Titel: Familienbande Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Fan Fiction Love Pistols/Sex Pistols (siehe Informationen) FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Erstellt: 07.08.2010 Disclaimer: + Sex pistols (englischer Titel Love pistols) ist ein Manga von Tarako Kotobuki + Youjimbou (Leibwächter) bezieht sich auf den 1961 von Akira Kurosawa gedrehten Samuraifilm. ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# ~~~~~# Familienbande Kapitel 1 - Die Annonce "Und?!", angespannt federte Tarou von der harten Sitzbank hoch, beäugte seinen besten Freund mit bangen Blicken. Yukimaru zuckte alles- und nichtssagend mit den mageren Schultern, streckte seine Hand nach der Plastiktüte aus, die ihm als Schulmappe diente. "Geht's dir denn wieder besser?" Tarou gab nicht auf, hängte sich an Yukimarus Fersen, besorgt vorgebeugt, darauf konzentriert, die Stimmung seines Freundes zu lesen. Üblicherweise hätte Yukimaru an dieser Stelle, um ihm einen Gefallen zu tun, wie immer geknurrt, "geht schon", doch diese Versicherung blieb aus. Und das gefiel Tarou ganz und gar nicht. "Kannst du bitte einen Moment warten?", verlegte er sich auf eine andere Taktik, "nur einen Augenblick, ja?" Er lächelte freundlich-flehend in das maskenhafte, spitze Gesicht seines Freundes und spurtete dann eilig den Gang hinunter, um zwei weitere Biegungen, bis er die Verkaufsautomaten erreichte. Hastig suchte er einige Münzen aus seiner Hosentasche zusammen, stellte rasch seine Schulmappe auf den Boden zwischen die Beine und flipperte zwei Getränkepäckchen. Ein sich selbst erhitzender Tee wäre ihm zwar lieber gewesen, doch erstens verfügte er nicht über genügend Kleingeld für zwei Dosen und zweitens hielt er eine Dosis Kalzium für dringend notwendig. Er stapelte die beiden eckigen Papptüten übereinander, las seine Mappe auf und galoppierte den Weg zurück, darum bemüht, keine Geräusche zu erzeugen. [Auf den Gängen wird nicht gerannt!], mahnte nicht umsonst eine Tafel. Wurde man dabei ertappt, hieß es zwei Stunden Nachsitzen. Wobei man weniger saß, als dazu angehalten wurde, Müll zu sortieren oder Unkraut auszurupfen. Yukimaru lehnte an einer Säule, den Kopf abgewandt, sodass Tarou sein Mienenspiel nicht ergründen konnte. Erneut registrierte er aber betroffen, wie mager, beinahe ausgemergelt, sich die Silhouette seines besten Freundes ausnahm. Lange würde das nicht mehr gutgehen. Und DAS wussten sie beide. "Ah, danke schön!", betont fröhlich strahlte er Yukimaru an, "ich weiß nicht, warum ich plötzlich solchen Durst bekommen habe, aber...", er zuckte verlegen mit den Schultern. "Leistest du mir netterweise Gesellschaft?" Yukimarus Mundwinkel zuckten spöttisch,. "Du brauchst wohl einen Komplizen bei deinen verwerflichen Gelüsten, wie?" "Herrje, ist es so offenkundig?" Tarou biss sich verlegen auf die Unterlippe, neigte den Kopf leicht, damit sein langer, schräg gescheitelter Pony eine Gesichtshälfte verbarg. "Na los", Yukimaru übernahm die Führung, suchte einen Gang aus, der an einer Fensterfront endete. Die Schulmappe bzw.-tüte zu Füßen hielten sie inne, öffneten die Calpis--Tüten und wünschten "Kampai", bevor sie sie an die Lippen setzten. Danach unisono einen langen, genießerischen Seufzer ausstießen, als hätten sie exklusiven Sake verkostet. Was sich selbstredend ausschloss, denn sie waren erst 14 Jahre alt und befanden sich in einer öffentlichen Schule. "Danke", sagte Yukimaru ruhig, mit seiner hellen, glasklaren Stimme, und damit war die Angelegenheit erledigt. Sie betrieben dieses Spiegelgefecht seit ihrer ersten Begegnung. Die Regeln waren simpel: Tarou gab vor, etwas zu wollen und sich allein zu genieren. Yukimaru als sein bester Freund leistete ihm deshalb Gesellschaft, und so kamen sie beide zu einer befriedigenden Übereinkunft. Ohne dass sich Yukimaru als Bittsteller oder Bettler vorkommen musste. Stumm, immer mal wieder einen Schluck der milchigen Flüssigkeit nehmend, studierten sie die Szenerie jenseits der Glasscheiben. Sie war trübe, wenig einladend und eher düster. Kein Wunder, Anfang Januar, wenn es ungemütlich kalt war und der eisige Wind vom Meer her eine Ahnung von Schnee blies. "Brrrrr!", klapperte Tarou mit den Zähnen und illustrierte seine Stimmung. Er bevorzugte den Frühling oder den Herbst, wenn in der Natur die Farben explodierten, die Luft frisch und gleichzeitig vielversprechend duftete. Dann warf er einen vorsichtigen Seitenblick zu Yukimaru hinüber. Sollte er nachfragen? Unwillkürlich nagte er an seiner Unterlippe, zog die Stirn in winzige Falten. Es war ja wirklich nicht so, als würde Yukimaru ihn anschnauzen oder abblitzen lassen, nein, bestimmt nicht, aber... Nervös und beunruhigt verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam ihn mit bedrückender Gewalt. Dann schrumpfte er in sich zusammen, wurde klein und schwach, ein Jammerlappen, der sich winselnd verkriechen wollte. "...ich muss nachdenken", bemerkte Yukimaru versonnen. "Worüber, Yuki?" Tarou schwang sich hoffnungsfroh nach diesem Strohhalm über den Abgrund der eigenen Unzulänglichkeit. Yukimaru klemmte sich eine widerspenstige Locke, die dem Zopf entkommen war, hinter das Ohr. Er legte beide Handflächen auf das Glas der Fensterscheibe und studierte seinen Spiegelzwilling. Was ihm entgegenblickte, gefiel nicht sonderlich. Selbst wenn er sich nicht mit seinem besten Freund Tarou verglich, dessen besorgte Miene die aufgesetzt fröhliche Haltung konterkarierte. Nein, sein Gegenüber war zu klein, viel zu dürr, mit einer grässlich weißen Haut, die an Porzellan oder Resin erinnerte, spitzknochig und hohlwangig. Dazu lächerlich pompös die dunkelrote Lockenflut, die selbst gestutzt wie eine Korona um ihn aufbauschte, sämtliche Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Er beugte sich vor und lehnte auch die Stirn an das frostkalte Glas an, funkelte seinen Spiegelzwilling ärgerlich an. Aber es gab kein Vertun: mittlerweile war seine Iris so dunkel wie Bordeaux. Yukimaru kannte die Farbspektren auswendig, die das Fortschreiten seiner Erkrankung beschrieben und er WUSSTE, dass die nächste Stufe die letzte war. Dann würde er schwarz sehen... oder präziser: gar nichts mehr. Zögerlich und sehr behutsam legte ihm Tarou einen Arm um die Schultern. "...wie viel Zeit haben wir noch?", flüsterte er tollkühn. Yukimaru zog eine Grimasse. Wie typisch für Tarou! Dann schämte er sich für die kurz aufbrodelnde Aggression. Natürlich war es allein SEIN Problem und Tarou hatte damit nichts zu schaffen, aber, OFFEN UND EHRLICH, wollte er das tatsächlich so sehen?! Sich auch noch von ihm abschotten? Er drehte sich herum und hörte das statische Knistern seiner dicken, elastischen Locken, die über das Glas rieben. "Nicht mehr viel", antwortete er schließlich, schauderte beim kristallklaren Klang seiner Stimme. "Vielleicht noch ein halbes Jahr. Aber nicht mehr, bis ich Geburtstag habe." Tarous schmales Gesicht, halb versteckt hinter dem langen Pony, der schräg aus dem Gesicht gekämmt wurde, zeigte einen bestürzten, unglücklichen Ausdruck. "DESHALB", betonte Yukimaru hastig, "muss ich nachdenken. Hab nämlich keine Lust, auch noch blind zu werden." "Ich helfe dir!", versicherte Tarou ihm eilfertig, nickte heftig, "ich bin dabei! Gar keine Frage!" "Wusste ich!" Yukimaru klopfte ihm auf eine Schulter und verkniff sich die zynische Bemerkung, er hätte selbst gern gewusst, bei was GENAU ihm sein Freund beistehen wollte. ~~~~~# Yukimaru versenkte die kleinen Fäuste tief in die Taschen des übergroßen Mantels. Sah man von der Unterwäsche ab, passten ihm sämtliche Kleidungsstücke, ob Socken oder die Schuluniform, nicht. Sie waren schlichtweg zu groß. Daran hatte er sich allerdings im Lauf der Jahre gewöhnt, ebenso an die Tatsache, dass alles bereits gebraucht gespendet wurde. Immerhin, in seiner Position durfte man überhaupt keine Ansprüche stellen oder Erwartungen hegen. "Es wird sich eine Lösung finden", verkündete Tarou neben ihm gerade optimistisch, lächelte zu ihm herunter. "Muss", brummte Yukimaru, sicher hinter seine speziell beschichteten Brille. Sie verhinderte, dass aufgrund seiner Erkrankung seine Erblindung auf anderem Weg voranschritt. "Ich werde darüber nachdenken", Tarou gab nicht auf, zögerte, sich auf den Heimweg zu machen. Hier, an der großen Kreuzung, trennten sich ihre Wege nämlich. "Yupp", Yukimaru stieß ihm einen spitzen, knochigen Ellenbogen in die Seite, "schieb endlich ab, sonst frieren wir hier noch fest!" "Tja...dann bis morgen." Tarou verneigte sich leicht, lächelte ihm aufmunternd zu, bevor er sich umdrehte und langsam in Bewegung setzte. "Tsktsk", schnalzte Yukimaru mit der Zunge, zog die Schultern ein, um dem eisigen Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Er schniefte und zog die Nase hoch, setzte einen Fuß vor den anderen. War das Kasteien wirklich vergeblich gewesen? Hatte er bloß Zeit herausgeschunden, um am Ende zu verlieren? »NIEMALS!«, schwor er sich selbst. ~~~~~# Tarou verschränkte die Arme unter dem Nacken und blinzelte hoch zu dem kleinen Stoffpüppchen, das am Fenster baumelte und für gutes Wetter sorgen sollte. Wie konnte er Yukimaru bloß helfen? Allein die Ziffernfolge auf dem Ausdruck für die Operation hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben! Woher sollte man so viel Geld nehmen? Sicher, seine Eltern wären bestimmt bereit, Yukimaru ein wenig zu unterstützen, immerhin gehörte der fast zur Familie, aber... »Mach dir nichts vor«, wies er sich selbst zur Ordnung. SO VIEL Geld konnten seine Eltern niemals aufbringen. Man müsste einen Kredit aufnehmen, doch auf welche Sicherheit hin? Tarou seufzte laut, drehte sich auf die Seite, umarmte sich selbst und zog die Knie hoch vor den Leib. Es war nicht fair. Aber es schien ihm unmöglich, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. ~~~~~# In einiger Entfernung lag Yukimaru auf dem Hochbett, lauschte geistesabwesend den Atemzügen der 13 anderen Schlafgenossen und erwog, sehr viel gelassener, seine Optionen. Immerhin beschäftigte ihn dieses Thema bereits sein ganzes Leben. Sicher war eins: er würde keine Hilfe bekommen, die er nicht selbst auf die Beine stellte. Weder Kreditgeber noch soziale Einrichtungen würden sich für ihn stark machen. »Nein«, dachte er sarkastisch, »sollte ich unerwartet den Löffel abgeben, wären einige Leute garantiert nicht allzu unglücklich darüber!« Tatsache war nämlich, dass seine bloße Existenz ein Problem darstellte. So etwas wie ihn sollte es theoretisch gar nicht geben. »Aber«, er presste die Lippen aufeinander und zog unwillkürlich eine grimmige Miene, »ich BIN da! Und ich werde mich nicht so einfach entsorgen lassen!« Hatte er nicht durch eine strenge Diät bereits die Pubertät so lange wie möglich in Schach gehalten, um Zeit zu gewinnen?! Das war nicht einfach, dafür benötigte man Disziplin und äußerste Entschlossenheit! »Und GENAUSO werde ich das jetzt auch meistern!« Gar kein Problem. ~~~~~# "...Yuki..." Tarou rutschte neben ihm unruhig auf seinem Stuhl hin und her. "Ich weiß schon, was ich tue!" Yukimaru klemmte unbewusst die Zunge in einen Mundwinkel ein, während er bedächtig den Text eintippte, immer wieder korrigierte. Mit zunehmendem Maß hatte er Schwierigkeiten, Texte auf Bildschirmen zu lesen. "...und du glaubst wirklich, dass..." Tarou ließ den Satz bedeutungsschwanger in der Luft hängen. Er wrang unter der ausziehbaren Platte die Hände, deutliches Anzeichen seiner Nervosität. Yukimaru grummelte, wandte sich seinem besten Freund zu. "Hör mal, Ta-chan", versetzte er streng, "entweder das, oder ich muss meine Organe verkaufen! Und das steht unter Strafe." Auch wenn es sicher nicht ganz einfach zu klären wäre, welcher Staat ihn anklagen würde. "Schon, ich verstehe ja..." Tarou seufzte, sein schmales Gesicht trug Trauer, "aber glaubst du wirklich...?" "Das wird schon funktionieren", bekräftigte Yukimaru, "außerdem entspricht alles der Wahrheit." Grimmig funkelte er die widerspenstigen Schriftzeichen an, die einfach nicht vor seinen Augen stillhalten wollten. "Das klappt! Und es ist auch nicht verboten." Gar kein Problem. "Also", rammte er seinen knochigen Ellenbogen in Tarous Seite, "kannst du noch mal Korrektur lesen?" Der rutschte mit unglücklichem Gesichtsausdruck heran und übernahm die Herrschaft über die Tastatur. ~~~~~# Nachdem sie die elektronische Anzeige geschaltet hatten, schlüpfte Yukimaru in seinen übergroßen Mantel. "Sag mir Bescheid, wenn sich jemand meldet, ja?", wiederholte er eine Aufforderung, der Tarou ohnehin nachgekommen wäre. "Selbstverständlich", murmelte der, erhob sich schwerfällig und wollte an der Garderobenstange seinen Mantel vom Haken heben. "Nichts da, die paar Meter kann ich allein gehen", ordnete Yukimaru streng an, "wir sehen uns ja morgen sowieso." "Aberichmussnochetwaseinkaufen", sprudelte Tarou in Hochgeschwindigkeit hervor, gab sich gar nicht die Mühe, glaubwürdig und überzeugend zu wirken. "Quatsch mit Soße", versetzte Yukimaru so sanft wie möglich, tippte Tarou vor die Brust, funkelte hoch in die dunkelbraunen Augen. "Ich bin schon groß, klar?! Na ja", schränkte er ehrlich ein, "zumindest relativ gesehen." Und damit ließ er Tarou allein in dessen kleinem Zimmer zurück, mit hängendem Kopf. ~~~~~# Yukimaru stapfte zum Waisenhaus, hoch aufgerichtet, auch wenn er für sein Alter ziemlich kurz und definitiv zu mager geraten war. Er war davon überzeugt, dass sein Plan aufgehen würde. »Ich werde NICHT blind!«, versicherte er sich selbst, »NIEMALS!« Man durfte sich nicht aufgeben, so einfach war das. ~~~~~# "He, Ta-chan", lässig tippte sich Yukimaru am nächsten Morgen mit zwei Fingern an die Schläfe. Es regnete, und seine dunkelroten Locken filzten aufrührerisch, kringelten sich, obwohl sie in einen geflochtenen Zopf gezwungen worden waren, der ihm auf den Rücken schlug. "Guten Morgen, Yuki", lächelte Tarou, aber seine fahrigen Gesten verrieten seinem besten Freund seit Kindergartenzeiten, dass etwas nicht in Ordnung war. "Hat sich schon jemand gemeldet?!", begeistert hängte er sich an Tarous Arm. "...ja, schon...", dehnte Tarou die Auskunft, formulierte mit der Vorsicht eines Übermittlers schlechter Nachrichten, "es ist allerdings nicht von einem Interessenten..." "Oh. Aha." Yukimarus Miene verdüsterte sich gewittrig, "lass mich raten: die Gesellschaft, nicht wahr?" Tarou nickte beklommen, der lange Pony hing wie Trauerweidengeäst unglücklich in seinem Gesicht. "Macht nichts", stellte Yukimaru fest, marschierte los Richtung Schulgebäude, "gib mir den Ausdruck im Trockenen." Dann, als Tarou ihm nur schleppend folgte, wandte er sich um, lief einige Schritte rückwärts, "damit war zu rechnen. Mach dir keine Sorgen deshalb!" Mit einer wegwerfenden Bewegung wischte er die Bedeutung der Gesellschaft für die Wahrung der Madararui-Rechte beiseite. Sie konnten ihm gar nichts. Dafür kannte man sich mittlerweile viel zu gut. ~~~~~# Yukimaru betrat selbstbewusst die repräsentativen Räume der Gesellschaft, von ihren Mitgliedern reich und bombastisch ausgeschmückt. Auf ihn wirkte das vornehme Gepränge eher wie ein Tempel im westlichen Stil, zu viel Marmor, Statuen, schwere Brokatvorhänge, Blattgoldverzierungen und Kübelpflanzen. Außerdem wurde der Aufenthalt in einer Schlangengrube auch nicht angenehmer durch gediegene Sitzlandschaften und hochflorige Teppichbrücken. Tarou hielt sich in seinem Windschatten, bange und eingeschüchtert. Kein Wunder, war sein bester Freund doch von Haus aus ein Hunde-Leichtgewicht und damit das Lieblingsobjekt ungezogenen Krafteinsatzes von allen anderen Madararui. Was Yukimaru selbstredend niemals zulassen würde. Und im Augenblick bestand auch gar keine Gefahr, dass jemand sich an Tarou herantraute, da Yukimaru nicht nur seine Blendtechnik einsetzte, sondern auch für Tarou eine andere wahre Seele vortäuschte. Er selbst hatte schon öfter hier Platz nehmen müssen, von einer hochnäsigen Angestellten der Gesellschaft abschätzig gemustert. Anderen Wartenden servierte man Gebäck und Tee, SIE wurden jedoch nicht weiter beachtet. "Vielleicht hätten wir meine Eltern...?" Tarou zupfte unruhig am Kragen seiner Schuluniform herum, steckte einen Finger zwischen steifen Bund und Hals, als würde ihm die Luft abgeschnürt. "Ach was." Yukimaru schüttelte ungeniert seine dunkelroten Locken aus, die vor Nässe dampften, "die können mir nichts. Und dir auch nicht", ergänzte er fürsorglich. Tarou klebte sich ein klägliches Lächeln auf das Gesicht, bemühte sich vergeblich, Zuversicht auszustrahlen. Eine unverschämte Viertelstunde später stakste eine weitere Angestellte auf sehr hohen Absätzen herbei, musterte sie abweisend und knurrte dann höchst unfreundlich, man möge ihr folgen. Yukimaru ließ sich Zeit damit, Schultüte und Mantel aufzulesen, schlenderte dann gemächlich hinter der ungalanten Botschafterin her. Er spürte Tarous Unruhe, die schon beinahe an Angst grenzte und drückte mit der freien Hand die seines Freundes aufmunternd. Es gab kaum jemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, wenn es darauf ankam. Deshalb konnte sich Yukimaru auch die Freiheit erlauben, stolz und unerschrocken aufzutreten. Hinter einer schweren, doppelten Flügeltür erwartete sie ein halbes Dutzend ernst blickender Frauen und Männer, die zumindest die Umsicht besaßen, nicht sofort mit ihren Kräften auf die beiden Jugendlichen einzuwirken. Yukimaru, der knapp einen guten Abend wünschte, hätte das auch wenig beeindruckt. Zwar bestand die Gruppe aus japanischen Schwergewichten unterschiedlicher Gattungen, doch es war niemand darunter, der seiner eigenen angehörte. Sie hatten sich hinter einer Phalanx von Tischen verschanzt, ohne Namensschilder und Funktionsbezeichnungen, dafür aber in großen Ledersesseln. Für ihn selbst stand ein einfacher Stuhl bereit. Yukimaru ignorierte ihn, legte simpel Mantel und Tüte ab und streckte die Hand nach Tarou aus, damit der ihm ebenfalls seine Sachen gab und die Sitzgelegenheit zur Garderobe umfunktionierte. Innerlich kochte er vor Wut. Sie wollten ihn wie vor ein Tribunal zitieren?! Auf ein Arme Sünder-Bänklein verfrachten, um über ihn zu Gericht zu sitzen?! »NA WARTE!