch nicht zu den Menschen, die sich derlei anmerken ließen. Üblicherweise. Er kletterte ins obere Geschoss und klopfte behutsam an das Türblatt. "Thomas? Geht's dir gut?" Eine Antwort blieb aus. "Darf ich hereinkommen? Oder dir etwas bringen? Heiße Schokolade?" Jirou gab nicht so schnell auf. "Kekse? Knuddler?" Auch diese Offerten wurden nicht kommentiert. Wagemutig drückte Jirou die altmodische Klinke und schlüpfte in das dunkle Zimmer. Lediglich die winzigen Lichtfinger der Straßenbeleuchtung durch die Schlitze der Jalousien wiesen ihm einen Weg. Auf dem Podest, das sie selbst konstruiert und verkleidet hatten, wölbte sich ein massiver Berg. Der Erfahrung geschuldet vermutete Jirou jenseits der Überdecke darunter seinen Bruder, zusammengekauert. Er ließ sich auf einer der beiden Matratzen nieder, die Thomas' Lager bildeten. Für ein Bettgestell war der Bruder zu groß, und auch sonst konnte nichts von der (japanischen) Stange seinen Dimensionen genügen. "Thomas?" Sanft legte er eine Hand flach auf das Gebirgsmassiv. »Oje!« Dachte er mitfühlend. »Ist es aus?« War die Romanze seines Bruders, die erste übrigens, die offenkundig wurde, schon beendet? Warum? Durch einen Streit? Oder einen Rivalen? Oder bloß ein lächerliches Missverständnis, das bestimmt aus der Welt geräumt werden konnte? Still lauschte er auf Atemzüge, wartete geduldig. Es genügte seinem stoischen Bruder vielleicht schon zu spüren, dass er nicht allein war. Dass bei aller Fremdheit, die er sich selbst zumutete, es doch jemanden gab, der ihm niemals fremd sein würde. Der immer eine Heimat und einen sicheren Hafen vor dem Sturm bot. "Ich bin ein bisschen erschrocken, weißt du?" Plauderte Jirou sanft in die Stille des Raums. "Erst der rötliche Vollmond und jetzt der große Sack neben der Tür. Mit all den Dingen, die du benötigt hast, um es dir bequem zu machen." Irgendwo unter dem dicken Stoff zuckte es kurz. Ein unkontrollierter Reflex? "Ich wollte nicht schnüffeln, zumindest nicht sehr." Jirou lachte leise in seinem einseitigen Gespräch auf. "Du kennst mich ja. Aber er ist eben auf die Seite gerutscht und hat seinen Inhalt verteilt." Irrte er sich, oder hielt der Berg neben ihm ganz still, wie in Erwartung? "Sag mal..." Jirou klopfte mit der flachen Hand einen beschwingten Rhythmus. "...war die Flöte schon vorher kaputt? An dieser Klebestelle ist sie nämlich ziemlich... na ja, verbogen." Ergänzte er mit gespielter Belustigung. Thomas antwortete nicht, aber er konnte eine Art Elektrizität in der Luft spüren. Aufgeladene Spannung. "Weißt du was? Ich glaube, ich habe da noch ein gummiertes Klebeband, das ich mal für den Fahrradschlauch gekauft habe..." Jirou federte hoch, tatendurstig eine wenig kunstvolle Reparatur in Angriff zu nehmen, doch blitzartig schnellte eine Faust unter der Decke heraus und umklammerte sein Handgelenk. Er drehte sich dem in Bewegung geratenen Bergmassiv zu und legte die freie Hand auf die große Pranke seines Bruders. "Thomas?" "..." "Tommy?" "... lass sie so." Jirou erschrak, wie rau und zerbrochen die dunkle Stimme seines Bruders gedämpft durch die Decke zu ihm hervordrang. Tollkühn, mit klopfendem Herz durch bange Vorahnung von großem Kummer antwortete er. "Du brauchst sie also nicht mehr, wie?" Nach einem atemraubenden ewigen Augenblick hörte er seinen gewaltigen, unerschütterlichen Bruder zum ersten Mal seit Jahrzehnten aufschluchzen. <3~~~~ Ein winziges Bisschen besser war es schon. Versteckt von Dunkelheit und Stoff quasi ins Nichts Silben zu krächzen. Worte zu finden. Sätze zu formulieren. Den verwirrten, aufgewühlten Gefühlen eine Gestalt zu geben. Thomas raunte heiser, stark gedämpft, aus der Mitte seiner zusammengekauerten Gestalt, die wenig glaubhafte Geschichte seiner "Samariter-Tat". Und vorsorglich schickte er dieses Entree auch voran, denn er zweifelte nicht an der Zuneigung seines Bruders und dessen schier unerschütterlichen Vertrauens in seine Fähigkeiten. Dennoch, man konnte es auch dem liebenswertesten Bruder der Welt nicht verdenken, wenn der diese merkwürdige Episode einfach nicht als "wahr" einstufen KONNTE. Jirou saß neben ihm, geduldig und still, lauschte einfach, ohne verräterische Reflexe, die Thomas noch stärker in die selbstironische Defensive gedrängt hätten. Ohnehin, wie lächerlich und demütigend nahmen sich die schnöden Fakten aus: aus Mitleid und einem überambitionierten Verantwortungsgefühl einem "Pflanzengeist" mit musikalischer Fehlsteuerung auszuhelfen. Der sich dann, in der nächsten Vollmondnacht gleich aus dem Kaninchenloch der Dimensionsverschiebung zu den Hasen auf dem Mond gesellte! Ganz zu schweigen von den erbärmlichen, sexuellen Aktivitäten, die ihn wie einen degenerierten Neidhammel unter Hormondruck darstellten! Thomas zürnte sich selbst. Gleichzeitig bekam er kaum Luft, weil ihm die Brust so sehr zugeschnürt war von einem Kummer, den er nicht haben sollte. Der ganz und gar unlogisch war! Jirou dagegen hörte eine ganz andere Geschichte. Sein sonst so distanziert-höflicher Bruder wechselte von grollendem Mitgefühl (das er stets gut zu verbergen wusste) zu einer intimen Nähe und Vertrautheit, obwohl sie einander nicht einmal erzählen konnten, was sie bewegte! Für ihn war in der kurzen Zeit eine zärtliche Liebe entstanden, die sein Bruder wohl nicht mal erkannt hatte. Und sich nun wütend und selbstzeihend runterputzte, weil er nicht begriff, weshalb er so litt. "Liebeskummer." Flüsterte er sanft in die Dunkelheit des Schlafzimmers. "Du hast Liebeskummer, Tommy." Ein ersticktes Krächzen folgte nach einer schockierten Atempause. Gewöhnlich, urteilte Jirou im Stillen seines Hinterkopfes, hätte sein riesenhafter Bruder nun trocken protestiert und abgewinkt. Denn einer wie er, der war doch nicht für solche Gefühle geschaffen! Dazu war er ja wohl viel zu pragmatisch und ungeschlacht! (Und das von einem Mann, der zierlichste Verzierungen auf Leckereien mit Zucker kreieren konnte!) Nun jedoch blieb der Berg an seiner Seite unter der Decke ganz ruhig und alert. "Ich bin sehr stolz auf dich." Wisperte Jirou tröstend. "Du hast Tao geholfen. Du hast ihn erlöst. Stell dir nur vor, wie einsam er da gewesen sein muss, bis du gekommen bist! Das war sehr großherzig von dir, Tommy." "Pah!" Kollerte Thomas zur Antwort und würgte an einer neuerlich demütigenden Heulattacke, weil er ja den isolierten Raum, in dem Tao seine Existenz fristete, gekannt hatte. "Pah!" "Ich finde, es gehört sehr viel Herz dazu, jemandem zu helfen und ihn dann zu verabschieden, in der Gewissheit, dass es ihm nun gut geht und es zum Besten ist." Jirou trat nach, streng, unerschütterlich. Die beabsichtigte Grausamkeit seiner Lobpreisung sollte Thomas aus der Reserve locken, damit der auch seine Wut, seine Enttäuschung, die heimlich gehegten Hoffnungen und den "Verrat" aus sich "herausbrodelte". Sich seine widerstreitenden Gefühle nicht absprach, sie für unwichtig befand, weil "einer wie er ja dafür keine Begabung" besaß, wie er zynisch behauptete. "Ich hab ihn gar nicht VERABSCHIEDET!" Polterte es zu Jirous Freude unter der Decke hervor. Dann wurde sie weggeschleudert und Thomas entrollte sich, berstend vor aufgestauter Energie. "ER ist verschwunden! Einfach weg! Das ist nicht fair! Das ist einfach NICHT FAIR!!" Von einem Aufschluchzen durchgeschüttelt presste er die großen Hände auf Mund und Augen, bloß keine Heulerei, keine albernen Tränen! Echte Kerle heulen nicht! Und ihm stand das schon gar nicht gut zur massigen Gestalt! "Du hast Recht." Jirou schlang die eigenen Arme um den bulligen Riesen. "Fair ist das bestimmt nicht! Und ich hätte Tao ja auch mal gern getroffen!" "Er konnte da nicht raus!" Grollte Thomas mit erstickter Stimme. "Was hätte ich denn anderes tun sollen?! WAS hätte ich TUN sollen?!" Das war ein Aufschrei, eine Anklage an das Universum selbst. Thomas weinte nun laut und unglücklich, da konnten auch die großen Pranken nicht alle Dämme halten. Es war so UNGERECHT! Und nicht mal ein richtiger Abschied! Und außerdem... wie hätte er denn wissen sollen, dass da MEHR war?! Dass er nicht bloß helfen wollte, sondern...! Jirou ließ nicht locker, widerstand all den kreuzunglücklichen Erschütterungen, die den kräftigen Titanen durchliefen. Seine Arme prickelten, wurden sogar taub, doch er gab nicht nach. Nein, es war wirklich nicht fair, dass Thomas seine erste Liebe so rasch verlieren musste! <3~~~~ "Du bleibst heute daheim!" Diktatorisch drängte Jirou seinen Bruder zurück in sein Zimmer und die Schlafhöhle, aus der er vermutlich herausgekrochen war. Zumindest dem Bettzeug auf dem Podest nach zu urteilen. "Kann nich!" Mühte sich Thomas halbherzig um Gegenwehr. Obwohl er sich tatsächlich ein bisschen krank fühlte. Aber da er noch nie gefehlt hatte, wollte er sich diese Schmach nicht eingestehen. "Quatsch mit Soße!" Konterte Jirou strikt. "Du siehst fürchterlich aus, hast kaum Stimme und wankst hier wie ein Matrose nach drei Buddeln Rum! So bist du niemandem eine Hilfe!" Außerdem, das war seine Meinung, war Liebeskummer durchaus ein ernst zu nehmendes Krankheitsbild. Nicht nur die Psyche konnte sich so richtig beschissen fühlen! Er schob mit aller Energie den Bruder zurück unter die Bettdecke, verdunkelte sorgsam das Zimmer und stellte fürsorglich Wasser, Tee und entsprechendes Geschirr in Reichweite ab. "Ruh dich aus, ja?" Raunte er sanft am nördlichen Ausläufer des Gebirges und tätschelte den Deckenberg. Dann marschierte er energiegeladen in die Wohnküche, um seinen Bruder telefonisch krankzumelden. <3~~~~ "Oje!" Murmelte Shinji immer wieder, der neben Jirou zur Bahnstation hoppelte, wie stets durch die grauenvollen Galoschen als "Arbeitsameise" gehandikapt. Jirou schmunzelte gerührt über die mitfühlende Reaktion seines Freundes und dessen verstörten Gesichtsausdruck. "Er braucht ein bisschen Ruhe für sich selbst." Diagnostizierte er. "Das ist ja nicht so einfach, Abschied zu nehmen, weißt du?" "HmmHmm!" Nickte Shinji artig, stolperte prompt und konnte nur durch Jirous reaktionsschnelles Zufassen vor einer harten Bruchlandung auf dem Gehweg bewahrt werden. Jirou lachte leise. "Ich weiß ja, dass nur Fliegen noch schöner ist, aber das sollten wir doch besser zu Hause üben, meinst du nicht? Da fällt es sich... sanfter." Shinji errötete sichtlich und nutzte seinerseits die Gelegenheit, sich scheinbar lädiert bei Jirou unterzuhaken. So konnte er noch ein klein wenig schmusen und davon träumen, mit Jirou "abzuheben". <3~~~~ Man konnte nicht den ganzen Tag im Bett verbringen, sich in Selbstmitleid suhlen und grundsätzlich beleidigt vom Schicksal schmollen. Fand zumindest Thomas. Also erhob er sich und entschied, dass zunächst eine Dusche angezeigt war. Und dann, auch wenn er keinen Appetit verspürte, musste etwas gegessen werden. Ohne "Treibstoff" konnte nichts gelingen, ganz klar! So saß er nun wie ein Schluck Wasser in der Kurve zusammengesackt in seiner Wohnküche und kam sich ausgesprochen dekadent vor. Am helllichten Tag nicht arbeiten! Gut, so hell war es nicht, denn es regnete heftig und alles war grau und düster. Vor allem draußen. »Passende Atmosphäre!« Grollte Thomas. »Fehlt nur noch eine Beerdigung!« Aber manchmal waren Klischees tatsächlich Realität. Seufzend und ratlos studierte er seine großen Hände, die vor ihm ruhig auf der Arbeitsplatte lagen. Was tun? Entschieden stemmte er sich vom Tisch hoch in die Senkrechte, spannte konzentriert alle Muskeln an. Seine Selbstvergewisserung. So lange er sich noch spürte, in jeder Faser, würde er sich nicht unterkriegen lassen. Auch nicht von dem hässlichen Kloß in seinem Hals! Bewaffnet mit einem überdimensionierten Regencape, das anderen als Fahrradgarage gedient hätte, und einer Tüte japanischer Halsbonbons stapfte er, den auf dem Pflaster Blasen werfenden Dauerregen ignorierend, zum Schrein. Dem war wohl die Witterung gar nicht mehr bekommen, denn ein Querbalken des roten Mon-Tores war verfault abgesplittert und lag nun wie ein Verbotsbalken schräg im Zugang. Es stank nach fauliger Feuchtigkeit und Verwesung. Thomas ballte die Fäuste, zwang sich, ALLES anzuschauen. Den alten Katsurabaum. Den Findling. Den schmutzigen Kies. Und das Nichts. Wo die Pfeifenwinde grüne Pracht gewoben hatte. Fort. So gründlich verschwunden, dass kein Blättchen, keine Ranke, keine Wurzel, kein nichts daran erinnerte, dass sie einmal hier um ihr Überleben in dieser fremden Umwelt gekämpft hatte. Jetzt war hier nichts mehr als ein langsames Dahindämmern ins Vergessen. Mühelos pflückte Thomas den abgestürzten Querbalken vom Boden, stellte ihn sorgsam auf eine Seite. Dann trat er auf den dreckigen Kies. Nichts geschah. Natürlich nicht. Vor dem Findling neigte er einen Augenblick den Kopf. Ein stummer Dank dafür, dass, falls es wirklich einen Naturgeist hier gegeben hatte, dieser es einem Fremden wie Tao ermöglicht hatte, Erlösung zu finden. Tropfnass blinzelte er Regen aus seinen Augen, fasste dann in die Jackentasche unterhalb des Regencapes. Sanft legte er die zerbrochene Pfeife auf dem Findling ab. Tao war nicht mehr hier. Und es sah auch nicht so aus, als würde ein anderer sie jemals mehr benötigen. »Hoffentlich...« Dachte Thomas und presste seine Fingerspitze so tief in das Fleisch seiner Handballen, dass sie prickelten. »...hoffentlich kommt für das Wundervolle, was wir verloren haben, etwas Neues in diese Welt.« Er wollte nicht ertragen, dass sie um das Licht ihrer Liebe ärmer geworden war. <3~~~~ Kapitel 3 - Wiedergänger? Wenn man gewöhnt war zu arbeiten, vor allem die Dinge zu erledigen, die sonst niemand zu tun bereit war, konnte man selbst im größten Kummer nicht untätig herumsitzen. Zumindest Thomas war das unmöglich. Und weil es half, sich auf Alltäglichkeiten zu konzentrieren, befasste er sich an seinem ersten Tag einer Abwesenheit von seinem Arbeitsplatz mit Hausarbeiten aller Art. Kontinuierlich in seinem eigenen Tempo, methodisch und geübt. Das hielt den Kloß in seinem Hals in Schach. "...guten Abend." Druckste Shinji herum, der unerwartet früh und nicht mal bemerkt in der Wohnküche stand, ihn besorgt und bange zugleich von unten herauf ansah. Er fühlte mit, das konnte Thomas erkennen, wollte sich jedoch weder einmischen, noch in ein Fettnäpfchen treten. "Ich habe Zutaten für Nabe mitgebracht." Murmelte Shinji eingeschüchtert und schwenkte hastig eine Plastiktüte vor sich aus. Behutsam nahm Thomas die ausgeschwenkte Ware vom "Kran-Ärmchen" entgegen, bevor Shinji noch vornüber fiel. "Gute Idee." Lobte er und lächelte schief in seinen Bart. "Eintopf ist bei dem Wetter genau das Richtige." Und außerdem musste Jirou wohl beiläufig erwähnt haben, dass Eintopf bei ihnen als "Seelenfutter" fungierte. <3~~~~ Die Zeit mochte nicht alle Wunden heilen, aber sie sorgte dafür, dass etwas Distanz für einen klareren Blick zur Verfügung stand. Thomas zwang sich zur Vernunft, die ihn so treu durch sein Leben begleitet hatte. Er war Pragmatiker, was lag also näher, als praktisch zu denken?! So hatte er sich, mit heißer Schokolade bewaffnet, einige Tage nach der schmerzlichen Trennung abends allein in die Wohnküche gesetzt und mit Bleistift auf einem Block skizziert, was ihn so beschäftigte. Warum er beispielsweise immer noch wütend war. Hätte er sich nicht besser über Taos Erlösung freuen sollen? War er nicht ver-liebt gewesen? Immerhin war ihm doch schon damals klar geworden, dass ihre Beziehung keine Zukunft haben konnte. Sie sprachen nicht dieselbe Sprache, konnten keinen Alltag entwickeln. Und Tao konnte nicht mal diesen winzigen Fleck in der anderen Dimension verlassen! Stichwort um Stichwort notierte er an unterschiedlichen Stellen, füllte nach und nach das Blatt mit Pfeilen, Kreisen und Ausrufezeichen. Das half. Manche mussten ihre heftigen Gefühle in Worte oder auch Musik fassen, aussprechen, herausschreien. Thomas dagegen notierte. Präzise. In Druckbuchstaben. Und wenn er dann den Bleistift entschlossen ablegte und sein Werk intensiv studierte, begriff er oft das, was ihm seine "unsortierten" Gefühle vernebelt hatten. So traurig es auch war: ver-liebt zu sein bedeutete, dass ein oder mehrere Faktor/en NICHT passten, die zu LIEBE führten. Man musste also die positiven Erfahrungen betonen, die neuen Selbsterkenntnisse, die gewonnen worden waren. Beispielsweise hinderte die Unfähigkeit zur Liebe auf den ersten Blick nicht daran, sich nach und nach Liebe zu erarbeiten. Er KONNTE viele mächtige Gefühle Schritt für Schritt entwickeln, ohne sich minderwertig oder unfähig zu fühlen, weil er sein Leben bis dahin ledig und enthaltsam geführt hatte. »Wenn das kein Hoffnungsschimmer ist!« Verspottete sich Thomas mit einer Grimasse. »Hauptsache...« Er stemmte sich hoch, verstaute Block und Bleistift, warf einen letzten kontrollierenden Blick in die Runde, bevor er das Licht löschte und nach oben, in sein Schlafzimmer ging. »...ich bin wieder auf dem Damm.« <3~~~~ Es regnete. Natürlich. Wenn nicht gerade ein Taifun sein Unwesen trieb, die häufigste Wetteraussicht im November. Ungemütlich, nass, stürmisch und einfach deprimierend. Außerdem war es grundsätzlich dunkel. Wenn man morgens aufbrach und wenn man abends heimkehrte. Das konnte auf das fröhlichste Gemüt schlagen. Thomas befand sich auf dem Heimweg von der Bahnstation zur Busstation. Er hatte in einer Seitengasse noch etwas eingekauft und nutzte die engen Straßen nach hinten heraus, um die Strecke abzukürzen. Hier bewegten sich auch nicht so viele Passanten. Er hörte die Töne widerhallen von Häuserschluchten, ein klagender und zugleich fremdartiger, exotischer Lauf über eine ihm wohlbekannte Melodie. Abrupt blieb er wie angewurzelt stehen. Was für eine Teufelei war das?! Jemand spielte, kein Zweifel, und zwar gut. Doch das Instrument passte nicht zur einfachen Weise, die intoniert wurde. "... Bluesharp." Identifizierte Thomas, drehte den Kopf nach beiden Seiten, um dem trügerischen Echo zu entlocken, wo der Musikant stationiert war. Eine spezielle Mundharmonika, die nichts mit einer einfachen Flöte gemein hatte, und doch... dieselbe Melodie! Sie endete plötzlich, mit einem abgerissenen Ton. Thomas setzte sich energisch in Bewegung. <3~~~~ "Verpiss dich, du Scheiß-Penner!" "Ja, hau ab, du Stück Dreck!" Thomas hörte die gehässigen Worte, sah die Männer, die auf eine zusammengekauerte Gestalt hinter dem winzigen Spalier eines Restaurants eintraten. Ein Bein leicht angehoben, die Hände lässig in den Hosentaschen. Rau lachend, amüsiert. Weil sie einen "Unsichtbaren", einen "Nicht-Menschen" als Ventil für ihre Frustrationen misshandeln konnten, ohne dass sie dafür Rechenschaft abzulegen hatten. Glaubten sie. Thomas näherte sich mit der Unvermeidlichkeit und Macht einer Lawine. Er war AUCH frustriert, und es fuchste ihn GEWALTIG, dass sich irgendwelche Idioten einen Spaß daraus machten, einen verängstigten Menschen wie einen Fußball zu treten! Ohne eine Warnung abzugeben warf er nicht nur seinen gewaltigen Schatten im diffusen Licht der regnerischen Nacht über die beiden Angreifer. Sondern verpasste dem Nächststehenden einen ungebremsten Schwinger in die Magengrube. Mit einem erstickten Ächzen klappte der wie ein Taschenmesser zusammen. "He...HEY!" Sein Kumpan war angetrunken und dumm genug, nicht schnell zu erfassen, dass Thomas kein Interesse an Gefangenen hatte. Eine Watsche als Breitseite beförderte ihn über die Breite der Straße gegen die Mülltonnen auf der anderen Seite. Thomas ging in die Hocke, um nach dem Musikanten zu sehen. Der war nicht einfach auszumachen, mit einem übergroßen Fahrradcape ausgestattet, ein Tuch um den Kopf geschlungen und ausgesprochen schmutzig. "...nicht, bitte!" Flüsterte es ihm irgendwo entgegen, wo dreckige Ärmel einen Körper zu schützen versuchen. "Ich gehe weg! Sofort! Bitte, nicht mehr..." "Ich tue dir nichts." Thomas streckte eine Hand hin. "Komm, steh auf, ja? Du kannst hier nicht liegen bleiben." Der Vagabund, -um einen solchen handelte es sich wohl-, bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Taumelnd, in das verschlissene Cape verwickelt, unsicher auf den Beinen. Thomas konzentrierte sich darauf, ein Gesicht zu entdecken, doch in aller Angst hatte sein Gegenüber den Kopf abgewandt und das dreckige Tuch wie eine Maske hochgezogen, sich verhüllt. "Du bist wohl nicht von hier, hm?" Thomas registrierte ein Blinken und bückte sich, fischte die Mundharmonika zwischen den Standfüßen des Spaliers heraus. Er reichte sie weiter. "Kannst du irgendwo unterschlüpfen? Kennst du hier jemanden?" "..." "Wenn du fremd hier bist..." Thomas wunderte sich über seine so unjapanische Aufdringlichkeit. "... wird es schwer werden, heute Nacht eine Unterkunft zu finden." Sah man mal von Manga- und Internet-Cafés ab. Doch die würden einen so heruntergekommenen Landstreicher auch abweisen. "... ich bin auf der Suche." Flüsterte der Musiker, akkompagniert von einem unüberhörbaren Jaulen. Dieser Magen knurrte schon nicht mehr, er winselte! "Nun, so wie ich es sehe..." Thomas richtete sich auf. "... findest du heute Abend nichts mehr. Komm mit zu mir nach Hause. Da kannst du dich waschen, mit meiner Familie zusammen essen und übernachten." Er spürte, wie der Musiker sich ängstlich zurückzog. So eine Offerte MUSSTE einen Haken haben. "Gib dir einen Ruck." Empfahl er also, bot die offene Hand dar. "Nicht alle Leute hier sind solche Mistviecher wie die zwei da." Erneut heulte der vernachlässigte Magen zum Steinerweichen auf. Sein Besitzer taumelte und stützte sich verkrampft an einer Wand ab. "Komm, ja?" Thomas wandte sich halb ab, die Hand ausgestreckt, als erwarte er selbstverständlich, dass sie wie bei einem Kind genommen wurde. Einen Wimpernschlag später kratzte nasse Wolle über seine Handinnenfläche, dann spürte er den zögerlichen Druck kalter Finger. <3~~~~ Eigentlich war es nicht sein Fall, und er verabscheute sinnloses Herumplappern. Doch Thomas gestand sich in dieser besonderen Situation unvermuteter Samariter-Tätigkeit zu, seinen stolpernden Begleiter mit einigen Informationen zu versorgen, als sie sich gemeinsam, der eine ziehend, der andere taumelnd, auf den Heimweg machten. Zu Fuß, da Thomas es für besser hielt, kein Aufsehen mit seinem Begleiter im Bus zu erregen. "Dann stelle ich mich mal vor." Eröffnete er die ungewohnte Plauderrunde. "Mein Name ist Höflbaur. Thomas Höflbaur. Thomas genügt." Ergänzte er in gewohnter Weise, um keine peinlichen Zungenbrecher auszulösen. "Ich wohne mit meinem Bruder und dessen Freund in einem kleinen Haus unter Stadtautobahnen. Ist nicht weit von hier." Erläuterte er beruhigend. "Mein Bruder heißt Harada. Jirou Harada. Wir sind nicht blutsverwandt." Das musste man wohl erklären. "Und sein Freund heißt Shinji Mishima. Die beiden sind wahrscheinlich schon da, wenn wir ankommen." Das Klammern der kalten Finger in den abgeschnittenen, klammen Wollhandschuhen verstärkte sich nervös. "Keine Angst, sie sind sehr nett!" Gab Thomas den 'guten Onkel'. "Shinji ist einfach niedlich und mein Bruder ein absoluter Zauberer. Du wirst ihn garantiert mögen." DAS war weniger eine Drohung als eine Selbstverständlichkeit. JEDER mochte Jirou. Sein Begleiter stolperte erneut, und für einen Augenblick lastete mehr Gewicht auf ihrer fragilen Verbindung. Thomas nutzte diese kleine Unterbrechung, um seinerseits etwas in Erfahrung zu bringen. "Verrätst du mir auch deinen Namen?" Es krächzte hinter ihm heiser, dann splitterte eine raue Stimme. "Ueda. