Titel: Selbst gemacht Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Erstellt: 25.07.2012 +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ - +~*~+ Selbst gemacht Kapitel 1 - Verzauberung Shinji Mishima spürte den Basiliskenblick in seinem Nacken und das vernehmliche "Plopp", mit dem sich sein rechtes Gehör verabschiedete. "Stress." Pflegte ihm der Betriebsarzt zu diagnostizieren. "Bewegen Sie sich mehr. So verliert sich auch die Steifigkeit in Ihrem Nacken." Leichter gesagt als getan. Vor allem, wenn man 12-Stunden-Tage plus Bahntransfer als kleines, unbedeutendes Rädchen in einer Ameisenfarm-ähnlichen Firma ableistete. Jetzt auch noch in den Radar von Frau Oogata geriet! Frau Oogata war eine Institution, die Graue Eminenz und uneingeschränkte Herrscherin des gesamten Wohnblocks. Sie präsidierte verschiedenen Nachbarschafts- und Interessenkomitees, kannte alle und alles besser als Hellsehende mit Röntgenblick, unterließ keine Gelegenheit, ihre Allmacht zu demonstrieren. Shinji stolperte in den schweren Schuhen seiner Drohnentätigkeit, als er unterwürfig den Kopf neigte, scheu einen Gruß Richtung Trottoir murmelte. Er hatte Angst vor Frau Oogata. Seit zwei Jahren bewohnte er in dem bürgerlichen Wohnblock ein Einzimmerappartement. Er gedachte, es auch um jeden Preis zu erhalten. Die Miete war, im Tokioter Umkreis gemessen, moderat, die Nachbarschaft ruhig und gesittet. Er erwartete nicht viel vom Leben, wünschte sich jedoch, abends nicht noch in ein Schlachtfeld zurückzukehren, wie es im Studentenwohnheim gewesen war. Frieden hatte man ausschließlich in seiner eigenen "Burg", ganz allein mit sich selbst. Hastig schleppte er sich die Stufen hoch, folgte der Außengalerie bis in den sechsten Stock, ohne den Bannblick in seinem Nacken zu verlieren, der diesen noch stärker verkrampfte, ihn folterte. Die Schultern hoch bis an die Ohren gezogen hastete er schlappend weiter, den gehetzten Blick auf seine Zuflucht gerichtet. Um dort, vor der eigenen Wohnungstür, verblüfft innezuhalten. Am Knauf hing eine blickdichte weiße Plastiktüte mit Inhalt unbekannter Beschaffenheit. Oder Herkunft. »Was hat das zu bedeuten?« Zögerlich streckte Shinji die Hand aus, hörte das Knacken seiner Nackenwirbel im linken Ohr. Rechts summte es bloß noch gedämpft. Hatte sich jemand in der Tür geirrt? Eine Verwechslung? Oder ein boshafter Streich? Was bedeutete das? Einige Geschosse tiefer rammte vernehmlich eine Tür ins Schloss. Sie gehörte zu der Einfriedung für den Mülltütenlagerungsplatz, signalisierte, dass Frau Oogata ihn in den Fokus nahm. "Ah..hahaha!" Krächzte Shinji eilig, zwang falsche Erkenntnis und noch lächerlichere Erleichterung auf seine abgekämpfte Miene. Er apportierte hastig das dubiose Präsent, stolperte nach ungelenkem Gefummel mit dem Türschlüssel in seine eigenen vier Wände. Ächzend lehnte er sich von innen gegen die Tür, verdrängte einen Übelkeit erregenden Anflug von Schwindel. Er ließ, als habe er sich verbrannt, hastig das ominöse Paket auf die Eingangsstufe sinken. Da ihm ohnehin recht flau war, seine Knie schmerzten, von seinem Genick und den verhärteten Schultern ganz zu schweigen, ging er in die Hocke, inspizierte nervös die weiße Plastiktüte, die ordentlich verknotet hübsch anzusehen war. Bedauerlicherweise jedoch ohne jeden Aufdruck oder ein Signet ob ihrer Herkunft. "Oh!" Begrüßte Shinji einen flüchtigen Gedanken, der sich seiner Verwirrung dazugesellte: war nicht heute der Weiße Tag? Er hob die Linke an, studierte seine altmodische Armbanduhr. Sie stellte kein modisches Accessoire von großem Wert dar, verfügte auch nicht über irgendwelche technischen Raffinessen. Das Lederarmband war mehrfach ausgetauscht worden. Das Deckglas prägten zwei Kratzer. Abgesehen von einem Zifferblatt mit römischen Lettern konnte man lediglich das Datum ablesen. Die Uhr hatte ihm der Großvater vermacht, der gestorben war, als Shinji noch zur Grundschule ging. Er trug sie seitdem, weil er nicht wusste, was er sonst mit ihr hätte anfangen sollen. In einer Schachtel aufbewahrt würde sie keinen Zweck erfüllen, so viel stand zumindest fest. Eine besondere Verbundenheit leitete er jedoch nicht von ihr ab. Sie war eine Uhr für das Handgelenk, wurde eben dort getragen. Mehr nicht. Sie zeigte ganz unmissverständlich und zuverlässig, dass er sie um 21:37 Uhr des 14. März betrachtete. Der 14. März bedeutete, wie in jedem Jahr, dass genau ein Monat seit dem Valentinstag vergangen war. Somit die Frist ablief, sich für die Schokolade zu bedanken, die man erhalten hatte. Üblicherweise als Präsent von Frauen an Männer. Shinji schlug die Stirn in Falten. Er hatte definitiv keine Schokolade erhalten. Und wenn, hätte sich dieses Paket ja nicht an SEINER Tür, sondern an der seiner Herzdame befinden müssen. Wobei es besagte Dame nicht gab, um den Gedanken zu Ende zu führen. »Ergo muss es eine Verwechslung sein. Am Weißen Tag eine weiße Tüte mit Inhalt, das muss ein Geschenk eines Mannes an eine Frau sein!« Er erhob sich aus der Hocke, schlüpfte aus den schweren Galoschen. "Hmmm..." Grübelte er laut, während er vorsichtig über die Tüte hinweg stieg, nach dem kleinen Wasserkessel griff, ihn füllte, sich auf dem bescheidenen Gasfeld Wasser für Tee zubereitete. Eine Verwechslung, sehr wahrscheinlich. An seiner Tür stand, dafür hatte Frau Oogata unerbittlich und deutlich hörbar gesorgt, in sauberen Zeichen sein Name. In der gesamten Wohnanlage hatte er bisher noch keine Verwechslung erlebt. Es gab schlichtweg niemanden, dessen Namenszeichen in welcher Lesart auch immer mit seinem Namen irrtümlich vertauscht werden konnten! Seltsam. Shinji goss sich einen Tee auf, atmete tief durch, schlüpfte aus seiner Anzugjacke, was ihm ein rheumatisches Stöhnen entlockte, hängte sie auf den Kleiderbügel. Zögerlich versuchte er, die Schultern zu rollen, doch die Schmerzwellen schüchterten ihn sofort ein. Er kauerte sich, seine Teeschale in der Hand, wieder vor die Tüte. So sehr er sie studierte, von allen Seiten, sie anhob, auf ihren Boden schielte: sie wollte ihr Geheimnis nicht preisgeben. Es gab also keine Alternative. Wenn er herauszufinden beabsichtigte, wer ihr tatsächlicher Eigentümer war, blieb ihm nichts Anderes übrig, als die Griffe, die wie Hasenohren abstanden, aufzuknoten und einen inquisitorischen Blick hineinzuwerfen. "Und wenn es ein Streich ist?" Shinji leckte sich nervös die Oberlippe, nippte hastig an seiner Teeschale. Er hatte schon davon gehört... oder irgendwo gelesen... nun, wie dem auch sei, gab es nicht Jugendliche, die sich böse Späße erlaubten? Die Müll oder Exkremente irgendwo deponierten, sich über ihre arglosen Opfer amüsierten? Misstrauisch schnüffelte er am Plastik. Es roch nicht unangenehm. Vielmehr leicht blumig, wenn auch mit einer sehr zarten Note. Shinji stellte die Teeschale in sicherer Entfernung ab, massierte und dehnte sich die Fingerglieder, bevor er von einem tiefen Atemzug begleitet die Hasenohren aufdröselte. Tollkühn spähte er in das Innere der Plastiktüte. Darin befand sich ein recht stabiler Kubus aus Pappe. Eine Schachtel. Ebenso geheimniskrämerisch wie die Plastiktüte: auch hier konnte er weder einen Namen noch einen anderen Aufdruck erkennen. "So was!" Brummelte er, was für seine Verhältnisse als "verflixt und zugenäht!" fungierte. Es gab kein Zurück. Auch wenn ganz zweifelsohne dieses Präsent nicht ihm zugedacht war: wenn er ergründen wollte, wem es gehörte, mussten die schmalen, durchscheinenden Klebestreifen an der Seite der Schachtel abgelöst, der Deckel angehoben werden. Das setzte Shinji in die Tat um. Im Inneren der Schachtel schmiegten sich in Papierförmchen getopft kleine Kuchen mit farbigen Verzierungen gekrönt aneinander. Sie dufteten leicht nach Blüten, was wohl auch die winzigen Einsprengsel im Teig erklärte. "Uff!" Entwich Shinji verblüfft die angehaltene Luft. Seine Schultern, die vor Anspannung die Ohrläppchen eingequetscht hatten, sackten herunter. Das löste erneut eine Schmerzwelle aus. Er ließ den Deckel sinken, bemerkte an einem farbigen Blitzen, dass der Deckel nicht wie Tüte und Schachtel simpel weiß gehalten war. Nein, jemand hatte an der Innenseite einen rosafarbenen Zettel in Herzform befestigt. [Vielen Dank für Deine Güte] Stand dort in gedruckten Zeichen zu lesen. Nun war Shinji Mishima wirklich ratlos. +~*~+ Es war eine harte Nuss, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Auch drei Tage später, Shinji musste mal wieder am Samstag in die Firma, um die Ergebnisse von automatischen Rechnungsläufen zu überprüfen, lärmte in seinem Hinterkopf die ungelöste Frage nach der Herkunft des seltsamen Präsentes zum Weißen Tag. Er war ganz sicher nicht der korrekte Adressat, doch wer dann? Was hatte diese Person wohl getan, dass man ihr eine Schachtel süßer Blütenkuchen schenkte? Rätsel über Rätsel, wohin man auch schaute. Nicht mal die Kuchen oder ihre Papiertütchen hatten ihm ihr Geheimnis verraten! Auch gesellte sich ein schlechtes Gewissen zu den offenen Fragen. Nachdem Shinji die kleinen Kuchen seinem anämischen Kühlschrank anvertraut hatte, in der festen Absicht, ihnen lediglich so lange Obdach zu gewähren, bis er ihren wahren Besitzer fand, waren sie nun nur noch eine Erinnerung, festgehalten auf mehreren Bildern, die er mit seinem Mobiltelefon zwecks "Beweissicherung" geschossen hatte. Krem, das wusste er, verdarb, wenn man sie nicht beizeiten verzehrte. Eingebackene Blüten wollten auch nicht lange irgendwo herumstehen. Also hatte er, um das wertvolle Geschenk nicht abzuwerten, nach und nach die kleinen Kuchen selbst verspeist. Sich geschworen, selbstverständlich Ersatz zu stiften, sobald er erst mal herausgefunden hatte, wem sie zugedacht und wo sie hergestellt worden waren. Diesen Mysterien war er noch keinen Schritt nähergekommen. "So was!" Murmelte Shinji unzufrieden mit sich selbst. Aufgeben kam jedoch nicht in Frage! +~*~+ Es war wieder einer dieser farblosen Tage, wo man "robotten" ging, in eine Routine eingeschlossen, steril und kontaktfrei wie in einem Glaskäfig. Das Leben fand woanders statt, während man von sich hin existierte. Jetzt, den Nacken steif, die Schultern krumm, die Haltung eingesunken, quetschte man sich in einer Geruchswolke aus Parfüm, Aftershave, Schweiß und fetthaltigen Speisen in einen überfüllten Waggon mit unzähligen Leidenden, die alle bloß noch nach Hause wollten. Shinji erspähte die Frau, weil sie nicht wie die meisten anderen Personen um ihn herum in eintönige, gedeckte Farben gekleidet war. Sie hatte sich einen apfelgrünen Kurzmantel übergeworfen, hielt sich so, dass er eine Schwangerschaft vermutete. Das Gedränge, mutmaßte er, musste dem zierlichen Persönchen Angst machen. Da er das Glück einer kleinen Nische an der gegenüberliegenden Tür gehabt hatte, bugsierte er unter Einsatz von Rücken und Kehrseite die Frau in sein Refugium, ignorierte das wütende Brummeln und Schimpfen. Er war den Umstehenden nicht gram. Nicht alle konnten sofort sehen, dass sich sein Schützling in anderen Umständen befand. Wer wollte auch schon gern geschubst und gedrängelt werden? Die junge Frau lächelte erleichtert, neigte den Kopf. Shinji erwiderte die Geste, fühlte sich, als habe er an diesem Tag doch etwas Wesentliches getan. Seine Existenz gerechtfertigt. +~*~+ Ursächlich waren die Blätter. Die unselige Zimmerlinde, ein besonders widerstandsfähiges Gewächs, sei es auch nur aus Trotz und Bosheit!, hielt sich seit Jahren neben der Garderobe in einem gewaltigen Übertopf. Sie zu entsorgen bedurfte einer logistischen Meisterleistung. Eine Anstrengung, der sich bisher niemand hatte unterziehen wollen. Also lauerte sie weiterhin an der Garderobe, "nadelte" ihre vertrockneten Blätter, sehr zum Missfallen der Nutzenden und des Reinigungspersonals. Shinji hatte sich angewöhnt, am Abend seine Jackentaschen entsprechend zu inspizieren. Als kleines Rädchen im Getriebe und Quasi-Neuling in der Firma befand sich sein "Haken" direkt unter dem lästigen Baum. An diesem Abend jedoch fand er keine vertrockneten Blätter, die in seinen Taschen zerkrümelten, sondern ein winziges Päckchen mit hauchzarten Plätzchen in einer durchsichtigen Tüte. Sie war zugekordelt, transportierte in einer kleinen Klappkarte eine Botschaft. [Danke für Deine Aufmerksamkeit.] Shinji seufzte hilflos, beäugte das unerwartete Präsent vorsichtig. Wo kam es her? Wie war es in seine Jackentasche gelangt? Was hatte er getan, um sich eines Präsentes würdig zu erweisen? "Ich verstehe das nicht." Murmelte er verwirrt. Diese Entwicklung bedurfte einer genaueren Analyse. Wenn, rein hypothetisch, ein Irrtum ausgeschlossen war und sowohl Kuchen als auch Kekse TATSÄCHLICH für ihn bestimmt waren: wer war der Absender? Konnte es jemand aus der Firma sein? Hatte er vielleicht eine heimliche Verehrerin? Shinji ging in Gedanken systematisch die jungen Damen durch, mit denen er flüchtig bekannt war. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass eine von ihnen ausgerechnet auf ihn aufmerksam geworden sein sollte. Und, da biss die Maus keinen Faden ab, über besondere Qualitäten verfügte er nun mal nicht. Vor allem nicht, so ehrlich musste man schon sein, wenn die Kolleginnen in seiner Hörweite disputierten, welcher Kollege für eine Ehe überhaupt in Frage käme. Da waren die Ansprüche durchaus gehoben, weit über seinen Möglichkeiten. Wenn es keine Kollegin war, konnte es eine andere Frau sein? Soweit er sich entsinnen konnte, unterhielt er als "Privatmann" lediglich Kontakte zu den Mitarbeiterinnen des örtlichen Supermarkts und der Reinigung. Diese Damen waren jedoch entweder selbst langjährig gebunden, ihm im Alter deutlich voraus oder viel zu jung und unverkennbar desinteressiert an seiner Person. Vielleicht hatte er es auch gar nicht mit einer Frau zu tun! Möglicherweise hatte er einen Stalker! Die ja meist männlich waren.... Der Gedanke war so absurd, dass Shinji selbst den Mund verzog. Stars und Berühmtheiten hatten Stalker, aber doch nicht so eine unwichtige Person wie er selbst! Was erneut an den Anfang des Rätsels führte: wer und warum? "Und wie, nicht zu vergessen..." Murmelte Shinji, öffnete das Päckchen vorsichtig. Es roch nach feinem Teig und sehr appetitlich. Tollkühn verzehrte er eine Oblate. Konnte es sein, dass sein unbekannter Verehrer ihm dieses Präsent im Gedränge der U-Bahn in die Tasche geschoben hatte? +~*~+ Shinji entschied sich nach eingehender Betrachtung der Situation für ein strategisches Vorgehen: eliminiere das Offenkundige durch Überprüfung. Schritt 1 bestand darin, seinen Kurzmantel am gewohnten Haken aufzuhängen und regelmäßig zu kontrollieren, ob sich dort etwas anderes als morsche Blattreste der unsterblichen Zimmerlinde befanden. Das Resultat war gleich Null, ließ den Schluss zu, dass sein unbekannter Verehrer oder die anonyme Anbeterin ihm wohl im Gedränge des Waggons oder auf dem Bahnhof begegnete. Alternativ konnte man natürlich auch nicht ausschließen, dass er sich keine weitere Gabe verdient hatte oder aufgeflogen war. Diese Optionen ließ Shinji großmütig beiseite. Es galt, nicht wie gewohnt müde oder erschöpft auf Halbautomatik am Bahnsteig zu warten, ein weiterer Lemming in einem dicht gepressten Rudel, sondern aufmerksam, aber nicht argwöhnisch seine Umwelt in den Fokus zu nehmen. Desgleichen im Zug. Leichter geplant als getan! Im Gewühl, eine Art Massenhysterie, den Kopf in den Nacken gelegt, die Habseligkeiten an sich gepresst in der latenten Panik, zu stolpern, eine Galosche zu verlieren oder im Gewühl tot gequetscht oder -getreten zu werden, war es gar nicht so einfach, gleichzeitig rechts und links nach unten zu schielen und die Nebenleute im Auge zu behalten! Wenn man stand, eingekeilt und von allerlei fremden Körperpartien umkreist, die man artig so ignorierte, als befände man sich allein auf weiter Flur, kostete es schon große Anstrengungen, sich umzusehen. Außerdem, das wurde Shinji durch einen verächtlichen Blick bewusst, konnte das konzentrierte Blicken, also nicht ins Ungefähre starrend, quasi in andere Sphären entrückt, den Eindruck erwecken, ER wäre einer dieser ominösen Gestalten, vor denen im SD-Format auf Plakaten Sicherheitsbeamte der Bahngesellschaft warnten. Ein Grapscher, ein Dieb, ein Perversling oder Sittenstrolch! Nichts lag Shinji ferner. Er war ehrlich genug einzugestehen, dass er eine gewisse Furcht davor hatte, aus der anonymen Masse ausgedeutet und ausgegrenzt zu werden. Er wollte nicht auffallen. Zwei Stationen vor seinem eigenen Ausstieg gab es ein Handgemenge mit Unruhe. Viel zu viele Passagiere wollten zusteigen, andere drängelten gegen den Strom an, um den Waggon zu verlassen. Im Gewusel verhakten sich die Gehänge eines Rucksacks mit einer Schultertasche. Shinji wurde, ohne das zu beabsichtigen, herumgewirbelt im Sog, fand sich plötzlich, ein Arm hochgelupft, um nach einer Halteschlaufe zu haschen, in Reichweite der Verknotung. Über die Kakophonie konnte sich seine Stimme nicht Gehör verschaffen, also fummelte er eilig allein. Die Verstrickung löste sich. Im letzten Moment konnte die Konfusion beendet, die richtige Richtung eingeschlagen werden. Er erwartete keinen Dank. In dem Durcheinander wusste wohl niemand so genau, was passiert war. Er zuckte jedoch unter dem finsteren Blick eines Mannes in Trainingsanzug zusammen, den er mit seinem ausgestreckten Arm gestreift hatte. Hastig murmelte er eine Entschuldigung. Dieser Bursche sah nach Ärger aus, knurrte ihn auch noch verächtlich an! Shinji klebte das Hemd auf der Haut, als er endlich der Menschenpresse entkommen konnte. Er fühlte sich ein wenig schwindlig, da sein hochgestreckter Arm heftig prickelte. Niemand nahm glücklicherweise Notiz von seinen Bemühungen, die Blutzirkulation wieder in ordentlichen Schwung zu bringen. "Was für ein Tag!" Ächzte Shinji leise, schlappte in den schweren Galoschen zu seinem Appartement. Es war ihm nicht gelungen, das Geheimnis zu lüften. Vielleicht, das bedrückte ihn ein wenig, hatte die "Verzauberung" seines eintönigen Alltags schon ihr Ende gefunden. +~*~+ Seine kleinmütigen Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Eine Woche verstrich, ohne dass die geheimnisvolle Person ihm noch ein Zeichen der Anerkennung zukommen ließ. "Nun ja." Seufzte Shinji, schluckte in sparsamen Gesten seinen Tee. Was hatte er auch erwartet? Nicht einmal bedankt hatte er sich! Zugegeben, es war schon ein wenig knifflig, ganz sicher für ihn!, wenn man nicht genau WUSSTE, wer der Absender war. Aber auf eine gewisse Weise fühlte sich Shinji unzulänglich. Inkompetent. Ein anderer wäre bestimmt auf eine originelle Lösung gestoßen! Hätte sich nicht unterkriegen lassen, sondern reagiert! Zum Beispiel, na, eine Plakatwand gemietet für einen Dankesgruß! Oder Wurfzettel verteilt. Oder... Aber all diese Ideen eigneten sich für extrovertierte Personen im Kintopp. Nicht für einen unscheinbaren Mann, der ein bedeutungsloses Leben führte, wahrscheinlich nur durch eine Verwechslung temporär in die Gunst des unbekannten Stifters gekommen war. Als er an diesem Abend wieder spät Richtung Bahnstation hechtete, klebte ein unerwartet heftiger Schauer die ersten Blütenblätter an seine Schuhsohlen und den Mantel. Triefend nass, deshalb ausgegrenzt wartete er in der Reihe auf seinen Zug, in einer langsam wachsenden Pfütze. Shinji war sein Auftritt unangenehm. Deshalb starrte er konzentriert mit gesenktem Kopf auf seine nassen Schuhspitzen. Die Galoschen mochten massiv wirken, aber das hinderte sie nicht daran, wie leckgeschlagene Kähne vollzulaufen, ihm eiskalte, nasse Füße zu verschaffen. Warum hatte er bloß den Taschenschirm zu Hause gelassen? Was wäre passiert, wenn ihn der Schauer auf dem Weg zur Arbeit überrascht hätte! So konnte er sich doch nicht sehen lassen! "Der Zug!" Hörte er hinter sich eine ärgerliche Stimme, drängte aufgeschreckt zu den Doppeltüren. Seine eigene Misere hatte ihn blind und taub für seine Umgebung gemacht. Jetzt stellte er eine weitere Zumutung dar, nicht nur klatschnass, sondern auch noch unaufmerksam! So sehr man ihm im üblichen Gedränge auch ausweichen wollte: es gab nicht genügend Platz. Also murrte man. In der allgegenwärtigen Klimaanlage vermischten sich die Ausdünstungen der Passagiere zu einem stickigen Sumpfgestank. Shinji schämte sich seines roten Kopfes, wünschte verzweifelt, diese Tortur wäre bald beendet. Eine Durchsage warnte vor einer Verzögerung. Die Bremsen griffen energisch. Man stieß gegeneinander, grummelte ob der Umstände. Die Schrecksekunde zwang Shinji, nach oben zu schauen, direkt in das Gesicht eines Fremden, der hoch bei den Türen aufragte und ihm unverwandt in die Augen sah! Hastig senkte Shinji den Kopf, zog die Schultern hoch. Seine ganze Körpersprache verkündete: "ich bin quasi unsichtbar, ganz unbedeutend und habe bestimmt nicht gestarrt!" Vor seinen Augen tanzte wie zum Hohn das Bild des Fremden, einer gewaltigen Gestalt mit breiten Schultern, von hohem Wuchs und mit einem dichten goldroten Bart. Ein Ausländer, ganz gewiss, unverkennbar. In seinem Auftreten und dem zwingenden Blick lag unendlich viel mehr als bei jedem Touristen, der Shinji mit einem Seitenblick jemals gestreift hatte. Warum hatte ihn dieser rotbärtige Riese so angesehen?! Hatte er ihn etwa unwissentlich beleidigt? Shinji stürmte trotz seiner dampfenden Kleider und der hinderlichen Galoschen in Höchstgeschwindigkeit aus dem Waggon und dem Bahnhof. Er keuchte noch hektisch, als er sich in seinem Appartement mit zitternden Knien auf die Eingangsstufe sinken ließ. +~*~+ Eine Erkältung folgte dem unerwarteten Guss, stellte jedoch keinen Grund dar, am nächsten Tag der Arbeit fernzubleiben. Shinji operierte mit Erkältungsmedikamenten, hielt mit viel Tee das Fieber in Schach, das seine Wahrnehmung in wolkenweiche Watte packte. Als er auf dem Heimweg weitere Medikamente in seine Manteltasche stopfen wollte, zog er überrascht die Hand zurück. Zwischen seinen Fingerspitzen, vorsichtig herausgeangelt, hing eine kleine Tüte mit Halsbonbons. Ein kleines Kärtchen klebte darauf. Shinji stopfte die Medikamente in die andere Manteltasche, inspizierte im Dahintrotten die Botschaft. [Gute Besserung und schone Dich ein wenig.] "Danke." Murmelte Shinji gerührt, blinzelte fiebriges Wasser aus den Augen. Es tat gut, dass es noch jemanden kümmerte, wie es ihm ging. +~*~+ Shinji kannte den Ratschlag, dass man ein Wunder nicht hinterfragen solle, sonst bliebe es aus. Vielleicht wäre es auch besser, nicht die Identität seines geheimnisvollen Wohltäters ergründen zu wollen, sondern einfach dessen Aufmerksamkeiten zu akzeptieren und die Anonymität zu wahren. "Wenn er oder sie sich mir offenbaren wollten, würden sie es wohl auch tun. Ergo gibt es gute Gründe, sich nicht mit mir bekannt zu machen. Das muss man akzeptieren." Weil es der Höflichkeit entsprach. Weil man in keiner Position war, wo Forderungen gestellt werden konnten. Gleichzeitig jedoch konnte Shinji nicht einfach und vernünftig aufstecken. Wenn jemand einem Gutes tat, wollte man diese Gesten doch erwidern! Seinen Dank zollen! Der eigenen Freude sichtbaren Ausdruck verleihen! "Also werde ich jetzt RICHTIG die Augen offen halten!" Nahm Shinji sich entschlossen vor. +~*~+ Ein weiterer Tag verstrich. Auf dem Heimweg, verstohlen in seinen Manteltaschen forschend, fand sich kein unerwartetes Objekt. Bloß brüchige Blattfragmente der gehässigen Zimmerlinde und ein zerknülltes Bonbonpapier. Shinji seufzte, entsorgte das Einwickelpapierchen in einem öffentlichen Mülleimer, schlappte dann ein wenig niedergeschlagen Richtung Heimat. So sehr er sich auch angestrengt hatte, seine Umgebung heimlich beäugte: heute war ihm das Glück einfach nicht hold! Er blieb mit der Schuhspitze seiner Galoschen an einer Spalte zwischen den Gehwegplatten hängen, stolperte, fing sich ungelenk ab. Diese Schrecksekunde hieß ihn gleichzeitig, auch den Kopf anzuheben. Unvermutet passierte ihn ein rotbärtiger Riese, nickte im Vorbeimarschieren kurz zum Gruß. Shinji erstarrte mit halb geöffneten Mund, erwiderte den lautlosen Gruß reflexartig, bevor ihm sein Verstand mit einiger Verspätung meldete, dass dieser fremdartige Goliath ihm nur einmal im Zug begegnet war. Wieso aber die Andeutung eines höflichen Grußes? Shinji wollte diese seltsame Situation analysieren. Er fragte sich im Weitertrotten nervös, ob er dem Unbekannten vielleicht bei einer anderen Gelegenheit schon einmal begegnet war, sich selbst einfach nicht erinnerte. Was höchst peinlich und beschämend war. Ein Kampfschrei ließ ihn, vermutlich das gesamte Viertel, zusammenfahren. "HERR MISHIMA!" Trompetete Frau Oogata, die ihn förmlich von hinten aus einer Hecke heraus anfiel. "SO GEHT DAS ABER NICHT!" Zu Tode erschrocken in heller Panik stotterte Shinji zusammenhanglose Silben, konnte sich nicht erinnern, was er verbrochen hatte, war aber stehenden Fußes bereit, sofort Abbitte zu leisten und Kompensation zu bieten. "Wir sind ein anständiges Haus!" Schnauzte ihn Frau Oogata von unten her an, die Hände in die breiten Hüften gestemmt, ganz der Feldwebel. "Das ist Ihnen ja wohl hoffentlich klar?!" Shinji ächzte eingeschüchtert etwas, zog den Kopf zwischen die Schultern, spürte die schmerzhafte Verspannung wie einen Stahlnagel im Fleisch. "Sagen Sie Ihren... auswärtigen Bekannten..." Sie spuckte die Silben voller Verachtung und Abscheu aus. "...dass wir keine Postagentur sind! Bei uns hängt man nicht irgendwelche Sachen an die Türen!" Sie maß ihn mit einem abschätzigen Blick, sicher, dass alle in Sicht- und Hörweite ihren Auftritt verfolgt hatten, drehte sich herum, ließ ihn wie einen gescholtenen Schuljungen stehen. Shinji rang nach Atem. Ihm war körperlich unwohl von dieser Verbalattacke. Was würde sie jetzt unternehmen? Würde sie ihn beim Vermieter anzeigen? Würde er rausgeworfen werden? Was, wenn jemand von der Firma das erfuhr?! Wohin sollte er ziehen?! Hatte er überhaupt genug Reserven für eine Kaution?! Hysterische Gedanken rasten wirr in seinem Kopf, während er den Notschweiß von Stirn und Handflächen an der Hose abwischte. Endlich verschaffte sich sein Verstand energisch Gehör. »Kapierst du nicht, dass an deiner Tür etwas hängt?!« "Oh!" Der Groschen fiel. Shinji sah sich wild um, doch es bestand keine Aussicht mehr, dem rotbärtigen Riesen zu folgen. War der vielleicht der geheimnisvolle Verehrer?! Die zweite Option zog: Shinji galoppierte hoppelnd dank der unmöglichen Galoschen zu seiner Wohnung, überholte Frau Oogata, ohne sie zu grüßen, stolperte eilends die Außentreppe hinauf. Tatsächlich, an seinem Türknauf hing erneut eine weiße, blickdichte Hasenohrentüte! Für einen verräterischen, kleinmütigen Augenblick lang verspürte Shinji Wut auf den unbekannten Gönner, der ihn in die unerträgliche Lage gebracht hatte, bei Frau Oogata denkbar schlecht angeschrieben zu sein. Wimpernschläge später schämte er sich seines Impulses. Das war schlichtweg undankbar und ungerecht. Behutsam hob er die Hasenlöffel über den Knauf, schloss auf, betrat sein Appartement. Rasch streifte er die Galoschen von den Füßen, entledigte sich Jacke und Tasche, kniete vor dem niedrigen Klapptisch, entknotete behutsam die Griff-Öhrchen. Im Inneren der Plastiktüte wartete eine einfache, schmucklose Pappschachtel, wie man sie von Selbstbedienungsrestaurants kannte. In der Schachtel jedoch dampfte dezent ein Schmalzgebäck mit Guss. Ungläubig bestaunte Shinji den gehaltvollen Kranz, sog tief den verführerischen Duft ein, seufzte instinktiv. Wie gut würde das Gebäck erst schmecken! Zuvor jedoch, das gebot der Anstand, untersuchte er das neuerliche Präsent gründlich. Er fand, eingeklappt in eine simple Papierserviette, eine kleine hellblau gefärbte Karte. [Ich habe Dich vermisst.] +~*~+ Kaum wahrnehmbar zwirbelte eine bescheidene Dampfsäule über seiner Teetasse, während Shinji, den Schmalzkringel bis auf den letzten Krümel verzehrt, konzentriert ins Ungefähre starrte, angestrengt die Situation überdachte. Da draußen war jemand, der sich sehr um ihn bemühte. Der sich Gedanken machte. Der um ihn warb. Das war herzerwärmend und wunderschön. Gleichzeitig lauerte dort die Bulldogge Frau Oogata, die nicht mehr losließ, wenn sie mal zugeschnappt hatte. Es gab kein Vertun: sie hatte ihn auf dem Kieker. Deshalb musste verhindert werden, dass weitere Gaben an seiner Tür auftauchten. Im Schutze seiner eigenen vier Wände murmelte Shinji mutig. "Bestimmt ist sie nur neidisch, weil sie nicht rausfinden kann, was in den Tüten ist!" Ihr Nimbus beruhte nicht unwesentlich darauf, dass sie alles über alle wusste, damit praktisch alle in der Hand hatte. Keine Frage, wusste sie mal etwas nicht, bedrohte dass ihre Hausmacht, weshalb sie alles daran setzen würde, ihm das Leben sauer zu machen! Folglich musste sein Wohltäter gewarnt werden! "Und danken!" Erinnerte Shinji sich energisch, drückte das krumme Rückgrat durch. "Danken möchte ich ihm oder ihr auch!" Wobei sich die Frage stellte, wie der rotbärtige Riese in diese mysteriöse Angelegenheit verstrickt war. Shinji fuhr sich nachdenklich durch die Haare, schlürfte gedankenverloren ein wenig Tee. Er war sich ziemlich sicher, dass ihm so ein gewaltiger Ausländer in unmittelbarer Reichweite bestimmt aufgefallen wäre. Demnach konnte dieser Mann wohl kaum für die Geschenke in seiner Manteltasche verantwortlich sein. Handelte es sich vielleicht um einen Boten? "Was tun?" Grübelte er, verdrängte die wohlbekannte leidige Panik, sich für einen hoffnungslosen, unterbelichteten und unfähigen Trottel zu halten. "Ich hab's!" Triumphierte er plötzlich, strahlte ganz für sich selbst über das ganze Gesicht. Wenn Geschenke IN seiner Manteltasche landen konnten, musste doch umgekehrt eine Botschaft AUS der Manteltasche in die flinken Finger seines Gönners gelangen, oder nicht? +~*~+ Shinji setzte seine Eingebung in der Mittagspause am nächsten Tag in die Tat um. Zur Verblüffung der anderen Arbeitsdrohnen mümmelte er nicht vorgefertigtes Bentou-Futter eines Hauslieferanten in seinem Kabuff, sondern federte frohgemut aus dem altersschwachen Bürodrehstuhl, schnappte sich Tasche und Jacke, verließ das Gebäude. Wie ein Mann mit einer Mission. Sein Weg führte ihn in ein kleines Einkaufszentrum in der Nähe, wo man sich kleine Karten bedrucken lassen konnte. Was lag näher, als ein hübsches Kärtchen zu kaufen, mit einer Einlage zu versehen, die sowohl seinen herzlichen Dank als auch die Bitte enthielt, einander persönlich zu begegnen? Der letzte Part stellte das Ergebnis eines energischen Aufwachens am Morgen dar. Nach all der Grübelei hatte er erwartet, unruhig zu schlafen, sich hin und her zu wälzen wie all die Argumente in seinem Kopf! Doch mit einer Lösung und größter Entschiedenheit schlug er die Augen auf. Es war KEINE Option, den Unbekannten zu warnen, Hasenohrentüten am Türknauf könnten für Verdruss sorgen. Das suggerierte Undankbarkeit, Kleinmut und Schuldverschiebung auf denjenigen, der an der Misere überhaupt keinen Anteil hatte! Warum also nicht den Mut aufbringen, um ein persönliches Kennenlernen bitten? Lange genug hatte er alle Vorteile genossen, seinen Dank nicht abgestattet, sich wohlig eingenistet in der schönen Vorstellung, irgendwo da draußen in der Welt bedeutete er einem anderen Menschen etwas! Jetzt musste gehandelt werden! Shinji erstaunte sich selbst mit der Courage, die ihm sein Entschluss verlieh. Fast konnte er glauben, dass er eine recht passable Person war. +~*~+ Man konnte natürlich nicht gleich mit einer Antwort rechnen, selbstverständlich! Erstmal musste ja die Botschaft übermittelt werden. Bedenkzeit kam sicherlich auch noch hinzu, ob man auf das Angebot einzugehen wünschte oder nicht. Zumindest einen Erfolg konnte Shinji verzeichnen: seine Botschaft war aus der Jackentasche verschwunden. Dafür befand sich ein Coupon darin, der ihm ermöglichte, in der nächsten Mittagspause in einem sehr begehrten Imbiss eines der raren, streng limitierten Spezialgerichte zu verzehren. Shinji riskierte es, obwohl er sehr nervös war. Er ging nicht aus. Wenn er auswärts essen musste, besuchte er meist kleine Nudelküchen oder Familienrestaurants, wo im steten Kommen und Gehen seine Anwesenheit nicht weiter ins Gewicht fiel. Hier, im mondänen Laden, der das Doppelte seines normalen Budgets für die Mittagspeise forderte, dies noch als besonders rabattierte Aktion offerierte, saß man zwar eng, aber doch durch die geschickte Beleuchtung separiert wie auf einer Bühne. Wurde gleichsam zum Neidobjekt der weniger vom Glück Begünstigten, die nicht durch frühzeitiges Anstehen einen begehrten Coupon ergattert hatten. Shinji zwang sich, nicht allzu sehr unter sich zu gucken, artig bis auf die letzten Krümel alles zu verzehren. Es war wirklich ein Genuss, daran gab es keine Zweifel, auch wenn, ein klein wenig, die Inszenierung bezahlt wurde. Er fragte sich auf dem Rückweg zu seinem Arbeitsplatz versonnen, ob sein unbekannter Verehrer vielleicht Gefallen an Selbstdarstellung hatte. Er selbst möglicherweise diese indirekte Methode, mit ihm in Kontakt zu treten, verkannte. +~*~+ Zwei Tage später fand Shinji die ersehnte Antwort, schneller, als er sich es ausgemalt hatte. Sie klemmte, gerollt und verschnürt, zwischen den winzigen Pfoten eines Waschbär-Schlüsselanhängers. Shinji strahlte ohne Rücksicht für seine Umgebung auf dem heimatlichen Bahnsteig, als er dem maskierten Räuber die Nachricht abluchste. [Lieber Shinji, ich möchte Dich sehr gern treffen. Ich erwarte Dich am Sonntag gegen 11 Uhr am östlichen Eingang zum Park. Bis dahin, herzlichst, Jirou.] +~*~+ Stoff zum Nachdenken gaben die wenigen Zeilen genug. Erstmal war es eine so vertraute, persönliche Ansprache, als seien sie quasi verwandt! Oder enge Freunde! Shinji studierte die Nachricht, die er einer Klarsichthülle anvertraut hatte, konzentriert. Kannte er einen Jirou? Erinnern konnte er sich nicht. Und aus der Schulzeit.... Shinji schüttelte den Kopf. Seiner Schul- oder Studienzeit konnte er sich nicht entsinnen. Fest stand, dass sein Verehrer tatsächlich ein Mann war. Womöglich ein wenig älter, was die direkte Ansprache vermuten ließ. Auch nicht sehr viel älter, sonst hätte dieser vertraute Ton unpassend gewirkt. Wer war dieser Jirou?! Shinji konnte den Sonntag kaum erwarten, auch wenn seine Nervosität sich erheblich steigerte, ihm Magengrimmen bereitete. +~*~+ Pünktlich um halb Elf wartete Shinji angespannt am Eingang zum Park. Wie gefühlte hundert andere Personen auch: flippige Teenager, unternehmungslustige Twens und rüstige Rentner. Um ihn herum herrschte eine Kakophonie, von einem unaufhörlichen Kommen und Gehen akkompagniert. Er wagte nicht, sich ständig spähend umzudrehen, jeden jungen Mann länger als einen flüchtigen Wimpernschlag zu beobachten, der noch nicht gleich Anschluss gefunden hatte. Zu seiner Erleichterung waren die Meisten jedoch singulär auf das Display ihres Mobiltelefons konzentriert, dem modernen Pfadfinder. Warum selbst Ausschau halten, wenn man sich anbimmeln konnte?! Shinji wagte gar nicht sich auszumalen, was er fühlen sollte, wenn er versetzt wurde. Oder wenn sie einander verfehlten. Überhaupt, hätte er vielleicht nicht so überpünktlich erscheinen sollen? Wirkte er damit sogar aufdringlich? Lästig? Wie einer von diesen pestilenten Stalkern, von denen man so viel las? Er umklammerte den Waschbären wie einen Talisman in der Linken, dankbar für die Ablenkung. Sonst hätte er sich wahrscheinlich die feuchten Handflächen an den Hosenbeinen wund gescheuert. War er eigentlich passend gekleidet? Nach langem Überlegen und mangels Alternativen, da er ja nie ausging, hatte er sich für eine leichte Leinenhose entschieden, sommerlich hell, zu einfachen Segeltuchturnschuhen. Um ein wenig die Form zu wahren ein Poloshirt im risikofreien Babyblau, gekrönt von einem Strick-Pullover, dessen Ärmel er lässig geknotet hatte. Zumindest sollte es so aussehen. Dank der umherwirbelnden ersten Blütenschauer, seiner Unruhe und der schwülen Brise wirkte er vermutlich aufgelöst, die Haare wirr und im schlimmsten Fall in Kürze noch mit Schweißflecken verunziert. »Gut, dass ich keinen Spiegel habe!