« Dementsprechend spazierte er ungeniert bis vor die Tische, sodass sich die außen Platzierten verrenken mussten, um ihn in den Fokus zu nehmen. Die Hände auf dem Rücken verschränkt wippte er auf die Zehenspitzen, lupfte arrogant eine dunkelrote Augenbraue und zirpte, "nun?" NATÜRLICH war es ungezogen, ja, sogar ungebührlich. Vor allem aber vollkommen unerwartet. Deshalb wirkte sein Auftreten auch ausgesprochen schockierend auf den Ausschuss, der ihn anstierte wie eine Fata Morgana. Es MUSSTE sich um ein Trugbild handeln, weil NIEMAND JEMALS GEWAGT hätte, sich so vor ihnen aufzuführen! Unterdessen tippte Yukimaru ungeduldig mit der Fußspitze auf. "Also?" Der Vorsitzende räusperte sich missbilligend, denn obwohl Yukimaru nun wirklich nicht gerade groß geraten war, überragte er ihn in der stehenden Position doch. Und das beeinträchtigte die Gesprächsführung auf subtile Weise. Untergrub die Autorität. "Wir haben diese Anzeige gelesen", knarzte er vergrätzt los, ein älteres Schlangen-Schwergewicht, das derlei Respektlosigkeiten gar nicht verknusen konnte. "Das ist ungeheuerlich!" "Ich sehe nicht, warum", entgegnete Yukimaru unerschrocken, spazierte vor den Tischen auf und ab. "Warum?! WARUM?!", der Rechtsaußen schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf, "welche Unverschämtheit! Was denkst du eigentlich, wer du bist?!" Yukimaru wischte sich eine dunkelrote Locke aus der Stirn, hielt dem wütenden Blick mühelos stand. Lediglich seine Augenbrauen begrüßten sich über der Nasenwurzel zu einem grimmigen Stelldichein. "Ich WEISS genau, wer ich bin", entgegnete er scharf und genoss das seltene Vergnügen, ALLE zusammenzucken zu sehen, weil seine Stimme trotz der Höhe einen Effekt hatte wie lange Fingernägel auf einer Schiefertafel. "Sie alle haben es mir mehrfach vor Augen geführt." Er schlenderte wieder zum Vorsitz, stützte sich ungeniert auf der Tischplatte auf, "haben Sie mir nicht gesagt, dass ich nur pro forma, quasi aus Gründen der Humanität, hier leben darf? Unter Ihrer Aufsicht?" "Deshalb verbieten wir auch...", polterte ein anderer los, doch Yukimaru fiel ihm unhöflich ins Wort, "DAS KÖNNEN SIE NICHT!" Den Arm ausgestreckt drehte er langsam eine Runde, "DAS können Sie gerade nicht tun", zischte er schrill. "Sie wissen genau, dass Sie keine Handhabe gegen mich haben! Sie können mich nicht belangen! Und wenn Sie sich einmischen, wird man in der Öffentlichkeit nur sehen, dass sich ein paar alte Männer und Frauen gegen ein Kind zusammenraufen!" Dass Yukimaru recht hatte und ihnen deshalb derartig frech ihre eigene Machtlosigkeit vorhielt, brachte das Fass zum Überlaufen. Nach einer Schrecksekunde über dessen Unverfrorenheit brach ein Tumult los, ein kakophonisches Gezeter und Geschrei, Drohungen und Prophezeiungen. Yukimaru machte kehrt, sammelte seinen Mantel und die Schultüte vom Stuhl, zwinkerte dem angstbleichen Tarou keck zu und verließ mit ihm beschwingten Schrittes das Gebäude. Manchmal fühlte sich Yukimaru wie ein verkappter Held. ~~~~~# "Ob das so klug war?" Tarou klammerte sich mit zitternden Fingern an seine heiße Schokolade. Üblicherweise ein absoluter Luxus, den er sich nur sehr selten gönnte, aber nach DIESER Aktion bedurften seine armen Nerven unbedingt einer Stärkung! "Werden wir sehen", Yukimaru zuckte mit den Schultern. "Die sind sich gar nicht so einig, wenn es um den Profit für die Familie geht", versicherte er zuversichtlich. "Ich verstehe nicht", Tarou nippte an seiner Tasse, "warum sie sich überhaupt eingemischt haben." Dabei ließ er tunlichst unter den Tisch fallen, dass er für seinen Teil durchaus Angst vor Vergeltung hatte. Einfach, weil er als Augen- und Ohrenzeuge dabei gewesen war. "Damit keiner zuerst zuschlägt", antwortete Yukimaru ihm zynisch, "ich wäre ein verdammt guter Fang." DAS musste Tarou niemand sagen. Ja, wäre die Situation etwas anders gelagert, so hätte man Yukimaru bestimmt mit Wohlwollen begrüßt, ihn hofiert und mit Geschenken eingedeckt! "Denkst du...?", wagte Tarou einen Vorstoß. Konnte wirklich einer der Mitglieder des Ausschusses sich nun noch aus der Deckung wagen und Yukimarus Offerte annehmen? "Wer weiß", Yukimaru rührte in seiner heißen Schokolade und leckte den Löffel genießerisch ab. "Vielleicht", zwinkerte er Tarou herausfordernd zu, "sorgt gerade der Eklat dafür, dass sich noch mehr für mein Angebot interessieren?" Er grinste und stellte die schmächtigen Schultern aus, "ich meine, WER hat jemals gewagt, den Schrumpfköpfen Paroli zu bieten, hm?" Tarou leckte sich nachdenklich über die Unterlippe. "Da ist was Wahres dran", pflichtete er Yukimarus Überlegungen bei. Trotzdem hätte er sich wirklich eine andere Lösung gewünscht. ~~~~~# Yukimaru lag in seinem Hochbett und beguckte sich von innen, wie die Direktorin so fröhlich zu verkünden pflegte, wenn es hieß, schlafen zu gehen. Er horchte allerdings noch nicht die Matratze ab, sondern übte sich in seiner Fähigkeit, sich Texte wie Bilder vors innere Auge zu führen und abzulesen. So konnte man sich auch das Lernen erleichtern. Der Text, der ihm jedoch gerade gestochen scharf vor dem inneren Auge lag, hatte mit Schulstoff gar nichts zu tun. Es sei denn, man begriff das Leben selbst als Lektion. Immer wieder, wenn es ihm gerade mal wieder schlechter ging, ein weiterer Schub die drohende Erblindung näher brachte, bat er um einen Kostenvoranschlag. Für die rettende Operation. Kein Angehöriger der äußerst seltenen Gattung der Meeresgetiere unter den Madararui MUSSTE mehr in der Pubertät erblinden. Eine Operation konnte den seltsamen, chemischen Vorgang in der Iris aufhalten, das Augenlicht retten. Dafür war jedoch sehr viel Geld notwendig. Oder eine entsprechende Versicherung. Gegebenenfalls ein Darlehen auf eine Sicherheit. Yukimaru stand keine dieser Möglichkeiten zu Gebote. Er kannte seine Eltern nicht, lebte seit seinem Auffinden in dem Wickelraum einer Bahnhofsstation in einem Waisenhaus. Wurde lediglich so lange in diesem Land geduldet, bis es möglich war, seine ungeklärte Staatsangehörigkeit befriedigend aufzuklären. So gesehen war es schon eine großmütige Tat, dass man ihn in einem Waisenhaus unterbrachte und für sein leibliches sowie schulisches Wohlergehen sorgte. Nein, Yukimaru wusste das durchaus zu schätzen. Und er fürchtete und hoffte längst nicht mehr mit den in unregelmäßigen Abständen unternommenen Untersuchungen, ihn einer Familie zuzuordnen. Wer auch immer seine Eltern sein mochten: sie zeigten keine Anstalten, ihn aufzulesen. Aufgrund dieser Konstellation jedoch konnte er nur auf eigene Initiative bauen, wenn er sich trotzig seinem Schicksal entgegenstemmte. Das bedeutete, mit den Pfunden zu wuchern, über die er unbestritten verfügte: er war ein Madararui der höchsten Stufe. Meeresgetier. Beherrschte sämtliche Techniken. "Außerdem jung UND willig", flüsterte er leise. So GANZ ließ sich die Pubertät nämlich nicht mit Hungerkuren besiegen. ~~~~~# Tarou, der nicht zum Stillschweigen verpflichtet worden war, hatte zur eigenen Gewissensentlastung seine Eltern über die jüngsten Ereignisse in Kenntnis gesetzt. Man konnte nicht behaupten, dass seine Eltern nicht betroffen gewesen waren. Doch trotz ihrer veranlagungsbedingten Leichtigkeit verspürten sie ebenfalls eine gewisse Unruhe angesichts der Radikalität, mit der Yukimaru sich gegen die Säulen der Madararui-Gesellschaft stellte. "Aber er ist ja noch ein Kind", beschwichtigte Tarous Vater, der seinem Sohn eine wilde Mischung aus Afghane und Windspiel mitgegeben hatte, "das sollte man nicht vergessen!" "Richtig", Tarous Mutter, mit Collie- und Barsoi-Vorfahren ebenfalls eine verrückte Kombination, sprang für das "arme Kerlchen" sofort in die Bresche, "man hätte ihn da auch nicht allein vorführen dürfen! Ich verstehe nicht, warum sie ihm keine Hilfe angeboten haben!" Tarou verstand sehr wohl. Yukimaru war der lebende Beweis für eine schwärende Wunde, eine Niederlage, die man am Liebsten aus dem Gedächtnis verbannen wollte. Im Allgemeinen waren Madararui familienverbunden und extrem kinderlieb. Stammbäume und Dynastien wurden bis zum Exzess gepflegt und gehegt. Undenkbar, dass ein Madararui ohne Familie aufwuchs! Deshalb gab es auch nirgendwo auf der Welt ein Waisenhaus für Madararui! Doch trotz aller Anstrengungen und Vorladungen mit eidesstattlichen Versicherungen hatten sich Yukimarus Eltern nicht gefunden. Weshalb man sich einig war, dass er ein Ausländer sein musste, doch aus welchem Land?! Konnte man alle Madararui, die sich zur Zeit seines Auffindens im Land aufgehalten hatten, zu einem Gen-Test zwangsverpflichten?! Ausgeschlossen. Es war ja nicht einmal sicher, wann Yukimaru auf die Welt gekommen war. Oder wo. Tatsache blieb, dass er das Ergebnis einer normalen Schwangerschaft darstellte. Und von seiner Mutter (oder den Eltern gemeinsam) an einem Ort abgelegt worden war, wo man ihn rasch fand und er in der Zwischenzeit keine Gefahr zu fürchten hatte. Für Tarou war das ein Beweis dafür, dass zumindest seine Mutter Yukimaru geliebt hatte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein unerwünschtes Kind abzutreiben oder umzubringen. Doch sich neun Monate lang um es zu kümmern und es dann so umsichtig fremden Leuten anzuvertrauen, das zeugte doch davon, dass Yukimaru nicht unwillkommen gewesen sein musste. Redete er sich ein. Yukimaru ließ sich in seiner Gegenwart selten über dieses Thema aus, teilte aber nach eigenem Bekunden diese Einschätzung. Gegenüber seinem besten Freund gab er zu erkennen, dass er seinen unbekannten Eltern nicht nachtrauerte, sie auch nicht verurteilte. Vielleicht hatten sie keine andere Wahl gehabt? In jedem Fall lebte er hier und jetzt! Und war nicht willens, sich aufzugeben! Tarou seufzte und umarmte den lädierten Plüschbären, der auf seinem Bett Wache hielt. Er bewunderte den unerschrockenen Mut seines Freundes sehr. Yukimaru hatte Traute für Zwei! Das war schon immer so gewesen und nicht unbedingt alleiniger Ausfluss seiner genetischen Disposition als Meeresgetier. Deutlich erinnerte er sich an den Tag, an dem er ihn kennenlernte. Es war eine dieser entsetzlichen Situationen gewesen, die ihm damals sein noch junges Leben schlichtweg zur Hölle machten. Hatte er bei seinen Eltern ein fröhliches, liebevolles Zuhause, endete das augenblicklich, sobald er heulend und zitternd über die Schwelle des Kindergartens gereicht wurde. Ein Hunde-Leichtgewicht war Beute. Sein ganzes Leben lang. Die anderen machten sich einen Spaß daraus, ihn derart einzuschüchtern und mit ihren Kräften zu terrorisieren, bis er sich einnässte. Das gefiel ihnen und provozierte bei Tarou Selbsthass. Weil er sich nicht wehren konnte. Weil unerklärliche Kräfte ihn dazu brachten, die Körperkontrolle zu verlieren. An diesem Tag, als er schluchzend in einer kleinen Pfütze Urin kauerte, erschien ein kleiner Junge mit dunkelroten, wilden Locken und einer Haut weiß wie Schnee. Die damals noch hellroten Augen warfen ihm einen langen Blick zu. Tarou hoffte bloß, dass der neue Junge ihn nicht auch noch quälen würde. An diesem Nachmittag jedoch gingen eine ganze Menge anderer Madararui in Ersatzunterwäsche und ziemlich belämmert nach Hause. Yuki fand es nämlich doof, dass sie blöde Streiche gegen Ta-chan ausheckten. Damit war für Tarou eine Freundschaft fürs Leben angezeigt, mindestens aber bewundernde Gefolgschaft. Er hatte Yukimaru seine schönste Glasmurmel geschenkt und ihn überall herumgeführt. Tatsächlich waren sie seit diesem Tag, als Yukimaru Tarou von den Quälgeistern befreite, nahezu unzertrennlich. Manchmal fragte er sich, ob es Yukimaru überhaupt auffiel, wie sehr der ihn im Alltag beschützte, weil der so ganz selbstverständlich und beiläufig dafür sorgte, dass niemand Tarou ausnutzte. Vielleicht war es eine angeborene Nobilität, der sich sein Freund verpflichtet fühlte? Dass es die Aufgabe des Stärkeren war, Schwächere nicht herumzuschubsen? Die unverbrüchliche Loyalität zueinander, das wusste Tarou, brachte Yukimaru keineswegs Freunde ein. Andere Madararui neigten dazu, sich in der Gesellschaft Gleichgestellter aufzuhalten. Oder sie suchten die Protektion der Schwergewichte. Niemals wäre aber jemand auf die Idee gekommen, dass ein Leichtgewicht einfach mit einem Meeresgetier herumzog! In gewisser Weise versaute es die gesellschaftliche Ordnung der Madararui! Wie gut, dass dieser unverschämte Kerl mutmaßlich ein Ausländer war! Und kein Wunder, dass sich die Eltern seiner entledigt hatten! Tarou empfand solche Äußerungen und die dahinterstehende Einstellung als grausam und beschämend. Mochte er auch nur ein Hunde-Leichtgewicht sein, aber so eine Gemeinheit wäre ihm nie in den Sinn gekommen! Deshalb bedrückte es ihn jetzt, dass er seinem besten Freund nicht helfen konnte. ~~~~~# Yukimaru runzelte die Stirn und ignorierte seinen grummelnden Magen. Durch die strenge Diät, die er sich selbst verordnet hatte, um die Pubertät hinauszuzögern, hatte er sich an ein ständiges Hungergefühl gewöhnt. Auch an die peinlichen Momente, wenn ihm einfach die Beine wegsackten und er umfiel. Da waren die buschigen, aufgeplusterten, wilden Locken wenigstens mal zu etwas nütze! Er landete nämlich gedämpft und verletzte sich nur selten. "Denkst du, dass es ein gutes Angebot ist?" Tarou beäugte ihn unruhig. Eine Woche war seit ihrem Auftritt vor dem Ausschuss vergangen, und er hatte diese Antwort als einzige Reaktion auf Yukimarus Anzeige mitgebracht. Ein größeres Echo hatten sie sich beide erhofft. "Finden wir raus", bestimmte Yukimaru entschlossen, blinzelte dann hoch in Tarous dunkelbraune Augen. "Lass uns erst mal recherchieren, wer diese Tante überhaupt ist." "Genau", eifrig nickend wischte sich Tarou die überlangen Ponysträhnen auf die Seite, "komm mit zu mir, ja?" Er befand nämlich, dass Yukimaru unbedingt mal wieder ein gutes Abendessen verspachteln musste! ~~~~~# Am Ende saßen sie zu viert vor dem Computer, studierten das Who is Who der Madararui-Gesellschaft. Madame Tatsuko Amashiki stand einer der ersten Familien im Land vor, gehörte zu den Drachen-Schwergewichten und war das Oberhaupt einer einflussreichen Unternehmensgruppe. "Warum das Angebot?" Tarous Vater rieb sich über die struppige Krause seines Hinterkopfs, beinahe so hellbraun wie die schönen, glatten Strähnen seines Sohnes. "Tja", nachdenklich schenkte seine agile Frau eine weitere Runde grünen Tees aus und schob sich eine gesalzene Pflaume in den Mund, "dasch ischn Din!" "Sie hat jedenfalls die Mittel, um ihre Seite der Abmachung einzuhalten", stellte Yukimaru entschieden fest. Und das war für ihn von vorrangiger Bedeutung. Man durfte sie bloß nicht merken lassen, dass sie im Moment die einzige Kundin war. Denn dann könnte sie versuchen herumzufeilschen! »Nicht, dass ich mich darauf einlassen könnte.« Denn was er tat, musste ihm die Operation finanzieren, einen anderen Grund hatte er nicht. "Ich werde sie einfach treffen und dann weitersehen", legte er den nächsten Schritt fest. "Ich könnte dich begleiten, Yuki", Tarous Vater tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Eine sehr großherzige, mutige Offerte. "Danke schön", Yukimaru lächelte, enthüllte seine spitzen Zähne, "ich weiß das wirklich zu schätzen. Aber ich möchte zunächst mal allein das Gelände sondieren. Diese Madame soll nicht gleich wissen, dass ich Verstärkung in der Hinterhand habe." An diesem Abend schlief er sehr zuversichtlich ein. ~~~~~# "Ich werde hier warten", wiederholte sich Tarou erneut. Seine windschnittige Läufergestalt passte sich mühelos in eine Nische des Gebäudes ein. "Danke schön", antwortete Yukimaru geduldig, "warum setzt du dich nicht da drüben in das Café? Hier ist es saukalt. Ich werde dich bestimmt nicht verpassen." "Schon, aber..." Tarou war entschlossen, ebenfalls ein Opfer zu bringen und seien es eingefrorene Zehen. "Na los", drängte ihn Yukimaru grinsend, "niste dich drüben ein, okay? Bringt mir nichts, wenn du mir mit abgefrorenen Fingern Glück wünschst!" Das war einzusehen, deshalb ließ sich Tarou widerwillig auf den Standortwechsel ein. Immer wieder drehte er sich nach Yukimaru um, der vor dem gewaltigen Eingang des hochmodernen Gebäudes stand und ihm nachsah, bis er auch wirklich in das Café geschlüpft war. Dann pirouettierte er um 180 Grad und legte den Kopf in den Nacken, versuchte im Dunst die Spitze des Hochhauses auszumachen. Doch die verglaste Front verlor sich in den eisigen Nebelschwaden, die am frühen Abend vom Wasser her in die Stadt zogen. "Also los!", gab er sich selbst das Startsignal und marschierte forsch durch die gewaltige Drehtür, hielt auf den enormen Empfangsbereich zu. Ein junger Mann im Livree verneigte sich höflich vor ihm und führte ihn zu einem besonderen Aufzug, der offenkundig für VIPs reserviert war. Er drehte recht altmodisch einen speziellen Schlüssel, um die Vorzugsfahrt zu aktivieren. Yukimaru bedankte sich höflich und betrat den geschlossenen Käfig, den man in hellen Pfirsich- und Honigfarbnuancen ausgekleidet hatte. Schade, dass er nicht den Blick aus einem gläsernen Aufzug genießen konnte, doch andererseits war die Wetterlage nicht gerade günstig für eine atmosphärische Panorama-Umschau. Kaum dass er den Fuß auf den teuren Teppich gesetzt hatte, materialisierte sich vor ihm eine streng wirkende Frau, bat ihn, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ein Empfangszimmer mit zierlich geschwungenen Stühlen eines vergangenen Jahrhunderts, erleichterte ihn um Mantel und Schultüte und stellte in Aussicht, man werde ihn ohne Verzögerung zur Dame des Hauses geleiten. Yukimaru genoss die Wärme, schnupperte die parfümierte Luft und sah sich interessiert um. Immerhin kam es nicht oft vor, dass er solche Antiquitäten außerhalb eines Museums in Augenschein nehmen konnte. Seine Führerin räusperte sich verhalten hinter ihm und beendete seine neugierige Inspektion. Drei Flügeltüren später, die ihm das Gefühl einer unendlichen Flut von Räumen suggerierte, entließ sie ihn in ein gewaltiges Arbeitszimmer...oder einen Salon. Denn hier fanden sich nicht nur ein gewaltiger, zweifellos antiker Schreibtisch mit einem gepolsterten Ledersessel unter einem schweren Ölgemälde, sondern auch weitere zierliche Stühlchen um einen hübschen, dazu passenden Tisch, fein gedrechselt und weiß lackiert. Die Wände waren mit einer Stofftapete, die verdächtig nach altgoldener Seide aussah, verkleidet. Und typischerweise hatte man das chinesische Schriftzeichen für Drachen ebenso wie einen prächtigen Drachen nach klassischen Motiven eingewoben. Hinter dem Schreibtisch erhob sich eine schlanke, große Frau, in ein einfaches Kostüm gehüllt. Was Yukimaru signalisierte, dass es zweifellos sehr teuer und aus einem besonderen Wollstoff hergestellt worden sein musste. Er verbeugte sich höflich und stellte sich vor. "Ah", bemerkte seine Gastgeberin knapp, umrundete den Schreibtisch und trat vor ihn. Unerwartet kräftig packte sie sein Kinn, drehte seinen Kopf, musterte ihn eingehend. Üblicherweise hätte sich Yukimaru gewehrt und mit heftigen Worten losgemacht, doch er bewahrte die Ruhe und kühlen Kopf. Sie war mächtig, das spürte er selbstredend, ein wahres Drachen-Schwergewicht. Und außerdem eine potentielle Kundin. "Erstaunlich", stellte sie kurz fest, mit einer rauen Stimme, die an zu viel Nikotin und lange Nächte in alten Schwarzweißfilmen aus Hollywood erinnerte. Yukimaru hielt sich schadlos, indem er sie ebenso eindringlich studierte. Konnte man ihr vertrauen? Würde sie eine zuverlässige Vertragspartnerin sein? "Du kannst mich Madame nennen", verkündete Tatsuko Amashiki schließlich großmütig, "also, kommen wir gleich zum Geschäft." ~~~~~# Zwei Stunden später verließ Yukimaru gedankenverloren das Gebäude. Inzwischen war es recht spät, und noch bevor er die Straße vollends überquert hatte, stürzte Tarou ihm besorgt entgegen. "Ist alles in Ordnung? Haben sie dich gut behandelt?", sprudelte er hervor, legte die Hände um Yukimarus dünne Oberarme. "Hmmm", brummte er verhalten, "gab sogar Kekse." "Und?" Tarou hielt die Ungewissheit nicht länger aus, hängte sich bei Yukimaru ein, damit der nicht davonspazieren konnte. "Tja, sieht so aus, als hätten wir einen Deal", kopierte Yukimaru amerikanische Vorbilder, seufzte dann profund. Tarous Augenbrauen kräuselten sich krisenerprobt, "und worin besteht das Problem, Apollo?" Yukimaru zog eine Grimasse, prustete ärgerlich eine dunkelrote Locke aus seiner Stirn, "das, Houston, sollten wir irgendwo in Ruhe besprechen." Weshalb sie sich auf einen Kinderspielplatz verzogen. ~~~~~# "Also", Tarou schmiegte sich neben Yukimaru in die große Betonröhre, klappte das Mobiltelefon auf, damit sie ein wenig Licht hatten, "sie bezahlt die Operation komplett?" "Yupp", Yukimaru blies sich auf die weißen Hände, die gar nicht so abgefroren aussahen, wie sie sich anfühlten. Oder besser gesagt gar nicht mehr anfühlten. "Und worin besteht der Haken?", für Eiertänze und Befindlichkeiten war es simpel zu kalt. Yukimaru zog die schmächtigen Schultern hoch, stierte leer auf den Beton. "Yuki?" Tarou beugte sich vor, um den Blickkontakt zu forcieren, "sie war doch nicht etwa gemein zu dir?!" "Iwo", schnaubte der, konzentrierte sich dann auf das schmale Gesicht seines besten Freundes. Das wurde jetzt, gelinde gesagt, etwas peinlich. "Na ja", entschloss sich Yukimaru, lieber über eine gewisse Schleife Houston anzufliegen, "erst mal hat sie ihren Leibarzt dazu bestellt. Der bestätigt hat, dass ich gesund und einsatzfähig bin." Yukimaru zog eine Grimasse eingedenk der Proben, die ihm entnommen wurden, um seine Konstitution festzustellen. "Dann hat sie mir erzählt, warum sie auf die Anzeige geantwortet hat. Immerhin bin ich ja quasi ohne Stammbaum!" "Also doch!", empörte sich Tarou, "sie war gemein!" "Neee", wiegelte Yukimaru ab, der den Verdacht hegte, seine Geschäftspartnerin hielte die tatsächliche Beleidigung noch zurück, "hat bloß betont, dass sie mich nimmt, weil ich Meeresgetier bin." Tarous Miene präsentierte deutlich, was er von einer solchen Einschätzung hielt. "Willst du nun zuhören, oder was?", rief ihn Yukimaru streng zur Ordnung. Daraufhin rollte sich Tarou eilig zusammen, signalisierte artige Aufmerksamkeit. "Also", holte Yukimaru erneut aus, "sie hat mir erzählt, dass sie drei Söhne und eine Tochter hatte. Die Söhne sind dazu erzogen worden, die Firma mit ihren ganzen Geschäftszweigen zu führen. Ganz prachtvolle Kerle, blablabla", winkte er Details ab. "Jedenfalls haben die drei Wunderknaben sich im letzten Jahr beim Heli-Ski selbst endgültig aus dem Verkehr gezogen." "Heli-Ski?", Tarou warf Yukimaru einen ratlosen Blick zu, "was ist das denn?" Sein bester Freund rieb die kalten Handflächen aneinander, "wenn ich das richtig verstanden habe, fliegt man mit einem Helikopter über irgendwelche Berge, springt dann auf Skiern raus und rast bergab. Dummerweise ist bei den Dreien der Helikopter gleich mitabgestürzt." "Oje", murmelte Tarou betroffen. "Genau", pflichtete ihm Yukimaru, "sie benötigt also andere Nachfolger. Und da komme ich dann ins Spiel." "Moment", Tarou hob eine schlanke Hand, "hast du nicht gesagt, dass sie eine Tochter hat?" "Exakt", Yukimaru nickte, weil Tarou aufmerksam zugehört hatte, "dummerweise hat die sich wohl mit dem falschen Typen davongemacht und ist aus dem Familienregister gestrichen worden." "...ach du meine Güte", Tarou schauderte. Was für eine irre Familie war das denn?! "Tja", die aufgewärmten Hände wieder in den Manteltaschen verborgen pirschte sich Yukimaru an den kritischen Punkt heran. "Es wird also ein Erbe gesucht. Die Tochter hat einen Sohn. Lebt in Amerika." "...ich verstehe nicht ganz...", Tarou richtete sich auf, rückte näher an seinen besten Freund heran, "...wo GENAU kommst du da ins Spiel?!" "Nun ja", Yukimaru schrumpfte ein wenig zusammen und schenkte Tarou ein unbehagliches Grinsen, "ich soll dessen Kind austragen." ~~~~~# Kapitel 2 - Quarantäne "Das geht NICHT!" Tarou verschränkte die Arme vor der Brust, das Gesicht abgewandt. "Doch, tut es!", widersprach Yukimaru mit abnehmender Geduld, "der Arzt sagt, dass ich dazu geeignet bin." "Davon spreche ich NICHT!", fauchte Tarou ungewohnt wütend. "Ich habe nun mal keine andere Wahl!", entgegnete ihm Yukimaru hitzig, "ich habe gedacht, du hättest das auch verstanden! Bettler können nun mal nicht wählerisch sein!" Tarou wandte ihm betroffen das Gesicht zu, "aber das kann nicht die Lösung sein! Du bist erst 14 und ein Junge!" "Pfff!", schnaubte Yukimaru verächtlich, "ich war dazu bereit, mit irgendeiner Frau zu schlafen, um mir das Geld für die Operation zu verschaffen! So groß ist der Unterschied auch nicht!" "Unsinn!", Tarou schäumte, wischte sich heftig über die dunkelbraunen Augen, "weißt du überhaupt, was das bedeutet?!" "Denkst du, ich bin blöde?!", giftete Yukimaru zurück, "im Übrigen brauche ich deine Erlaubnis nicht! Mach's gut!" Und damit ließ er Tarou einfach stehen, marschierte entschlossen zum Waisenhaus zurück. »Blöder Tarou!