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Herr Thomas." Die Stirn in Falten schlagend antwortete Thomas nach einem Augenblick. "Ebenfalls erfreut. Dein Akzent ist ungewohnt. Du stammst nicht von hier, oder?" "Tanohata. Das ist im Osten der Präfektur Iwate." Murmelte Ueda kaum hörbar. "Ganz schön weite Reise bis hierher!" Bemerkte Thomas. "Hast du ein bestimmtes Ziel? Ich könnte dir helfen, ich kenne mich hier ganz ordentlich aus." Auch wenn man ihm das zweifelsohne nicht ansah. Er spürte nun förmlich das Zögern seines Begleiters. War er zu weit gegangen, zu wissbegierig gewesen? "Ist jetzt nicht so wichtig." Beruhigte er langmütig. "Erstmal ein heißes Bad und etwas zu essen, richtig? Sag mal, dieses Gelichter hat dich doch nicht verletzt, oder?" "N-nein! Alles in Ordnung! Vielen Dank, Herr Thomas!" Haspelte die raue Stimme hinter ihm hastig. »Das glaube ich kaum.« Widersprach Thomas stumm, entschied aber, die Fährte erst zu Hause wieder aufzunehmen. Dann würde sein Findling ihm auch nicht auf der Straße zusammenbrechen. <3~~~~ Die ungewöhnliche "Casa Harada/Höflbauer" nötigte selbst dem eingeschüchterten Vagabunden die Konzession ab, seinen Blick von den nassen Fußspitzen zu heben. "Home sweet home." Bemerkte Thomas gelassen, versuchte einen Blick unter die Tuch- und Kapuzenschichten zu erhaschen. Doch sein Versuch war nicht von Erfolg gekrönt. Nun, wenigstens bedeuteten die Lichter, dass Shinji und wahrscheinlich auch Jirou schon zu Hause waren. "Ist... ist das wirklich in Ordnung?" Bange stemmte sein Begleiter die abgewetzten Turnschuhe in die Gehwegplatten. "Klar!" Bekräftigte Thomas und verstärkte den Druck auf die Hand in seinem Zugriff. "Jirou schleppt ständig Gäste an, also sind wir Gesellschaft gewöhnt. Lass uns jetzt reingehen, sonst werden wir hier noch weggeschwemmt." Derart in die Enge getrieben blieb nichts anderes als Gehorsam übrig. Thomas checkte bei der ausrangierten Stechuhr ein, wie er es gewohnt war, vertraute den zum Schuhregal umfunktionierten und zusammengezurrten Plastikkästen seine soliden Treter an. Er wählte warme Schlappen und deponierte vor seinem Schützling ein buntes Äquivalent für Gästefüße. Der kämpfte mit mehrfach geflickten Schnürsenkeln seiner ausgelatschten Turnschuhe, sichtlich beschämt, was unzweideutig die hochgezogenen Schultern und die demütige Haltung verrieten. Seine Socken waren klatschnass. Thomas sparte sich Worte, er konnte die Verlegenheit nachvollziehen. Also fischte er kurzerhand die schmuddeligen Schuhe ab, stellte sie auf alte Zeitungen, die zu diesem Zweck gelagert wurden und zerknüllte einzelne Seiten, um damit das traurige Schuhwerk auszupolstern. Sein Schützling hatte unterdessen das "Zelt" gelupft. Unter dem ein an diversen Nähten aufgeplatzter Anorak, eine dreckige Jeans und ein lädierter, mit weiteren Plastiktüten behangener Rucksack zum Vorschein kamen. Das Cape hing ordentlich, ungeachtet der Risse und Löcher, an einem Haken, während aus dem Rucksack ein kleines Handtuch gekramt wurde, Füße samt Socken abzutrocknen. "Wenn deine Sachen nass geworden sind, waschen wir sie gleich durch." Thomas wollte auf das Elend nicht weiter eingehen. "Ich bringe dir etwas von meinem Bruder, ja? Der müsste deine Größe haben." "Bitte... bitte nur keine Umstände!" Haspelte sein Begleiter bange. Dann, als müsse er sich besinnen, fischte er aus der inneren Tasche seines Anoraks einen sorgsam gefalteten, fest eingeschweißten Brief, verbeugte sich formell vor Thomas, bevor er ihm das Schriftstück aufnötigte. "Oh...danke. Aha." Thomas beäugte das Dokument wie eine Visitenkarte, auch wenn er Mühe hatte, die Handschrift zu entziffern. "Ich... werde es gleich lesen, ja? Erstmal bringe ich dich zum Badezimmer." Damit ging er voran, während sein Gast ihm folgte, noch immer eingemummelt und unkenntlich. Auf Zehenspitzen mit den nassen Socken und den warmen Hausschuhen in der einen, den Rucksack in der anderen Hand. <3~~~~ Die flüchtige Inspektion des Briefkopfes, einer sozial-psychiatrischen Praxis in einem Krankenhaus, veranlasste Thomas, nach Ausgabe von Handtüchern und der strengen Ermahnung, nicht länger als zehn Minuten im heißen Wasser des tiefen Badezubers zu verbleiben, sofort die Lektüre aufzunehmen. Laut Herrn Prof. Dr. Kurami hieß sein Gast nicht bloß "Ueda", sondern mit bürgerlichem Namen Eiji Fabius Ueda. Er war 23 Jahre alt. Und er hatte aufgrund des großen Erdbebens und des Tsunamis im vergangenen Jahr sein Gedächtnis verloren. Eine posttraumatische Belastungsstörung, mutmaßlich. Sollte er sein Gedächtnis erlangen oder auffällige Reaktionen zeigen, wurde darum gebeten, Kontakt aufzunehmen. "Eiji FABIUS Ueda?!" Thomas zerlegte die Silben auf der Zunge. DAS... war ungewöhnlich. Sofort verspürte er auch Mitgefühl, denn dieser arme Junge war nur einer von sehr vielen, die nach dem furchtbaren Schrecken der Iden des März 2011 ohne Heimat und Trost durch die Gegend irrten. Kurzentschlossen wählte er die Telefonnummer, die im Brief angegeben war, während er im Schlafzimmer seines Bruders einen Trainingsanzug, Unterwäsche und frische Socken "mopste". "Kurami." Meldete sich eine zerbrechlich klingende Stimme, vom Alter zermürbt. "Guten Abend, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber spreche ich mit Herrn Professor Doktor Kurami?" "Das tun Sie, mein Herr. Was kann ich für Sie tun?" "Herr Professor, mein Name ist Thomas Höflbaur und ich rufe aus Tokio an. Ich habe heute Ihren Patienten Eiji Fabius Ueda aufgelesen." "Eiji? Wie geht es ihm? Ist ihm etwas zugestoßen? Was ist passiert?" Sofort klang die ältliche Stimme aufgeregt und sehr besorgt. "Es geht ihm gut, auch wenn ich vermute, dass er zu wenig gegessen hat und übermüdet ist." Beruhigte Thomas mit sonorem Bass. "Ich habe ihn mit zu mir und meiner Familie genommen. Ich würde nur gern wissen, ob ich etwas zu beachten habe." "... dann hat er sein Gedächtnis nicht zurückerlangt, nicht wahr?" Der alte Mann seufzte. "Die Leute rufen mich an, wenn er ihnen diesen Brief gezeigt hat. Um alles zu erklären. Und dann..." Er brach ab. Thomas verstand jedoch die unausgesprochenen Befürchtungen. "Ich habe nicht die Absicht, ihn vor die Tür zu setzen. Ich frage mich, ob ich ihm behilflich sein kann, zu dem Ort zu kommen, den er sucht." "Oh, das ist kein Ort!" Korrigierte ihn der alte Mann hoffnungsvoll. "Zumindest konnten wir keinen ausfindig machen. Es ist wahrscheinlich eine Person, aber auch da bin ich mir nicht mehr sicher." Das klang extrem verwirrend in Thomas' Ohren, der diese widersprüchlichen Informationen zu verdauen versuchte. "Ich glaube, ich sollte Ihnen das besser erklären." Half der Professor ihm aus. "Damals... als das Unglück über uns hereinbrach, da wurde jede helfende Hand benötigt. Ich habe keine eigene Praxis mehr geführt, aber noch ab und an ausgeholfen, deshalb bin ich auch gebeten worden, in einem der Verwaltungszentren Beistand zu leisten. Wir haben dort Listen geführt, Vermisste, Gesuchte, Gefundene... und Verstorbene. Die Menschen brauchten Trost. Eine Zuflucht, um sich auszuruhen. So viel ist verloren worden... Nun, jedenfalls wurden nach und nach alle Distrikte durchkämmt von den Suchmannschaften. Zum Teil sind uns ja viele Register und Aufzeichnungen verloren gegangen, deshalb war es wirklich schwierig festzustellen, wer noch vermisst wurde. Und oft wurden... die Vermissten sehr weit weg von ihrem letzten Aufenthaltsort gefunden. Etwa eine Woche nach dem Unglück brachte eine Suchmannschaft Eiji mit. Er war nicht schwer verletzt, aber vollkommen verwirrt und wusste nicht einmal mehr seinen Namen. Er wiederholte immer nur, dass er vermisst werde und auf eine Liste gesetzt werden wolle. Aufgrund seiner äußeren Erscheinung hatten wir nach zwei Tagen seinen Namen ermittelt, was uns Hoffnung machte. Doch niemand vermisste ihn. Auf keiner Suchliste tauchte sein Name auf. Er erinnerte sich an nichts, wurde aber immer verzweifelter und ungeduldiger. Jemand vermisste ihn, davon war er fest überzeugt. Anhand eines alten Registers konnte man ermitteln, dass er in die Grundschule in Tanohata gegangen war. Das ist ein kleiner Ort gewesen, der stark zerstört wurde. Eine Menge Menschen starben. Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich um ihn kümmerte. So viele vermisste Personen und hier war ein junger Mann, den niemand vermisste. Das war sehr ungewöhnlich. Ich bin mit ihm nach Tanohata gefahren, habe dort Leute befragt, aber niemand konnte sich an ihn erinnern. Und die zerstörte Kleinstadt erweckte auch keine Erinnerungen bei ihm, wie ich damals gehofft hatte. Aber es ist auch eine sehr verstreute Besiedelung, verstehen Sie? Hier und da Gebäude, an den Hängen oder in den Senken. Manche intakt, manche seit Jahren aufgegeben... Einige Tage nach unserem erfolglosen Besuch erhielt ich einen anonymen Anruf. Es habe außerhalb von Tanohata einen komischen Einsiedler mit dem Namen Ueda gegeben. Der lebte quasi autonom und zeigte sich nur selten im Ort. Irgendwann sei er gar nicht mehr gekommen." Der alte Mann seufzte tief. "Ich habe Eiji gebeten, mir zur Hand zu gehen. Kleine Aufgaben zu erledigen. Aber nach einem Jahr war er so unglücklich, dass ich ihn gehen lassen musste. Niemand hat sich auf seine eigene Vermisstenanzeige gemeldet. Deshalb ist er nun selbst auf der Suche nach der Person, die ihn vermisst." "Hat er denn noch eine Familie?" Thomas malte sich ein elendes Bild im Kopf aus. War der Junge seit März zu Fuß unterwegs?! "Nun, es hat sich niemand gemeldet, obwohl wir sein Bild überall verbreitet haben. Möglicherweise gibt es eine Mutter..." Der alte Mann zögerte. "Also, das ist nur eine Spekulation meinerseits, aber... sehen Sie, damals, vor Jahrzehnten, war die Gegend sehr arm. Nur Fischfang oder ein bisschen Landwirtschaft hinter den Klippen und in den Senken. Die jungen Leute zogen weg, in die Städte. Aber wenn man sich nicht auskennt und allein als Frau... vielleicht hat sie einen Fehler gemacht. Und konnte den Jungen nicht aufziehen. Das kommt vor." "Er sucht also nach seiner Mutter?" Das konnte Thomas verstehen. Das bedeutete aber auch, dass sie Kontakt gehalten haben mussten, oder? "...ich bin mir nicht mehr so sicher." Antwortete ihm der alte Mann zögerlich. "Immerhin... hätte sie nicht nach seinem Verbleib forschen müssen? Wenn sie noch lebt?" Er atmete flatternd durch. "Wir haben auch versucht, sie zu finden. Eine Frau, die Ueda als Mädchennamen führen könnte und aus der Gegend stammt. Das war zu wenig für die Abfragemöglichkeiten, die man uns zugestanden hat." "... ich verstehe." Antwortete Thomas, um den alten Mann nicht zu entmutigen. Da hatte er sich ja auf eine wirklich vertrackte Angelegenheit eingelassen! "Wenn Sie wünschen, werde ich mich gelegentlich bei Ihnen melden und Ihnen Neuigkeiten berichten." Bot er an, denn es erschien ihm so, als sei der alte Herr am Schicksal des verlorenen Jungen persönlich interessiert. "Das wäre mir eine große Beruhigung!" Versicherte der ihm erfreut, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Thomas konsultierte eine Uhr und stellte fest, dass er besser mal nach seinem Gast sehen sollte, um sicherzugehen, dass der nicht aus Hunger in der Badewanne ohnmächtig wurde und ertrank. Mit Jirous "Leihgaben" bewaffnet klopfte er höflich an die Tür. "Eiji, alles in Ordnung?" Als die Antwort ausblieb, betrat er entschlossen das Badezimmer, deponierte die Wäsche im offenen Regal und streifte sich die Socken ab. Barfüßig über die Fliesen tappend schob er die Milchglastür beiseite... und erblickte auf einem Hockerchen seinen Gast, in einen ungleichen Kampf mit einem Kamm in einem außer Kontrolle geratenen Schopf verstrickt. "... Jesses, Maria und Josef!" Murmelte Thomas in seiner Vatersprache, registrierte beiläufig die hässlichen Verfärbungen der Haut eines athletischen, aktuell jedoch abgemagerten, nackten Leibs. Lediglich ein Waschlappen bedeckte artig die Blöße. "Entschuldigung!" Krächzte es bange unterhalb der detonierten Haarbombe. "Warte mal eben!" Thomas krempelte entschieden die Ärmel hoch. "Nicht rühren!" Die Sache war vertrackt! Denn während seine eigenen roten Locken zwar kraus, aber durch geschickte Pflege seidig ihrem Besitzer gehorchten, hatte dieser schwarze Wust ein verfilztes Eigenleben entwickelt. Und fraß gerade den Plastikkamm auf. "Ich denke, ich werde operieren müssen." Grummelte Thomas in einem Anflug schwarzen Humors, machte kehrt, um im Vorraum das benötigte Equipment zu requirieren. Er säbelte und schnippelte, bis ihm die Arme schwer wurden. Befreite erst den Kamm, dann das Haupt von einer unerfreulichen Last. Trimmte schließlich mit dem Rasierapparat Form in die winzigen Löckchen, die sich seiner Entschlossenheit beugten. »Tsk!« Dachte er. »Deja vu! Innerhalb eines Monats schon zum zweiten Mal zum Figaro befördert!« Mit einer Kehrschaufel und einem Besen verfrachtete er die Kopfwolle in eine Mülltüte. Schnappte sich dann einen weiteren Lappen, befeuchtete ihn und ging vor seinem Gast in die Hocke. In der Absicht, dessen Gesicht und den ganzen Schädel rubbelnd von versprengten Haar-Widerstandsnestern zu befreien. Unerwartet blieb Thomas nicht nur die Spucke weg, sondern auch die Atemluft. Mit einem Plumps landete er hart auf den Fliesen. "Tao?!" <3~~~~ Einige Schrecksekunden später, während Thomas gegen die drohende Schwärze vor seinen Augen ankämpfte, gelang es ihm mit eiserner Disziplin, nicht zu kollabieren oder in Hysterie zu verfallen. Aus mandelförmigen, graugrünen Augen ohne Lidfalten blickte ihn ängstlich ein sehr attraktiver, junger Mann an. Mit den perfekten Maßen einer klassisch-römischen Büste. Gerader Nasenrücken, schön geschwungener Amorbogen über schmalen Lippen, markante Wangenknochen und ein gekerbtes Kinn. Allein die anmutigen Hände mit den langen Fingern, die nur spärliche Körperbehaarung und der Schnitt der Augen verrieten den asiatischen Anteil an dieser Augenweide. "...tut mir leid. Entschuldigung!" Krächzte es ihm heiser entgegen, eine Äußerung aufs Geradewohl, um Ungemach zu vermeiden. "MIR tut es leid." Thomas gewann die Gewalt wieder über sich zurück, räusperte sich, um den Kloß in seiner Kehle zu vertreiben. "Eine Verwechslung. Lass mich dir rasch noch die restlichen Haare abwischen, dann kannst du auch duschen. Und bitte nicht länger als zehn Minuten im Bad einweichen, ja?" Behutsam reinigte er das Gesicht vor sich, erhob sich dann ein wenig klapprig. "Der Wecker ist hier." Wies er auf einen aufgeplusterten Koi, der beim Aufziehen mit den Glotzaugen hin und her zuckte. "Deine Wäsche liegt im Vorraum. Ich schaue derweil mal nach dem Essen." Und, wenn es sich irgendwie vor Jirou und Shinji verbergen ließ, nach einem Schnaps! Wohlsein! <3~~~~ Obwohl er sich der zweifellos großen Neugierde seiner "Familie" in ihrer Wohnküche bewusst war, lehnte sich Thomas erst mal im Flur gegen eine Wand, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Ihn schwindelte noch immer. »Das ist alles nicht wahr. Du bist überreizt.« Redete er sich selbst ein, doch eine spöttische Stimme in seinem Hinterkopf konterte bissig. »Ach ja, und welchen Sinnen willst du trauen, wenn nicht den eigenen?! Mensch, guck ihn dir an, der sieht wie Tao aus!« Nun, nicht ganz. Die Ähnlichkeit war verblüffend, keine Frage, auch die Sache mit der alten Volksweise und dem gruseligen Schopf, aber... zunächst mal war Tao kein Mensch gewesen! Und er hatte auch nicht ihre Sprache gesprochen! Und die Schultern! Also dieser Bursche hier hatte die Figur eines Athleten, auch wenn er erschreckend abgemagert war, während Tao eher eine zierliche Statur gehabt hatte. "Jesses, reiß dich zsamma!" Nuschelte Thomas sich wütend selbst zu. Jetzt war wohl kaum der Zeitpunkt, hier herumzulungern und Maulaffen feil zu halten! Weil Arbeit immer auch eine Ablenkung und Flucht bedeutete, huschte er in den Vorraum ihres Badezimmers, beschlagnahmte die traurigen Bekleidungsreste samt Rucksack-Tüten-Verbund. Sortierte ungeniert für die Waschmaschine in offene Körbe vor. Bekleidung gab es wenig, und was vorhanden war, wirkte, als habe man es aus der Mülltonne gefischt. Lumpen und Fetzen. Dazwischen eine abgenutzte Zahnbürste, ein Stück Seife und eine furchteinflößend scharrtige Rasierklinge, die mit einer verbogenen Büroklammer in ihrem Plastikgriff verankert wurde. In einer anderen Tüte eine zerschrammte Kunststoffflasche mit Wasser und eingepackte Lebensmittel, die unzweifelhaft aus Müllbeuteln geborgen worden waren. Thomas schnaufte und wusch sich die Hände gründlich, nachdem er die erste Ladung in die Waschmaschine gepackt hatte. Am liebsten hätte er das ganze "Gelump" verbrannt! Aber mehr selbstherrliche Aktionen als die uneingeladene Inventur der Habseligkeiten seines Gastes wollte er sich momentan nicht zuschulden kommen lassen. Er huschte rasch in sein eigenes Zimmer, zog sich um und legte auf sein Schlafpodest einen Gäste-Futon aus, zupfte und schob, bis ausreichend Platz für beide Schläfer war. Jirou und Shinji begrüßten ihn in der Wohnküche schon interessiert, doch Thomas beließ es bei einem Grunzen. Marschierte schnurstracks zu ihrem "Barfach", öffnete es, stülpte ein Schnapsglas um und goss sich von dem zwangsweise importierten, sehr teuren Kräuterschnaps eine heilsame Menge ein. "Wohlsein!" Wünschte er sich selbst und ließ die bräunliche Flüssigkeit wie flüssiges Feuer seine Kehle hinabrinnen. Das zählte schließlich als Medizin! "Oha." Bemerkte Jirou amüsiert, während Shinji verunsichert von einem Bruder zum anderen blickte. SO hatte er Thomas noch nicht erlebt. Der stellte lauter als nötig das geleerte Glas auf die Arbeitsplatte und stützte sich mit beiden Armen ab, schüttelte sein Haupt wild. Wie ein Bär am Flusslauf. "Wir haben für uns Gemüseeintopf vorgesehen." Jirou lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre Aktivitäten. "Sollen wir dazu noch Reis reichen? Und für dich Brot?" Thomas bestand darauf, zur Suppe Brot zu bekommen. Reis mochte ja allen anderen genügen, ER verlangte sein selbstgebackenes Brot! Jirou, der die Ernährungsgewohnheiten seines Bruders gelegentlich zum Piepen fand, weil hier eindeutig ein west-östlicher Küchen-Zusammenprall stattfand, berücksichtigte diese Eigenheiten gern. Außerdem konnte man Thomas damit so herrlich necken! "Brot ist gut." Brummelte Thomas und hob den Blick von der Tischplatte. "Jungs, wir haben ab heute einen Gast. Er heißt Eiji Fabius Ueda, ist 23 Jahre alt und hat seit dem Unglück im letzten Jahr sein Gedächtnis verloren. Vorhin ist er attackiert worden und ziemlich verschreckt, also bitte keine wilden Scherze, ja?" Shinji, dem dergleichen nie in den Sinn kam, nickte sofort eifrig, doch Jirou legte bloß den Kopf schief und studierte seinen Bruder eingehend. "Was sonst noch?" Hakte er mit trügerisch sanfter Stimme nach, die tiefschwarzen Augen funkelnd. Thomas seufzte. Klare Sache, Jirou, der so gern andere Leute verzauberte und ablenkte, war selbst wie ein Bluthund und nicht von der Fährte abzubringen! "Ich will nicht, dass du lachst!" Drohte er grollend im Bass, rieb sich dann unruhig die großen Hände an der Hose ab, atmete tief durch und ballte die Fäuste, dass die Gelenke knackten. "Ich werde nicht lachen." Versprach Jirou ernsthaft, der in der Körpersprache las, dass sein Bruder verwirrt, wütend, beschämt und leicht überfordert war. Und DAS war zuletzt vorgekommen... oh! Oha! "Also..." Thomas bemühte sich, die Situation mit Spott und Selbstironie zu skizzieren. "...erinnerst du dich, was ich dir vor einiger Zeit erzählte? Meine ach so wundervolle, mysteriöse Begegnung im Kaninchenloch der Dimensionen mit einem Pflanzen-Bubi, der dann bei den Kaninchen im Mond gelandet ist?" »Holla!« Dachte Jirou. »So lange ist es noch nicht her und schon versuchst du, die Wunde mit Essig zu behandeln?