« Versuchte er sich mit Galgenhumor Mut zuzusprechen. Wenn Jirou nicht kam, hätte er sich ohnehin ganz umsonst so aufgeregt. Obwohl ein Teil von ihm heftig protestierte, energisch darauf hinwies, dass ein Mann, der sich solche Mühe mit ihm gab, kaum im letzten Moment einfach kneifen würde! Erneut studierte er nervös das alte Ziffernblatt der Armbanduhr, drückte den Waschbären, krampfte die Finger um die sportliche Umhängetasche, die er bei einer Lotterie zum Jahresende in der Firma gewonnen hatte. Es wurde langsam voller. Er trippelte hin und her, um sich suchenden und findenden Pärchen auszuweichen. Die Blicke, die ihn streiften, gaben ihm das Gefühl, auf gewisse Weise durchscheinend, wenn nicht sogar unsichtbar zu sein. Unerwartet erblühte direkt vor seiner Nasenspitze ein dezent gehaltenes kleines Bukett. Shinji blinzelte hastig, stolperte zurück, stieß gegen eine Gestalt. "Entschuldige, ich wollte dich nicht gleich in die Flucht schlagen." Erklärte sie mit warmherzigen Lachen. Shinji drehte wie ein Uhu den Kopf nach hinten oben, blickte in ein markantes, sehr sympathisches Gesicht. Unter virilen Augenbrauen funkelten tiefschwarze Augen agitiert. Der Nasenrücken hatte nicht nur dezente Sommersprossen, sondern auch einen Knick. Ein adrett schmal gehaltener Lippen- und Kinnbart umspielte dünne, jedoch sinnlich geschwungene Lippen. "Hallo." Bemerkte die dunkle Stimme aus wohligen Tiefen selbstsicher. "Jirou. Jirou Harada. Ich hoffe, du nimmst mein kleines Präsent an. Man kann es nämlich essen. Thomas erwürgt mich, wenn ich es wieder nach Hause schleppe." +~*~+ Kapitel 2 - Rendezvous Shinji starrte seinen nicht mehr so heimlichen Verehrer mit herabgesacktem Unterkiefer ungläubig an. Nicht nur das offene Gesicht strahlte Selbstsicherheit aus, auch die schlanke, hochgewachsene Gestalt, lässig in ein dunkles Hemd, Kunstlederhosen und Bikerstiefel gekleidet, wirkte so, als könne sie glatt aus einer Seifenoper oder einem Magazin entsprungen sein! "Wirklich! Willst du es nicht wagen?" Beteuerte Jirou gerade amüsiert. Das kleine Blumenbukett winkte in Reichweite. Shinji war sich bewusst, dass sie Aufmerksamkeit auf sich zogen. "D~d~d~doch!" Stotterte er nervös, verneigte sich steif. "Mishima Shinji, sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Haben Sie vielen Dank für Ihre zahlreichen Aufmerksamkeiten!" "Holla, da habe ich dir wohl wirklich einen Schreck eingejagt, was?" Ungeniert zerstrubbelte eine Hand Shinjis schwere Haarsträhnen. "Was meinst du, gehen wir ein paar Schritte und fangen noch mal von vorne an?" Damit legte ihm Jirou einfach den Arm um die Schulter, führte ihn im gemächlichen Tempo in den Park. +~*~+ "Der gefällt dir wohl?" Brach Jirou unbekümmert das Schweigen, nachdem er mit elegantem Schulterschwung einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, sie sich auf einem weniger frequentierten Spazierweg befanden. "Ich fürchte, da geht so langsam die Farbe ab." Shinji, der sich wie aufgezogen bewegte, heillos überfordert von einer Situation, die ihm so unvertraut war, gar nicht wie im Kino ablief, hob hastig die Linke an, öffnete sie, starrte auf seine verfärbte Handinnenfläche. Ihm entwich unwillkürlich ein peinlich berührtes Winseln. Natürlich, seine feuchten Pfoten mussten ja wie Beize wirken! Wie demütigend! "Ich hätte einen mit Fell nehmen sollen." Jirou umschloss ungeniert sein rechtes Handgelenk, steuerte ihn auf einen öffentlichen Trinkwasserbrunnen zu. "Blöderweise waren die gerade ausverkauft. Andererseits, ich bekomme von diesem künstlichen Fell immer diese lästigen Stromschläge!" Ohne Zögern pflückte er aus Shinjis Linker den nicht mehr sonderlich attraktiven Schlüsselanhänger, rubbelte dessen Handfläche gründlich unter dem Wasserstrahl ab. "Weißt du, was WIRKLICH peinlich ist? Ich bekomme also von dem Kunstfell Eine gesemmelt, und es kitzelt dann IMMER so in meiner Nase, dass ich förmlich Nieskanonaden abschieße! Glatt rekordverdächtig, wenn es nicht so deprimierend wäre!" Dabei grinste er mit einem frechen Augenzwinkern dermaßen schurkisch-charmant, dass Shinji hilflos mit herabhängendem Unterkiefer gaffte. Irgendwo in seinem Hinterkopf verweigerte etwas hartnäckig die Zusammenarbeit, konnte schlichtweg nicht glauben, dass so ein attraktiver, amüsanter und zuvorkommender Mann ausgerechnet hier und jetzt mit ihm plauderte! Es musste sich um eine Fata Morgana handeln. Oder einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum. "Oha!" Stellte Jirou gerade fest, nachdem er mit einem Stofftaschentuch sorgsam Shinjis Linke abgetrocknet habe. "Habe ich dich schon an die Wand geschwatzt? Das tut mir leid, wirklich! Ich bin wohl ein bisschen nervös." DAS konnte Shinji nicht glauben. Nicht bei diesem Mann. Auf keinen Fall! "Ah! Wer hätte gedacht, dass du so gut ausgerüstet bist?" Bemerkte der gerade, lächelte. Er zog scheinbar aus Shinjis rechten Ohr einen kleinen Ball mit langen, bunten Flusen, ließ ihn über alle Finger gleiten, zwinkerte... Plötzlich war der Ball in seiner anderen Hand! Shinji staunte überwältigt. Ein Zaubertrick! Jirou lächelte ihm fröhlich ins Gesicht, ein zufriedenes Grinsen ob der Begeisterung des Publikums, das sich in ein lindes Schmunzeln wandelte. "Was hältst du davon, wenn wir uns abwechseln, hm?" Wieder schien der Flusenball ein Eigenleben zu führen, tauchte hier und da ganz unerwartet auf, um sich wieder in Luft aufzulösen. "Wer den Ball hat, darf eine Frage stellen?" Shinji nickte, wachte aus seiner Verzückung auf, entsann sich seiner Manieren. "Sehr gern, Herr Harada! Bitte, wollen Sie beginnen?" Eine Augenbraue unmissverständlich gelupft ging Jirou sofort zum Angriff über. "Sag mal, kannst du mich nicht beim Vornamen ansprechen? Ohne diese Förmlichkeiten?" Das waren streng genommen zwei Fragen. Shinji errötete jedoch schon bei der ersten heftig, drehte erneut den lädierten Schlüsselanhänger zwischen seinen Fingern hin und her. "Verzeihung, ich wollte nicht..." Was auch immer er nicht wollte, mutmaßlich unhöflich-impertinent-unverschämt-direkt sein, Jirou lachte leise auf, entzog ihm den Schlüsselanhänger mit einer Hand, tauschte simpel gegen das kleine Bukett, das er sich ungeniert in die Brusttasche geklemmt hatte. "Hier, das kann man wenigstens von den Fingern lecken!" Shinjis Kopf leuchtete nach seinem Empfinden über die Landesgrenzen hinaus. "Jirou, bitte. Ich möchte dich nämlich auch gern mit deinem Vornamen anreden. Okay?" Ganz lässig, sanft moduliert, ein agitiertes Funkeln in den tiefschwarzen Augen: Shinji gab mit einem erstickten Ächzen nach. Dieser Mann schlug ihn einfach in einen Bann! "Fein!" Jirou blendete ein gepflegtes, wenn auch in der unteren Reihe leicht unordentliches Gebiss auf, überreichte ihm mit einer gespielt manierierten Verbeugung den Flusenball. "Wenn du deine erste Frage überlegen möchtest, probiere mal von der Blüte da." Empfahl er ihm. Zögerlich zupfte Shinji ein Blütenblatt aus dem kleinen Bukett. Es glitzerte ein wenig, wie bestäubt. Er legte es auf die Zungenspitze, kostete vorsichtig. Neben einer zuckrigen Süße schmeckte er eine Ahnung von fester Textur und einen leichten Blütengeschmack. Anders konnte er es selbst nicht definieren. "Gut, nicht?" Jirou leitete ihn gemächlich weiter, ein gemütlicher Schlendergang. "Mein Bruder hat sie alle selbst gestaltet. Er hat auch die anderen Süßigkeiten kreiert, die ich dir aufgenötigt habe." "Vielen Dank! Sie waren deliziös!" Haspelte Shinji eilig. Wieder klappte er hastig nach vorne, verneigte sich rasch. "Schön, dass sie dir geschmeckt haben" Jirou beugte sich zu ihm herunter, zwinkerte. "Komm ruhig wieder nach oben, Shinji. Da ist die Luft auch kühler." Dieses amüsierte Geplänkel war etwas, das Shinji überforderte. Niemand scherzte je mit ihm. Andererseits war er auch mit niemanden derart vertraut. Er errötete leicht, hinderte ein schiefes Lächeln nicht daran, seine Mundwinkel zu belagern. "Ah, ist zwar nicht gescheit, das gleich beim ersten Rendezvous zuzugeben, aber da du es ohnehin schon bemerkt hast: ich habe definitiv einen leichten Bruder-Komplex." Jirou hob in einer entwaffnenden Geste die Schultern an. Shinji schmunzelte schüchtern, mümmelte in Ermangelung einer geistreichen Replik eine weitere süße Blüte. "Na schön! Prima, dass dich das nicht in die Flucht schlägt!" Jirou kreuzte die Hände auf dem Rücken, bleckte die Zähne, lächelte auffordernd, während sie ihren Spaziergang fortsetzten. Shinji entsann sich der Abmachung, auch, weil er ja nun mit Flusenball in der einen Hand und mit dem sich rasch reduzierenden Bukett in der anderen Hand ausgerüstet war. Gut, was sollte er zuerst fragen? Immerhin, die erste Frage sollte gut sein! Praktisch eine Visitenkarte! Was ihm über die Lippen rutschte, zeichnete sich wirklich nicht nach diesen heheren Grundsätzen aus. "Ist es wirklich in Ordnung, sich mit mir zu treffen?" Jirou runzelte neben ihm die Stirn, fledderte eine flüchtige Locke aus der Stirn, die seiner eher nachlässigen Frisur entkommen war. "Entschuldige, aber ich verstehe deine Frage nicht ganz. Bist du etwa prominent? Oder ein Geheimagent? Oder adelig? Gefährde ich dich, wenn wir hier flanieren?" Shinji starrte zurück, kopierte unbewusst die gerunzelte Stirn, versuchte seinerseits zu begreifen, warum Jirou ihm diese Fragen stellte. "Ähm..." Begann er, hielt inne, sortierte erneut ratlos in seinem Kopf das Gehörte. "Also... nein, ich bin ganz durchschnittlich. Niemand Besonderes." "Das glaube ich ja nun nicht!" Jirou zwinkerte ihm zu, tippte ihm einfach auf die Nasenspitze. "Alle sind doch auf eine Weise besonders. Aber es erleichtert mich, dass ich dich nicht in Schwierigkeiten bringe." Er beugte sich vertraulich zu Shinji herunter, flüsterte. "Du würdest es mir aber sagen, wenn du zufällig doch berühmt, ein Geheimagent und adelig bist, oder?" Shinji warf einen hilflosen Blick in die tiefschwarzen Augen, spürte das knisternde Kitzeln der Locken, als sie seine Wange streiften. Meinte Jirou das ernst, oder...? Der lächelte ihn derart intensiv in direkter Nähe an, dass Shinji der Atem stockte. Da war der Moment auch schon verflogen. Jirou spielte mit dem Flusenball, der auf seine mysteriöse Art plötzlich den Besitzer gewechselt hatte. "Also, ich finde es sehr in Ordnung, dich zu treffen." Bemerkte er, drängte Shinji sanft, noch eine Blüte zu naschen. Auch wenn es lächerlich war: Shinji fühlte sich von diesem Bekenntnis ermutigt. Unwillkürlich hielt er sich aufrechter, schenkte seinem Begleiter ein dankbares Lächeln. "Sag, möchtest du mich kennenlernen, Shinji?" Jirou ließ den Flusenball in Höchstgeschwindigkeit zwischen seinen Händen rotieren. Die Frage war spielerisch formuliert, glich darin dem Flusenball als einem Gimmick. Shinjis nervösem Gehör entging keineswegs die im dunklen Timbre offenbarte Ernsthaftigkeit. "Ich möchte. Wenn ich darf?" Antwortete er scheu, aber aufrichtig. Jirou lächelte ihn still an, die Hände ganz ruhig, kein Anzeichen der virilen Lebhaftigkeit, die sonst seine Gestik prägte. In einem ungeübten, aber freundschaftlichen Schweigen spazierten sie einige Meter, bevor Shinji tollkühn die Hand ausstreckte. "Wenn ich jetzt bitte den Gesprächsball bekommen könnte...?" "Du hast ihn. Sprunghaft, der Bursche, nicht wahr?" Versicherte Jirou verschwörerisch, produzierte das wuselige Objekt aus Shinjis Umhängetasche. Shinji lächelte, genoss das Zwinkern in den tiefschwarzen Augen und die Aufmerksamkeit, die sich allein auf ihn fokussierte. Als sei er wirklich von Bedeutung! "Ich möchte gerne wissen..." Er holte mutig Luft. "Ich möchte gerne wissen, wie S~~du das machst. Ich meine, die ganzen Präsente, die in meiner Jackentasche gelandet sind. Ich habe nie etwas bemerkt." "Ich bekenne: das war auch meine Absicht! Ich persönlich finde, dass es eine Überraschung immer ruiniert, wenn sie bemerkt wird. Da fehlt irgendwie der Pfiff." Jirou nickte mit vorgeblich ernster Miene. Shinji kicherte leise, genoss die Vorstellung. Jirou gefiel es offenkundig, mit sanft-ironischem Charme um ihn zu werben. Das schmeichelte ungemein! "Also willst du wissen, mit was für einem fragwürdigem Subjekt du hier paradierst!" Jirou zwinkerte, um Shinji zu bedeuten, dass er überzog. "Ich gestehe: ich war auf dem besten Weg, ein notorischer Krimineller zu werden." "Oh!" Entwischte Shinji perplex, bevor er sich auf die Lippen beißen konnte. Verlegen schielte er hoch, ob er wohl mit dieser Entgleisung dessen Unmut erweckt hatte. Jirou präsentierte ein steinern-ernstes Gesicht, distanziert und frostig. Wäre da nicht das freche Zwinkern gewesen! "Tja, ich mache lieber gleich reinen Tisch!" Verkündete er, reckte das mit dem gepflegten Bart gezierte spitze Kinn vor. "Ich befand mich damals auf dem Höhepunkt meiner kriminellen Karriere. Da war ich zehn Jahre alt." Shinjis Unterkiefer sackte herab. Er wusste nicht, ob er nun lachen sollte oder Betroffenheit zeigen. Was war Ernst, was Scherz? "Magst du alles hören? Wie wäre es mit einem Sitzplatz und einem Eis? Als Nervennahrung?" Jirou schmunzelte, touchierte Shinji sanft mit einem Ellenbogen. Shinji nickte automatisch, folgte Jirou eilig. Was würde der aus dem imaginären Zylinder zaubern? +~*~+ Ein mit klebrigem Sirup übergossenes Wassereis später residierten sie auf einer steinernen Beeteinfassung, durch überhängende Äste glücklich von anderen Zeitgenossen separiert. Jirou wischte sich die Hände mit einem Papiertaschentuch trocken, stopfte es scheinbar geistesabwesend in eine Hosentasche, um dort den Flusenball, zu seiner extrem demonstrierten Überraschung!, herauszupulen. Shinji prustete unterdrückt. Auch wenn es ein kindlich-schlichtes Spiel war, IHM bereitete es Vergnügen. Es bauchpinselte ihn ordentlich, dass Jirou sich so eine Mühe gab, ihn bestens zu unterhalten. "Mein Leben als notorischer Krimineller!" Nahm Jirou grinsend den Faden auf, zwirbelte verspielt eine Locke hinter ein Ohr. "Da muss ich ein wenig ausholen. Ich hoffe, du sitzt bequem, denn das DAUERT!" Die düstere Drohung entlockte Shinji ein spontanes Schnauben des amüsierten Zweifels, das ihn selbst verblüffte. Er war wirklich nicht der Typ, sich unvorsichtig zu Gemütsäußerungen hinreißen zu lassen! Jirou nahm diesen nonverbalen Kommentar jedoch nicht krumm, sondern grinste bestätigt, warf sich in Pose des Alleinunterhalters/ Märchenonkels. "Ich hatte schon eine bemerkenswerte Karriere hinter mir, als ich Zehn war!" Begann er mit opulenter Gestik. "Zunächst wurde ich geboren als Sohn eines der umtriebigsten Glücksritter und Aeronauten der Phantastik, die es je gegeben hat! Nach dieser ersten Glanzleistung, an der meine Mutter, eine gewisse Prinzessin der Unterschicht, nicht ganz unbeteiligt war, verbrachte ich die erste Station meines aufregenden Lebens in einer pulsierenden Hafenstadt. Meine frühen Anfänge als Unternehmer und Selbständiger begannen mit fünf Jahren, als sich mein Vater entschloss, einen permanenten Wechsel unserer privaten und lokalen Umstände einzuleiten." Shinjis fragendes Stirnrunzeln wuchs sich zu einer ratlosen Grimasse aus. Er verstand die verklausulierten Erklärungen nicht zur Gänze, befürchtete, sie nicht ausreichend würdigen zu können. "Aeronaut der Phantastik?" Murmelte er hilflos. Welcher Fünfjährige war selbständiger Unternehmer? Jirou feixte. "Das ist eine eher blumige Umschreibung für seine beruflichen Qualifikationen. Man könnte ihn auch als Luftikus, Architekt fliegender Luftschlösser oder pragmatischen Phantasten bezeichnen." DAS klang nicht sonderlich respektabel. Der Ton jedoch blieb liebevoll. Fand Shinji. Er resümierte, dass Jirous Vater mutmaßlich ein wenig zwielichtig war, sein Sohn ihn nichtsdestotrotz von Herzen gern hatte. "Nun denn, die Prinzessin der Unterschicht, also meine Mutter, schlug einen anderen Pfad ein, unsere Wege separierten sich. Mein Vater, der unglaublichste Unternehmer, den man sich vorstellen kann, ein Hans Dampf in allen Gassen, musste, um sich seinen vielfältigen Projekten widmen zu können, darauf vertrauen, dass ich in seine Fußstapfen treten, mich selbständig beschäftigen konnte." »Oha!« Dachte Shinji, leckte sich den Rest Sirup unbewusst aus den Mundwinkeln. "Da war ich nun, neuer Platz, neues Spiel, wie es so schön heißt!" Jirou zwinkerte. "Bereit, mich meinem Schicksal zu stellen. Mehr als neugierig auf die illustren Erfahrungen, die das öffentliche Leben in einer eher subversiven Parallelgesellschaft so bietet. Mein erster Lehrmeister erkannte auch sofort mein Talent und trainierte mich entsprechend." Shinji blinzelte verwirrt. Sollte er diese blumigen Ausschmückungen jetzt so verstehen, als habe Vater Harada seinen kleinen Sohn in der Halb- und Unterwelt einer Hafenstadt unbeaufsichtigt herumstreunen lassen? Jirou streckte unterdessen die Brust stolz heraus, kopierte den kühnen Blick des Welteneroberers, bot Shinji das Profil. "Ich reüssierte! Ein junges Genie! Blitzschnell, unsichtbar, nicht zu schlagen, quasi unerreicht!" Ein prüfender Seitenblick streifte Shinji, ob der sich auch gebührend beeindruckt zeigte. Das verwirrte Gaffen konnte auch als Kompliment gewertet werden! "Leider fehlte es meinem jugendlichen Selbst an einer konsequenten Zielstrebigkeit. Die Moral!" Jirou grimassierte, seufzte klagend. "Man steht sich eben oft selbst im Weg. Da kann kein Talent, keine Fertigkeit der Welt gewinnen!" Er bot ein Bild des Jammers, die Schultern nach vorne herabgesunken, der Kopf hängend, die Mundwinkel desgleichen, ja, sogar die Locken sackten traurig tiefer. "So war es auch kein Wunder, dass ich diese Karriere ohne Bedauern verabschiedete." Shinji betrachtete Jirou hilflos, warf nervöse Blicke um sich, ob man diese deprimierte Haltung etwa ihm zur Last legen konnte. Niemand interessierte sich mehr als gebührlich für sie. Ratlos streckte er schüchtern die Rechte aus, klopfte hauchzart auf eine vom Schicksal gebeutelte Schulter. "Das tut mir leid". Eine Floskel, Ausdruck der Machtlosigkeit. Jirou drehte den Kopf geschmeidig, grinste ihn wie ein Freibeuter schurkisch von unten an. "Oh, mir keineswegs! Zugegeben, ich war damals schon der beste Langfinger, Taschendieb und Trickbetrüger der gesamten Nachbarschaft, aber mir mangelte es schlicht und ergreifend an krimineller Energie." Shinjis Unterkiefer sackte rapide auf seinen Schoß. Sein Begleiter lachte auf, hob das gefährlich einem Ausrenken nahe Gebiss mit der Rechten wieder hoch, schmunzelte liebevoll. "Außerdem habe ich damals meinen Bruder bekommen." +~*~+ Shinji war derart konfus von dieser verwirrenden Enthüllung, dass Jirou ihm rücksichtsvoll einige Augenblicke des Spazierens gewährte, bevor er den umtriebigen Flusenball aus Shinjis rechtem Ohr zog. Für sich gemäß Absprache die nächste Frage reklamierte. "Gut, meine Frage: ist es dir unangenehm, dass dein Rendezvous ein Mann ist?" Eine wichtige Angelegenheit, signalisierten die tiefschwarzen Augen, auch wenn der sinnlich geschwungene Mund mit den dünnen Lippen lächelte. Shinji überlegte, wie er das formulieren sollte, was ihm beinahe spontan entschlüpft wäre: dass ihm diese Tatsache zwar bewusst gewesen war, jedoch hinter all den Aufmerksamkeiten und Rätseln definitiv in den Hintergrund rückte. Außerdem, wenn er ehrlich war, hielt er schon die Hoffnung auf eine Freundschaft für extrem optimistisch. Von anderen Dingen ganz zu schweigen. "Ähm... ich habe es zwar angenommen, aber... diesem Umstand keine besondere Bedeutung beigemessen." Murmelte er schließlich verlegen. "Oho!" Stellte Jirou fest, eine Augenbraue gelupft. "Du weißt aber schon, dass... oh, Moment!" Bremste er sich selbst mit einem kleinen Hieb der flachen Hand vor die Stirn. "Deine Frage!" Shinji spielte nervös mit dem Flusenball in seinen Händen, der sich mal wieder unversehens in seine Kleider geschmuggelt hatte. Es GAB eine Frage, die ihm auf der Seele brannte. Leider war seine Zunge einfach zu feige, brauchte Anlauf, bevor sie tollkühn die Silben produzierte. "Warum~warum möchtest du MICH kennenlernen?" +~*~+ "Ooooh!" Begeistert rieb sich Jirou die Hände, ein eifriges Spektakel für sich allein. "DAS ist einfach! Das kann ich beantworten!" Im gleichen Tonfall strebte der Kandidat die 100.000.000 Yen-Frage an. Shinji blinzelte nervös, verwünschte die zweifelsohne hochroten Wangen. "Die Antwort lautet: ich möchte mein Leben teilen! Mit einer Person, die ein gutes Herz hat. Also dir." Krähte Jirou unerschrocken. Shinji glotzte sprachlos. "Wenn du magst, selbstredend." Ergänzte Jirou höflich. In seinen tiefschwarzen Augen tanzten jedoch teuflische Funken des Amüsements über die Verblüffung seines Begleiters. "...ächächemm!" Krächzte Shinji schließlich, räusperte sich hochnotpeinlich verlegen. "Ich denke, der Flusenball ist jetzt mein Freund." Schnurrte Jirou samtpfotig, wirbelte diesen geschmeidig durch die Luft. "Jetzt kann ich DIR eine Frage stellen: was kann ich tun, um deine Liebe zu gewinnen?" Die Frage war, ohne jeden Zweifel, ernst und aufrichtig gemeint, entsprechend intoniert. Shinji begriff das durchaus. Es sprengte jedoch sein Weltbild. NIEMAND auf diesem Erdenrund würde sich mit ihm gemein machen wollen. Das war eine feststehende Wahrheit! Er starrte perplex in Jirous aufmerksames, ihm zugewandtes Gesicht. Das eine Antwort erwartete. Panisch senkte er den Blick auf seine Schuhspitzen, stolperte prompt, errötete heftig, spürte einen pochenden Schmerz im Nacken, weil er die Schultern automatisch verspannte, sich unbewusst vor der Welt in sich selbst hineinverkroch. "Vielleicht sollten wir diese Frage aufschieben?" Bemerkte Jirou sanft an seiner Seite. "Ich neige leider dazu, ein wenig impulsiv direkt auf das Ziel zuzustreben. Wäre es dir recht, wenn ich meine Frage zurückziehe und ersetze?" Shinji nickte steif, schämte, verabscheute sich zugleich. Er konnte wirklich von Glück sagen, wenn Jirou ihn nicht einfach stehen ließ, komplett aus seinen Erinnerungen strich! "Also!" Geschäftig kramte Jirou in einer Tasche, entfaltete schier ewig ein Blatt Papier. Zunächst wirkte es ein wenig kompakt zusammengeknüllt, etwa wie ein Kaugummi-Papierchen, doch mit jedem Aufklappen wuchs es enorm an, bis er mit einem Plakat-artigen Ungeheuer im Faltkartenformat rang. Shinji und auch einige Passanten staunten. Jirou lieferte eine wundervolle Parodie ab, wie er da mit sich selbst und dem Plakat rang, vergeblich hier und da entfaltete, dort knickte... Man hörte unterdrücktes Kichern. Jirou grinste breit in die Runde, zwinkerte wie ein Pirat. Gut gelaunt fädelte er das Papier auf, hakte sich bei Shinji ein, zog diesen weiter, um den Umstehenden zu signalisieren, dass die Impromptu-Vorstellung des Straßentheaters zu Ende war. "Ich habe mir eine Liste zusammengestellt. Anhand von Ratgebern." Erläuterte er Shinji beschwingt, keineswegs verärgert über dessen verunsichertes Schweigen. "Für ein systematisches Vorgehen. Analyse zur Partnerschaft, oder so ähnlich. Ich will ja alles richtig machen!" Beteuerte er im Brustton der Überzeugung. Shinji schielte zu ihm hoch, entdeckte erleichtert das selbstironische Funkeln in den tiefschwarzen Augen. "Also, die Basis lautet: so ähnlich wie möglich und so unterschiedlich wie nötig. Meistens jedenfalls. Statistisch gesehen. Wenn nicht geschummelt wurde." Die lange Papierwurst wurde aufgewickelt. "Schritt 1: vergleichen Sie Gemeinsamkeiten." Er murmelte halblaut, als lese er die Anweisungen erstmalig, Stichworte vor sich hin, die Stirn konzentriert gefurcht. Es wurde wirklich ALLES abgefragt, was man sich vorstellen konnte. Shinji stolperte mehr als einmal über die eigenen Füße, während er ungläubig und gelegentlich verlegen lauschte, was man, bei Planstab-gemäßer Vorgehensweise, alles zu vergleichen und zu beantworten hatte. "Meine Güte, das ist anstrengend!" Ächzte Jirou geplagt. "Das sind nur die FRAGEN! Wenn wir unsere Antworten geben UND die vergleichen und bewerten... ich glaube, da sind wir die nächsten zehn Jahre ausgelastet!" Shinji räusperte sich scheu. "Ist es denn unabdingbar? Die meisten Antworten findet man doch eher nebenbei heraus. Glaube ich." Murmelte er erschrocken über seine eigene Courage. "DAS ist ein wahres Wort!" Unbekümmert knüllte Jirou das mitgenommene Plakat zu einem Ball zusammen, beförderte es in einen Papierkorb. "Und ich muss ja immer noch meine nächste Frage stellen!" Er wandte sich Shinji zu, lächelte. "Hast du Spaß mit mir?" "Ja, sehr viel!" Gab der spontan zurück. Jirou reduzierte sein Lächeln zu einem intensiven Blick, der über Shinjis Gesicht wanderte, sich in dessen Augen versenkte. "Dann ist es gut." Raunte er zärtlich. Shinji blieb die Luft weg. +~*~+ Selbst wenn man KEINE Ahnung von nichts hatte: es war unverkennbar, dass Jirou nicht aufs Geratewohl zum Zeitvertreib flirtete, sondern einfallsreich, engagiert und hartnäckig um ihn warb. Shinji konnte sich dieser unglaublichen Tatsache nicht verschließen. Jedoch, beim besten Willen und geradezu krankhaftem Optimismus: warum?! Jirou konnte jeden, jede, jedes haben, davon war er überzeugt. Gutes Aussehen, Humor, Charme, Energie und Begeisterungsfähigkeit, das war schlichtweg die perfekte Kombination. "Meine Güte, du hast den verflixten Ball verschluckt, oder?" Stellte Jirou gerade neben ihm besorgt fest, legte ihm fürsorglich einen Arm um die Schulter, drehte die Hüfte, wanderte mit dem Handballen der Rechten über Shinjis Brustbein zur Kehle hoch, als würde er tatsächlich von unten etwas hochschieben. Shinji zuckte heftig zusammen, konnte in der Semi-Umarmung nicht weichen, rang nach Luft, als Jirous Hand über seinen Adamsapfel streichelte... und spuckte quasi den Flusenball aus! Zumindest erschien er in Jirous Hand, der tadelnd mit der Zunge schnalzte, die Flusen an seiner Hose abwischte. "Also so was! Was für ein ungezogener Rumtreiber dieser Bursche doch ist!" "Wieso magst du MICH?!" Sprudelten wie ein aufgebrachtes Heer die Silben aus Shinji heraus, der gleichzeitig verwirrt, eingeschüchtert, hingerissen und ratlos war. Und auch sehr bange. Jirou lächelte, stopfte den Flusenball demonstrativ energisch in seine Hosentasche. "Ach herrje, da gibt's bestimmt 10.000 Gründe! Wenn nicht mehr!" Shinji starrte bloß, sich immer noch der vertraulichen Nähe bewusst. Er wusste nicht, ob sein Blick darum bettelte, wenigstens EINEN plausiblen Grund zu erfahren, doch Jirou quälte ihn nicht länger mit vagen Andeutungen. "Also, da war zum Beispiel die Sache mit dem besoffenen Anzugsaffen." Jirou hakte sich ungeniert bei Shinji ein, drängte ihn sanft, ihren Spaziergang wieder aufzunehmen. "Damals, im Zug. Der lag da halb über den Sitzen, schnarchte total zugetankt vor sich hin, stank wahrscheinlich auch. Seine Mappe war runtergerutscht, aber niemand kümmerte sich darum. War er ja selbst schuld! Du hast jedoch ganz mutig die Mappe aufgelesen und sie wieder an seine Seite geschoben. Als er aufgewacht ist, dich angepöbelt hat, hast du dich sogar entschuldigt und es ertragen, dass er dich beschimpft hat. Obwohl alle sehen konnten, dass du als Einziger geholfen hast." Shinji konnte sich noch an diesen peinlichen Moment erinnern. Wie er verzweifelt gehofft hatte, der Besoffene würde nicht aufwachen. Wie er sich selbst dafür verwünscht hatte, nicht einfach die blöde Mappe auf dem Boden liegen zu lassen, damit sie zertreten würde. Und wie danach der Betrunkene ein Spektakel veranstaltet hatte, alle Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Am liebsten wäre er damals im Boden versunken. Wie so häufig in seinem Leben. "Ich fand das sehr mutig und großherzig von dir!" Ergänzte Jirou gerade. "Ich habe mich auf die Zehenspitzen gereckt, um zu sehen, wer da so tapfer ist. Beim Einsteigen hatte ich nämlich keinen Kampfsportmeister oder den Hulk gesehen!" Er grinste. Shinji lächelte schwach. Ihm wurde schwer ums Herz. Sollte er Jirou gestehen, wie sehr er seine Handlungsweise danach bereut hatte? Dass er Probleme mit Unordnung und gedankenloser Rücksichtslosigkeit hatte? Dass keine Wohltätigkeit sein Handeln gesteuert hatte, sondern eine selbstgerechte Abscheu vor Schlamperei? Unterdessen reminiszierte Jirou weiter. "Das war das erste Mal, dass ich dich gesehen habe. Da habe ich natürlich immer nach dir Ausschau gehalten. Du warst so oft aufmerksam, hilfsbereit und im Stillen freundlich, ohne Dank dafür zu erwarten. Das hat mir sehr imponiert. Ich dachte mir: das ist ein verflixt attraktiver Mann mit einem sehr großen und guten Herz! Wahrscheinlich ist er schon längst vergeben, und ich muss meine Hoffnung begraben!" Er seufzte tief mit hängenden Schultern. Shinji studierte sein Profil ungläubig. Redeten sie wirklich gerade von derselben Person?! Jirou wandte den Kopf, lächelte ihn an, schweigend, intensiv, ganz unverwandt. Unwillkürlich verharrten ihre Schritte. In Shinjis Kopf pochte sein Herzschlag so laut, dass er nichts mehr von der Umgebung hören konnte. "Auch wenn es kein feiner Zug ist, ich bin froh, dass dich noch niemand für sich reklamiert hat." Wisperte Jirou kehlig. +~*~+ Jirou Harada war verrückt. Das war zumindest die einzige logische Erklärung, die Shinji finden konnte. Wer sprach schon derart ungeniert über seine Gefühle, machte am laufenden Band eindeutige Liebeserklärungen?! Wer war wahnsinnig genug, sich ausgerechnet für Shinji Mishima zu erwärmen?! Gründe genug, sich schnell und panisch zurückzuziehen. Bloß.... Shinji gelang das einfach nicht. Schlimmer noch, er konnte nicht einmal darüber nachdenken! Jetzt saßen sie bei einem späten Mittagessen in einer kleinen Nudelsuppenküche, Schulter an Schulter, der Enge geschuldet. Sie schlürften hungrig Ramen und eine heiße, scharfe Brühe, die ihnen die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Er hätte sich sofort distanzieren müssen. Aber... Jirou war so... überwältigend! Verzauberte ihn, brachte ihn zum Lachen, machte ihm Komplimente, amüsierte ihn mit seinen kleinen Geschichten, bei denen er nicht sicher war, wo Realität endete und Phantasie begann. »Zugegeben, die Sache mit der Langfingerei...!