«, knurrte er aufgebracht, »da baue ich mal auf deine Hilfe und was tust du?! Aber wirst schon sehen, ich kriege das ganz allein hin! Ha!« Trotzdem irritierte es ihn, dass Tarou ihm nicht nachlief, sich mit ihm versöhnen wollte. ~~~~~# Am nächsten Morgen schwänzte Yukimaru kurzerhand die Schule, denn er musste von seiner Seite aus seine unmittelbare Zukunft regeln. Das bedeutete, mit der Direktorin zu besprechen, dass er für eine kurze Zeit bei einer Bekannten leben würde. Dann packte er seine wenigen Sachen zusammen und schulterte sie. Die Madame hatte versprochen, dass sich einer ihrer Angestellten um die Meldung an die Schule kümmern würde, wenn er den Vertrag unterzeichnete. Üblicherweise hätte das nur ein gesetzlicher Vormund tun dürfen, doch hier griff mal wieder seine ungeklärte Staatsangehörigkeit. Man hatte ihn daher schon im vergangenen Jahr für geschäftsfähig erklärt. In der Zeit, in der er bei der Madame wohnte, würde er per Fernstudium unterrichtet werden. Es stand nicht zu befürchten, dass er bis April den Anschluss verlor. »Das sind etwas mehr als drei Monate, dann ist alles gelaufen«, zwang er sich, an das Positive zu denken. Er wäre gut untergebracht, medizinisch voll versorgt und konnte danach mit normaler Sehkraft in sein altes Leben zurückkehren. Das war diesen geringen Preis wert... Auch dieses Mal wurde er zuvorkommend im Hauptquartier in Empfang genommen und in den privaten Arbeitssalon geleitet. Madame erwartete ihn bereits. Auch sie war daran interessiert, so schnell wie möglich die "Frucht" dieser Vereinbarung zu ernten. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug und er unerklärlich nervös war, setzte Yukimaru selbstsicher seine Namenszeichen unter den Vertrag. "Sehr schön", befand Madame, klatschte auffordernd in die Hände, "und nun wirst du gleich in die private Klinik gebracht. Dieser Amerikaner", sie verzog die Miene abschätzig, "wird in zwei Tagen eintreffen." Erst im Inneren einer geräumigen Limousine begriff Yukimaru, dass diese rätselhafte Bemerkung auf ihren Enkel gemünzt sein musste. ~~~~~# Yukimaru war ärztliche Untersuchungen zu seinem Leidwesen durchaus gewöhnt. Dieses Mal jedoch verlief es ganz anders. Schon als er den Untersuchungsstuhl erblickte, überlief ihn ein eisiger Schauder. Sich unten freizumachen, behagte ihm noch sehr viel weniger. Er ballte die kleinen Hände zu Fäusten, als der behandelnde Arzt ihn sachlich aufforderte, sich auf den Stuhl zu begeben. Wehrlos, die Beine gespreizt, neugierigen Blicken ausgesetzt hatte Yukimaru Mühe, Tränen der Scham zurückzubeißen. Plötzlich raste sein Puls, derart ausgeliefert zu sein. Er hörte kaum die knappen Erläuterungen zu dem, was ihn in Kürze erwartete. Denn es galt nun, einen teuren Wurm einzuführen, der den für die Schwangerschaft notwendigen "zweiten Magen" in seinem Leib ausbildete. Während der Arzt noch darüber referierte, dass man Yukimarus Ernährung dringend umstellen müsse, weil der in seinem gegenwärtigen Zustand mit den Veränderungen kaum umgehen würde können, schraubte er diverse Instrumente zusammen, die seinen Patienten in Angst und Schrecken versetzten. Der solle sich entspannen, man würde zunächst mal eine Darmspülung vornehmen, alles Routine. Nicht für Yukimaru. Der beherrschte zwar die Fertigkeit, sich konzentriert anzuspannen und selbst zu kontrollieren, hatte mit dem Gegenteil aber keine praktischen Erfahrungen. So sehr er auch die Fingernägel in die Handballen bohrte, Tränen wegschniefte und ein Schluchzen unterdrückte: die Schmerzen waren ihm unerträglich. Stirnrunzelnd hatte der Arzt endlich ein Einsehen. Und verabreichte Yukimaru eine großzügige Dosis von Schmerzmitteln. Bis an die Grenze der Bewusstlosigkeit betäubt sackte Yukimaru weg. ~~~~~# Stumm und aufgewühlt kauerte Yukimaru in den gut gepolsterten Ledersitzen der Limousine. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass die Pillen, die er in seiner Manteltasche gefunden hatte, eine milde Gabe seines behandelnden Arztes waren. Mit einer Botschaft: nimm mich, oder es wird noch schlimmer kommen. DAS konnte sich Yukimaru allerdings kaum vorstellen. Er fürchtete bereits jetzt den Augenblick, wenn die Betäubung nachließ. Da war er sogar für die Inkontinenzhose dankbar, die man ihm vorausschauend übergezogen hatte. Beinahe war er versucht gewesen, den ganzen Plan aufzukündigen. Doch den Zeitpunkt für eine Umkehr hatte er längst verpasst. Der Wurm wanderte gerade durch seinen Körper, würde bis zum nächsten Morgen, wenn die Leibschmerzen endlich nachließen, sein Ziel erreicht haben und an seinem Magen andocken. Und dann würde sein Körper von diesem Invasoren terrorisiert, weibliche Hormone auszustreuen. Damit er die entsprechenden Lockstoffe aussandte und paarungswillige Männchen anzog. »Ich hab doch nicht gewusst, dass es SO schlimm ist!«, beklagte er sein Leid. Aber jetzt war es zu spät. Er musste schwanger werden. ~~~~~# Obwohl er um seinen heimlichen Vorrat Angst hatte, schluckte Yukimaru eine kostbare Pille, damit er wenigstens die erste Nacht in der fremden Umgebung schlafen konnte. Das gewaltige Anwesen außerhalb der ausufernden Stadtgrenzen bestach mit historischen Räumlichkeiten, erinnerte beinahe an einen feudalen Palast. Sein Zimmer, mit Tatami ausgelegt, war durch Schiebetüren und -wände aufgeteilt und enthielt lediglich eine kleine Kommode, eine zierliche Leuchte, eine antike Wanduhr und einen Paravent, hinter den er sich zum Schlafen auf dem Futon zurückziehen konnte. Eine ältere Hausdame hatte ihm erklärt, man würde ihm die Mahlzeiten vor die Tür stellen, in den verborgenen Wandschränken fände er Bekleidung, Decken, Kissen und sein Lernmaterial. Er dürfe aber seine Räumlichkeiten nicht verlassen. Yukimaru, der sich im schönen, angegliederten Badezimmer erst mal übergeben hatte, offenkundig eine Nebenwirkung der Pillen, akzeptierte diese Einschränkung ohne Kommentar. Wenn er sich richtig entsann, hatte der Arzt ihm gegenüber angedeutet, dass seine "Ausstrahlung" aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit derart massiv wurde, dass er sämtliche Männer wie die Fliegen anzog. Keine schmeichelhafte Aussicht. Im Augenblick wollte Yukimaru sich bloß noch waschen, in eine der aus teurem Stoff gefertigten Yukata schlüpfen und sich im Futon verkriechen. Er fühlte sich so richtig elend. ~~~~~# Es war so still, dass man das leise Rauschen der steten Regenfälle hören konnte. Yukimaru, der sein gesamtes Leben in der Großstadt verbracht hatte, immer von anderen Menschen umgeben war, hatte das Gefühl, den Verstand in Kürze zu verlieren. Die Stille trieb ihn die Wände hoch. Mangels Alternativen verlegte er sich also auf das Lernen, arbeitete sich durch die dicken Wälzer mit Fragebogen und Lehrstoff. Ob man ihm wohl erlauben würde, Briefe zu verschicken? Nun, da er den Kopf wieder von Betäubungsmitteln frei hatte und die körperlichen Befindlichkeiten ihm eine Pause gönnten, wünschte er sich sehr, Tarou eine Nachricht zu schicken. Dass er ihren Streit von Herzen bedauerte. Und einen Freund benötigte, der ihm Mut zusprach. ~~~~~# Tarou konnte kaum glauben, was ihm die Direktorin recht munter enthüllte. Yukimaru war gestern einfach so ausgezogen? Mit seinen Sachen? »Ohne sich von mir zu verabschieden?!« Wie vor den Kopf geschlagen taumelte er nach Hause, wurde angestoßen und geschubst. Warum auch nicht?! Er war wieder Beute! Wie sollte er sich bei Yukimaru entschuldigen? Ihm nachlaufen und um Verzeihung bitten? Um ihn aufzumuntern, suchten seine Eltern den ganzen Abend mit ihm nach einer Adresse, doch sie konnten keinen Hinweis auf den privaten Wohnsitz der Tatsuko Amashiki finden. ~~~~~# "Das ist so bescheuert", schimpfte Yukimaru mutiger, als er sich eigentlich fühlte. Jetzt, wo er so viel essen konnte, wie er wollte, weil die verflixte Diät die Pubertät nicht mehr aufhalten musste, war ihm speiübel. "Und ich bin noch nicht mal schwanger!" Das war SO UNGERECHT! Außerdem fühlte er sich wie zerschlagen, alle Glieder schmerzten heftig. Liegen konnte er aber nicht gut, dann trieb ihn Unruhe hoch, zuckten Arme und Beine unkontrolliert. Ab und an sah die Hausdame nach ihm, befand seinen Zustand lediglich für erwartungsgemäß und verließ ihn wieder. "Hauptsache, ich funktioniere, wie?!", fauchte Yukimaru kraftlos in die Leere seines Quartiers. Er wünschte sich, dass jemand in seiner Nähe war, sich um ihn kümmerte, ihn tröstete und ihm versprach, dass alles gut werden würde. Aber er war hier ganz allein. ~~~~~# Tarou grub die Fingernägel tief in seine Handballen, als er tollkühn die Empfangshalle der Amashiki-Unternehmenszentrale betrat. Beinahe glaubte er, abschätzige Blicke auf sich zu spüren, die unsichtbare Ablehnung greifen zu können. Die unausgesprochene Frage, was so einer wie er hier zu suchen hatte. Glücklicherweise funktionierten seine Beine wie ein Uhrwerk, marschierten weiter. Am Empfang angekommen geruhte man, ihn wahrzunehmen. Doch ob sein Brief wirklich an Yukimaru weitergeleitet werden würde, das konnte er nicht einschätzen. ~~~~~# Am Morgen des dritten Tags wurde Yukimaru aufgefordert, sich rasch anzukleiden, um seinen Partner kennenzulernen, der am Vorabend eingetroffen war. Nervös und von einer latenten Übelkeit geplagt folgte er der Hausdame durch ein wahres Labyrinth von verschachtelten Räumlichkeiten, bis man ihn in einen geschmückten Empfangsraum führte. Dort wurde er angewiesen, sich auf einem der ausgelegten Kissen niederzulassen. Eine kurze Zeremonie sollte sich anschließen, damit der Segen für das ungeborene Kind ausgesprochen werden konnte. Yukimaru wartete unruhig, betete, sein verwünschter Magen würde sich nicht so verzweifelt gegen die Umwandelung sperren. Er schreckte zusammen, als eine laute Stimme mit schwerem Akzent dröhnte, "wenn das nicht das Weißbrot ist, das ich ficken soll!" Fassungslos verhedderte sich Yukimaru in der Yukata, kullerte vom Kissen auf die Seite und starrte hoch. Vor ihm stand ein wahrhaftiger Albtraum. ~~~~~# »Ich kann das! Ich kann das!«, wie eine Gebetsmühle wiederholte Yukimaru sich diese verzweifelte Versicherung. Allerdings stimmte ihn der Hüne, der vor ihm über die Tatami stampfte und in einem unverständlichen Kauderwelsch, mutmaßlich Amerikanisch, vor sich hin tönte, überhaupt nicht zuversichtlich. »Wenigstens begreife ich jetzt!«, dachte er grimmig und ballte die Fäuste. Gilles LaSalle, der einzig vorhandene Enkel der Madame, zeichnete sich nämlich durch eine Hautfarbe aus, die viel mit Karamelltoffees gemein hatte. Und, als würde dies noch nicht genügen, hatte er sich die wilden Rastas in den Nationalfarben von Jamaika eingefärbt, in seinen Spitzbart eine goldene Perle eingeflochten und war gebaut wie ein Football-Spieler. Nach der kurzen Zeremonie, die aus einem geteilten Schälchen Sake und einem knappen Segen bestanden hatte, sollten sie sich nun zurückziehen. »Kein Raum ist groß genug, um nicht klaustrophobisch zu werden mit DEM drin!«, konstatierte Yukimaru mit aufsteigender Panik. Als sie ihre Heimstatt erreicht hatten, verharrte er deshalb nervös an der Tür. Gilles blickte sich um, ließ ein prachtvolles Gebiss aufblitzen und bemerkte etwas Yukimaru Unverständliches. Wenn das Englisch sein sollte, musste er die Lehrbücher vollkommen missverstanden haben! Unterdessen hatte Gilles sämtliche Wandschränke inspiziert, sich Sitzkissen herausgezogen und kramte in seiner gewaltigen Reisetasche herum. Er knurrte etwas, wandte sich dann zu Yukimaru herum, "he, Schneeflocke, wo ist hier eine Steckdose?!" Yukimaru deutete auf ein verborgenes Paneel und schluckte den Spitznamen kommentarlos. Der Hüne kauerte sich vor der Steckdose und fluchte dann. Nicht kompatible Systeme. "Verdammt, wie soll ich den Akku hier aufladen?!", dabei funkelte er Yukimaru an, als habe der diesen Umstand zu verantworten. Dem wurde flau, nicht wegen der Blicke, sondern weil der Sake offenkundig tief genug gewandert war, um dort seinen streitsüchtigen Magen kennenzulernen. Nun kam er wieder nach oben, um sich zu beschweren. Deshalb wischte Yukimaru an Gilles vorbei durch die Schiebetür, schloss sich im Badezimmer ein, wo er den Segen bringenden Sake der Toilettenschüssel anvertraute. ~~~~~# Es dauerte eine Weile, bis Yukimaru seinen tauben Beinen wieder vertrauen konnte und zurück in den großen Raum schlich. Inzwischen hatte sich Gilles damit befasst, die wilden Rastazottel zu einem gewaltigen, rasierpinselartigen Wischmopp auf dem Oberkopf zusammenzubinden. Das verbesserte den Gesamteindruck nicht sonderlich, schrie aber nach dem ergänzenden Accessoire eines Knochens. "Übste jetz schon für die morgnliche Üblkeit", schnodderte der und musste den Satz zweimal repetieren, bis Yukimaru begriffen hatte, was jener sagte. "Nein, das...", Yukimaru brach ab. Er glaubte zwar nicht, dass Gilles das Ausspucken des Sake als unheilbringendes Vorzeichen auffassen und deshalb beleidigt sein würde, aber ihm fehlten die Worte, sich zu erklären. Außerdem war er sich nicht sicher, ob Gilles ihn verstand. Der schlüpfte ungeniert aus seinen Kleidern, schüttelte prüfend eine Yukata aus, um sich ungelenk darin einzufinden und mit dem ungewohnten Band zu kämpfen. Yukimaru ermahnte sich, kein Hasenfuß zu sein und trat bestimmt näher, griff das Band und demonstrierte Gilles, dass hier die linke Seite über die rechte Seite des Revers geschlagen wurde, wollte man nicht als Leiche gelten. "Deshalb trage ich T-Shirts", grummelte der sonor, klatschte dann in die Hände, rieb sie und wünschte das japanische Äquivalent zu Guten Appetit. Leckte sich provozierend über die Lippen und stierte Yukimaru an, der postwendend reflexartig kehrtmachte und zur Schiebetür flitzte. Weit kam er jedoch nicht, denn sie widersetzte sich seinen hastigen Versuchen, sie aufzuziehen, da konnte er die nackten Zehen in die Tatami stemmen, wie er wollte! "Nun beruhig dich mal", hinter ihm lachte Gilles dröhnend, schlenderte heran. Yukimaru, der durch seine Assistenz einen recht aufschlussreichen Blick auf die Statur seines Partners hatte werfen können, duckte sich eilig und wischte seitlich an Gilles vorbei. Jetzt hatte er nur noch Angst. Und sie dominierte all seine Handlungen. ~~~~~# "Schneeflocke, entspann dich!" Gilles suchte fluchend nach den korrekten japanischen Begriffen, mischte, wie er es von seiner Mutter gewohnt war, die Sprachen durcheinander und würzte sie großzügig mit dem Südstaaten-Drawl, mit dem er aufgewachsen war. Der kleine, rothaarige Irrwisch jedoch schien nicht empfänglich für seine Beschwichtigungsversuche, wollte offenkundig in das Badezimmer als einzigem Zufluchtsort verschwinden. Aber Gilles hatte nicht umsonst in seiner Schulzeit aktiv im Football-Team mitgemischt: er verfügte über eine ausgesprochen flinke Reaktionsfähigkeit, die seine hünenhafte Gestalt Lügen strafte. Deshalb konnte er den Winzling auch mühelos angeln und vor der Schiebetür abfischen. ~~~~~# Yukimaru zappelte, entsetzt von den Händen, groß wie Grabschaufeln!, die ihn so einfach um die Hüften packen konnten! Er versuchte, seine imponierenden Kräfte als Meeresgetier freizusetzen, doch mehr als ein anerkennendes Grinsen des gewaltigen Gebisses erntete er nicht. "Bin n Alligator, Drachen-Schwergewicht, Schneeflöckchen", neckte ihn der dunkelhäutige Riese amüsiert. Da half nur Plan B: Yukimaru schlug die Hände vor den Mund und krümmte sich in dem Haltegriff. Einen Fluch später hatte er wieder Tatami unter den Füßen, denn niemand mochte von oben mit Mageninhalt besprengt werden. Dummerweise missverstand sein Magen das irreführende Würgen als Aufforderung, noch einmal seine Meinung über die unbefriedigende Gesamtsituation kundzutun, sodass Yukimaru tatsächlich zur Toilette stolpern musste. Auch wenn er nur noch Galle produzierte, war es peinigend, denn seine Kehle hatte unter der ständigen Verätzung erheblich gelitten. "Und du bist noch nicht mal schwanger", brummte der Hüne hinter ihm, legte ihm eine der gewaltigen Pranken in den Nacken und dirigierte sein Gesicht in einen nassen Waschlappen. Yukimaru schnappte nach Luft, als er wie ein ungebärdiges Kleinkind gründlich abgerubbelt wurde. "Shit, weiß der...", Gilles suchte das passende Wort, "Quacksalber? Medizinmann? Weiß jemand Bescheid darüber?" Yukimaru blinzelte in die schwarzen Augen, schmeckte Galle und verschob eine Erklärung. "Sitz!" Gilles tippte ihm mit einem imponierenden Zeigefinger beinahe auf die Nasenspitze, requirierte einen Zahnputzbecher, um ihn mit Wasser zu füllen. Er ging neben Yukimaru wieder in die Hocke, drückte ihm den Becher in die Hände, "trinken und erklären!" Mangels Alternativen und weil sich mittlerweile auch Yukimarus strenger Verstand wieder Gehör verschafft hatte, leistete er dem Kommando Folge. "Hormone, durch den Wurm", mischte er Japanisch und Englisch miteinander, hoffte, dass der Riese verstand. "Ah", der nickte, die Wischmopp-Rastas zuckten. Unaufgefordert streckte er die Arme aus, pflückte Yukimaru so mühelos vom Boden, als wiege der nicht mehr als eine Feder. Yukimaru klammerte sich instinktiv fest, erschrocken darüber, wie weit der Boden sich plötzlich entfernt hatte. Gilles war ein Titan, viel zu groß für Japan! »Er wird doch nicht jetzt...«, Yukimaru presste die Lippen aufeinander. Es half ja nicht, sich etwas vorzumachen: genau DESHALB waren sie schließlich hier! »Trotzdem...