« Aber Thomas war noch nie einer der Menschen gewesen, die nachsichtig mit sich selbst umgingen. Leider. "Nun ja!" Thomas' Stimme ätzte sonor. "Heute von einem Deja vu ins nächste! ERST höre ich dieses verwünschte Lied, zwar richtig gespielt, aber auf dem falschen Instrument. DANN hilft natürlich mal wieder keiner diesem Vagabunden, und ALS NÄCHSTES schere ich ihm die Wolle vom Kopf!" Er lächelte bitter, was man sogar im Bart erkennen konnte. "Und du wirst es nicht glauben: da sitzt doch eine neue Ausgabe von Tao in unserem Badezimmer! Also, wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich meinen, mir spielt einer einen richtig fiesen Scherz! Andererseits ist das vollkommen lächerlich, und ich bin wohl überspannt, müsste mir also mal das Hirn untersuchen lassen." Shinji schrumpfte immer weiter in sich zusammen, weil die zornige, verächtliche Geringschätzung, mit der Thomas sich selbst bedachte, ihm Angst einjagte. Er kannte den Riesen immer nur als zurückhaltend aber zuverlässig, oft stoisch und standfest in seiner Weltsicht. Jirou registrierte Shinjis spontane Reaktion und griff zu einer bewährten Technik, seinen Bruder aus dieser zerstörerischen Selbstkasteiung zu befreien. "He, das ist ja wundervoll!" Betont enthusiastisch klatschte er in die Hände und sprang auf. "Du bist ein echtes Glückskind, weißt du das?! Das Schicksal ist dir hold!" Trällerte er voller Begeisterung. Thomas starrte seinen Bruder verblüfft an. "Wie meinen?" Krächzte er irritiert und ein klein wenig misstrauisch. Wollte Jirou ihn etwa aufziehen? "Siehst du das denn nicht?" Jirou klopfte ihm kräftig auf die breite Schulter, strahlte aus möglichst jedem Knopfloch euphorisch. "Dieses Mal hast du eine richtige Chance! Ich wette, die Kaninchen auf dem Mond haben dir zugesehen und...!" "Was REDEST du denn da?!" Ereiferte sich Thomas polternd. "Kaninchen, Mond, Schicksal?! Das ist doch alles Humbug! Das gibt's doch gar nicht! Schmarrn!" "Das würde ich nicht sagen wollen." Antwortete Jirou samtpfotig und sehr gelassen. "Denn du HAST ja wohl Tao getroffen, oder nicht? Und du WARST ja wohl mit ihm an einem sonderbaren Ort, nicht wahr? Und du HAST auf diese Melodie reagiert! Du HAST aus freien Stücken geholfen! Und du HAST den Jungen... Eiji mitgebracht! Also, ganz gleich, wie man's auch nennt, ob Schicksal oder Schmarrn: das ist DIE Gelegenheit!" "Blödsinn!" Thomas spuckte das Wort fast aus, doch seinem Bass fehlte die gewohnte Strenge. Weil er selbst unsicher war. Wenn er sich nämlich all die Dinge nicht eingebildet hatte und auf seine Sinne vertraute... dann war diese Entwicklung zwar bekloppt, aber nicht unlogisch. "Die Wahrscheinlichkeit..." Hob er an, doch Jirou zwinkerte ihm bloß aufgeräumt zu. "He, Tom, wir müssen uns nicht darüber streiten, weißt du? Ob du's glaubst oder nicht, spielt keine Rolle, weil der Junge oben im Bad einweicht. Und sicher Kohldampf hat, wenn er runterkommt. Also schlage ich vor, du holst ihn, während wir beiden sehr Hübschen hier den Tisch decken!" "Gnah!" Brabbelte Thomas überfahren und missgelaunt, doch Jirou hatte ja leider Recht, weshalb er ihn nicht auszanken konnte! Und überhaupt! Wie war er bloß in diesen Schlamassel geraten?! Sein Leben war ja der reinste Klamauk! Jirou grinste unübersehbar vor sich hin, nachdem sein Bruder stampfend wie ein alter Dampfer die Wohnküche verlassen hatte. Shinji, der es übernahm, den Tisch zu decken, während Jirou sich um den Eintopf und die Beilagen kümmerte, wagte tollkühn eine Frage, die ihm auf der Seele brannte. "Jirou... glaubst du wirklich ans Schicksal?" "Klar doch!" Jirou nickte heftig, die gewohnt überlangen Locken tanzten durch die Luft. "Und du doch auch!" "Ich?!" Shinji blieb verblüfft stehen und starrte seinen Freund irritiert an. Er war doch eher eine analytische, prosaische Natur... oder? "Selbstverständlich!" Jirou strich mit einem Finger über seinen sorgsam gestutzten Bart, während die Augen vor Amüsement funkelten. "Sag mal, hast du wirklich nicht daran geglaubt, deinen Märchenprinzen irgendwann zu finden?" "Märchenprinzen?!" Shinji wedelte heftig mit der Hand. "Ganz sicher nicht!" Jirou jedoch grinste breit. "Oh doch, das hast du! Weißt du, Schicksal bedeutet manchmal bloß eine Häufung von Wahrscheinlichkeiten. Für mich bedeutet Schicksal aber Hoffnung. Wenn ich nicht glauben würde, dass es da draußen in der Welt einen Menschen gibt, den ich lieben kann und der mich ebenso liebt, wie hätte ich dich da finden können? Rein mathematisch liegen die Chancen nicht gut, aber!" Er trumpfte auf und zog Shinji in eine wirbelnde Umarmung. "Hier sind wir beide! Und hättest du nicht an die Chance geglaubt, mir zu begegnen, dann wärst du doch nie meiner Einladung gefolgt, oder?" "...oh...." Stellte Shinji mit gekräuselter Stirn fest, richtete seinen Blick dann in die blitzenden Augen. "Das... das stimmt! So habe ich das noch gar nicht betrachtet." Gab er in entwaffnender Ehrlichkeit zu. Jirou lachte auf und pirouettierte elegant um die eigene Achse, gab Shinji nicht einen Wimpernschlag frei. "Oh, ich LIEBE dich, Shin! Du bist so niedlich!" "Ähm..." Protestierte Shinji der Form halber, aber er hatte rein gar nichts gegen den frechen Kussregen, der ihm das Gesicht verzierte. "Wirst sehen..." Raunte Jirou ihm ins Ohr, mit seiner warmen, zärtlichen Stimme. "...selbst Thomas ist nicht gegen die Hoffnung gefeit!" Und das machte ihn unglaublich kribbelidikrabbelig froh! <3~~~~ Thomas klopfte höflich an der Milchglastür, bevor er sie zur Seite schob. Sein Gast, der sich wohl gerade mühsam aus der Badewanne gerettet hatte, goss sich selbst zittrig kaltes Wasser über den Nacken, um einer Ohnmacht Paroli zu bieten. "Kruzifix!" Kommentierte Thomas diese Entwicklung nervös, denn so langsam verspürte er auch den Wunsch, sich mit Eiswasser einen klaren Kopf zu verschaffen. Das wurde immer verrückter! Und jetzt noch Jirous spinnerte Reden von Schicksal und Hoffnung und Papperlapapp! Resolut dirigierte er seinen Findling auf das Hockerchen, tauchte den Waschlappen in kälteres Wasser und tupfte damit das hochrote Gesicht ab. "Ruhig atmen." Empfahl er mit gleichmäßiger Stimme. "Drück den Ringfinger in die Mitte vom Handteller. Ja, so ist gut. Wird dir gleich besser!" Tricks kannte er genug, da ihm anfangs die grauenvolle Schwüle in Japan sehr zugesetzt hatte. "Ich habe mit Professor Kurami telefoniert." Teilte er beiläufig mit, studierte die sich einfärbenden Hämatome, Spuren der Auseinandersetzung mit den zwei Schlägern. "Er ist froh, wieder von dir zu hören." Behutsam tupfte er über Gesicht und Nacken, während ihn die grau-grünlichen Augen bange betrachteten. "Dein Vorname, Fabius, ist sehr ungewöhnlich. Ich glaube, es gab mal ein sehr berühmtes römisches Geschlecht der Fabier. Gibt es da eine Verbindung?" "...ich weiß es nicht." Krächzte der junge Mann, senkte zu Thomas' Überraschung aber nicht wie sonst den Kopf oder wich beschämt seinem Blick aus. "Meine Mutter hat ihn gewählt." »Dachte ich mir.« Kommentierte Thomas stumm. »Eine Anspielung auf die Herkunft deines Vaters? Ein Teil seines Namens?« "Darf ich dich Fabius nennen?" Ungeniert setzte er nach. Sein Ansinnen war eine Beleidigung in jeder Hinsicht, absolut un-japanisch. Trotzdem. "...oh... das... das würde mich freuen." Fabius leckte sich verunsichert über rissige Lippen. "Vielen Dank für Ihren Großmut und Ihre Großzügigkeit! Ich bin sehr dankbar!" Schon wollte er sich eilig verneigen, doch Thomas' Rechte hielt ihn unverrückbar in der Senkrechten. "Obacht, sonst wird dir gleich wieder schwindelig. Wenn du aufstehen kannst, schlage ich vor, du trocknest dich ab und ziehst dich an, ja? Dann gehen wir zusammen runter zu meiner Familie." Ein nervöses Zucken verriet Fabius' innere Anspannung. Thomas lächelte aufmunternd, während er beide Hände ausstreckte, um Fabius zu assistieren. "Wie ich schon sagte, du brauchst keine Angst zu haben. Jirou und Shinji sind echt patent! Außerdem gibt's heute Gemüseeintopf, das beste Allheilmittel bei diesem Schmuddelwetter!" Fabius warf ihm einen erstaunten Blick zu, nickte dann in einer angedeuteten Verbeugung artig und trocknete sich rasch ab. Er musste sich auch kaum von Thomas stützen lassen, als er die geliehene Kleidung von Jirou anzog. Ein wenig flau war ihm jedoch zumute. Der Anblick seines ausgeräumten Rucksacks und der Tüten, die die Armseligkeit seiner Umstände überdeutlich plakatierten, ließ ihn in sich zusammenschrumpfen. Thomas erkannte die Zeichen als aufmerksamer Beobachter. Eine Mischung aus Mitgefühl und grimmigem Trotz veranlasste ihn, einen kräftigen Arm unter Fabius' zu schieben und ihn auf diese Weise unfallfrei in die Wohnküche zu geleiten. Schicksal, Mumpitz! Aber der Junge hier musste aufgepäppelt werden, keine Frage! <3~~~~ Jirou hatte Mühe, sein Grinsen hinter einer heiter-neugierigen Miene zu verstecken. Ganz eindeutig, mit jedem Zipfelchen, war sein Bruder im Beschützer-Modus! Strenge Blicke, grummelig-bass-gefärbte Anweisungen und Bemutterung a la hart-aber-herzlich. Fabius wurde genötigt, neben ihm Platz zu nehmen, gefragt werden durfte vor dem Essenfassen gar nichts und auch sonst gluckte Thomas unerbittlich, seinem lädierten Schützling alles erdenklich Gute angedeihen zu lassen. Ob der nun wollte oder nicht. Jirou selbst nutzte die Gelegenheit, Fabius unauffällig, jedoch eingehend zu studieren, während er einige Alltagsanekdoten zur Unterhaltung der Tischgesellschaft beisteuerte. Sein geliebter Shin war in dieser Hinsicht keine große Hilfe, da ihn wohl die Vita ihres Gastes selbst in der Ultrakurzfassung eingeschüchtert hatte. Über Unglücke und Krankheiten redete er nicht gern. Aus eigener Erfahrung. »Das ist also das Herzchen, das meinen Bruder für sich eingenommen hat?« Jirou staunte nicht schlecht. Denn dieser Fabius, zweifelsohne eine exotische Mischung, war trotz der Anstrengungen seiner Reise geradezu atemberaubend attraktiv. Ein schönes Profil, die ungewöhnlichen Augen, die wahrscheinlich sonst sanft gebräunte Haut und eine angenehme Stimme: ein lupenreiner Diamant! Damit eigentlich genau die Person, von der Thomas stets Abstand hielt. Aus der bitteren Erfahrung heraus, in seiner Jugend und Pubertät für sein eigenes Erscheinungsbild verspottet und ausgegrenzt zu werden. Zweifellos hatte sein stoischer, vorsichtiger Bruder sich von seinem "Recken"-Komplex überreden lassen! Jener etwas kuriosen Vorstellung, wenn man schon eine Mixtur aus Rübezahl und Hagen von Tronje war, dann musste man eben auch gelegentlich den Witwen und Waisen zur Hilfe eilen. Nicht plakativ und strahlend, sondern missmutig, bärbeißig und polterig. Damit bloß niemand auf die Idee kam, dass unter der dicken Schutzschicht ein ziemlich netter Kerl hauste! Thomas, dem sehr wohl bewusst war, dass sein Bruder den "Tao-Wiedergänger" unzweifelhaft bis ins Detail analysierte, soweit dies beim Abendessen überhaupt möglich war, fühlte sich gegen das Fell gebürstet. Weil es ihm sehr peinlich war, dass Jirou und auch Shinji ihn schon wieder so verdreht erlebten! Und grundsätzlich, dass er sich in seinem Alter und bei seinem Aussehen eine so dämliche Romanze in den Kopf setzte! Bekloppt!! Und beschämend! Andererseits konnte er keinen logischen Bruch in seinen Handlungen erkennen. Jeder hätte sich schlau gemacht, woher diese Melodie kam, richtig? Wenn einer wie er, der ja nun tatsächlich über große Körperkraft und auch Wendigkeit verfügte, nicht einem bedrängten Mitmenschen zur Hilfe eilte, was sollte dann aus der Welt werden?! Nun konnte er wohl kaum den Schwanz einziehen und kneifen, wenn er mit seiner Einmischung schon die Verantwortung übernommen hatte! »Ich muss mich bloß ein bisserl zsamm'nemma!« Ermahnte er sich selbst, während er mit großem Genuss eine Brotscheibe verzehrte, Krümel aus dem Bart wischte. »Kein Wort über Tao, Kaninchen oder anderen depperten Quark!« So schwer konnte das ja wohl nicht sein! <3~~~~ Ungeachtet jeder Verwirrung und Befangenheit war Fabius ohne Federlesen "adoptiert" worden. Seine Gastgeber waren Jirou, Shinji und Thomas, keine Suffixe, kein nix. Und er war Fabius, willkommener Gast. Punktum! Niemand stellte bohrende Fragen nach seinem mageren Erinnerungsvermögen. Auch traten keine peinlichen Momente des entfremdenden Schweigens auf. Stattdessen Scherze, kleine Kabbeleien der seltsamsten Brüder, denen er je begegnet war (soweit er sich entsinnen konnte) und jede Menge Essen. Da nahm es wenig Wunder, dass er trotz einiger Taschenspielertricks von Jirou gegen eine bleierne Müdigkeit mit schweren Lidern ankämpfte, während die übrigen Herren dieser Tischgesellschaft erst zu großer Form aufliefen. Thomas, ein wachsames Auge auf seinen Schützling haltend, erhob sich einfach, fasste Fabius unter einen Ellenbogen. "Ich denke, für heute ist es genug. Du brauchst eine ordentliche Mütze voll Schlaf. Ich suche dir einen Pyjama raus." Solcherart ins Bett verbannt blieb dem blinzelnden, von der Wärme und dem guten Essen erschöpften Fabius gar nichts anderes übrig, als sich höflich zu verabschieden und seinem Gastgeber zu folgen. Er zögerte jedoch, als er sein Lager erblickte, warf einen alerten Blick auf den rotbärtigen Riesen. Thomas, der gerade einen von Jirou requirierten Pyjama auf die Bettdecke legte, wandte sich mit unerwarteter Geschwindigkeit herum, denn er hatte schon geahnt, dass eine Versicherung notwendig würde. "Wir haben leider das Gästezimmer noch nicht hergerichtet. Du bist unser Gast, Fabius. Und damit gegen alle Ungelegenheiten gefeit. Absolut." Mit diesem grimmigen Donnerwetter ließ er Fabius einfach stehen und verließ das Schlafzimmer. Fabius, der so unerwartet allein vor dem gewaltigen Podest mit den zwei Futons stand, fragte sich trotz einer überwältigenden Schläfrigkeit beklommen, ob er diesen Titanen verärgert, ja, sogar beleidigt hatte. Doch Abbitte würde er wirklich erst am nächsten Tag leisten können, das sagten ihm seine wackligen Knie. <3~~~~ Es war nur verständlich, dass der arme Junge glaubte, man habe ihn aus niedrigen Beweggründen eingeladen und nutze seine Notlage aus. Befand Thomas. Jedoch fühlte er sich nicht disponiert, in großen Worten und ausschweifenden Gesten zu versichern, dass er hier noch sicherer als in Abrahams Schoß sei. Da niemand, auch nicht seine Gastgeber, Hand an ihn legen würden! »Und dabei bleibt's!« Beschloss er energisch, denn Thomas hielt seine Libido für vernachlässigenswert. Wichtig war, dass ein Mann zu seinem Wort stand. Dass er Selbstbeherrschung hatte. Schnackseln wurde überbewertet, gar keine Frage! Als er in die Wohnküche zurückstapfte, hatten Jirou und Shinji bereits die Spül- und Aufräumarbeiten in Angriff genommen. Und, ihren Mienen nach zu urteilen, schon erste Eindrücke über ihren neuen Hausgast ausgetauscht. "Er ist niedlich." Jirou scheute das Feuer nicht. "Sieht er deinem Tao wirklich so ähnlich?" Thomas knurrte warnend wie eine Bulldogge. Auch wenn seine Gefühle intensiv gewesen waren, wünschte er sie doch abgehakt zu sehen. Ihr Adressat war nicht mehr von dieser Welt, also, verflixt nochmal, wollte er sie auch mit ihm auf den Mond schießen! Shinji warf Jirou einen besorgten Blick zu. "Vielleicht sollten wir überlegen, was wir morgen machen?" Versuchte er hastig, das Thema zu wechseln. "Morgen?" Thomas räumte geräuschvoller als notwendig ein. "Nun ja..." Da er nicht verbal ins Schussfeld geriet, wurde Shinji mutiger. "Er wird sicher ausschlafen müssen nach den Strapazen, nicht wahr? Und wir müssen alle arbeiten..." Thomas straffte seine riesenhafte Gestalt und zupfte gedankenverloren an seinem Bart. Jesses, daran hatte er gar nicht gedacht! "Oh, kein Problem!" Mischte sich Jirou ein, trocknete Schüsseln ab und schmatzte Shinji frech im Vorbeigehen auf eine unbedacht entblößte Wange. "Ich habe morgen keinen frühen Termin, also kann ich bleiben, bis er munter wird. Und dann nehme ich ihn einfach mit! Wird bestimmt lustig!" "Er ist doch kein Hund!" Grollte Thomas ungewohnt bissig. Jirou lachte und schnitt ihm eine Grimasse. "Du musst auch mal teilen, Bruderherz!" "Mach dich nicht lustig!" Schnaubte Thomas ärgerlich-beschämt. "Denk dran, dass er sein Gedächtnis verloren hat und unter einer posttraumatischen Störung leidet." "ICH..." Jirou zwinkerte dem nervösen Shinji zu. "... denke vor allem daran herauszufinden, wen er wo sucht und ob ich ihm nicht helfen kann. Was sich im Gespräch bestimmt leichter herausfinden lassen wird, wenn KEIN Bulldozer ihn begluckt." "Ich BIN nett!" Begehrte Thomas so prompt auf, dass sogar Shinji ein erschrecktes Glucksen entfuhr. Wirklich, war DAS der immer so beherrschte Recke aus dem Abendland?! Jirou verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich lässig an die gewaltige Spüle in seinem Rücken, ein schurkisch-charmantes Grinsen im Gesicht. Lediglich eine sehr agile Augenbraue wanderte spöttisch nach oben. "Fein!" Brauste Thomas auf und schleuderte sein Trockenhandtuch auf die Arbeitsplatte. "Ich geh nach oben und häng die Wäsche ab!" Damit verließ er aufstampfend wie ein trotziges Kind die Wohnküche, um grimmig im Gewächshaus auf dem Dach sein Mütchen beim Wäscheklopfen und -falten zu kühlen. Shinji legte schüchtern eine Hand auf Jirous Oberarm. "Oje..." Jirou entfaltete seine Arme und schlang sie schwungvoll um Shinjis Oberkörper, lachte amüsiert. "Ach, halb so wild! Hast du seine beleidigte Unterlippe gesehen? Lass ihn ruhig ein wenig schmollen, das tut ihm gut!" Shinji legte den Kopf in den Nacken und beäugte seinen Liebsten zweifelnd, doch Jirou zwinkerte agitiert, ganz wildes Lächeln. "He, denkst du nicht, es wird Zeit, dass unser Tom mal menschlich wird?" Denn so sehr Jirou seinen "Helden"-Bruder auch liebte, so fand er es doch notwendig, dass dieser sich neuen Herausforderungen stellte, um an ihnen zu wachsen. <3~~~~ Als Thomas, aller Hausarbeiten ledig, die ihn noch länger von seinem Schlafzimmer hätten fernhalten können, geduscht hatte, betrat er sein Reich mit Vorsicht. Der Bewegungsmelder erfasste ihn und dimmte die Beleuchtung auf ein mageres Maß, gerade genug, unfallfrei zum eigenen Futon zu gelangen. Leise Atemzüge aus einem zusammengerollten und gekrümmten "Schläfer-Wrap" verrieten ihm, dass Fabius den Anstrengungen Tribut zollte und fest schlief. »GottseiDank!« Konstatierte eine mäkelige Stimme in Thomas' Hinterkopf. Sie fand sein Gebaren zutiefst peinlich, seine Ausbrüche von Temperament unangemessen und sein lächerliches Engagement für diesen Landstreicher beschämend. Aus einer sentimentalen Regung heraus einen Fremden einfach aufpicken, ha! Das war ja wie in Kitschromanen! Grauenvoll! Jede Intelligenz beleidigend! Thomas konnte nicht umhin, sich selbst zuzustimmen. Schon die "Romanze" mit Tao war, rein logisch betrachtet, surreal gewesen. Wie in einem Jungmädchen-Comic mit Überzuckerungsdelirium! JETZT aber, mit dem zufälligen Auftauchen (haha!) eines Doppelgängers (oh Plot-Katastrophe!) sich in eine schicksalhafte Seifenoper verstricken zu lassen, also das war ja wohl jenseits von gut und böse! »Was aber überhaupt nichts daran ändert, dass der Junge hier ist und Hilfe braucht!« Wetterte sein grimmiger Helden-Bariton dagegen. Er stand nicht nur dem Professor gegenüber im Wort, sondern auch dem Jungen dort, dem er Gastrecht gewährt hatte. (Gewährt?! Ha! Aufgenötigt!). Thomas schlüpfte unter seine voluminöse Decke und rollte sich auf die Seite, die Kiefer zusammenpressend, bis die Bänder schmerzten. »Wahrscheinlich regst du dich hier mal wieder ganz umsonst auf.« Beruhigte er sich selbstironisch. »Wenn der Bub wieder auf den Beinen ist, heißt es in Kürze 'hasta la vista' und all der Quark ist gegessen. Und wie BLÖD wirst du dir dann erst vorkommen, wenn du dir jetzt so einen Kopp machst!« Genau. Fabius würde die Person finden, die er suchte und dann käme ein Happyend. Vorhang zu. Und keine Frage offen! <3~~~~ Wie vorhergesagt fand sich Fabius allein im Schlafzimmer wieder, als es ihm endlich gelang, sich aus den freundlichen Armen von Morpheus zu lösen. Wie lange war es auch her, dass er warm, geborgen und trocken genächtigt hatte? Eilig machte er sich daran, seinen Futon zu verstauen. Wieselte im Pyjama in das verwaiste Badezimmer, um nach einer Katzenwäsche (wo waren seine Sachen bloß?!) mangels Alternativen in die frischen Kleider zu wechseln, die man dort aufmerksam deponiert hatte. Dann huschte er hinunter in die Wohnküche, auf Geräusche lauschend. Deren gab es durchaus, denn Jirou telefonierte und sprenkelte die Unterhaltung mit Liedzeilen, die er einstreute. Eine Musicalnummer, denn er tänzelte auch elegant durch die Küche, sich selbst zur Unterhaltung. Fabius blieb scheu stehen, wusste nicht, ob er auf seine Anwesenheit aufmerksam machen sollte. Im Mindesten war wohl eine Entschuldigung angesagt, weil er den Tag verschlafen und somit über Gebühr seine Gastgeber belästigt hatte! Bevor er jedoch eine Silbe des Bedauerns äußern konnte, hatte Jirou ihn schon munter hinein gewinkt, während er gleichzeitig sein Telefonat beendete. "Ah, guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Setz dich erst mal, ich habe hier Tee oder Kaffee, du kannst Reis oder auch Brot haben! Bei uns ist Frühstück immer international." Jirou balancierte schon geübt mit Tassen und Besteck. "Nur nicht schüchtern sein!" "..." Fabius klappte zwar den Mund auf, doch es wollte zunächst kein Laut entweichen. Beschämt räusperte er sich, verneigte sich eilig und haspelte seine Entschuldigung heraus. Zumindest die Auftakte. "Ach!" Jirou fiel ihm ungeniert ins Wort, pflanzte sich ihm gegenüber lässig auf die Sitzbank. "Das war doch ganz normal! Wenn ich hundemüde bin, kann man neben mir Kanonen abfeuern, ich werde nicht wach! Sag mir lieber, was ich dir aufdecken soll, dann futtern wir gemeinsam. Shin und mein großer, grimmiger Bruder sind schon raus ins feindliche Leben, also haben wir alles für uns allein!" Damit grinste er verschwörerisch und zwinkerte Fabius frech zu. Der studierte hilflos das angebotene Bankett der Optionen und schrumpfte in sich zusammen. Was wählen? Und überhaupt, was war was? Jirou, der das Dilemma feinfühlig erkannte, da er zu ermitteln im Begriff war, wer da möglicherweise seines Bruders Herz für sich reklamieren wollte, übernahm die Honneurs. Nötigte Fabius, alles zu probieren, was ihm noch unbekannt war. Zumindest ein Häppchen. »Sieh an!« Notierte er für sich selbst im Geiste. »Hast du vielleicht mit Tao den Platz auf dem Mond getauscht? Oder bist du irgendwo in den Wäldern aufgewachsen?« Dieser Fabius war jedenfalls definitiv nicht welterfahren, so viel war schon mal herausgekitzelt! <3~~~~ Wie man gemeinhin ein Dieb sein musste, um einen Dieb zu überführen (so sprach zumindest der Volksmund), war es für Jirou ausgemachte Sache, als Spezialist für Einbrüche jeder Art Schwach- und Bruchstellen aufzustöbern und zu analysieren. Das galt nicht nur für Einrichtungen und virtuelle Landschaften. Kurzerhand hatte er Fabius, der so offenkundig unerfahren mit vielen Dingen war, den Zweithelm in die Hand gedrückt, ihn dann hinter sich auf den Firmenroller eingeladen und seine Geschäftstour gestartet. In einem geliehenen Anzug, mit den frisch modellierten Schopf, wirkte Fabius so, wie Jirou es vorausgeahnt hatte: faszinierend. Und eine Ablenkungssekunde verschaffte ihm IMMER Vorteile. Die Entschädigung für diese unbemerkte Schützenhilfe lieferte er seinerseits, indem er seine unzähligen Kontakte spielen ließ. Da war zum Einen ein versierter Hacker und Analytiker, den er auf die weltweite, virtuelle Suche nach Eiji Fabius Ueda und möglichen Angehörigen ansetzte. Und einen Eigenbrödler, den sie "Mara-Man", also Marathon-Mann nannten. Dessen Aufgabe es war, jeden Tag durch die Metropolregion zu laufen und Veränderungen aller Art für einen Servicedienstleister festzustellen. Jeder benutzte APPs und andere mobilen Angebote, aber niemand machte sich Gedanken darüber, wie jede Baustelle, dieses neue Geschäft oder der Neubau katalogisiert wurden! Und das in einem urbanen Dschungel ohne Straßenbezeichnungen und Hausnummern, wo selbst GPS und Konsorten zu ungenau waren, weil man kilometerweit in die Höhe baute! Jirou versicherte Fabius, er werde ihm mit seinen "Pfadfindern" ein wenig assistieren, die Person zu finden, die auf ihn wartete. Denn so hatte er ihren neuen Hausbewohner verstanden: irgendwo wartete jemand auf ihn, ganz sehnsüchtig. Auch wenn er nichts (mehr) über diese Person wusste, so wartete sie doch! Und offenkundig konnte sie IHN nicht finden, weshalb er sich nach der langen Wartezeit nun aufgemacht hatte, SIE zu finden! »Ach du Schande!