« Oder dass Jirou scheinbar sehr oft mit ihm in einem Waggon gefahren war, ohne dass er ihn jemals bemerkt hatte. Das sprach wirklich ganz real für ein gewisses Talent. Bevor Shinji auch nur protestieren konnte, zahlte Jirou ihre gemeinsame Zeche, steuerte ihn aufgekratzt wieder auf die Straße. Neben Müll und Papierfetzen umwehten sie auch noch Blüten. Die Witterung schlug um. "Ich möchte meine nächste Frage stellen!" Kündigte er munter an, fasste Shinj unter, damit sie sich im Menschenstrom nicht verloren, dirigierte ihren Weg durch zwei enge Seitengassen über Hintereingänge in die alten, verwinkelten Straßen des Wohnviertels. "Aaaalsoooo... wenn ich dich nicht zu sehr verschreckt habe..." Er lächelte treuherzig. "Gibst du mir bitte deine Nummer?" Shinji war sich bewusst, dass er über ein Mobiltelefon verfügte. Und dass dieses auch eine Nummer hatte. Und dass es ganz und gar gängig war, Nummern auszutauschen. Auch und besonders bei einem Rendezvous. Trotzdem starrte er Jirou begriffsstutzig an. Weil ihn NIEMAND um seine Nummer bat. Jirou legte den Kopf schief, zwinkerte amüsiert. "Oje, ist es ein sehr enger Kampf um das Für und Wider?" Shinji blinzelte hilflos, benötigte eine sehr lange Minute für die Leitungssteher, bevor er den Scherz dechiffriert hatte. Er lief prompt dunkelrot an. "Darf ich?" Löste Jirou das Problem, hatte unversehens Shinjis ältliches Mobiltelefon in der Hand. "Machen wir's doch so: ich gebe dir MEINE Nummer. Du kannst mich kontaktieren, wenn du magst. Und wenn nicht..." Er schluckte tapfer. "... muss ich meine Depression in stark gesüßtem Kaffee ertränken." Mit der freien Hand zwirbelte er aus dem Nichts eine Visitenkarte, präsentierte sie Shinji, der sie automatisch mit einer Verbeugung entgegennahm, bevor er sich einen Idioten schimpfen konnte. [Harada, Ihr Spezialist für Sicherheit und Einbruchschutz] Darunter befanden sich die gewohnten Informationen zur Kontaktaufnahme. Und der Zusatz: Harada Jirou, Inhaber und Geschäftsführer. "Lag bei meiner ersten Karriere irgendwie nahe, wie?" Lächelte Jirou über Shinjis Erstaunen. "Na ja, so GANZ vom Fach konnte ich doch nicht weg. Auch wenn der Schwerpunkt sich immer stärker vom Objektschutz auf Firmenspionage verlagert." "Bitte!" Shinji räusperte sich, hastig, aufgeschreckt. "Bitte nehmen Sie, Verzeihung!, bitte nimm auch meine Nummer!" "Ich darf? Oh, das ist ja phantastisch! Vielen Dank!" Jirou strahlte förmlich. Nachdem der Austausch getätigt worden war, die respektiven Mobiltelefone wieder an der Person ihres jeweiligen Besitzers verstaut waren, registrierten sie die ersten dicken Tropfen. "Tja, das stört jetzt doch ein wenig." Bemerkte Jirou kritisch. "Sieht nach einer regelrechten Taufe aus." "Vielleicht... also... können wir uns nochmal verabreden?" Stotterte Shinji nervös, gerade WEIL Jirou ihm seine volle Aufmerksamkeit widmete. "Und unser Gespräch fortsetzen? Sehr gern!" Jirou triumphierte. "Oh, was sag ich: LIEBEND gern!" Bei so viel Enthusiasmus konnte Shinji nicht anders als schief grinsen. Man musste es wohl akzeptieren: aus unerfindlichen Gründen hatte dieser unglaubliche Mann eine Schwäche für ihn. Früh genug auffliegen in seiner drögen Mittelmäßigkeit würde er ohnehin, warum also nicht die Zeit genießen? Jirou begleitete ihn zum Bahnhof, durchnässt und ein wenig aufgedreht. Shinji bedankte sich wiederholt, für den tollen Tag, das Essen, ihren Gedankenaustausch und.... einfach alles. Mühevoll drängelte er sich mit anderen nassen Reisenden Richtung Türen, von Jirou sanft angeschoben. Als er sich in der Tür drehte, geübte Praxis aller japanischen Bahnreisenden in der Stoßzeit, stieß Jirou wie ein Falke vor, küsste ihn auf die Nasenspitze. "Du bist süß, Shinji!" Raunte er. Ohne den Pulk hinter ihm wäre Shinji Mishima vor Herzklopfen zweifellos in Ohnmacht gefallen. +~*~+ Das Spiel hieß "erzähl' mir was", stammte selbstredend aus Jirous schier unerschöpflichem Reservoir von Ideen, ihn aus der Reserve zu locken. Jeden Tag traf eine kleine Nachricht ein, eine kleine Episode vom Tag, ein Gedanke, ein lustiger Moment. Jirou hätte ihm auch winzige selbstgedrehte Filmchen geschickt, doch Shinjis Dinosaurier-Telefon konnte so viele Informationen nicht verarbeiten, streikte darob, weshalb man sich auf diesen Austausch besann. Das heißt: Jirou schlug es vor, und Shinji konnte sich keines Arguments entsinnen, das eine Absage verlangt hätte. Da waren auch immer mal wieder Süßigkeiten in seiner Jackentasche. Er wusste nicht, wie Jirou das anstellte, sich an ihn heranzuschleichen, ohne dass er ihn bemerkte, aber er liebte diese Gesten der Zuneigung. Wie lange würde die Verzauberung anhalten? Shinji wollte sich nichts vormachen. Jirou würde es zweifelsohne irgendwann langweilig werden. Verliebtheit war ein Zustand von höchst kurzer Halbwertszeit und sehr flüchtig. Eigentlich kein feiner Zug, Jirous Zeit zu verschwenden, seine Vernarrtheit auszunutzen, indem er mitspielte! Andererseits, wer konnte es ihm verdenken? Er WOLLTE gern mit Jirou seine Zeit verbringen, ihn kennenlernen. Es genügte durchaus, wenn sie sich ab und an mal trafen, gelegentlich sprachen! Große Ansprüche wollte er gar nicht stellen! Jirou war in dieser Hinsicht keineswegs so genügsam. Neben den kleinen Überraschungen in der Jackentasche und den Nachrichten sprach er ihm auch auf den Anrufbeantworter, stellte Fragen (die Kilometer-Liste war wohl doch nicht das einzige Exemplar gewesen), ärgerte sich, dass sie kein zweites Rendezvous vereinbaren konnten, weil die Arbeit sich einmischte. Was nicht bedeutete, dass er locker ließ. So fand sich Shinji Mishima, der Mann ohne Eigenschaften, der Niemand, der Unsichtbare, trotz lästigem Nieselregen vor dem Haupteingang eines privaten Zoos wieder. Er wusste nicht genau, was Jirou vorhatte, an einem Sonntag um 8 Uhr in der Frühe, aber er war gewillt, sich jeder Herausforderung zu stellen. Ein bisschen auch, um den zweifelsohne verheerenden Eindruck zu zerstreuen, den seine Antworten auf die "Lieblings-"Fragen hervorgerufen haben mussten. So sehr er sich auch bemühte: er war nie originell oder einfallsreich. Viel eher stupide und langweilig. "Mach dir bloß nicht zu viele Gedanken darüber!" Hatte Jirous angenehme tiefe Stimme an seinem Ohr gelacht, als sie es einmal geschafft hatten, tatsächlich miteinander zu telefonieren und nicht die jeweiligen Blechknechte zu beauftragen. "Das sind nur Albernheiten! Wie die Blutgruppenhoroskope in der Schule! Ein Zeitvertreib, nichts weiter!" »Komisch.« Dachte Shinji versonnen, während er seinen patenten Taschenschirm ausklopfte, artig in einer Plastiktüte verstaute, damit er nichts einnässte. »Ich kann mich gar nicht erinnern.« Der Versuch allein löste unbestimmte Beklommenheit und Magengrimmen aus. Und das drängende Gefühl, auf keinen Fall weiterzuforschen. Schlafende Hunde unbedingt schlafen zu lassen. Nervös blickte er sich um, zupfte an seiner schlichten Regenjacke, ein mattes Blau, darunter Stoffhosen mit Bügelfalten, seniorengrau und eintönig. Ohne den "Dresscode" des Managements für die Mitarbeiterschaft wäre er auf sich selbst gestellt wirklich aufgeschmissen, das war ihm nur zu bewusst. Er bewunderte die Eigenschaft anderer Menschen, sich so geschickt und ausgewählt zu kleiden, dass sie sich immer als geschmackvoll und stilsicher aus der Menge heraushoben. Ihm selbst ging diese Fähigkeit, wie auch zahllose andere, unbestritten ab, wie er ohne Widerworte zugab. Zumindest das getan hätte, wenn man ihn jemals zu diesem Aspekt befragen würde. "Einen wunderschönen guten Morgen." Schnurrte Jirou sonor und flauschig zugleich an seinem Ohr, hatte sich von hinten angepirscht, schlang ganz ungeniert die Arme um seine Taille! Shinji gab ein erschrockenes Quietschen von sich, erstarrte stocksteif. Als habe er diese wenig schmeichelhafte Reaktion gar nicht registriert, lachte Jirou über ihm munter. "Danke, dass du meiner Einladung gefolgt bist! Ich freue mich unheimlich, dich endlich wieder live und in Farbe zu sehen!" DAS konnte man hören. Shinji räusperte sich verlegen und beschämt ob seines Reflexes. "Guten Morgen. Ich freue mich auch... sehr. Über deine Einladung!" Stammelte er scheu, wagte einen vorsichtigen Blick in die tiefschwarzen Augen über ihm. "Fein!" Ansatzlos wirbelte Jirou ihn herum, als könne er tatsächlich pirouettieren. "Sag, kannst du heute meinen Assistenten spielen? Bitte?" "Selbst~selbstverständlich!" Shinji zwinkerte unsicher. "Verzeihung, ich meine, wenn ich dafür geeignet sein sollte..." Es war wie immer die gleiche erbarmungswürdige Leier. Er krümmte sich innerlich, wenn er sich selbst zuhörte. Zögerlich, unsicher, beinahe devot, einen Schritt vor und hastig mindestens zwei zurück. "Klar bist du geeignet!" Jirou strahlte ihm munter ins Gesicht. "Phantastisch, du bist sogar perfekt gekleidet! Schön seriös! Echt prima!" Lobte er unbefangen. Nicht mal einen Atemzug später vertraute er Shinji mit verschwörerischer Miene eine Digitalkamera an. Der Assistent trug die Kamera, er selbst, ganz analog, einen Block mit einem Druckbleistift. Jirou kniff geheimnisvoll ein Auge zu, klingelte am Eingang. Noch vor den offiziellen Öffnungszeiten konnten sie nur auf diese Weise Einlass finden. Adrett in eine Uniform gekleidet beeilte sich ein Aushilfsangestellter, die Pforte aufzuschließen. Ein älterer Herr, streng in einen schwarzen Anzug gekleidet, verneigte sich höflich. Eine Begrüßung, die Jirou und Shinji geübt erwiderten. Jirou streckte forsch die Rechte aus, schüttelte die des älteren Mannes, der darob grinste, einen goldenen Eckzahn entblößte. Shinji hatte Mühe, dem Gespräch zu folgen, da es derartig im Kansai-Dialekt geführt wurde und mit einem Argot gewürzt war, den er nicht verstand. Er begriff jedoch, dass Jirou hier eigentlich "arbeitete", die Sicherheitseinrichtungen seines Klienten überprüfte. Sein "Räuberzivil" mit Jeans, Lederjacke und losem Papagallo-Hemd darunter sollte ihm helfen, sich unbeobachtet unter die in Kürze einzulassenden Besucher zu mischen. Tapfer hielt er sich im Hintergrund, während der geschäftsführende Direktor sie durch die "Kulissen" leitete, reichte stets mit einer unterwürfigen Verbeugung die Digitalkamera weiter und versuchte, weitmöglichst unsichtbar zu sein. Ein dienstbarer Geist, wie es Assistenten eben anstand. Kaum dass der Direktor sie seiner Aufsicht entlassen hatte, konzentrierte sich Jirous Aufmerksamkeit wieder auf ihn. "Echt, Shinji, ich sollte dich immer mitnehmen! Gutes Timing!" Lobte er freiheraus. "Jetzt können wir uns auch amüsieren! Jetzt sind wir nämlich undercover!" Seinem Gesichtsausdruck war mühelos zu entnehmen, dass ihm diese Scharade sehr gefiel, er mit seiner Abenteuerlust Shinji anzustecken beabsichtigte. Der druckste scheu herum. "Ich weiß nicht... könnte ich vielleicht... ganz normal auftreten?" Jirou lachte heraus. "Ich bitte darum! Du lenkst die Aufmerksamkeit auf dich, und ich suche nach Schwachstellen! Du weißt ja: es braucht einen Dieb, um einen Dieb zu fangen!" Shinji lächelte hilflos. Die Vorstellung, man möge IHN wahrnehmen, war ihm schon unangenehm genug. Die Idee jedoch, man möge IHN statt Jirou ansehen, das war UNMÖGLICH! +~*~+ "Hat's dir gefallen?" Jirou beugte sich ein wenig herunter, studierte Shinji in gewohnter Weise direkt und unverwandt. Der errötete ein wenig, was jedoch nicht ins Gewicht fiel, weil der Eifer längst seine Wangen rosig gefärbt hatte. "Ich nehme dein Strahlen mal als ja." Grinste Jirou unbefangen, schnickte sich selbst eine Locke aus der Stirn. Ohne große Mühe war es ihm einmal mehr gelungen, die "Arbeit" in ein Vergnügen zu verwandeln. Weil er Shinji beispielsweise nach Ideen befragte, wie die im Zoo vorgehaltenen Tiere entwischen konnten. Oder Mutmaßungen dazu anstellte, welche sich zu stehlen lohnten. Indem er großen Wert auf dessen Meinung legte, kleine Szenen inszenierte, um als "normaler Besucher" durchzugehen, hatte er die Nervosität seines Begleiters vertrieben. Da konnte Shinji sogar dafür gewonnen werden, die kichernden Studentinnen mit ihren Malblocks abzulenken, die eindeutig ein Auge auf ihn geworfen hatten! "Es hat so viel Spaß gemacht! Vielen Dank!" Platzte Shinji heraus. Er wirkte, wie Jirou befand, wie ein verschüchtertes Kind, das endlich mit viel Geduld aus der Reserve gelockt Mut bewies, zu sich selbst und den eigenen Gefühlen zu stehen, hinter der Maske aus serviler Höflichkeit hervorzutreten. "Phantastisch! Dann machen wir jetzt Mittag, in Ordnung?" Schnurrte er sanft, verstaute die Kamera bei seinem Notizblock. Shinji nickte fröhlich. "Ich habe wirklich ein klein bisschen Hunger bekommen." "Hoffentlich steigert der sich noch, denn du wirst mir noch mal helfen müssen!" Deutete Jirou geheimnisvoll an, die Augen funkelnd vor Vergnügen. Er hatte immer noch eine Überraschung mehr im Ärmel. +~*~+ Shinji verbeugte sich bange vor dem rotbärtigen Riesen. Stotternd brachte er die übliche Kennlernfloskel über die Lippen, ängstlich bemüht, keinen Unwillen zu erregen. Jirou lachte, neckte ihn. "Keine Angst, Shinji, der beißt nicht. Aber vielleicht spielt er ja mal mit uns!" Der rotbärtige Recke, gebaut wie ein Kleiderschrank, antwortete im Bass sehr ruhig. "Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich darf mich vorstellen: Höflbaur, Thomas Höflbaur." "Sag einfach Thomas. Das ist er schon gewöhnt." Empfahl Jirou keck. "Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Thomas." Wisperte Shinji unbehaglich. Er versuchte erst gar nicht, die fremdländischen Silben auszusprechen, fürchtete gleichzeitig, sich sehr unhöflich zu verhalten, mal wieder in ein Fettnäpfchen zu treten. "Wir sind uns schon mal begegnet. Allerdings hätte ich die Überraschung verdorben, wenn ich mich zu erkennen gegeben hätte." Bemerkte Thomas in sorgfältiger Aussprache. Shinji verneigte sich nochmals. "Vielen Dank, dass Sie die Mühe auf sich genommen haben, mein Appartement aufzusuchen." "Nun reicht's aber mit den Förmlichkeiten!" Mischte sich Jirou energisch ein. "Thomas, hast du unser Körbchen mitgebracht?" Thomas schnaubte knapp. "Deshalb bist du doch hier." "Nicht nur!" Konterte Jirou feixend, legte Shinji eine Hand auf den Rücken. "Ich wollte natürlich auch bei Shinji mit dir angeben!" "Schmarrn!" Grummelte Thomas, wandte sich ab, um im Lager ein "Körbchen" herbeizubringen. Es handelte sich jedoch entgegen der Beschreibung um einen veritablen Picknickkorb, gut gefüllt und entsprechend schwer. "Eine Brotzeit und noch was Süßes." Erläuterte er knapp den Inhalt, bevor er den Korb demonstrativ Jirou in die Arme drückte. Der taumelte ein wenig unter dem Gewicht, grinste aber. "Auf dich ist eben Verlass!" Klebte er Thomas metaphorisch Kamellen ans Revers. "Jetzt aber los! Schaffe, schaffe, Häusle baue!" Thomas knurrte so sonor, dass er ausgewachsene Bullterrier in die Flucht geschlagen hätte, nickte dem verschüchterten Shinji zu. "Guten Appetit und noch viel Spaß mit meinem unverschämten Bruder." Shinji klappte wieder vornüber, in Ermangelung einer geistreichen Replik. Er hatte nicht einmal die Hälfte des kurzen Dialogs verstanden und fühlte, wie ihm vor lauter Fragen schwindlig wurde. Bevor er nur eine in seinem Kopf formulieren konnte, um das Chaos zu lichten, forderte Jirou ihn schon auf, ihm flink zu folgen, sie müssten sich ein wenig beeilen! +~*~+ Nachdem sie gemeinsam dank des breiten Tragebügels den Picknickkorb zur nächsten Station geschafft, mit dem Zug drei Stationen gefahren waren, dirigierte Jirou sie durch einen Häuserdschungel über die Tiefgarage auf das Dach eines Geschäftsgebäudes. Zutritt für Unbefugte verboten. Anstelle eines bekiesten oder betonierten Dachs, der urbanen Einöde, erwartete Shinji jedoch ein Gewirr aus bepflanzten Säcken, Plastikwannen und anderen ausrangierten Behältnissen, dazu Windspiele und diverse Gerätschaften, die einen kleinen Brunnen in Betrieb hielten. Hinter dem Aufzugsschacht spannte sich eine solide Plane, unter der Jirou die Picknickdecke ausbreitete. Der Nieselregen störte ihn augenscheinlich nicht. Hier saß man schließlich trocken, wenn auch nicht besonders windgeschützt. "Das~das ist unglaublich!" Murmelte Shinji beeindruckt. Zugegeben, alles war kunterbunt und chaotisch, doch die zahlreichen Gewächse mit ihren bunten Blüten, den unzähligen Schattierungen von Grün und ihre Formvielfalt faszinierten ihn. Jirou lächelte triumphierend, während er aus den Tiefen des Picknickkorbs immer weitere Päckchen, Schüsselchen, Döschen und anderes produzierte. Als das Geschirr aufgestellt war, entzündete er sogar eine Kerze in einem Windlicht, schenkte zur Feier ihres zweiten Rendezvous genau temperierten Sake aus. Schüchtern erwiderte Shinji die Geste, nippte vorsichtig von seiner Porzellanschale. Huuuuiiii! "Gut, nicht? Thomas würde sagen: geht runter wie Öl!" Jirou grinste. Diese Metapher musste er erklären, sie entstammte nicht ihrem gemeinsamen Kulturkreis. Auch ein Teil der deftigen und süßen Speisen, appetitlich angerichtet trotz schnöder Transportverpackung, waren für Shinji exotisch und ungewohnt. "Das da hat alles mein Bruder gemacht! Er ist ein Genie." Vertraute Jirou ihm stolz an. "Denk nicht, dass er die süßen Sachen etwa verkaufen würde, oder so! Nein, im Feinkostgeschäft ist er für die Fleischwaren zuständig! Backen, das macht er bei uns zu Hause!" Man hätte schon aller Sinne beraubt sein müssen, um nicht zu bemerken, welche Stücke Jirou auf seinen Bruder hielt. Obwohl es wohl selten zwei so ungleiche Brüder gegeben haben musste, wie Shinji dachte. Er kostete zögerlich, war neugierig und gehemmt zugleich, wollte sich absolut richtig verhalten, aber auch tollkühn seiner Intuition nachgeben. Während Jirou akribisch darauf achtete, dass Shinji alles probierte, sich ordentlich den Magen vollschlug, erzählte er ihm die Ballade der "unwahrscheinlichen Brüder." +~*~+ "Ich erinnere mich, dass mein Vater mich während der Blütenschau von der Schule abholte. Das tat er sonst eigentlich nur, wenn wir mal wieder schnell unsere Zelte woanders aufschlagen mussten. Dieses Mal jedoch sagte er zu mir: 'Sohn, zieh deine besten Sachen an! Wir gehen aus, und du lernst deine neue Familie kennen!' Ich war natürlich baff. Mein Vater, der verrückteste Hund in der Pfanne, wenn es um Geschäftsideen ging, hatte zwar dann und wann ein Gspusi, wie Thomas sagen würde, doch so offiziell war das nie. Von Familie war bis dahin auch nicht die Rede gewesen. Also kannst du dir denken, wie neugierig ich war! Wir gingen sehr aufgebrezelt in ein schickes Restaurant. Das kann ich dir versichern: mein Vater lässt sich nicht lumpen, wenn's was zu feiern gibt! Ein wenig später kamen eine hübsche Brünette, na, du kannst es dir vorstellen, so ein Karamellton, Hochsteckfrisur und ein dünnes Kleidchen, dazu Beine bis unter den Hals! Erstklassig... und ich darf das sagen, weil's stimmt. Neben ihr ging ein Ausländer, ganz definitiv. Roter Lockenkopf, Gesichtsfarbe wie Buttermilch und Spucke, so sagt man treffend, und ZWEI Köpfe größer als ich! Der sah schon aus wie ein Preisringer! Mein Vater machte uns bekannt. Dieser Riese sollte nicht nur das Kind seiner "Verlobten" sein, sondern auch noch ein halbes Jahr jünger als ich! Na, ich staunte Bauklötze, das kann ich dir versichern! Wir haben uns zum Essen hingesetzt, und ich wusste nicht recht, was ich mit ihm anfangen soll. Gut, es war ja anzunehmen, dass er ein kleines bisschen Japanisch verstehen würde, aber irgendwie kam's mir komisch vor, mit ihm so einfach zu sprechen! Er sieht ja nun, wenn man mal seine Augenfarbe außer Acht lässt, überhaupt nicht Japanisch aus, nicht wahr? Jedenfalls beäugen wir uns da bloß ein wenig und schaufeln ordentlich rein. Darin waren wir uns schon mal einig. Zwischen unseren Elternteilen bestand auch gleich Einvernehmen: Mika und Thomas ziehen bei uns ein. Ich sollte Thomas ein bisschen helfen, damit er sich besser eingewöhnte, weil der gleich zum neuen Schuljahr auch noch auf meine Schule kommen sollte! Na, dachte ich, das wird was werden. Da ist wohl Schluss mit der Langfingerei, dafür habe ich keine Zeit mehr. Damit lag ich goldrichtig. Tatsächlich brauchte Thomas ein bisschen Hilfe mit den Kanji, weil er ja erst vor zwei Jahren nach Japan gekommen war. hauptsächlich lag's daran, dass seine Mutter, also Mika, nicht besonders häuslich begabt ist. Sie war Tänzerin und Sängerin, hat sich auf einer Tournee in seinen Vater verguckt, ist aus dem Tingeltangel ausgestiegen, bis es ihr zu eng wurde. Da hat sie sich Thomas geschnappt und sich scheiden lassen. Neues Spiel, neues Glück, von wegen "rien ne va plus"! Weil sich jemand um den Haushalt kümmern muss, hat Thomas das übernommen. So hat er gleich auch Ordnung in unsere "Männerwirtschaft" gebracht. Blieb mir ja gar nicht anderes übrig, als ihm zu helfen! Du hast keine Geschwister, nicht wahr? Also, solltest du mal welche haben wollen: ich kann Thomas nur empfehlen! Der beste Bruder, den man haben kann! Aber ich schweife ab. Nach vier Jahren trautem Heim haben sich unsere Eltern getrennt. Wenn zwei ständig Hummeln im Hintern haben, ist das ja auch nur eine Frage der Zeit. Ich wollte mich aber nicht von Thomas trennen, und er hat mit Mika besprochen, dass er erst mal bei uns bleibt. Das war für ihn bestimmt nicht leicht, denn Mika braucht jemanden, der auf sie aufpasst. So sind wir bis zum Schulabschluss zusammengeblieben. Ich hatte nicht die Mittel, um zu studieren und habe gearbeitet, damit ich Kapital für mein Geschäft zusammenbekommen konnte. Und natürlich, um Kontakte zu knüpfen. Thomas hatte immer Verbindungen zu seinem Vater, in Deutschland. Dessen Vater, also Thomas' Großvater, hat ihm angeboten, er könne zurückkommen und bei ihm im Betrieb lernen. Das ist eine riesige Landmetzgerei, mit eigener Schlachtung und 14 Festangestellten im Verkauf! Er ist nach Deutschland gegangen, hat dort alles gelernt. Der Großvater hat ihm auch angeboten, dass er ins Geschäft miteinsteigt, aber Thomas hat sich entschieden, wieder zurückzukommen. Ich war unheimlich froh, weil wir uns so auch wiedersehen konnten, trotz der vielen Arbeit. Da haben wir beschlossen zusammenzuziehen. Wie früher. Das einzige Problem jetzt ist noch, ihn zu überzeugen, dass er sich wie ich auf die Suche nach einem besonderen Menschen mit gutem Herz machen sollte." +~*~+ Shinji staunte mit halb geöffnetem Mund, wie fremdartige Worte und ausschweifende Gesten, Augenzwinkern und selbstironische Parodien diesen Ausflug in die Vergangenheit erläuterten. "Verrückte Geschichte, hm?" Schmunzelte Jirou, feuchtete seine Kehle mit grünem Tee an. "Daher auch die "unwahrscheinlichen" Brüder. Offiziell sind wir nicht verwandt, aber das stört uns beide keinen Deut." "Warum...?" Shinji biss sich auf die Lippe, verstummte, damit die impertinent neugierige Frage ihm nicht vollends entschlüpfen konnte. "Ja? Frag ruhig, nur keine Scheu!" Jirou beugte sich aufmerksam zu ihm herüber. "Lieber~lieber nicht." Murmelte Shinji beschämt, wich dem intensiven Blick aus. "Soll ich raten?" Jirou langte elegant über die Distanz, hob Shinjis Kinn mit der Fingerspitze an, sodass der ihm nicht ausweichen konnte. "Du fragst dich, warum er zurückgekommen ist, richtig?" Eine Antwort war überflüssig, da Shinji dunkelrot anlief, ängstlich nach Luft schnappte. "Tja..." Für einen Augenblick wirkte Jirou bekümmert und ernst. "Das ist der traurige Teil. Ich habe ihn das auch gefragt. Hier wird er, ganz gleich, wie perfekt er unsere Sprache spricht und mit unseren Gebräuchen vertraut ist, immer ein Ausländer sein. Daraufhin hat er mir gesagt, dass ganz gleich, wo er auch hingehen wird, er überall fremd ist. Auch dort, wo er sich auf den ersten Blick gar nicht unterscheidet." Shinji presste die Lippen zusammen. Er glaubte, dass er ein wenig nachvollziehen konnte, wie der rotbärtige Riese sich fühlte. "Nun!" Aufgeräumt brach Jirou die melancholische Stille, grinste Shinji frech an. "Ich hoffe, er findet wie ich schnell jemanden wie dich!" Weil er Shinji so bequem in Reichweite hatte, zog er ihn am Hemdausschnitt zu sich heran, küsste ihn sanft auf den Mund. +~*~+ Kapitel 3 - Unterwegs Nach einem solchen Ausflug konnte wohl niemand anders als bezaubert und verliebt zu sein. Befand Shinji, der sich eigentlich klüger wähnte, in Pechsträhnen erfahrener. Es gab keinen Grund, Jirous Beteuerungen anzuzweifeln, dennoch, was konnte ER ihm bieten? Wie ihm diese Zuneigung vergelten? "Ich begreife es wohl nicht." Murmelte Shinji seufzend, nachdem es ihnen gelungen war, sich einmal persönlich am Telefon zu erwischen. Theorien über die Liebe kannte er durchaus. Das hieß jedoch nicht, dass er BEGREIFEN konnte, was dieses seltsame, nicht fassbare Gefühl ausmachte. Wie "leicht flüchtig" es wohl war. Ein Gas, das die Sinne vernebelte, die Realität verschleierte, hormonelle Turbulenzen auslöste. Den letzten Gedanken vertrieb er allerdings rasch wieder aus seinem Kopf, schluckte hastig den inzwischen abgekühlten grünen Tee. DARÜBER wollte er nicht nachdenken!! +~*~+ Jirou befand, dass man seine Zeit nutzen musste. Wenn man gerade eine Glückssträhne hatte, sollte man ihr auch huldigen! Deshalb scheute er keine Mittel, seine Beziehung zu seinem auserwählt besonderen Menschen zu vertiefen. Mit der (erreichbaren) Familie hatte er ihn bekannt gemacht. Sie hatten sich Blüten und Tiere angeschaut, gemeinsam getafelt, nach und nach der schier unendlichen "Liste von Übereinstimmungen" ein paar Antworten gegeben. Jetzt bot sich die beste Gelegenheit des Jahres, "den Knoten zu knüpfen": die Goldene Woche. Sie umfasste mehrere Feiertage, die mit "Brückentagen" verbunden eine perfekte Gelegenheit für eine kleine Reise darstellten. Er verfasste kunstvoll eine Einladung, die er in Shinjis Briefkasten deponierte, schlich sich unerkannt in dessen Firma ein, um auch sicherzugehen, dass Shinjis schüchternes Gesuch um Urlaub die Zustimmung erhielt. Ein dreifaches Hurra! Auf hierarchisch verkrustete, überdimensionierte Unternehmen, die das Scheuklappendenken und die entsprechende Null Verantwortung ihrer Mitarbeiter förderte! Er vermutete stark, dass niemand jemals Verdacht schöpfen würde, dass es ein klein wenig mit unrechten Dingen zugegangen war, ausgerechnet dem unscheinbaren "Neuling" Urlaub zu gestatten. Auch alle anderen Vorbereitungen ließen sich zu seiner Begeisterung großartig an. Jetzt musste nur noch das Wetter mitspielen! +~*~+ Shinji wartete, ungelenk seine nagelneue Reisetasche auf Rollen aussteuernd, nervös auf dem Bahnsteig. Der füllte sich. Unermüdlich strömten Reisende rein und raus. Zweifelsohne sah es auch auf jedem anderen Bahnsteig in der Metropole so aus. Wer konnte, fand sich am Samstag ein, um eine ganze Woche Urlaub anzutreten, wenn man nicht schon am Freitagabend mit dem Pkw gestartet war. In diesem Trubel gefangen stellte er sich immer wieder auf die Zehenspitzen, um irgendwo Jirou zu erspähen. Der hätte sich damit keineswegs verspätet. In seiner Unruhe war Shinji eine ganze Stunde früher aufgebrochen. Da er auch keinen ordentlichen Schlaf gefunden hatte, erschien ihm dieses Verhalten vollkommen logisch. "Guten Morgen, mein Prinz." Schnurrte es plötzlich sonor HINTER ihm. Ein Arm schlang sich ungeniert um seine Taille. Shinji stieß vor Schreck ein wenig kleidsames Quietschen aus, rammte im Reflex die ausbüchsende Reisetasche einer älteren Matrone in die Hacken. Die warf ihm einen bitterbösen, angewiderten Blick zu, murmelte eine Verwünschung, während er zu verängstigt war, nur ein Wort von sich zu geben. "Was für eine Frau! Die könnte allein ganze Friedhöfe füllen." Murmelte Jirou an seinem Ohr. Dabei unterdrückte er ein kehliges Auflachen, völlig unbeeindruckt vom Abscheu, den er allein damit erzeugt hatte, einen anderen Mann vertraulich um die Hüfte zu fassen. Von Shinji konnte im Augenblick nicht viel erwartet werden, das verriet ihm dessen stocksteife Haltung. Er apportierte lässig den widerspenstigen "Reisegefährten auf Rollen", einem Motto, dem er schon bei der anpreisenden Werbung misstraut hatte. "Lass uns ein bisschen weiter oben einsteigen. Immer mir nach, Shinji." Schlug er selbstgewiss vor. Die direkte Anrede, sein Vorname, so vertraulich und ungeniert ausgesprochen, jagten einen heilsamen Schock in Shinjis erstarrte Gliedmaßen. Eilig heftete er den Blick auf das athletische Kreuz seines Begleiters, durch ein passgenaues Hemd in betäubendem Korallenrot unverkennbar in Szene gesetzt. Ja, Jirou neigte wirklich nicht dazu, sich unauffällig einzukleiden. Deshalb erschien es ihm noch verwunderlicher, dass dieser Mann sich immer wieder unbemerkt in seine unmittelbare Nähe geschlichen hatte. Trotz des Gewimmels erregte Jirou Aufsehen. Dabei tat er nichts weiter, als zielgerichtet den Bahnsteig zum oberen Ende entlang zu marschieren, zog die bockende Reisetasche in der Linken hinter sich her, während er selbst eine einfache Reisetasche lässig unter den rechten Arm geklemmt hatte. Wie einen Rollmops. Shinji registrierte die Blicke eingeschüchtert. IHN bemerkte selbstredend niemand. Diverse Frauen blickten Jirou interessiert hinterher, während Männer ihn mutmaßlich auf Konkurrenz mit den Augen abmaßen. "Da wären wir!" Jirou schlug Wurzeln, erwiderte ein paar einladende Lächeln um sich herum höflich, kramte aus seiner hinteren Hosentasche sein Mobiltelefon. Auch diese Geste wurde durchaus beachtet. Sie bot die Möglichkeit, die sehr appetitlich verpackte Kehrseite studieren zu können. "Sieht gut aus!" Stellte er fest, ohne Shinji anzuvertrauen, auf was exakt sich diese Feststellung bezog. "Hast du gut geschlafen?" Adressierte er ihn munter. "Nicht~nicht so viel." Murmelte der, zupfte an der Umhängetasche herum. "Wenigstens gefrühstückt, oder?" Jirou kannte kein Erbarmen, auch keine verlegenen Schweigegebote. Shinji wischte sich unsicher durch die Haare, die Handflächen unbewusst an der Hosennaht ab. "Reis-Omelett." Als hätte man ihn gescholten. "Verzeihung, ich habe Reis-Omelett gegessen." Jirou schmunzelte ihm unverwandt ins Gesicht. "Aufgeregt, hm? Wie bei einem Schulausflug! Ach, das hätte ich ja glatt vergessen!" Er grinste verständnisvoll, zwinkerte Shinji vertraulich zu, fischte aus der Brusttasche seines Hemds einen flachen Lutscher. So kam es, dass Shinji mit dunkelroten Wangen kunstvoll geknebelt den Zug bestieg. +~*~+ Das ganze Land war unterwegs. Quasi. Jirou focht das nicht im geringsten an. Er hatte die Route ausgearbeitet, wusste, dass sich auf den Nebenstrecken das Gewühl und Gedränge lichten würde. Außerdem hatte er sich für eine Rast entschieden. Eine Reiseunterbrechung war genau das Richtige, damit man nicht wie durch die Mangel gedreht ankam. Deshalb saßen sie abseits der Strecke in einem kleinen Restaurant, verspeisten leichte Kost. Shinji mümmelte artig und etwas entspannter. Niemand starrte sie mehr an. Er musste auch nicht befürchten, unversehens von Jirou getrennt zu werden. Er hatte zwar die erste Fahrkarte bis zu diesem Ort selbst bezahlen dürfen, doch nun lag alles in Jirous geschickten Händen. Und in seinem Mobiltelefon. Nachdem sie bezahlt, das Restaurant verlassen hatten, knöpfte Jirou sein Hemd auf, absolvierte ungehemmt Dehn- und Streckübungen. Kollateralschäden wurden durch den Umstand verhindert, dass er ein weißes Unterhemd trug. "Aaaaah! Schon viel besser!" Der Kopf kreiste. Er schüttelte grinsend sämtliche Glieder aus. Shinji beobachtete ihn fasziniert, auch ein wenig ängstlich ob der Ungezwungenheit, mit der Jirou sich gab. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, sich öffentlich so zu produzieren! Jirou zwinkerte ihm zu. "Wer rastet, der rostet. Ich will nicht, dass bei mir schon gleich der Lack ab ist, sonst kann ich mich ja nicht mehr mit dir zeigen." "Wie?!" Quietschte Shinji erschrocken. "Oh, das habe ich nicht... ich meine...!!" Stotternd brach er ab. Jirou lachte laut heraus, legte ihm vertraulich den Arm um die nervös hochgezogenen Schultern. "Das war ein Scherz! Ich bin einfach nicht gut darin, lange stillzuhalten. Das habe ich wohl von meinem Vater, diese lästige Zappeligkeit!" Shinji ließ sich dirigieren, unterdrückte den Reflex, sich zu entschuldigen. Wie kam es bloß, dass er in Jirous Gesellschaft einfach die Umgebung ausblendete, vor sich hin träumte?! "Hast du noch ein bisschen Geduld übrig? Unsere Reise dauert noch ein wenig länger." Erkundigte sich Jirou, so gelassen und trotzdem verführerisch, dass Shinji errötete. "Das~das macht mir nichts aus! Ich habe sehr viel Spaß!" Platzte er hastig heraus. "Tatsächlich? Na, das muss ich mir merken: Shinji genießt Menschenrudel." Jirou warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu, die Augenbraue kritisch gelupft. Dabei gestikulierte er mit der freien Hand, als wolle er sich die Zeichen notieren. "Nein... ich... ich meine, zusammen reisen... Es macht mir Spaß, zusammen zu verreisen." Shinji ging vom erschrockenen Stottern ins Murmeln über, heftete seinen Blick auf seine Schuhspitzen, beschämt über die lästige Verlegenheit in Jirous Nähe. "Mir auch!" Bekräftigte Jirou, scheinbar unberührt von Shinjis Gebaren, drückte unvermutet dessen Schultern und ihm einen Schmatz auf die Wange! "DAS habe ich schon seit heute Morgen tun wollen! Ha! Yay me!" Verkündete Jirou im Brustton der Begeisterung, während Shinji verdattert über die eigenen Füße stolperte. +~*~+ Am späten Nachmittag spuckte sie ein Überlandbus an einer verlassenen Haltestelle aus, vielmehr an einem Schild mit Fahrplan und einem geschotterten Trampelpfad. Sie waren definitiv weit weg im wenig besiedelten Hinterland auf halber Höhe eines schroff wirkenden Gebirges. Das Leben tobte entschieden woanders. In den engen Reisfeldern und Fischteichen meldete sich die Fauna quakend und zirpend zu Wort. Ab und an tauchte ein Vogel ab, um unvorsichtige Fische zu erwischen, ansonsten summten nur Insekten. "Da, schau!" Jirou, nur noch im Unterhemd, seine Reisetasche umgehängt, wies mit der Rechten auf ein Feld. Shinji folgte seinem Blick, erkannte die schillernde Schönheit der Flügel von einzelnen Libellen, die einen komplizierten Tanz aufzuführen schienen. Seine Lippen formten ein perfektes "Ooooo", das nicht entwich. Jirou lächelte ob dieser stillen Ovation an Mutter Natur, ging langsam voran, Shinjis lästige Reisetasche unter den linken Arm geklemmt. Mit jedem ruhigen Augenblick, den sie gemeinsam verbrachten, konnte er ein wenig von der nervösen Angespanntheit vertreiben. Shinji damit noch ein wenig näher kommen. +~*~+ Das Gasthaus war, an japanischen Verhältnissen gemessen, alt, offenkundig im Verlauf der Geschichte erweitert und umgebaut worden. So, wie es der jeweiligen Generation am besten zugesagt hatte. Eine kleine Straße führte am Haus vorbei. Der Zugang war mit Bruchsteinen und Kieseln grob gepflastert, um der gierigen Grasvegetation eine Passage abzutrotzen. Ein altmodisches Holzschild wies daraufhin, dass Wandernde und Reisende hier Quartier und eine heiße Quelle zum Baden finden konnten. Ein fröhlicher Hund, schwarz-weißes Fell und freundliches Gebell, begleitete sie zum Haupthaus. Drinnen wie draußen wirkte alles familiär und ein klein wenig unordentlich. In allen möglichen Gefäßen wuchsen Blumen, Kräuter oder auch Gemüse. Da trockneten Wäschestücke auf Bambus-Stangen in der Luft. In einer Remise gähnte ihnen ein ausgeschlachteter Kleintransporter entgegen. Auf der umlaufenden Veranda neben dem Eingang aalten sich in der nachlassenden Nachmittagssonne, die sich sehr rasch verabschiedete, diverse Katzen. Ein paar Laufenten flitzten im Rudel eilig wie das berühmte, weiße Kaninchen durch eingezäunte Parzellen mit Gemüseanbau. Jirou stapfte zum Eingang, ließ ihr Gepäck fallen, befreite sich von seinen Turnschuhen, um in bereitgestellte Schlappen zu schlüpfen. Eine verwitterte, alte Frau verneigte sich vor ihm, wisperte heiser eine Begrüßung, die Jirou respektvoll erwiderte. Das uralte Mütterchen erklomm einen Klapptritt, blätterte in einem Buch, beäugte Jirou und den sich hastig verbeugenden Shinji erstaunlich akribisch. "Sie sind sehr pünktlich! Ich zeige Ihnen rasch das Zimmer. Ein leichtes Abendessen und ein heißes Bad danach. Für das Weitere werde ich Vorsorge treffen." Stellte sie lobend fest. Jirou bedankte sich zwinkernd, während ihre "Hausmutter" ihren Posten verließ, in ihrem Obi kramte. Shinji vermutete, dass sie einen für Kinder geschneiderten Kimono trug. SO viel Stoff konnte man nicht mal mit allen Bändern zusammenraffen und -falten, dass die alte Dame sich darin hätte bewegen können! Ein durchdringender Pfiff ertönte. Die Trillerpfeife wurde wieder verstaut. Jirou lachte amüsiert. "Jajajajaja!" Trällerte es unmelodisch aus den verbauten Eingeweiden des alten Hauses. Ein Greis wackelte o-beinig heran. Seine nackten, verkrümmten Beine glänzten nass. Um die Stirn trug er noch ein verdrehtes Stofftuch. "Warst wieder fischen, was? Ungezogener Bengel!" Grummelte die alte Frau. "Nur, damit die blöden Reiher nicht alles wegfressen, Mutter." Kommentierte der alte Mann keck, zwinkerte Jirou vertraulich zu. Mütter! Jirou schnappte sich unterdessen Shinjis lästigen "Reisegefährten". "Machen wir halbe-halbe. Dafür zeigen Sie mir Ihre Teiche, ja?" Während die Hausmutter so tat, als habe sie die Verbrüderung der "ungezogenen Jungs" nicht gehört, grinste ihr Sohn, entblößte erschreckende Zahnlücken. "Abgemacht!" Shinji zuckelte ihnen sprachlos durch verwinkelte Gänge und unzählige Stiegen hinterher. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen? +~*~+ So schlimm nahm es sich gar nicht aus. Aufgrund der Hanglage gab es zwar keinen kleinen Innenhof, der mit hochgerollten Bambusmatten einen erbaulichen Anblick von ihrem gemeinsamen Zimmer aus bot, dafür eine bepflanzte Gesteinswand. Aus der quoll ein unermüdliches Rinnsal, das in einen kleinen Zierbrunnen abgeleitet unter dem Haus hindurch mäanderte. Ein wenig eigenwillig, das konnte man nicht von der Hand weisen, doch Shinji war für diesen schrulligen Charme empfänglich. Eine vom Alter gebeugte Frau schlurfte herein, apportierte ein großes Tablett, auf welchem mit abgedeckten Häubchen die Schüsseln mit ihrem Abendbrot transportiert wurden. Deutlich sichtbar hatte sie sich selbst eine Art Lätzchen umgehängt, auf dem sowohl vorne als auch auf dem Rücken der eindeutige Hinweis zu lesen stand: [Bin taub. Schreiben Sie's auf.] Dazu diente augenscheinlich ein "Zaubertäfelchen", wie es Kinder benutzten. Es ragte hinten am Knoten des Obi heraus. "Kauzig, was?" Jirou grinste, als die alte Frau wortlos ihr Zimmer verlassen hatte. Seinem Amüsement war zu entnehmen, dass ER sich hier pudelwohl fühlte. Shinji nickte scheu. "Es ist... speziell. Und reizend, natürlich!" Ergänzte er hastig. Jirou ließ sich bequem im Schneidersitz nieder, lupfte geschickt die Häubchen. "Mal sehen, was es Feines gibt! Ich habe schon wieder Hunger, ist denn das zu glauben?" Durchaus. Shinji hatte Mühe, ein gieriges Schmatzen zu unterdrücken, als ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Das musste wohl der ungewohnten Anstrengung geschuldet sein! Gemeinsam probierten sie sich durch das Menü, spekulierten, was es wohl sein konnte, registrierten eine muntere Vertrautheit miteinander. "Jetzt habe ich so richtig Lust auf ein heißes Bad!" Verkündete Jirou aufgekratzt. Immerhin versprach die Umgebung am Hang in Kombination mit den originellen Betreibern ein zweifellos erinnerungswürdiges Erlebnis. Shinji zögerte. Er war es nicht gewöhnt, gemeinschaftlich zu baden. In ein öffentliches Badehaus zu gehen war als altmodisch verpönt. Die Erlebnis-Tempel der Metropole hatten mit dem ursprünglichen Konzept nichts mehr gemein. Jirou schien sein Missbehagen gar nicht aufzufallen. Wie selbstverständlich legte er seine Kleider ab, schlüpfte in eine karierte Yukata, die das Gasthaus stellte, wandte sich zu Shinji um. "Soll ich schon mal vorausgehen? Das Wasser prüfen?" Schlug er feinfühlig vor. "Ich~ich komme nach!" Gab Shinji rasch zurück. Warum musste er bloß so nervös sein?! Es ging doch lediglich darum, in heißes Wasser zu steigen! Ein Luxus, verglich man es mit den winzigen Napf, in den er in seinem Appartement klettern musste. Darin konnte man sich nicht mal ertränken! Hastig entkleidete er sich, wählte die zweite Yukata im Stapel. Sie roch würzig, aber nicht unangenehm. Mit einfachen Latschen ausgerüstet folgte er den handgemachten Schildern durch ein wahres Labyrinth enger Gänge und Passagen, über Stiegen unter Hintertüren, bis er das gemauerte Naturbad erreichte. Es schlängelte sich förmlich am Hang entlang, umzingelt von allerlei Grünzeug, zum Teil in Kübeln. Stämmiger Bambus rauschte leicht, als eine Brise aufwehte. Im Vorraum wählte Shinji eilig einen Schemel, tauschte Yukata und Schlappen gegen Handtuch, Waschlappen und Schüssel. Er schrubbte sich rasch gründlich ab. Das Wasser war angenehm temperiert, das Waschgel nur dezent duftend. Das obligatorische Handtuch apportierend begab er sich zögernd zum Bad, lauschte. Auf keinen Fall wollte er sich vor Fremden im Adamskostüm zeigen, vor allem nicht vor Frauen. Früher, das wusste er, sah man kein Arg darin, gemeinsam zu baden. Heutzutage jedoch gereichte das bloße Ansinnen bereits zum Verdacht der sexuellen Belästigung. Er hörte jedoch nichts weiter als Jirous Stimme, die sonor und munter vom Badeentchen sang. Nach einem tiefen Atemzug schlüpfte er in das offene Halbrund, schob die Tür artig hinter sich zu. Jirou lehnte den Kopf weit in den Nacken, verdrehte ihn dabei. "Shinji? Prima, mach's dir gleich bequem! Ist sehr angenehm!" Hastig, darauf bedacht, nicht unversehens auszugleiten, den Blick auf die Füße geheftet, huschte Shinji heran, kletterte über den aufgemauerten Beckenrand, ließ sich in das Wasser sinken. "HHhhhmmmmmmmmmm! Klasse, oder?" Schnurrte Jirou für ihn genießerisch. "Sehr schön!" Schnaufte Shinji ein wenig atemlos, musste sich erst an die hohe Temperatur gewöhnen. Gemeinsam dösten sie ein wenig. Jirous Vitalität ließ sich nicht lange ausbremsen. Deshalb stand er auf, wanderte im Becken umher, dehnte und streckte sich. Verstohlen studierte Shinji seinen Begleiter, bewunderte dessen sehnig-athletischen Körperbau und die Ungezwungenheit, mit der Jirou auftrat. An ihm war nichts Gehemmtes, Versteiftes. "Wird's dir auch nicht zu warm? Bist ein wenig rot im Gesicht." Jirou wandte sich herum. "Oh... ja, ich werde..." Shinji rappelte sich auf, spürte einen Anflug von Schwindel, gefolgt von sehr viel mächtigerer Panik, er werde sich gleich blamieren. Hastig haschte er mit ausgestrecktem Hand nach dem Beckenrand. "Immer langsam! Ich wollte dich nicht vertreiben. Mach schön in deinem Tempo weiter." Jirou fasste ihn stützend unter die Arme. "Danke." Murmelte Shinji, lehnte sich einen schwindligen Moment länger gegen die solide Brustpartie in seinem Rücken, straffte sich energisch. "Ich vergesse immer, wie glatt es ist." "Ich fall auch auf die Schnauze, wenn's NICHT glatt ist! Wollen wir?" Lachte Jirou aufmunternd an seinem Ohr. Shinji wollte. +~*~+ Futon neben Futon, in ordnungsgemäßem Abstand: das erinnerte an Sommerfrische auf dem Land, Schulausflüge, Besuch bei Verwandten. Tatsächlich jedoch konnte Shinji mit solchen Memoranden nicht aufwarten. Er lauschte auf die ruhigen Atemzüge seines Nachbarn. Auch das alte Haus sonderte Geräusche ab. Dazu tickte in einiger Entfernung eine grässliche Kuckucksuhr vor sich hin. Die Fauna ging ihren nächtlichen Geschäften nach. Es musste das Fehlen des allgegenwärtigen Lärmpegels in der Stadt sein, das ihn nicht richtig einschlafen ließ. Was hatte Jirou wohl geplant? Warum bloß gab der sich so viel Mühe? "Verrückt." Murmelte Shinji kaum hörbar. Auch wenn es ein Traum, eine Halluzination sein musste, wollte er um keinen Preis erwachen! +~*~+ Jirou kannte diesbezüglich keinerlei Skrupel. Sein Mobiltelefon lärmte, als die Weckfunktion ausgelöst wurde. Er klappte die Augen auf, streckte sich, setzte sich auf, war bereit, ein neues Abenteuer in Angriff zu nehmen. Shinji musste mit. Noch schläfrig wurde er zum Anziehen verdonnert, auf seine Ausstattung hin überprüft. Jirou marschierte bereits bester Laune durch das verwinkelte Anwesen zum Ausgang. Dort wartete ein alter Rucksack auf sie, dazu zwei starke Lampen, ein Kompass und eine in Plastik eingeschweißte Karte. Jirou warf sich den Rucksack auf den Buckel, suchte zwei Wanderstöcke aus, entzündete eine altmodische Laterne. "Wenn uns der Sprit ausgeht, haben wir ja noch die Lampen." Grinste er Shinji herausfordernd an. Damit stapfte er munter gemäßigten Schritts den Hang hinauf. Shinji folgte ihm unsicher. Es war noch mitten in der Nacht und dunkel, das Gehölz um sie herum dicht und unheimlich, der Boden tückisch auf dem Trampelpfad, sein Körper ungnädig ob der unzeitigen Störung. Eine Nachtwanderung also? Noch mehr, sie stiegen über gewundene schmale Pfade immer höher ins Gebirge auf. Das Klettern im Dunkeln beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit, also wurde kaum gesprochen. Bald lief Shinji trotz der nächtlichen Kälte der Schweiß über den Leib. Wie weit war es noch? Wann waren sie endlich da? Fragen, die sich selbstredend verbaten, wenn man über die Pubertät hinaus war. Jirou ging unbeirrt voran, obwohl er kaum mehr erkennen konnte, in ruhigem Rhythmus, ohne Stolpern und Stocken. Bald gewann die Müdigkeit die Oberhand: Shinji stapfte nur noch auf Autopilot in einer Art Trance wie aufgezogen hinter Jirou her. Er nahm kaum wahr, dass sich die Vegetation ein wenig lichtete, die Nacht in einen dunklen Dunst wechselte. Die Nebelschwaden wurden dichter und heller, das Grün karger. Immer mehr Steine und Flechten säumten ihren Pfad. Endlich erreichten sie die Gebirgskette. Die Sicht war miserabel. Jirou stellte die Laterne auf einem Fels ab, platzierte ihre Wanderstöcke daneben, lud sich den Rucksack vom Rücken. Er entnahm zwei flache Thermokissen, bedeutete Shinji, es sich bequem zu machen. Der sackte, als habe man ihm wie einer Marionette die Fäden durchgeschnitten, in sich zusammen, schnaufte zu seiner Verlegenheit hörbar. Jirou lachte leise, nahm an seiner Seite Platz, schnupperte in den Dunst. Eine Brise strich durch ihre Haare. Sie frischte auf, wurde stärker. Die dichten Nebelschwaden drifteten auseinander. Die Feuchtigkeit wich einer gewissen Kühle. Jirou legte Shinji den Arm um die Schultern, zog ihn näher an sich heran. Empfindlich kalt wehte der Wind nun. Ein unwirklicher Schimmer legte sich auf die Bergkuppen. Als löse sie selbst die Dunstfelder auf, kletterte eine blutrote Sonne gemächlich über den Horizont, verwandelte schwarze Schatten in bläuliches Schimmern, schwebte schwerelos am Himmel nach oben. Shinji seufzte hingerissen. Gebannt verfolgte er den Sonnenaufgang nach dem quälenden Aufstieg in der bedrohlichen Finsternis, lechzte förmlich nach der Wärme und Helligkeit, die sie versprach. Jirou neben ihm lächelte zufrieden über den gelungenen Coup. Eine Belohnung fürs Durchhalten, für das Vertrauen. "Schön." Stellte er leise fest. "Es ist herrlich! Oh, danke schön! Danke für diesen Ausflug!" Shinji wandte ihm den Kopf zu, sprudelte heraus. "Gern geschehen." Antwortete Jirou feierlich, nutzte seine Chance, schlang den Arm enger um Shinjis Schultern, küsste den überrascht Ächzenden hingebungsvoll auf den Mund. +~*~+ Nach ein wenig Schmusen (auf Jirous Initiative hin) und Schmausen begaben sie sich an den Abstieg. Jirou ging voran, Shinji folgte ihm. Als der Pfad breiter wurde, kaperte Jirou ungerührt dessen freie Hand, gab sie nicht mehr frei. Errötend, zu glücklich, noch euphorisch vom Sonnenaufgang wehrte Shinji sich nicht. Außerdem begegnete ihnen niemand, also erregten sie auch keinen Anstoß! Im Gasthof warteten aufgeschlagen schon ihre Futons auf sie. Eine Katzenwäsche später krochen sie genüsslich seufzend unter die Decken, hielten Händchen, schliefen einander zugewandt ein. +~*~+ »Komisch.« Dachte Shinji versonnen, während er an Jirous Seite im Zug saß. Man sollte doch erwarten, dass zwei Leute, die miteinander verreisten, jede Menge Gesprächsstoff hatten, sich lebhaft unterhielten! Nach ihrem Ausflug auf die Bergkuppe jedoch hatten sie kaum gesprochen, nur gemeinsam gegessen, erneut in der heißen Quelle gebadet, Seite an Seite die Nacht verbracht. Gab es nichts mehr zu sagen? Oder war es nicht nötig? Langweilte er Jirou vielleicht schon? Darauf ließ sich im Augenblick keine Antwort finden. Jirous Kopf lehnte auf seiner Schulter. Sein Begleiter schlummerte seelenruhig. Shinji seufzte leise. Das Ganze war vollkommen verrückt. Und Jirou einfach phantastisch. +~*~+ "Das wird dir gefallen!" Verkündete Jirou im Brustton der Überzeugung, strahlte ihn an, bleckte die Beißerchen. Ihm lag die nächste Etappe am Herzen, das konnte man nicht verkennen. Shinji lächelte schief. Er hatte auf der Heimreise kein Auge zumachen können, fühlte sich ein wenig desolat, außerdem ein wenig überrumpelt. Er hatte nicht erwartet, am Sonntagabend NICHT wieder in seiner Wohnung zu sein. Andererseits musste man fairerweise zugeben, dass Jirou ihn ausdrücklich gebeten hatte, einen leichten Pyjama einzupacken. Besagter Mann übrigens wirkte so aufgekratzt wie ein Kind, frisch und erholt, während er allein ihr gemeinsames Gepäck apportierte, Shinji in Verwirrung setzte, weil er genau eine Station VORHER ausstieg, in einen Stadtbus wechselte. Sie verließen nach drei Stationen den Bus, an einer ganz gewöhnlichen Kreuzung. "Mir nach!" Trällerte Jirou frohgemut, marschierte voraus. Shinji in seinem Schlepptau fragte sich, ob es wieder so eine Überraschung wie den ungewöhnlichen Dachgarten zu erwarten gab. Das hatte ihm wirklich gefallen. So langsam~so langsam musste er sich endlich ein Urteil über Jirou bilden. Eigentlich stimmte ihn diese Notwendigkeit nicht gerade heiter, weil er befürchtete, dass sein Verstand einfach nicht den Anforderungen gewachsen war. Er wich sich selbst aus, vermied weiterführende Gedanken, verweigerte sich, Schlüsse zu ziehen, Perspektiven zu beurteilen. Abgesehen davon waren auch noch die anderen Aspekte. Vor allem SIE! Shinji biss sich auf die Lippen, spürte förmlich, wie seine Gedanken PANISCH zerstoben, einfach explodierten. Feige! Feige feige feige feige! Allein die Erinnerung an die wachsende Intensität der Küsse, die sie ausgetauscht hatten... Dunkelrot stolperte er, konnte sich gerade noch abfangen, während sein Kopf hysterisch Details der Umgebung in den Fokus nahm: Blumenkübel da, eine gelangweilte Katze hinter einem Fenster dort, ein Aufkleber auf einem Auto, die nachlassende Helligkeit... Es widerte ihn selbst an, wie erbärmlich bange er war. "Da! Siehst du, gleich sind wir da! Es wird dir gefallen!" Unbeeindruckt von Shinjis wenig schmeichelhafter Introspektive drehte Jirou den Kopf, adressierte ihn über die Schulter. Shinji nickte verschreckt, hasste seine verräterisch roten Wangen. Um sie musste er sich jedoch nicht mehr sorgen, als ihm vor Verblüffung der Mund offen stand. "Casa Harada/Höflbaur." Jirou strahlte, verneigte sich einladend wie ein hocheleganter Conferencier. "Herzlich willkommen!" +~*~+ Es war zweifellos ein Gebäude. Solide aus Stein gemauert, durchaus betagt. In jedem Fall älter als die beiden Stadtautobahnen, die mehrspurig darüber kreuzten, es beschatteten. Aufgrund der massiven Stützsäulen stand das Gebäude auch solitär, von eventuellen Nachbarn getrennt. Allerlei rankende Pflanzen verdeckten jede Ahnung von Verputz oder Mauerwerk hinter dichter Belaubung. In den Fenstern blickten bunte Vorhänge oder Lamellen auf die Straße direkt vor dem schmal umlaufenden Band eines Pseudo-Vorgartens. Im Wind drehten sich Räder und klingelnde, tönende Spiele. Auf einem Flachdach trocknete Wäsche in einem Gewächshaus. "Bitte, komm rein!" Jirou lachte hocherfreut über Shinjis ungläubiges Staunen, schob ihn beharrlich über die Schwelle. "Thomas! Thomas, wir sind wieder da!" Trompetete er in das Innere. Neben zusammengezurrten Plastikkästen, die als Schuhschrank dienten, hingen Schirme an einem mit Haken versehenen alten Lkw-Reifenschlauch. Kunterbunte Kissen boten auf der obersten von zwei steinernen Stufen einen bequemen Sitz, wenn man sich seiner Schuhe entledigen wollte. Eine ausrangierte Stechuhr enthielt farbige Karten. Grinsend "checkte" Jirou ein, indem er ein buntes Kärtchen in "sein" Fach stopfte. Shinji stand ratlos im Eingang, betrachtete das eigenwillige Interieur, versuchte zu begreifen, was genau er hier ansah. Es war meilenweit entfernt von "Schöner Wohnen", so viel stand zumindest fest. "Na komm! Ich zeige dir alles!" Jirou ließ ein paar einfache Schlappen vor Shinji auf den alten Holzboden plumpsen, fasste ihn ungeniert an der Hand. Gegen seine Energie gab es schlichtweg kein Abwehrmittel. Bewegungssensoren registrierten ihren Eintritt in Räume, sorgten für Beleuchtung. Tageslicht konnte unter den Autobahnen recht wenig erreichen. Es gab ein kleines Büro, das sich die Brüder teilten und gleich zwei Badezimmer, eines für Gäste und das der Brüder, alles kunterbunt, eigenwillig ausgestaltet und ausgerüstet. Jirous Schlafzimmer war nicht groß, bot Platz für ein breites Bett und in offener Bauweise gehaltene Regale mit Bekleidung, Elektroartikeln und Unmengen an Zeitschriften und Büchern. Die meisten offenkundig zweiter Hand. "Thomas' Zimmer ist tabu. Also lassen wir das aus. Das Gästezimmer ist da hinten, gleich neben dem Bad. Im Moment ist es ein bisschen karg." Erklärte er Shinji leise. Zumindest, was Möbel betraf. Dafür lagerten hier Kartons und einige Grünpflanzen. "Gehen wir runter in den Anbau!" Shinji wurde unbarmherzig gezogen, konnte gar nicht so schnell alle Details dieser merkwürdigen Behausung aufnehmen. Über zwei Stufen rauf und runter gelangte man auf Straßenniveau in einen durch Regale und Moskitonetze abgetrennten Bereich. Eine gewaltige Küche, eindeutig das Reich des rotbärtigen Riesen, der dort arbeitete, ihnen einen knappen Gruß zubrummte. +~*~+ "Lecker, nicht wahr?" Jirou saß auf der Sitzbank über Eck neben Shinji, stopfte sich den nächsten Windbeutel in den Mund. Shinji nickte, da er selbst mit Genießen beschäftigt war, noch kaute. Thomas stellte auf dem großen Tisch, an den sich auf einer Ebene ein Küchenblock anschloss, ein letztes Blech mit ausdampfendem Gebäck ab. Der Geruch nahm sich paradiesisch aus. Das Reich des wortkargen Riesen beeindruckte. Es gab gleich zwei Backröhren, eine große Mikrowelle, eine Induktionskochfläche und einen riesigen Kühlschrank mit Eisfach. In Schränken, Regalen und Schubladen lagerten Koch- und Backutensilien, in einer Nische stapelten sich Vorräte, in der großen Doppelspüle nun das benutzte Gerät. "Es ist wirklich sehr lecker! Vielen Dank!" Shinji verneigte sich nochmal. Thomas schüchterte ihn allein durch die Körpergröße ein. Thomas brummte freundlich, ließ Wasser in die Spüle laufen. "Hättest du wohl nicht gedacht, dass ein Spezialist für Fleischverarbeitung gerne backt, was?" Jirou provozierte gern, zwinkerte seinem Bruder zu, der ihn mit einem strafenden Blick bedachte. Shinji errötete ratlos, da er sich mit dieser Frage auch nicht auseinandergesetzt hatte. Was der riesige Mann wohl von ihm dachte? "Kann ich Ihnen möglicherweise, vielleicht zur Hand gehen, Herr Thomas?" Krächzte er verlegen. "Danke schön. Ich bin rasch damit fertig. Als Gast sollte sich mein frecher Bruder besser um dich kümmern." Der Bass war sanft, um die Ablehnung zu mildern. Jirou feixte, streckte Thomas die Zunge raus. "Ha! Selbst Schuld, hast dich damit um eine Hilfe gebracht! Komm, Shinji, ab in meine Klause! Der Kapitän kann mit seiner sinkenden Kombüse untergehen!" Thomas schnickte Seifenschaum nach seinem Bruder, der lachend in Deckung ging, Shinji hinter sich her zog, hoch in sein Zimmer. "Du schläfst bei mir, ja? Was meinst du, wollen wir alte Kassetten hören?" Shinji vermutete vage, dass es sich um eine Unternehmung handelte, die Schuljungen veranstalteten, aber er hatte keine Einwände. Seine Neugierde war schlichtweg größer als seine Beklommenheit. +~*~+ Lautlos wickelte Jirou sich unter der Decke hervor, huschte in der Dunkelheit seines Zimmers ohne Kollisionen zur Tür. Marschierte, sich reckend, streckend und gähnend, in das heimliche Zentrum ihres Hauses: die große Küche. Ihn empfing ein köstlicher Wohlgeruch. Und natürlich Thomas. "Bist früh auf." Stellte der große Mann fest, während er Tee ausschenkte, geübt Reis-Omelette in einer eckigen Pfanne rollte. "Hmmm. Hab aber gut geschlafen. He, sind die frisch?" Jirou wühlte durch seine verstrubbelten, ein wenig zu langen Locken. Sein begehrlicher Blick fiel auf dampfende Croissants. "Hände auf den Rücken! Die müssen noch etwas abkühlen. Schau lieber mal nach dem Brot!" Donnerte Thomas sonor. "Aye aye!" Jirou salutierte, inspizierte sowohl den Brotkasten als auch die Tiefkühltruhe. "Sieht trübe aus." Bestätigte er artig, was Thomas vermutlich schon wusste. Der hatte sich vor einiger Zeit einen Brotbackautomaten zugelegt, orderte auf Umwegen das passende Backmaterial. Nur von Reis konnte man nicht leben, befand er unbeirrbar. "Muss mich darum kümmern." Brummte der Riese, servierte Reis-Omelette mit süß-säuerlich eingelegtem Gemüse. Jirou wählte Marmelade für die Croissants aus, ließ sich seinem Bruder gegenüber nieder. Unisono seufzten sie genüsslich auf. Der erste Biss in warme Croissants war unvergleichlich! Nach ruhigem Kauen und Spachteln des Reis-Omelettes erkundigte sich Jirou ungeduldig. "Und, was denkst du?" Thomas schlürfte bedächtig seinen Kaffee. Eine kleine Schale Tee am Morgen genügte ihm nicht, um Leib und Seele zusammenzuhalten. "Ist niedlich." Entschied er schließlich in seinem gewohnten Basston. "Nicht wahr?" Jirou grinste, präsentierte seine Zähne. "Außerdem ein ganz Lieber! Wir haben gestern noch lange die alten Hörspiele laufen lassen, das war so lustig! Er hat bei der Räuberjagd richtig mitgefiebert!" Thomas brummte bloß. Jirous umtriebiger Vater hatte alte Kassetten irgendwo für lau ergattert, ihnen einen ebenso antiken Rekorder zum Abspielen besorgt. Neugierig hatten sie im Dunkeln gemeinsam den Kriminalstücken gelauscht, sich auch gemeinsam gegruselt. Es brauchte nicht viel, ihnen ein vertrautes Vergnügen zu bereiten, so viel stand fest. Allerdings, das besagte das kritische Kräuseln im roten Bart, war es schon ein wenig ungewöhnlich, seinen "boyfriend" dazu einzuladen, Hörspiele aneinander gekuschelt im selben Bett zu konsumieren. Die meisten Leute wären wohl auf 'Alternativen' umgeschwenkt. "Kann ich mir nachher was für ein Picknick mitnehmen? Ich möchte mich noch ein wenig mit Shinji in der Vergangenheit rumtreiben." Erkundigte sich Jirou, erhob sich, noch mümmelnd, um das Geschirr in ein großes Spülbecken zu räumen. "Bedien dich." Erteilte Thomas sein Placet, bevor er die mächtigen Schultern ausstellte, sich neben seinem vergleichsweise schmalen Bruder aufbaute. "Mach aber langsam." Jirou drehte den Kopf, reichte nasses Geschirr zwecks Trocknung weiter. "Meinst du, ich übertreibe es?" "Tschaaa..." Brummte Thomas gedehnt, polierte geübt, bevor er die Utensilien verstaute. "Ich möchte bloß, dass es funktioniert. Ich mag ihn. Er ist so lieb, weißt du? Da will ich's nicht verbocken." Jirou lehnte sich mit der Kehrseite an die Spüle. Thomas, der mit der "Mission" seines Bruders ausführlich vertraut war, studierte die markanten Gesichtszüge gelassen. Er zweifelte nicht daran, dass Jirou für jeden einigermaßen intelligenten und warmherzigen Menschen ein Gewinn war. Bloß gehörte zu einer auf Dauer angelegten Beziehung ein Pendant, der sich dieselben Regeln verordnete. War der scheue Shinji da der richtige Partner? "Wird schon. Guck nur aufs Tempo." Bestärkte er Jirou im Bass. Jirou lachte durchaus erleichtert heraus, schlug Thomas vertraut auf das mächtige Kreuz. "Mann, großer Bruder, du kannst mir wirklich Angst einjagen!" Thomas grummelte Unverständliches. Ihm war noch immer ein Rätsel, warum ein Zauberer wie Jirou so sehr auf das Einfühlungsvermögen einer/s überdimensionierten Langnase/-barts hörte. +~*~+ Shinji erwachte, weil ihn ein leises Klingelgeräusch nachhaltig neugierig stimmte. Irgendwo bimmelte doch da ein Windspiel... und in seinem Appartement gab's so was nicht, also... Sein Unterbewusstsein trat seinem Bewusstsein ordentlich in die Kehrseite, sich endlich aus dem fremden Bett zu erheben, mal in Gang zu kommen. Verwirrt wischte er sich im Halbdunkel Strähnen aus dem Gesicht in den gewohnten Seitenscheitel, blinzelte trübe in ein unvertrautes Zimmer. "Huh?" Brummte er mit trockenem Mund, setzte sich auf, vernahm ein amüsiertes Kichern. Als er den Kopf wandte, bemerkte er Jirou, der sich am entfernten Ende seines Betts eingerichtet hatte, um Shinjis Schlaf zu beobachten. "Oh!" Keuchte der überrascht, nach Erkenntnis der Situation auch noch heftig errötend. "Guten Morgen. Hast du gut geschlafen? Bestimmt bist du hungrig, oder? Soll ich dir nochmal zeigen, wo das Bad ist? Ich mache dir unten was zu essen!" Grinste Jirou, wedelte energisch, damit die Lampen in Reichweite ihr Licht ausstrahlten. Shinji starrte bloß. So viele Anliegen in so kurzer Zeit, die sowohl seine geistige Anwesenheit als auch eine verlangte Entscheidungsfähigkeit voraussetzten, überrumpelten ihn vollkommen. Jirou schmunzelte, kroch ungeniert auf allen Vieren über sein Bett, um die Distanz zwischen ihnen zu reduzieren. "He, Kamerad, bist du überhaupt schon wach?" Seine Stimme war gewohnt sanft, melodisch und für möglicherweise von den Ereignissen Verkaterte leise moduliert. "Äh.. ah..