« Tatsächlich setzte Gilles ihn auf einem Kissen ab, zerrte einen Futon aus einem Wandschrank, gebot Yukimaru, rein zu kriechen und krönte diese Aktion, indem er noch zwei weitere, leichte Daunendecken über Yukimaru ausbreitete. Dann schlug er grummelnd neben ihm Wurzeln, "steh nich auf den Samurai-Stil! Wieso gib's hier keine Couch?!" Yukimaru grinste spontan. Tatsächlich wirkte Gilles gar nicht mehr so furchteinflößend, wenn er an der Yukata herumzerrte, Kissen stapelte, um weicher zu sitzen und sich eine Decke umhängte wie einen Poncho. Nun ähnelte er frappierend einem Tipi, wobei die hochgebundenen Rastas als Zeltpfosten dienten. "Okay", er zwinkerte Yukimaru zu, "lassen wir den ganzen Quatsch." Und plötzlich konnte Yukimaru ihn viel besser verstehen, auch wenn sich noch immer beide Sprachen munter durcheinander mischten. "Der alte Drachen hat mich eingekauft, damit ich hier ein Kind mache. Dafür finanziert sie mir mein Collegestudium. Und was ist dein Preis?" Yukimaru rollte sich auf die Seite, zog die Knie vor die Brust, kämpfte gegen das plagende Unwohlsein an, "eine Augenoperation." Zur Illustration löste er einen Arm aus der warmen Deckung und tippte hoch. "Die gehören gar nicht so?" Gilles beugte sich unbefangen über ihn, stützte sich mit den muskulösen Armen auf und studierte Yukimarus Augäpfel so intensiv, dass der spürte, wie ihm Farbe in die Wangen stieg. "Was ist denn das Problem?" "Ich erblinde", quietschte Yukimaru und wünschte sich, Gilles würde nicht gleich den gesamten Himmel verdunkeln, bloß weil der sich vorneigte. "Verdammt übel", kommentierte Gilles, tätschelte ihm die dunkelroten Locken. "Ich habe noch nie ein Meeresgetier kennengelernt. Sind die alle so bleich wie du?" Yukimaru zuckte mit den Schultern. "Ich habe auch noch keinen anderen getroffen. Ich bin eine Vollwaise", ergänzte er in Erwartung der natürlichen Frage nach seinen Eltern vorsorglich. "So was gibt's?", Gilles' Augenbrauen wanderten hoch, "das ist beschissen!" Für eine Weile schwieg Gilles, starrte gedankenverloren auf den Paravent, kontemplierte mutmaßlich. »Wenigstens will er nicht gleich...«, Yukimaru rieb seinen geplagten Magen. Wann würde das endlich vorbei sein?! Wie lange konnte es denn dauern, bis man auf weiblich gepolt war?! Während er noch darauf wartete, dass Gilles erneut das Wort ergriff, schlief Yukimaru ein. ~~~~~# "Aufwachen, Schneeflocke!" Irgendjemand beharrte darauf, dass er sich aus der Lawine frei grub, weshalb Yukimaru herumrudernd versuchte, Ordnung in seine Glieder zu bringen. Er rieb sich die verklebten Augen und setzte sich auf. "Schönes Chaos", grummelte eine sonore Stimme, dann fuhr ihm ein nasser Lappen über das Gesicht. Yukimaru protestierte, wollte sich wegducken, aber eine riesige Pranke schnappte seinen wirren Zopf und benutzte diesen als Leine. "Nich so fix! Sonst latschst du uns noch ins Futter!" Gilles, der gemeine Gorilla, lachte laut, während er ihn einfach unter einen Arm klemmte! Tatsächlich war ein niedriger Klapptisch aufgebaut worden, auf dem sich traditionelle Speisen in Schüsseln und auf Tellerchen versammelten. Außerdem dampfte ein Reiskocher mit geöffnetem Verschluss gen Zimmerdecke. "Oh weia... das wird ja ne Diät", seufzte Gilles erschüttert, nachdem er jedes Deckelchen gelupft hatte, "schätze, auf Burger muss ich wohl verzichten." Dann erst stellte er Yukimaru auf die Füße. "Spachteln wir erst mal", verkündete er aufgeräumt, las ein paar Essstäbchen auf und deutete ungeniert auf einzelne Speisen, "was ist das für Zeug?" Yukimaru nahm Platz, noch immer zerzaust, nun aber hellwach. Er erklärte beiläufig, kämpfte mit den gewohnten Verständigungsproblemen, weil er nicht für jedes Gericht eine Übersetzungsmöglichkeit fand und sondierte, ob sein Magen in ziviler Stimmung war. Nachdem sie getafelt hatten, erschien die Hausdame mit zwei jüngeren Frauen. Sie räumten ab, indem sie gleich den Tisch hinaustrugen, hinterließen lediglich eine große Kanne grünen Tees. Und einen frisch gelüfteten, großen Futon. "Wie...subtil", brummte Gilles, der den schweigenden Aktionismus mit verschränkten Armen verfolgt hatte. Dann stemmte er sich von dem Stützpfeiler los, "schlüpf rein, Schneeflocke, bevor du dich noch verkühlst." Abschätzig sah er sich um, "versteh nich, wie man in so nem Eiskeller hausen kann!" "Wir könnten um einen Heizlüfter bitten", schlug Yukimaru vor, der sich artig im Futon verkrochen hatte. Er fühlte sich ein wenig schläfrig nach der für seine Verhältnisse opulenten Mahlzeit und schob seine Furcht vor den unvermeidbaren Ereignissen beiseite. Aber Gilles blieb unzufrieden. "Stellt der alte Drachen sich das so vor?! Dass wir hübsch poppen, um uns warm zu halten?! Und es gibt nicht mal nen Fernseher hier! Ich geh ja ein vor Langeweile!" Yukimaru hielt es für angezeigt, zu diesem Sujet besser zu schweigen. Schnaubend verzog sich Gilles ins Badezimmer, blieb eine lange Zeit dort. Als er zurückkehrte, dampfte noch Nässe von der bloßen Haut, die die Yukata nicht bedeckte. Die gefärbten Rastas waren in einen gewaltigen Handtuchturban verpackt. Schläfrig blinzelnd setzte sich Yukimaru auf. War das nun das Startzeichen? Sollte er ebenfalls eilig duschen, um dann...?! Gilles jedoch kroch brummend und grummelnd neben ihn in den Futon, fischte weitere Decken herbei, die er demokratisch ausbreitete. Dann zappelte er ausdauernd herum, bis er eine bequeme Lage gefunden hatte. "Kann nich begreifn, wie man so pennen kann!", beklagte er sich grimmig, verschränkte die muskulösen Unterarme unter dem Handtuchturban, offenkundig auch mit dem Kopfkissen nicht zufrieden. Yukimaru krabbelte aus dem Decken- und Matratzen-Sandwich, faltete zwei Sitzkissen und bot Gilles an, es mit diesem Ersatz zu versuchen. Brummend wie ein alter Bär erprobte der das neue Lager für sein wertes Haupt und befand es für leidlich erträglich. "Schläfst du immer auf dem Boden?", erkundigte er sich bei Yukimaru, der sich in die Decken kuschelte, denn es herrschte tatsächlich eine empfindliche Kühle im Zimmer vor. "Nein, in einem Hochbett", Yukimaru bemühte sich um Entspannung. Eine akute Attacke schien gerade nicht zu drohen, deshalb galt es die Muße zu nutzen! "Waisenhaus, hm?", Gilles stützte den mächtigen Turban in einer Hand auf, betrachtete Yukimaru im Schein der einsamen Stehleuchte in der anderen Ecke. "Wie alt bist du überhaupt?" Yukimaru drehte sich auf die Seite, erwiderte den neugierigen Blick in die schwarzen Augen gefasst, "ich bin 14 Jahre alt." "Oh Jesses!", stöhnte Gilles theatralisch, ließ sich so plump auf den Rücken fallen, dass Yukimaru die Erschütterung wie ein Erdbeben durchlief. Er wartete angespannt ab, was sich nun anschließen würde, doch Gilles fixierte die Zimmerdecke und schwieg vor sich hin. Gerade als sich Yukimaru auf die andere Seite drehen wollte, hörte er ihn leise fluchen, "verdammt, ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen." »Tja«, dachte Yukimaru zynisch, »wenigstens haben wir in enttäuschten Hoffnungen eine Gemeinsamkeit!« ~~~~~# Das Aufwachen am nächsten Morgen brachte eine Überraschung mit sich. Als Yukimaru sich Augen reibend dazu genötigt sah, der Hausdame und ihren beiden stummen Trabantinnen einen morgendlichen Gruß zu entbieten, krächzte eine unerwartet tiefe Stimme aus seiner Kehle. Erschrocken presste er die Hand auf den Hals, räusperte sich heftig und huschte eilig in das Badezimmer, um mit Wasser und Salz zu gurgeln. Doch der Effekt blieb unverändert: von einem Tag zum anderen hatte er den Stimmbruch erreicht! Und dabei die Unstete der Kieksigkeit ausgelassen! Gilles, der mit einem explodierten Rasta-Rasierpinsel zu kämpfen hatte, kratzte sich im Nacken und grunzte, "komisch, sollste nich weiblicher werden?" Yukimaru machte kehrt, um eilends seine Augenfarbe zu kontrollieren. Da! War die Iris nicht eine Nuance dunkler?! "...oh nein...", winselte er und sackte neben der geräumigen Bodenwanne auf die exklusiven Fliesen. "Entschuldige, Schneeflocke", ohne Umstände klaubte Gilles ihn vom Boden, legte ihn sich kurz über die Schulter, setzte ihn im Nachbarraum auf dem Futon ab und machte kehrt, um sich im Badezimmer einzuschließen. Yukimaru klemmte sich die Knie vor den Leib und umarmte sie eng. Wie sollte er das ungleiche Rennen gewinnen?! Konnte er schneller schwanger als erwachsen werden?! Wenn sich die Pubertät beeilte, erwischte sie ihn vorher! Er schniefte und schnüffelte noch ratlos, als Gilles seine Katzenwäsche beendet hatte und wieder eintrat, um sich ein Frühstück einzuverleiben. "Das...ist ein Frühstück?! Keine Eier?! Speck?! Cornflakes?!", seufzend schüttelte er das mächtige Haupt, "verdammt, wie soll ein Mann da seinen Mann stehen?!" Trotzdem ließ er sich mit gekreuzten Beinen nieder, schaufelte sich mit grimmiger Miene Reis aus dem Kocher in eine Schüssel. "Kein Wunder, dass du bloß ne halbe Figur bist!", adressierte er Yukimaru, dem der Appetit angesichts seines persönlichen Dilemmas vergangen war, fischte jedoch erstaunlich geschickt mit den Stäbchen, "von dem Zeug hier kann man ja keinen Zwirn auf die Rolle bringen!" Dann erklärte er Yukimaru beiläufig, wie groß und schwer er in dessen Alter bereits gewesen sei. Der explodierte angesichts der Rücksichtslosigkeit dieses ausländischen Riesentrampels hitzig, "ich hatte keine andere Wahl!" Er wollte ja nicht ewig wie ein Kind herumlaufen, mit kristallklarer Stimme auftreten oder ständig Hosenbeine und Ärmel aufwickeln! "So is besser", lobte ihn Gilles grinsend, "lieber nen Arsch voll Wut als herumheulen." Zwinkernd deutete er auf den klappbaren Tisch, "los, Essen fassen. Wir haben ja noch einen Job zu erledigen." Das stimmte Yukimaru nun wirklich nicht fröhlich, aber so lange sich sein Magen konziliant verhielt, galt es, diesen Umstand zu nutzen. Kaum hatten sie ihre Mahlzeit beendet, erschien erneut die Hausdame mit ihrer Entourage, sammelte wie zuvor den Tisch ein, deponierte eine große Teekanne und einen frisch gelüfteten, sauber bezogenen Futon. Dann wurde auch noch ein großer Weidenkorb abgestellt. Und man zog sich wieder zurück. "Was soll das jetzt?", Gilles beäugte den Korb misstrauisch, nickte Yukimaru zu, der sich mit den Schnappschlössern auseinandersetzte. "...ach du Scheiße...", verkündete Gilles nach einem Blick in das sorgsam aufgeräumte Innere. Taschentücher, Gleitmittel, Sexspielzeug, einschlägige Herrenmagazine...ein ganzes Sortiment an unterstützenden Zutaten, um endlich die Produktion in Angriff zu nehmen. Yukimaru fühlte sich flau und entwischte ins Badezimmer. Dieses Mal verteidigte sein Körper allerdings die vorangegangene Mahlzeit energisch, sodass er sich bloß darauf verlegen konnte, gründlich zu duschen und sich ein heißes Bad einzulassen. Das sollte eigentlich entspannen, doch als er mit Schrumpelfalten ausstieg, hätte er ein Bügelbrett noch Haltung lehren können. Unbehaglich wickelte er sich in eine frische Yukata, zog dann bange die Schiebetür auf. Zu seiner Überraschung grübelte Gilles über einem der Übungshefte. "Shit, und ich dachte, ich wäre ganz gut in Mathe", er grinste Yukimaru, "aber ich kann bloß das Zeug ausfüllen, was ohne die blöden Zeichen ist." Yukimaru benötigte einen Augenblick, bis er die Botschaft dechiffriert hatte, "Sie können keine Schriftzeichen lesen?" "Sei nich so förmlich", tadelte Gilles ihn streng, schob das Heft achtlos beiseite, "und nö, kann ich nich. Mir reichen die üblichen 26 Buchstaben vollkommen aus." "...Entschuldigung", murmelte Yukimaru, dem bewusst wurde, dass er gewiss etwas Taktloses geäußert hatte. Was ihm ganz selbstverständlich erschien, konnte ja nicht für Gilles gelten, der zwar leidlich Japanisch sprach, aber eben Amerikaner war. "Komm", Gilles streckte ihm eine Hand entgegen. Zögerlich, mit klopfendem Herzen und weichen Knien, schlich Yukimaru zu ihm, biss die Zähne aufeinander, damit ihr Klappern ihn nicht verriet. Gilles mochte ja netter sein, als er aussah, aber er blieb trotzdem ein viel älterer Riese! Tatsächlich verschwand seine Hand fast in der gewaltigen Pranke, dann zog ihn Gilles neben sich auf den Boden. Und breitete die wärmende Decke auch über Yukimarus Rücken aus. Ohne ihn anzusehen, ergriff Gilles die Gelegenheit. "Es ist so, Schneeflocke: wir sind hier, um ein Kind zu zeugen. Wir müssen das irgendwie auf die Reihe bekommen, bevor du blind wirst und ich hier die Tapete vor Langeweile abkaue." Er seufzte, wandte dann den Kopf, um Yukimaru anzusehen, "ich bin ehrlich und möchte dich nicht beleidigen, aber ein dürrer Junge wie du macht mich kein bisschen an." Yukimaru starrte ihn entsetzt an. Hieß das jetzt, dass Gilles ausstieg?! Oder etwa, dass er selbst ersetzt werden würde?! "Na komm!", knurrte der beleidigt, "seh ich so aus, als würde ich Kindern hinterhersteigen?! Ich bin 22 Jahre alt und ziemlich hetero, was erwartest du da?" In Yukimaru besiegte sein Stolz die Angst und paarte sich mit seinem Zynismus. "Soll ich vielleicht spontan in Wachstum ausbrechen?!", fauchte er giftig, "du kannst ja die Augen zumachen!" Zu seiner Überraschung grinste Gilles, strubbelte ihm die dunkelroten Locken, "immer locker bleiben, Schneeflocke! Ich schätze, du würdest auch lieber mit nem hübschen Mädchen in die Kiste steigen. Da haben wir was gemeinsam." "Ja, prima, müssen wir uns nur noch das Mädchen dazu denken", krächzte Yukimaru und lauschte überrascht auf die eigene, ungewohnt tiefe Stimme. Zumindest KLANG er jetzt nicht mehr wie ein kleiner Junge! Neben ihm feixte Gilles, präsentierte sein prächtiges Gebiss in voller Besetzung. "Das is die richtige Einstellung!", flachste er. Trotzdem legte sich Stille auf sie, wog schwerer als alle wärmenden Decken zusammengenommen. "Also...", Gilles räusperte sich, und zum ersten Mal registrierte Yukimaru Nervosität bei seinem älteren Partner. Drachen-Schwergewicht hin oder her: wenn er sich unbehaglich fühlte, konnte man das als Meeresgetier spüren. Gilles nahm einen erneuten Anlauf, "ich schlage dir Folgendes vor: ich sorge dafür, dass du in Stimmung kommst. Dann sollten deine Pheromone mich eigentlich so antörnen, dass ich mit dir Sex haben kann. Einwände?" "..nein", murmelte Yukimaru, der auch keinen besseren Rat wusste. Woher auch, ihn fehlte ja jegliche Erfahrung! "Okay, gut, abgemacht", Gilles richtete sich auf, rieb sich die Hände, leckte sich fahrig über die Lippen, "super, alles roger." »Von wegen!«, schoss es Yukimaru durch den Kopf, »du würdest am Liebsten kehrtmachen und abhauen!« Nicht dass ihn nicht dieselben Empfindungen durchliefen. Aber diese Erkenntnis versöhnte ihn auch ein wenig mit Gilles' grobem Auftreten. Der mochte acht Jahre älter und erfahrener sein, aber selbstsicherer fühlte der sich deshalb keineswegs. "Na fein", stellte Gilles fest, schleuderte die Decken von sich, klappte hoch, bis er weit in den Raum ragte und streckte dann auffordernd eine Hand nach Yukimaru aus. "Komm, ich brauche deine Hilfe!" Yukimaru ergriff, ein wenig irritiert, die gewaltige Hand, ließ sich verwirrt ins Badezimmer ziehen. Gilles gab ihn frei und stöberte herum, bis er Scheren, Rasierklingen und entsprechenden Schaum aufgetrieben hatte. Im Spiegel studierte Yukimaru ihn ratlos. "Okay", Gilles präsidierte auf einem Badehocker, "dann leg los!" Blinzelnd zerknitterte Yukimaru Falten in der Yukata, "wie bitte?" Im Spiegel zwinkerte ihm Gilles frech zu, "los doch, Figaro, weg mit der Matte!" ~~~~~# Kritisch rieb sich Gilles über das Kinn, drehte und wendete sein erleichtertes Haupt, studierte den neuen Zustand. Die goldene Perle, die in dem geflochtenen Spitzbart residiert hatte, hing nun eng an seiner Kehle, auf ein Lederband aufgefädelt. Frisch rasiert, die krausen Haare auf einen kleidsamen Flor gestutzt, wirkte er weder exzentrisch noch bedrohlich. "Ist das auch wirklich...in Ordnung?", wagte Yukimaru nachzufragen. Erwartete Gilles vielleicht, dass er sich selbst jetzt auch die Locken absäbelte? "Yepp", Gilles gab sein Kinn nach der Inspektion frei, nickte. "Der Aufzug vorher war bloß dazu gedacht, um den alten Drachen auf die Palme zu bringen. Wenn ich wieder aufs College gehe, hätte ich sowieso damit Schluss gemacht." Yukimaru runzelte verwirrt die Stirn. "Sieh mal", ungeniert zog Gilles ihn auf seinen Schoß, ganz ohne einen Anflug von Zudringlichkeit, "ich brauche Geld, um aufs College zu gehen, also habe ich erst mal gearbeitet nach dem Highschool-Abschluss. Meine Leute können mir das nicht finanzieren." Nun nickte Yukimaru rasch und versicherte wiederholt, er habe verstanden, ganz klar! "Na ja, der alte Drachen sollte ruhig nen Schreck bekommen, hätte sie ja nicht enttäuschen wollen." Gilles grimassierte, wirkte nun aber wütend und bitter, "sie hat sich ja auch solche Mühe gegeben, jemanden zu finden, der weiß genug ist, um DAS auszugleichen." Yukimaru schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Gilles lag sicherlich richtig mit seiner Vermutung, was die Absichten der Madame betraf. "Hoffentlich", Gilles seufzte, "hoffentlich hat unser Kind deine Hautfarbe. Wer weiß, was sie sonst anstellt." Heftig löste sich Yukimaru, ballte die Fäuste, "aber dafür gibt's keine Garantie! Sie muss es aufziehen und gut versorgen! Sonst könnte sie ja..." "...gleich mich einsetzen?", beendete Gilles scharf seinen Satz, schraubte sich auch in die Höhe. "Ganz recht, Schneeflocke. Das Risiko liegt bei ihr, stimmt. Aber wenn ich ohnehin der Überzeugung bin, dass bestimmte Gene anderen überlegen sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit ja kein Problem, oder?!" "Das ist lächerlich!", protestierte Yukimaru, ballte die Fäuste. "Genau!", bekräftigte Gilles dröhnend, legte ihm eine Pranke auf den Schopf, "aber WIR BEIDE müssen auch nicht bei dem alten Drachen aufwachsen!" Yukimaru presste die bebenden Lippen aufeinander. Er konnte Gilles nur recht geben. "Komm", beiläufig wuschelte der ihm durch die Locken, "zeig mir mal, wie man den Trog hier füllt. Will für mein erstes Stelldichein wenigstens nach Veilchen duften!" ~~~~~# Als er Gilles schwere Schritte hinter sich hörte, fummelte Yukimaru eilig eine Pille aus seinem Geheimversteck heraus. Hoffentlich setzte die Wirkung schnell genug ein! "Wasn das?!", unerwartet packte Gilles sein Handgelenk, zwang ihn unter zischendem Protest, die Kapsel fallen zu lassen. "Kein Doping im Bett!" "Ist es nicht!", widersprach Yukimaru, rieb sich das Handgelenk und funkelte wütend in die schwarzen Augen. "Dann brauchst du das Zeug jetzt nicht", bestimmte Gilles selbstherrlich, doch Yukimaru gab nicht kampflos auf. Allerdings war er Gilles im Gerangel nicht gewachsen, der ihn einfach über eine Schulter legte und das zornige Trommeln auf seinem Rücken ignorierte. Stattdessen drehte er sich munter im Kreis, bis Yukimaru stöhnte, weil ihm übel und schwindlig war. Gilles ließ ihn auf den Futon hinab und kauerte sich vor Yukimaru. "Also", verhörte er ihn geduldig, "was ist das für ein Kram hier? Drogen?" "Nein!", schnaubte Yukimaru und rieb sich verstohlen den lädierten Magen, "das sind...", er zögerte. "Ja?", schnappte Gilles unnachgiebig. "...Schmerzmittel. Zum Betäuben." Yukimaru warf ihm einen trotzigen Blick unter verwirrten Locken zu. "...wie bitte?!" Gilles beäugte erst die Pille, dann Yukimaru, "wofür brauchst du JETZT Betäubungsmittel?!" "Weil es wehtut!", peinlich berührt und deshalb wütend kreischte Yukimaru zurück. "Du hast schon Erfahrungen?!" Gilles' Augen weiteten sich ungläubig. "Nein!", nun kämpfte Yukimaru mit zornigen Tränen angesichts der Unterstellungen, mit denen er hier fortwährend konfrontiert wurde. "Moment mal", Gilles zerdrückte die Pille in einer Faust und streute die krümeligen Überreste in ein Taschentuch, "wenn du Jungfrau bist, warum zum Teufel willst du dieses Zeug einwerfen?!" Seine Miene bekundete, dass er Yukimaru nicht glaubte. "JEDER weiß das doch!" Begehrte Yukimaru auf, entschlossen, eine andere Pille aus dem kostbaren Vorrat zu holen, doch Gilles fing sein Handgelenk ein und gab es aus der eisernen Fessel seines Schraubzwingengriffs nicht mehr frei. "Bitte!", verlegte sich Yukimaru auf eine andere Taktik, zerrte an seinem gefangenen Arm, "es tut wirklich höllisch weh! Ich weiß das doch!" "Und woher?", Gilles blickte ihn finster an, "spielst du mir hier nur den keuschen Knaben vor, oder was?" "Vom Wurmeinsetzen!", dunkelrot und außer sich begann Yukimaru, Gilles zu kratzen. Der verstand erst, als Yukimaru englische Begriffe einstreute, nachdem er ihn im Nacken gepackt und wie einen Welpen durchgeschüttelt hatte. Yukimaru verspürte zwar den Drang, auf Gilles loszugehen, ihn zu verprügeln, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte und weil der ihn offenkundig demütigen wollte, doch Gilles konnte man nicht so leicht überrumpeln. Vielmehr fand er sich selbst auf den Rücken gepinnt, eingequetscht unter einem mächtigen Brustkorb, während seine Handgelenke eingefangen worden waren. "Nun beruhig dich mal, Knirps", knurrte Gilles, "woher sollte ich das wissen?" Ärgerlich funkelte Yukimaru in die schwarzen Augen, "darf ich jetzt BITTE eine Pille nehmen?!" "Nein", Gilles schüttelte knapp den Kopf, "vergiss es. Wenn du unten herum betäubt bist, kannst du mir nicht sagen, ob ich dir wehtue. Das ist zu riskant." "Das ist ungerecht!", begehrte Yukimaru auf, immerhin würde ER die Schmerzen zu ertragen haben, doch Gilles schnaubte bloß. "Von wegen! Ich habe nicht die Absicht, dich zu vergewaltigen, deshalb bleibt's bei Nein!" Unerwartet ließ er Yukimaru frei, setzte sich auf, "mir ist schon schlecht genug bei dem Gedanken, dass ich für meine Ausbildung einen kleinen Jungen entjungfern und schwängern muss, da brauche ich nicht auch noch Vergewaltigung dazu." "Lächerlich!", protestierte Yukimaru, rieb erneut über seine Handgelenke, "ich wehre mich ja gar nicht dagegen!" "Tja", Gilles knurrte ihn grimmig an, "für mich ist das nicht bloß ne Frage von Gegenwehr. Ich habe keinen Sex, um jemanden dabei wehzutun. Oder mit jemandem, der sich total zudröhnen muss, ums mit mir auszuhalten!" "Also gut", gab Yukimaru ihrem angespannten Schweigen schließlich nach. Irgendwie würde er schon... irgendwie... "He", Gilles streichelte ihm über den Kopf, plumpste neben ihn auf die Matratze, "trau mir auch mal was zu, ja?! Ich werd dir nich wehtun." Das bezweifelte Yukimaru zwar pessimistisch, aber er nickte trotzdem. Was blieb ihm auch übrig? Der Schmerz würde vergehen, genauso wie die Schwangerschaft, aber blind sein, das wäre für immer! Unbehaglich blickte er zu Gilles auf. Was erwartete der, das er nun tun sollte? Der Hüne erhob sich, wickelte sich aus der Yukata, die er mit einem befriedigten Grunzen wegschleuderte und stieg aus den Boxershorts. Yukimaru schluckte. Wie sollte er gegen SO EINEN GIGANTEN bestehen?! "Staunste, hm?" Gilles spannte feixend Muskeln an, warf sich in Posen, "ich geh' mit nem Kumpel immer trainieren. Bodyshaping!" Dann zwinkerte er und kroch ohne Zögern unter die Decke, rollte sich auf die Seite und stützte das frisch rasierte Kinn in eine Hand. "Und, hast du eine Freundin?" Yukimaru zog unwillkürlich die Knie höher, "nein. Ich wollte nicht, dass..." "Verstehe schon", Gilles lächelte mitfühlend, "wenn die Pubertät richtig ausbricht, beschleunigt dass deine Erblindung, oder?" Nervös studierte Yukimaru das entspannte Gesicht des Amerikaners. Sollte der Smalltalk als Vorspiel dienen? Oder wie? "Na, ich bin im Moment auch solo", Gilles rollte sich auf den Rücken, "meine Arbeitszeiten haben mir zu oft Verabredungen vermasselt. Männer haben's eben auch nicht leicht", stellte er energisch fest. »Los, du kannst das! Augen zu und durch!