« Dachte Jirou mehr als einmal, während er ganz beiläufig, im munteren Gesprächston, der ihm mühelos zu Gebote stand, immer neue Details herauskitzelte. Fabius war zu Fuß mit dem bisschen, was andere Menschen den Katastrophenopfern gespendet hatte, losgezogen. Weil alle immer Richtung Süden wanderten. Hatte hier und da ausgeholfen, sich zusammengesucht aus Abfall und Sperrmüll, was er benötigte. Angetrieben von der verzweifelten, fast hysterischen Sehnsucht nach einer Person, die ihn vermisste. Die auf ihn wartete. Fabius war krank. Daran gab es keinen Zweifel. Und es konnte nicht nur der Verlust seiner Biographie sein, der ihm so zusetzte. Nein, diese Odyssee durch das Land, das erschien Jirou immer mehr wie die Flucht vor einer seelischen Qual, der Fabius sich nicht stellen wollte. Oder konnte. War sein Bruder für so eine Herausforderung wirklich disponiert? Tom, der sich selbst jede Sentimentalität verbat, kategorisch auf Vernunft und Selbstbeherrschung pochte? "Das wird nicht einfach werden." Stellte er leise für sich selbst fest, während er auf Fabius in einem Café wartete. Ungewohnt gedankenverloren beachtete er die interessierten und neugierigen Blicke vor allem junger Frauen in seiner Umgebung gar nicht, rührte in seinem Milchkaffee mit Zimt und Krokant herum. Fabius kehrte an ihren kleinen Tisch zurück, entschuldigte sich erneut, dass er Jirou für einen Abstecher zum Waschraum allein gelassen hatte. Der winkte ab und bedeutete Fabius, sich ebenfalls dem Milchkaffee zu widmen, auch wenn dieses Gebräu hier besser duftete als schmeckte. Thomas jedenfalls hätte man mit so etwas nicht kommen dürfen! Noch ein Punkt, der Jirou irritierte: es gab immer einen Wimpernschlag Verzögerung, bevor Fabius sich zu einer Aktion entschloss. Seine fast servile Höflichkeit wirkte auf unbestimmte Weise steif und indoktriniert, als folge er einer unsichtbaren Anleitung. Er war nicht ungezwungen und natürlich, wie sich die meisten Leute gaben, die in einer bestimmten Umgebung aufgewachsen und die Interaktion mit anderen Menschen gewöhnt waren. »Schwierig.« Konstatierte er und studierte über den Rand seiner Tasse hinweg den jüngeren Mann konzentriert. Er konnte wirklich kaum erwarten zu erfahren, was seine Quellen gegen einen Obolus über diesen Findling ausspucken würden! <3~~~~ Kapitel 4 - Nachforschungen Untätigkeit machte Fabius nervös, das hatte auch Jirou schon bemerkt. Thomas, der stets Arbeit fand, selbst wenn sie ihn ausnahmsweise mal nicht suchte, einfach, weil er es nicht gewöhnt war, mal NICHTS zu tun, dachte sich zunächst gar nichts dabei, als er Fabius' Bitte, auch etwas von den Einkäufen tragen zu dürfen, einfach erfüllte. JEDER hätte doch mitgetan, oder? Aber die schiere Erleichterung, die für Wimpernschläge auf dem durchaus attraktiven Gesicht aufblitzte, gab ihm doch zu denken. Nein, Fabius war NICHT Tao. Ganz gewiss nicht. Dennoch, da konnte kein Zweifel bestehen, benötigte auch diese Person Hilfe. Und wider jedes Erwarten schien sonst niemand disponiert, sie leisten zu wollen. Also musste er wohl oder übel noch mal den Helden spielen, oder? <3~~~~ "Romantik ist anders." Murmelte Jirou schnodderig, als er beim Abendessen seinen Bruder und Fabius beobachtete. Tom war offenkundig entschlossen, in gewohnt bärbeißiger Art ohne Rücksicht auf seine eigenen seelischen Wunden diesem verirrten Küken zu helfen. Schlüpfte also in den "Großer/gruseliger Bruder"-Modus. Der argumentierte gerade in gnadenlos unerbittlicher Freundschaft, warum es die einzig gute Idee war, sich hier zu Zwecken der Recherche, Rekonvaleszenz und Mittelbeschaffung einzuquartieren. Fabius wirkte jedenfalls überrannt genug, um keinen bemerkenswerten Widerstand zu leisten. "Dann...dann werde ich mich morgen nach einer Arbeit umsehen." Beendete ihr Gast schließlich ermattet die einseitige Auseinandersetzung. "Bitte erlauben Sie mir, etwas zum Etat beizusteuern!" "Selbstverständlich!" Grollte Thomas im tiefsten Bass. "Wenn du eine Arbeit gefunden, deine Ausrüstung in Ordnung gebracht und dir passende Bekleidung besorgt hast. Man sollte auch an Konserven denken und für den Notfall ein Mobiltelefon." Fabius warf ihm einen nervösen Blick zu, rang unter dem Tisch die Hände. Denn unter diesen Konditionen war es nicht so einfach zu bewerkstelligen, den Haushalt zu bereichern. "Ich glaube..." Shinji mischte sich schüchtern ein. "Also, ich würde es für gut halten, wenn du dich erst mal erholst, nicht wahr? Bei dem schlechten Wetter ist es ziemlich gefährlich, aufs Geratewohl zu suchen. Und..." Scheu blickte er in die Runde. "...es wäre doch eine gute Idee, eine Art Stützpunkt hier zu haben, richtig? Ich meine, wenn man unterschiedlichen Hinweisen nachgeht..." Unsicher biss er sich auf die Lippen. "Das unterstützte ich!" Jirou sprang sofort in die Bresche, hob wedelnd beide Hände. "Finde ich sehr gut! Außerdem wird's vielleicht ein bisschen dauern, bis meine Quellen sich wieder melden. Also ich denke auch, du solltest die Zeit hier mit uns nutzen, um dich so richtig fit zu machen!" "Dann... dann vielen Dank!" Fabius verbeugte sich so tief über die Tischplatte, dass eine Kollision zu befürchten stand. Wie Jirou schon zuvor registriert hatte: da war wieder diese ungelenke Zögerlichkeit, wie er zu reagieren hatte! Aber auch etwas anderes wurde ihm bewusst: Fabius wich den forschenden Augen seines Bruders immer öfter aus. Nein, Romantik war hier wirklich nicht zu sehen! <3~~~~ Thomas sortierte im Geiste, während er bügelte, die Erkenntnisse und Beobachtungen, die ihm Jirou zugeraunt hatte. Sie waren zum Teil traurig und zu einem anderen Teil unerfreulich. Sein Findling war Gesellschaft nicht gewöhnt. Das ließ wohl vermuten, dass er auch vor seinem Gedächtnisverlust häufig allein gewesen war. Die Sozialisation, die man hier in einer Schulgemeinde erfuhr, schien sich ebenfalls verflüchtigt zu haben. Was ihm aber sehr viel stärker zu denken gab, waren die Ausweichversuche ihres Gastes. »Habe ich ihm Angst gemacht?« Nun, sein Äußeres mochte wirklich befremdlich wirken, seine Art etwas polterig-ungeschliffen, aber dass sich Fabius vor ihm zu fürchten schien, das traf ihn doch. Was sehr ärgerlich war, verflixt!! Thomas wollte sich nicht gestatten, die Ähnlichkeit von Fabius und Tao wahrzunehmen. Nur für eine Sekunde glauben, Tao stünde wieder vor ihm. Schlafe neben ihm (obwohl sie dazu nun wirklich nicht gekommen waren!). »Keine Schwachheiten, klar?!« Bläute er sich selbst ein. DIESE Ausgabe war kein verflixt hübscher Bengel, der es liebte, wenn man ihm die kurzen Löckchen auf dem Schädel kraulte! Nein, dieser scheue, traurige, verlorene Junge brauchte vielmehr die Gewissheit, dass ihn hier niemand anrührte. »Und überhaupt, spinnst du jetzt ganz?!« Herrschte er sich selbst an, knirschte mit den Zähnen. Wie KAM er auf die bekloppte Idee, Fabius überhaupt anfassen zu wollen?! Seit wann war er denn so peinlich taktophil?! »Als nächstes fängst noch an, Bäume zu umarmen!« Hielt er sich selbst ätzend vor. Nein, das kam gar nicht in Frage! Fabius' Angehörige (wer auch immer) würden aufgestöbert werden, dann er selbst in ihre liebevolle Mitte übergeben. Fertig, aus! <3~~~~ "Oh, er macht das ganz ordentlich." Bemerkte Oumi und sabberte in seine Mentholzigarette. Schon seit Ewigkeiten wollte er aufhören, doch das gelang nicht, weshalb er sich nun streng rationierte. Und glaubte, er könne so sein Laster wenigstens anständig genießen... aber aus unerfindlichen Gründen funktionierte diese Taktik nicht. "Danke, Kumpel!" Jirou klopfte seinem Bekannten anerkennend auf die schmale Schulter. Eine Arbeit für Fabius zu finden war gar nicht so einfach, denn der hatte keine Zeugnisse oder Referenzen vorzuweisen, ebenso wenig einen Lebenslauf. Wenn gar die Sprache auf seine Amnesie kam, dann war jede Bewerbung gelaufen. Deshalb hatte Jirou angeboten, sich mal nach einem Job umzuhören, um Fabius Demütigungen und Misserfolge zu ersparen. Die würde er ohnehin noch oft genug zu spüren bekommen, wenn eine Spur ins Leere lief! Einräumen in einem Supermarkt mochte kein Traumjob sein, aber es gab etwas zu tun und lenkte von den Gedanken an den/die Wartende/n ab. Wer auch immer das sein mochte. »Tom wird auch beruhigt sein.« Dachte Jirou bei sich, als er das Geschäft verließ, um wieder an seine Arbeit zu gehen. Seinem Bruder würde es nicht reichen, bloß die Angehörigen/Freunde/wen auch immer zu finden. Nein, er würde auch dafür Sorge tragen, dass Fabius ein selbstbestimmtes gutes Leben führen konnte. Damit dann alles wieder wie früher würde, wenn das Küken das Nest verließ... aber Jirou bezweifelte stark, dass die alten Verhältnisse wiederhergestellt werden konnten. Nicht, wenn sein Bruder ehrlich mit sich war und seine Gefühle nicht verleugnete. <3~~~~ Wie nicht anders zu erwarten unter Thomas' liebevoll-strengem Hausregiment hatte sich nach bereits einer Woche Zusammenleben eine gewisse Ordnung eingestellt. Ohne Kollisionen nutzte man Badezimmer und Wohnküche, erledigte Hausarbeiten und Besorgungen. Auch wenn Fabius noch als "Springer" eingesetzt wurde und unterschiedliche Arbeitszeiten hatte, so trafen sich doch alle mindestens einmal am Tag, um sich auszutauschen. Besonders gespannt waren sie natürlich auf die Ergebnisse der "Pfadfinder", die Jirou auf die Fährte gesetzt hatte. Am Sonntagabend, bei widerlichem Eisregen und deprimierender Dunkelheit, trafen sie sich gemeinsam in der Küche. Thomas hatte Waffeln gemacht, außerdem noch gebacken, als stünde eine Hungersnot zu erwarten. Na ja, die Feiertage zum Jahresende konnte man durchaus darunter subsumieren. Shinji teilte sich mit Fabius das Tischdecken, während Thomas in geschmeidiger Behändigkeit in seinem Reich operierte. Bei diesem Wetter musste was Feines für die Seele her! Jirou schloss sich ihnen an, sein Mobiltelefon noch zusammenklappend. "Entschuldigt, das dauerte länger, als ich angenommen hatte." Seine ungewohnte Schweigsamkeit während des Essens signalisierte seinen Tafelgenossen, dass er Neuigkeiten hatte und mutmaßlich darüber brütete, wie er sie verkünden sollte. Thomas servierte seine Waffeln mit Kirschkompott und Schlagobers, ließ sich dann demonstrativ nieder und nahm seinen Bruder ins Visier. "Wenn du jetzt mit der Sprache rausrückst, können wir uns wenigstens die Gurgel schmieren, damit's leichter runtergeht." Ließ er ihn wissen. Jirou grimassierte schief, beendete das Zerpflücken einer Waffel und blickte in die Runde. "Tja, ich habe tatsächlich Nachrichten." Er lächelte Fabius an, der unwillkürlich aufrechter saß. "Allerdings sind es nicht viele. Es gibt Nachweise darüber, dass du die Grundschule in Tanohata besucht hast. Und dein Name ist auch auf einer Liste für Schulabschlussprüfungen ohne Schulbesuch. Mit anderen Worten: du hast vermutlich keine Schule mehr besucht, sondern zu Hause gelernt..." Fabius zog die Augenbrauen zusammen, offenkundig bemüht, sich zu erinnern. Jirou fuhr besänftigend fort. "Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass dir manches nicht so vertraut ist. Außerdem gibt es bei der Steuerbehörde einen Eintrag, dass ein Ueda, Kunihito, seit drei Jahren die Grundsteuer nicht mehr bezahlt hat. Für einen ziemlich abgelegenen Flecken ein gutes Stück von der Straße entfernt." Er hielt einen langen Moment inne, um den Gehalt dieser Information sinken zu lassen. Wenn Kunihito Ueda der alte Mann war, bei dem Fabius gelebt hatte, so war dieser schon vor der Katastrophe gestorben. Shinji rückte näher an ihn heran, und selbst aus den Augenwinkeln konnte Jirou erkennen, dass in dem offenen Gesicht seines Liebsten Bestürzung zu lesen stand. "Es gab auch noch einen Eintrag, aber der ist eher mit Vorsicht zu behandeln. In den Polizeiarchiven gibt es eine fast zwanzig Jahre alte Akte zu einer Ueda, Keiko, die aus der Provinz Iwate gekommen ist. Es gab eine Anzeige wegen Trunkenheit und Randalierens in Shibuya. Einer Hostessen-Bar. Die Sache wurde dann gegen eine Geldzahlung eingestellt. Danach gibt's keine Spuren mehr von dieser Frau. Sie könnte ihren Namen geändert haben..." Jirou ließ den Satz ins Leere laufen. Wenn es sich um Fabius' Mutter handelte, würde sie wirklich nicht nach ihm suchen? Oder ein neues Leben beginnen und ihn zurücklassen? Fabius starrte auf seinen Schoß, die Schultern tief hängend. "... ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht..." Krächzte er leise. "Ich weiß nicht, was vorher war. Ich weiß nicht, ob ich diese Leute überhaupt kenne..." In seine Stimme mischte sich aufkeimende Hysterie. "Das hat nichts zu bedeuten." Grollte Thomas, drückte ihm demonstrativ eine Schulter. "Der Name Ueda ist ja nicht gerade selten. Sich zu zwingen bringt nichts. Hier!" Er langte in seine Hosentasche und produzierte ein hübsch eingebundenes, kleines Notizbuch und einen zierlichen Stift. "Schreib dir einfach auf, was dir einfällt, wenn du daran denkst, wer auf dich wartet. Und wir überlegen uns inzwischen gemeinsam, ob wir nicht noch mal eine Anzeige für dich aufgeben. Das kann ja nie schaden!" Fabius nickte zittrig Konsens, presste Notizbuch und Stift nach einem heiser gekrächzten Dank an seine Brust. Er wirkte erschöpft, das Gesicht eingefallen, als habe ihn die Anstrengung, sein Gedächtnis wiederzufinden, sehr ausgezehrt. Jirou warf seinem Bruder einen auffordernden Blick zu. Sollte er ruhig die Regie übernehmen, dann würde Fabius vielleicht seine Reserve ihm gegenüber aufgeben! <3~~~~ "Ich glaube, du erwartest, dass ich sage 'da ist was faul'." Brummte Thomas nach einem gemeinschaftlichen aber angespannten Schweigen in ihrem Gewächshaus. Wo sie so taten, als konzentrierten sie sich schlicht auf das Bergen der gewaschenen Bettwäsche. Jirous tiefschwarze Augen funkelten für einen Augenblick amüsiert, in seinen Mundwinkeln tanzte ein schelmischer Schalk. Dann jedoch wurde seine Miene ernst und auch ein wenig bekümmert. "Ich habe so eine Ahnung..." Antwortete er seinem Bruder durchaus ein wenig unbehaglich. "Und ich bin nicht blöde!" Knurrte Thomas grantelig, die Augenbrauen knitterten heftig auf der sturmumwölkten Stirn, während er recht energisch an Bettlakenzipfeln zerrte, um sie zu glätten. "Da IST was faul." Bestätigte er unerbittlich, was bei Jirou spontan einen erleichterten Seufzer produzierte. "Tsk!" Grollte Thomas entsprechend, lupfte eine Augenbraue kritisch. "Würdest du wohl damit aufhören, auf Samtpfoten um mich herumzuschleichen? Mir geht's gut, und die Wahrheit vertrage ich allemal!" »Tja...« Dachte Jirou, während er den Kopf leicht schief legte. »... mir wäre ein wenig wohler, wenn du dir ein bisschen Liebeskummer gestattetest, Tom.« Aber es verbat sich selbstredend, diesen frommen Wunsch auszusprechen. Tom war nun mal entschlossen, ein tapferer, unerschütterlicher Recke zu sein! Was hatte ER da zu bestellen?! "Es gibt noch mehr." Antwortete er stattdessen auf die Herausforderung, lehnte sich außerhalb des Gewächshauses bei eisiger Nachtluft neben seinen Bruder an das Geländer der Brüstung. "Aha." Knurrte der grimmig. So etwas hatte er schon geahnt. "Ich wollte es nicht vor den anderen sagen, weil es noch nicht definitiv ist." Jirous Stimme klang ruhig und gefasst. "Mein Kontakt eruiert noch, wann zuletzt die Rente abgeholt wurde. Dieser Ueda hatte nämlich keine Bankverbindung, keine Kreditkarte, auch kein Mobiltelefon. Er muss also seine Mini-Rente als Bauer monatlich abgeholt haben, in bar. Auf dem Land ist das gar nicht mal so unüblich." Ergänzte er auf den irritierten Blick seines Bruders hin. "Ich nehme mal an, dass diese Information etwas schwieriger zu ermitteln ist." Bemerkte Thomas äußerlich kühl, aber die angespannten Sehnen unter seinem roten Bart arbeiteten sichtlich. "Und dann werden wir möglicherweise erfahren, dass auch die Rentenzahlungen nicht ganz zur Lage passen, was?" Jirou zuckte mit den Schultern, denn noch spekulierten sie bloß. Aber der Verdacht lag nahe: wenn der alte Mann seine Grundsteuerschuld nicht mehr beglichen hatte, musste davor auch die Rente nicht mehr gezahlt worden sein. Und wenn doch... dann musste man sich fragen, wer sie abgeholt hatte. "Da ist noch Einiges im Busch." Thomas knurrte diese Feststellung, starrte geradeaus, die Fäuste geballt. "Ich merke es auch. Wenn ich ihn abhole, im Supermarkt." Ein erneuter Seufzer entschlüpfte Jirou, weil er sich einer weiteren unangenehmen Pflicht entledigt sah. Als Profi vertraute er selbstredend auf seine Beobachtungsgabe, doch es war eine ganz andere Sache, die Schlussfolgerungen dem eigenen Bruder vorzutragen, der sich noch immer im "Beschützer"-Modus befand! "Mein Freund sagt, er arbeitet sehr gut, ist verständig, fleißig und sehr anstellig. Vor allem einfallsreich. Geschickte Hände. Seltsam wird's eben nur, wenn andere dabei sind..." Jirou studierte das Profil seines Bruders, der merklich mit den Zähnen knirschte, was nicht einmal der Bart verbergen konnte. Also war Thomas diese Merkwürdigkeit auch nicht entgangen! "Seine Körpersprache stimmt nicht ganz. Er reagiert immer einen Tick zu zögerlich, zu unsicher. Da wollen die hübschen Frauen mit ihm flirten, aber er... versteht das nicht. Er hat Probleme damit, die unausgesprochenen Botschaften zu verstehen..." "Ich denke, er hat nicht gelernt, mit anderen Menschen zu interagieren, wie es so schön heißt." Unterbrach Thomas düster. "Und ich vermute, dass ein Grund darin liegt, nach der Grundschule nicht mehr zur Schule zu gehen. Was hat er gemacht? Und wieso hat er sich später zur Prüfung angemeldet? Was ist in den Jahren dazwischen geschehen? Wieso hat niemand diesen Jungen vermisst, in dieser Gegend, wo es ja wirklich nicht so viele 'Ausländer' geben sollte?!" Jirou zog die Schultern hoch, weil Thomas' Bass sich unwillkürlich in Dynamik und Lautstärke gesteigert hatte, einer Anklage glich. "Ich vermute..." Kommentierte er den Ausbruch seines Bruders bedächtig. "... dass er wahrscheinlich sehr isoliert gelebt hat. Nicht viel Kontakt hatte." "Anzunehmen, wenn den Leuten nicht mal auffällt, dass dieser alte Ueda nicht mehr auftaucht." Grummelte Thomas zornig. "Willst du, dass ich mit den Nachforschungen aufhöre?" Jirou richtete sich auf, beobachtete den breiten Rücken seines Bruders. Dessen Wut richtete sich nicht gegen ihn, das wusste er sehr wohl, aber hier und jetzt wollte er eine Entscheidung. Wahrheit oder Wunschdenken. "...mach weiter." Schnaubte Thomas kaum hörbar, bevor er seine großgewachsene Gestalt straffte und sich zu ihm umwandte. "Ich übernehme die Auslagen." "Da gibt's keine..." Wollte Jirou abwehren, doch Thomas schnitt ihm mit einer abrupten Bewegung das Wort ab. "Unsinn! Werd jetzt nicht sentimental, Jirou! Ich erwarte, dass der Profi MIR hilft. Denn ich kann Fabius nur helfen, wenn ich weiß, gegen wen und was ich antreten muss." Jirou schnitt eine Grimasse, nickte aber artig. Klar, Thomas war ja im Finsterer-Helden-Recken-Modus! Und wenn es gegen den Kummer half... <3~~~~ Thomas sah die Post durch und sortierte Rechnungen aus, während Fabius artig mit dem Professor am Telefon sprach. Hörte man ihnen zu, konnte man glatt annehmen, dass sich Fabius' Zustand aufgrund der neuen Situation mit Heim, Job und Freunden sehr verbessert hatte. Aber das entsprach, zumindest nach Thomas' grollendem Empfinden, nicht der Wahrheit. Zum einen, weil er sich zwang, kalt und nüchtern die Fakten zu sehen und Rückschlüsse zu ziehen. Zum anderen... er ärgerte sich über sich selbst, ballte die Fäuste und gebot sich unerbittlich, zunächst ihre Außenstände zu begleichen, bevor er sich zerfleischte. Weil er wütend war. Obwohl er nicht wütend zu sein hatte! Es hatte ihn nicht mal zu wurmen, verflixt! Doch das tat es. Und zwar gewaltig. Manchmal musste er sich sogar abrupt abwenden, damit ihm nicht etwas entschlüpfte, das seine Gefühle verriet. Nicht nur Wut. Schlimmer noch, auch Neid! Wenn Fabius mit Shinji zusammen werkelte, wirkte er entspannt. Wenn Jirou mit ihm schwatzte und Albernheiten trieb, lachte er sogar schüchtern. »Bloß bei mir...« Wieso fürchtete sich Fabius vor ihm?! Dabei war doch Jirou der Profi in Sachen "Aufspüren"! Aber in seiner Gegenwart wahrte Fabius stets Distanz, wich seinen Blicken aus, sprach nur zögerlich! Thomas WOLLTE nicht wütend sein! Das war lächerlich und unwürdig! Die Sache war doch denkbar einfach: herausfinden, was los ist, Bursche aufpäppeln und wieder in die freie Wildbahn entlassen! Herrschaftszeiten, wie schwer konnte das sein?! »Wenn man sich natürlich dauernd selbst ein Bein stellt...« Ätzte er sich selbst an. Selbstredend konnte man nicht von der Hand weisen, dass Fabius Tao äußerlich zum Verwechseln ähnelte. Gut, Fabius war ein wenig größer und kräftiger, und in Thomas' Gegenwart bewegte er sich so ungelenk und statisch wie ein schlecht geölter Roboter, doch Haltung, Ausdruck, Erscheinung... »Er ist weg, und damit Schluss!