ähmm!" Krächzte Shinji hilflos, blinzelte in die tiefschwarzen Augen, das markante Gesicht, das so dicht vor seinem schwebte. Er registrierte Körperwärme und Gewicht seines Gastgebers in nächster Nähe. Jirou zwinkerte, rückte noch ein wenig näher, küsste ihn auf die Stirn. "Komm." Raunte er, rollte mühelos im Purzelbaum über das Bett auf die Seite, erhob sich elastisch, streckte ihm einladend die Rechte hin. "Ich zeige dir das Badezimmer. Wenn du fertig bist, kommst du einfach runter und sagst mir, was du gerne frühstücken magst." Shinji nickte eilig, robbte eher ungelenk auf die ausgestreckte Hand zu, zockelte, verlegen an seinem Pyjama herumzupfend, hinter Jirou her. Er bemerkte, dass dessen Hinterkopf einige arg vom Schlaf verknuddelte Locken aufwies und kicherte spontan, bevor er sich hastig die freie Hand auf den Mund presste. Jirou warf ihm einen neugierigen Blick über die Schulter zu. "Was ist lustig? Sag's mir, ich will auch mitlachen!" "Ähem..." Shinji räusperte sich vorsichtig. "Ich glaube... vielleicht hast du es noch nicht bemerkt..." Stammelte er unsicher. Eigentlich war es nicht sehr nett, sich hinterrücks über die struppige Bettfrisur eines anderen zu amüsieren. "Ich meine... deine Haare sind hinten... ein wenig... derangiert?" Prompt raufte sich Jirou mit der freien Hand die überlange Lockenmähne. "Oh, verflixt! Sieht es sehr nach Putzwolle aus? Wenn's ganz übel ist, muss ich eine Mütze suchen!" "Ich bin sicher......mit einem Kamm... ich könnte behilflich sein?" Shinji beschwichtigte hastig, um nicht den Eindruck zu erwecken, er habe ohne Not übertrieben. "Wirklich? Oh, klasse! Hey, mein persönlicher Hairstylist! Los, rette mein Haupt vor einnistenden Vögeln, großer Meister!" Jirou strahlte frech. Bei so viel pathetischem Enthusiasmus konnte selbst Shinji nicht anders, als laut herauszuprusten. +~*~+ Es war ein wenig unheimlich. Das konnte Shinji nicht leugnen. Dass sich jemand so um ihn kümmerte. Dass es jemanden interessierte, was er gern zu essen wünschte. Dass seine Meinung gewürdigt wurde. Dass ihm jemand einfach ins Gesicht sah und zufrieden lächelte. Nicht bloß ein höfliches Allerweltslächeln, sondern ein intensives, ruhiges, direktes Strahlen. Jirou machte ihm tatsächlich ein wenig Angst. Jedoch nicht so viel Angst, dass er es abgelehnt hätte, ihn auf die für diesen Tag angesetzte Exkursion zu begleiten. So marschierten sie nach einer etwas umständlichen Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in frühsommerlicher Hitze mit einem Picknickkorb ausgestattet auf der "Route der Erinnerung". Jirou hatte für sich entschieden, dass er Shinji gern mit einem Teil seiner Vergangenheit bekanntmachen wollte. Dem nicht so kriminellen und fragwürdigen. Er zeigte ihm einfach die Ecken, wo sie mal gewohnt hatten, die Schulen, in die er gegangen war (ein paar Wechsel konnten sich nicht vermeiden lassen), seine Lieblingsplätze und -geschäfte. Er erzählte Anekdoten, erleuchtete Shinji bezüglich der offenen Fragen, die dieser sich gestellt hatte. Eigentlich, sah man von der ersten "Karriere" ab, war Jirou ein ganz normaler Bursche. Zugegeben, nicht viele in seinem Alter hatten schon ein eigenes Unternehmen, konnten nonchalant zaubern und Charme versprühen! Dennoch frappierte es wirklich, wie aus eher gewöhnlichen Umständen ein so eigenwilliger "Typ" hervorgegangen war. Zumindest Shinji konnte sich nicht erklären, warum es Jirou zu ihm hinzog. Ein "gutes Herz" hatten ja viele Menschen und dazu noch viele weitere positive Dreingaben, also, warum? Aber er wagte nicht, diese Frage zu stellen. Sie picknickten gemeinsam am Kanal, schwiegen dazu. Jirou schien damit gar nicht so unzufrieden zu sein, obwohl Shinji sich in einer Bringschuld fühlte. Sollte er nicht eine Unterhaltung initiieren? "Na, so schlimm bin ich gar nicht, oder? Jetzt, wo du so ziemlich alles von mir weißt." Überraschte Jirou ihn zwinkernd. "Nein~nein, ich meine, natürlich nicht! Ich habe nicht angenommen... ich finde dich überhaupt nicht schlimm!!" Stotterte Shinji verlegen, mal wieder schamrot ob seiner ungelenken Reaktion. Jirou grinste. "Genau DAS wollte ich hören! Nicht böse sein, ja?" Er streckte die Hand aus, hob Shinjis Kinn sanft an, damit der nicht vor Ärger und Enttäuschung über sich selbst nur auf die Picknickdecke starrte, küsste ihn behutsam auf die Lippen. Wie immer starrte Shinji ihn aus aufgerissenen Augen erschrocken an. "Niemand hat's gesehen." Log Jirou ungeniert, dem eventuelles Publikum völlig gleichgültig war. Shinji blickte noch immer bange. "Böse auf mich?" Den Kopf auf die Seite neigend studierte Jirou seinen Begleiter mit treuherzigem Augenaufschlag. Verlegen unter sich blickend schüttelte Shinji rasch den Kopf. Es wirkte kindlich, veranlasste Jirou, ihm den wirren Seitenscheitel zärtlich zu striegeln. "Ich hab dich so lieb, dass es manchmal einfach raus muss, sonst platze ich noch und saue alles ein." Schnurrte er vertraulich, feixte förmlich, als er zufrieden sah, wie Shinji bis zu den Ohren rot anlief. »Einfach Zucker!« +~*~+ Kapitel 4 - Unheilvolle Erinnerung "Ich weiß nicht recht." Murmelte Shinji beklommen. Natürlich war es selbstverständlich, dass Jirou am Nachmittag seinerseits wissen wollte, wo Shinji zur Schule gegangen war, wo er gewohnt hatte. "Das ist doch gar nicht weit von hier. Da muss deine Schule sein, und da hast du gewohnt!" Stellte Jirou fest, der die komplizierten Linienpläne studierte. "Ja..." Shinji trippelte nervös von einem Bein auf das andere. "Gut, fahren wir los!" Jirous Unternehmungslust nahm auf Shinjis Beklommenheit keine Rücksicht. "Erzähl doch mal, wer waren deine Schulfreunde? Wohin seid ihr mit der Klasse gefahren? Was hast du in den Sommerferien gemacht?" Jirous Fragen kannten kein Ende, sprudelten hervor, begleitet von interessiert funkelnden Augen. "Ich~ich weiß nicht." Murmelte Shinji unbehaglich, drückte sich im Zug in eine Ecke, hoffte, Jirou würde ihn angesichts der anderen Reisenden für die Dauer der Fahrt vom Haken lassen. "Oh, das fällt dir bestimmt ein, wenn wir erst mal vor Ort sind!" Tröstete Jirou fröhlich, ignorierte die neugierigen Blicke, die sich auf ihn hefteten. Aufgrund der ungewöhnlichen Hitze hatte er sich eine leichte Collegejacke um die schlanken Hüften gebunden, trug wie gewohnt ein weißes Unterhemd und Jeans mit aufgekrempelten Aufschlägen über Bikerboots. Sah man von seinem gepflegten Bart und den wilden Locken ab, hätte er als Rockabilly-Fan durchgehen können. Shinji, der ihn für sein Erscheinungsbild und die nonchalante Gleichgültigkeit gegenüber den Blicken fremder Leute bewunderte, fühlte sich nicht wie gewohnt unsichtbar, obwohl er eine bleiche Stoffhose und ein unauffälliges T-Shirt trug. Wie der personifizierte Durchschnitt eines Angestellten im Freizeitgewand aussah. Nein, allein die Tatsache, dass ER Jirous Begleitung darstellte, ließ ihn "existieren". Man nahm ihn wahr. Kritisch, wie er vermutete. Fragte sich zweifelsohne, was so ein Niemand mit jemandem wie Jirou zu schaffen hatte. Hastig wandte er den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. Oder zumindest dies vorzugeben. »Erinnere dich! Denk nach! Schule, Ausflüge, Freunde... erinnere dich!« Ermahnte er sich aufgewühlt. +~*~+ Das Wohnhaus war eines von vielen, sichtbar in die Jahre gekommen. Mehrere Parteien wohnten über- und nebeneinander. Wäsche trudelte müßig in der Hitze auf den Loggien. Irgendwo lärmte in schrillen Tönen ein Computerspiel. "Deine Eltern sind weggezogen?" Jirou studierte den Gebäudekomplex kritisch, als wolle er sich jedes Detail einprägen. "Ja. Nach meinem Abschluss. Schulabschluss." Murmelte Shinji, rieb sich über den Arm. Trotz der Hitze hatte er eine Gänsehau, wünschte sich, Jirou würde sich endlich losreißen können. Hier gab es nichts zu sehen! "Okay, wollen wir zu deiner Schule gehen? Das ist eine mit Stufensystem, oder?" Jirou legte ihm vertraulich den Arm um die Schultern. "Ja, keine Prüfungen für die Oberstufe." Gab Shinji zögerlich zurück. "Was hast du so gemacht? Eine bestimmte Sportart?" Jirou schritt gemächlich aus, während Shinji spürte, wie sich seine Füße dem Weg entgegenstellten. »Lächerlich! Was soll der Quatsch?! Lauf nicht wie aufgezogen!« Ermahnte er sich. "Ich erinnere mich nicht mehr. Ich war immer in der Bibliothek. Ja, in der Bibliothek! Wahrscheinlich, weil ich so schlecht war." Bekannte er auf Jirous fragenden Blick hin, fixierte seine störrischen Schuhspitzen, errötete heftig, versteifte seine Schultern noch stärker. "Es ist mir sehr peinlich. Ich muss ein sehr dummer und langsamer Schüler gewesen sein. Deshalb die Bibliothek." Jirou an seiner Seite warf die Stirn in Denkerfalten. "Hmmm, waren deine Noten schlecht?" Ihm kam es merkwürdig vor, dass Shinji so seltsam formulierte. So, als wisse er nicht mehr, was sich in seiner Schulzeit abgespielt hatte. "Das müssen sie wohl." Antwortete der ihm zögerlich, kleinlaut. "Da sieht man mal wieder, wie unwichtig das im späteren Leben ist! Guck dich an! Du bist großartig geworden! 100 Punkte!" Munterte Jirou ihn entschlossen auf. Shinji gab ihm keine Antwort, sondern starrte ein langgezogenes Gebäude an. Es stand der kombinierten Mittel- und Oberstufenschule vor, hatte eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Daran konnten auch bunte Papierfiguren in den Fenstern nichts ändern. "Ah! Da sind wir ja schon, kurzer Weg!" Stellte Jirou fest, hob den Arm von Shinjis Schulter, spazierte auf den verschlossenen Eingang zu. "Ich möchte mal außen rum, mir alles angucken." Verkündete er aufgeräumt, marschierte los. Shinji trottete unbehaglich hintendrein. Er fühlte sich nicht gut. Eine merkwürdige Übelkeit verschwor sich mit einer zugeschnürten Kehle, die es ihm unmöglich machte, zu schlucken oder die gallige Säure aus seinem Mund zu vertreiben. "Ha, so ein olles Sportgerätehaus hatten wir auch!" Rief Jirou ihm entgegen, wies auf eine Baracke, deren verwittertes Holz sich in der Sommerhitze schon aufgeladen hatte, einen stechenden Geruch absonderte. Shinji blieb abrupt stehen. In den scharfen Verwitterungsgeruch mischte sich das schwere, süßliche Aroma der blühenden Schneeballhecken, die an der Böschung rund um das Schulgelände wuchsen. Er griff sich an den Hals, schnappte nach Luft, doch in seinen Lungen schien trotz aller Anstrengung kein Sauerstoff anzukommen. Ihn schwindelte. Seine Füße blieben verwurzelt, rührten sich nicht! Er wollte sich umkehren, fliehen, weglaufen, fort von diesem Verwesungsgeruch, von dieser Baracke! "Shinji! Shinji!" Hörte er Jirous aufgeregte Rufe. Durch die Eiseskälte, die sich seiner Glieder bemächtigten, spürte er die Wärme der starken Arme nicht, die ihn abstützten, festhielten. Mit einem erstickten Ächzen verdrehte er die Augen im Kopf, sackte in sich zusammen. +~*~+ Jirou gelang es mit Mühe, Shinjis Zusammenbruch abzufangen. Obwohl sein Puls ihm wie Trommelwirbel in den Ohren schlug, unterdrückte er Anflüge von heilloser Panik. Shinjis Kopf auf einem Oberschenkel abgestützt zerrte er sich hastig seine leichte Collegejacke von den Hüften, faltete sie, platzierte anschließend Shinjis Kopf darauf. Er legte dessen Unterschenkel auf den Picknickkorb, zwang sich, am Hals nach einem Puls zu suchen. Natürlich gab es einen. So, wie Shinji keuchte, musste es sich um Hyperventilieren handeln. Deshalb fahndete Jirou eilig nach einer Tüte, fummelte sie aus dem Korb ohne Shinjis Beine abzuwerfen, stülpte sie ihm kurzerhand über Mund und Nase . »Guck bloß drauf, dass er sich nicht erbricht!« Kommandierte er sich selbst aufgewühlt. Zu seiner Erleichterung blinzelte Shinji bereits wieder benommen. "Alles in Ordnung, Shinji! Schön weiteratmen! Das machst du gut!" Er drückte eine klamme Hand versichernd, klang selten albern in seinen Ohren. Es zählte jedoch die unterschwellige Botschaft, nicht die simplen Worte! Shinji keuchte wie ein Blasebalg, rang angestrengt um jeden Atemzug. Er hielt den Blickkontakt aufrecht, drückte Jirous Hand so fest, als könne der sich in Luft auflösen. Nach einigen Augenblicken, die Jirou wie Ewigkeiten vorkamen, schien Shinji so weit wiederhergestellt, dass er die Tüte lupfte. "Wie geht's dir? Hast du irgendwo Schmerzen?" Erkundigte er sich besorgt, streichelte mit der freien Hand über Shinjis feuchte Stirn, durch die verwirrten Strähnen. "...keine... Schmerzen...trocken... Mund..." Antwortete Shinji ihm mühsam. "Oh, warte! Ich helfe dir, dich aufzusetzen, dann bekommst du die hier!" Behutsam entzog Jirou ihm die Hand, drehte sich gelenkig, um dem Korb noch eine Trinkflasche zu entnehmen, offerierte sie so launig wie ein Quizmoderator im Fernsehen. Er stellte die Flasche auf die Seite, kniete sich ohne Rücksicht auf seine Hosen hin, beugte sich tief genug, um beide Arme unter Shinjis zu fädeln, ihn fest zu umschlingen. Mit einem kurzen Countdown bugsierte er ihn in einer fließenden Bewegung in eine sitzende Position. Shinji krächzte knapp, konnte jedoch selbständig sitzen, zeigte keine Anzeichen einer erneuten Bewusstseinstrübung. Jirou reichte ihm sofort artig die Flasche, studierte ihn angespannt, während Shinji das laue Wasser herunterschluckte, als gäbe es kein Morgen. Unterdessen kramte Jirou erneut im Korb nach Nützlichem. Es gab ein bescheidenes Erste Hilfe-Set, was bei tatsächlichen Picknicks zweifelsohne sehr vorausschauend zum Einsatz kommen konnte. Dank seines Bruders befand sich neben Pflastern, Kompressen und Kühlgel auch ein nahezu unverwüstliches Arsenal an Medikamenten. Darunter auch ein Kreislaufmittel in Pulverform. In der Folge bremste Jirou Shinjis ungelenke Versuche, sich selbst mit dem Inhalt der Flasche zu ertränken, mischte das Pulver darunter. Der Geschmack war, wie Shinjis Miene unzweideutig verriet, widerwärtig. "Es wirkt wahrscheinlich nicht gleich. Mach langsam, ja?" Murmelte Jirou angespannt, kämmte Shinji Strähnen aus dem Gesicht. Shinji registrierte unterdessen seine Lage: auf einem geteerten Weg neben seiner alten Schule platt auf dem Hintern. Wie peinlich! Unwillkürlich wandte er den Kopf, hoffte, dass möglichst niemand sonst seine Schmach mitbekommen hatte. Oder seine Anwesenheit als Belästigung empfand. "Es tut mir leid. Ich habe dich viel zu sehr angetrieben! Das wollte ich wirklich nicht!" Raunte Jirou gerade geknickt. "Mir geht's gut! Du trägst daran keine Schuld!" Beteuerte Shinji rasch, wenn auch nicht sonderlich überzeugend. "Wenn ich dich nicht durch meine langweilige Vergangenheit geschleppt hätte, wären wir jetzt nicht hier!" Stellte Jirou energisch richtig. Was de facto zutreffend war, jedoch nur wenig mit der akuten Lage zu tun hatte, wie Shinji unbehaglich merkte. "Ich möchte bitte nach Hause. Bitte." Flüsterte er beschämt. "Klar! Warte, ich helfe dir beim Aufstehen!" Jirou zögerte nicht, ihm zu assistieren, langsam und gemächlich, erst ein Bein aufstellen, aus dem Knie hochdrücken, das zweite Bein ausstrecken, tief atmen und eisern jeden Anflug von Panik verschmähen. Schließlich stand Shinji, allein auf seine Atemzüge konzentriert, neben Jirou, der ihm einen Arm um die Taille legte. "Meine Sachen... mein Schlüssel!" Fiel ihm ein, während er wie eine Lok schnaufte. Zumindest der Schwindel schien sich verabschiedet zu haben, auch wenn seine Magengrube weiterhin besorgniserregend rumorte. "Hast du einen Ersatzschlüssel zu Hause?" Jirou dirigierte ihn federleicht, damit sie einen Fuß vor den anderen setzen, sich von der Schule und ihren Nebengebäuden entfernten. Durch eine sanfte Brise angetrieben fiel eine gemächliche Steigerung des Gangs leichter. Jirou kam es so vor, als beschleunige Shinji mit dem Schritt, der sie weiter vom Schulgelände entfernte. "Ja... Ersatzschlüssel, allerdings..." Shinji strengte sich an, nicht den Faden zu verlieren. Komplizierte Gedankengänge kollidierten offenkundig mit seinem unausgeglichenen Zustand. Peinlich! "Ist gut. Ich bringe dich heim. Sag mir bitte, wenn du eine Pause einlegen magst, ja?" Jirou fasste ihn so vorsichtig unter einem angewinkelten Ellenbogen, als müsse er eine zerbrechliche Kostbarkeit führen. "Ja, natürlich. Und...Entschuldigung. Für alles. Die Umstände, und..." Shinji senkte den Kopf. "Ach was! Ich hab mich bloß ein bisschen erschrocken. Bin ja selbst schuld! Weißt du was? Beim nächsten Mal darfst du mich so richtig, also nach Strich und Faden, ins Schwitzen bringen! Abgemacht?!" Jirou schnitt ihm freundschaftlich das Wort ab. Shinji zögerte, murmelte. "Einverstanden." Auch wenn er nicht die geringste Absicht hatte, diese Offerte anzunehmen. Eigentlich müsste er seinen Zusammenbruch und die möglichen Ursachen kontemplieren. Jirou hatte zweifelsfrei keinen Anteil daran. Der bloße Gedanke, die letzte Viertelstunde noch mal in Gedanken durchzuspielen, trieb ihm klammen Notschweiß auf den gesamten Körper. »Nach Hause! Heim!« Winselte seine innere Stimme kläglich. Jirou beschaffte ihm durch geschicktes Steuern im Gewühl einen Sitzplatz in der Bahn, begleitete ihn umsichtig zu seinem Appartement. Shinji spürte, dass sich sein Blickfeld auf einen "Tunnel" verengte, er nur noch wie ein Automat marschierte. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, doch dann wäre er wohl unweigerlich erneut ohnmächtig auf das Pflaster gesunken. »Zu Hause!« Vertröstete und spornte er sich an. Nur bis zu seinem Appartement durchhalten, da würde alles wieder ins Lot kommen! Vor der Haustür ergab sich natürlich das Problem des fehlenden Schlüssels. Shinjis gesamtes Gepäck befand sich noch in der Casa Harada/Höflbaur. "Haben wir gleich!" Versicherte Jirou ungezwungen. Ein einfaches Bartschloss stellte für ihn keine Herausforderung dar. Fingerfertigkeit wollte stets geübt werden, sonst rostete man schließlich ein! Das passende "Werkzeug" befand sich in einer kleinen Geheimtasche in seinem Portemonnaie, gebogene Nadeln, die mit Geschick und gutem Gespür geführt sofort den Zutritt ermöglichten. Shinji schob sich mit einem leisen "danke schön" an Jirou vorbei, warf einen glasigen Blick auf sein Interieur, ob er gleich auch noch für den Zustand, die Einrichtung, die mangelnde Gastlichkeit, den hygienischen Eindruck etc. eine Entschuldigung anfügen sollte. Jirou ersparte ihm die Sorge, indem er ungezwungen gelenkig aus seinen Schuhen schlüpfte, die Tür schloss, gleich nach dem Ersatzschlüssel fragte. Ordnungsgemäß befand sich der an einer Hakenleiste direkt hinter der Tür. "Am Besten, du legst dich gleich hin. Ich bringe dir etwas Wasser." Ordnete er an. Shinji fühlte sich durchaus bemüßigt, diese Fürsorge zurückzuweisen. Gegen Jirous sanften Anschub und seine eigene, ermattende Schwäche kam er nicht an. So fand er sich, in Unterwäsche entkleidet, in seinem schmalen Bett wieder, zugedeckt bis unter die Nasenspitze, in fötaler Haltung eingerollt. Jirou, der sich scheinbar wie Zuhause fühlte, brachte ihm ein Glas Wasser, setzte sich auf seine Bettkante. "Besser, du trinkst jetzt was, sonst hast du nachher höllische Kopfschmerzen." Schlug er vor, assistierte Shinji sogar. Anschließend deckte er ihn ordentlich zu, hauchte ungerührt einen Kuss auf Shinjis wirren Schopf. "Wenn du wieder auf bist, ruf mich bitte an, ja? Damit ich weiß, dass es dir besser geht." Shinji murmelte eine unverständliche Antwort, überließ sich endlich der Flucht in die bodenlose Schwärze. +~*~+ Thomas lupfte eine rote Augenbraue, brummte kurz, wandte sich ab. Ohne Hast wickelte er sich aus der Schürze, deponierte sie an einem Haken, hängte die durchsichtige Haube darüber, bevor er die gummierten Bänder seiner "Bartmaske" über die Ohren streifte. Üblicherweise ließ er sich beim Wurstmachen nicht stören. Gerade hatte er die letzte Ladung in der kleinen Räucherkammer verstaut. Die großen Wurstkessel standen bereits abgetrocknet wieder im Lager. Am Lieferanteneingang erwartete ihn Jirou, bereits mit einem Wassereis versorgt. Er hatte nie Zeit verschwendet, wenn es darum ging, die Leute, mit denen Thomas Zeit verbrachte, mit seinem Charme für sich einzunehmen. Thomas wusste, dass Jirou unreflektiert dafür Sorge trug, dass man ihn, den ewigen Fremden, gut behandelte. "Na so was." Bemerkte er sonor, als er sich neben seinem Bruder auf ein Absperrgitter hockte. Jirou reichte ihm das zweite Eis, das er in der anderen Hand balanciert hatte. Thomas entging nicht, dass sein Bruder sich umgezogen hatte, vom Picknickkorb keine Spur mehr zu sehen war. Das SAH nicht gut aus. "Ich hab's vielleicht vermasselt." Murmelte Jirou leise, den Blick aufs Trottoir gesenkt. "Klingt für mich nicht hoffnungslos." Brummte Thomas. Eine Panik-Attacke? Bei seinem Bruder eher unwahrscheinlich. In emotionalen Situationen war selbst der Zauberer nicht immer Herr seiner Sinne oder Taten. "Außerdem brauche ich deinen Rat. In moralischen Dingen." Jirou holte tief Luft, legte den Kopf weit in den Nacken. Thomas' Augenbrauen zogen sich zusammen. Er war nicht gern Schiedsrichter, auch wenn irgendwer den undankbaren Job übernehmen musste. "Lass hören." Grummelte er schicksalsergeben. Jirou räusperte sich unbehaglich, bevor er vom Ausflug in die Vergangenheit erzählte. Von Shinjis Zusammenbruch. Und von dem, was er in dessen Appartement gesehen und getan hatte. +~*~+ Shinji erwachte ungewohnt ausgeruht, räkelte sich wohlig. Die Welt überfiel ihn rapide mit ihren Ansprüchen. Ruckartig klappte er hoch, fahndete nach dem kleinen Funkwecker. "16:32 Uhr." Las er ab, registrierte die ungewohnten Gaben in Form einer Thermoskanne und seines Mobiltelefons. "Seltsam..." Mit trockenem Mund unter zwanghafter Vermeidung einer Erinnerung an den Ausflug köpfte er die Thermoskanne, goss sich Tee ein. Er war lauwarm. Shinji runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte doch hier nicht! Sein Mobiltelefon vermerkte neue Nachrichten, weshalb er die erste automatisch aufrief. Sie stammte von Jirou, bat dringend um Kontaktaufnahme. Shinji nippte erneut an seinem lauen Tee. Seine Augen weiteten sich, als sein Verstand endlich begriff, was ihm sein Unterbewusstsein bereits seit geraumer Weile energisch zu vermitteln versuchte: das DATUM!!! Er hatte fast 24 Stunden verschlafen! +~*~+ Ablenkung war gut. Ablenkung half immer. Shinji war SEHR gewandt darin, sich abzulenken. Rechenaufgaben. Geographie. Haikus. Tausend unnütze Dinge, auf die er sich kaprizierte. Um auszuweichen. Um zu fliehen. Um den Schmerz zu lindern. Auch über diese Reaktion wollte er nicht eine Sekunde grübeln. Deshalb eilte er hektisch durch den Supermarkt, füllte von Ratlosigkeit gezeichnet den Tragekorb. Eigentlich wollte er Jirou gar nicht sehen. Aber der hatte sich um ihn gekümmert! Auch, nachdem er.... [Wie viele Eier benötige ich für eine Woche, wenn's jeden Morgen Reis-Omelette geben soll?] Er hatte noch nie Besuch erhalten, der mit ihm einen Film anschauen wollte. Glücklicherweise brachte Jirou alles mit, hatte nicht verärgert reagiert, als Shinji ihn gebeten hatte, die Filmauswahl zu treffen. Dennoch, was würde Jirou wohl von ihm denken... [Emmentaler Käse, woraus wird Käse gemacht?] Man musste, wenn man Gäste empfing, etwas anbieten! Nur was? Getränke, ja... Bier! Und etwas zu essen! Allerdings besser nichts, was Jirou ihm serviert hatte, da es ja selbstgemacht gewesen war, während er etwas Vorgefertigtes kaufte. Das könnte schließlich als Kritik verstanden werden... [Wie viele Kilometer entsprechen einer Meile?] Eine schlabbrige, verwaschene Strickjacke zusammenraffend hetzte Shinji zur Kasse. Es fehlte gerade noch, dass er zu spät kam! +~*~+ Jirou traf kurz nach ihm ein, bewaffnet mit einem größeren Laptop, der als Abspielgerät fungieren sollte. Wie gewohnt hatte er eine gebackene Kleinigkeit mitgebracht, dieses Mal eher deftig gehalten. "Geht's dir gut? Wie fühlst du dich?" Erkundigte er sich, sobald er seine eleganten Slipper an der Tür abgestreift hatte. "Gut! Mir geht es prima. Bitte entschuldige, dass ich dir so viele Sorgen bereitet habe!" Shinji lächelte nervös. Weil er selbst verunsichert war, verbeugte er sich hastig, obwohl ihm verspätet in den Sinn kam, dass diese Geste distanzierend auf Jirou wirken musste. "War bloß der Schreck. Und MIR tut es leid. Ich habe dir nämlich was zu beichten." Jirou winkte ab, studierte ihn eindringlich. Shinji umklammerte unwillkürlich die eigenen Hände, lächelte ziellos ins Leere. Jirou holte tief Luft, blickte Shinji direkt in die Augen. "Als ich dir vorgestern das Wasser gegeben habe, war ein leichtes Schlafmittel reingemischt. Ich dachte, es würde helfen, damit du nicht mit üblen Kopfschmerzen aufwachst und total verspannt bist." Sein agitierter Blick wanderte über Shinjis Gesicht, wollten das Urteil ergründen, das ohne Zweifel über ihn gesprochen werden musste. "Es~es geht mir tatsächlich gut. Danke auch für den Tee. So viel Mühe meinetwegen, da schäme ich mich richtig." Shinji lächelte beseelter. Sich schämen, etwas, dass Shinji, wie Jirou schweigend befand, viel zu häufig und ohne Anlass tat. Als sei seine pure Existenz bereits eine Zumutung an sich. "Ich werde das wiedergutmachen! Was du auch möchtest, ich werde es tun!" Versprach Jirou, straffte seine sehnige Gestalt. "Oh..." Shinji zögerte unbehaglich, wies dann auf den niedrigen Tisch. "Vielleicht... können wir uns setzen? Darf ich dir vielleicht ein Bier ausschenken? Oder lieber Tee?" Gegen seinen Willen prägte sich ein Grinsen in Jirous Züge ein. Shinji war einfach zu lieb! "Ein Bier wäre prima. Und Teller, damit ich die Pasteten drauf stellen kann. Sie sind nämlich frisch und richtig heiß." Eifrig nickend machte Shinji kehrt, um in einem niedrigen Schränkchen über der winzigen Spüle nach dem gewünschten Geschirr zu fahnden. Jirou beobachtete ihn noch einen gedankenvollen Moment, bevor er sich dran gab, den Laptop mit Strom zu versorgen. +~*~+ Es war angenehm. Was Shinji überraschte. Damit hatte er nicht unbedingt gerechnet. Zuerst hatte er auch sehr steif in Jirous Armen gelehnt, der überhaupt keine Bedenken hatte, ihn vor sich zu ziehen, die Beine aufgestellt, ein Kissen hinter sich und sogar die Arme locker um ihn legte! An die athletische Brust sinkend spürte Shinji die solide Härte von Muskeln und Knochen, kombiniert mit der wohligen Wärme und dem Duft der Pasteten, der auch Jirous Oberkleidung entströmte. Die Komödie, die Jirou ablaufen ließ, war durchaus amüsant. Immer wieder verlor Shinji den Faden, weil er sich in den äußeren Umständen ihrer Zweisamkeit verlor. Kuscheln war nett. Jirou drängte sich ihm auch nicht auf, sondern verhielt sich so ungezwungen, dass Shinji für täuschende Augenblicke annahm, es sei ganz normal und folgerichtig, einander so nahe zu sein. Er mochte auch die Vibrationen, die durch Jirous Körper liefen, wenn der auflachte. Das Streichen seines Atems über Hals und durch die Haare, wenn er ihm etwas ins Ohr raunte. [Das ist nett. Das ist nett. Ja, nett. Sehr nett.] Shinji bemerkte gar nicht, dass er eine neue Formel gefunden hatte, um sich aus der Situation zu flüchten. +~*~+ "Da stimmt was nicht." Stellte Jirou seine Behauptung in den Raum. Thomas, der von seiner Arbeit spät zurückgekehrt war, ließ sich ihm gegenüber an ihrem großen Tisch nieder. "Ich habe... ein bisschen..." Jirou seufzte, legte den Kopf in die Hände. "... du weißt schon..." Thomas musste kein Hellseher sein, um zu verstehen, was Jirou bedrückte. Für ihn war es ausgemachte Ehrensache gewesen, sich nicht über Shinji "schlau" zu machen, wie es sich für einen Profi gehörte. "Könnte aber wichtig sein. Ein kleiner Vorsprung vor den Ereignissen." Brummte er sanft. "Schon! Aber es ist nicht... fair." Jirou raufte sich seine überlangen Locken. "Das ist ja auch kein Spiel, sondern Ernst! Oder irre ich mich da?" Konterte Thomas energisch. Zum ersten Mal, seit er Platz genommen hatte, sah Jirou ihn an. "Mir ist es ernst!" Bestätigte er entschieden, kämpferisch. "Na dann!" Thomas klopfte auf die Tischplatte. "Reden wir jetzt über mögliche Chancen und Risiken." +~*~+ Natürlich konnte nicht erwartet werden, dass Jirou zusätzlich zu dem Laptop, den Pasteten und dem Film auch noch seine Tasche mitbrachte. Shinji war sich dessen selbstverständlich bewusst. Trotzdem. Trotzdem fühlte er sich ein wenig beklommen. Möglicherweise, weil... [Um wie viel Uhr fährt die letzte Bahn jeder Linie, zähle sie in der Reihenfolge des Regenbogens auf...] Ein Ausflug. Weil Jirou ihn gebeten hatte, ihr heutiges "Urlaubsziel" auszusuchen, würden sie sich beim großen Aquarium treffen. Wie vermutlich unzählige andere Menschen auch. Shinji hatte das Aquarium noch nie besucht, ohne sagen zu können, warum es sich so verhielt. Wahrscheinlich gab es einen guten Grund... aber darüber wollte er nicht nachdenken. Überhaupt musste es genügen, lediglich zu reagieren! Alles andere ließ ihn erstarren, drückte ihm die Kehle zu. +~*~+ Shinji kam wie immer eine halbe Stunde vor ihrer verabredeten Rendezvous-Zeit beim Aquarium an. Es herrschte Trubel, Kinder- und Schulgruppen, turtelnde Pärchen und Senioren im Rudel, die durch ihre kompakte Gruppendynamik auf ihn einschüchternd wirkten. Er hielt sich an einem Nebeneingang auf, drückte sich in eine Nische, hielt unruhig Ausschau nach Jirou. Möglicherweise, das wurde ihm bei der Betrachtung des Besuchs an den Eintrittskassen deutlich, war es ein etwas merkwürdiges Unterfangen für zwei junge Männer, sich gemeinsam hier einzufinden. »Er hätte mir widersprochen, oder? Richtig? Wenn es ihm nicht gefallen würde, hätte er abgelehnt, nicht wahr?