«, ermahnte sich Yukimaru inzwischen, streifte sich im Sichtschutz der Decken die zerknitterte Yukata und seine Unterhose ab. Schmuggelte sie verstohlen außerhalb des Futons. Er zuckte heftig zusammen, als Gilles sich unerwartet herumdrehte und ihm über den Schopf streichelte. "Hör mal, Schneeflocke", redete er ihm leise Vertrauen zu, "es gibt wirklich keinen Grund, vor mir Angst zu haben. Wir gehen's langsam an, in Ordnung?" Yukimaru nickte abgehackt. "Na gut", Gilles studierte ihn einen langen Moment, ernst und mitleidig. "Markier bitte nicht den Helden, ja? Wenn etwas noch nicht geht, sag's mir. Versprochen?" "Versprochen", krächzte Yukimaru gepresst. Unter der Decke schlotterte er und verachtete sich für seinen Kleinmut. Hatte er sich denn nicht oft genug vorgehalten, dass es die beste Lösung war?! Dass es gar nicht so schlimm sein würde?! Unzählige Menschen hatten jeden Tag Sex, also, warum die Panik?! War Erblinden etwa eine Alternative?! Aber sein Verstand saß nicht knapp über seiner Magengrube, in der es nun brodelte. Oder wohnte in seinem Herzen, das raste und einen dünnen Schweißfilm auf seine Haut klebte! "Ganz ruhig", raunte Gilles, "mach einfach die Augen zu und entspann dich. Ich tu dir nich weh." Yukimaru zwang sich, die Glieder auseinanderzufalten, diese dürren, knochigen, weißen Stöcke, die ihn selbst abstießen. Klapprig und ungelenk, so sahen sie aus! Die Lider fest geschlossen, die Lippen aufeinander gepresst schnaubte er leise durch die Nase und wünschte sich, einfach wegzubeamen, seinen ausgemergelten Körper hier zu lassen. Irgendwo anders abzuwarten, bis ES vorüber war. Er schreckte zusammen, als Gilles' große, kräftige Hände über seine Gänsehaut streichelten, in der Backofenhitze des Futons seinen zierlichen Körper erkundeten. »Er findet mich abstoßend... nein, ab-TÖNEND«, rief sich Yukimaru in Erinnerung und krallte die Fingernägel in die dünne Matratze. Umgekehrt konnte er das, subjektiv gesehen, nicht behaupten. Leider sah Gilles wirklich, wenn man muskulöse Männer mochte, gut aus! Außerdem verfügte er über eine gerade Nase, eine hohe Stirn und klassische Gesichtszüge, symmetrisch und markant. »Wäre ich ein Mädchen«, dachte Yukimaru angespannt, »so hätte er wahrscheinlich gar nichts einzuwenden gegen ein bisschen Hautkontakt.« »Klar, wenn ich ein ATTRAKTIVES Mädchen wäre», schränkte er zynisch ein. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen schüchterte ihn Gilles' Erscheinung ein. Er fühlte sich ausgeliefert und verabscheute sich für diese Angst. "He", Gilles' tauchte auf, zupfte an Yukimarus Nasenspitze, "stell dir doch einfach vor, ich sei eine rassige, total heiße Schauspielerin! Jemand, bei dem du dir gern einen von der Palme wedelst!" Yukimaru, der Mühe hatte, das Kauderwelsch aus Amerikanisch und Japanisch zu entschlüsseln, schnaubte abschätzig. Er hatte vor dem Erblinden genug Furcht gehabt, um sich die üblichen Einhand-Spiele unter der Bettdecke oder auf der Toilette zu verkneifen. Außerdem trug die Anwesenheit von zahlreichen anderen Kindern im Waisenhaus nicht gerade dazu bei, Privatsphäre zu kreieren. "Komm schon, Schneeflöckchen, es wird doch jemanden geben, der dich richtig anmacht, oder?!", Gilles' Bass klang nun leicht verzweifelt. "...ich habe noch nie darüber nachgedacht", wisperte Yukimaru hilflos. "Na, dann überleg dir doch mal, mit wem du gerne ausgehen würdest!" Gilles bemühte sich unerschrocken, "vielleicht eine Sängerin? Wir können auch mal in den Magazinen blättern..." "Nein! Danke, nein", Yukimaru zwang sich zu einem aufmunternden Grinsen, "ich schaffe das auch ohne." »Hoffentlich!« "Also gut", Gilles, der über ihm hockte, zupfte ihn an der Nasenspitze, "ich verlasse mich darauf!" Yukimaru schloss die Augen gehorsam, atmete tief durch. Er fühlte sich einsam und unzureichend, weil er keine Phantasie-Freundin hatte, die er als Inspirationsquelle nutzen konnte. ~~~~~# Kapitel 3 - Schicksalsgefährten Gilles holte tief Luft, bevor er sich wieder tiefer unter die Decken begab. Wenigstens war es hier nicht so verflixt kalt wie in der ungemütlichen Kammer! Das erleichterte ihm seinen Job allerdings nur wenig. Der kleine Kerl fühlte sich unter seinen Händen an, als bestünde er nur aus Sehnen und Knochen. Zitterte vor Angst. »Toll!«, dachte Gilles säuerlich, »hätte der alte Drachen nicht etwas präziser sein können?!« Dann hätte er sich zweimal überlegt, ob er mit einem Kind schlafen würde. Behutsam streichelte er über die streichholzdünnen Beine, lauschte auf die angestrengten Atemzüge. Lächerlich altmodisch oder nicht, er fand, dass man beim Ersten Mal mit jemandem schlafen sollte, den man aufrichtig liebte. Er zumindest hatte es so gehalten und war total verrückt nach seiner ersten Freundin gewesen! »Konzentrier dich!«, ermahnte er sich selbst, »sorg dafür, dass seine Pheromone endlich loslegen!« Denn, das war nicht von der Hand zu weisen, ohne eine ordentliche Dosis weiblicher Lockstoffe, die der Wurm freisetzte, würde er mit der Schneeflocke ganz sicher nicht schlafen können. Deshalb musste er sich darum kümmern, dass Yukimaru sich unter seiner Berührung entspannte. ~~~~~# Yukimaru gehorchte stumm, als Gilles ihn auf den Bauch drehte, über seine Glieder streichelte und seinen Rücken mit den Knöcheln bearbeitete. Er keuchte, fand die entstehende Reibungshitze aber durchaus angenehm. Außerdem gewöhnte er sich an den Duft, der Gilles entströmte, eine Mischung aus den Badezusätzen und seinem Körpergeruch. Auch die großen Hände erschreckten ihn nicht mehr, wenn sie ihn liebkosten. Entspannt, die Augen gehorsam geschlossen, rollte er sich auf den Rücken, als Gilles seine Aufmerksamkeiten an der Front kopierte. Doch nicht nur die gewaltigen Handflächen kamen zum Einsatz, nun blies er auch seinen Atem auf Yukimarus Haut, drückte hier und da die Lippen als Siegel auf. Yukimaru bewegte sich unruhig, atmete schneller. Seinem Körper gefiel dieser Fortschritt, das konnte er nicht vor sich selbst verbergen, ihn stimmte es jedoch ein wenig bange. Denn da ballte sich eine ungewohnte Hitze in seinem Leib, summte und zischte in Erwartung! »Ah!«, begriff er, »die Hormone!« Und weil es ja nur folgerichtig war, sich ihnen anzuvertrauen, ließ er sich einfach treiben. Erstarrte lediglich, wenn ihm ein kehliges Stöhnen entfuhr, weil es sich wirklich ZU gut anfühlte. ~~~~~# Gilles leckte in winzigen Kreisen über Yukimarus Brustwarzen, saugte die Haut ein, bis sie sich verhärteten. Es erleichterte ihn, dass sich auf den weißen, hohlen Wangen rosige Blüten zeigten. Außerdem wand sich der zierliche Junge unter ihm fiebrig erregt, krümmte die Zehen und klammerte sich ans Laken. »Komm!«, wünschte er, massierte die zerbrechlich wirkende Erektion. Er wollte jeden Gedanken daran verdrängen, wie kindlich Yukimaru noch aussah, um nicht ins Stocken zu geraten. Glücklicherweise berauschten ihn die Pheromone, und man konnte ja selbst die Augen vor der Realität verschließen! Fürs Erste wollte er nur erreichen, dass sich sein Schützling wohlfühlte, keine Angst hatte. Es würde schon schwer genug werden, den verdammten Wurm zu füttern! ~~~~~# Yukimaru kam blinzelnd wieder in der Realität an. Sie präsentierte sich sehr bodenständig, nämlich in Form von Taschentüchern und einem schwitzenden Gilles, der ihm wortlos bedeutete, den Erguss abzuwischen, während er sich selbst ins Badezimmer empfahl. Leicht benommen trocknete Yukimaru die Spuren ihrer ersten erotischen Annäherung ab und registrierte erleichtert, dass er zumindest diesen Part überstanden hatte. »Nur!«, meldete sich sein Verstand und hatte damit uneingeschränkt recht. »Weiß ich ja!«, knurrte Yukimaru stumm zurück und wickelte sich in eine frische Yukata, räumte ein wenig auf und hoffte, dass mit dem Mittagessen auch wieder ein gelüfteter Futon geliefert werden würde. Als Gilles zu ihm zurück kam, trug er Jeans und ein T-Shirt, wickelte sich in eine Collegejacke. "Verdammt!", schimpfte er leise, "wie auch immer sie es anstellen: ich brauche hier mehr Wärme! Wissen die nicht, dass Nigger es gern heiß haben?!" Yukimaru musste ihn so entsetzt angesehen haben, dass Gilles seinen Zynismus bereute. Er überwand die Distanz, streichelte ihm über die dunkelroten, noch warmen Locken, "tut mir leid, Schneeflocke. Ich sollte mich besser beherrschen können." Aber die Bitterkeit in seinen Worten konnte Yukimaru nicht täuschen, der ihn betroffen ansah. Mit dem Mittagessen erhielt Yukimaru zu seiner Überraschung einen Brief. Verblüfft öffnete er das Kuvert und entnahm den mit sorgsam gesetzten Schriftzeichen bedeckten Bogen heraus. "Post von Daheim?" Gilles, der der japanischen Schrift unkundig war, kramte in dem Weidenkorb herum, auf der Suche nach Inspiration. Konnte ja nicht schaden, wenn man hier nicht nur als Deckhengst, sondern auch als Lehrer angeheuert wurde! Yukimaru antwortete ihm nicht, konzentrierte sich auf die Schrift und Tarous Botschaft. »Wie blöd ich gewesen bin!«, wurde ihm beim Lesen bewusst. Tarou hatte ihn bloß warnen wollen, dass er sich unvorbereitet in etwas stürzte, dem er nicht gewachsen war! »Und, verflixt und zugenäht, er HATTE ja recht!«, ein verlegenes Grinsen schlich sich in seine Züge. Dass Tarou aber annahm, er würde ihm wegen einer klitzekleinen Meinungsverschiedenheit einfach die Freundschaft kündigen, also, DAS ging ja wohl zu weit! Sofort suchte er nach Papier und einem Stift, löste schließlich eine Seite aus einem der Übungshefte, um für Tarou eine Nachricht aufzusetzen. Ihm kurz zu schildern, wo er sich befand, dass alles in Ordnung war (eine Notlüge) und dass sie immer Freunde sein würden. Na ja, und außerdem, dass er jetzt den Stimmbruch erlitten habe, aber nicht ernstlich verletzt worden sei. »Kleiner Kalauer«, schloss Yukimaru wehmütig und bastelte einen Umschlag. Zum Abendessen würde er den Brief der Hausdame anvertrauen. Tarou fehlte ihm, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Es wurde ja nicht besser dadurch, dass er seinen besten Freund vermisste! Und änderte auch überhaupt nichts an der Situation! "Alles in Ordnung?", Gilles streichelte ihm über den Lockenschopf, "Heimweh?" Yukimaru zuckte mit den Schultern und grinste verlegen. "Verstehe", Gilles präsentierte sein prächtiges Gebiss vollzählig, "kenne ich! Allein bei der Vorstellung, wie viele nahrhafte Mahlzeiten mir hier entgehen!!" Dabei verdrehte er dramatisch die Augen und warf sich in eine übertriebene Pose verfolgter Unschuld. Diese Geste ermutigte Yukimaru zu einem Auflachen, was zweifellos Gilles' Absicht gewesen war. Er grinste und kraulte Yukimarus Nacken unter den verwüsteten, dunkelroten Locken. "Na, bereit für die nächste Lektion?" ~~~~~# Yukimaru warf einen ungläubigen Blick von Gilles zu dem munter rotierenden, vibrierenden Objekt in dessen Pranke. "...tatsächlich?", murmelte er schließlich hilflos, aber die Vorstellung, dass man bzw. frau sich freiwillig ein Stück zuckendes Plastik mit Gumminoppen einführte, erschien ihm einfach...befremdlich. Gilles verpackte den Vibrator wieder in die geschmackvolle Schachtel, räumte den Weidenkorb ein und klappte ihn zu. "Es ist nur, damit du Bescheid weißt", versicherte er Yukimaru mit abgewandtem Gesicht. "...danke schön", Yukimaru antwortete höflich, ein wenig befangen. Wollte Gilles etwa, dass er diese... Dinge... benutzte?! Der erhob sich jedoch schwungvoll, streckte ihm auffordernd eine Grabschaufel entgegen und beförderte Yukimaru blitzartig in die Senkrechte. "Eine Dusche wäre jetzt nett", stellte er in einem Tonfall fest, der keinen Widerspruch duldete. Brav leistete Yukimaru ihm Gefolgschaft, kleidete sich aber zögerlicher aus. Hier gab es keinen Schutzschild, der verbarg, wie knochig und kindlich er gebaut war! Hastig nahm er deshalb auf einem der kleinen Badehocker Platz, zog die Knie vor den Leib und umarmte sie abwartend. "Hier", Gilles reichte ihm ein altmodisches Schmuckdöschen, "kannst du dir die Haare hochbinden? Oder brauchst du Hilfe?" "Danke, ich schaffe das schon", nun musste Yukimaru sich aufrichten, um seine ungebärdigen, dunkelroten Locken in einen langen Zopf zu zwängen, den er mit einiger Mühe um dem Kopf wand und mittels Tuch fixierte. "Süß schaust du aus", Gilles zwinkerte ihm zu, füllte einen der kleinen Bottiche mit Wasser und goss es über sich aus. Yukimaru folgte seinem Beispiel, durchaus überrascht, dass sich der Amerikaner mit den besonderen Gepflogenheiten japanischer Badekultur auskannte. Hatte ihm die Mutter etwas von ihrer Herkunft vermittelt? Sie schäumten sich ein, wuschen einander lachend den Rücken, wobei Gilles bloß eine Hand benötigte, während Yukimaru Schwerstarbeit zu leisten hatte. Nachdem sie sich wieder unter Einsatz der Bottiche abgespült hatten, krümmte Gilles auffordernd den Zeigefinger, orderte Yukimaru zu sich heran. "Setz dich", gebot er und klopfte mit dem gewaltigen Händen auf imposante Oberschenkel. Sich auf die Lippen beißend zögerte Yukimaru. Er war sich nicht sicher, was nun folgen sollte und spürte, wie sein Puls beschleunigte. Da umfasste Gilles sein spitzes Kinn, blickte ihm ernst in die bordeauxfarbenen Augen, "Schneeflocke, das gehört zum JOB." "Oh...ja...", teils beschämt, teils ärgerlich nahm Yukimaru wie angewiesen rittlings Platz. Seine Hände wurden auf Gilles' ausladende Schultern drapiert, dann spreizte der langsam die Beine, bis Yukimaru, der gezwungen war, dieser Spannung zu folgen, leise keuchte. "Es ist okay", raunte Gilles ihm beschwichtigend zu, "alles in Ordnung. Ganz ruhig und relaxt." Während seine gewaltige Rechte über Yukimarus Rücken strich, arbeitete die Linke an der Front. Yukimaru senkte die Lider, denn er erkannte das Muster, ließ sich streicheln, gewöhnte sich entschlossen an die Liebkosungen, die immer zwischen seinen Beinen endeten. Auch wenn er durchaus hörte, wie Gilles eine Verschlusskappe aufschnalzen ließ, wiegte er sich in der aufreizend-zärtlichen Handreichung, spürte, wie die Hitzewelle der Pheromone sich von seiner Magengrube aus verbreitete. Es war ein angenehmes Gefühl, prickelnd wie ein verbotenes Abenteuer und gleichzeitig tröstlich, weil es ihn für eine gewisse Dauer von Zweifeln, Sorgen und Befürchtungen befreite. Eine Auszeit für den Kopf bedeutete. Dann tropfte schwerfällig und dickflüssig etwas auf seine Kehrseite, glitt in die Falte, erreichte seine Hoden. Yukimaru blinzelte aufgeschreckt, schnappte nach Luft. "Alles okay", raunte die dunkle Stimme beruhigend, die schwarzen Augen beschworen ihn, "schön entspannen." Um ihn abzulenken, befleißigte sich Gilles' Linke seiner schüchternen Erektion. Die Rechte jedoch verteilte die seltsam zähe Flüssigkeit zwischen seinen Beinen und höher nördlich. Rieb mit einem Finger immer wieder über dieselbe Strecke, hoch und runter, warf die enorme Wärme eines muskulösen Arms auf Yukimarus Seite und Rücken. Unwillkürlich richtete sich Yukimaru auf, umklammerte den kräftigen Nacken des Amerikaners, kam dem Finger entgegen, schwang die Hüften, wollte MEHR von dieser Massage. Ächzend und seufzend, die Lider flatternd, ließ er sich auch nicht abweisen, als der Botschafter in seinen Unterleib vordrang, eine winzige Bewegung, um den Muskelring zu provozieren. Der war eng und empfindlich, erinnerte sich noch deutlich an die erlittene Misshandlung zuvor. Allein, der Lust-Schmerz, wenn er sich besiegen ließ, verlockte zu stark, um zu widerstehen. Yukimaru kam Gilles entgegen, angefeuert von den Hormonen, die die Regentschaft übernahmen, endlich ihr Potential beweisen wollten. Und ehe sich der Amerikaner versah, konnte er die eigene Erektion ebenfalls der Linken anvertrauen. Denn nun wirkten Yukimarus weibliche Paarungsreize wie ein gewaltiges Signalfeuer. ~~~~~# "Alles okay", flüsterte Gilles rau, "alles okay." Ein sanfter, dunkler Gesang zu den großen Händen, die über Yukimarus Rücken und seinen Schopf samt aufgelöstem Zopf streichelten. Er selbst hatte die knochigen Arme um die Taille des Amerikaners geschlungen und lehnte an dessen muskulöser Brust. Das alles war doch ein wenig viel gewesen. Die Hitze des gegenseitigen Ergusses, das merkwürdige Muskelzucken in seinem Allerwertesten, das Grummeln seines Magens, der sich ebenfalls zusammenzog. Noch immer hockte er auf Gilles' breiten Oberschenkeln, nun aber Trost suchend angeschmiegt an dessen Front. "Pubertät in Zeitraffer", knurrte der gerade hilflos. "Bb-b-b-in ok-k-k-kay", klapperte Yukimaru mit den Zähnen. "Das höre ich", neckte ihn Gilles, pflückte Yukimarus Arme ab und legte sie sich um den Nacken, fasste ihn unter Kehrseite und Oberschenkel wie ein kleines Kind. Instinktiv klammerte sich Yukimaru fest, empfand es als nicht ganz so demütigend, getragen zu werden, weil Gilles wirklich SEHR groß war. Der ließ den Badehocker im Stich, wählte die luxuriöse Brause und spülte sie beide ab, bevor er mit Yukimaru als Klammeräffchen in die Bodenwanne kletterte. Das Wasser dampfte entsprechend der voreingestellten Temperatur, lockerte rasch die Muskeln. Sie schwiegen beide, auch, als Yukimaru sich verlegen von Gilles löste und einen eigenen Sitzplatz zum Einweichen suchte. Ebenso beklommen, aber körperlich angenehm matt, verließen sie nach kurzer Zeitspanne die Wanne, trockneten sich ab und schlüpften in frische Yukata. Gilles knurrte und brummte etwas über flauschige Bademäntel und dämliche Samurai-Masochisten, dann folgte er Yukimaru in ihren Aufenthaltsraum. Dort hatten die dienstbaren Geister den Futon gewechselt, das Abendessen auf dem klappbaren, niedrigen Tisch serviert und benutzte Wäsche eingesammelt. Auch Yukimarus Briefumschlag mit seiner Nachricht an Tarou fehlte. Mit verhaltenem Gruß machten sie sich über die Speisen her, überrascht vom eigenen Appetit. Anschließend, bei Tee und Knabbereien, im Schein der einsamen Stehleuchte, ergriff Yukimaru tapfer das Wort. "Es reicht noch nicht aus, nicht wahr?" "Wir müssen uns nicht hetzen", bestimmte Gilles entschlossen. "Bringt nichts, wenn wir es überstürzen und vermasseln." Womit er eindeutig auf körperliche Befindlichkeiten anspielte. Yukimaru biss sich niedergeschlagen auf die Lippe. Mehr Pheromone mussten her! Und wieso wehrte sich sein verflixter Körper, obwohl der dumme Wurm doch für die Schwangerschaft alles vorbereiten sollte?! Gilles langte mit einer Pranke über die Breite des Tisches und kraulte Yukimarus noch feuchten Lockenschopf aufmunternd. "Denk nich zu viel drüber nach", schnodderte er, zog die Vokale in die Länge, "fürn erstn Tag wars nich übel!" Die dunkelroten Brauen beschrieben über Yukimarus bordeauxroten Augen zweifelnde Bögen, widersprachen aber nicht. "Also, ich bin jetzt müde", verkündete Gilles, präsentierte alle Zähne in einer gewaltigen Maulsperre, kroch dann zum frisch aufgeschlagenen Futon. "...ja...", nahm Yukimaru zur Kenntnis und schlüpfte neben den Amerikaner unter die Decken. Es überraschte ihn nicht, dass er wie ein Spielzeug auf den Hünen gezogen und mit einem muskulösen Arm gesichert wurde. "Kommt alles in Ordnung", raunte ihm Gilles leise zu. Fragte sich bloß, wer hier stärker des Trosts bedurfte. ~~~~~# Yukimaru erwachte am Morgen erstaunlich entspannt, blinzelte in die feinen Linien, die indirekt die Beleuchtung außerhalb ihres Aufenthaltsraums indizierten. Neben ihm, leise, aber nicht enervierend schnarchend, lag ein gewaltiger Alligator. »Er fühlt sich wohl«, stellte Yukimaru fest und setzte sich auf. Wie jeder Madararui zeigte Gilles im Schlaf wie in einer optischen Täuschung seine wahre Seele, die sich mit dem eigentlichen Erscheinungsbild überlagerte. Yukimaru hatte keine Ahnung, ob ihm das selbst auch passierte, denn er war ja inmitten von Affen aufgewachsen und von Natur aus darauf programmiert, sich selbst zu verteidigen und seine Disposition zu verbergen. Meeresgetier war nicht nur selten, sondern auch mächtig und extrem vorsichtig. Um Gilles nicht aufzuwecken, huschte er ins Badezimmer, ließ sich auf einem der Hocker vor dem Spiegel nieder und kämpfte mit seinem dunkelroten Lockenschopf. »Irgendwie lächerlich«, dachte er zum wiederholten Mal und fragte sich, warum er es nicht wie der Amerikaner hielt und einfach die Locken herunterstutzte. Das hatte er allerdings dann nie in die Tat umgesetzt, sondern nur hier und da Stufen hineingesäbelt, um überhaupt der widerspenstigen Flut Herr zu werden. So reichten sie ihm nun bis zur Taille, zumindest einige Stränge elastischer, dunkelroter Springfedern. Yukimaru konnte es selbst nicht erklären, aber aus irgendeinem Grund mochte er seine wilden Zausellocken am Liebsten, wenn sie lang waren, sich frech über seine Schultern schmuggelten. Als leuchtende Farbtupfer seinem fahl-weißen Auftreten das gewisse Etwas verliehen. In einem tollkühnen Moment hatte Tarou gemutmaßt, es hänge möglicherweise mit dem Bild zusammen, das sie alle prägte, von den Meerjungfrauen und Nixen! Waren die nicht alle schaumgeboren und langhaarig? Woraufhin Yukimaru pointiert bemerkte, er sei KEINE Frau, besten Dank auch! »Trotzdem...