« Allein, diese kategorische Ermahnung änderte nichts an seinem stolpernden Herzschlag und seinem rumorenden Magen. Noch weniger schmeichelhaft als die nutzlose Nostalgie erschien ihm jedoch der Anflug, mehr über Fabius herauszufinden, um sich selbst zu kurieren. Um sich selbst vorzuhalten, dass er auf einen Hochstapler, einen Kriminellen, einen Lügner reinfiel! Alles auch noch vor sich selbst hübsch abgepackt mit der Behauptung, er wolle Fabius helfen, seine Erinnerung zu rekonstruieren... haha! Thomas konnte sich selbst nicht leiden. Und wusste nicht, wie er den Kampf mit sich selbst aufnehmen sollte, ohne dass andere ihm auf die Schliche kamen. <3~~~~ Er wartete den Augenblick ab, da Fabius die Badezimmertür hinter sich schloss. Das Mobiltelefon in der mächtigen Hand kletterte Thomas ins Gewächshaus und wählte die Nummer. "Guten Abend, Herr Professor Doktor Kurami! Hier ist Höflbaur aus Tokio. Thomas." Ergänzte er höflich. "Nein, es ist nichts passiert, keine Sorge. Mir ist nur vorhin etwas eingefallen, und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht behilflich sein. Es geht uns ja auch darum, Fabius... Ueda sein Gedächtnis wiederzubringen." "Oh, das ist sehr nett von Ihnen! Ja, dann lege ich doch mal los: können Sie sich daran erinnern, wie Ueda damals bei Ihnen ankam? War er verletzt? Hat er gesprochen?" "Hmmm... verstehe. Selbstverständlich, gar keine Frage, es gab ja so viele Opfer. Also, äußerlich gab es keine Anzeichen für eine Verletzung? Nur schmutzig, sehr erschöpft und unruhig? Aha." "Also, wenn ich das richtig begreife, scheint seine Amnesie eher etwas Psychisches zu sein, richtig?" "Wann genau hat er angegeben, dass er vermisst wird bzw. jemanden sucht?" "Oh... aha. Kaum etwas gesprochen... das notiere ich mir. Sagen Sie, ist Ihnen aufgefallen, dass Ueda im Umgang mit anderen Menschen etwas... gehemmt ist?" "Hmm...ja, ich habe Aufnahmen gesehen. Tragisch." "Ja, bestimmt werde ich mich melden, wenn wir Erfolge zu verzeichnen haben! Ich danke Ihnen sehr!" "Auch Ihnen einen guten Abend!" Thomas unterbrach die Verbindung, starrte auf die wenigen Notizen, die er sich gemacht hatte. Wäre gewettet worden, so hätte er eine nahezu 100%-ige Erfolgsquote erreicht. So langsam setzten sich in seinem Kopf die Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammen. Hier und da fehlten noch Stücke, aber auch sie würde er schon noch zusammentragen! Gedämpft hörte er seinen Bruder nach ihm rufen, doch Thomas stellte sich taub. Er wollte noch eine Weile auf dem Dach, außerhalb des Gewächshauses, stehen, sich vom eisigen Wind durchpusten lassen und nachdenken. Jede Aktion hatte Konsequenzen, und er würde einen sehr kühlen Kopf benötigen, wenn ihm nicht alles um die Ohren fliegen sollte! <3~~~~ Jirou merkte allein an Fabius' Körpersprache schon, dass etwas im Busch war. Der Springinsfeld war noch grün hinter den Löffeln und verfügte über keinerlei Raffinesse, seine Anspannung zu verbergen! Das war, in gewisser Weise und neutral geurteilt, wirklich niedlich. Andererseits, da konnte Jirou sich selbst nicht täuschen, bedeutete es wohl, dass Fabius sich ihm anvertrauen wollte. Und nicht Thomas. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, die meisten Menschen hatten, -vollkommen zu Unrecht!-, Manschetten vor seinem großen Bruder. Aber in diesem Fall... wollte Jirou nicht zwischen den Fronten landen! Nicht die grimmig unterdrückte Kränkung in den schwarzen Augen aufblitzen sehen, bevor sein Bruder sich wieder unerbittlich in der Gewalt hatte. Und noch düsterer dreinschaute als ohnehin schon in der letzten Zeit. Er seufzte lautlos, als Fabius ihm wieder einen scheuen Seitenblick zuwarf. Sich über die Lippen leckte, die ineinander verschränkten Finger auf seinem Schoß rang. Nein, es sah nicht so aus, als könne er dieser Zwangslage entkommen! "Jirou..." Fabius holte tief Luft, äugte unruhig zur Tür, ob sich nicht doch wie ein Schachtelteufelchen urplötzlich Thomas dort materialisierte. "Entschuldige... darf ich dich wohl etwas fragen?" »Bange, scheu, ungelenk und ein wenig steif, als rezitiere er ihm fremde Texte, Anweisungen für das Überleben in einem unbekannten Landstrich...« Jirou unterbrach schicksalsergeben seine spontane Analyse. "Sicher, nur heraus damit!" Markierte er eine Ungezwungenheit, die er nicht verspürte. "Ja... danke." Fabius schluckte nervös, holte tief Luft, sammelte sich. "Also ich... ich würde gern wissen..." Rasch hob er den Kopf, als sei ihm gerade erst eingefallen, dass man seinem Gegenüber ins Gesicht zu blicken hatte, wenn man eine Bitte an ihn richtete. "Ich möchte bitte gerne wissen: wer ist Tao?" Jirous Unterkiefer löste sich spontan und hängte sich eine Etage tiefer aus. "Ärgks..." Entschlüpfte ihm überrumpelt, denn DIESE Frage hatte er nicht erwartet. In seinem Hinterkopf kommentierte eine wachsame Stimme jedoch entschieden. »Vorsicht, Kamerad! Der Jungspund hier ist vielleicht nicht ganz so unbedarft, wie er sich gibt!« Und diese Erkenntnis half dem Unbehagen überhaupt nicht ab! <3~~~~ Es gab viel zu tun, mit großen Schritten näherte sich das Jahresende. Sie hatten alle genug Arbeit zu erledigen, die gemeinsame Zeit reduzierte sich, die Gespräche wurden weniger, die Mienen angespannter, die Gesichter blasser. Dezember-Blues hatte keine Chance gegen Dezember-Stresshorror! In diese aufgeheizte Atmosphäre schlug die Nachricht, ein Mann habe sich auf Fabius' Suchanzeige hin gemeldet, wie eine Bombe ein. Entgeistert starrte Fabius auf die Telefonnotiz, die Shinji eifrig, die Bäckchen rot, für ihn angefertigt hatte, da er allein zugegen war, als der Anruf einging. Der Mann erklärte, er sei oft beruflich auf der 45 nach Fudai unterwegs gewesen und glaube, sich an ihn zu erinnern. Und könne ihm möglicherweise auch etwas über seine Familie sagen. "Das ist doch toll, oder?" Shinji strahlte euphorisch, was seine chronische Übermüdung befeuerte. "Nach so langer Zeit endlich ein Hinweis! Ich freue mich für dich, Fabius!" "Tatsache..." Bemerkte Jirou distanziert. "Das kommt wirklich überraschend. Die Geographie zumindest ist plausibel..." Zumindest wenn man davon ausging, dass Fabius sich nicht mehr an den EXAKTEN Ort erinnerte, wo er gelebt hatte. Thomas schwieg, aber seine Augen ließen Fabius keinen Wimpernschlag aus ihrem Fokus. "Also... das ist wirklich eine Überraschung!" Bemühte sich der Jüngste in ihrer Runde um Begeisterung. "Ich wagte schon kaum mehr zu hoffen... ich sollte mich gleich morgen bei ihm melden, oder?" "Unbedingt!" Shinji wippte auf und nieder vor Enthusiasmus. "Stell dir vor, du findest noch in diesem Jahr deine Familie wieder!" Jirou, der seinerseits die Reaktionen seines Bruders beobachtete, konnte trotz des maskierenden Bartes eine Verhärtung in den Zügen identifizieren. Innerlich knirschte Thomas vermutlich gerade heftig mit den Zähnen. »Und wahrscheinlich ist er nicht unbedingt erfreut darüber, dass ich Shinji nicht eingeweiht habe...« Aber er konnte es nicht übers Herz bringen, seinen schüchternen Liebsten mit Unkenrufen und finsteren Andeutungen zu entmutigen. Zudem, das musste man auch ins Kalkül ziehen, zeichnete sich Shinji durch viele Qualitäten aus, doch ein Pokerface zu wahren zählte definitiv nicht dazu. "Ich werde nach der Wäsche sehen." Unvermittelt erhob sich Thomas von ihrer Tafel. "Wir sollten es auch für heute gut sein lassen. Ist schon spät." Seine brüsken Ermahnungen vertrieben die Anflüge freudiger Erregung gründlich. Nach dürren Worten trennten sich auch die übrigen drei von der plötzlich so ungemütlich bedrückenden Wohnküche. <3~~~~ "Er will sich also mit dir treffen." Rekapitulierte Thomas donnernd die Botschaft. "Aber dafür sollst du ihm das Fahrgeld vorstrecken?!" "Das... das hat er gesagt. Er ist arbeitslos..." Fabius krümmte sich förmlich unter dem flammenden Blick der tiefschwarzen Augen. Die roten Augenbrauen des älteren Mannes knisterten, als könnten sie Funken sprühen. "Aha. Und was hast du nun vor?!" Thomas grollte wie der Göttervater Zeus persönlich. Üblicherweise hätte er Ruhe bewahrt, sich um Haltung bemüht. Doch seit dem Aufstehen schienen sich die Elemente und alle anderen gegen ihn verschworen zu haben. Es gewitterte und toste, die Tiere, die er schlachten sollte, waren ängstlich, nervös und wehrten sich. Die Kundschaft drängelte und nörgelte ungewohnt aggressiv, ein Wolkenbruch jagte den nächsten, und nun hatte er Fabius auch noch "allein" beim Telefonieren ertappt. "Wenn dieser Mann etwas weiß..." Verteidigte sich Fabius verschreckt. "...dann..." "Oh, dann willst du ihm mal eben deine gesamten Ersparnisse in den Rachen werfen, oder was?!" Kollerte Thomas los. "Na, das ist ja mal eine FEINE Lösung!" "Ich... ich versuche nur die Person zu finden..." Fabius wich vor ihm zurück, sichtlich nervös. "Humbug!" Polterte Thomas unbeherrscht in voller Lautstärke, die mächtigen Fäuste geballt. "DU weißt genau, dass der Typ dir garantiert nicht helfen will!" Dieser Vorwurf trieb Fabius noch weiter von Thomas weg, der die Distanz des Tisches zwischen ihnen zu überbrücken versuchte. "Mach endlich reinen Tisch, Fabius!" Forderte er mit unvollkommen gedämpftem Gebrüll. "Du verstehst das nicht!" Schrie der zurück, die Hände spiegelgleich zu Fäusten geballt. "DU hast eine Familie und Freunde! Ein richtiges Leben!!" "Ich verstehe nur, dass DU dabei bist, dir dein Leben zu verbocken!" Thomas zahlte zornig zurück. "DAS ist dein Problem! Wenn du wirklich hier leben willst, dann erinnere dich gefälligst!" "Ich KANN nicht!" Fabius' Stimme zitterte, aber er reduzierte seine Lautstärke nicht um ein Dezibel. "Ich erinnere mich nicht!" Thomas schnaubte aufgebracht. "Tja, wenn das so ist!" Schnippisch ergänzte er. "Dann solltest du dir aber darüber im Klaren sein, dass jemand ohne Vergangenheit hier auch keine Zukunft hat!" Fabius wurde weiß. Eine kleine Ewigkeit starrte er Thomas mit halb geöffnetem Mund wie erstarrt an, dann machte er kehrt und stürzte aus der Wohnküche. Augenblicke später rummsten zwei geballte Fäuste mit aller Kraft auf die schwere Arbeitsplatte und jagten ein schmerzhaftes Summen bis hoch in die verspannten Schultern ihres Besitzers. <3~~~~ "Hast du das Gewächshaus verbarrikadiert?" Jirou wischte sich durch die tropfnassen Locken, das aparte Gesicht von eisigen Regenschauern gerötet wie nach einer groben Massage. "Ich habe schon das Wasser im Bad geheizt und alle Notvorräte kontrolliert." Meldete sich Shinji zu Wort, der bereits in einen gefütterten Hausanzug geschlüpft war. Thomas knurrte etwas in die große Kasserolle, die er gerade befüllte, zerrte sich das Küchenhandtuch aus dem Schürzenband und feuerte es zerknüllt auf die Arbeitsplatte. Jirou lupfte besorgt eine Augenbraue. "Lass nur, ich mach's..." Denn nass war er ja ohnehin, da konnte er auch noch aufs Dach steigen und die Vorkehrungen treffen. "Bemüh dich nicht!" Ätzte Thomas im Bass, stampfte missmutig an ihm vorbei. "Was ist denn hier los?!" Jirou verfolgte die mächtige Gestalt seines Bruders mit ärgerlich-besorgtem Blick. Wandte sich dann ratsuchend Shinji zu, der hilflos von einem besockten Fuß auf den anderen tappte. "Ich glaube... vielleicht..." Stammelte er bange. "Wegen Fabius..." "Immer noch?!" Wütend schüttelte Jirou den Kopf. Dieser Unsinn ging jetzt aber zu weit! Seit dem gestrigen Abend herrschte Funkstille. Am Morgen hatte Thomas kein Wort gesprochen, sondern sich abweisend und kotzbrockig zur Arbeit verabsentiert. Das war kindisch und ganz sicher nicht typisch für seinen Bruder! "Ich werde dem Quatsch ein Ende bereiten." Verkündete er entschieden. "Shin, ist Fabius schon zurück?" "Ich weiß nicht." Shinji rieb sich über die Oberarme, die angespannte Atmosphäre ließ ihn frösteln. "Ich habe ihn nicht gesehen. Vielleicht ist er in ihrem Zimmer?" "Hmm." Murmelte Jirou beunruhigt. Im Schlafzimmer verbrachten die beiden wirklich nur Zeit, wenn sie sich aufs Ohr legten. Ansonsten, auch ohne Streit, wurde eine beinahe lächerliche Distanz gewahrt. Energisch erkletterte er das obere Stockwerk, klopfte und trat in das Zimmer seines Bruders ein. Es war dunkel und verwaist. Jirou zückte sein Mobiltelefon, lächelte Shinji dankbar an, der ihm ein Handtuch reichte, wenigstens den überlangen Schopf zu frottieren. "Oumi? Hier Jirou! Ja, verdammter Taifun! Sag mal, ist Fabius... ist Ueda noch bei dir?" "Schon gegangen? Wann?!" "Nein, hier ist er nicht! Ich habe schon gelesen, dass sie einige Strecken stilllegen und die Bahnhöfe dicht machen!" "Ja, das kann gut möglich sein. Danke, und pass auf dich auf, Oumi!" Shinji, der dem Telefonat zugehört hatte, schrumpfte in sich zusammen. Jirous grimmige Miene trug nicht zur Beruhigung bei. Über ihnen polterten schwere Schritte. Thomas hatte seine Sicherungsmaßnahmen routiniert beendet. "Tom, wir haben ein ernstes Problem." Unerschrocken stellte sich Jirou seinem verstockt knurrendem Bruder in den Weg. "Fabius ist verschwunden." <3~~~~ "Dieser verdammte Idiot!" Brüllte Thomas gegen den aufpeitschenden Wind. Der Taifun vertrieb Mensch und Tier von den Straßen, überall waren Polizisten und Sicherheitskräfte damit beschäftigt, Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Stromleitungen, Gasanschlüsse, Werbetafeln, Ampel- und Schilderanlagen, Beleuchtung, Äste... alles konnte zu einer Gefahr werden! Wenn das nicht reichte, dann musste man sich bloß an die zahlreichen Brandkatastrophen erinnern, die mehr als einmal die Metropole in Schutt und Asche gelegt hatten. Thomas war jedoch nicht in der Stimmung, sich von einem Taifun mit Orkanstärken aufhalten zu lassen. Er war über alle Maßen zornig. Weil Fabius sich verdrückt hatte. Weil er sich ihm nicht anvertraut hatte. »Und weil DU ihn in die Enge getrieben hast!« Warf er sich selbst vor. Sein Brustkorb schnürte sich ein, doch in seinem Inneren brüllte ein waidwunder Schmerz in größter Pein auf, wälzte und wand sich vor Qual. Mit beiden Fäusten schlug er sich gegen die Brust, trotzte sein Vorwärtskommen dem Sturm ab. Er würde Fabius finden. Und dieses Mal würden ihm keine Mondhasen dazwischenfunken! <3~~~~ Es war der kürzeste und nächste Weg vom Supermarkt zum Meer. Er selbst hatte ihn Fabius gezeigt. Auf einer Insel konnte man auf Dauer dem Wasser nicht aus dem Weg gehen. Die Uferpromenade war weiträumig abgesperrt, meterhohe Wellen klatschten trotz der zahlreichen Wellenbrecher auf die Kais. Die aufgewühlte See rannte wie ein tollwütiges Tier gegen das Land an, noch befeuert vom eisigen Sturm. "Da können Sie nicht weiter! Gehen Sie zurück!" Ein Polizist in Regenkombination hatte Mühe, ihn anzusprechen, weil ihm der Wind die Worte von den Lippen riss. Thomas aber sah nur die vertraute Gestalt an der schwankenden Brüstung stehen, mitten in der Gefahrenzone und offenkundig von den Sicherheitskräften nicht beeindruckt. Die mussten sich schon mit Sicherheitsleinen bewegen, konnten nicht wagen, den offenkundig geisteskranken Ausländer, der wie gebannt auf das nasse Inferno starrte, zu überwältigen. Würde der nämlich die Brüstung loslassen, wäre es das Ende. Er würde fortgespült werden, ohne Aussicht auf Rettung. "Ich hole ihn!" Donnerte Thomas gegen den Taifun, ignorierte die Polizisten, die ihn abzudrängen versuchten. "Verdammt noch mal, ich spreche seine Sprache!" Das zog, vermutlich deshalb, weil sein struppiger Bart und die gewaltige Gestalt ihn als Fremden kennzeichneten. Ungehindert kämpfte er sich Schritt für Schritt voran, über schlüpfrigen Grund, dem tobenden Meer entgegen. Als er Fabius erreichte, registrierte er beiläufig, dass der junge Mann vollkommen durchnässt war, das Gesicht rot vor Kälte. Mit einem verzückten Ausdruck verunziert, der von der Faszination kündete, die selbst einen grauenvollen Untergang in Mutter Naturs mörderischem Schlund verführerisch wirken ließ. "Komm!" Brüllte er, doch Fabius hörte ihn nicht, war jenseits aller vernünftigen Appelle. Vielleicht auch schon zu starr von der Eiseskälte, die ihn paralysiert hatte. Thomas riskierte einen waghalsigen Blick auf das Wellenmeer. Die gewaltigen Wogen schaukelten sich auf, für einen Moment weichend. Er wusste, dass dieser trügerische Augenblick nichts Gutes verhieß. Denn umso mächtiger und gewaltiger würden sie sich mit der nächsten Amplitude wie bei einem Pendel auftürmen. Es galt keine Zeit mehr zu verlieren! Mit einem wuchtigen Schlag in den Solarplexus fällte er Fabius förmlich. Löste mit brachialer Gewalt dessen gefühllose, wund gefrorenen Hände von der Brüstung und ging in die Knie, damit er sich den jungen Mann über die Schulter werfen konnte. Jeder Schritt kostete ihn große Anstrengung. Er konzentrierte sich aufs Äußerste, nicht zu stürzen, zu rutschen oder ins Straucheln zu kommen. In seinen Ohren toste die heranrasende Woge, ein Sirenengesang, der ihn lockte, sich umzukehren, nur einen Augenblick zu zögern und damit sein Verderben zu besiegeln. Thomas kannte das Alte Testament. Er würde nicht zur Salzsäule erstarren. Und er würde auch nicht in der Unterwelt bleiben. Es käme wohl keiner, ihn mit einer Melodie aus dem Inferno zu retten und die Götter zu becircen. Er schaffte es bis zu einem Stützpfeiler, dann rammte ihn eine Woge wie ein Schnellzug, säbelte ihm förmlich die Beine weg. Fabius an sich gepresst, die mächtigen Armmuskeln angespannt umklammerte er mit aller Kraft den ächzenden Pfeiler, der selbst schwankte. Jede Sehne, jeder Strang schmerzte unerträglich, er konnte nicht anders, als gegen die Pein anzubrüllen. Nur nicht loslassen! Die Woge zog sich zurück für die nächste Attacke. Thomas brach in die Knie, die Beine zitterten ihm so sehr. Er kroch unbeirrt auf die Sicherheitsabsperrung zu, einen Arm als Stütze, mit dem anderen Fabius' ohnmächtigen Leib umklammernd, der über seinem Rücken zu einer zentnerschweren Last wurde. Die Rettung vor Augen, fest auf die Sicherheit konzentriert, nach Luft ringend arbeitete er sich voran. Zwei mutige Männer überstiegen die Absperrung, mit Leinen gesichert, kamen ihm in letzter Sekunde zur Hilfe, sodass sie zu viert der Wut des Taifuns ausgesetzt waren. Dann hieß es, sich zurückzuziehen, auch die Sperren wurden nach hinten verlegt. Thomas taumelte, schleppte sich mit Fabius weiter. Er wusste, dass hier keine Rettungsfahrzeuge warteten, die Zufahrten waren blockiert, die Böen konnten die Wagen wie Kinderspielzeug umkippen. Heißes Blut lief ihm aus der Nase, er spuckte unmanierlich, um sich nicht zu verschlucken. Fabius rührte sich nicht, aber das schien zumindest in der augenblicklichen Lage die bessere Alternative. Notbeleuchtung, Spruchbänder mit Warnungen, dann akute Dunkelheit, als ein Kurzschluss die Stromzufuhr unterbrach... keine Züge, keine Busse mehr. Thomas stabilisierte seine Last. Längst war ihm warm, obwohl seine Körpertemperatur gefährlich niedrig war. »Wie im Schnee.« Rang er mit seinen trägen Gedanken. »Einschlafen bringt den Tod!« Deshalb musste er funktionieren. Wie ein Uhrwerk. Bloß nicht innehalten, stehenbleiben, ausruhen! Es würde eine sehr harte halbe Stunde bis nach Hause werden. <3~~~~ Jirou tigerte unruhig auf und ab, obwohl er sich für diese mangelnde Disziplin Vorwürfe machte. Dennoch, einfach sitzen und abwarten, das KONNTE er nicht! Ein Ameisenheer marschierte unter seiner Haut, kribbelte und krabbelte, löste Energiefunken aus, die seine Sehnen und Nerven nur bewältigen konnten, wenn er ihnen Freiraum zum "Abfeuern" gab. Und eben wie eine Raubkatze im Käfig hin und her rannte. Shinji saß zusammengekauert, die Knie vor den Leib gezogen, auf der Küchenbank, zutiefst betrübt und gleichzeitig übermüdet. Immer wieder sackte sein Kinn auf die spitzen Kniescheiben, dann richtete er sich hastig mit einem Ruck auf. Jirou dauerte dieses Ungemach, doch er brachte es nicht über das Herz, Shinji wie ein ungezogenes Kind ins Bett zu schicken. Das hieße nämlich, ihn auszuschließen. Etwas, das nie wieder passieren sollte, wie er sich geschworen hatte. Das Licht in der Laterne flackerte leicht, ums Haus jaulte und heulte eine Sturmböe nach der nächsten. Immer mal wieder schlug heftig etwas gegen die Wände, ließ sie unisono zusammenzucken. "Das wird schon." Wiederholte Jirou mit gezwungenem Lächeln, zerstrubbelte Shinji beim nächsten Umlauf den Schopf. "Das alte Häuschen hier ist zähe!" Shinji markierte im Laternenschein ein forciertes Lächeln, Manifestation ihrer beider Hilflosigkeit. Just in diesem Augenblick polterte etwas vehement gegen die Eingangstür. Wiederholt, drängend. Dann erklang ein blechernes Scheppern. "Tom!" Blitzartig machte Jirou kehrt, eilte zum Eingang, entriegelte die Tür. Er hatte Mühe, den Türflügel zu kontrollieren unter der Gewalt des Taifuns. Shinji, der ihm eilends gefolgt war, hatte die Geistesgegenwart besessen, die Laterne mitzubringen und leuchtete nun in die tobende Nacht. In der Tür lehnte Thomas, klatschnass, blutend und mit pfeifenden Geräuschen nach Atem ringend. Sein linker Arm umklammerte Fabius wie eine eherne Fessel, hielt ihn an sich gedrückt und aufgerichtet. Hinter ihnen drehten die Räder eines einfachen Drahtesels ins Leere, doch schon zerrte und schubste der Sturm das gefallene Gefährt Richtung Straße. "Schnell!" Jirou packte Thomas' rechten Arm, dirigierte ihn über die Schwelle. "Shin, leuchte!" Nachdem er mit großer Anstrengung die Tür geschlossen und verbarrikadiert hatte, wollte er seinem Bruder den offenbar besinnungslosen Fabius abnehmen, doch Thomas' linker Arm löste sich nicht einen Millimeter. Shinji kniete vor ihnen, löste die Schuhe ab, erhob sich dann und überließ Jirou die Laterne. "Ich zünde die Lampen zum Bad an!" Flink und recht sicher sockte er in die Dunkelheit, dann die Treppe hinauf. "Das Wasser müsste noch heiß sein." Jirou leuchtete ihnen. "Ich werde gleich auch den Notstromaggregat anwerfen..." "...Handtücher..." Krächzte Thomas hinter ihm, schleppte Fabius wie eine Flickenpuppe an seiner Seite die Stufen hoch. "... Verbandskasten..." "Bringe ich alles ins Bad!" Versicherte Jirou, zögerte kurz, seinen Bruder mit Fabius allein zu lassen. Doch Shinji hatte bereits sämtliche Laternen illuminiert und Handtücher ausgelegt, dazu frische Wäsche. Thomas hustete kolkend, in seinem Brustkorb rasselte es unheilverkündend. Es tat weh, ebenso wie jedes Fetzchen Haut, das nun nicht mehr der beißenden Kälte ausgesetzt war. Die plötzliche "Windstille" war erstickend. Ungelenk ließ er Fabius auf die Fliesen gleiten, lehnte sich selbst an die gekachelte Wand. »Augen auf!« Warnte er sich gnadenlos. »Du hast zu tun!