« Sicher war er sich seiner Sache nicht. Drehte man die Lage nämlich um, so hätte er SELBST kein Wort gesagt, sondern sich höflich gefügt. Wie schlimm könnte es schon sein? Außerdem, wer schenkte ihm schon Beachtung? Um ihn herum mischten sich Gespräche zu einer Kakophonie. Die Temperaturen heizten sich auf. Der Asphalt strahlte die Sonne ab, die offenkundig schon für einen tropischen Sommer übte. Umso begieriger waren die Anstehenden, in das kühle, dunkle Reich der Wasserbewohner einzutauchen. "Versteckst du dich vor jemand Bestimmten?" Wie immer hatte sich Jirou mühelos angepirscht, beugte sich amüsiert lächelnd in seine Nische herunter. "Hallo, Shinji! Entschuldige die Verspätung." "Oh... nicht doch! Ich bin zu früh hier! Oh, ja, hallo! Wie geht es dir heute?" Hastig wehrte Shinji mit wedelnden Händen ab. Inwendig krümmte er sich ob seiner ungelenken Antwort. Warum war er NIE innerlich vorbereitet, wenn er Jirou TATSÄCHLICH gegenüberstand?! "Prima, und ich freue mich, den Tag mit dir zu verbringen!" Ohne Zögern überbrückte Jirou die kurze Distanz zwischen ihnen, hauchte dem überrumpelten Shinji einen kecken Kuss auf die Nasenspitze. "Wollen wir? Damit ich dich nicht verliere!" Er streckte Shinji die Hand hin. Zögerlich schob Shinji seine klammen Finger zwischen Jirous Daumen und Handinnenfläche. Zu spät erinnerte er sich daran, sie besser zuvor rasch am Hosenbein zu trocknen. Jirou packte jedoch unerschrocken zu, lächelte ihn aufmunternd an, warf sich mit ihm in das wuselige Getümmel vor dem Eingang. +~*~+ Jirou ignorierte großzügig das Angebot, sich ein fluoreszierendes Armband oder gar, wie die Schulkinder-, Senioren- oder Kindergartengruppen, ein Leibchen aushändigen zu lassen, damit man sich in der "Tiefseedunkelheit" nicht verlor. So dunkel war es beileibe nicht. Um den Überblick zu wahren, sich nicht zu verlieren, schien diese Offerte durchaus geeignet. Ganz anders verhielt sich die Situation jedoch, wenn man die Finger miteinander verschränken konnte. Shinji folgte Jirou, der sich geschickt zwischen den Silhouetten anderer Leute hindurchschlängelte, ihnen geübt einen schönen Aussichtspunkt auf die unterschiedlichen Glasscheiben verschaffte. Man sah in unterschiedliche Becken hinein, in hektische Betriebsamkeit oder meditative Gelassenheit. Es gab halbhohe Szenerien mit Wasserfall und viel tropischem Grün. Mal war das Wasser kristallklar und jedes Sandkorn am Boden erkennbar, mal eine grünlich-trübe, dickflüssig wirkende Erscheinung, in der sich Jäger und Beute gut tarnen konnten. Ohne sich abgesprochen zu haben hielten sie immer wieder inne, unterschieden sich vom Stimmengewirr um sie herum. Keiner stieß den anderen an, machte auf etwas aufmerksam, plapperte vor sich hin. Nein, sie blieben beide still, die Augen auf die durchscheinende Fläche gerichtet, lediglich an den Händen einander verbunden. Wie ein Sog wirkte das karibische Blau mit den gemächlich paddelnden Schildkröten, kleinen Fischschwärmen, die Tänze aufführten, ohne gehetzt zu wirken. Man konnte sich verlieren in ihrem Anblick, stets aufs Neue fasziniert von der Schönheit einer so fremdartigen Lebenswelt. Es nahm folglich nicht Wunder, dass Jirou beim Verlassen verblüfft murmelte. "Ach, du Schreck! Fast Fünf!" Shinji warf ihm einen nervösen Blick zu, entschlüpfte behutsam ihrem vertrauten Griff. Jetzt, beinahe geblendet vom Tageslicht, konnte er wohl kaum vor allen Leuten wie ein Kind an Jirous Hand hängen! "Sag mal, können wir vielleicht noch etwas essen? Ich weiß, dass ich dir danach gleich deine Sachen überreichen sollte, aber mein Magen hängt echt in den Kniekehlen!" Jirou wandte sich zu ihm um, rollte verhalten mit den Schultern, um eine Verspannung zu lockern, deutete mit einem Ausdruck komischer Verzweiflung an sich herunter. "Oh!" Murmelte Shinji verlegen. Sein Gepäck hatte er längst aus dem Gedächtnis gestrichen. So ganz konnte er sich auch noch nicht vom Unterwasserzauber lösen. Jirou zog eine schiefe Grimasse. "Shinji... bitte tu das nicht, ja?" Verschreckt straffte der seine Gestalt. "Verzeihung, was nicht tun? Ich meine, ich verstehe nicht, was ich unterlassen soll?" Verbesserte er sich hastig. Mit einem Seufzer streichelte ihm Jirou ungeniert durch die Haare. "Weißt du, als ich das letzte Mal in einem Aquarium war, bekam ich danach den Laufpass." Shinji blinzelte verstört, flüsterte reflexartig. "Oh, das tut mir leid!" Diese Automatik entlockte Jirou ein amüsiertes Auflachen, während Shinjis Wangen sich vor Scham dunkelrot färbten. "Also, mir nicht! Sonst könnte ich ja nicht mit DIR hier sein!" Um alle unausgesprochenen Sorgen zu vertreiben, ergänzte Jirou. "Damals hat mich das absolut schönste Mädchen der Mittelstufe eingeladen. Sie hat vorgeschlagen, wir könnten uns das Aquarium gemeinsam ansehen. Ich habe natürlich sofort zugesagt! Es war damals ganz anders als heute, aber ich erinnere mich, dass wir auch viel länger drin geblieben sind, als wir gedacht haben. Als wir rauskamen, drehte sie sich plötzlich zu mir um und sagte, 'weißt du, ich möchte doch lieber mit dir befreundet sein!' Komischerweise hab ich das gleich kapiert. Mir ging's ähnlich. Lag wohl am Aquarium!" Er schnaubte betont. "Die nächsten drei Wochen wurde ich von allen aufgezogen, weil ich meine Chance so total vermasselt habe. Andererseits hat es sich doch als Glücksfall erwiesen! Ausgenommen..." Neckend tippte er Shinji auf die Nasenspitze. Sein prüfend-schelmischer Blick wanderte über Shinjis Gesicht. Shinji konnte wirklich nicht für sich reklamieren, Beziehungsdynamiken zu verstehen, unterließ den Versuch auch ohne Bedauern. In diesem Moment verstand er jedoch ohne großes Grübeln, was Jirou ihm bedeuten wollte. Impulsiv streckte er die Hand aus, streifte flüchtig über Jirous Handgelenk. "Das Essen von gestern! Ich habe so viel eingekauft... willst du vielleicht... also, wir könnten... bei mir essen?" Seine hasenfüßige Courage verließ ihn auf halber Strecke. Zweifelsohne hörte er sich wie ein Volltrottel an, mit diesem erbärmlichen Gestottere! Jirous Gesicht erstrahlte förmlich. "He, das ist eine wundervolle Idee!! Hast du nicht was von Melonensorbet gesagt?" Shinji nickte eifrig. "Ich habe auch Yakitori! Und Chips! Und Bier!" Also Lebensmittel, die üblicherweise nicht in seinem mageren Haushalt zu finden waren. "Gebongt! Mir nach! Wir holen deine Sachen. Danach nichts wie heim zu dir!!" Jirou kaperte einfach Shinjis Hand. +~*~+ Viel zu spät kam Shinji der Gedanke, dass sein Einzimmerappartement vielleicht nicht gerade die richtige Kulisse für Jirou darstellen könnte. Es war sehr klein, wenig komfortabel, bot auch keine großartigen Unterhaltungsmöglichkeiten. Für Gäste war er definitiv nicht ausgerüstet. Jirous unbekümmerte Ungezwungenheit verdrängte jeden Anflug peinlicher Selbstzweifel jedoch souverän. Er bewegte sich so geschmeidig in Shinjis Heimstatt, als ginge er hier ständig ein und aus. Er bot seine Hilfe an, stellte Fragen, lobte Shinjis Vorschlag, das Aquarium zu besuchen! Komplimentierte ihn immer wieder, wie angenehm ihm seine Gesellschaft sei, wie sehr er sich amüsiere! Ein Feuerwerk des Wohlwollens, ja, der Zuneigung, das Shinji sprachlos schoss. "Ich bin auch froh, dass es dir wieder besser geht!" Jirou spülte unaufgefordert ganz selbstverständlich in der winzigen Spüle das Geschirr ab. "Mein Gewissen hat mich ganz schön gezwickt, musst du wissen." "Das... wollte ich nicht! Es ist meine Schuld!" Beteuerte Shinji beschämt. "Stimmt nicht." Stellte Jirou unerbittlich klar, sah ihm intensiv in die Augen. "Ich WEISS ja, dass ich mein Temperament zügeln muss. Da schleife ich dich so durch die Gegend! Ich bestehe darauf, dass du es mir ordentlich heimzahlst!" Shinji starrte, das Geschirrtuch in den Händen, ratlos in die tiefschwarzen Augen. Heimzahlen?! "Los! Sei richtig fies zu mir! Ich habe es verdient!" Jirou zwinkerte, sein Bart kräuselte sich so keck wie seine Mundwinkel. "Das~das will ich nicht!" Der Ausruf war heraus, bevor sich Shinji seiner Manieren besinnen konnte. "Verzeihung, ich möchte das bitte nicht!" Jirou hob die Hände aus der Spüle, wischte sie an seinen Hosenbeinen ab, ohne Shinji aus seinem zwingenden Blick zu entlassen. Ernst und unverwandt studierte er ihn aus kurzer Distanz. "Shin, bitte sei nicht so höflich zu mir. Das ist so, als wolltest du mich am langen Arm verhungern lassen." Raunte er guttural. Bestürzt ob der ernsten Miene seines Gegenüber und des seriösen, beinahe traurigen Tonfalls schnappte Shinji nach Luft. Eine spontane Entschuldigung erstickte an seiner trockenen Kehle. Er würgte sie hastig herunter, senkte eilig den Kopf, spürte Jirous Blick wie Nadelstiche auf der Haut. "...das ist.." Er räusperte sich, seine Zehen betrachtend. "... ich bin... ich bin es nicht gewöhnt... dass jemand..." Seine Stimme reduzierte sich auf ein Raunen. "...jemand mir so... nahe ist." Schweigen dehnte sich zwischen ihnen nach dieser Erklärung aus. Shinji presste die Lippen aufeinander, wagte nicht, den Blick vom Boden zu heben, möglicherweise Ablehnung in Jirous Miene zu lesen. "Glaubst du, du könntest dich daran gewöhnen? Dass ich dir nahe komme?" Jirous Atem streichelte über seine Haare wie eine zärtliche Brise. Shinji schluckte. Sein Herz raste. Ihm war ein wenig flau. Vor Aufregung. "Hm?" Jirous Fingerspitzen huschten flüchtig über Shinjis Wange. Bange, mit hämmerndem Plusschlag, zwang der sich, den Kopf anzuheben, in den Nacken zu legen, tollkühn das markante Gesicht zu betrachten, das ihn so hoffnungsvoll-ernsthaft ansah. "Ich möchte es." Wisperte Shinji bebend. "Ich möchte mit dir zusammen sein!" +~*~+ Es war wahrscheinlich dieser bestürzende Ausdruck von Dankbarkeit in Jirous Augen, der ihm sein mangelhaft ausgeprägtes Rückgrat stärkte. Vielleicht der Impuls von Scham, der ihn durchlief, als ihm bewusst wurde, wie selbstsüchtig er sich gegenüber Jirou verhielt. Sich immer wieder hinter seinem Kleinmut versteckte, auswich, sich verkroch wie eine Schildkröte in ihrem Panzer! Welche Gefahr drohte ihm schon?! Was könnte schlimmer sein, als Jirou derart zu entmutigen mit seinem ausweichendem Verhalten, dass der ihn aufgab?! Trotz all seiner Bemühungen, des Zaubers, den er versprühte, um es ihm leichter zu machen?! Shinji ließ sich in die wohlige Wärme einer Umarmung sinken. Er spürte Jirous beschleunigten Herzschlag, die knappen Atemzüge, genoss die unerwartete Seidigkeit der Locken, die ihn streiften, das aufreizende Kribbeln des gepflegten Bartes auf seiner Haut. An seinen Lippen. Jirou raunte immer wieder seinen Namen, streichelte ihm über den Rücken, den Schopf, Oberarme und -schenkel. Sanft, beharrlich, liebevoll. Kein Anlass, sich zu fürchten. War Shinji aus eigenem Impuls auf seinen Schoß geklettert, drückte ihn durch sein Gewicht gegen die kahle Wand hinter seinem Bett? Er vermochte es nicht zu sagen. Jedenfalls war es bequemer. Die Arme um Jirous Nacken zu schlingen und ihn zu küssen. Mit der Zungenspitze die waghalsigsten Manöver zu unternehmen, sich ganz fallen zu lassen in dieses neue Vergnügen. Jirou so nahe zu sein, dass jeder Atemzug, jede unwillkürliche Regung wie die Fortsetzung des eigenen Körpers erschien. +~*~+ Jirou öffnete behutsam, so geschickt, wie es einem professionellen Langfinger a. D. anstand, ihre Hosen. Erstens litt der Stoff, wenn sie so breitbeinig aufeinander rutschten und kuschelten. Zweitens musste gewissen gesteigerten Sensationen Rechnung getragen werden. Wie weit durfte er gehen? Shinji war, das konnte er kaum übersehen, vollkommen unerfahren, zeigte ein beinahe kindliches Vergnügen daran, mit seinen Locken zu spielen und Zungenküsse zu verabreichen. Spürte er dasselbe Verlangen? Die gleiche pochende Lust, die jeden konzertierten Gedankengang zerstäubte? Jirou massierte die aparte Kehrseite in seinem Griff, markierte mit dem Druck seiner Fingerspitzen die gespreizten Oberschenkel. Shinji war so aufreizend warm und zärtlich! Irgendwann jedoch, da musste wohl auch ein Neuling seinen Hormonen folgen. Hoffte Jirou aufrichtig. Ihm war nach mehr als Küssen und Schmusen. +~*~+ Zuerst war er ein wenig erschrocken. Nicht verwunderlich, bis dato hatte ihn niemand da unten angefasst. Aufgeschreckt umklammerte Shinji Jirous Nacken, entließ einen kehligen Laut, der ihm selbst die Schamröte in die Wangen trieb, vergrub das Gesicht in Jirous Halsbeuge. Der summte beruhigende Laute aus den sonoren Tiefen seines Bauchs, streichelte ihm mit großen Schwüngen über die ängstlich verspannten Schulterblätter. Es war nicht so schlimm. Nein, wirklich, nach dem ersten Schreck... Jirou küsste ihn verlangender, leidenschaftlicher, stöhnte begehrlich, wenn sie sich kurz voneinander lösten. Seine "Handreichungen" wurden nachdrücklicher, energischer. Längst hatte er Shinji so nahe wie möglich an sich heran dirigiert, subtil, unaufdringlich, doch zielgerichtet. Die Hitze staute sich zwischen ihren Körpern, vermischte sich mit heißer Atemluft. Nähe MUSSTE sein! Jirou wollte aufkommende Scham ersticken, Shinjis einzige Zuflucht sein, damit der ihm nicht erneut entwischte, sich aus Unsicherheit zurückzog. Wenn schon festhalten, dann an ihm! Angespannt und mühsam konzentriert, das eigene Verlangen kontrolliert überwachte er den kleinsten Hinweis auf Unschlüssigkeit, bekämpfte ihn sofort mit leidenschaftlichen Küssen, leckte und nagte über eine bis dato unversehrte Landschaft, die ihn magisch anzog. Gerade als er in seinem lustfiebrigen Hirn erwog, die lästige Oberbekleidung abzustreifen, drückte Shinji sich ächzend mit beiden Handflächen auf seiner Brust von ihm weg. Er rang förmlich pfeifend nach Luft, die Augen weit aufgerissen, als drohe ihm unmittelbar der Erstickungstod! "Shinji? Shinji, was ist los?!" Alarmiert stellte Jirou weitere Verführungsofferten ein, versuchte, dem Freund beizustehen. Shinji keuchte immer panischer, bekam einfach nicht genug Luft! Seine Fingernägel durchbohrten den Stoff von Jirous Hemd, zerrten am Gewebe. Er hörte Jirous besorgte Rufe nicht. In seinen Ohren rauschte es. Nur ein einziger Gedanke füllte seinen Verstand vollkommen aus: keine Luft mehr!! Jirou, der hastig seine halb herunter geschobenen Hosen richtete, jede Erregung war angesichts der Notlage in sich zusammengefallen, gelang es mit einiger Anstrengung, den elend auf den Lungen pfeifenden zur Seite zu schieben, endlich auf den Rücken zu rollen. Eilig legte er Kissen unter die Kniekehlen, fahndete mit rasendem Puls nach einer Plastiktüte oder ähnlichem. Er wollte Shinji nicht allein lassen. Bis zur spartanischen "Küchenzeile" im Schatten des Eingangs musste er stolpern, um dort fündig zu werden. "Alles wird gut, Shinji! Gleich geht's dir besser!" Beschwor er die Umstände, hätte aber nicht sagen können, ob er sich nicht etwa selbst mit diesen Worten beruhigen wollte. Er stülpte eine Tüte über Shinjis Nase und Mund, registrierte die stocksteife Haltung, die verkrampften Finger. Was war das bloß?! Ein allergischer Schock? Ein Asthmaanfall?! Ratlos kauerte er halb entblößt neben Shinjis Bett, umklammerte dessen eiskalte Linke, lauschte verzweifelt auf jeden einzelnen Atemzug. +~*~+ Shinji fühlte sich bleischwer, als habe man seinen Körper mit Beton ausgegossen. Kaum konnte er die Lider noch auf Halbmast halten. Ihm war auf eine betäubende Weise warm. Jirou, der sich neben ihn auf die Bettkante geschmuggelt hatte, studierte ihn konzentriert. Aus einem Impuls heraus wollte Shinji ihn beruhigen. Seine gelähmte Zunge versagte ihm die Unterstützung, produzierte nur ein unverständliches Lallen. "Du bist erschöpft. Ruh dich aus, ja? Wenn es dir besser geht...." Jirou streichelte über den verwirrten Schopf, ein schiefes Lächeln auf den geschürzten Lippen. Er unterbrach seine zögerlichen Worte, drehte sich herum, um nach dem Mobiltelefon zu fahnden, es schließlich in Shinjis Reichweite zu deponieren. "Also, wenn es dir wieder besser geht, sag mir Bescheid, bitte? Okay?" Shinji nickte ungelenk, blinzelte mühsam gegen die schweren Lider an. Jirou zupfte die Decke über Shinjis Körper bis unter das Kinn, erhob sich weniger geschmeidig als gewohnt. "Das wird wieder." Murmelte er mutlos, küsste Shinji auf den Schopf. Dessen Augen hatten sich längst geschlossen und ihn selbst der Realität entrückt. +~*~+ Thomas schnupperte überrascht, als er ihr Haus betrat. Es roch nach Gebackenem. "Hmmm!" Brummte er besorgt, 'checkte' ein, als er die Schuhe wechselte, begab sich nicht wie gewohnt zum Badezimmer, um sich zu erfrischen, sondern direkt in sein 'Reich'. Jirou beugte sich gerade über eine Stiege kleiner Kuchen aus einer hübschen Form. Sie waren samt und sonders in Bruchstücke zerfallen. Er seufzte müde, grummelte. "Ich hab's vermurkst." "Du bist zu voreilig." Antwortete Thomas entschieden, entledigte sich seiner Tasche, krempelte die Ärmel auf, angelte seine Schürze heran, wusch sich gründlich die Hände bis zum Ellenbogen hoch. "Trümmer...Und irgendwie...salzig." Konstatierte Jirou. "Damit lässt sich was anfangen. Ich brauche die Auflaufform da. Und Butter." Thomas schob Jirou sanft, nachdrücklich zur Seite. "Willst du nicht erst nach oben?" Jirou sah ihm endlich ins Gesicht, von kummervollen Linien gezeichnet. "Das kann warten. Am Besten bringst du mir auch gleich die Sahne mit." Beschied sein Bruder unerbittlich. Ohne Federlesen suchte er sich zusammen, was er benötigte, schlug Eier auf, verquirlte, schmeckte ab, vermischte, verarbeitete Jirous Backversuche in der Auflaufform. "Das klappt." Stellte er zufrieden fest, bevor er dafür sorgte, dass die Auflaufform 'in die Grube einfuhr', wie er den Backofen nannte. Als er sich aufrichtete, lehnte Jirou an seinem breiten Rücken. Wie ein Kind, das Trost suchte. "Gar nicht so einfach." Traf Thomas den Nagel auf den Kopf, drehte sich leicht herum, um Jirou in eine bärenstarke, Schutz bietende Umarmung einzuschließen. +~*~+ Shinji erwachte mit dem dringenden Bedürfnis, sich aus einem erstickend heißen Kokon zu befreien. Tatsächlich war es seine Bettdecke, die ihm als unerträgliche Last erschien. Als er sie, noch halb im Schlaf, heftig abschüttelte, stieg ihm neben der aufgestauten Körperwärme auch ein Geruch in die Nase. Sofort weiteten sich seine Augen, er keuchte, rang panisch nach Luft, während seine Glieder sich versteiften. Es dauerte schiere Ewigkeiten, bis er sich wieder in der Gewalt hatte, die kreischende Hysterie in seinem Kopf verstummt war, die ihm einen akuten Erstickungstod prophezeite. Damit setzten auch die Erinnerungen ein. Er kauerte sich zusammen, wollte die Beine vor den Leib ziehen. Und hielt inne. Plötzlich begriff Shinji. +~*~+ Er war immer geflohen. Hatte in Abzählreimen, Haikus, Balladen, allem, was Konzentration erforderte, Erinnerungsvermögen, eine Zuflucht gefunden. Ein temporäres Versteck. Umso schwieriger war es, nicht in diesen ihm in Fleisch und Blut, vor allem aber in die Seele selbst übergegangenen Reflex zu verfallen. Zu bleiben. Sich zu stellen. Standzuhalten. Shinji verbrachte den Sonntag nach der Goldenen Woche mit Unterbrechungen auf der Toilette, weil immer wieder sein Leib in archaischer Ausprägung Ballast abwarf. +~*~+ Shinjis Rückmeldung war bescheiden gewesen: eine Textnachricht, es gehe ihm bereits besser, er werde sich melden. »Aber wann?!« Jirou raufte sich seine überlangen Locken. Er sollte abwarten, sich ruhig verhalten, das WUSSTE er. Bloß schien es ihm ein Ding der Unmöglichkeit. So sehr er sich damit ablenkte, Aufträge zu erledigen, Kunden zu gewinnen und die erlittene Schmach mit den zerbröselten Küchlein zu vergessen: es gelang nicht. Da stimmte es ihn auch nicht sonderlich heiter, dass er für eine Woche nach Sapporo fahren musste, um einen lukrativen Auftrag abzuwickeln. +~*~+ Es war ein durchaus seltsames Ritual, das Shinji für sich entwickelte. Wenn er abends nach Hause kam, bereitete er sich die gewohnte Tasse Tee zu, lehnte sich gegen ein großes Kissen, das er extra gekauft hatte, schloss die Augen. Ohne Jirous Aufmerksamkeiten, ohne die Scheuklappen, die er sich selbst aufgesetzt hatte, blickte er zurück. Vielleicht würde er scheitern. Vielleicht bliebe er auf immer allein. Vielleicht machte es für die Welt nicht den geringsten Unterschied. Aber... es konnte auch funktionieren. +~*~+ Shinji trat, wie so viele Menschen um ihn herum, an eine freie Stelle, wo die Betonwüste nicht den Himmel verdeckte. Er hielt einen präparierten Streifen, in Pappe eingefasst, vor seine Augen. Um ihn herum eine Kakophonie. Nahezu jede Person sah nicht nur zum Himmel, um das seltene Schauspiel zu verfolgen, sondern kommentierte simultan am Mobiltelefon die fortschreitende Beobachtung. Einem Impuls folgend fahndete Shinji nach seinem altertümlichen Kommunikationsapparat, wählte Jirous Nummer an. Zu spät erinnerte er sich daran, dass er diesen seit drei Wochen lediglich mit Kurznachrichten kontaktierte, ihn seit der Goldenen Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Bevor er hastig den Anruf abbrechen konnte, meldete sich Jirou bereits. "Shinji? Wo steckst du gerade?" "Am Bahnhof, das heißt, davor." Stotterte Shinji überrumpelt, obwohl die Initiative von ihm ausgegangen war. "Guckst du auch zum Himmel?" Jirous Stimme klang rau, als sei er heiser. Übernächtigt. Verkatert? "...ja..." "Es ist schön, nicht wahr?" Jirou drang nur leise an sein Ohr. Es klang für Shinji, als würde er ihm sanft zuraunen, stünde direkt an seiner Seite. Eine ungewohnte Wärmewelle durchmaß seinen Körper, provozierte ein unwillkürliches Seufzen. "Wir werden lange warten müssen, über 130 Jahre, bis wir diese Sonnenfinsternis noch mal sehen." Schmunzelte Jirou in Fernübertragung. "Hmmmhmmm." Murmelte Shinji eloquent. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, mit Jirou ganz allein zu sein, auf einer freien Fläche, abgetrennt von allem Störenden, Lärmenden, Beängstigenden. Es war wie im Aquarium: in wohliger Wärme freischwebend geborgen sein. Er hatte noch Jirous Atemzüge im Ohr, als er das Telefonat beendete. +~*~+ "Humbug!" Schnaubte Thomas unerbittlich und eisern in der Sprache seines Vaters. Ihm gefiel nicht, wie sich sein Bruder aufrieb. Das passte nicht zum Zauberer, so verloren, zaudernd und mutlos zu sein! "Was soll ich tun?" Jirou hatte den Kopf in die Hände gestützt, kauerte zusammengesunken an ihrem großen Tisch. "Mitkommen!" Knurrte Thomas, nahm in gewohnt sanfter Selbstsicherheit eine vergleichsweise feingliedrige Hand in seine große, zog seinen Bruder nach oben. Unterwegs konfiszierte er eine Tageszeitung, ließ sich auch durch das geplagte Aufseufzen in seinem Schlepptau nicht irritieren. "Runter damit!" Kommandierte er, dirigierte Jirou, der schicksalsergeben sein Hemd abstreifte, auf einen Klapphocker, unter den er die Zeitung ausgebreitet hatte, griff nach Kamm und Schere. "Also, Thomas..." Jirous zögerlicher Einwandversuch zerstob unter der drohenden Entschlossenheit des großen Mannes. Geübt, ohne großes Zaudern kürzte er überlange Locken ein, kämmte aus, apportierte anschließend den elektrischen Rasierapparat, um die aparte Schönheit des markanten Gesichts ins rechte Licht zu setzen. "Sag jetzt bloß nicht, ich soll ausgehen und mein Herz neu orientieren!" Jammerte Jirou, beäugte durchaus verblüfft die Masse an "Putzwolle" zu seinen Füßen. "Hab ich auch nicht vor." Grummelte Thomas, schnappte sich einen feuchten Lappen, mit dem er Jirou ablederte, um letztes "Schnittgut" abzustreifen. "Hast mir doch selbst gesagt, dass es delikat werden könnte. Also!" Dieses "Also!" ersetzte eine ganze Gardinenpredigt/Feldwebelansprache. +~*~+ Shinji hatte sich Zeit genommen. Zum ersten Mal. Er benötigte sie auch. Sich zu mannen, den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, das forderte ihn nicht nur emotional heraus, sondern auch körperlich. Unter der Woche riskierte er kaum, "tiefer" einzudringen, sondern konzentrierte sich auf bereits "erkannte" Aspekte. Wie ein Archäologe, der die Fundstücke erst reinigte, analysierte und bestimmte, bevor er sich erneut der Grube zuwandte, nach Sieb und Pinsel griff. Erinnerungen konnten täuschen, das wusste Shinji. Sie veränderten sich im Lauf der Zeit. Deshalb musste er gründlich sein, sie verifizieren. Immerhin war er selbst ein überragender Selbsttäuscher. +~*~+ Kapitel 5 - Anstrengungen "Und?" Thomas schnaubte, wedelte energisch mit dem Papierfächer vor seinem geröteten Gesicht. Sommer bedeutete in den Metropolregionen immer subtropische Verhältnisse. Er wünschte sich doch gelegentlich zurück zum Großvater und in den Landkreis seiner Lehrzeit. "Er möchte mich treffen!" Jirou schwenkte triumphierend sein schickes Mobiltelefon, das in Punkto Funktionalität einen Computer ersetzte, strahlte dabei höchst beglückt. "Wird auch Zeit!" Grummelte Thomas ungnädig. Ein wenig suspekt war es ihm schon, wie diese "Liebesgeschichte" den üblicherweise souverän-coolen Auftritt seines Bruders verunstaltete! Jirou grinste, wusste Thomas und seine ungewohnt unwirsche Laune zu nehmen. "Alles wird gut!" Trällerte er, drückte ihm einen dicken Schmatz auf die blanke Stirn. +~*~+ "Man muss rausgehen und die Liebe finden!" Das war Jirous Rezept. Einen Menschen nicht nur suchen, sondern aufstöbern, dessen bester Freund man sein wollte. Und dann noch ein bisschen mehr, für die anderen, schönen Aspekte des Lebens. So funktionierte das! Eben selbst gemacht! Shinji war von diesem pragmatischen Vorgehen überrumpelt worden. Wenn er an Liebe dachte, war das für eine sehr lange Zeit nicht mehr als ein abstrakter Begriff gewesen. Etwas, das anderen passierte. Jetzt hatte er sich gestellt. Allen Fragen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten, vor denen er so weit geflohen war, dass er sie "vergessen" hatte. Aus seinem Gedächtnis "gelöscht". Etwas wahrhaft auszuradieren, zu vernichten, das ließ sich gar nicht so einfach bewerkstelligen. Was gut war. So konnte man sich auch nicht aller Hoffnungen berauben. +~*~+ Jirou wartete, mit unruhigem Blick um sich herum, auf Shinji vor dem vereinbarten Treffpunkt, der zugegeben etwas ungewöhnlich war: ein etwas heruntergekommenes Familienrestaurant einer Schnellimbiss-Kette. Romantik sah definitiv anders aus. Während er interessierte Blicke von jungen Nachtschwärmern ignorierte, die sich hier kurz zum "Vorglühen" trafen, bevor sie die angesagten Lokale, Bars und Clubs aufsuchten, wischte er immer wieder durch die akkurat getrimmten Locken, zupfte an seinem ärmellosen Hemd herum, das die attraktiv modellierten Oberarmmuskeln in Szene setzte. Shinji trabte in seinen Blick, die Füße ziehend ob der hässlichen Arbeitsgaloschen, die Anzugjacke über dem Arm, die abgewetzte Aktentasche in der anderen Hand schwingend. Er wirkte so unbedeutend wie alle Drohnen, die man am Abend in den Zügen und auf den Bahnsteigen traf. Aber er hatte sich verändert, wie Jirou sofort bemerkte. Seine Haltung war aufrechter, der Blick fest und tapfer auf ihn gerichtet. Mochte er auch nach einem überlangen Arbeitstag derangiert und verschwitzt sein, so konnte ihn nichts und niemand von seiner Mission abhalten. "Entschuldige bitte meine Verspätung!" Keuchte er, als er vor Jirou inne hielt und nach Luft schnappte. "Ich bin ein bisschen zu früh da. Konnte es nicht erwarten, dich zu sehen." Bekannte Jirou lächelnd, zögerte einen Augenblick, bevor er mit der Rechten Shinjis Seitenscheitel sortierte. Er grinste verschmitzt, als Shinji trotz der Anstrengung noch eine Nuance tiefer errötete. "Gehen~gehen wir rein, ja?" Shinji wich ein wenig vor ihm zurück, marschierte ein bisschen steifbeinig zum Eingang, wo sich die automatischen Türen artig teilten, sie erschauern ließen, da gleichzeitig auch ein eisiger Hauch entwich, der die Betriebsamkeit der Klimaanlage bewies. Inmitten von Müttern und Großmüttern mit Kindern, lärmenden Jugendlichen und verirrten Senioren suchten sie sich einen Nischenplatz. Die Geräuschkulisse nahm sich gewaltiger aus als die tatsächliche Kundenzahl. "Ich werde uns etwas holen! Für dich Tee und Melonensorbet auf Eis?" Verkündete Shinji hastig, stopfte Anzugjacke und Aktentasche ungewohnt nachlässig auf die Sitzbank. "Ja... danke schön." Ein wenig überrumpelt blieb Jirou zurück, folgte Shinjis Abmarsch ratlos. Schon die Wahl ihres Treffpunkts hatte ihn stutzen lassen, da Shinji ihm unmissverständlich geschrieben habe, er wolle mit ihm sprechen. Gut, das konnte man hier durchaus, aber eine gepflegte Unterhaltung verlangte eigentlich nach einem anderen Rahmen. Jetzt übernahm Shinji auch noch seinen Part, den des aufmerksamen Versorgers? Es versprach zweifelsohne ein interessanter Abend zu werden... +~*~+ Shinji hatte sich nicht nur selbst Tee besorgt, sondern auch Kalpis, das er mit wenigen, großen Schlucken leerte. Verflixte Überstunden, die ihn ganz aus dem Konzept gebracht hatten! Jirou ihm gegenüber löffelte an seinem Sorbet, studierte ihn unter halb gesenkten Lidern aufmerksam. »Nun denn!