«, er drehte einen langen Lockenstrang um den Zeigefinger, was einige Zeit dauerte und einen gewaltigen Knäuel produzierte. Dann studierte er, blöd, sich etwas vorzumachen!, endlich seine Augenfarbe. Das Tückische an dieser ungewöhnlichen Erkrankung war, dass sie bis zur finalen Erblindung das tatsächliche Sehen nicht sonderlich einschränkte! Man merkte es kaum, hier und da eine gewisse Unschärfe, ein Hang zur Blendung, doch nichts Dramatisches! Kein Hinweis, dass es von einem auf den anderen Tag schwarz werden würde. »Und dann guckt man in die Röhre!« Yukimaru schnitt sich eine Grimasse. Er konnte nicht mal in einem völlig verdunkelten Raum ausharren, aus Angst, es seien SEINE AUGEN, die nichts mehr erkannten. »Deshalb musst du etwas tun!«, ermahnte er sich selbst und richtete sich auch gleich zu seiner wenig imponierenden Gestalt auf, drückte das Rückgrat durch. Sich hängen lassen und herumjammern, das kam ÜBERHAUPT NICHT in Frage! »Die blöden Pheromone!«, seine Augenbrauen grüßten sich über der Nasenwurzel ärgerlich. Ja, eigentlich sollte er doch wie ein Männer-Magnet wirken, nicht wahr?! Nach dem zu urteilen, was er in Erfahrung gebracht hatte, um sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, galt Meeresgetier als unglaublich fortpflanzungsmüde. Jedoch, mal auf Touren gebracht, als geradezu DIE Verkörperung von Sexappeal! »Bloß bei mir klappt's nicht!«, knurrte er sich selbst unzufrieden an und rieb sich energisch über die flache Bauchdecke, als könne der Wurm darunter dadurch zur Arbeit angehalten werden. Wenn Schwergewichte paarungswillig waren, benötigten sie oft ein ganzes Rudel an Leibwächtern, um die Interessierten abzuwehren, die nicht für den Nachwuchs als Spender in Frage kamen. »Ist ja alles SO KOSTBAR!«, er streckte sich die Zunge raus. Eigentlich verachtete er die Hierarchie der Madararui, ihr Kasten-Denken, die unausgesprochene Herrschaft einer Oligarchie, die untereinander Kinder als Pfand zeugte, um ihre Sippenmacht zu stärken oder auszubauen. Gefühle waren dabei bloß Fußnoten, denn der Instinkt und die Sexuallockstoffe genügten schon, um für die Paarung Sorge zu tragen. Unerfreulicherweise garantierte diese Konstellation ihm nun, dass er die Chance erhielt, der drohenden Erblindung zu entgehen. »Mir geht's auch nicht besser als Gilles«, energisch zwirbelte er seine Haare zu einem Zopf zusammen, den er als Kranz um den Schädel wickelte. »Der hat zwar sein Erbe als Drachen-Schwergewicht, aber nicht die richtige Hautfarbe für seinen Clan. Und ich habe keinen Clan, kann aber mein Erbe als Meeresgetier plus weißer Haut zu Markte tragen!« Es war widerlich. Es war die Realität. ~~~~~# "Du bist so still." Gilles schenkte Yukimaru aufmerksam Tee nach, der eigentlich keinen Durst mehr hatte, aber sich eilig bedankte, aus seiner Geistesabwesenheit auftauchte. "Entschuldigung", murmelte er, hob dann mutig den Kopf, um in die schwarzen Augen zu sehen. Ob Gilles dasselbe Dilemma empfand, das ihn plagte? "Woran denkst du, hm?", der Amerikaner zwinkerte, langte über den Tisch, um ihm den Nacken zu kraulen. »Von wegen Sexappeal!«, dachte Yukimaru. »Als Eichhörnchen vielleicht! Oder als Fersenhobel!« "Traust dich nicht, es mir zu sagen?" Gilles leerte seinen Teebecher in einem großen Schwung, seufzte dann und brummte, "ich schwöre dir, wenn ich hier raus bin, dann trinke ich einen ganzen EIMER Kaffee!" Yukimaru grinste angesichts des zerknittert-verzweifelten Gesichtsausdrucks artig. Er rutschte auf die Knie und beugte sich vor, nahm Gilles ins Visier, der ihn erwartungsvoll ansah. "Denkst du...manchmal an das Kind?" Gilles' Miene verdüsterte sich, er kehrte Yukimaru das Profil zu. Sehnen arbeiteten unter der Haut, verrieten die Anspannung. Abrupt stand der Amerikaner auf, ragte gewaltig in die Höhe, marschierte auf und ab, mit der Vehemenz einer Person, die an körperliche Ertüchtigung gewöhnt ist und sie diszipliniert absolviert. Auch wenn es gerade erheblich an Begeisterung mangelte. »Falsches Thema«, konstatierte Yukimaru, ohne die anfängliche Beklommenheit, begann damit, das Geschirr auf dem klappbaren Tisch zusammenzuräumen. Er blickte hoch, als Gilles stehen blieb, ihn anstarrte. "Und du?", grollte sein Bass. Die Stirn in winzige Falten gelegt setzte sich Yukimaru auf ein Kissen, zog die Knie vor die Brust und versiegelte sie mit den dünnen Armen. "Ich bin nicht sicher, ob es richtig ist", begann er zögerlich, "ich WEISS zwar, dass ich keine andere Wahl habe, aber..." Er legte den Kopf in den Nacken, blinzelte hoch, "was wird aus dem Kind werden?" "Wahrscheinlich ein entsetzlicher Snob", brummte Gilles, ließ sich dann schwerfällig neben Yukimaru nieder. Der konnte erkennen, dass es sich nicht um dessen letztes Wort in der Sache handelte. "Ich mag den alten Drachen nicht", Gilles klang bitter und auch verletzt, "kann nicht ausstehen, was für eine Einstellung sie hat." Er zog eine wütende Grimasse, "wir sind ausgestoßen, weil meine Eltern sich verliebt haben und ihnen egal war, wer welche Hautfarbe oder welches Vermögen hat oder nicht hat! Das ist beschissen unfair!" Unwillkürlich nickte Yukimaru. "Und, ganz ehrlich", Gilles streckte eine gewaltige Hand aus, um Yukimarus Kinn sanft zu umfassen, "wenn ich nicht wüsste, dass ich DEINE Chance bin, operiert zu werden, dann hätte ich das verdammte Geld sausen lassen und wäre wieder abgehauen." Yukimaru erschrak und erkannte an der Miene seines Gegenüber, dass ihm seine Emotionen anzusehen waren. "Keine Angst", der Amerikaner lächelte zärtlich, "ich lass dich nicht hängen. Mein angekratzter Stolz ist nicht so viel wert wie dein Augenlicht." Damit legte er die Hand auf Yukimarus Schoß, der vorsichtig seine kleine darin verschwinden ließ. "Weißt du", Gilles drückte die Hand behutsam, sah ihm in die bordeauxroten Augen, "der alte Drachen hat nicht mehr viel Zeit. Dieses Kind wird gut behandelt werden, weil sie es als Nachfolger braucht. Sie kann sich keinen Fehler mehr leisten. Drei Söhne hat sie schon verloren." Yukimaru nickte stumm. "Wir müssen uns einfach darauf verlassen, dass es gut ausgehen wird!", beschwor ihn Gilles eindringlich. "Genau!", fühlte er sich zu einer Bekräftigung genötigt, lächelte grimmig. "SO ist's recht!", Gilles zerwühlte ihm mit der freien Pranke den mühsam arrangierten Haarkranz und feixte. ~~~~~# Nachdem die Hausdame mit ihren Begleiterinnen die übliche Routine vorgenommen hatte, blieben sie sich erneut selbst überlassen. Yukimaru blätterte in den Arbeitsunterlagen, fühlte sich aber nicht richtig disponiert, um konzentriert die Übungen anzugehen. Er warf einen fragenden Blick zu Gilles hinüber, der unruhig auf und ab tigerte, nachdem er einige gymnastische Kraftübungen absolviert hatte. Ihre Blicke trafen sich, die verlegene Ratlosigkeit zweier Fremder, die etwas Intimes miteinander teilen sollten. "..es liegt an mir, oder?" Yukimaru wandte sich ab, wählte sein unzulängliches Schulenglisch, denn damit fiel es ihm, trotz der Angst vor Fehlern, leichter, die persönliche Ansprache zu formulieren. "Ich bin einfach nicht sexy." Mit dröhnenden Schritten näherte sich Gilles, plumpste neben ihm ächzend auf die Tatami und angelte sich brummend ein paar Sitzkissen heran, denen er seine Kehrseite anvertraute. "Das stimmt nicht", antwortete er leise mit sonorer Stimme, "nichts ist deine Schuld. Niemand trägt schuld." Unaufgefordert angelte er Yukimarus Zopf heran, löste ihn auf und begann, die einzelnen Lockenstränge systematisch aufzuteilen, um sich an einem neuen Geflecht zu versuchen. "Tatsache ist, in jeder anderen Situation würden wir beide nicht miteinander in die Kiste springen", führte er aus, unterstrich mit beiden Händen plus Zopf seine Aussage gestisch. "Klar sind wir beide rattenscharfe, stramme, obergeile Super-Typen", er rollte eindrucksvoll mit den Augen, damit auch Yukimaru, dem einige Adjektive unbekannt waren, ihm folgen konnte, "bloß bellen wir beide ganz andere Bäume an." Yukimaru blinzelte ratlos. Gilles seufzte und grummelte, "das kann ich nicht auf Japanisch übersetzen." "Verstehe", nickte Yukimaru rasch, denn die Absicht war ihm dank Körpersprache nicht entgangen. "Der Wurm...", murmelte er und nagte an seiner Unterlippe, "irgendwie..." Ja, irgendwie musste der verflixte Wurm angefeuert werden, damit die dämlichen Pheromone Gilles auf Touren brachten, um wiederum dafür zu sorgen, dass die Begattungsbereitschaft stieg! »Bloß«, Yukimaru warf einen konzentrierten Blick auf den Weidenkorb, »wie werde ich willig?!« ~~~~~# "Das ist einen Versuch wert", verkündete Gilles enthusiastisch, um sich dann erneut fürsorglich zu Yukimaru herunterzubeugen, "sag mir aber sofort Bescheid, wenn du es nicht mehr aushältst, in Ordnung?" "Jawohl", versicherte Yukimaru tapfer, kehrte Gilles den schmächtigen Rücken zu und streifte sich die Yukata von den Schultern. Sie rutschte haltlos auf seine Hüften. Glücklicherweise verfügte der streng herbeigeorderte Heizstrahler über eine erfreuliche Kapazität und versöhnte mit der kalten Brise, die unaufhörlich durch den Raum strich. Yukimaru schauderte kurz, als Gilles ihm die mit Schmucksteinen besetzte Maske über die Augen band. »Alles in Ordnung«, redete er sich selbst ein, »ich habe bloß die Augen zu und die Maske auf! Alles paletti!« Natürlich raste sein Herz trotzdem, aber er hoffte, dass diese Maßnahme es ihnen erleichtern würde, in die richtige Stimmung zu kommen. Außerdem gehörte sie zu einem ausgeklügelten Plan, den er tollkühn entworfen hatte! "Gut, dann geht's jetzt los", raunte Gilles hinter ihm. Yukimaru konnte nun nur noch ahnen, was vorging, auch wenn instinktiv seine besonderen Sinne ansprangen, um ihn vor Schaden zu bewahren. Ein anregender, ER-regender Duft von Vanille breitete sich aus. Gemäß der Betriebsanleitung sollte dieses Aroma für Entspannung und eine sinnliche Atmosphäre sorgen. Gilles strich ihm mit den Fingerspitzen das Massageöl zunächst auf die knochigen Schulterblätter. Nicht nur durch den kreisenden Körperkontakt entstand Wärme, nein, auch das Öl selbst erzeugte Hitze und speicherte sie. Bald keuchte Yukimaru, glühte nicht nur äußerlich, zerrte sich den Gürtel vom Leib, um der Yukata zu entschlüpfen. Gilles folgte ihm, wechselte nun die Partien, die er bearbeitete, sodass es in Yukimaru vor gespannter Erwartung prickelte. Herrlich warm, die Glieder geschmeidig und dann dieser Duft! Er fühlte sich gut und spürte nun auch, wie sich seine gesamte Haltung veränderte. Er wollte sich aalen, räkeln, schnurren vor Wohlbehagen! Und wenn Gilles nicht rasch genug dort Hand anlegte, wo es ihm gefiel, dann versorgte er sich eben selbst! Gilles' tiefes Lachen vibrierte dunkel durch den Raum, klang rau und begehrlich. "Du hast lange genug allein gespielt, Schneeflocke", wisperte er kehlig an Yukimarus Ohr. Und dann raschelte Stoff zu Boden. ~~~~~# Yukimaru wand sich, ganz unwillkürlich, von seinem Körper regiert. Der MOCHTE diese zähe, glühende Flüssigkeit durchaus, mehr noch den Reibungswiderstand, wenn er sich bewegte. Muskeln und Sehnen anspannte. Laut stöhnend wand sich Yukimaru unter Gilles, der über ihm kauerte, ihn manuell auf den Höhepunkt steuerte. Doch bevor er den Gipfel erreichte, entzog ihm Gilles den Kundschafter, drehte ihn auf den Rücken und schmiegte sich auf ihn! Yukimaru rang nach Luft, obwohl Gilles ihn nicht mit seinem Gewicht über Gebühr belastete, denn plötzlich war da so VIEL Hitze! Und Gilles' gewaltige Erektion, die sich an seiner eigenen rieb! "Deine Hände!", zischte Gilles rau, kniete sich weiter, um Yukimarus Beine zu spreizen. Geführt von einer großen Hand assistierte Yukimaru, ächzte, weil er die innere Liebkosung vermisste und SO KURZ vor dem Ziel stand. Er verstand nicht, was Gilles murmelte, befleißigte sich aber der Handreichungen, keuchte, als heißer Atem sein Gesicht verbrannte. Yukimaru drehte den Kopf, erst rechts, dann links, schabte mit den Fersen über das Laken, suchte nach Erlösung. In diesem Moment landete ein Kuss auf seinen geteilten Lippen. Von Hormonen besoffen ließ er sich einladen, schnappte nach der heißen Zunge, die seine eigene umschlang. Jeder Kuss vertiefte sich, Yukimaru umklammerte mit der freien Hand Gilles' Nacken, buckelte, um ihm näher zu sein. Sie erlösten sich beinahe zeitgleich. ~~~~~# Atemlos, schwitzend blinzelten sie zur Zimmerdecke, umgeben von Kissen, Decken und zerwühlten Laken. "...wow...", formulierte Gilles treffend. Er tastete nach Yukimarus Hand, fand sie und drückte sie behutsam. "Funktioniert doch..." Der keuchte und rollte sich herum, schmiegte sich an Gilles' Seite. Die Veränderung machte ihn doch ein wenig bang. "He", Gilles zog ihn auf sich, wickelte die muskulösen Arme um Yukimarus zierliche Gestalt, "das war gut! Wir sind auf dem richtigen Weg!" Es klang so enthusiastisch, so amerikanisch, dass Yukimaru unfreiwillig grinsen musste. Er legte die Wange auf Gilles' kräftige Brustpartie, lauschte dessen Herzschlag und wartete darauf, dass sich sein Puls wieder beruhigte. Beinahe hatten sie die letzte Bastion geknackt! ~~~~~# Nach dem Mittagessen kauerte sich Yukimaru frisch geduscht und in eine Yukata gehüllt vor den Heizstrahler. Gilles blätterte gelangweilt durch eines der Magazine, die man ihm überlassen hatte. Ohne Kenntnis der japanischen Schriftsprache ein eher fades Vergnügen. "Gilles", Yukimaru räusperte sich nervös, "wollen wir...es... noch mal versuchen?" Das Blättern verstummte abrupt. "...glaubst du, dass du schon wieder fit bist?" Gilles erhob sich, seine schweren Schritte auf den Tatami signalisierten die Annäherung. Yukimaru zuckte mit den Schultern. "Hör mal", Gilles ging hinter ihm in die Hocke, stützte sich mit den imposanten Händen auf seinen knochigen Schultern ab, "die Entscheidung über das Tempo triffst du. Ich bin erwachsen und kann mich selbst versorgen, ergänzte er betont nüchtern. Das unruhige Herumzupfen an der Yukata gereichte nicht zur Ablenkung, also musste Yukimaru mit sich selbst ins Gericht gehen: was wollte er?! Gilles wechselte von der Hocke in einen Schneidersitz, fädelte ungefragt unter Yukimarus Knien ein, stützte dessen Rücken und lud ihn sich einfach auf den Schoß. Wickelte die muskulösen Arme um ihn. "Du hältst dich wirklich gut", raunte er dumpf in Yukimarus ungebärdige Locken, "verdammt tapfer. Zwing dich nicht, wenn du noch Zweifel hast." Yukimaru ballte die Fäuste, zerknitterte eingefangene Stofffalten. "...es ist nur...!", setzte er wütend auf sich selbst an, "...es ist nur...weil ich so eng bin!" Röte überflammte seine Wangen, obwohl er nicht einmal davon überzeugt war, sich angemessen und treffend in der Fremdsprache ausgedrückt zu haben. Auf seiner Wange landete ein warmer Kuss, "das ist normal, Schneeflocke. Macht mir allerdings auch Sorgen." "Die Pillen helfen wohl nicht, wie?", angelte Yukimaru nach einem Hoffnungsschimmer. "Betäuben bedeutet bloß, dass du nicht merkst, wenn's wehtut", stellte Gilles trocken fest, "aber der Schmerz kommt trotzdem. Wenn die Wirkung nachlässt." "Was soll ich dann tun?", ratlos wandte sich Yukimaru in der Umarmung, sah zu Gilles hoch. Wusste der Amerikaner denn keinen Rat? Gilles seufzte, streichelte ihm abwechselnd mit dem Handrücken über die Wangen. "Flöckchen, ich kann dir nur versprechen, dass ich so behutsam wie möglich sein werde. Versuch, es zu WOLLEN." Leichter gesagt als getan! "Selbsthypnose", murmelte Yukimaru, lehnte sich an und starrte gedankenverloren auf die Leuchtröhren des Heizstrahlers. Wenn er sich selbst nun einredete, ein ganz Anderer zu sein... ~~~~~# Yukimaru hatte keine Ahnung, wie sich Playboys einstimmten. Oder Ladykiller. Dazu kannte er sich einfach zu wenig aus in der Welt und seine persönlichen Umstände ermutigten auch nicht gerade dazu, sich mit dieser Thematik näher zu beschäftigen. »Trotzdem!«, nahm er sich an die Kandare. Er musste sich doch bloß einreden, dass Gilles SEIN Traumpartner war! Er selbst total verknallt! »Ha ha«, schnaubte sein gut geölter Zynismus gehässig. Leider, zumindest in diesem Augenblick, konnte Yukimaru nicht von sich behaupten, jemals verliebt gewesen zu sein. Er neigte zur Nüchternheit, verfügte über eine gehörige Portion Skepsis und litt unter chronischem Misstrauen. Wobei er selbst das nicht unbedingt als Leiden einstufte, sondern vielmehr als eine Ausprägung von Vernunft und Selbsterhaltungstrieb. »Ich muss meinen Kopf ausschalten!