« Solange er sich bewegte, würden die Lider nicht sinken. Würde er nicht auf der Stelle in sich zusammenfallen und einschlafen. "Hier habe ich..." Jirou, der flink herbeieilte, blieb abrupt in der Tür stehen. Thomas wandte ihm den Kopf zu, blinzelnd, nur milde interessiert. Das bedeutete ihm, dass die Zeit knapp wurde. Er "im Schnee einzuschlafen" drohte. "Oh verdammt..." Flüsterte Jirou entsetzt, hob sich dann auch die Linke vors Gesicht, mit der er seinen Bruder gestützt hatte. Sie war nass von Blut. "...oh..." Murmelte Thomas, richtete sich mühsam auf und stöhnte schmerzerfüllt, als seine Muskeln und Sehnen ihm ihre Antwort präsentierten. "Hat mich was getroffen..." Die dunkle, nun an den Leib geklebte, nasse Kleidung hatte es zunächst verborgen, doch im Licht konnte Jirou erkennen, dass sein Bruder mehrere, tiefe Schnittwunden erlitten hatte. "Oh verdammt..." Wiederholte er erstickt, den Tränen nahe. "Isolierband." Kommandierte Thomas mit splitternder Stimme. "Mundwasser. Brühe aus der Thermoskanne. Schere. Und die scharfe Soße!" Jirou rang um Fassung, hinterfragte die Anforderungen jedoch nicht, sondern eilte los, um das Gewünschte zu besorgen. Shinji, der sich tapfer ins Bad wagte, wurde sogleich damit beauftragt, Kopfschmerztabletten zu servieren. Die Thomas ohne viel Federlesen in Fabius' Kehle zwang, bevor er sich selbst versorgte. "Mehr Handtücher!" Bellte er heiser, entwand seinem schockierten Bruder die Schere und säbelte mit ungelenken Händen, wund und blutig, zitternd vor Schmerzen, Fabius die nassen Kleider vom Leib. "Trocken reiben und massieren." Kommandierte er Shinji, winkte Jirou heran, eine Salbe gegen Gelenkschmerzen auf Fabius' von Erfrierungen bedrohte Hautpartien an den Händen und im Gesicht aufzutragen. Der wand sich im Reflex, denn die plötzliche Hitzereaktion tat weh, aber Thomas war unerbittlich, umklammerte ihn mit einem Arm. Fabius' Hände wurden in Plastiktüten geschoben und mit dem Isolierband verklebt. Eine weitere Plastiktüte wurde zu einer Maske zerschnitten, die auf seinem Gesicht ihre Wirkung tun sollte. "Versuch, ihm etwas von der Hühnerbrühe einzuflößen." Thomas nickte Shinji zu. "Dann ein paar Schlucke von der scharfen Soße. Jirou, halt ihn besser fest, falls er um sich schlägt." Jirou kam dieser Aufforderung nur widerwillig nach, denn er befand, dass sein Bruder sich auch um sich selbst kümmern musste. Was Thomas auch tat, mühsam, ungeschickt, mit Muskeln und Sehnen, die längst ihren Dienst quittieren wollten. Filigrane Kleinarbeiten konnte er ihnen nicht mehr abtrotzen, also befreite er sich selbst ebenso mit der Schere. Sein Rücken, die Arme und auch die Beine waren mit Schnittwunden übersät, wo ihn herrenloses, fliegendes Strandgut getroffen hatte. Aber er wollte sich nicht beklagen, denn in diesem Chaos hatte er auch das Fahrrad requirieren können. Sich so von einer beinahe übermenschlichen Anstrengung entlastet, Fabius auf dem Buckel in Sicherheit zu schleppen. "Das... das muss genäht werden." Bemerkte Jirou, schluckte den Würgereiz herunter. "Ha!" Schnaubte Thomas und bleckte die Zähne. "Wenn wir nicht beide in Rekordzeit unser unterirdisches Talent bei Nadelarbeiten überwinden, wird das wohl nicht drin sein." Sein grimmiger Scherz löste bei Jirou jedoch kein Amüsement aus. "Tom...!" "Nimm den Lappen da und das Mundwasser." Orchestrierte Thomas unerbittlich gegen alle und besonders sich selbst. "Shin, du kannst die Mullbinden drauflegen und dann mit Isolierband abdichten. Sonst haben wir die rote Soße noch im Badewasser." Mangels Alternativen arbeiteten die beiden jungen Männer mit zusammengepressten Lippen, verklebten eine Wunde nach der nächsten. Thomas biss die Zähne zusammen und verwünschte das unkontrollierte Zittern, das nun seinen gesamten Körper durchschüttelte. "Gut." Lobte er mit klappernden Zähnen. "Ich steige mit Fabius in die Wanne. Zehn Minuten, dann holt ihr uns raus. Ich brauche dann Öl aus der Vorratskammer zum Einreiben. Und die alten Decken im Bett." Er grimassierte, als er sich Fabius' Arm über die Schultern legte, ihn vom Hocker hochzog. "Wir werden wie die Schweine schwitzen." Vorher jedoch musste es ihm gelingen, unter Auferbietung seiner letzten Reserven mit Fabius in die hohe Badewanne zu klettern, ohne sich dabei zu ertränken oder hinzuschlagen. Jirou, der die Schwierigkeiten ahnte, assistierte entschlossen, hielt Fabius unter den Achseln aufrecht, damit Thomas zuerst in das sehr heiße Wasser klettern konnte und Fabius dann in Empfang nahm. Sie wirkten bizarr, mit grau-glänzendem Isolierband geschmückt und Plastiktüten an Händen und im Gesicht. Thomas ächzte vernehmlich, aber er fühlte sich schon ein wenig "leichter". Indifferenter. Die Kopfschmerztabletten taten wohl ihre Wirkung, und auch sonst hatte er nun, da er saß, das Gefühl, in wonnig-wohligen Schlaf versinken zu können. Eine seltsame Trance erfasste ihn. Hätte Jirou nicht wie befohlen nach zehn Minuten Krach geschlagen, so wären sie wohl beide in der Badewanne eingenickt. Mit einiger Mühe bargen Jirou und Shinji die beiden Verletzten. Tupften die Feuchtigkeit von erwärmter aber malträtierter Haut und verteilten den leichten Ölfilm, der die Körperwärme speichern sollte. Obwohl er sich zwang, konnte Thomas nicht ohne die Hilfe seines Bruders in einen Pyjama steigen. Er hatte sein Limit erreicht. Was nicht hieß, dass er nicht selbst Fabius zu ihrem Schlafzimmer schleppte, während Shinji ihnen die Passage leuchtete und eilfertig mit alten Handtüchern ausgelegte Futons zurückzuschlug. Thomas bettete Fabius direkt neben sich, dann streckte er sich aus. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, doch sein Bewusstsein war zu erledigt, um sich noch mit diesen Unsäglichkeiten zu befassen. Als Jirou die Laterne in Reichweite abstellte, dazu noch Wasser und Tee, den sie vorausschauend aufgebrüht hatten, bevor der Strom ausfiel, war Thomas schon in einen tiefen, völlig erschöpften Schlaf gefallen. <3~~~~ Kapitel 5 - Keine Ausflüchte mehr Thomas erwachte notgedrungen. Er glaubte zu ersticken, weil seine Zunge ihm wie ein alter Putzlumpen quer im Hals hing! Von der Schmirgelpapierqualität ganz zu schweigen! Röchelnd und krächzend versuchte er, sich mit ausgedörrtem Mund auf die Seite zu drehen. Erinnerte sich zu spät, aber durch die aufbrandenden Schmerzen sehr eindringlich daran, warum er sich NICHT herumwälzen wollte. Nun würgte es ihn, aber sein Verstand optionierte, sich lieber aufzurichten, weil er dann weniger Kontakt mit der Fläche hatte. Und wo er schon mal saß, konnte er ja auch nach Linderung für seine Kehle fahnden! Tatsächlich, auch wenn die stark abgeschirmte Laterne nur einen marginalen Schein in seinem Schlafzimmer verstreute, konnte er unbeholfen durch protestierende Sehnen die Thermoskanne angeln. Ohne große Überschwemmungen in einen bereitgestellten Becher leeren. Beschämenderweise musste er ihn mit beiden Händen zum Mund führen, so sehr rebellierten seine eigenen Glieder. Es schien keine Stelle in seinem Leib zu geben, die nicht von einem grauenvollen Muskelkater heimgesucht wurde. Doch für Katzenjammer hatte er keine Zeit! Nachdem er konzentriert auf Fabius' tiefe Atmung gelauscht hatte, kam er erst auf alle Viere, dann stellte er einen Fuß auf, drückte sich hoch und schwankte merklich. »Beweg dich!« Ermahnte er sich unnachgiebig. Denn wenn er seine Muskeln und Sehnen durch Wärmeenergie geschmeidig hielt, würde der Schmerz schneller nachlassen. Zumindest hoffte er darauf. Tapsig aber entschlossen stapfte er, die alten Handtücher zur Futondecke abschüttelnd, entlang der stützenden Wand zur Tür und begab sich im Pyjama die Treppe herunter zu ihrer Wohnküche. Ein Teil der Barrikaden war schon von einem Frühaufsteher abgeräumt worden, sodass Thomas die Tageszeit abschätzen konnte. Sie bewies ihm, dass er schon längst hätte zur Arbeit aufbrechen müssen. Jirou, der gerade seinen Tee schlürfte, kam ihm besorgt und erleichtert entgegen, nahm die großen Hände in seine eleganten. Die tiefschwarzen Augen verdüsterten sich vor Sorge. "Tom, was suchst du hier?! Du solltest dich ausruhen!" "Durst." Knurrte Thomas. "Und vom Rumliegen war mir fad." "Du wirst auf keinen Fall zur Arbeit gehen!" Jirou wirbelte bereits herum, um Tee auszuschenken. "Hast du mich verstanden?!" "Hmmm." Brummelte Thomas nichtssagend und leerte seine Teetasse in drei gewaltigen Schlucken. So langsam gewann er wieder Gewalt über seine Zunge, die wie ein altes Schwammleder in seinem Mund herumgelungert hatte. "Nichts mit hmmm!" Jirou baute sich erbost vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt. "Ich bin dein älterer Bruder, und ich sage dir, dass du heute nicht arbeiten gehst! Schau dich mal an, du siehst fürchterlich aus! Und die Wunden müssen von einem Arzt angesehen werden!" "Also, Jirou..." Aber Thomas kam nicht weit. "Keine Widerrede! Und überhaupt, wer soll sich um Fabius kümmern?! Shin musste los, auch wenn sie wahrscheinlich heute bloß herumhocken und aufräumen, aber ich habe Termine einzuhalten! Sei also gefälligst vernünftig!" Eine solche Gardinenpredigt bekam Thomas nur sehr selten zu hören. Da sie sich grundsätzlich mit seinem eigenen Empfinden (sah man mal von seinem Stolz ab) deckte, verzichtete er auf einen Widerspruch. "Na schön. Ich bin artig." Grimassierte er grimmig, bereute es jedoch, da auch seine Haut unter dem Bart spannte und schmerzte. "Gut!" Jirou musterte ihn noch einen sehr langen Augenblick, dann löste er die Hände aus den Hüften und schlang ihm die Arme um den Nacken, hielt ihn versichernd fest. "Mach das nicht noch mal, Tom!" Raunte er ihm beschwörend ins Ohr. Thomas erwiderte die Umarmung energisch, ignorierte aufkommende Pein entschieden. Jirou Kummer zu bereiten, das gehörte definitiv in die Spitzenliste seiner Unterlassungsabsichten! "Ich bring das wieder in Ordnung." Grummelte er sonor in ein geneigtes Ohr, verborgen unter überlangen Lockensträngen. "Ehrenwort!" Auch wenn das bedeutete, seinen Stolz herunterzuschlucken und selbst den verflixten Stein ins Rollen zu bringen! <3~~~~ Wenn man beabsichtigte, eine Schlacht erfolgreich zu schlagen und damit vielleicht sogar den Krieg zu gewinnen, musste eine Strategie her. Sorgfältig ausgearbeitet. Was Gehirnschmalz erforderte. »Und dafür braucht besagter Brägen ordentlich Energie!« Stellte Thomas grimmig fest. Er fühlte sich momentan jedoch so, als laufe sein Betriebssystem untertourig auf Kriechstrom. Deshalb entschied er, erst mal zu frühstücken. Kräftig und unter hochmütiger Verachtung all der ächzenden, winselnden und jammernden Muskeln und Sehnen, die er unerbittlich beanspruchte. »Immer in Bewegung bleiben!« Rief er sich eine alte Boxer-Weisheit in Erinnerung. Man war schwieriger zu treffen, und der ganze Verein sub Schädel begriff, dass die Lage ernst war. Außerdem heizte er sich innerlich auf, was zweifellos auch herumstreunenden Erkältungsviren die Rote Karte zeigte. Anschließend widmete er sich der Selbstreinigung. Zumindest den Partien, die nicht lädiert waren. "Hrmpf!" Konstatierte er bei einem kritischen Blick entlang der großflächigen Landschaft seiner mächtigen Figur. Er hatte sich zwar nie gefragt, wie es war, epiliert zu werden, doch es sah ganz danach aus, als würde er jetzt ungefragt die Erfahrung machen müssen. Peinlich! Andererseits, wenn sie in der Ambulanz eine Stange Geld lassen würden, wäre es nur billig, dass er sich dort den "Spaß" gönnte. Und wenn es irgendwo suppte, mussten die wenigstens aufwischen und nicht er! Thomas schlich sich in sein Schlafzimmer, lauschte auf Atemzüge. Sie klangen nicht mehr so ruhig und tiefenentspannt wie zuvor. Anzeichen dafür, dass Medikamente ihre Wirkung langsam einstellten und jemand sich ungnädig der Realität mit ihrem hässlichen Angesicht ausgesetzt sehen würde. Eilig tauschte er den frottierten Morgenmantel mit bequemer Freizeitkleidung, die Zähne ineinander verkeilt, um nicht unbedacht zu fluchen oder verräterisch zu ächzen. Dann atmete er konzentriert durch, sammelte sich ein letztes Mal. Jetzt galt es! <3~~~~ "Rise and shine, Sonnyboy!" Trompetete Thomas dröhnend, während er gleichzeitig das trübe Dezembertageslicht ins Schlafzimmer einströmen ließ, begleitet von einer eisigen Brise. "Raus aus den Federn und frisch ran ans Werk, Kamerad!" Folgte in der Sprache seines Vaters eine weitere Aufforderung. Beide, wie er wusste, für seinen Schlafgenossen vollkommen unverständlich. Doch der Zweck wurde erreicht: Fabius schreckte hoch, stützte sich unwillkürlich mit den eingetüteten Händen ab, wimmerte vor Schmerz. Versuchte konfus herauszufinden, was vor sich ging und registrierte die im Schlaf ordentlich verrutschte Behelfsmaske auf seinem Gesicht. "Ah! DAS lassen wir aber!" Tadelte Thomas im besten Mamsell-Tonfall. Fasste den desorientierten, jungen Mann einfach (wenn auch mit zusammengepressten Lippen angesichts der Herausforderung an die eigenen jaulenden Muskeln) unter den Achseln und hievte ihn auf die Beine. Das brachte nicht viel, denn Fabius brach sofort in die Knie, streckte im Reflex sich abfangen zu wollen, die Hände aus... und landete erneut auf den schmerzenden Handtellern. "Wir sind heute aber ganz besonders störrisch, was?!" Befleißigte sich Thomas nun des Oberschwestern-Jargons, Marke Matrone mit Haaren überall, auf Zunge, Zähnen und im Gesicht. Erneut pflückte er Fabius vom Boden, dieses Mal weniger tief, warf sich ihn dann wie am Vorabend über den Rücken. Das tat WEH... aber es musste sein. Niemand hatte schließlich behauptet, es würde ein Spaziergang! Fabius winselte auch, stammelte, da ihm das Blut auch noch in den Kopf lief, unverständlich vor sich hin und versuchte verzweifelt, einen festen Halt zu packen. Was mit der Tütenverpackung schlichtweg unmöglich war. Thomas steuerte das Badezimmer an. Erstens musste Fabius zuerst mal aus den völlig verschwitzten Kleidern gepellt werden. Zweitens traute er sich in seinem gegenwärtigen Zustand doch nicht, mit ihm auf diese Weise das Erdgeschoss zu entern. "Pfuibah!" Schnauzte er grollend und sanktionierte so Fabius' Versuche, gerade auf dem Waschhockerchen abgesetzt, wenigstens das irritierende Plastik aus dem Gesicht zu wedeln. "Lass das jetzt! Wir können's abnehmen, wenn wir den Rest von dir abgebraust haben!" Thomas behandelte ihn wie ein unartiges Kleinkind, herrisch, dirigistisch und einschüchternd. Dass Fabius' Kreislauf auch noch nicht auf der Höhe war, kam ihm nur zupass. Ungeniert wickelte er in akzentuierter Grobheit die textilen Hindernisse von den Gliedern. Entblößte den armen Burschen in seiner Gewalt, bevor er ganz ungehemmt wie eine strenge und geplagte Mutter mit einem Waschhandschuh abzuledern begann. Fabius hatte, sah man von den neuralgischen Stellen im Gesicht und an den Händen ab, größeres Glück als er selbst gehabt. Keine Schnittwunden, keine Abschürfungen. So konnte er auch durch bloße Gestik eindeutig seine Botschaft übermitteln: du warst ein SEHR ungezogener, kleiner Bengel! Genüsslich massierte er anschließend Shampoo in die zierlichen Löckchen, walkte den verspannten Nacken durch. Tadelte Fabius dabei, er werde aussehen wie Freddy Krüger, die menschliche Straßenpizza, wenn er weiter an dem Plastik herumfummle. Unter seinen kräftigen Händen, die auch schmerzten, aber wussten, dass er ihnen kein Pardon gewähren wurde, schrumpfte Fabius immer tiefer in sich zusammen. »Aha!« Konstatierte Thomas grimmig. »Da setzen wohl die Erinnerungen an gestern ein, was?« Ein bisschen mehr Druck konnte jedoch den Erfolg untermauern! Also zog er Fabius auch an. Wickelte den Stoff auf, schmuggelte Füße durch Öffnungen, ließ nicht den winzigsten Raum für Initiative. Eine Gliederpuppe hätte über mehr Freiheit verfügt. "Jetzt empfehle ich dir, dich auf all deine Sünden zu besinnen." Wiederholte er einen Ausspruch seiner Großmutter. Der, wann immer es galt, Schmerzen zu ertragen, auch dafür sorgen sollte, dass man dies schweigend, würdevoll und in sich gekehrt tat. Im Gegensatz zu den anderen Kindern, denen er nach dem Umzug nach Japan begegnete, hatte Thomas rasch gelernt, sich bloß nichts anmerken zu lassen, wenn es ihm schlecht ging, oder er Schmerzen litt. Die vage Notion, man habe sich das Ungemach selbst zuzuschreiben, schwang im Hinterkopf immer mit. Fabius kniff die Augen zusammen, biss die Zähne aufeinander. Ohne dass Thomas ihn schon berührt hatte. »Kein Wunder!« Dachte Thomas und spannte seinen mächtigen Körper an. »Da gibt's so Einiges zu reminiszieren, nicht wahr?« Ein Teil von ihm wand und kringelte sich innerlich jedoch, fand es ehrenrührig und grausam, Fabius derart zu tormentieren. Nicht körperlich, nein, nein! Da bewies Thomas, der tatsächlich schlucken musste angesichts der großflächig verwundeten Haut, großes Fingerspitzengefühl. Es war die PSYCHISCHE Kriegsführung, die so unerbittlich ihr Opfer in die Enge trieb! Fabius rannen Tränen aus den Augenwinkeln, teils durch das Zusammenkneifen, teils durch die Gesichtsspannung, die bei jedem winzigen Zucken schmerzhafte Nervenimpulse aussendete. Als Thomas seine Hände aus den "Plastikbomben" befreite und die Verbände abwickelte, entwich ihm beim Betrachten seiner Handinnenflächen ein erstickter Wehlaut. Nein, gut sah das bestimmt nicht aus. Und noch schlimmer fühlte es sich an. Thomas ballte, Fabius den Rücken zukehrend, um die Verbände in einer Plastiktüte mit den anderen Abfall zu entsorgen, die Fäuste. Jetzt bloß nicht schwach werden! "Gehen wir!" Donnerte er also betont im dröhnendsten Bass. "Du musst frühstücken, bevor wir aufbrechen." Damit fasste er Fabius einfach unter, schlang sich einen Arm um den Nacken und schleppte ihn in die Wohnküche. <3~~~~ Es war ein Katz und Maus-Spiel. Fabius versuchte mit verzweifelter Energie, seinem Blick auszuweichen, ihm auf keinen Fall ins Gesicht zu sehen. Das war jedoch nicht ganz so einfach, wenn man gefüttert wurde. Zwar hatte er sich bemüht, die Stäbchen zu halten, doch seine Finger brannten vor Schmerz wie Feuer, und die Suppenschale zu heben, stand gar nicht erst zur Debatte. "Ich habe Jirou versprochen, mit dir zur Ambulanz zu gehen." Informierte ihn Thomas unerbittlich. "Danach werden wir Oumi aufsuchen. Dein Arbeitgeber, wenn du dich erinnerst. Du wirst um Entschuldigung dafür bitten, dass du ihn mitten in der Hochsaison so ERBÄRMLICH im Stich lässt!" Fabius zuckte zusammen, klebte den Blick auf die Tischplatte, die Schultern spitz hochgezogen, zusammengekauert, als könne er so weniger Angriffsfläche bieten. Allein, das genügte bei weitem nicht, vor Thomas' Sperrfeuer zu fliehen. "Ich muss sagen, ich bin auch sehr ENTTÄUSCHT von dir." Stellte der gerade im herablassenden Konversationston fest. "Einen derartigen Zirkus zu veranstalten! Der arme Shinji war ganz außer sich vor Sorge! Und er hat es wirklich schwer gehabt in seinem Leben! So einen Schock zu verdauen, das ist eine miese Angelegenheit!" "...ent-ent..schuldi..." "Oh, Entschuldigung?! ENTSCHULDIGUNG?" Ereiferte sich Thomas geifernd. "JA, DAS macht natürlich alles wieder gut! DAS wird ihm aber helfen! Dass seine Gefühle, seine Zuneigung, seine FREUNDSCHAFT mal EBEN mit Verachtung gestraft werden und dann eine lässige Entschuldigung ausreicht! Ja, DAS nenne ich mal einen MASSSTAB!" Fabius zuckte zusammen, als hätte er ihm Schläge verpasst. "Und von meinem Bruder wollen wir mal gar nicht reden!" Thomas redete sich in Rage, donnerte unaufhaltsam los. "Der DIR deinen Job besorgt hat! Der für dich bei Oumi als BÜRGE eingetreten ist! Der dir SEINE Kleider geliehen hat, sogar mit dir EINKAUFEN gegangen ist! Der sich für dich auf die SUCHE nach einem PHANTOM gemacht hat!" Er holte tief Luft, stützte beide Hände fest auf die Tischplatte. "Mein Bruder Jirou, der dich aufgenommen hat wie ein FAMILIENMITGLIED! Und den du so einfach mal eben vor den Kopf stößt!" "...das...das... wollte ich nicht!" Begehrte Fabius mit brechender Stimme auf, wagte zum ersten Mal seit dem Aufwachen in Thomas' tiefschwarze Augen zu blicken. "Ah nein?!" Thomas lauerte über ihm wie eine Lawine über einem Steilkamm, die mit lautem Getöse zu Tal brach. "Was WOLLTEST du denn, hm?! Dürfen wir das vielleicht erfahren, wir nützlichen Idioten?! Was tut man denn so inmitten eines Taifuns mit Tsunami-Warnung in einem gesperrten Areal, hm?! Das würde MICH auch mal interessieren!!" Fabius biss sich auf die Unterlippe, schnüffelte erstickt, weil er kaum Luft bekam, so verstopften ihm Tränen und Schnodder die Atemwege. "Ich warte!" Brodelte Thomas überlaut. "Wärst du also so überaus FREUNDLICH, mich mit deiner Weisheit zu beglücken?!" Nun weinte Fabius wie ein Kind, ein stöhnendes, würgendes, aufschluchzendes Heulen. "Du...du...!" Weiter gelangte er nicht, denn Thomas hakte sofort nach. "Ach, jetzt bin ICH also Schuld?! Klar, natürlich! Der böse, böse Waldschrat hat den armen, kleinen Waisenjungen in die Flucht geschlagen!" "N-neeeeinnn...neeeeiiinnn!" Greinte Fabius kaum verständlich, sprang auf, schnorchelnd und schnaubend, zornig und kaum in der Lage, sich verständlich zu machen. "Duuuu hst gsagt... keine Zukunft... keine Vrgangnheit!" Thomas richtete sich auf, ein titanischer Eisberg, dessen trügerische Spitze nun kalt und sehr pointiert erwiderte. "Ach ja? Dann trifft das wohl kaum auf DICH zu." Sein Satz hing wie ein Fanal in der Luft. Fabius schwankte leicht, zog die Nase hoch, blinzelte wie ein angezählter Boxer. Thomas verschränkte die muskulösen Arme vor der mächtigen Brust. Nur noch ein Wirkungstreffer, dann würde Fabius nicht mal ein Gong retten. Mit einem verächtlichen Schnauben setzte er den Coup de grace. "Wie erbärmlich, eine Notlage vorzutäuschen und einen alten Mann, der sich so selbstlos eingesetzt hat, derart zu hintergehen!" Mit einem animalischen Wehlaut schlug Fabius die verwundeten Hände vor das ebenso entstellte Gesicht und klappte auf der Sitzbank in sich zusammen. <3~~~~ Fabius heulte wie ein geschundenes Tier. Ein markerschütterndes Wehklagen. Und, wie Thomas mit äußerster Selbstbeherrschung registrierte, gewiss keine schauspielerische Einlage im Oscar-Format. So elend, wie er sich selbst fühlte, so hielt er sich selbst jedoch eisern an der Kandarre: nicht weich werden. Noch nicht. Wie eine Katharsis musste alles raus, all die Gefühle, die sich angestaut hatten. "Na prächtig!" Höhnte er also laut, um Fabius' Schluchzen zu übertönen. "Ist das die nächste Masche? Erst auf Mitleidstour machen und jetzt zum Steinerweichen flennen?!" Thomas ging in die Hocke und packte Fabius' Nacken, zwang den auf der Sitzbank zusammengekauerten Mann, ihm ins Gesicht zu sehen. "Ich sag dir was!" Schlug er kühl vor. "Ich werde dich, weil ich's Jirou nun mal versprochen habe, zur Ambulanz bringen. Und danach packst du deinen Kram und kannst abhauen. Wenn's dir hier nicht passt, bitte, da ist die Tür!" Fabius schlotterte am ganzen Leib, seine Zähne schlugen aufeinander, und ein Schluckauf gesellte sich auch noch dazu. Auch wenn er sich hätte artikulieren wollen, wäre es unverständlich geblieben. "Ziemlich aufgeblasen!" Triezte Thomas weiter, kalt wie eine Hundeschnauze. "So dramatisch an der Brüstung herumzulungern! Du hättest dir noch mehr leid tun können, wenn du ein Fernsehteam dazu bestellt hättest!" Einen Wimpernschlag später stürzte sich Fabius auf ihn, brüllend und mit den lädierten Fäusten trommelnd. Ungefährlich für Thomas, der die Attacke erhofft hatte, die Handgelenke einfing und Fabius gegen sich anrennen ließ, bis