« Shinji setzte sich aufrecht, knöpfte sein Hemd bis zum Schlüsselbein auf, krempelte die Ärmel hoch. Er wollte sich nicht auch noch eingesperrt fühlen, wenn er in den Kampf zog! "Ich bitte um Verzeihung! Dass ich so lange benötigt habe. Ich weiß, dass ich dir gleich eine Erklärung geschuldet habe!" Verneigte er sich tief. "Nicht doch! Es ging dir ja nicht gut, und die Gesundheit hat Vorrang..." Winkte Jirou hastig ab, eindeutig nervös ob dieser Ouvertüre. "Ich möchte es erklären." Shinji sah ihn direkt und entschlossen an, hielt sich gerade. "Ja, ich will es unbedingt! Darum bitte ich dich, dass du mir zuhörst, auch wenn es eine Weile dauern wird, alles zu erzählen." "Klar höre ich dir zu! Solange die Versorgung mit Tee und Melone zugesichert ist?" Versicherte Jirou im Brustton der Überzeugung. Shinji lächelte nur kurz als Reaktion auf diesen Scherz, konzentrierte sich wieder auf seine Herkules-Aufgabe. "Ich wusste es selbst nicht mehr. Gar nichts mehr. Aber dann habe ich mich erinnert..." +~*~+ Es war nicht so, dass sie ihn nicht mochten. Oder ihn gezielt ausgrenzten. Nein, ganz und gar nicht. Bloß: Shinji Mishima war eben uninteressant. Hatte keine Bedeutung, spielte keine Rolle. Außerdem war er erst seit zwei Jahren in ihrer Jahrgangsstufe, während sie sich schon viel länger kannten, eine verschworene Gemeinschaft gebildet hatten. Jeder mit einem Spitznamen, der seine besondere Fähigkeit betonte. Einer wie Mishima, der weder sportlich noch besonders mutig oder wohlhabend war, konnte sich da nicht integrieren. So einfach war das. Er war eben irgendwie dabei, gehörte aber nicht dazu. Wie einige andere auch. So war das eben. Dieser Sommer war besonders schwül und unerträglich zähe. Wenn man sich bewegte, war es so, als wate man durch flüssigen Tofu, nur dass der nicht so heiß war. So musste sich wahrscheinlich ein Hummer fühlen, wenn man ihn in den Topf warf! Irgendjemand hatte damit angefangen, die Magazine zu verstecken. Keiner wusste, wer genau es war, aber das aktuelle Versteck wurde über die gute, alte Flüsterpropaganda weitergegeben. Die Mädchen blieben natürlich außen vor. Auf keinen Fall durfte ein Lehrer davon erfahren! In diesem heißen Sommer, da waren sie nicht mehr dumme "Jungs", die an ihre Lehrer oder Eltern glaubten. Nein, mit 13 Jahren veränderte sich alles, angefangen mit dem eigenen Körper. Die ganze Weltsicht wurde eine andere! Einfach nur gehorchen, stupide lernen, brav sein?! Von wegen! JETZT durchschauten sie die Lügen, die falschen Versprechungen und die Heimlichtuereien der Erwachsenen! Möglicherweise hatten auch die Hormone ihre "Hand" im Spiel. Jedenfalls ging es darum, gegen die Erwachsenen zu opponieren. Ihnen ein Schnippchen zu schlagen. Dazu gehörten auch die Magazine und Manga. Heimlich gerauchte Zigaretten. Die geschmuggelte Dose Bier. Das Erzählen von zotigen Witzen. Obszöne Gesten. Und dann kamen die Sommerferien. Trotzdem musste man in die Schule gehen. Die wenigsten konnten tatsächlich ans Meer oder in die Berge fahren. Hier hatte man keine wirkliche Freiheit, sondern musste stupide Aufgaben erledigen, dämliche Bücher lesen, überflüssige Aufsätze schreiben, Unkraut jäten oder andere todlangweilige Dinge tun! Die Hitze tat auch nicht gut. Dauernd war man irgendwie... gereizt. Aufgeladen. Frustriert. Also heckte man Streiche aus. Musste sich ja schließlich irgendwie beschäftigten, bloß nicht mit dem, was die Erwachsenen wollten! Dass es Mishima getroffen hatte... nun ja, das war eben einfach Pech. Es hätte auch ein anderer sein können. Wenn die Lehrer später nicht so einen Aufriss gemacht hätten, wäre vielleicht die Sache geklärt worden. Aber da war die Situation schon zu verfahren. Die Eskalation ließ praktisch keine andere Wahl. +~*~+ "Ich habe mich erinnert." Shinji legte beide Hände um den Pappbecher, der seinen Tee enthielt. Obwohl er Jirou direkt gegenüber saß, ging sein Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen in die Vergangenheit. "Es war damals ein brütend heißer Sommer. Ich glaube, ich war 13 Jahre alt. Eigentlich sollte ich ein paar Tage bei meinen Großeltern verbringen, doch mein Vater sagte das ab. Er wollte, dass ich einen Sommerkurs besuche, um endlich besser beim Sport abzuschneiden. Die meisten anderen konnten auch nicht wegfahren, sodass wir uns täglich wieder in der Schule trafen. Obwohl wir bereits seit zwei Jahren da wohnten, hatte ich es nicht geschafft, richtige Freunde zu finden. Ich weiß nicht warum, aber ich konnte einfach nicht heimisch werden. Damals gab es eine große Clique von Jungen, die sich schon lange kannten. Ich wusste, dass sie Geheimnisse hatten, in die ich nicht eingeweiht wurde. Ich war auch ein bisschen unbedarft, weißt du? Bei mir zu Hause gab es keine Manga, keine Magazine, und niemand hätte anzügliche Witze gemacht. Alles musste immer ordentlich und korrekt sein. Es gingen in dem Sommer Gerüchte um, dass einige heimlich rauchten und Bier tranken. Oder dass sie, nun, dass sie onanierten. In der Schule! Ich konnte das gar nicht glauben und hatte es auch nicht verstanden. Meine Sorgen richteten sich vielmehr auf das Baseballteam. Dort sollte ich trainieren, aber ich war nicht besonders gut. Die anderen reagierten rasch genervt, wenn ich Fehler machte. Und dann... kam dieser Tag..." Jirou schob wortlos seinen Teebecher hinüber. Er war noch zur Hälfte gefüllt. An dieser Stelle eine Versorgungspause einzulegen schlichtweg unmöglich. Geistesabwesend nippte Shinji mit einem knappen Nicken, befeuchtete seine Kehle. "Weil ich so schlecht war, sollte ich nach dem Spiel die Bälle einsammeln, die Schläger abreiben und so weiter. Ich hatte das gerade erledigt, als ich in den Boden gezeichnet eine Nachricht fand. Ich dachte, es wäre wieder eine der Geheimnachrichten, die man nicht gelöscht hatte und wollte herausfinden, um was es ging. Also betrat ich das alte Gerätehaus. Es war heiß wie ein Backofen darin und...", Shinji würgte. Er ballte die Fäuste, blinzelte Tränen aus den Augen, schluckte Tee und räusperte sich. Die Anstrengung, sich dieser Erinnerung zu stellen, zeichnete feine Linien in sein Gesicht. "Es roch. Ziemlich stark. Zuerst konnte ich das nicht einordnen, aber dann..." Er blickte Jirou zum ersten Mal seit dem Reiseantritt in die Vergangenheit klar in die Augen. "Sie haben wohl zu mehreren dort auf den alten Matratzen... ihren Samen abgespritzt. Als ich begriff, was los war, kam schon der Sportlehrer herein, der glaubte, es wolle jemand Unsinn treiben." Shinji lächelte verzerrt. "Ich beteuerte meine Unschuld, aber niemand glaubte mir. Sie riefen meinen Vater an, der von der Arbeit kommen und mich abholen musste. Es war entsetzlich. Für alle war ich ein perverser Widerling, der das offenkundige auch noch abstritt. Meine Eltern waren angeekelt von mir. Niemand sprach mehr mit mir, alle ignorierten mich. Ich flehte meinen Vater an, mich wenigstens die Schule wechseln zu lassen, doch das ließ er nicht zu. Ich sollte für die Schande und Schmach, die ich über meine Familie gebracht habe, bis zum bitteren Ende an dieser Schule und in dieser Nachbarschaft bleiben." Jirou schob seine Hände über den Tisch, drängte sich in die verkrampfte Umklammerung von Shinjis Fingern. Dem liefen stille Tränen unbeachtet aus den Augenwinkeln, während er seinen Blick auf die zerkratzte Tischplatte heftete. "Jeder Tag ein Spießrutenlauf. Ich glaube, selbst die, die mir diesen Streich gespielt haben, vergaßen irgendwann, dass es nicht wahr war. Mein Leben war einfach... grauenvoll. Deshalb~deshalb bin ich auch immer in der Bibliothek gewesen. Dort war ich sicher." Er hob den Kopf, lächelte Jirou verzerrt an. "Ich war gar nicht so dumm, weißt du? Ich habe sogar den Zulassungstest für die Toudai geschafft. Dort hätte ich auch studieren können, wenn nicht..." "Wenn nicht irgendwer diese Geschichte weitergetragen hätte." Vollendete Jirou seinen Satz mit rauer Stimme. Er hielt Shinjis Hände fest in seinen, schluckte schwer, zornig und hilflos zugleich. "Ich habe alles verdrängt." Shinji schniefte leise, drehte den Kopf, um sich das Gesicht an den Oberärmeln zu trocknen. "Mein gesamtes Leben habe ich ausgelöscht. Wirklich neu anfangen kann man auf diese Weise wohl nicht, wie?" "Und ich habe dich auch noch daran erinnert. Das tut mir leid." Jirou presste die Lippen dünn zusammen. "Mir nicht! Du konntest es nicht wissen." Schnitt Shinji ihm das Wort ab, atmete tief durch. "Ohne diese Konfrontation hätte ich nicht verstehen können, warum~warum ich immer Angst davor hatte, jemandem nahe zu sein." Sanft, beharrlich befreite er seine Hände aus Jirous Griff, holte tief Luft und erhob sich. "Puh, jetzt ist mir ein wenig schwindlig! Möchtest du noch Tee? Ich brauche jetzt unbedingt etwas zu essen!" Jirou staunte perplex dem Mann hinterher, der wie Shinji aussah, aber sich ganz anders verhielt. +~*~+ Shinji schaufelte, nur von kleinen Pausen unterbrochen, in denen er mit Tee nachspülte. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Jirou studierte ihn mit einer Mischung aus Sorge und Erleichterung. Er konnte verstehen, dass diese gewaltige Anstrengung Shinji sehr viel Kraft gekostet hatte, er endlich "auftanken" wollte. Andererseits, wie sollte es weitergehen? Durch die heimlichen, sein Gewissen durchaus belastenden Nachforschungen vorgewarnt wusste Jirou zwar, dass es in der Vergangenheit seines Freunds einen Skandal gegeben haben musste. Die Details waren nicht in Erfahrung zu bringen, was es perfiderweise auch unmöglich machte, sich später davon reinzuwaschen. Also hatte er, als er Shinji nahe kam, so nahe, wie es Liebende nun einmal wünschten, den "Auslöser" gedrückt. Sollte er sich auf eine platonische Beziehung beschränken? Gab es einen Trick, um sich aus diesem Gordischen Knoten zu befreien? "Puh!" Ächzte Shinji vernehmlich, zufrieden, lächelte ihn friedlich gestimmt an. "Ich kann gar nicht glauben, dass ich so ausgehungert bin! Entschuldige bitte, das war sicher kein schöner Anblick." Jirou schmunzelte. "Ich hätte nicht gedacht, dass du mal wie ein Scheunendrescher reinhaust. Ich lerne dich immer besser kennen. Das gefällt mir." Seine schlichten Worte sollten zünden, um auszuloten, wie Shinji reagierte. "Ich bin sehr dankbar, dass du mir zugehört hast. Dass du gekommen bist, obwohl ich so abweisend gewesen bin in den letzten Wochen." Shinji verneigte sich über die Tischplatte, richtete sich wieder auf, wich Jirous unruhigem Blick nicht aus. "Ohne dich hätte ich wohl nie den Mut gehabt, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Danke. Vielen Dank." Ein wenig unbehaglich rutschte Jirou auf seinem Sitz herum. "Sei bitte nicht so förmlich, ja? Das macht mich nervös." "Nervös?" Shinji warf ihm einen fragenden Blick zu. "Na ja..." Jirou zuckte unwillkürlich mit den Schultern. "...irgendwie rechne ich damit, dass..." Er atmete tief durch. "... na, dass es mit 'danke, du warst toll, mach's gut' endet." "Das... so... also, so meine ich das nicht!" Shinji beugte sich über die Tischplatte, sprudelte hastig die Worte hervor. "Auf keinen Fall meine ich es so! Ich bin bloß so froh, dass du mir geholfen hast! Dass ich endlich damit anfangen kann, richtig zu leben! Ich meine, innerlich bin ich noch immer 12 Jahre alt..." Er errötete heftig, senkte beschämt den Blick. Jirou verstand auch ohne Erläuterungen. Der Schock über diesen ungerechtfertigten Vorwurf und die Ächtung hatten Shinji zu einem Neutrum schrumpfen lassen. Einem verschüchterten Jungen "ohne Unterleib", der sich selbst panisch darauf reduzierte, bloß nicht erneut in den Ruch sexueller Bedürfnisse zu geraten. "Shin, ich möchte mit dir gehen. Auch wenn's vielleicht nicht einfach sein wird. Ich bin überzeugt davon, dass wir zusammen ein phantastisches Leben haben können. Was meinst du?" Demonstrativ legte er seine offene Rechte auf den Tisch. Shinji starrte ihn an, die offene Handfläche auf dem Tisch. Durfte er zugreifen? Er wollte, ganz bestimmt! Da er sich "erinnert" hatte: konnte er es auch ohne Gewissensbisse tun? Was, wenn er immer wieder diese Anfälle bekam?! Wäre es Jirou gegenüber fair, ihn an sich zu binden, wenn er ihm so viel Ärger bereitete? Jirou wartete geduldig. Auch angespannt. Konzentriert. Zögerlich hob Shinji seine Rechte, schob sie, an seiner Unterlippe nervös herumbeißend, in die ausgestreckte Hand. "Bitte hab Geduld mit mir." Murmelte er hilflos die übliche Floskel eines Neulings in einem Team. "Hab DU auch Geduld mit MIR!" Schnurrte Jirou erleichtert, zwinkerte, umschloss Shinjis Hand in einem festen Griff. Er konnte förmlich hören, wie die Steine von seinem Herzen purzelten. Tatsächlich waren es Bauklötze aus einer umfallenden Tasche zwei Tische weiter, aber wen kümmerte das schon? +~*~+ Thomas ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken, als er nach einem Spaziergang spät das Haus betrat, fremde Schuhe in der Ablage erblickte. Hatte Jirou Shinji einfach mit nach Hause genommen?! Lief es wieder rund? "Tsk!" Rief er sich zur Ordnung. Ein kleiner Teil seiner selbst hätte gern erfahren, was an diesem Abend passiert war. Wie es dem Zauberer gelang, auch die heikelsten Klippen zu umschiffen. Sein Weg führte ihn schnurstracks in die Küche, wo er überprüfte, was man einem Gast, der seinem Bruder so viel bedeutete, wohl zum Frühstück vorsetzen konnte. +~*~+ Ein wenig nervös war Jirou doch. Was, wenn sie sich bei dieser warmen Nacht ein wenig enger aneinander kuschelten und Shinji wieder einen Anfall bekam? Dass man die Ursache kannte, half noch nicht gleich, sämtliche Symptome auszumerzen! Aufgrund der drückenden Schwüle legte er auf sein Bett leichte Decken aus, schlüpfte in seine Sommer-Yukata. Nur in Boxershorts zu schlafen, das traute er sich doch noch nicht. Shinji klopfte artig, bevor er das Zimmer betrat. Frisch geduscht, mit einer ausgeliehenen Yukata versorgt wirkte er fast ein wenig kindlich, wie er beklommen in der Tür stand. Wortlos streckte Jirou eine Hand aus. Shinji folgte dieser Einladung, ließ sich neben Jirou auf das Bett sinken. Einvernehmlich schmiegten sich ihre Finger ineinander. "Ich hab dich vermisst." Raunte Jirou zur Zimmerdecke hoch, wo die Lichter vorbeifahrender Autos Bahnen zogen. "Du~du hast mir auch gefehlt." Wisperte Shinji verlegen. Schweigen breitete sich aus, es wirkte jedoch nicht erdrückend oder forcierend. Sie waren beide mitgenommen und froh genug, einander Gesellschaft leisten zu können. "Entschuldige!" Jirou entzog dem schläfrigen Shinji seine Hand, setzte sich zu dessen Überraschung halb auf, bevor er eine Rolle absolvierte, sein Haupt auf Shinjis Brustkorb deponierte, sofort mit der Linken nach Shinjis Rechter griff, sie okkupierte. Ein wenig linkisch streichelte Shinji, dessen Herzschlag sich durchaus beschleunigt hatte, über den lockigen Schopf auf seiner Brust. Das Gewicht des Freundes mitzutragen war ungewohnt, aber nicht unangenehm. Ein klein wenig erfüllte es ihn auch mit Stolz, dass Jirou ihm so nahe sein wollte. +~*~+ Thomas blickte auf, als er leichte Schritte hörte, konzentrierte seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf die Tischplatte. Sie war schon recht gefüllt, trotz ihrer großen Dimensionen. Wenn er schon mal früh auf war an einem Sonntag, sie einen Gast hatten, wollte er auch großes Programm bieten. Zumindest die Option darauf. Manche Menschen, das konnte er gar nicht nachvollziehen, frühstückten ja gar nichts! Gruselig! "Morgen." Brummte er Jirou entgegen, der mit einer Hand seine frisch gestutzten Locken durchpflügte und gleichzeitig nach automatischem Schnuppern verlangend stoßseufzte. "Croissants mit Kaffeesahne?! Oooooooh!" "Na, na!" Tadelte sein Bruder scharf, traf äußerst zielsicher ein klammheimlich stibitzendes Händchen, das Beute machen wollte, mit dem Küchenhandtuch. "Pfoten weg! Willst du nicht auf deinen Gast warten?" Jirou legte den Kopf schief, ließ sich langsam nieder, stützte das Kinn in eine Hand, studierte seinen hünenhaften Bruder nachdenklich. Thomas wandte sich ab, füllte eine Henkeltasse mit Tee, platzierte sie vor Jirou. "Treibstoff!" Unwillkürlich musste Jirou lächeln, schmunzelte in sich hinein, während er den ersten Schluck nahm. So typisch Thomas! Sich immer zu sorgen, aus dem Hintergrund zu helfen! "Ich will Shinji erst fragen, ob ich es dir sagen darf." Erklärte er ruhig. "Nur keine Aufregung! Ich muss nicht alles wissen. Hauptsache, ihr habt euch vertragen." Energisch wischte sich Thomas die Hände an seiner Schürze ab, rieselte Mehlstaub auf den Boden. "Das haben wir." Versicherte Jirou betont ernsthaft, bevor er sich auf den feuchten Welpenblick verlegte. "Und ich kann wirklich nicht ein klein bisschen knabbern...?!" "Sieh zu, dass du deinen Freund aus den Federn holst! Es soll schwül werden, also wird zeitig gefrühstückt! Bei dem Wetter schläft man sowieso schlecht!" Knurrte Thomas drohend. Jirou erhob sich schicksalsergeben. Gegen das Thomas'sche Machtwort half kein Bitten und kein Betteln. Andererseits könnte es reizvoll sein herauszufinden, wie Shinji auf zarte Weckversuche reagierte... +~*~+ Selbstredend fühlte sich Shinji ein wenig beklommen. Er wusste, dass Thomas irgendwo im Haus herumwerkelte, ihnen sein Reich, die Küche, großmütig zum Frühstücken überlassen hatte. Theoretisch verstand Thomas sicher, dass sein Bruder und er... nun ja! Aber peinlich war es schon! "Schmeckt göttlich, oder?!" Jirou kaute hingerissen auf einem gefüllten Croissant herum, leckte sich Blätterteigkrümel von den Fingerspitzen. "Scher guuud!" Lobte Shinji hastig, der ein solches Frühstücksmenü noch nie erlebt hatte, sich durchaus herausgefordert sah. Gut, ab und an gab es mal "Sandwiches" zum Frühstück. Sein auf einfache japanische Snackkost ausgerichteter Gaumen sortierte die Geschmacksvielfalt noch immer überfordert ein und aus. Das war wirklich alles sehr exotisch! Als Jirou ungeniert mit den feuchten Fingerspitzen über seine Mundwinkel wischte, dabei diebisch erfreut grinste, zuckte er nicht mal überrumpelt zusammen, sondern mümmelte weiter. Jirou unterdessen schmunzelte, weil es ihm großen Spaß bereitete, sich Gelegenheiten zu beschaffen, um Shinji berühren zu können. »Wahrscheinlich ist Hautkontakt gar nicht mal das Problem. Schwierig wird's erst...« Dachte er, während er einen wirklich allerletzten Keks mit Hagebuttenkonfitüre bekleckste (wahrer Luxus!). Dafür musste er sich eine verflixt gute Lösung einfallen lassen! Wenn es ihm gelang, Shinji so zu umwerben, dass der jede freie Minute mit ihm verbringen wollte, würde er das Bett nicht nur zum Schlafen benutzen! +~*~+ "Hmmm!" Stellte Thomas eloquent fest, drückte damit seine Verwunderung und Irritation kurz und bündig aus. Mal ehrlich, wenn man mit seinem Liebhaber zusammen Zeit verbringen kann: legt man sich im Gewächshaus unter die frisch aufgehängte Wäsche und spielt "Begriffskette"?! Nickt nebeneinander ein und hält ein bisschen Händchen?! Er wollte sich wirklich nicht als Experte in intimen, zwischenmenschlichen Interaktionen aufspielen, aber ihm kam diese Situation wirklich seltsam vor. Jirou, der Shinji am frühen Abend munter bis zur Bahnstation begleitet hatte, konnte diese Einschätzung durchaus verstehen, auch wenn er sie nicht teilte. Es hatte riesigen, um nicht zu sagen kolossalen Spaß gemacht, einfach Wörter vorzugeben, auf die der Partner rasch den ersten Begriff, der ihm dazu in den Sinn kam, aussprach und somit konterte. Das war doch interessanter und kurzweiliger als irgendwelche Fragebögen! Außerdem mochte er es, Shinji vertraut neben sich zu finden, seine leicht klebrigen Finger zwischen die eigenen, verschwitzten zu flechten und sich zu entspannen. Ihm war sehr wohl bekannt, dass andere Paare sich förmlich aufeinander stürzten, ständig die körperliche Auseinandersetzung suchten, zu extremen Verhaltensweisen neigten. Das wollte er nicht. Die Person, den Menschen, mit dem er sein Leben teilen wollte, den er lieben wollte, mit dem wollte er sich nicht ständig bekriegen, ihn bedrängen und kontrollieren, Ansprüche anmelden. Er wollte einen Freund, einen Partner, einen Gefährten, einen Vertrauten. Zudem war Shinji einfach lieb. Es wäre ein Verbrechen, auch in Anbetracht dessen traumatischer Erfahrungen, ihm ungeniert auf den Leib zu rücken, den Fokus auf körperlicher Interaktion zu legen. »Bumsen kann auch SEHR öde sein!« Schnaubte er innerlich. Ihm zumindest genügte es nicht. +~*~+ Man musste sich der Realität stellen. Shinji seufzte, schluckte Tee, gemütlich an das kürzlich erworbene Kissen gelehnt. Die Realität war jedoch ziemlich beängstigend. Vor allem, wenn man beinahe 20 Jahre aufzuholen gedachte. "So schwer kann es nicht sein! Du musst doch bloß nach Plan vorgehen!" Ermahnte er sich halblaut. Der Plan, oder vielmehr die Empfehlung eines Ratgebers gegen soziale Phobien, den er gekauft hatte, baute sich nach einem 10-Punkte-System auf. Die ersten Hürden hatte Shinji schon genommen, beargwöhnte sie aber misstrauisch, weil wohl alle, die sich zum Kauf des Werks entschlossen, kaum umhin konnten, sich 1) eines Problems bewusst zu sein, 2) etwas dagegen unternehmen zu wollen und 3) sich dazu Hilfe (in Form des Ratgebers) geholt hatten. Das sah verdächtig nach einer Marketingstrategie aus. Gleichwohl, als nächstes, nach einer Liste seiner Probleme und ihrer Auswirkungen auf sein Leben, sollte er sich vorstellen, wie er die ihn ängstigenden Situationen bewältigte. Kopfkino mit variablem Ausgang. Allerdings, so richtig vorstellen konnte er sich nichts davon. Was möglicherweise auch daran lag, dass sich immer seine Lider senkten, wenn Jirou ihm wirklich nahe kam. "Verflixt!" Grummelte Shinji ärgerlich über sich selbst. "Na schön!" Energisch setzte er seinen Teebecher ab. Wer nicht hören will, muss fühlen! Oder zumindest sehen. Einen Online-Porno. +~*~+ Jirou pirschte sich gewohnt geschickt heran. Er verfügte über das sehr nutzbringende Talent, sich quasi aus der Wahrnehmung seiner Mitmenschen auszulöschen. Eine gründliche Analyse darob hatte er bisher nicht vorgenommen, sondern vertraute einfach seinen Instinkten. Es funktionierte, mehr musste er nicht wissen. Shinji wirkte überraschend nervös, tippelte von einem Fuß auf den anderen, den Blick auf die Schuhspitzen geheftet, von einer ungewohnten Ungeduld gezeichnet. »Ist es schon so spät?« Wunderte sich Jirou still, während er sich geübt heranschlich. Sie waren nicht verabredet. Gerade die günstige Gelegenheit, früh aufzustehen, einen Termin in der Nähe zu haben, konnte kein besseres Lockmittel für ihn sein! "Guten Morgen!" Trällerte er Shinji fröhlich, in gebotener Zurückhaltung ins Ohr, strahlte ihn über eine verschreckt hochzuckende Schulter an. "Oh! Ah! OH!" Brachte Shinji unverständlich heraus, lief dunkelrot an. Machte auf dem Absatz kehrt und ging stiften! Jirou, der plötzlich SEHR sichtbar war, starrte ihm verblüfft mit herabgesunkenem Unterkiefer hinterher. +~*~+ "Du! DU!" Wütend trommelte sich Shinji auf die eigenen Oberschenkel. "LOS! Jetzt!!" Warum war das bloß so schwierig?! Oder vielmehr, warum war er so ein fürchterlicher Idiot?! Vor ganzen ZWEI Tagen hatte er Jirou einfach am Bahnsteig wie einen Trottel stehen lassen! Vor Angst keinen Anruf angenommen! "Du bist so BLÖD!!" Hielt er sich zornig vor, wischte sich ärgerlich über die Augenwinkel. Mit jeder Zeitverzögerung wurde das Hindernis größer, stiegen Angst und Scham noch an. Mit feuchten Fingern umklammerte er sein Mobiltelefon, hypnotisierte sich selbst. »Los, drück den Knopf! Drück den Knopf endlich!« In diesem schicksalsträchtigen Moment klingelte es selbst. Shinji stieß einen erschreckten Quietscher aus, ließ reflexartig das Gerät fallen, keuchte vor Panik. "Oh nein!" Ächzte er erschrocken. Der Aufprall hatte den Verschlussdeckel abgesprengt, auch noch einige andere Plastikteile lädiert. Hastig klaubte er die Trümmer auf. Auch auf den zweiten und dritten Blick bot sich ein ernüchterndes Bild der Verwüstung: dieses Gehäuse samt Innenleben hatte das Zeitliche gesegnet! +~*~+ Jirou hielt sich nicht lange auf. Shinji hatte ihm Frau Oogata, die Bulldogge, geschildert. Deshalb erkannte er sie erstens an ihrem argwöhnisch-inspizierenden Blick, der jedes Durchleuchtungsgerät in den Schatten stellte, und überfiel sie zweitens mit einer Charmeoffensive in Hochgeschwindigkeit. In seinem besten/schlimmsten Kansai-Dialekt schwadronierte er auf sie ein, verneigte sich mehrfach wie ein Stehaufmännchen, strahlte bis zum letzten Backenzahn, lachte wie aufgezogen. Er ließ einen konsterniert-überrumpelten Gegner zurück, der nicht mal die Gelegenheit zur verbalen Gegenwehr ergreifen konnte. Schnurstracks kletterte er das Treppenhaus hoch, um erst vor Shinjis Appartementtür tief durchzuatmen, höflich zu klopfen. Sehr vorsichtig wurde die Tür gerade einen Spaltbreit geöffnet, da starrte ihn Shinji bereits ungläubig an. "Geht's dir gut?!" Jirou schob sich einfach in die Tür, streifte seine Schuhe ab, während er Shinjis Kinn mit der Rechten anhob. "Ist alles in Ordnung?! Ich habe dich bloß noch aufschreien hören, da war die Verbindung weg!" "Oh....oh!" Stellte Shinji fest. Mit der Macht einer Sintflut stieg ihm erneut das Blut in den Kopf, machte einer vollreifen Tomate Konkurrenz. "Dann ist alles okay? Gott sei Dank! Ich hab mir schon die übelsten Dinge ausgemalt!" Versicherte sich Jirou erleichtert, schnaufte betont durch, umarmte Shinji mit sanfter Gewalt. "Nein... ich meine..." Shinji räusperte sich, rang um Haltung. "Es war nur das Telefon. Ist runtergefallen. Mir, meine ich. Vorhin. Also." "Aha!" Kommentierte Jirou auflachend, schenkte Shinji ein wenig Freiheit, hielt ihn auf Armeslänge von sich. "So war das also! Hast du es wieder flicken können?" Stumm senkte Shinji den Kopf. "So schlimm?" Mitfühlend streichelte ihm Jirou über den Schopf. "Soll ich mal draufgucken? Ich kenne auch jemanden, der Mobiltelefone vertreibt. Der könnte die Karten raus machen, hat vielleicht auch ein hübsches Ersatzgerät." Geknickt machte Shinji kehrt, vergaß vollkommen seine übliche Befangenheit, wenn er Jirou in seinen vier Wänden empfing, weil er nicht wusste, wie man mit "Gästen" korrekt umzugehen hatte. Er stopfte das große Kissen als Rückenlehne gegen sein Schlafsofa, lud Jirou mit einer Geste ein, es sich neben ihm bequem zu machen. Auf dem niedrigen Tisch davor lagen säuberlich ausgerichtet wie eine Anklage die Einzelteile aufgereiht. "Wow!" Murmelte Jirou, beugte sich herüber. "Tja, abgeplatzter Plastik, da ist nichts mehr zu retten. Schade um den Oldtimer." Bedauerte er sanft, drückte Shinjis Schultern. "Ich hab's als Set gekauft. Ich kenne mich gar nicht mit diesen Dingen aus!" Murmelte der bedrückt. "Verstehe. Was meinst du, darf ich dir helfen? Wollen wir gemeinsam einen Ersatz suchen?" Brummte Jirou beruhigend, rückte zur moralischen Unterstützung noch ein wenig näher heran. Shinji wandte den Kopf, nickte beschämt. "Bitte. Das würde mich sehr freuen." Fröhlich sah er jedoch nicht aus, sondern eingeschüchtert und sehr geknickt. "Das schaffen wir! Keine große Sache! Hauptsache ist, dass dir nichts geschehen ist!" Versprühte Jirou ungeniert Enthusiasmus, drückte Shinjis schmale Schultern. DAS wiederum brachte Shinji endlich die Alarmglocken zu Bewusstsein, die schon eine erhebliche Weile lärmten, um ihn daran zu erinnern, was eigentlich der Zweck seines verhinderten Anrufs gewesen war! "Oh! OH!" Ächzte er, entzog sich ruckartig Jirous lockerer Umarmung, brachte eine Tischseite zwischen sie, bevor er sich in formaler Demutshaltung vor Jirou auf den Knien verneigte. "Ich bitte untertänigst um Entschuldigung! Ich habe mich selbst vergessen und ungebührliche Aufmerksamkeit auf dich gelenkt! Mein Verhalten beschämt mich sehr, und ich möchte Buße tun!" Jirou studierte verwirrt und auch leicht verärgert dieses Schauspiel. Herrje, waren sie nicht ein Paar?! Gut, die Sache auf dem Bahnsteig hatte ihn überrascht, aber geschehen war schließlich nichts! Da er Shinji recht gut kannte, wusste er auch dessen von Scham und Angst geprägtes Schweigen einzuordnen. Wer hatte ihn bloß darauf konditioniert, sich selbst so erbärmlich auf ein Nichts zu reduzieren?! "Shin! Hör mal, Süßer, ich kann mich nicht mit dir unterhalten, wenn du Richtung Fußboden brabbelst." Auf dem Hosenboden rutschte Jirou heran, klopfte mit dem Zeigefingerknöchel auf den unterwürfig gekrümmten Rücken. Das war ein wenig gemein. Manchmal musste dem Zuckerbrot eben die Peitsche vorausgehen! Dunkelrot vor Scham, die Fingernägel in der weichen Haupt der Stirn deutlich abgezeichnet, setzte sich Shinji langsam auf. Er schluckte schwer. Jirou streckte die Rechte aus, liebkoste sanft eine glühend heiße Wange, lächelte dabei versonnen. "Bin ich denn so furchterregend?" Wisperte er bekümmert. "Nein! Nein, so meine ich das gar nicht! Ich bin verantwortlich! Es ist allein mein Fehler!" Shinji verhaspelte sich in dem Bemühen, alle Schuld einzig und allein auf sich zu nehmen. "Und was genau?" Jirou rückte unerbittlich heran, kaperte einfach Shinjis Linke, die sich schon wieder verkrampfen wollte. "Das~das ist..." In Shinjis Augen stiegen Tränen, während er Jirous Blick auswich. "Ich schäme mich so! Es tut mir so leid! Entschuldige! Entschuldige bitte!" "Nanana!" Tadelnd verhinderte Jirou einen weiteren Kotau, zog mit einiger Kraft Shinji in seine Arme, hielt ihn gefangen. "Was hast du denn so Schlimmes angestellt? Mir ist nämlich gar nichts aufgefallen." Shinji schniefte, bevor es schluchzend aus ihm herausbrach. "Ich hab den Porno mit dir geträumt!" +~*~+ Jirou lachte immer noch unterdrückt, als Shinji ihm gekränkt und verunsichert eine Schale Tee vorsetzte, nachdem er die traurigen Überreste seines Mobiltelefons mit forensischer Genauigkeit einer Plastiktüte anvertraut hatte. "Entschuldige! Wirklich, ich weiß, dass es dir sehr unangenehm ist!" Besann Jirou sich unterdessen, dem das Zwerchfell schmerzte. »Bloß eigentlich ist es eine lächerliche Situation!« Ergänzte Shinji im Stillen, der sich vor Kritik hütete, da er ja Abbitte zu leisten hatte. Nur fühlte es sich für ihn ganz und gar nicht amüsant an. Vielmehr nach einem Verrat. Nach einer persönlichen Beleidigung, die Ansehen und Person seines Freundes verletzte. "Ich muss aber sagen, ich bin schon eifersüchtig!" Jirou zog kritisch die virilen Augenbrauen zusammen. "Ei~eifersüchtig?!" Stotterte Shinji ihm gegenüber perplex, mühte sich, nicht seinen Schluck Tee durch die Gegend zu sprühen. "Klar!" Bekräftigte Jirou tief aufseufzend. "Stell dir mal vor, was mein Traum-Ich mir voraus hat! Glatt ausgestochen bin ich!" "Aber~aber..." Shinji rang nach den treffenden Worten. "Er ist doch nicht echt!" Jirou stutzte ob dieses temperamentvollen Ausbruchs, lächelte hingerissen, streckte die Hand aus, um Shinjis Wange mit seinen Fingerknöcheln sanft zu liebkosen. "Stimmt! Da hast du vollkommen recht. ER ist nicht echt." Raunte er zärtlich. Shinji errötete ein wenig, hielt dem hingebungsvollen Strahlen der tiefschwarzen Augen tapfer stand. "Ich~ich wollte das nicht." Wiederholte er gefasst. "Es ging mir nur darum... aufzuholen. Richtig erwachsen zu werden." Da er zu seiner Verteidigung, wenn auch widerwillig, weil es ihm wie eine alberne Entschuldigung vorkam, den Ratgeber gezückt hatte, war Jirou durchaus im Bilde darüber. Er nahm Shinjis Linke in seine Hand, hielt sie versichernd fest. "Weißt du, du musst dich nicht so sehr unter Druck setzen, Shin." Antwortete er ernst. "Wenn ich sehe, was du alles leistest, wie sehr du dich bemühst, werde ich ein wenig nervös." Er atmete tief aus, lächelte bemüht schief. "Ich frage mich nämlich, ob ICH es überhaupt schaffe, deinen Erwartungen gerecht zu werden." Shinji starrte ihn verblüfft an. Nur dem herab sackenden Unterkiefer war ein unartikuliertes Geräusch zu entnehmen. Nach einigen Wimpernschlägen setzte sich offenkundig die Botschaft, initiierte den gewohnten Prozess von Schuldübernahme, Beschämung, demütiger Entschuldigung und Niedergeschlagenheit. "Oh...das... daran habe ich gar nicht gedacht! Das~das tut mir leid, wirklich!" Haspelte Shinji betroffen los, drückte Jirous Hand nervös. "Das ist wirklich sehr egoistisch von mir! Entschuldigung!" Jirou legte den Kopf leicht schräg, betrachtete seinen verhinderten Liebhaber nachsichtig. Shinji war so bemüht, ihm zu gefallen, so bedrückend dankbar und aufmerksam, dass es ihm gelegentlich einen Stich versetzte. Unvermittelt klappte er die Beine an, erhob sich, umrundete den niedrigen Tisch, um sich zu Shinjis unruhiger Verwunderung direkt hinter ihm niederzulassen, beide Arme um den sehnigen Oberkörper zu schlingen, ihn nahezu erdrückend zu umarmen. Er hauchte einen glühenden Kuss auf die Halsbeuge, genoss den eiligen Pulsschlag unter seinen Lippen. Shinji ächzte leicht, lief prompt rot an, dass sogar die Ohren leuchteten. "Ich hab dich so unendlich lieb." Raunte Jirou in eine ihm zuvorkommend zugeneigte Ohrmuschel, schmuste seine Wange mit dem gepflegten Bart an Shinjis glatt rasierte. "Ich~ich auch!" Wisperte der nervös, legte schüchtern seine Arme auf Jirous. +~*~+ Kapitel 6 -Liebe, selbst gemacht! Keine Frage, dass Jirou artig nach Hause zurückkehrte, am nächsten Tag Shinji vor dessen Arbeitsplatz erwartete, weil er mit ihm gemeinsam nach dem Feierabend ein Ersatzgerät kaufen wollte. Sie MUSSTEN miteinander kommunizieren können! Bis zum Wochenende duldete seine Sehnsucht keinen Aufschub! Shinji erstrahlte förmlich, als er sich unter einer Arkade löste, ihm entgegen kam. Er lächelte ebenfalls ganz automatisch, von einer beschwingten Fröhlichkeit erfüllt, die sich aus der prickelnden Erwartung des Tages speiste. "Wollen wir?" Lud er mit seinem Ellenbogen zum Einhängen ein, zwinkerte frech. Shinji beäugte ihn, schwankend zwischen Begeisterung und Furcht vor der gnadenlosen Realität, bevor er, beinahe trotzig, seinen Arm einhängte. "Ich möchte dich nicht verlieren! Ich kenne mich ja da gar nicht aus." Erklärte er mit tapfer gerecktem Kinn. "Sehr vorausschauend! Ohne Telefon könnten wir uns gar nicht wiederfinden, wenn wir uns im Gewühl aus den Augen verlieren." Lobte Jirou aufmunternd. Glücklich, dass Vernunft seine Entscheidung sanktionierte, spazierte Shinji trotz der hinderlichen Galoschen frohgemut neben Jirou her. Selbst dem diffizilen Erwerb eines neuen Mobiltelefons sah er zuversichtlich entgegen. +~*~+ "Du kommst zurecht?" Hakte Thomas entschieden nach, während er seine überschaubare Reisetasche mit dem Reißverschluss schloss. Die Frage grenzte an eine Beleidigung, da sie sich an einen erwachsenen Mann richtete, der seit früher Jugend auf eigenen Beinen stehen musste, ein erfolgreiches Unternehmen führte und nicht zum ersten Mal die alleinige Herrschaft über die gemeinsame Casa ausübte. Jirou nahm es seinem Bruder jedoch nicht übel. Dessen Nachfrage zielte hauptsächlich darauf ab, dass trotz gut gefülltem Gefrierschrank, Kühlschrank und einer überquellenden Speisekammer ja die vage Möglichkeit bestehen konnte, es sei gerade das nicht verfügbar, das Jirou zu konsumieren gedachte. "Alles bestens! Willst du mich nicht auch morgen Abend anrufen?" Versicherte er inbrünstig, tippte mit einem vorwitzigen Zeigefinger auf die Nasenspitze seines Bruders. "Pff! Du wirst ja wohl einen Abend ganz ohne mich zurecht kommen wollen." Schnaubte Thomas mit einem finsteren Blick. Jirou grinste bloß breit. Er hatte sich einen Gast eingeladen. Thomas' griesgrämige Antwort bedeutete ihm, dass er dessen Segen erhielt. "Amüsier dich gut!" Wünschte er Thomas, drückte ihn kurz, was ein sonores Brummen wie bei einem Grizzly auslöste, bevor er artig hinter seinem Bruder hermarschierte, der sich für einen Wochenendausflug in eine japanische Käserei verabschiedete. +~*~+ Jirou hatte sich für eine mäßig amüsante Comedy-Serie japanischer Provenienz entschieden, die für eine grundsätzlich gelöste Stimmung sorgen sollte. Sie würde auch nicht zu sehr ablenken von dem, was er vorbereitet hatte. Er machte sich zum Bahnhof auf, um Shinji dort zu empfangen. Der lächelte ihm ein wenig zerzaust entgegen. Durch das freitägliche Gewühl mit einer kleinen Übernachtungstasche zu kraulen, war weder einfach noch eine von ihm geübte Praxis. Jirou flutschte geschickt durch die Menge, ein chaotisches Gemisch aus Spätheimkehrenden und frühen Nachtschwärmenden, dazwischen noch Suchende, die hektisch auf Mobiltelefone starrten oder einquatschten. Mühelos angelte er mit einem sehnsüchtig ausgestreckten Arm Shinjis zusammengezogene Schultern, wickelte sich förmlich um ihn, damit er als "Schubverband" fungieren, ihnen eine Passage in ruhigere Gewässer verschaffen konnte. Shinji ächzte erleichtert, als sich das Gewimmel reduzierte. Mittlerweile war ihm der Weg zu Jirous Haus vertrauter. Er spürte wieder ein prickelndes Hochgefühl in der Magengegend. Es war so aufregend, das Wochenende bei Jirou zu verbringen! Seinem Begleiter entging das freudige Strahlen selbstredend nicht, sorgte für ein ebenso quecksilbriges Glücksgefühl. Wenn sie beide so guter Dinge waren, würde bestimmt alles wunderbar funktionieren! Darauf setzte Jirou hoffnungsvoll. Und als Zauberer natürlich auf kleine Tricks und Kniffs. +~*~+ Shinji war sich vage bewusst, dass er seine Aufmerksamkeit zumindest zu einem gewissen Teil der dargebotenen Show widmen sollte. Das war schlichtweg unmöglich! Nicht nur das wärmende Gewicht von Jirous Arm um seine Schultern, das sanfte Tippen der Fingerspitzen auf seinem Oberarm, der ihm zugeneigte Kopf mit dem prachtvollen Lockenschopf oder der Herzschlag, der mühelos dünne Stoffhüllen durchdrang... Nein, es war ein Aroma, das Shinji vollkommen den Verstand vernebelte! Sein Herz pochte wie verrückt. Er musste sich ohne Unterlass ermahnen, bloß nicht wie ein Spürhund herumzuschnüffeln, zu lechzen nach dieser Duftnote...! Unvermittelt drückte Jirou ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Das letzte herzliche Lachen aus der Magengrube war schon eine Weile her. Ob er wohl auch mit den Gedanken ganz woanders weilte? Shinji drehte den Kopf, um das vertraute Profil zu ergründen, nahm seinen Mut zusammen, um die zärtliche Geste zu erwidern, auch Jirous Wange mit einem Kuss zu siegeln. Da! Da war es wieder! Dieser verlockende, betörende Duft! Ohne bewussten Entschluss, kopflos durch ein ganz besonderes Aroma, schmiegte er sein Gesicht in Jirous Halsbeuge, schnupperte begehrlich, leckte zur Tarnung über das Schlüsselbein. Unter seinen Lippen randalierte der Pulsschlag heftig. Auch die Hitze, die Jirou verströmte, steigerte sich merklich. Als Jirou den freien Arm um Shinjis zierliche Taille legte, vergaß der die strengen Konventionen, seine Ängste und Bedenken vollkommen, enterte Jirous Schoß, schlang ihm beide Arme um den Nacken, knabberte unterhalb des Ohrläppchens weiche Haut, während er tief Luft einsaugte, um diesen verheißungsvollen Duft in seinen Lungen einzufangen. Jirou reduzierte die Distanz zwischen ihren Oberkörpern merklich, nahm die Herausforderung begeistert und begierig an. Ungeniert spielte er seine Erfahrung aus, lockte Shinji immer weiter auf den Pfad der paradiesischen Lustbarkeiten. Natürlich sollte es sanft sein, spielerisch vonstatten gehen. Vorsichtig, bedächtig, immerhin betraten sie Neuland. Theoretisch. Praktisch war das letzte Stoppschild unbeachtet vorbeigeflogen. Gänzlich physische Aspekte nahmen überhand. Als ob archaische Instinkte, die hübsch artig unter einer Lackschicht von Zivilisation verborgen waren, all die kleinen Kratzer, Knitter und Knackse nutzten, um sich in die Freiheit zu sprengen. Jirou zerrte sich das Hemd vom Leib, löste den einschnürenden Gürtel, ergriff die Chance, den vor blindem Verlangen furchtlosen Shinji ebenso zu entblättern. »Es funktioniert!