«, erkannte er, lehnte sich in Gilles' warme Umarmung. WENN er sich vorstellen konnte, nur Körper zu sein, lediglich der eigenen Lust zu gehorchen, DANN sollte es eigentlich... funktionieren. Theoretisch. Unerwartet hob Gilles' gewaltige Rechte sein Kinn an, dann küsste ihn der Amerikaner auf den Mund. "Drehen wir den Spieß doch mal um", raunte er guttural, "warum versuchst DU nicht, MICH zu verführen?" Yukimarus Kinnlade gesellte sich zu seinen spitzen Knien. "Wie bitte?!" ~~~~~# Irgendwann inmitten des Bemühens, einen wahrhaftigen Hünen zu streicheln und aufzuwärmen, was in Schwerstarbeit aufgrund der Dimensionen ausartete, vergaß Yukimaru einfach seine Bedenken. Sein Verstand blieb schlichtweg erledigt auf der Strecke zurück, während er keuchend und schwitzend rackerte, um Gilles auf Touren zu bringen. Yukimaru glühte, jeder Muskel protestierte, weil er gar nicht über die notwendige Kraft verfügte, einen solchen Riesen zu massieren! Geschweige denn, ihm schönzutun! Von Gilles hatte er zwar gelernt, wie man vorgehen konnte, doch die exakte Kopie gelang ihm kaum. Ächzend, dunkelrote Lockenstränge auf der nassen Haut klebend, kauerte er neben ihm auf den Knien, bemühte sich, seine versprengten Gehirnzellen zu einer konzertierten Aktion zu überreden, um den nächsten Schritt zu wagen. Wie auch immer der aussehen sollte, denn es zeigten sich keine Anzeichen dafür, dass er mit seinen Bemühungen Fortschritte machte! Gilles stützte sich auf die Ellen, studierte den ausgepumpten Yukimaru einen Moment, bevor er schwungvoll die Knie unter den Leib zog, sich aufsetzte und nach ihm haschte. Natürlich erwischte er Yukimaru, der nicht mit einer Attacke gerechnet hatte. Rasch und ohne Zögern wölbte er sich über ihn, setzte die Hände zielgerichtet ein. Da half kein Buckeln und Zappeln: Yukimaru stöhnte kehlig vor Verlangen, zitterte, weil sein Körper von ihm Erlösung verlangte, sein Partner jedoch noch kein Einsehen zeigte. Im Gegenteil! Gilles drehte ihn auf den Rücken, ließ die pochende Erektion auf Nimmerwiedersehen in seiner Linken verschwinden und gebot Yukimaru knurrend, ihm zur Hand zu gehen. Der bog sich, streckte sich, tastete mit flatternden Lidern, nahm beide Hände zur Hilfe, um den gewaltigen Pumpschwengel anzuregen. Dabei kochte er selbst vor Hitze, fieberte, wehrte sich auf verlorenem Posten gegen die Herrschaft der Hormone. Die WOLLTEN. Sie wollten den Mann, den Widerpart, dessen herb-maskuliner Geruch sie anwehte, dessen raue, tiefe Stimme Unverständliches brummte, in dessen Macht die Glückseligkeit lag! Endlich zeigte der Wurm seine ganze Magie: Yukimarus Leib hungerte danach, von einem Männchen begattet zu werden! ~~~~~# "...he...Schneeflocke." Yukimaru blinzelte, wollte den Kopf heben, doch der schien viel zu schwer für seinen Nacken, löste sich einfach nicht vom Kissen! Ein muskulöser Arm half, hob ihn an wie ein Kind, lehnte ihn an eine gewaltige Brustpartie. "He, da bist du ja wieder", auch Gilles' Stimme klang so zärtlich und liebevoll, als spräche der zu einem Säugling. Yukimaru krächzte, bekam aber keine zusammenhängenden Worte über die Lippen. Eine immense Hitze schien ihn verschlingen zu wollen, kochte ihn sengend von innen heraus. "So, jetzt langsam", angenehm solide und kühl berührte ein Teebecher aus Steingut seine Lippen, dann schluckte er gierig die eingeflößte Flüssigkeit. Mit der freien Hand strich ihm Gilles anschließend dampfende Locken aus dem Gesicht, studierte ihn besorgt. "Wie fühlst du dich?", erkundigte er sich sonor. Yukimaru wusste nicht, ob und wie er antworten sollte. Es verhielt sich nicht so, dass er sich elend fühlte, aber irgendwie... irgendwie stand er kurz davor, ohne jeden Grund loszugreinen. Und das behagte ihm ÜBERHAUPT NICHT! Mühsam nuschelte er hervor, "waschn paschierd?" Gilles' Stirn warf mächtige Falten, dann blitzte Erkenntnis in den schwarzen Augen auf. "Nun ja", vorsichtig bettete er Yukimaru auf ein frisches, noch angenehm kühles Kissen, "wir haben sozusagen den letzten Schritt gemacht." Er grimassierte, "allerdings warst du danach nicht mehr ansprechbar. Und hast immer noch Fieber." Yukimaru blinzelte matt. Sie hatten es geschafft, und er konnte sich nicht mal daran erinnern?! »Was für ne Pleite!«, schnarrte seine innere Stimme vernichtend. »Und deshalb hast du dir so nen Kopf gemacht vorher?!« "Ah...", stellte Yukimaru heiser fest, lächelte geistesabwesend und fiel wieder in einen tiefen Schlaf. ~~~~~# Die leisen Geräusche, die sich nicht vermeiden ließen, als die Hausdame mit ihren Begleiterinnen das Frühstück servierte, weckten Yukimaru schließlich auf. Gilles hatte sich bereits angekleidet, duftete dezent nach Rasierwasser und inspizierte argwöhnisch das servierte Menü mit der tragikomischen Miene eines Mannes, der wider alle Wahrscheinlichkeit auf Eier mit Speck und Kaffee hoffte. Er wurde, selbstverständlich, enttäuscht und stocherte deshalb missmutig im Reis herum. "...guten Morgen", krächzte Yukimaru und kam ungelenk in die Senkrechte. "Guten Morgen, Schneeflocke", Gilles lächelte ihm aufmunternd zu, "geht's dir besser?" Klapprig, als wären sämtliche Glieder falsch montiert, stellte sich Yukimaru auf seine Füße, sah an sich herab und äußerte verhalten eine erste Diagnose, "ich glaube, schon." "Das ist fein. Wie wär's mit ner Katzenwäsche und dann hockst du dich zu mir zu diesem...", er verzog bitter das Gesicht, "diesem entsetzlich gesunden Mahl?" "Natürlich", beeilte sich Yukimaru, stolperte fast über die Decken, "sofort!" Im Badezimmer ließ er die Yukata fallen, stieß sie von sich, denn sie müffelte nach seinem eigenen Empfinden bereits, war gründlich durchgeschwitzt worden. Dann wagte er einen kontrollierenden Blick in den Spiegel. Gilles war zu höflich, um ihn mit Kussmalen zu zeichnen, dennoch hatte Yukimaru das Gefühl, überall gebrandmarkt zu sein. »Also gut....«, mit zusammengepressten Lippen spreizte er die Beine und tastete tapfer mit einer Hand nach seinem Anus. Der schien, abgesehen von einer gewissen Gereiztheit, keine erheblichen Schäden davongetragen zu haben. Keuchend atmete Yukimaru aus und ließ sich erleichtert auf einen Badehocker sinken. Also hatte Gilles Wort gehalten! »Dumm nur, dass du alles verpasst hast...« "Nein", widersprach er sich laut, "vielleicht gehört das sogar so!" Denn, wenn man sich vorstellte, dass Männer temporär weibliche Pheromone ausstrahlten und sich zu Paarungszwecken gegen ihre gewohnte Inklination richten mussten, dann konnte es ein psychologisch wertvoller Verdrängungsmechanismus sein! Plötzlich schien eine gewaltige Last von Yukimarus Schultern genommen. Er richtete sich kerzengerade auf, schüttelte die Schultern aus, streckte sich herausfordernd im Spiegel die Zunge heraus und klopfte sich auf die noch rosigen Wangen. Was man einmal konnte, das konnte man auch oft genug, bis man schwanger war! Mit neuem Mut angelte er eine Waschschüssel heran, um sich gründlich einzuseifen. »Ich schaffe das!« Gar kein Problem. ~~~~~# Gilles warf ihm einen prüfenden Blick zu, als er in den Aufenthaltsraum eintrat. Yukimaru lächelte, hob dann die Hand und zeigte das Victory-Zeichen. Das entlockte Gilles ein sonores Auflachen. "Na, komm her, Schneeflöckchen, Zeit, was zwischen die Kiemen zu bekommen!" Nach dem Frühstück, wieder allein mit frischem Bettzeug, wandte sich Yukimaru Gilles zu. Der nickte, schlug die Decken zurück und streifte Yukimaru ohne viel Federlesens die Yukata vom Leib. Begann, ihn zu liebkosen, seine Hände wandern zu lassen. Yukimaru löste den ohnehin zerpflückten Zopf auf, schüttelte seine dunkelroten Locken aus und begann seinerseits, Gilles von störender Bekleidung zu befreien. In seinem Magen rumorte es, aber es war der Wurm, der da wie besessen pochte. Seinen Puls beschleunigte. Hitzewellen ausstrahlte. Keuchend leckte Yukimaru sich über die Lippen, blinzelte in Gilles' schwarze Augen. Die Pheromone wirkten bereits. ~~~~~# Auch dieses Mal schienen sich die Details aus Yukimarus Erinnerung zu verabschieden, ohne dass er sich dieser partiellen Amnesie erwehren konnte. Er wusste aber, dass er dieses Mal nicht ohnmächtig geworden war. Nein, er hatte gespürt, mit jeder Faser seines Seins, wie Gilles in ihm explodierte. Wie dessen Sperma in einer gewaltigen Eruption kochend heiß hoch in seinem Leib schoss. "Hier", Gilles half ihm beim Trinken, kämmte ihm nasse Locken aus dem Gesicht. Er stellte den Becher weg, beugte sich über den erneut ausgestreckten Yukimaru und küsste ihn auf den Mund. Gemächlich, herausfordernd. Yukimaru seufzte begehrlich. Der Wurm war hungrig. ~~~~~# Gilles hielt ihn im Arm, während sie sich im heißen Wasser der Bodenwanne entspannten. Es musste mitten in der Nacht sein. Endlich. Sie sprachen beide nicht viel, waren zu erschöpft. Und auch, uneingestanden, ein wenig erschrocken. Gegen Madararui-Pheromone hatten Prinzipien, Überzeugungen und moralische Bedenken schlichtweg keine Chance auf Dominanz. Gilles mochte sich noch so oft versichern, dass er sich niemals aus freien Stücken an Kindern, Jungs oder Männern vergreifen würde, sie ihn nicht einmal erregen konnten: Yukimarus Lockstoffe versiegelten seinen Verstand. Sie rasten direkt in seinen Unterleib, von Auge, Ohr, Mund und Nase ohne Umweg in sein Glied. Das sofort und allzeit bereit alert agierte. Yukimaru erging es nicht anders. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie er sich unter dem Einfluss der Hormone verhielt, die der Wurm dosiert entsandte! Es genügte schon zu wissen, dass er sich wand, kehlig und heiser nach mehr verlangte, niemals genug bekam. Nun, zumindest für den Augenblick, schien der Wurm eine Auszeit einzulegen. Gönnte ihnen eine kurze Unterbrechung. Trotzdem schmiegte sich Yukimaru an Gilles. Es war tröstlich, nicht allein dieser verfluchten Fortpflanzungsgewalt ausgeliefert zu sein! ~~~~~# Kapitel 4 - Isolation Am siebten Tag seines Aufenthalts in der Residenz der Amashikis erschien direkt nach dem Frühstück die Hausdame erneut und forderte Yukimaru auf, sie zu begleiten. Gerade rechtzeitig, denn sonst hätte er sich mit Gilles erneut dem hingegeben, was sie seit einigen Tagen ständig beschäftigte: Sex. Eilig raffte Yukimaru seine Yukata zusammen, wickelte sich gegen die Kälte noch eine Haori über und tappte hinter der älteren Frau her. Eine kurze Odyssee später ließ sie ihn in einem anderen Raum allein, dann betrat der Arzt, der ihn zuerst auf Geheiß der Amashikis untersucht hatte, das Zimmer. Yukimaru begrüßte ihn zurückhaltend und ermahnte sich streng, bloß nicht rot anzulaufen, weil dieser Mann intime Kenntnisse über seine Disposition vorher und nachher erlangte! Er wurde nun gründlich untersucht, streng ermahnt, ausreichend zu essen, da er noch immer zu dünn sei und dann mit der Ankündigung entlassen, dass in einer Woche erneut diese Routineuntersuchung erfolgen würde. Gilles erwartete ihn angespannt bei seiner Rückkehr, klappte ein müßig aufgeschlagenes Übungsheft zu. "Alles in Ordnung mit dir?", erkundigte er sich unverbrämt. "Ja, danke", Yukimaru lächelte, streifte sich die Kleider vom Leib, glitt dann nackt unter die frischen Decken des Futon. "Jede Woche ein ärztlicher Checkup. Es geht mir gut." "Das beruhigt mich", brummte Gilles und überraschte sich selbst mit der Erkenntnis, dass er TATSÄCHLICH erleichtert war. Diese Gedanken verflogen rasch, als Yukimaru sich an ihn kuschelte, wärmebedürftig und erneut paarungsbereit. "Fürs College!", schnarrte Gilles mit trockenem Humor und nahm seine Arbeit auf. ~~~~~# Eine weitere Woche verstrich, angefüllt mit Mahlzeiten, Bädern, kurzen Ruhepausen und hauptsächlich rhythmischem Körperkontakt. War der Hunger des Wurms erst mal geweckt, ließ er sich nicht einfach stillen. Außerdem war Yukimaru auch bei der zweiten Untersuchung als nicht schwanger entlassen worden. Trotz ihrer engagierten, unermüdlichen Versuche. Gilles hielt ihn schwer atmend in seinen Armen, streichelte mit einer gewaltigen Hand durch Yukimarus feuchte Locken. "Das wird schon", tröstete er rau, "mach dir keine Gedanken. Genieß es, Schneeflocke." Yukimaru zog die Schultern hoch. Wenn er sich selbst ehrlich konfrontierte, dann gestand er sich ein, dass es ihm wirklich gefiel. Sich vollkommen gehen zu lassen. Mit Gilles zu spielen, ihn herauszufordern, eine Balgerei anzustiften. Um dann vor Wonne zu stöhnen und zu schreien, wenn der ihn von hinten nahm. SO wollte sich Yukimaru zwar überhaupt nicht selbst sehen, aber er verleugnete nicht, dass er sich SO verhielt. »Der Wurm«, beschwichtigte er seinen gequält heulenden Stolz, »das ist nur dem verflixten Wurm geschuldet! Sonst würde ich nie...!« Aber sicher war er sich längst nicht mehr. ~~~~~# "Schneeflocke?" Yukimaru, an Gilles' Seite geschmiegt und erschöpft genug, um in Morpheus' Arme ohne Zwischenaufenthalte zu sinken, brummte leise. Gilles neigte sich tiefer, raunte durch zerraufte Locken, "sag's ihnen, bevor der Quacksalber es feststellt." Schlagartig war Yukimaru hellwach, schoss hoch und starrte im Halbdunkel auf den Amerikaner, der sich gelassen auf den Rücken drehte. "..aber...wie...", stotterte Yukimaru, lief vor Scham dunkelrot an. Unter ihm lächelte Gilles, streckte eine Hand aus und zog Yukimaru zu sich herunter. Sehr leise raunte er, "ich bin dein Partner, Schäfchen, du kannst nicht ständig ALLES vor mir verstecken." "...ich...ich wollte nicht...!", hochrot vergrub Yukimaru das Gesicht an Gilles' vertrauter Brustpartie. "Schon gut", eine mächtige Hand streichelte über seinen Rücken, "schon gut." Yukimaru umklammerte Gilles beinahe schmerzhaft, plötzlich bange. Er selbst wusste seit zwei Tagen, dass er schwanger war. ~~~~~# Obwohl das Thema nicht mehr angesprochen wurde, ließ Gilles sich nichts anmerken, schlief weiterhin so häufig und leidenschaftlich mit Yukimaru, als hätten sie nicht bereits das gesteckte Ziel erreicht. Yukimaru war ihm dafür sehr dankbar, denn der verflixte Wurm reduzierte SEINEN Appetit nur unwesentlich. Und außerdem spürte Yukimaru die Veränderung. Sie machte ihm Angst. Wie ferngesteuert wählte er plötzlich am Geruch aus, was ihm mundete, selbst wenn er manche Speisen regelrecht verabscheut hatte! Das ungeborene Kind, nicht mehr als eine Zellansammlung, diktierte in Komplizenschaft mit dem verwünschten Wurm, wie lange er im heißen Wasser sitzen durfte. Dass er auf keinen Fall vergaß, sich die Haut einzucremen! Unerwartet gymnastische Übungen absolvierte, wobei ihm Gilles eiligst Gesellschaft leistete. Trotzdem. Der dritte Arztbesuch stand bevor, die Wahrheit würde ans Licht gebracht werden. Beklommen frühstückte Yukimaru, hatte eigentlich gar keinen Appetit, aber ein fremder Zwang kannte kein Pardon, trampelte ungeniert auf seinem Zartgefühl herum. "He", Gilles langte über den niedrigen Tisch, wischte Yukimaru eine verirrte Locke aus dem spitzen Gesicht, "wie wär's mit nem bisschen Gymnastik?" Yukimaru warf ihm einen überraschten Blick zu, denn normalerweise warteten sie ungeduldig mit dem Sex, bis die Hausdame mit ihrem Gefolge abgerauscht war. Er nickte, schlüpfte achtlos aus seiner Yukata und kroch in den Futon zurück. Gilles folgte ihm, schob sich über ihn. Leise, kaum hörbar, raunte er in Yukimarus Ohr, "überlass alles mir." Es war anders, dieses Mal. Weniger stürmisch, handgreiflich, leidenschaftlich. Langsamer, bedächtiger. Aufgefüllt mit Küssen, die nach Melancholie schmeckten. Und ungeachtet des bevorstehenden Arztbesuchs hielt Gilles Yukimaru fest in den Armen, gab ihn nicht frei, während die Spuren ihrer Lust in die Laken sickerten. ~~~~~# "Entschuldigung." Yukimaru hörte sich selbst mit beherrschter, dunkler Stimme sprechen, unterließ aber eine Erklärung für seine Verspätung. Andererseits durften nonverbale Andeutungen der Hausdame genügt haben, dem Arzt zu erklären, warum er sich nicht zeitig eingefunden hatte. So eine gründliche Säuberung benötigte eben ihre Zeit! Dachte Yukimaru trotzig, rührte sich nicht von der Stelle, bis er mit dem Arzt allein im Zimmer war. Dann eröffnete er, ohne Vorwarnung, "ich darf Ihnen mitteilen, dass ich schwanger bin." Der kritische, durchaus überraschte Blick bewies ihm, dass außer Gilles, in dessen Gegenwart er sich wohl gelegentlich vergessen hatte, noch niemand ihm ansah, in welchem Zustand er sich befand. Ohnehin verfügten nur die fähigeren Schwergewichte über die entsprechende Disposition, aber Yukimaru hatte es nicht darauf ankommen lassen wollen. Es erschien ihm irgendwie schäbig, ja, charakterlos, sofort in Jubel auszubrechen und den Triumph auszudrücken, dass es ihm gelungen war, einen wesentlichen Schritt zur Selbsterhaltung vollbracht zu haben. »Außerdem...« Außerdem plagte ihn ein ungutes Gefühl. Nicht allein wegen des unbekannten Wesens, das jetzt schon Vorrechte für sich beanspruchte, die ihn ärgerten! »Aber!« Yukimaru gestand sich selbst zu, wütend zu sein, aufbegehren zu wollen. Mit gerade mal 14 Jahren konnte man wohl von niemandem erwarten, sich selbstlos und glücklich einem Ungeborenen zu unterwerfen! »Auch wenn es nicht MEIN Kind sein wird.« Nein, eine gewisse Verantwortung wollte er nicht abstreifen. Und sich selbst nicht ganz so sehr wie eine Brutmaschine vorkommen. "Nun, das sind erfreuliche Nachrichten", bemerkte der Arzt schließlich reserviert, verzichtete dem Anlass entsprechend auf Glückwünsche. Diese gebührten wohl eher der Madame. Die Untersuchung beanspruchte naturgemäß sehr viel mehr Zeit als zuvor. Erneut wurde Yukimaru ermahnt, ordentlich zu essen, dazu mussten nun Nahrungsergänzungsmittel geschluckt werden. Wenn er sich nicht vorsah, drohten ihm auch Spritzen, denn sein Zustand entsprach nicht den gehobenen Erwartungen des Arztes! Yukimaru hielt sich zur Ruhe an, immerhin waren sie beide hier, um einen Job zu erledigen. Dabei konnte er von Glück reden, wenn die Madame nicht auch noch vom Ehrgeiz besessen war, ihrem Enkel vorgeburtliche Schulung zumuten zu wollen! Als er endlich zurück in den Aufenthaltsraum kehren durfte, erwartete ihn ein befremdliches Bild: Gilles war vollständig angezogen und packte seine Reisetasche. "Was...was tust du denn?!", erschrocken vergaß Yukimaru seine betont souveräne Haltung, packte Gilles an einem Arm. "Der Nigger hat seine Schuldigkeit getan, also geht der Nigger nun", stellte der Amerikaner knapp fest, blickte sich um, ob nichts vergessen war, vermied den Augenkontakt. "Nein! Bitte, kannst du nicht bleiben?", Yukimaru gab so schnell nicht auf, umklammerte eine mächtige Hand. "He", unvermittelt fand er sich hoch gehoben, wie ein Kind auf eine Hüfte gelupft und umschlang sie mit den dürren Beinen, "Schneeflocke." Gilles presste die Lippen zusammen, schluckte sichtbar. "Es ist besser so, Flöckchen, glaub mir." Damit ließ er Yukimaru zu Boden, der ihm entgeistert nachsah. "Aber...aber ich brauche dich! Bitte!", flehte er kindlich, jedoch mit der heiseren Stimme eines Heranwachsenden. Der Amerikaner erstarrte. Ließ langsam die Träger seines Reisegepäcks sinken, wandte sich zu Yukimaru um. >Komm her<, winkte ein gekrümmter Zeigefinger, und Yukimaru sprang Gilles förmlich in die Arme. Der hob ihn hoch, hielt ihn fest an sich gedrückt und raunte eindringlich in dessen Lockenschopf. "Schneeflocke, da draußen warten ein paar Gorillas, die mich rausschmeißen werden, wenn ich nicht selbst gehe. Mein Rückflug ist gebucht, die Aufenthaltserlaubnis abgelaufen. Ich KANN nicht bleiben." "...aber...!", protestierte Yukimaru kläglich und schluckte an einem bitteren Kloß in seiner Kehle. Gilles wiegte ihn sanft, mühelos, "ich bin hier nicht willkommen, Flocke. Das war ich nie. Ich MUSS gehen." Nun, endlich, blickte er in Yukimarus bordeauxrote Augen, die vor Tränen der Panik schwammen. Sollte er hier ganz allein eingesperrt bleiben?! "Yukimaru", zum ersten Mal hörte er seinen Namen aus Gilles' Mund, traurig, aber bestimmt, "du schaffst das. Du wirst das Kind bekommen und deine Operation überstehen. Wir tun beide, was wir müssen und es gelingt uns. Lass dir nicht den Schneid abkaufen, versprochen?" Yukimaru schniefte, wischte sich ungelenk über die Augen, bemühte sich reflexartig um ein Lächeln, auch wenn ihm zum Heulen zumute war. Man verlor nicht einfach die Fassung, das gehörte sich nicht! Nicht mal, wenn ein dämlicher Wurm und ein Ungeborenes sich verbündeten, um den Hormonhaushalt zu terrorisieren! Behutsam stellte Gilles ihn wieder auf die Füße, löste dann die lederne Schnur mit der goldenen Perle von seinem Nacken und band sie Yukimaru um den Hals. "Ein Glücksbringer. Für alle Fälle", Gilles küsste ihn zärtlich, brüderlich auf die Stirn, "ich denke an dich, Schneeflocke. Nur Mut!" Yukimaru gelang ein knappes Nicken und ein schiefes, feuchtes Grinsen, dann umarmte er den gewaltigen Amerikaner noch einmal. Starrte trostlos und mit geballten Fäusten auf die hünenhafte Gestalt, die sich entfernte. Bevor man ihn ganz allein in dem großen, nun sehr leeren Raum einsperrte. ~~~~~# Es gehörte nicht zu Yukimarus Gewohnheiten, Trübsal länger als notwendig zu blasen. Er WAR unglücklich und fühlte sich verlassen. Andererseits hatte er beim ziellosen Herumblättern in den Lernunterlagen auf einer Seite, eilig hingekritzelt, Gilles' E-Mail-Adresse gefunden. Und das gab ihm den Mut ein, sich trotzig den Herausforderungen zu stellen. Nach dem zu urteilen, wie man Gilles abserviert hatte, konnte er selbst nicht erwarten, jemals wieder in Kontakt mit dem noch ungeborenen Kind zu treten. Treten zu dürfen. »Aber!