diesem die Knie einbrachen. Er schluchzte noch immer und jaulte jetzt vor Frustration und Aussichtslosigkeit. Dieser Anblick erinnerte Thomas fatal an Tao und ihre anfänglichen Auseinandersetzungen. Er verdrängte gewaltsam die Erinnerungen und ging zum Angriff über. "Du bist wirklich ne ziemliche Pflaume!" Bemerkte er abschätzig, was aus seiner überragenden Position leicht in gebotener Herablassung und Arroganz auszusprechen war. "Du bist zu blöd, um dir eine Tussi anzulachen, die dich versorgt, obwohl die Mädels hinter dir her sind. Dem miesen, kleinen Arschgesicht, das da von nirgendwo erscheint, willst du gleich die Mäuse in den Rachen werfen, damit er bloß nichts verrät. Nicht mal genug Ehrgeiz für ein bisschen kriminelle Energie, echt erbärmlich!" Er gab Fabius' Handgelenke so abrupt frei, dass der vornüber auf die Ellen fiel, was den Eindruck eines Kotau verstärkte. "Na, ein wenig Niedertracht kannst du zumindest vorweisen." Bescheinigte ihm Thomas in generöser Verachtung. "Immerhin Rente erschlichen, dazu noch Spenden und medizinische Dienstleistungen..." "DAS WOLLTE ICH NICHT!" Explodierte Fabius mit sich überschlagender Stimme, wiegte sich vor und zurück. "Ich bin sicher, dass die Richter das VERSTEHEN." Ätzte Thomas ungerührt zurück. Das Schaukeln kam unvermittelt zum Stehen. Für einen langen Moment starrte Fabius mit glasigem Blick ins Leere. Thomas hielt unwillkürlich den Atem an. Jetzt hatte er doch wirklich genug Nadelstiche gesetzt, damit ENDLICH die Halbwahrheiten- und Auslassungen-Blase detonierte! "... bitte..." Fabius sank flach auf den Boden, umklammerte seine Knöchel. "Bitte! Ich gehe weg, ich tue alles, nur, bitte... nicht verraten! Bitte! Bitte!" Ein erbärmliches, tonloses, halb ersticktes Flehen. Kläglich und gebrochen. "Und WARUM..." Thomas ging in die Hocke und pflückte beiläufig Fabius' verwundete Hände von seinen Fußgelenken. "WARUM sollte ich wohl nicht meine Pflicht tun, hm?" "... bitte..." Nun war es kaum mehr als ein Flüstern. "...bitte... nichts sagen. Ich verschwinde einfach. Gehe weg. Sofort. Nur bitte... ihnen nichts sagen." "Das ist kein Argument." Stellte Thomas zutreffend und in kalkulierter Härte fest. "Also gibt's ja wohl keinen Grund..." "... du hast Jirou! Und Shinji!" Fabius drehte den Kopf, sah ihn an, trotz der Verheerungen in seinem Gesicht nun leichenblass. "Du weißt nicht, wie es ist, anders..." "... anders zu sein?" Thomas zerrte Fabius an den Oberarmen auf die klapprigen Beine. "Ach ja?! Denkst du, ICH wüsste nicht, wie es ist, anders zu sein?!" Allein seine Phonstärke brachte Fabius schon zum Taumeln, doch das Ziel leuchtete zum Greifen nahe. "...aber.. aber DU bist nicht allein!" Schluchzte Fabius aufgebracht. "Du hast eine Familie und Freunde!" "Und du denkst, die cleverste Idee ist abzuhauen?!" Thomas säbelte in einer metaphorischen Blutgrätsche Fabius' argumentative Standbeine weg. "Du willst nicht allein sein und gleichzeitig einfach verschwinden?! Abhauen?! Wie LOGISCH ist das denn?!!" "Du WILLST mich doch gar nicht!" Brüllte ihm Fabius mit einem Speichelregen ins Gesicht, keuchte wie eine alte Dampflokomotive bei großer Steigung. Thomas spürte, wie seine Schultern herabsackten, die schmerzhafte Verspannung im Nacken sich löste und seine Schulterblätter energisch trennte. Ein leiser Seufzer entfuhr ihm und entknitterte seine Gesichtszüge. "Das habe ich nie gesagt." Stellte er mit einem zarten Lächeln leise fest. Vor ihm blinzelte Fabius, konfus, überfordert und nun ohne Angriffsziel für das letzte Quäntchen Aggression, das er hatte aufbieten können. Dieses Mal jedoch nahm Thomas ihm die Entscheidung ab, zog ihn einfach in seine Arme und hielt ihn erstickend eng an sich gepresst. Mit ebensolcher verzweifelten Entschlossenheit klammerte sich Fabius an ihn. "Mach so was wie gestern nie wieder!" Raunte Thomas eindringlich den knochigen Nacken entlang. Schniefend nickte Fabius Konsens, doch Thomas genügte das nicht. "Versprochen?" "Vsprchn." Schnüffelte der jüngere Mann, presste das Gesicht in eine Halsbeuge, die merkwürdig vertraut schien. "Und da ist noch etwas." Thomas hob sich Fabius auf die Hüften wie ein Kind, stützte und hielt ihn fest. "Du wirst nicht abhauen. Das lasse ich nicht zu." Er erhielt keine Antwort, aber Fabius klammerte mit aller Kraft, und so war es auch möglich, sich mit ihm einen bequemen Sitzplatz zu suchen. <3~~~~ Thomas hatte Fabius direkt neben sich platziert, besitzergreifend und schützend zugleich einen mächtigen Arm um ihn gelegt. Die freie Hand auf seinen Oberschenkel so arrangiert, dass sich zwei lädierte Hände zögerlich auf seine nach oben gekehrte Handfläche legen konnten. "Erzähl mir von dem alten Mann." Gab Thomas leise den Startschuss ab. Fabius zog unwillkürlich die verspannten Schultern hoch, registrierte dann die Hand, die seinen Oberarm kräftig rubbelte, als könne sie die innere Kälte damit vertreiben. "Er mochte mich nicht. Und er wollte mich nicht haben. 'Ein verdammter, barbarischer Bastard' hat er immer gesagt." Fabius schmiegte sich näher in die tröstliche Umarmung. Seine Gesichtszüge verloren ihren Ausdruck, wurden starr und verschlossen. "Die blöde Schlampe, das hat er über meine Mutter gesagt. Sie ist nie zu Besuch gekommen, hat mich nicht abgeholt. Kein Geld geschickt." Er zählte mit flacher Stimme Fakten auf. "Der alte Mann war wütend. Man durfte nicht über sie sprechen, sonst gab's Prügel. Aber Prügel gab's eigentlich immer." Fabius räusperte sich verhalten. "Da waren Nachbarn im Ort, die auch Kinder hatten. Deshalb durfte ich in den Kindergarten und in die Grundschule. Der alte Mann wollte keinen Ärger, aber er war wütend. Alles kostete Geld, und das musste ich abarbeiten. Wer nichts beiträgt, isst auch nichts." Thomas rubbelte mit der Hand über den verspannten Oberarm, wollte gegen die innere Kälte äußere Reibungsenergie setzen. "Die Kinder damals... und die Lehrer..." Fabius schnüffelte leicht, den Blick konzentriert auf einen Punkt in der Vergangenheit gerichtet. "...sie waren immer so... nett zu mir. Mitleidig. Ich hatte schließlich keinen Vater, meine Mutter war eine Prostituierte, und ich musste immer alte Kleider und Sachen aus der Wohlfahrtskiste der Kirchengemeinde anziehen." Und dieses Mitleid war schlimmer als offene Verachtung, weil es ihm jede Möglichkeit raubte, sich zu wehren. Er war eben so arm dran, dass man ihn nicht für voll nehmen musste... nicht wie ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft behandelte. "Das Haus war auch keins wie bei den anderen Kindern." Fabius blieb ruhig, fast unbeteiligt. Als sei es die Geschichte eines anderen, die er wiederholte. "Es lag außerhalb, keine befestigte Straße führte hin. Ein kleines Erdhaus, weißt du, alles aus Holz und mit Erde und Gras und Geröll vom Strand bedeckt. Kein Strom, gerade mal Lampenöl für die Beleuchtung und eine offene Feuerstelle. Das Wasser kam aus einer Quelle in der Nähe." »Idyllisch.« Dachte Thomas mit Schaudern, der sich nicht für primitive Behausungen begeistern konnte und Bergwandern mit Einkehr in "rustikalen Hütten" verabscheute. Unterdessen hatte Fabius seinen Blick auf seine verwundeten Handflächen gerichtet, die auf Thomas' offener Hand lagen. "Als die Grundschule vorbei war, hat er mich nicht mehr zur Schule gehen lassen." Fabius' Stimme klang seltsam hohl. "Er hat mir gesagt, JETZT sei ich alt genug, damit sie mich holen kommen. Sie sperren mich in ein Lager, und dann werde ich rausgeschmissen. Weil ich kein Japaner bin, sondern ein Barbaren-Bastard." Schaudernd zog er die Schultern hoch. Die Angst saß tief genug, um ihm auch jetzt noch einen Schrecken einzujagen. Thomas runzelte die Stirn. Lager? Rauswerfen?! "Er hat mir gesagt, dass ich nichts beweisen kann." Fabius' Hände zitterten, aber er konnte sie nicht zu Fäusten ballen, ohne sich selbst Schmerzen zuzufügen. "Bei meinem Aussehen bin ich sofort weg!" Um ein wenig der erstickenden Spannung abzuwerfen, atmete er tief durch. "Es gab eine Urkunde, die meine Geburt und meinen Namen bestätigt. Er hat sie versteckt. Wenn ich nicht tue, was er sagt, dann wird er sie einfach verbrennen und zur Polizei gehen. Die kommen mich dann holen." "Was für ein reizender Zeitgenosse!" Entfuhr es Thomas ätzend, bevor er an sich halten konnte. »Zuhören, nicht dazwischenquatschen!« Ermahnte er sich. Fabius senkte den Kopf. "Da konnte ich nicht weggehen. Also habe ich gehorcht. Ich durfte nicht mehr in den Ort gehen, sonst hätten die Leute ja gemerkt, dass ich nicht abgeholt worden bin von Verwandten, wie der alte Mann behauptet hat. Ich musste arbeiten und durfte nicht reden. Wenn jemand zum Haus kam, hatte ich mich zu verstecken." Er richtete sich auf, blinzelte und fokussierte seinen Blick auf die Gegenwart. "Aber heimlich bin ich immer wieder zu den Häusern gegangen. Da waren immer nützliche Dinge im Abfall. Ich brauchte ja auch Kleider und Schuhe. Eine Frau hat die alten Studienbücher ihres Sohnes weggeworfen, die habe ich auch mitgenommen. Alles musste ich gut verstecken, damit der alte Mann es mir nicht wegnimmt und zerstört. So konnte ich wenigstens heimlich ein bisschen lernen." "Hast du dich deshalb für diese Prüfung angemeldet?" Thomas rechnete Fabius zwar sein verzweifeltes Ringen um Bildung hoch an, hegte aber ernsthafte Bedenken gegenüber einem erfolgreichen Schulabschluss unter solchen Bedingungen. "In einem Magazin war die Anzeige." Fabius seufzte leise. "Ich dachte, wenn ich die Prüfung bestehe, fragt niemand nach einer Urkunde oder einem Beweis. Ich musste bloß die Post abfangen. Aber zu dem Zeitpunkt ist der alte Mann gar nicht mehr so häufig bis zum Briefkasten gekommen." "Perfekter Plan." Tröstete Thomas. "Bloß die Kosten..." Fabius neben ihm stöhnte leise auf. "Als ich den Brief sah und die Gebühren...! Ich wusste nicht, dass es so viel kostet, diese Prüfung zu machen!" Womit sich, nach Thomas' Lesart, auch die Frage nach einem Schulabschluss erledigte. Fabius verfügte über keinen und wirkte unter anderem deshalb gelegentlich befremdlich auf Altersgenossen, weil er keine schulische Sozialisation genossen hatte. Er wusste es schlichtweg nicht besser! "Was ist mit dem alten Mann passiert?" Hakte er in die einsetzende Stille ein. Fabius knetete nervös seine malträtierten Fingerglieder, leckte sich über die spröden Lippen. "Es... also, ich... es war nicht meine Absicht..." Stammelte er beschämt und aufgeregt, weil da eine unangenehme Wahrheit zu verkünden stand. Und das wollte niemandem leichtfallen. Trotzdem richtete er sich tapfer auf und legte sich Haltung auf. "Er... er wurde immer gebrechlicher. Wollte aber keinen Arzt sehen. Hat mir ständig gedroht, er vernichtet das versteckte Dokument, wenn ich nicht gehorche. Und dann... dann ist er einfach nicht mehr aufgewacht!" Fabius keuchte, wandte Thomas das Gesicht zu. "Einfach... tot! Und er hatte mir nicht gesagt, wo es ist... und wenn ich den Priester geholt hätte, dann wäre ich geschnappt worden! Ich wollte es bloß so lange verschweigen, bis..." "Bis du das Dokument aufgestöbert hast." Vollendete Thomas leise. "Wirklich!" Beteuerte Fabius aufgewühlt. "Ich wollte doch nur ein bisschen Zeit gewinnen..." Er klappte den Mund zu und sackte schuldbewusst in sich zusammen. "Das hat wohl länger gedauert." Gab Thomas ihm das Stichwort, drückte sanft den Oberarm in seiner Reichweite. "Was hast du denn so lange mit ihm... gemacht?" Fabius seufzte auf. Es klang wie ein Schluchzen. "Da war eine Senke." Flüsterte er rau. "Nach einem kleinen Erdrutsch. Die habe ich mit Plane und Sackleinen ausgelegt. Dann habe ich ihn dahin geschleppt und alles zugedeckt." Für eine Weile blieb es still. Thomas forcierte den Fortgang ihrer Unterhaltung jedoch nicht. Fabius würde darüber sprechen, weil er es bisher niemandem anvertrauen konnte. Und diese Last war zu schwer geworden, um sie noch weiter zu schultern. "Ich habe Blumen gebracht. Gemüse. Hab danach geschaut, dass keine Tiere etwas aufwühlen." Fabius' Stimme klang dünn wie die eines Kindes. "Und ich habe gesucht. Überall. Im Haus, im Garten, entlang allen Wegen, die er zuletzt genommen hat." Er hatte keinen Erfolg gehabt, das verstand sich von selbst. "Ist denn nie jemand gekommen, um nach ihm zu sehen?" Thomas konnte es nicht glauben. "Nein." Fabius schnüffelte leise. "Weißt du, er war... nicht sehr beliebt. Mochte die Leute nicht, hat ihnen häufig was an den Kopf geworfen. Nicht mal der Pfarrer ist vorbeigekommen, obwohl der eigentlich jeden Haushalt besucht. Aber nachdem der alte Mann verbreitet hatte, dass ich weg sei..." »Da hatte niemand mehr einen Anlass, sich auf diesen Unsympathen einzulassen.« Dechiffrierte Thomas die unausgesprochene Botschaft. "Und die Rente?" Erkundigte er sich. "Musste er die denn nicht selbst abholen?" Fabius wandte den Kopf, starrte ihn verblüfft an. Dann senkte er den Blick und drehte den Kopf wieder weg, bot Thomas sein Profil. "Das weißt du auch...? Na ja..." Er lächelte bitter. "...dir kann wohl niemand etwas vormachen." »Ha!« Dachte Thomas säuerlich. »Von wegen! Allein Tao hat mich ordentlich hinters Licht geführt, Mondlicht, um genau zu sein... Moment mal!« "Sag mal..." Setzte er sich aufrecht hin und drehte Fabius mit einigem Nachdruck zu sich. "Bist du mir deshalb aus dem Weg gegangen?!" Fabius presste die Lippen zusammen und trotz der Verwundungen färbten sich seine Wangen erkennbar ein. "Aber... aber Jirou ist die Schnüffelnase hier!" Protestierte Thomas mit kindlicher Empörung, bevor er selbst verlegen abbrach. »Jesses, bist du Fünf, oder was?! Was soll das denn?!« Den Blick fest nach unten gerichtet murmelte Fabius kaum vernehmlich. "Jirou wäre es vielleicht nicht so wichtig..." "Na, das ist ja reizend! Jetzt bin ICH der sture Rechthaber, oder was?!" Entgegen aller Vorsätze polterte Thomas los. "Wieso glaubst du das?!" "Tue ich gar nicht!" Verteidigte sich Fabius aufbrausend, funkelte Thomas an, bevor er erneut errötete und hastig wegsah. "Das... das hab ich nicht gedacht!" "Sondern?!" Thomas ließ keine Flucht zu, nicht mal in Ausflüchte. Er hob ein Bein, um sich rittlings auf die Bank zu platzieren, drehte dann Fabius unerbittlich um, sich ihm spiegelverkehrt ebenso zu setzen. "... ich wollte nicht..." Murmelte Fabius in Richtung seiner Zehen. "... dass du es weißt und... enttäuscht bist." "Weil du gelogen, betrogen, getäuscht und dir bei gutgläubigen Menschen Vorteile erschlichen hast?" Hakte Thomas skalpellscharf nach. Fabius schluckte sichtbar und würgte ein tonloses "... ja..." hervor. Eine halbe Minute, die sich zweifellos wie eine ganze Ewigkeit anfühlte, ließ Thomas ihn in Schuldgefühlen, Angst und Beschämung schmoren, dann setzte er sein Verhör fort. "Also, was denn nun? Wie hast du das mit der Rente gemacht?" "Ähm..." Fabius schnüffelte wieder leise. "Das war nicht so... schwierig. Ich hatte schon Übung darin, weil er nicht mehr so gut laufen konnte. Ich musste bloß krummbucklig tapsen, vor mich hin schimpfen und seine alten Sachen tragen. Niemand wollte sich mit mir unterhalten, also reichte es immer, den Empfang mit dem Namenssiegel zu quittieren und wieder zu verschwinden." "Das hat NIEMAND gemerkt?!" Thomas schüttelte ungläubig den Kopf. Fabius war nicht sonderlich klein gewachsen, außerdem schlank und wenn er sich nicht gerade in Gesellschaft befand, recht geschmeidig auf den Beinen. "Ein alter Overall, eine verschlissene Jacke, Hut und Schal oder Maske, dazu ein Gehstock." Fabius riskierte einen bangen Blick nach oben, ob er sich noch in der archaischen Ungnade befand. "Die Leute sehen das, was sie sehen wollen." "Und den alten Kerl vermutlich bloß von hinten!" Schnaubte Thomas sarkastisch. "Was hast du denn mit dem Geld angefangen, wenn du dich doch nirgendwo zeigen konntest?" Fabius sackte erkennbar in sich zusammen. Er hatte wohl gehofft, diese Frage würde nicht zur Sprache kommen. "Also?" Thomas, im Bullterrier-Modus, gab nicht nach. "Ich bin manchmal nach Fudai gelaufen." Gab Fabius zu. "Da konnte ich die Dinge kaufen, die ich brauchte." "Du bist nach Fudai gelaufen?!" Thomas konnte es nicht glauben. "Und zurück dann mit Vorräten und Zeug?!" "Dort kannte mich niemand!" Verteidigte sich Fabius in Verkennung der wahren Umstände der Verblüffung. "Und ich habe immer alles bezahlt!" Thomas sah sich bemüßigt, das aufgeplusterte "Gefieder" seines Gegenüber zu glätten. "Ich habe dir gar nichts Unrechtes unterstellt. Aber findest du es nicht enorm, so eine große Strecke zu bewältigen?" Fabius sah ihn verblüfft an. "Nun, ich bin ja ohnehin immer den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, deshalb kam es mir nicht so vor." »Liebe Güte...« Dachte Thomas und lupfte den imaginären Hut. »Der Bursche ist viel zäher, als es den Anschein hat.« Um von seiner Überraschung abzulenken (und sich des unangenehmen Verdachts zu erwehren, ER sei selbst wie die Leute, die bloß sahen, was sie zu sehen wünschten, um ihre Vorurteile zu bestätigen), wechselte er den Kampfschauplatz. "Was ist dann passiert, als das Erdbeben kam?" Fabius zog eine Grimasse, was ihn sogleich an seine lädierte Haut erinnerte. Bis zu diesem Moment hatte er sich bloß die winzigen Rentenzahlungen erschlichen und einen Verstorbenen nicht ordnungsgemäß bestatten lassen. Doch nun musste er gestehen, wie er AKTIV eine böse Tat auf die nächste gesetzt hatte... "Als das Erdbeben kam, suchte ich gerade mal wieder. Das Wetter war gut und alles andere schon erledigt, also bin ich an einem Abhang herumgekrochen. Da sind im Gestein manchmal Einschlüsse, die mit der Zeit verwittern und man kann dort etwas verstecken. Von einer Warnung habe ich nichts gehört, es war nur unheimlich... still. Dann bebte die Erde, und ich habe mich bloß an Wurzeln festgeklammert und gehofft, dass mich keine Gerölllawine verschüttet." Tief durchatmend setzte Fabius sich auf, drehte den Kopf zur Seite, die Augenbrauen zusammengezogen, als beobachte er konzentriert ein ungewöhnliches Ereignis. "Ich weiß, dass ich fast in Panik geriet, weil so viele Abgänge passiert waren und womöglich das Versteck verborgen hätten. Ich bin höher gestiegen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Von dem Grat aus konnte ich auch nach dem Haus schauen." Er lächelte verzerrt. "Anfangs habe ich gar nicht so sehr auf das komische Geräusch geachtet. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Veränderungen durch das Abrutschen zu forschen. Dann habe ich mich zur Küste umgewandt." Er presste für einen langen Moment die Lippen zusammen. "Es sah so... seltsam aus. Ich habe mir einen Tsunami immer wie eine durchscheinende, riesige Welle aus Wasser vorgestellt. Aber das hier war ganz anders. Der Horizont sah zwar normal aus, aber mit einem Blinzeln war plötzlich alles ganz braun. Schlamm, Holz, Steine, Gebäude, Autos. Als ob ich innerhalb eines Augenblicks auf eine ganz andere Landschaft guckte. Und es war so gewaltig, so unaufhaltsam... in einem Moment war praktisch das Tal, aus dem ich geklettert war, aufgefüllt!" Sichtlich schaudernd hob er die Arme, wollte sich selbst massieren und zog eine Grimasse, als er sich zu spät an den Zustand seiner Handflächen erinnerte. "Ich bin..." Flüsterte er, den Blick auf die Sitzbank gerichtet. "...nicht mal gerannt. Ich habe einfach zugeschaut. Das war so... surreal. Es konnte einfach nicht wahr sein. Ich war vollkommen ruhig." Wiederholte er leise. "Auch, als dieses Kratschen und Krachen zu einem Getöse wurde, weil sich die Trümmer gegeneinander schoben und zerbrachen..." Thomas langte über die Distanz hinweg, die sie trennte, zog Fabius einfach in seine Arme, drapierte dessen Oberschenkel um seine Hüfte herum. Ihn schauderte. Wenn man in einen Abgrund blickte, so starrte dieser zurück. Und verlieh dem Grausen eine entsetzliche Faszination. Fabius schlang ihm die Arme um den Leib und ließ sich halten. Eine ganze Weile lang, ohne ein Wort. Aber er wusste, dass er besser daran tat, seine Schandtaten alle zu gestehen. Um Thomas nicht noch mehr zu enttäuschen! Um Gnade zu erflehen! "Als... als sich nichts mehr bewegte, da habe ich versucht, mich zu orientieren. Aber alles war...weg. Das Haus. Der Gemüsegarten. Die Senke, wo ich den alten Mann...abgelegt hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es war nichts mehr da, verstehst du? Kein Essen, kein Schlafplatz, kein Feuer... und ich hatte das Dokument nicht gefunden!" Thomas konnte sich vorstellen, wie der Schock in Panik und Hysterie umgeschlagen war. Eine ausweglose Lage, dazu noch körperliche Entbehrungen, Kälte, Nässe, kein Schlaf... Fabius hatte den "verlorenen Sohn" überzeugend dargestellt, weil er es war. "Als die Soldaten kamen..." Fabius hielt sich an der Umarmung fest, solange sie noch währen mochte, bevor Abscheu ihn wegstoßen würde. "...bin ich mitgegangen. Ich dachte, jetzt lande ich im Lager, wie der alte Mann gesagt hat. Da waren so viele Leute, dass ich vollkommen überwältigt war. Ich habe dort erst begriffen, was geschehen ist." "Und dann?" Thomas ließ nicht einen Millimeter mehr zwischen sie kommen. "Ich war... neidisch." Wisperte Fabius in sich zusammenschrumpfend, sehr beschämt. "Jeder hatte jemanden, den er suchte. Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen. Die sich so freuten, wenn sie zusammengeführt wurden. Und ich wollte... ich wollte auch gesucht werden." Er räusperte sich erstickt, rollte sich förmlich zusammen. "Ich wollte wie sie sein! Als der Professor herausfand, wie mein Name ist, dachte ich, sie würden mich jetzt ins Gefängnis stecken und dann rauswerfen. Aber stattdessen hat er mir Dokumente ausstellen lassen, dass ich Japaner bin...." "Obwohl du ihn betrogen hast." Gab Thomas dem Schuldgefühl ein Etikett. "...ja." Würgte Fabius, kauerte nun beinahe in Nabelhöhe vor Thomas. "Ja. Ich hatte Angst, sie würden herausfinden, dass der alte Mann tot ist und ich gar nicht bei Verwandten war. Und außerdem... außerdem habe ich angefangen, meine Lügen selbst zu glauben." Selbstverachtung verätzte seine Stimme. "Ich wollte SO SEHR wie die anderen sein. Wollte jemanden haben, der mich sucht und auf mich wartet." "Aber wenn man einmal mit einer Lüge angefangen hat, ist es ziemlich schwer auszusteigen, nicht wahr?" Thomas löste einen Arm, registrierte das bange Versteifen des jüngeren Mannes und streichelte ihm grob über den verkrümmten Rücken. Er konnte sehr gut nachvollziehen, was Fabius verlockt hatte. Die Einsamkeit, das Fremd- und Anderssein, denen plötzlich Mitgefühl, Interesse und menschliche Wärme gegenüberstanden. Wer hätte nicht riskiert, akzeptiert und geliebt zu werden? "Ich dachte..." Fabius krächzte nun mit belegter Stimme. "...wenn ich immer Richtung Süden gehe, könnte ich alles auflösen. Den gotischen Knoten." "Gordischen Knoten." Korrigierte Thomas sanft. "Tja, du hättest nur jemanden finden müssen, der dich liebt. Dazu eine passende Erklärung für die verzögerte Suche und dann auch noch dein Gedächtnis reaktivieren aufgrund des freudigen Schocks." Fabius seufzte matt. In gewisser Weise hatte er das für eine gute Lösung gehalten. "Das Problem sind nur die vielen Geheimnisse, die man nicht preisgeben kann, wenn man so viele Lügen ausbalancieren muss." Stellte Thomas fest. Und dann musste nur so ein schleimiger Halunke auftauchen, der einen Erpressungsversuch auf gut Glück starten wollte. "Es tut mir leid." Wisperte Fabius kehlig. "Es tut mir wirklich so leid..." Thomas zerdrückte ihn beinahe in einer strengen Umarmung. "Ich bin sauer." Bekannte er mühsam beherrscht. "Ich bin sauer, weil du es mir nicht gesagt hast. Was habe ich denn gemacht, dass du mir nicht vertrauen kannst?" Endlich hatte er seiner Kränkung und seiner Enttäuschung Ausdruck verliehen. Fabius hatte ihn nicht gebraucht, und DAS wurmte ihn. Schließlich verließ sich doch jeder auf ihn, warum aber Fabius nicht?! An seiner Brust rang Fabius um ein wenig Bewegungsfreiheit, drehte den Kopf und starrte ungläubig in das bärtige Gesicht mit den tiefschwarzen Augen. Diese Anklage erschien ihm unfassbar kindlich und so gar nicht passend für diesen stets souveränen, allwissenden Riesen! "...ent-Entschuldigung...?" Piepste er schließlich verblüfft. Thomas seufzte laut. Errötete über diese unziemliche Geste, die seinem "Image" nicht entsprach und brummte, den Blick abwendend. "Ist ja nicht deine Schuld. Ich schätze, meine Eitelkeit hat diesen Dämpfer verdient." Das klang bitter und müde. Die gleiche Tonlage, bei der Jirou, wenn er zugegen war, die markanten Augenbrauen kritisch lupfte und zu keinem Lächeln aufgelegt war. Fabius murmelte hochrot, den Blick starr auf den Pulloverstoff gerichtet. "Ich wollte dir nicht weh tun." Er spürte, wie über ihm Thomas fassungslos nach Luft schnappte. Hatte er wieder das Falsche gesagt? "Aber... Jirou und Shinji...?" Grummelte der allmächtige Riese perplex. Wie unangenehm! In die Ecke hatte er sich selbst manövriert, wusste Fabius. Aber wenn er wirklich bleiben durfte, wie Thomas ihm zugestanden hatte, konnte er sich nicht mehr verkriechen. Musste alles in Worte fassen, ganz gleich, wie ungewohnt ihn das immer noch ankam. "Sie... sie hätten es sich nicht so sehr zu Herzen genommen." Formulierte er zittrig, erwartete nervös die Reaktion. "...oh..." Mit dieser elaborierten Äußerung entwich Thomas so viel Luft, dass er merklich in sich zusammensackte. So viel zu seiner harten Fassade! Fabius riskierte einen Blick nach oben und bewies Courage, offenbarte sich rücksichtslos. "Ich habe Jirou nach Tao gefragt. Und da du ohnehin so traurig warst..." "Traurig?!" Echote Thomas verblüfft. Wütend, ja, das schon, aber... Graugrüne Augen begegneten seinem Blick bekümmert. "Also...das... ich komm schon klar." Murmelte Thomas schließlich peinlich berührt. "Es ist ja schon etwas her, und..." Und er hatte in der letzten Zeit kaum noch einen Gedanken an Tao verschwendet. "Sehen wir uns wirklich so ähnlich?" Fabius schien sich entschieden zu haben, Thomas nicht mehr auszuweichen. "Auf den ersten Blick." Nun war der es, der verlegen zur Seite sah, sich räusperte. "Aber es gibt schon Unterschiede." "Und ICH bin hier." Stellte Fabius nachdrücklich fest. Vorsichtig hob er die Arme, sie um Thomas' kräftigen Nacken zu schlingen. "Wehe, du stellst noch mal so was an!" Grollte Thomas hilflos, als er die Umarmung erwiderte. "Entschuldigung." Wisperte Fabius kehlig, dann drehte er den Kopf leicht und drückte Thomas gänzlich unerwartet einen linkischen Kuss auf die Wange. "Was...?!" Überrumpelt schwenkte der das Haupt und kollidierte prompt mit Fabius' ungelenkem, zweiten Anlauf. Zähne schrappten übereinander und spröde Lippen, die prompt aufplatzten. Keine idealen Voraussetzungen für orale Affektionsbekundungen im Frühstadium der Erprobung! Thomas registrierte trotz klopfendem Herzen Fabius' sich rasch verflüchtigenden Mut. Unerfahren war er auch noch, obwohl man glauben konnte, bei den vielen interessierten Damen hätte sich garantiert eine erboten, ihn mit dieser evolutionären Technik vertraut zu machen! Wie gut, dass Tao mit ihm "geübt" hatte. Oder sie aneinander. Quasi gegenseitig. »Schnauze!« Herrschte er seinen stets um Nüchternheit bestrebten Verstand an. »Sendepause!« Denn Fabius so lange und kunstfertig küssen, bis ihnen beide die Puste ausging, das konnte er auch alleine! <3~~~~ "Ähem!" Räusperte sich Fabius hilflos, senkte unter den neugierigen bis missbilligenden Blicken von Passanten den Kopf. "Kinn hoch, Brust raus, Bauch rein!" Schnarrte Thomas ungerührt, der Fabius vertraulich untergehakt hatte auf dem Weg zur Ambulanz. "Sind wir jetzt Ausländer, oder was?!" Und jeder wusste schließlich, dass die sich immer daneben benahmen und absolut schamlos waren. Fabius verzichtete auf weitere Kommentare. Thomas hatte ihn in einen Dufflecoat von Jirou gewickelt. Die großen Taschen mit Papiertüten ausgefüllt, damit Fabius mit seinen lädierten Händen nicht weiteren Schaden erlitt und sich auch sonst mit der Assistenz alle Mühe gegeben. In der Folge stolperte Fabius bis zur Unkenntlichkeit eingemummelt neben ihm her. Man musste allerdings auch eingestehen, dass sein momentanes Erscheinungsbild nicht sonderlich erbaulich war. In der Ambulanz ergriff Thomas das Wort... und gab es nicht mehr ab. Selbstverständlich wurde Fabius zuerst versorgt, eingesalbt und mit geeignetem Schutzmaterial ausstaffiert. Dann kam Thomas an die Reihe. Er entblößte die mit tiefen Schnitten verwundeten Körperpartien, die vor einer Behandlung von dem zuverlässigen Isolierband befreit werden mussten. Fabius wurde immer bleicher angesichts der Wunden, die zum Teil zu nähen waren und der Verheerungen, die der besonders starke Klebefilm des Isolierbands beim Abreißen hinterließ. Thomas empfand durchaus Schmerzen, doch seine Erziehung versagte ihm Jammern oder sichtbares Klagen über seine Physis. Die Schnittwunden waren lästig, aber für ihn kein Drama. Deshalb tröstete er Fabius und munterte ihn mit der Aussicht auf, bei Oumi ordentlich über ihn zu schimpfen. Oumi, der sich eine Zigarettenpause gönnte, hatte keine Mühe zu akzeptieren, dass Fabius nicht für ihn arbeiten konnte, bis er zumindest in der Lage war, wieder etwas zuverlässig halten zu können. Es schien ihm auch nicht verwunderlich zu sein, dass Jirous seltsamer Bruder aus dem Ausland seine ebenfalls exotische Aushilfe besitzergreifend unterhakte. Fremde Sitten! "Du arbeitest heute nicht?" Erkundigte er sich neugierig. So, wie Jirou ihm seinen stets zuverlässigen, bienenfleißigen und unermüdlichen Bruder beschrieben hatte, passte dieser Exkurs nicht recht ins Bild. "Bin befreit." Grummelte Thomas. "Hab gestern ein paar Treffer abbekommen." "Was denn, wart ihr beide bei dem Mistwetter unterwegs?!" Oumi schnalzte und löschte seine Zigarette im kundenfreundlich deponierten Ascher vor der Tür. "Das nenne ich Pech!" "Geht schon." Brummte Thomas ungerührt. "Wir können uns gegenseitig verarzten. Und als abschreckende Beispiele fungieren." Nun konnte Oumi ein Grinsen nicht unterdrücken. Jirous "Bruderkomplex", wie er es heimlich für sich nannte, war nicht so weit gegangen, über den trockenen Humor seines Bruders hinwegzugehen. "Na, dann verkneife ich es mir wohl, euch gute Besserung zu wünschen, wenn ihr diesen ehrenvollen Auftrag länger erfüllen wollt." Thomas bleckte in einem Grinsen die Zähne und verabschiedete sich artig. Fabius blieb weiterhin untergehakt, hätte auch nicht ohne größere Gewaltanwendung entschlüpfen können. Nein, ihm war auch gar nicht nach Rückzug, denn so langsam nagte Erschöpfung an seinen Gliedern und mehr als einmal stolperte er auf ihrem Heimweg über die eigenen Füße. "Ich glaube, du legst dich mal ein Weilchen hin." Kommentierte Thomas seine Müdigkeit und wickelte ihn behutsam aus den "Verkleidungen". Dann half er ihm sogar noch die Treppe hoch und breitete den gelüfteten Futon aus. Fabius unterdrückte ein Gähnen und kroch artig unter die eigens für ihn aufgeschlagene Decke. "So, schön die Augen ausruhen und die Urwälder abholzen." Kommandierte Thomas launig, doch eine lädierte Hand fasste rasch nach seinem Handgelenk, bremste ihn. "Ich... ich darf doch bleiben, oder?" Fabius' graugrüne Augen flackerten besorgt, obwohl ihr fiebriger Glanz auch von Ermattung kündete. "He!" Thomas streichelte mit einer Hand sanft über die winzigen Löckchen. "Das habe ich doch gesagt, oder? Ich lass dich nicht gehen. Wenn du schon Menschen haben willst, die nach dir suchen und dich vermissen, dann wären wir doch wohl erste Wahl, nicht wahr?" Ein ziemlich wackliger Versuch, sein selbstherrliches Bekenntnis mit einem Scherz abzumildern, das wusste er selbst. Andererseits... mochte auch jeder andere, -gut, Jirou und Shinji ausgenommen!-, seines Weges ziehen, bei Fabius galt diese nachlässig-tolerante Einstellung nicht. Und, Kruzifix, da war er eben mal heillos ehrlich! Unter ihm lächelte Fabius schüchtern. "Und niemand wird mich holen und rauswerfen, richtig?" "Nein." Versicherte Thomas artig wie bei einem kranken Kind. "Du bleibst hier, und keiner kann das ändern." "Schön." Murmelte der jüngere Mann schläfrig und gab sein Handgelenk frei. Thomas folgte einem Impuls und beugte sich tiefer, küsste sehr behutsam den Haaransatz, um nicht mit Heilsalbe zu kollidieren. "Na los, Matratze abhorchen!" Raunte er mild. Dieses Kommando musste nicht wiederholt werden, da sich mit dem finalen Senken der Lider bereits Morpheus um den attraktiven "Kostgänger" bemühte. Thomas stemmte sich hoch und wieselte trotz seiner mächtigen Gestalt lautlos auf Zehenspitzen hinaus. <3~~~~ Jirou betrat, früher, als er selbst erwartet hatte, das gemeinschaftliche Haus und registrierte im Eingang, dass zumindest sein Bruder und Fabius schon eingecheckt waren. Lediglich Shinjis fröhliches Kärtchen stand noch auf "Ausgang". Er befreite sich von Schuhen und Jacke, stellte seine Tasche ab und schnupperte genießerisch. HmmmmMMMHHHHH!!! Das roch verlockend nach Gewürzen und geschmolzenem Käse und Lauchzwiebeln und MJAMMMM!! Seine Sensorik genoss die Herausforderung, und sein Hirn nahm Wetten über die Wahrscheinlichkeit an, welches Gericht GENAU die Ursache für dieses speichelfördernde Aroma war. "Uah, Tom, das riecht SO APPETITLICH!" Dröhnte er bereits aufgekratzt durchs Haus, bevor er einen Fuß in die Wohnküche setzte. Thomas sortierte auf einem Blech Blätterteigröllchen, die noch knisterten, gerade erst die "Röhre" verlassen hatten. Auf dem Arbeitstisch in einer schweren Steingutform dampfte wohlriechend ein Auflauf. "Wow, das sieht ja..." Jirous Kinnlade sackte herab, als er sich für einen kurzen Blick nur vom Abendessen löste und seinen Bruder in den Fokus nahm. Dann lachte er fröhlich heraus und jubilierte. "Hey, du siehst aus wie früher! Klasse!" Sein Auftritt hatte auch den süßen Schläfer aus dem Obergeschoss auf den Plan gerufen, der nun, noch leicht dösig, die Wohnküche betrat und in Jirou hineinlief. "Fabius!" Jirou nahm das nicht krumm, sondern pirouettierte elegant und studierte das gesalbte Gesicht. "Na, fühlst du dich schon ein wenig besser?" "..danke schön." Krächzte Fabius mit ausgedörrter Kehle. "Es spannt nur noch ein wenig..." Thomas reichte ihm einen Becher mit Tee. Überragte dabei natürlich seinen Bruder. Fabius' Kinnlade wiederholte Jirous Reaktion, ohne sich jedoch so schnell wieder zu besinnen. Er starrte mit weit aufgerissenen, graugrünen Augen. "Der Tee." Brummelte Thomas und bog die Finger einer schlaffen Hand um das Gefäß. Bemerkte eine lächerliche Verlegenheit bei sich selbst, wandte sich ab und verwünschte die Röte, die ihm in die Wangen schoss. Und die nun kein Bart mehr tarnen konnte. "Sieht cool aus, findest du nicht?" Jirou stippte Fabius sanft einen Ellenbogen in die Seite. "So hat er das letzte Mal ausgesehen, als er zur Lehre abgereist ist!" "Jaja!" Grollte Thomas eilig. "Jetzt hockt euch schon hin, gleich wird gegessen." Während er nun mit dem Rücken zur großen Arbeitsplatte hantierte, an die sich der Esstisch anschloss, spürte er in seinem Nacken das Prickeln eines konzentrierten, ja, laserscharf gebündelten Blicks. Rasch riskierte er eine Vergewisserung über die spiegelnden Schutzblenden an der Spüle. Fabius starrte ihn noch immer an. Thomas zog die Schultern hoch und verfluchte innerlich seinen Impuls. Möglicherweise war es doch eine blöde Idee gewesen, sich die Haare abzusäbeln und den Bart zu scheren! <3~~~~ Shinji lehnte vertraut an Jirous' Seite, rieb sich immer häufiger verstohlen die Augen. Das gute Essen, die noch bessere Laune von Jirou und ein sehr langer, von körperlicher Arbeit gezeichneter Tag forderten ihren Tribut. "Ich glaube, wir sagen jetzt besser mal gute Nacht." Jirou fasste Shinji schmunzelnd unter. "Wie heißt es so schön: morgen ist ja auch noch ein Tag! Also, schlaft gut!" "Gute Nacht." Krächzte Fabius artig und heiser. Aus irgendeinem Grund schien sein Mund schon wieder trocken zu sein! Thomas schloss sich seinen Worten brummend an und erhob sich. "Ich schau mal nach dem Bad. Räumst du hier unten auf?" Fabius starrte ihm ins Gesicht, schreckte dann unvermittelt zusammen, als ihm bewusst wurde, dass er eine Antwort und überhaupt eine Reaktion schuldig war. Stotterte "j-ja! S-sofort!" und fiel beinahe über die Sitzbank, so hastig kam er auf die Beine. "Nur keine Hektik!" Grummelte Thomas und verwünschte die dämliche Verlegenheit, die Fabius' Verhalten in ihm hervorrief. Er stapfte, auf unerklärliche Weise unruhig, die Treppe hoch und beleuchtete das Badezimmer. Jirou würde ein heißes Bad sicher zu schätzen wissen, während Shinji wohl nicht mehr von seinem Futon zu trennen war. "He." Unvermittelt tauchte sein Bruder hinter ihm auf, strahlte ihn in voller Wattstärke an. "Du hast es geschafft!" "Geschafft?" Echote Thomas verwirrt. "Aber hallo!" Jirou klopfte ihm auf die Schulter, wozu er sich strecken musste. "Das finde ich toll! Ehrlich, er hat dich heute keinen Moment aus den Augen gelassen!" Thomas blinzelte, dann, ärgerlicherweise, entflammte sein Gesicht. "Das... das hat nichts zu bedeuten." Wiegelte er ab. "Unsinn!" Widersprach Jirou ihm gut gelaunt. "Er steht auf dich! Ganz sicher!" "Das kannst du nicht wissen." Thomas zog metaphorisch den Kopf zwischen die Schultern. "Wahrscheinlich seh ich bloß komisch aus." Und darin hatte er durchaus Erfahrung. Mehr als einmal war er gefragt worden, ob seine Augenfarbe auf Special effects-Kontaktlinsen beruhte. Ob er eine Art Neo-Goth darstellte (wobei Thomas nicht mal verstand, um was es sich dabei handelte). Zugegeben, er SAH merkwürdig aus. Wilde, kupferrote Kringellocken wie eine Korona ums Haupt, tiefschwarze Augen unter den buschigen, roten Augenbrauen. Und ein spitzes Kinn, das nicht sonderlich heldenhaft wirkte und für einen echten Recken kaum passend war. So sah er wirklich exotisch aus. "Nein, so guckt keiner, der bloß staunt!" War Jirou nicht abzubringen. "Ich sage dir: Fabius ist total in dich verknallt!" "Aha." Murmelte Thomas und konzentrierte sich auf seine Zehen. Jirou rückte vertraulich an ihn heran. "Tom, lass dir das nicht entgehen, hörst du? So leicht kommt so eine Chance nicht mehr wieder, und ich weiß, wovon ich spreche!" "Jaha." Grollte sein Bruder verlegen, schnaubte leicht und brummelte. "Hör mal, sag mir Bescheid, falls du irgendwo Mondhasen sehen solltest, ja?" "Und dann?" Jirou nahm das durchaus ernst, auch wenn er lächelte. Immerhin gab es eine Menge zwischen Himmel und Erde, was einem nicht ganz koscher vorkommen konnte, nichtsdestotrotz aber existierte. "Dann such ich mir ne Flinte!" Donnerte Thomas grimmig. Und dann wäre die Jagdsaison aber eröffnet! <3~~~~ Als Fabius bei reduzierter Beleuchtung den Gang zum Schlafzimmer antrat, lief er unerwartet in Thomas' breite Gestalt, der gerade das Badezimmer verließ. "Obacht!" Warnte der ihn, fasste stützend nach Fabius' Schultern, trat dann aber verlegen einen Schritt zurück. "Tut mir leid." Murmelte Fabius und studierte ebenso verlegen eingehend seine Zehen. "Ich... ich komme gleich nach." Hastig drehte sich Thomas zur Seite, wollte Fabius passieren lassen. Der schlich mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Offenkundig geknickt. "Ach, verdammt!" Schnarrte Thomas, schnellte vor, wirbelte Fabius herum, fing ihn sicher auf und küsste ihn auf den vor Überraschung geöffneten Mund. Das funktionierte... beeindruckend gut. So beeindruckend, dass sie beide mit weichen Knien an der Wand lehnten, einander keuchend beäugten. "Schätze, du findest mich doch nicht so hässlich." Murmelte Thomas schließlich mit einem schiefen Grinsen. Trotz der gedämpften Beleuchtung konnte er Fabius völlige Verblüffung spüren. "Hässlich?! Wieso hässlich?" Wiederholte der jüngere Mann perplex. "Du bist doch nicht hässlich!" »Uhoh!« Kommentierte eine Stimme in Thomas' Hinterkopf. »Das ist jetzt ein wenig peinlich...« Dasselbe schien auch Fabius zu empfinden, denn eilig wandte er das Gesicht ab. "Na ja..." Murmelte Thomas verlegen. "...du hast dauernd zu mir rübergeguckt..." "Das war doch nur, weil du wie der Fuchsgeist aussiehst!" Rutschte es Fabius in Selbstverteidigung heraus, bevor er rasch unter sich schaute. "Ich meine... also... das ist ein wenig... verrückt..." "Ich sehe aus wie ein Fuchsgeist?" Nun war es an Thomas, fassungslos auf den krausen Schopf zu starren. Also, SO hatte ihn ja wirklich noch keiner beschrieben! "Warte mal...!" Schaltete sich auch endlich wieder sein Verstand ein. "Was meinst du denn mit 'verrückt'?" Fabius tippelte unruhig vor ihm auf und ab, rang offenkundig mit sich, ob eine Offenbarung die Situation retten oder vollkommen ruinieren konnte. Thomas beugte den Kopf und raunte sonor in ein Ohr. "Sag's mir bitte." Eine leichte Bewegung deutete ihm an, dass jemand vorsichtig nach oben schielte. Auch wenn sein Gesichtsausdruck in der dämmrigen Beleuchtung, die hauptsächlich Schatten warf, nicht auszumachen war. "...als...als ich dich gesehen hab..." Murmelte Fabius schließlich. "...da warst du mir total vertraut! So, als hätte ich dich bloß vergessen, was aber doch nicht sein kann, weil ich ja nicht wirklich mein Gedächtnis verloren habe!" In Fabius' Tonfall schlich sich Verzweiflung. "Aber...aber das war so ein starkes Gefühl und ich wollte mich erinnern! Und es ist ja auch komisch, dass ich dich nicht vorher erkannt habe, aber trotzdem... Und dann dachte ich an den Fuchsgeist, aber den habe ich ja nicht vergessen...!" Seine Worte verloren sich in vergeblichem Bemühen, die verwirrten Empfindungen aufzudröseln und verständlich zu machen. "Willst du damit sagen, dass wir uns schon mal begegnet sind?" Tastete sich Thomas mit einem selbstironischen Argwohn vor. Er ROCH Mondhasen! "Es FÜHLT sich so an!" Nun blickte Fabius ihm direkt ins Gesicht. "Aber wieso kann ich mich nicht erinnern?! Das ist so verrückt!" "Du hast ja keine Ahnung!" Tröstete Thomas grimmig, schlang eng die Arme um die Schultern des jüngeren Mannes und überhörte geflissentlich das angedeutete Kichern des Lauschers hinter der Badezimmertür. "Entschuldigung." Wisperte Fabius an seinem Ohr, schmiegte sich in die gastfreundlichen Arme. "Ich werde nicht mehr starren." "Oh, das macht gar nichts." Beschied Thomas großzügig. "Wenn ich schon nicht mehr kühner Recke sein kann ohne Bart, dann eben Fuchsgeist! Ist mal was anderes." Behutsam drehte er ihre verschlungene Gestalt Richtung Schlafzimmer. "Aber den Rest besprechen wir lieber unter uns." »Ätsch, Jirou!« "Ach..." Im Türrahmen hielt er inne, straffte seine mächtige Gestalt. "...der Fairness halber weise ich dich daraufhin, dass ich ab jetzt mein Möglichstes tun werde, um dir an die Wäsche zu gehen. Bitte richte dich also auf unmoralische und unzweideutig einschlägige Offerten ein." »So, damit ist auch der feinen Lebensart und Erziehung Genüge getan!« Fabius lachte leise, nachdem er einen Augenblick benötigt hatte, die Botschaft ob ihrer Verschnörkelung zu dechiffrieren. "Prima, ich bitte darum! Und..." Er stieg auf die Zehenspitzen und flüsterte Thomas zu. "...wenn ich es mal nicht gleich kapieren sollte... mach's mir unbedingt verständlich, ja?" "Aber hallo!" Schnurrte Thomas sonor wie ein Zwölfzylinder und wirbelte Fabius ungeniert in ihrem Zimmer um die eigene Achse, bevor sie ein wenig atemlos vor Lachen einen Eskimokuss tauschten. <3~~~~ Jirou ließ das Wasser seiner überlangen Locken auf das umgelegte Handtuch tropfen, während er mit einem siegesgewissen Grinsen sein Mobiltelefon bediente. "Papa? Entschuldige bitte die späte Störung!" "Uns geht's prima, keine größeren Schäden! Sag mal, bist du auf einer Party?" "Haha, das höre ich! Sag mal, hast du nicht Lust, zu Neujahr zu uns zu kommen?" "Oh, und bring bitte dein Siegel und das Familienregister mit, ja? Hier ist ein absolut umwerfender, sehr lieber, junger Mann, der keine Familie mehr hat und du wirst ihn bestimmt mögen! Er ist quasi schon unser Bruder, wenn du verstehst..." "Nein, Shinji ist natürlich auch noch da! Wir mögen ihn alle, aber am meisten ist Tom von ihm angetan." "Ja, das hättest du wohl nicht gedacht, was?" "Danke, Papa! Viel Spaß noch auf der Party! Wir telefonieren wieder!" Sehr zufrieden beendete Jirou sein Gespräch, frottierte entschlossen seinen wilden Schopf, hängte seine nassen Handtücher ordnungsliebend auf, bevor er über den Flur in sein Schlafzimmer wieselte. Leise Atemzüge verrieten ihm, dass Shinji schon fest schlief. Immer noch strahlend lupfte er die Decke an, kroch darunter und schmiegte sich leise kichernd an seinen Freund. Shinji gab ein leises Brummen ab und arrangierte sich unbewusst in eine Lage, die ihnen beiden am bequemsten sein würde. Verzaubert von der Wärme, die Shinji so freigiebig verströmte, kuschelte Jirou und wisperte aufgekratzt. "Wirst sehen, Shin, das wird das beste Neujahrsfamilientreffen aller Zeiten!!" Und irgendwo auf dem Mond buken fleißige Häschen bereits unzählige Kekse. <3~~~~ Ende <3~~~~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera ^-^