« Zwischen wilder Begeisterung und verdrängter Sorge preschte Jirou vorwärts. Shinji musste bloß auf Körperkontakt bleiben, in seiner direkten intensiven Nähe, dann...! »Ruhig Blut, Kamerad!« Ermahnte er sich, unterdrückte das Zusammenbeißen der Zähne, um die Selbstbeherrschung zu wahren. DIESES Mal ging es allein um Shinji. Nur um ihn! Also Steigbügelhalter, Werkzeug, Kompass bleiben! Shinji dagegen bemerkte die inneren Kämpfe seines Liebhabers nicht einmal. Er war gefangen von diesem immer stärker werdenden Aroma, das in seinen Körper eindrang, eine gewaltige Glut entfachte, die Feuerfunken in jeden Nerv sprühte! Es machte ihn schier verrückt!! Er wollte "sich kratzen", die Brandherde löschen, irgendwie Erlösung finden, doch wie stellte man das an?! Vor allem, wenn man einfach nicht aufhören konnte, nicht genug bekam von Duft, Luft, Feuchtigkeit, Speichel, Hitze, Fingern, Handflächen, Atemstößen...?!! Ohne es sich bewusst zu sein winselte und seufzte er begehrlich, verzweifelt an Jirous Haupt, grub mit seinen Fingernägeln winzige Wunden in die Haut. Sein unruhiges Zappeln, heftiges Klammern und abruptes Abstoßen zum Atemringen schrien unwillkürlich nach Beistand. Er brauchte Hilfe! +~*~+ Jirou legte die Linke unnachgiebig in Shinjis Nacken, zwang ihn, das Gesicht in seiner Halsbeuge abzulegen. Seine Rechte war mit Samenflüssigkeit benetzt, die auch von ihren nackten Oberkörpern langsam herunter sickerte. Er wollte verhindern, dass im letzten Moment der Geruch männlicher Sexualität Shinji aus dem post-orgasmischen Paradies vertrieb, in das er ihn handgreiflich gelockt hatte. Shinjis sich nur allmählich beruhigende Atemstöße kitzelten seinen Nacken, kühlten trotz ihrer Hitze die Schweißperlen auf seiner Haut und unter seinen wirren Locken. "Ich liebe dich!" Raunte er heiser in eine glühende Ohrmuschel an seiner Wange, angelte dabei ungelenk nach dem diskret deponierten Papiertuchspender. Shinjis Arme fielen schwer von seinen Schultern herab, wo dessen Fingernägel seine Schulterblätter gezeichnet hatten. Sein Gewicht lastete unvermittelt heftiger auf Jirou, der erschrocken mutmaßte, Shinji habe erneut das Bewusstsein verloren. Was jedoch bei einem Orgasmus für winzige Sekunden Seligkeit sorgte, konnte danach kaum mehr so phantastische Ursachen haben! Eilig gab er Shinjis Nacken frei, fädelte rasch die eigenen Arme unter Shinjis Achseln, drehte sich halb, um ihn an sich vorbei auf die Matratze sinken zu lassen. "Shin? Shin?!" Sehr vorsichtig klopfte er mit den Fingerknöcheln der Linken an dessen Wange. Besonders blass wirkte Shinji gerade nicht, aber... Shinji klapperten die Zähne, seine Glieder zuckten plötzlich wie unter Schüttelfrost. Jirou zögerte nicht, gänzlich sämtliche bereits herabgezerrte Unterkleidung auszuziehen, die Socken folgen zu lassen. Er glitt nackt auf den ebenfalls formlos entblößten Shinji, bedeckte ihn mit heißen, trockenen Küssen. "Ist es so besser? Shin? Was kann ich tun, hm?" Schmeichelte er mit Zärtlichkeiten, um einen Fingerzeig zu erhalten, ob seine instinktive Reaktion die richtige gewesen war. Shinji blinzelte heftig, versuchte angestrengt, sich zu artikulieren, während seine Kiefer wie Fallbeile die Silben zerhackten. "Vvrrr~ssstt~hhhe~nnni~chht~wwwwsss~llllss~ssst...?!" Jirou verstand zwar kaum mehr, lächelte becircend. "Das ist in Ordnung, Shin. Alles okay, nur keine Sorge!" Unter ihm verunglückte ein klappriges Grinsen. Tränen sickerten aus Shinjis Augenwinkeln, der ungelenk mit den Handrücken herumwischte, zu lachen versuchte, den Kopf auf die Seite drehte, um seine Scham über diese ihm unerklärliche Entgleisung zu verbergen. So ein Unglück rührte selbstredend Jirous mitfühlendes Herz. Er kaperte einfach beide Arme an den Handgelenken, drapierte sie um seinen Nacken, schlang die eigenen Arme um Shinjis zuckenden Oberkörper und kommandierte herausfordernd. "Festhalten, pronto!" Seine Stimme traf genau den richtigen Tonfall, löste Automatismen des Gehorsams aus, die schon im Kindergarten antrainiert wurden. Obwohl Shinji ihm nicht wirklich helfen konnte aufgrund der mangelnden Selbstkontrolle, gelang es ihm, ihn aufzusetzen, tröstend in eine enge Umschlingung zu ziehen. So wiegte er ihn zärtlich, raunte besänftigend in den wirren Schopf. "Ist alles in Ordnung, Shin. Mach dir keine Gedanken. Und ich hab dich soooo lieb!" Das Antidot gegen die Verschreckung zeigte Wirkung: Shinji entspannte sich merklich, schmiegte sich ebenso eng an Jirous nackten Oberkörper. Wie der duftete! Nachdem das Zähneklappern verstummt war, geschmeidig gewärmte Glieder keine Anstalten mehr unternahmen, wie elektrisierte Marionettenanhängsel herumzuzucken, hauchte Jirou einen wagemutigen Kuss auf die weiche Stelle zwischen Unterkiefer und Ohrmuschelansatz. "Shin, ich muss dir was gestehen! Bitte sei mir nicht böse, ja?" Reckte er leicht das Kinn, um das Ohrläppchen ebenfalls mit seiner Aufwartung zu beglücken. "...gestehen...?" Wiederholte Shinji beklommen, klammerte nachdrücklicher. "Na ja... also...Ich habe...hmmm... also... ein bisschen.. geschummelt." Druckste Jirou gegen seine Natur nervös herum. "Geschummelt..." Ließ Shinji ein verwirrtes Echo verlauten. "Wobei denn?" "Ich hielt es für eine gute Idee, weißt du? Beim Schmusen... und so weiter..." Mit der Rechten zeichnete Jirou Figuren auf Shinjis bloßen Rücken. Mit einem gewissen Nachdruck löste Shinji sich aus ihrer innigen Verschlingung, ging ausreichend auf Distanz, um in die tiefschwarzen Augen blicken zu können. Dafür sortierte er sogar verzottelte Locken aus. "Ich kann dir immer noch nicht folgen?" Bekannte er ratlos, gar nicht mehr verlegen, da Verwirrung über alle anderen Emotionen siegte. Jirou nutzte die günstige Gelegenheit, einen vorwitzigen Kuss auf die geschürzten Lippen zu platzieren. "Gel." Murmelte er, spürte, wie ihm Röte in die Wangen stieg. "Ich habe mich überall mit Massagegel eingerieben." "Ach so?" Antwortete Shinji höflich wie nichtssagend. Ein ganzer Kronleuchter ging ihm auf, was seinem Mienenspiel deutlich abzulesen war. "Oh....!" Stellte er fest, hielt sich reflexartig eine Hand vor den Mund, die Augen geweitet. "Du~du bist mir doch nicht sehr böse, oder? Es war ja nur ein bisschen geschummelt, richtig?" Jirou legte den Kopf auf die Seite, studierte Shinji mit einem flehentlichen Ausdruck. Shinji sah erst ihn an, danach an ihnen herunter. Wie er ganz selbstverständlich halb auf Jirous Oberschenkeln residierte. Im Adamskostüm. Sehr erhitzt. Prompt schnappte er mit einem ächzenden Laut nach Luft. Ebenso flott hatte Jirou ihn fest an sich gezogen, die Rechte in seinen Nacken gelegt, damit er nur Richtung Zimmerdecke hecheln konnte, außer Reichweite von verräterischen Gerüchen. +~*~+ "Das verstehe ich nicht..." Bekannte Shinji mit dünnem Stimmchen. Wieso hatte er jetzt keinen Anfall?! Zumindest nicht so einen wie auf dem Schulhof oder beim letzten Mal?! Jirou ließ ihn nicht los. Die sich durchdringende gegenseitige Körperwärme aktivierte erneut den Duft, der ihn so magisch angezogen, in den Bann geschlagen hatte. Als Jirou kurz seine Haltung korrigierte, es konnte wirklich nicht angenehm sein, so einen Klotz wie ihn auf den Oberschenkeln balancieren zu müssen, aber Jirou ließ ihn einfach nicht frei!, kamen sie einander näher als beabsichtigt. Shinji entfuhr ein gutturales Aufstöhnen. "Oh nein!" Ächzte er beschämt, versteckte sein Gesicht in Jirous Halsbeuge, glühend vor Scham. "Ich mag es, dich zu berühren. Hab bitte keine Angst davor. Ich tue dir nicht weh. " Raunte Jirou an seinem Nacken. Seine Worte waren kaum mehr zu vernehmen, so leise wisperte er sie. "Ich möchte so gerne hören, dass es dir gefällt." Woher nahm Jirou bloß den Mut, dies auszusprechen?! Shinji umklammerte die eigenen Handgelenke in Jirous Nacken fester. Er fürchtete sich davor, die Kontrolle zu verlieren. Obwohl das ziemlich dumm war, wie ihm seine innere Stimme ungeniert entgegnete, da er ja bereits vorher Jirou seine schamlose Seite enthüllt hatte! Jirou ließ nicht locker, wiegte sie leicht, summte unbewusst vor sich hin, so, als müsse er ein kleines Kind beruhigen. Seine Geduld war herzerwärmend, wie Shinji befand. "Ich bin nicht böse." Krächzte er heiser in die gastfreundliche Halsbeuge. "Ich mag den Duft sehr. Und~und es tut mir leid, dass ich so... so unbeholfen bin." »Unerfahren, schreckhaft, hasenfüßig, kleinmütig....« "Du bist nicht unbeholfen, ganz und gar nicht!" Jirou löste eine Hand, um seinen Schopf wieder und wieder zu durchpflügen. "Du bist mutig! Du vertraust auf mich. Du gehst ganz allein all diese Schritte auf mich zu..." Er schloss die Umarmung wieder. "Ich bin wirklich so verflixt froh, dass du zu mir kommst!" Shinji keuchte, glaubte beinahe, die eigenen Rippen knacken so hören. Wenn die Intensität ihrer Umarmung mit der Gefühlsgewalt vergleichbar war, die Jirou umtrieb, bestand kein Zweifel: er wurde SEHR geliebt. "Ich hab dich auch lieb! Jirou, ich mag dich sehr!" Ächzte er, kniff vor Scham die Augen zu. "Das~das ist gut!" Antwortete Jirou ihm mit Verzögerung. Es klang so, als habe er Mühe, ein erleichtertes Aufschluchzen zu bekämpfen. +~*~+ Irgendwann waren sie einfach auf die Seite gesunken. Keiner hatte vom anderen zurückweichen wollen. Gegen die bleierne Müdigkeit, all der Anspannung und Aufregung geschuldet, hatten sie geblinzelt, waren hochgeschreckt... um schließlich doch den Kürzeren gegen einen tiefen Schlaf zu ziehen. Als Jirou in der Frühe erwachte, konnte er sich nach einigen ungläubig-hingerissenen Augenblicken der Selbstvergewisserung nicht dazu aufraffen, sofort das gemütliche, wenn auch geruchsintensive Nest zu verlassen und für Ordnung zu sorgen. Zugegeben, es war nicht gerade feine Lebensart, so ungewaschen in ein zerwühltes Bett zu steigen, quasi wie die Wutz im Sündenpfuhl zu suhlen... Wenn sich sein innerer Schweinehund mit der oft streng kontrollierten Libido verbündete, hatten Anstand und Takt keine Chance und konnten sehen, wo sie blieben! Jirou jedenfalls blieb in seinem Bett, kuschelte unaufdringlich mit dem Tiefschläfer an seiner Seite, fühlte sich pudelwohl. +~*~+ Obwohl es ein Auftakt nach Maß gewesen war, wie Jirou höchst zufrieden befand, musste doch umsichtig dafür Sorge getragen werden, dass keine Verlegenheit "am Morgen danach" aufkam. Sobald er also erste Anzeichen von Rückkehr in die Gegenwart registrierte, die der süße Schläfer preisgab, setzte er sich auf, wirrte mit grobem Rubbeln die widerspenstigen Locken aus den Augen, sann über eine günstige Strategie nach. Was würde Shin wohl jetzt besser gefallen? Ausgiebig planschen? Oder im Bett frühstücken? Hmmm.... Nach intensivem Ringen mit sich selbst entschied Jirou, dass eine Ausweichstrategie verhindert werden musste, die Leugnen förderte. Nicht selten wollte man ja nach durchzechter Nacht bloß noch vergessen! Ziemlich orgiastisch waren ihre Aktivitäten durchaus gewesen! "Shin, lass uns zusammen baden, ja?" Schnurrte er sanft in ein Ohr. Nach Jirous Eindruck wäre Shin einem Frühstück bestimmt nicht abgeneigt. Jedoch sollte vorher unbedingt die Bettwäsche gewechselt und gelüftet werden! Wenn er vielleicht ein klein wenig "genant" war, wollte er sich auch die hartnäckigen Überbleibsel ihrer Intimitäten abspülen. Shinji reagierte erst auf die zweite, süße Einflüsterung, drehte sich im Halbschlaf auf den Rücken, rieb sich mit kindlich geballten Fäustchen die verklebten Augenlider, sonderte ein unverständliches Brummen ab. Obwohl Jirou die Hand auf den Mund presste, konnte er das amüsierte Glucksen nicht ganz ersticken. "Uhhh...?" Shinji blinzelte, riskierte einen Blick auf die Welt. Sie sah definitiv NICHT wie üblich aus! Zum Beispiel saß sonst nie ein lachender Jirou an seiner Seite, attraktiv zerzaust, beobachtete ihn mit unverhüllter Begeisterung! "Uh...oh!" Ächzte Shinji, zog die Beine an, rollte sich über die Seite in eine sitzende Haltung. Dabei glitt natürlich die leichte Decke herunter, enthüllte seinen blanken Oberleib. "Ooohh..!" Winselte er hochnotpeinlich berührt. Jirou hatte längst die Decke gepackt und mit Verve weggeschleudert. Er war immerhin auch im Adamskostüm, hielt viel von der Gleichheit der Waffen! "Heeee....Jetzt sag nicht, du magst nicht mit mir baden, hmm?" Schnurrte er rollig, senkte die Lider auf Halbmast. Dabei rückte er mit rundem Rücken immer näher an Shinji heran, der so weit zurückwich, dass er ungelenk auf die Matratze plumpste, als er hintenüberfiel. Jirou zog sich ein wenig zurück, feixte breit, trällerte ohne Schlafzimmertremolo. "Guten Morgen, mein Herz! Wie geht's dir heute?" Shinji blinzelte, hochrot im Gesicht, suchte nach einer passenden Antwort. Ihm stiegen die Erinnerungen an den Abend in den Kopf. Er konnte gar nicht glauben, dass jedes Detail tatsächlich geschehen war. "Magst du mich nicht mehr?" Jirou zog bekümmert eine Grimasse, ließ die Schultern tief hängen. Eine kindliche Neckerei. Erstaunlicherweise flößte sie Shinji Selbstvertrauen ein. Er stemmte die Ellenbogen in die Matratzengruft, setzte sich auf, hob tapfer die Rechte an, streichelte behutsam über Jirous Wange. "Guten Morgen. Es geht mir...gut. Und..." Er keuchte auf, als müsste er den Mount Everest aus dem Stand bezwingen. "... und... ich mag dich. Sehr." Zwar spürte er unzweifelhaft, wie alles Blut in seinen Kopf schoss, aber das hatte schließlich auch einen Vorteil: es sorgte dafür, dass unterhalb der Gürtellinie sich nichts selbständig machte! +~*~+ »Es ist so einfach.« Stellte Jirou still-erfreut fest, während er sich an Shinjis nasse Wange schmiegte. Der stritt nicht herum, posierte, gab sich kokett oder versuchte, sich über Machtspielchen Vorteile zu verschaffen. Nein, man streckte ihm die offene Hand hin, er nahm sie und spielte mit. Ließ sich den Rücken und die Haare einseifen, lehnte auch nicht ab, sich in seine Arme zu schmiegen, damit sie beide in der Wanne Platz hatten. Nicht mal das automatische Summen aus purer Lebensfreude hielt er ihm vor! Stattdessen funkelte ein schüchternes Lächeln in den Mundwinkeln, wie Jirous scharfer Blick selig registrierte. Er drückte Shinji einen Moment fester, ließ locker, raunte in dessen Ohr. "Ich hab dich so lieb, Shin!" +~*~+ Shinji stellte plötzlich, ganz ohne Vorwarnung fest, dass er sich weder eingeschüchtert noch in ein Erwartungskorsett gezwängt fühlte, das ihm die Brust zuschnürte. Diese Erkenntnis kam so unvermutet, dass er abrupt während ihres gemeinsamen Frühstücks, das sie grinsend und einander spielerisch anstupsend zusammengestellt hatten, das Aufstrichlöffelchen in den Pflaumenmus fallen ließ, sich prompt verschluckte. Jirou reichte ihm hilfsbereit sein Glas, mit verdünntem Saft gefüllt, verzichtete darauf, ihm ordentlich ins Kreuz zu hauen. Das sollte angeblich helfen, tat es de facto aber nie, weil sich höchst selten ein kompletter Brocken quer in den Schlund legte. Mit tränenden Augen gelang es Shinji endlich, den Schluckauf zu vertreiben. Er bedankte sich artig. Jirou lächelte ihm munter zu, schmuggelte unaufgefordert noch einen letzten Schokokeks auf sein Tellerchen. Kein Frühstück für Supermänner, aber paradiesisch! Shinji nagte am Keks, sann über seinen Erkenntnisblitz nach. Er fühlte sich wohl mit Jirou. Ungezwungen, unangestrengt, war akzeptiert, ohne sich verstellen zu müssen. Und er hatte keine Angst. Nicht die Spur einer lähmenden Panik, sich auf irgendeine Weise unbeliebt zu machen, sich zu offenbaren und dafür geächtet, getriezt, bestraft zu werden. Jirou war einfach wunderbar. Ein Wunder selbst. Die Antwort auf eine Frage, die er für lange Zeit nicht einmal zu denken gewagt hatte. Es GAB einen Menschen auf der Welt, der ihn mochte. So wie er war. Der sich um ihn bemühte, ihm wohlwollte. Unvermittelt stiegen ihm Tränen in die Augen. Vor Glück und Ergriffenheit. Das winzige bisschen Hoffnung im hintersten Winkel seiner Seele war nicht getäuscht worden. Jirou, der ihm immer wieder aufmunternde, belustigte oder becircende Blicke zuwarf, reduzierte sein breites Lächeln angesichts des feuchten Schimmers in Shinjis Augen auf ein schiefes Grinsen des verlegenen Verständnisses. "Ich weiß." Raunte er sanft mit leicht belegter Stimme, streckte die Rechte aus, um sehr sanft über Shinjis glühende Wange zu streicheln. "Ich hab dich auch sehr lieb." +~*~+ Obwohl Jirou sich kein festes Programm vorgenommen hatte, da er es verabscheute, seine kostbare Freizeit wie einen Marathon mit stressbehafteten Aktivitäten zu absolvieren, war er doch für Vorschläge offen, wie man nach dem opulenten Frühstück den frühen Mittag bestreiten könnte. Shinji, der seine Arbeitstage regelmäßig im Großraumkäfig eines Büros verbrachte, in einer künstlichen Umgebung, der bloß eine mutierte, gehässige Zimmerlinde widerstehen konnte, machte den Vorschlag, sich doch die Füße in einem Park oder einer Grünanlage ein wenig zu vertreten. "Gute Idee! Wollen wir auch ein kleines Picknick machen? Ja?" Lobte Jirou enthusiastisch. Dabei produzierten die tiefschwarzen Augen einen derartigen Hundeblick, dass Shinji gar nicht anders als weich werden konnte. "Gern! Das würde mich sehr freuen." Grinste er schüchtern in das euphorische Feixen seines Freundes. Gemeinsam packte man also ein Körbchen, zuckelte los, gemächlich und beschwingt. Im Grünen waren sie zwar nicht allein, da auch viele andere den Samstag, ihre freie Zeit und das gute Wetter ausnutzen wollten, doch das störte sie nicht sonderlich. Den Korb am Henkel in der Mitte zwischen sich spazierten sie gemütlich dahin, lächelten angenehm berührt über jede kühlende Brise, die die Sommerhitze erträglicher gestaltete und blinzelten im Schattenwurf der Blätterdächer. Ihre Gespräche drehten sich um das, was sie sahen, Jugendliche mit einer einfachen Wurfscheibe, einen älteren Herren mit einem sehr herausgeputzten Pekinesen, einer Kindergruppe, die ein Ständchen probte und Jirous Erinnerungen an andere Spaziergänge im Grünen. Er ließ es sich auch nicht nehmen, von den Wäldern zu erzählen, die es in der anderen "Heimat" seines Bruders gab, groß, dunkel, urwüchsig und unheimlich. Spukgeschichten funktionierten natürlich nicht am helllichten Sonnentag, auch wenn ein kalter Grusel eine durchaus willkommene Erfrischung gewesen wäre. Shinji genoss jedoch Jirous lebhafte Beschreibung einer Welt, die er selbst auch nur durch die Erzählungen des Bruders kannte. Die Selbstverständlichkeit, mit der Jirou sich Thomas' Erleben zu eigen machte. Es musste herrlich sein, jemanden zu haben, auf den man unverbrüchlich vertrauen konnte, komme, was da wolle! Mit Einsetzen einer dunstigen Bewölkung, die vom Wasser her Hitzegewitter ankündigte, bummelten sie Richtung "Casa". Gerade noch rechtzeitig vor dem Trommelfeuer der dicken Tropfen erreichten sie das Haus. Mit einer gemeinsamen Dusche, spritzend und kichernd, machten sie sich frisch. Jirou schlug vor, es sich doch im Gewächshaus auf dem Flachdach bequem zu machen. Eine gerollte Matratze, ein paar Kissen, eine leichte Decke, dazu drei Glaslaternen und die alten Hörspiele, damit war die Kulisse für die Unterhaltung perfekt. Regen klopfte leise auf die Glasfläche, rauschte herab. Die zahlreichen Pflanzen in und außerhalb ihres Refugiums warfen anmutige Schattenspiele. Aneinander geschmiegt lauschten sie gespannt Abenteuern in fremden Galaxien, mutigen Weltraumhelden, perfiden Schurken und seltsamen Aliens. Shinjis Konzentration schweifte ein wenig ab. Es reizte ihn stärker, Jirous Mienenspiel zu verfolgen. Die gespannte Erwartung, obwohl er doch mit der Handlung vertraut war, seine ansteckende Fröhlichkeit über jedes Happyend, die Faszination für eine fremd-vertraute Welt, die allein durch ihre Phantasie lebendig wurde. Einem Impuls folgend streichelte er über die seidigen Locken, erwiderte tapfer das liebevolle Lächeln, das Jirou ihm schenkte. Woher kam bloß dieses Verlangen, Jirou zu berühren?! Alle Schranken der Gesellschaft zu überwinden und ihn anfassen, betasten, ja, schmecken zu wollen? Wieso war dieser Drang so stark, so überwältigend, dass er jeden vernünftigen Gedanken in den Hintergrund vertrieb, zu einem Zwang, einen gewaltigen Hunger wurde, der keine Alternative als seine Befriedigung akzeptierte?! Der "alte" Shinji wäre wohl in verständliche Panik verfallen ob der Ungeheuerlichkeit und Gewalt dieser Emotionen. Aber dies war der Tag "danach". Es war vollkommen in Ordnung, Jirou nahe sein zu wollen! Ihm auch mit Taten zu beweisen, wie sehr er ihn mochte! Jirou tat sein Übriges, diesem Verlangen Vorschub zu leisten: er mischte munter und durchaus erfahren mit. Zwar kam ihm kurzzeitig der Gedanke, es wäre klüger gewesen, das Massageöl in das Gewächshaus mitzunehmen, von Kondomen ganz zu schweigen, doch er konnte sich nicht überwinden, ihre wachsende Intimität mit kleinmütigen Vorbehalten zu unterbrechen. In kürzester Zeit war die Reise zum Saturn vergessen, kauerte Shinji über Jirou, küssten sie einander hingebungsvoll, während wechselseitig Hände auf Tournee gingen, ihre Bekanntschaft mit sich rasch erhitzender Haut zu erneuern. Hinderliche Textilien wurden abgestreift. Noch näher wollte man sich kommen, sogar einander durchdringen! Shinji dachte nicht mehr an Anfälle, Panik oder Scham. Sein Bewusstsein war überspült von der Begierde, die nie genug bekam, nie befriedigt war. Immer noch ein leidenschaftlicher Kuss mehr, immer wieder Muskeln, Sehnen, Knochen spüren, Atemzüge stehlen und den Triumph auskosten, wenn gutturales Stöhnen seinem eigenen Hunger antwortete. Nichts konnte sie aufhalten! Ein bisschen stärker ausreizen konnte man dieses intensive Verlangen, einen Wimpernschlag länger noch provozieren, locken! Noch einmal hecheln, die Erlösung herauszögern! Auch nach dem Höhepunkt, schnaufend, ächzend, umklammerte Jirou Shinji mit beiden Armen, hielt ihn so fest, wie er nur konnte. Mochte ihm auch noch blümerant vor Augen sein, so feierte er innerlich mit jeder Faser und jedem Nerv: Shinjis Leidenschaft hatte das Trauma seiner Jugendzeit niedergerungen! Da war es nur zu verständlich, dass er ein wenig schniefte! +~*~+ »Ein bisschen übermütig sind wir schon!« Dachte Shinji verschmitzt, als sie am nächsten Morgen gemeinsam benutztes Geschirr spülten und einräumten. Wer konnte es ihnen verdenken? Wie ein frisch verliebtes Paar nach DIESER Nacht zu turteln, das war doch normal! Immer wieder hatten sie einander herausgefordert und liebkost, bis nach dem allerletzten Höhepunkt die Erschöpfung zu groß gewesen war, um sich gegen den Schlaf noch einmal erfolgreich zu wehren. Das Spiel konnte man jedoch getrost am Sonntag früh unter der Dusche fortsetzen, bevor es zur Entspannung in die Wanne ging. Um im Heiligtum der Küche ungeniert zu flirten, eine offene Deckung auszuspähen und mit Küssen zu markieren. Jirou sah auch nicht ein, warum er Shinji nicht einfach mal wie zum Tanz im Arm herumschwingen sollte, ihn um die schlanke Taille fassen, dazu melodiös zu trällern! Gerade hatte er die Arme eng um Shinji gelegt, raunte ihm zärtlich ins Ohr. "Oh weh, wenn du mich nicht aufhältst, mache ich den ganzen Tag so weiter! Knabbere in einer Tour an dir!" Diese Drohung wies zwar keinerlei Schrecken für Shinji auf, er dechiffrierte die Botschaft jedoch amüsiert: wollte er eine etwas zivilere Beschäftigung, musste er aktiv werden. Sonst würden sie unweigerlich wieder auf einer Matratze landen, fortsetzen, was ihnen so viel Vergnügen verschafft hatte. "Lass uns ein wenig spazieren gehen, ja? Ein bisschen bummeln, hm?" Er kraulte sanft durch die knisternden Locken, die ihm so viel schöner erschienen als die eigenen glatten, schweren Strähnen. Jirou legte die Stirn an seine, lächelte ihn herausfordernd an. "Also gut! Pass bloß auf, dass du dich nicht noch mehr in mich verliebst!" Er hatte vor, mit Shinji ein wenig Straßentheater zu bieten. Wozu war er schließlich Langfinger, Trickkünstler und passionierter Zauberer in allen Lebenslagen?! +~*~+ Obwohl Thomas sich sicher war, NIEMALS geräuschlos ein Haus oder ein Zimmer betreten zu können, hatte er offenkundig nicht genug Lärm gemacht. Oder, die ihm durchaus sympathischere Alternative: seinem verrückten, liebenswerten Bruder und dessen Schatz war ein zärtliches Techtelmechtel so wichtig und so selbstverständlich, dass sie nicht auseinanderschreckten, weil ein Dritter die Küche betrat. "Nanu, da bist du ja schon!" Begrüßte ihn Jirou strahlend, offenkundig bis über beide Ohren verliebt, ein klein wenig euphorisch. Shinjis rote Wangen und das selige Lächeln gaben Thomas preis, dass Jirous Optimismus gerechtfertigt war. "Tag auch." Brummte Thomas sonor, stellte seine Mitbringsel auf den gewaltigen Küchentisch, stemmte die großen Hände in die mächtigen Seiten, beäugte die beiden Männer streng. "Hm! Gut so!" Grummelte er endlich sein Urteil. Ein starker Auftritt. Hätte nicht Jirou nach einer Sekunde Verblüffung schallend zu lachen begonnen, weil ihm das amüsierte Zucken in den Mundwinkeln trotz Bart nicht entgangen war. +~*~+ "Die ist furchtbar!" Flüsterte Jirou seinem Bruder zu, als er eine weitere Kiste Richtung Transporter schleppte. Damit konnte niemand anderes als Frau Oogata gemeint sein. Der Feldwebel verfolgte mit eisigem Blick, unnachgiebiger Haltung und demonstrativ auf Spähposition Shinjis Auszug. Der hatte schon wieder den Kopf wie eine Schildkröte eingezogen, krümmte sich unter der Missbilligung, die Frau Oogata ausströmte. Sie wartete nur auf einen Fehltritt, ein Versäumnis, um den Dritten Weltkrieg vom Zaun zu brechen! "Hrmpf!" Knurrte Thomas, der selbstverständlich beim Umzug half. Auch wenn es ein anderes Leben sein würde, zu dritt in der Casa, mit Shinji als Liebstem seines Bruders, sah er dieser Veränderung gelassen entgegen. Er mochte Shinji. Nicht nur um Jirous Willen, sondern weil der scheue, junge Mann ein gutes Herz hatte, sich aufrichtig um das Wohl seines Bruders bemühte. Seine Liebe erwiderte. Mit einem Blick maß er die Situation ab. Die aufgeblasene Alte musste weg! Sie ärgerte Jirou, weil der sich um den verschüchterten Shinji sorgte. Jirou war ein zu netter Kerl, um die notwendigen Mittel ergreifen zu können. »Was für mich kein Thema ist!« Thomas kannte sich aus. Er hatte keinerlei Skrupel, wenn es um seinen Bruder und dessen Wohlergehen ging. Ohne viel Federlesens streifte er sich das lockere Hemd ab, entblößte seinen mächtigen Oberkörper. Weiße Haut, darauf zahllose Sprenkel und darüber ein dichter, rotgoldener Pelz, der es mit Sean Connerys beeindruckender Erscheinung aufnehmen konnte. Wie ein nordischer Hüne aus uralten Sagas baute er sich vor Frau Oogata auf, grumpfte bloß aus gutturalen Untiefen, verschränkte dann die muskulösen Arme vor der Brust. Seine schiere Präsenz war überwältigend. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine SEHR große Menge bloßer, pelziger Haut offenbart wurde, die ganz und gar nicht dem klassischen, japanischen Schönheitsideal entsprach. Anders ausgedrückt: Thomas wirkte wie ein grobschlächtiger, unkultivierter Barbar. Frau Oogata verschlug diese Frechheit erst die Sprache, dann taumelte sie zurück, als Thomas einen Schritt nach vorne machte und grunzte. Sie floh mit fliegenden Fahnen in die Sicherheit ihrer Wohnung. Deutlich hörte man, wie die Tür abgeschlossen wurde. Thomas grinste zufrieden im Schutz seines Bartes. Er wandte sich um, zwinkerte dem fassungslosen Shinji und seinem sichtbar erheiterten Bruder Jirou zu. "Passt scho!" Versicherte er. Damit war alles gesagt. +~*~+ Ende +~*~+ Danke fürs Lesen! kimera