«, dachte er entschlossen. Sollte dieses Kind, das in ihm heranwuchs, irgendwann den Wunsch verspüren, die leiblichen Eltern kennenzulernen, so wollte er bereit sein. Außerdem interessierte es Gilles vielleicht auch, wie er die Angelegenheit überstanden hatte. Wenn es endlich überstanden sein würde! Mit der Ankündigung seiner Schwangerschaft änderte sich in seinem Alltag nun ab dem folgenden Morgen Einiges. Nun wurde er jeden Tag in einen Nachbarraum geführt, wo eine Krankenschwester diverse Messungen vornahm, alle Ergebnisse sorgfältig notierte, um dann dafür zu sorgen, dass man ihm bestimmte Nahrungsergänzungsmittel verabreichte. Yukimaru schluckte sie, ebenso, wie er aß, was sein Körper begehrte. Er blieb jedoch vorsichtig, nicht zu viel zu essen, denn durch die jahrelange Diät konnte er sich nicht leicht an üppigere Mahlzeiten gewöhnen. Zusätzlich zu dieser verstärkten Aufsicht erhielt er eine der begehrten Spielkonsolen mit diversen Kontrollgeräten, die ihm zur körperlichen Ertüchtigung verhelfen sollten. Neugierig, da er solche Apparate zwar aus den Spielarkaden kannte, aber niemals in den Genuss gekommen war, sie auch zu testen mangels finanzieller Möglichkeiten, erprobte er munter sein Können. Es machte Spaß, auch wenn er die Einsamkeit spürte. Dann lernte er, in Ermangelung anderer Ablenkung und verfasste Briefe an Tarou. Das fiel ihm gar nicht so leicht, denn sie waren niemals lange getrennt gewesen und er hatte sich daran gewöhnt, nur Notwendiges auch auszusprechen. Tarou schien immer bereits zu wissen, was er dachte oder fühlte, da bedurfte es keiner ausschweifenden Einlassungen! Nun schilderte er eben seine neu entdeckten Fähigkeiten als Tennisspieler oder Golfer, beschrieb Gilles und die enervierende Plage, ständig essen zu müssen, was er gar nicht mochte. Lediglich einen Part ließ er geflissentlich aus, teils aus Scham, teils aus Wut über sich selbst. Das schwache Fleisch! Obwohl er es verabscheute, überlistete ihn der Drang mehr als einmal, den Weidenkorb zu öffnen, aus einer schmucken Schatulle ein Objekt zu entnehmen, von dem er überzeugt gewesen war, es NIEMALS zu benötigen. Ja, nicht mal zu verstehen, wie irgendjemand aus freien Stücken...!! Er wusste es nun besser. Und warum auch nicht?! Hielt er sich trotzig vor. Es war ja nicht so, als hätte er SELBST dieses Bedürfnis, oh nein! Der verflixte Wurm suchte diese Lust! Aber solche Charakterschwächen wollte er Tarou lieber nicht verraten. Obwohl er beinahe jeden Tag kleine Briefe an seinen besten Freund richtete, erhielt er keine Antwort. Wurden sie vielleicht nicht weitergeleitet? Oder sammelte man Tarous Antworten und händigte sie ihm nicht aus?! Yukimaru suchte um Auskunft nach, doch die Hausdame schwieg ihn bloß an. Zeigte er sich nach dem wiederholten Abblitzen zornig, winkte sie Beistand heran. Yukimaru erhielt trotz seines heftigen Widerstands eine Beruhigungsspritze, die ihn derart betäubte, dass er nur noch lallend und schwindlig auf dem Futon liegen konnte. Schließlich vergingen die acht Wochen, und unter seiner Handfläche wölbte sich tatsächlich eine kleine Kugel. Yukimaru hatte sich mit dem Kind, das er nun von zahlreichen Ultraschallaufnahmen kannte, ausgesöhnt. Er wollte endlich raus aus dem Gefängnis, zu dem die Residenz geworden war! Wieder mit jemandem sprechen, der nicht bloß auf seinen Unterleib starrte und ihn ignorierte, soweit es nicht das ungeborene Kind betraf. Außerdem hatte sich in den letzten Tagen seine Sicht getrübt, eine Indikation dafür, dass seine Erblindung fortschritt. Deshalb war Yukimaru dankbar, dass er mit seinen Habseligkeiten, Gilles' E-Mail-Adresse und dessen Glücksbringer die gewaltige Residenz verlassen durfte, um in die exklusive Privatklinik einzuziehen. Natürlich wurde er erneut so gründlich auf den Kopf gestellt, dass er glaubte, nie wieder IRGENDWELCHE Geheimnisse vor irgendwem haben zu können. Er lauschte beiläufig der Klage darüber, dass er noch immer zu wenig wog und ersparte sich den Hinweis darauf, dass ihn seit einiger Zeit üble Gliederschmerzen plagten. Die Erklärung hatte er selbst auch ohne Hilfe entdeckt: nicht nur seine Stimme hatte sich geändert, auch der Rest seines Körpers zeigte nun erhebliche Anstrengungen, erwachsen zu werden. Vor allem aber seine Dimensionen auszuweiten. Das hatte er an seiner Schuluniform abgemessen. In seinem Einzelzimmer richtete er sich am Fenster ein und starrte gedankenverloren auf die Gebäudeschluchten. »Zum ersten Mal habe ich die Kirschblüte komplett verpasst«, stellte er fest und kreiste gedankenverloren über der Beule auf seinem Unterleib. Morgen würden sie voneinander getrennt werden, denn am Vormittag stand die Operation an. ~~~~~# Spärlich in ein Kittelchen gehüllt und nun durchaus nervös lauschte Yukimaru angespannt den Erläuterungen, die man beiläufig herunterleierte. Eine Routineaufgabe, die abgehakt wurde. Für ihn selbst war es die erste Operation überhaupt, und er konnte nun nur noch hoffen, dass alles gut ging. Denn wenn ihn die Dunkelheit der Narkose umarmte, war er wehrlos ausgeliefert. ~~~~~# Tarou hasste U-Bahn-Fahrten. Zumindest ohne Yukimaru. Vor allem, wenn der seit drei Monaten vom Erdboden verschluckt worden war. Ständig grapschte man ihn an, ganz ungeniert, als sei das normal und er habe das gefälligst als gott- oder vielmehr naturgegeben hinzunehmen! Er schluckte die Demütigung und den Selbstekel, wusste, dass niemand ihm zur Hilfe kommen würde. Im Gegenteil, man würde wegsehen und -hören. »Ich kann mich wohl glücklich schätzen, dass es nicht schlimmer ist«, würgte er bitter. In der Schule wenigstens nahm niemand die Möglichkeit wahr, ihn quälen zu können. Denn es war allgemein bekannt über Yukimarus Verbleib, dass dieser nur temporär dem Unterricht fernblieb, aber zu Beginn des neuen Schuljahres zurückkehren werde. Deshalb legte man sich besser nicht mit jemandem seines Kalibers an. Diese Fremden hier jedoch, sie wussten nichts über Yukimaru. Alles, was sie sahen, war ein hochaufgeschossener, schlanker Schuljunge mit schmalen, blassen Gesicht, der ein Hunde-Leichtgewicht repräsentierte und demzufolge Freiwild war. Tarou umklammerte den Personenalarm in seiner Tasche, spürte die nervöse Nässe auf der Haut. Sein Vater hatte ihm das Gerät in die Hand gedrückt, als er in die Grundschule kam. Hunde-Leichtgewichte mussten immer damit rechnen, dass man sie attackierte. Belästigte. Quälte. Oder vergewaltigte. Ohne Yukimarus Beistand fühlte Tarou sich nackt und schutzlos. Und es gab NICHTS, was er aus eigener Kraft daran ändern konnte! ~~~~~# Zum wiederholten Mal präsentierte er die kurze Notiz auf einer exklusiven Visitenkarte, die ein Eilbote ihm ausgehändigt hatte. Daraufhin durfte er passieren, endlich die Station betreten, die in der noblen Privatklinik für die erwartungsvollen Eltern ausgestattet war. Es überraschte ihn, dass die Amashikis tatsächlich rücksichtsvoll genug waren, Yukimarus Freunde zu informieren. Damit hatte er nicht gerechnet und deshalb seit Yukimarus letzter Nachricht unermüdlich die Klatschspalten der Madararui-Gesellschaft verfolgt, um auch nicht den kleinsten Hinweis auf dessen Wohlergehen zu verpassen. Nun überreichte ihn ein imposanter Mann im Maßanzug mit Sonnenbrille eine Papptüte ohne Aufschrift, nickte knapp und machte wortlos kehrt, während Tarou verblüfft diesen Auftritt verdaute. Zwischen vornehm dekorierten Blumengestecken und exklusiven Sitzmöbeln wartete er, bis man ihm den Zutritt zu den einzelnen Räumen gestattete. Er lugte in die Tüte hinein und fand kleine Kuverts, die dem ähnelten, den er von Yukimaru erhalten hatte. Eilig breitete er den Inhalt auf einem niedrigen Beistelltischchen aus und registrierte, dass es sich tatsächlich um Briefumschläge handelte, die Yukimaru beschriftet hatte. Sie waren bloß niemals aufgegeben worden! Da sie ohnehin an ihn adressiert waren, hatte Tarou keine Scheu, sie zu öffnen und rasch zu überfliegen. Wieso hatte niemand ihm diese Briefe zugeleitet?! Und... wenn er Yukimarus dezente Anspielungen richtig verstand, der ihn offenkundig vermisst hatte, aber nicht aufdringlich erscheinen wollte, immerhin lagen Prüfungszeiten, wenn auch von minderer Bedeutung, hinter ihnen... Dann hatten ihn umgekehrt auch seine eigenen Briefe nicht erreicht! »Was für eine Gemeinheit!«, stellte er empört und resigniert zugleich fest. Es half gar nichts, sich jetzt darüber zu erregen. Mutmaßlich war ihre schriftliche Kommunikation als hinderlich für die so entscheidende Schwangerschaft eingestuft worden, und wer war er denn, sich darüber zu beklagen?! »Ich konnte ja gar nichts tun, um ihm zu helfen«, SO sah die traurige Wahrheit aus. Man musste sich den Notwendigkeiten fügen, Illusionen entlarven und sich ihrer entledigen. Eine adrett gekleidete Krankenschwester sprach ihn an, höflich, nicht so herablassend, wie man ihn bisher adressiert hatte, BEVOR er die Visitenkarte wie einen Zauberstab gezückt hatte. Er durfte nun in ihrer Begleitung hinter die nächste Schleuse treten. Und wurde erneut gebeten, sich einen Moment zu gedulden. »Noch ein Moment, der in realer Zeit eine Viertelstunde ist«, seufzte Tarou innerlich. Langsam erschöpfte sich selbst seine langmütige Geduld. Da ihn niemand hinderte, spazierte er bis zum Ende des Ganges, den fröhlichen Geräuschen angenehmer Unterhaltung folgend. Vor einer gewaltigen Scheibe, über der Flachbildschirme wechselnde Bilder übertrugen, standen zahlreiche Personen, begeisterten sich für die Aussicht. Vorsichtig, um kein Missfallen zu erregen, schob sich Tarou im Hintergrund vorbei, um selbst einen Blick zu riskieren. Die Neugeborenenstation der Madararui! In intensiver Betreuung und vollkommen abgeschottet von der potentiell Viren verseuchten Umgebung wurden hier die Kleinsten betreut, all die Säuglinge, die von männlichen Madararui ausgetragen worden waren. Winzig klein bei der Geburt, zwischen 80 und 200 Gramm bloß, bedurften sie besonderer Betreuung, um ihre ersten Lebensmonate außerhalb des schützenden Leibs zu überstehen. Es erschien Tarou seltsam, wie glücklich sich Freunde und Verwandte um einen der Bildschirme, die Aufnahmen aus der Station übertrugen, gruppierten, in ihrem Rund das strahlende Paar der Eltern, einander eng umschlungen haltend. Freute sich auch jemand über das Kind, das Yukimaru geboren hatte? Brachte Luftballons und Spielzeug mit, vergoss Tränen der Begeisterung? Tarou nutzte die Chance, strich an jedem Bildschirm vorbei, doch nur der letzte der fünf weiteren Bildschirme zeigte Aufnahmen. Sofort wusste er, dass es sich um Yukimarus Kind handelte: ein winziges Drachen-Schwergewicht schlief in einem gewaltig anmutenden Brutkasten. Unwillkürlich, eingedenk von Yukimarus boshaften Andeutungen, zeichnete sich ein Grinsen auf seinem schmalen Windhundgesicht ab: das kleine Mädchen schmückten winzige, dunkelrote Löckchen! »Wenigstens hat sie Yukimarus Hautfarbe geerbt«, stellte er in einem Anflug von Zynismus fest. Aus eigener Erfahrung konnte er sich lebhaft vorstellen, wie man behandelt wurde, wenn man für zu leicht, zu dunkel oder grundsätzlich für mangelbehaftet befunden worden war. Impulsiv drückte er den angebrachten Knopf, erzeugte ein Foto, einen Bildschirmabdruck und steckte es eilig ein, bevor man ihn daran hindern konnte. Dann machte er kehrt, um rasch in den Flur zurückzukehren. Bei einer so einflussreichen Familie wie den Amashikis war nicht auszuschließen, dass niemand über Bilder von der Erbin verfügen sollte, um ihre Sicherheit nicht unnötig zu gefährden. Tarou befand allerdings, dass Yukimaru wenigstens ETWAS von seinem Kind haben musste, selbst wenn er keinerlei Anrechte mehr hatte. Kaum hatte er sich, mit der Papptüte und dem heimlich ausgedruckten Foto ausgerüstet, wieder mit nonchalantem Gesichtsausdruck aufgebaut, huschte die Krankenschwester heran, entschuldigte sich hastig und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Es habe da ein Missverständnis gegeben. Nervös heftete sich Tarou an ihre Fersen, registrierte, dass man die Station gegen eine weniger exklusive eintauschte. Und hier musste er erneut Platz nehmen und warten. Ein älterer, gehetzt wirkender Mann schlurfte erst an ihm vorbei, sah sich suchend um, brummte dann kehlig Tarous Namen und hob sichtlich überrascht die Augenbrauen, als der aufstand. "Du bist das?", knurrte der Mann schließlich und stellte sich als Angehörigenbetreuer vor. "Dachte, es käme ein Vormund. Ein Erwachsener. Oder jemand vom Heim", erklärte er knapp seine Verblüffung, "nun ja." Tarou folgte ihm unbehaglich und verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass sein bester Freund ohne Vormund für sich selbst entscheiden musste. Stattdessen wurde er in ein Mehrbettzimmer geführt, vorbei an zwei älteren Männern, die mit leerem Blick über ihn hinwegsahen. Ohne Federlesen zerrte der Angehörigenbetreuer ratschend den trennenden Vorhang zur Seite und bot Tarou die unerfreuliche Aussicht auf seinen besten Freund. Yukimaru hing an einem erschreckenden Maschinenpark, bepflastert mit Membranen, verkabelt und ansonsten unterhalb der dünnen Decke sehr nackt. Auf dem spitzen Gesicht ruhte eine Atemmaske, darüber verbarg eine dicke Binde die Augenpartie bis hoch in die Stirn. Und man hatte Yukimaru an den Gelenken mit Lederriemen fixiert. "Aber... was hat das zu bedeuten?!", quietschte Tarou entsetzt, schnellte reflexartig vor, um eine weiße, kalte Hand zu ergreifen. "Pscht!", ermahnte ihn der ältere Mann verdrießlich, "das ist hier ein Krankenhaus!" Tarou schluckte eine gehässige Retourkutsche herunter, beugte sich über Yukimaru und wischte klebrige Locken aus dessen Gesicht. "Es gab da Komplikationen", ungeduldig wippte der Angehörigenbetreuer neben ihm auf die Zehenspitzen, wollte sich nicht allzu lange aufhalten. "Was für Komplikationen?", herrschte Tarou, von sich selbst überrascht, ihn harsch an. "Nun ja", wie ein Pfau spreizte der ältere Mann imaginäre Federn, plusterte sich auf, als drohe man ihm bereits mit Schmerzensgeldklagen. "SELBSTVERSTÄNDLICH verlief die Entbindung problemlos. Wir haben dann gleich, um das Narkoserisiko zu verringern, auch die Augen-OP angeschlossen." "Dann ist jetzt alles in Ordnung?! Er wird nicht mehr blind?!" Für einen Moment abgelenkt von den Komplikationen konzentrierte sich Tarou auf diesen Aspekt, immerhin die Ursache für alle Anstrengungen. "Die Operation verlief nach Lehrbuch", antwortete ihm der älterer Mann arrogant, "wir haben hier Spezialisten!" "Warum gab's dann Komplikationen?!" Tarou drückte Yukimarus schlaffe Hand, um sich Mut zuzusprechen. "Tja, das liegt eben in der Natur der Meeresgetiere", dozierte der Angehörigenbetreuer unbeeindruckt, "sie sind nun mal sehr stark in dem verhaftet, was sie sind. Der spezielle Wurm war sicher sehr kostspielig", ergänzte er neidisch. "Ja, aber was bedeutet das denn nun?!" Tarou warf einen Blick auf seinen besten Freund, der entsetzlich elend aussah. "Tja", wieder wippte der ältere Mann ungeduldig, "männliche Schwergewichte adaptieren nur sehr widerwillig die weibliche Disposition für eine Schwangerschaft. Und danach, wenn der Wurm seine Schuldigkeit getan hat, dann geht's eben rapide zurück in den Urzustand." "Und deshalb...?" Tarou zerdrückte den Pappgriff in seiner anderen Hand. "Oh, nun ja, die Pubertät kommt erschwerend dazu", ein missbilligender Blick traf den wehrlosen Yukimaru. "Deshalb haben wir ihn in einen künstlichen Schlaf versetzt und mit Schmerzmitteln versorgt. Mutmaßlich Ende der Woche können wir ihn aufwecken und entlassen." Tarou atmete tief durch, betrachtete Yukimaru. "Darf ich ihn besuchen? Jeden Tag?" "Nun, ich sehe keinen Hinderungsgrund", wurde ihm beschieden, "solange die anderen Patienten nicht gestört werden." Damit nickte er kurz, als sei alles gesagt, ließ Tarou allein zurück. »DAS ist ALLES?«, Tarou blinzelte, schluckte seine Empörung herunter. Sie waren fertig und nun ließen sie Yukimaru hier herumliegen, konnten es gar nicht erwarten, ihn loszuwerden?! "Ich kümmere mich jetzt um dich, Yuki", versprach Tarou, streichelte über den verkabelten Handrücken, "jetzt wird alles gut." ~~~~~# Mit einem festen Ziel vor Augen, nämlich der Gelegenheit, sich zu rehabilitieren und das Stigma der Nutzlosigkeit zu tilgen, krempelte Tarou metaphorisch gesprochen die Ärmel hoch und begab sich an seine selbst gewählte Aufgabe. Nur widerwillig verließ er Yukimaru an diesem Abend, registrierte nicht einmal, dass ihn trotz Enge in der U-Bahn ein Sicherheitsabstand wie ein Halo umgab. Denn er stellte im Geiste eine lange Liste an Dingen auf, die unbedingt erledigt werden mussten. Deshalb erschien er auch nach dem Unterricht am nächsten Tag gut ausgerüstet, in den dunkelbraunen Augen das Feuer einer heiligen Mission lodernd. Zunächst hob er behutsam Yukimarus Kopf an, legte ein Handtuch unter. Begann damit, seinem besten Freund die dunkelroten, mitgenommenen Locken mit einer Apfelessig-Essenz zu kämmen, um ihnen wieder ihren alten, betörenden Glanz zu verleihen. Damit war er durchaus eine Weile beschäftigt, in grimmiger Entschlossenheit, die Vernachlässigung wettzumachen. Anschließend legte er unter den nunmehr gepflegten, mit einem sanften Balsam behandelten Kopf, lästigerweise noch immer mit Atemmaske und Augenbinde verunziert, ein flaches Kopfkissen mit quietschbuntem Bezug. Über die einfache Klinikdecke zog er einen ebenso farbigen Überzug, cremte, leicht errötet, die eisig kalten Hände und Füße seines besten Freundes ein, um sie mit Socken zu bedecken. Zumindest, soweit es Membranen und Kabel zuließen. Ihn dauerte Yukimarus Zustand sehr. So dürr und ausgemergelt, kläglich abhängig von irgendwelchen Leitungen, die ihn wie eine Marionette verstrickten! Er befestigte ein buntes Mobile, hängte ein selbst gefertigtes Gutwetterpüppchen ans Fenster und fragte sich, was er noch tun konnte, seinem Freund die Situation zu erleichtern. »Ich könnte seine Kleider mitnehmen und waschen!«, entschied er. Yukimaru würde sich doch sicher darüber freuen, wenn er am Ende der Woche in die eigenen, frisch gereinigten und gebügelten Kleider steigen konnte! Gesagt, getan! Tarou packte zusammen, was man achtlos im Schrank verstaut hatte, die wenigen Habseligkeiten seines besten Freundes, der seit Jahren schon mit einer Plastiktüte eine ordentliche Schulmappe ersetzte. »Bettler können eben nicht wählerisch sein«, diese bittere Tatsache erboste ihn nun. Yukimaru hielt sich immer so tapfer, so nobel und unbeeindruckt, trotz der unsäglichen Lage, in der er sich befand! Und deshalb musste er selbst sich ein Beispiel nehmen, durfte niemals verzagen! ~~~~~# Zwei Tage später entschied man, in Anbetracht der entstandenen Kosten und bei Berücksichtigung aller Empfindlichkeiten, Yukimaru aus dem künstlichen Tiefschlaf zu wecken. Die kleine Wunde in seinem Unterleib verheilte zufriedenstellend, die übrigen Lebenszeichen verrieten keine besorgniserregenden Hinweise auf eine Gefahr. Also konnte man ihn genauso gut wieder den Widrigkeiten des Alltags aussetzen. Insgesamt fünf Zentimeter größer im Vergleich zur ersten Untersuchung vor der Implantierung des Wurms, drei Kilo leichter und definitiv auf dem Weg in eine ungeheuer rasch ablaufende Pubertät. Doch dazu gab es ja schließlich Schmerzmittel, die man verschreiben konnte! Yukimaru kam nur langsam zu sich, registrierte den Übergang in eine bewusste Wahrnehmung seiner Umgebung als Zunahme von peinigenden Schmerzen und einer steten Übelkeit. Unruhig wand er sich auf dem Bett, noch immer fixiert, um nicht teure Instrumente zur Aufzeichnung seiner Vitalfunktionen versehentlich herunterzureißen. Mochten es auch nur die letzten Abschiedsgrüße seiner temporären Disposition als Weibchen sein: sie trafen ihn heftig und gnadenlos. So erschreckte es Tarou, als er zu Beginn der offiziellen Besuchszeit eintraf, Yukimaru mit leichtem Fieber anzutreffen, die Lippen ohne die Atemmaske nun ausgefranst vor Trockenheit und zerbissen. "Nun...", neben ihm, eilig alarmiert, wozu sonst waren die Alarmknöpfe montiert?, wippte der Angehörigenbetreuer ungeduldig auf den Zehenspitzen. "Das sind ganz normale Anzeichen für den Aufwachprozess. Pubertät eben. Verläuft gelegentlich etwas unangenehm. Werden nachher auch die Augenbinde abnehmen, dann ist morgen Entlassung." Angesichts Yukimarus gegenwärtigem Zustand hielt Tarou das für ausgeschlossen. "Aber er hat Schmerzen! Sie können ihn doch nicht nach Hause entlassen, wenn er krank ist!", begehrte er mit mühsamer Zurückhaltung auf. "Dafür, junger Mann", schnauzte der Angehörigenbetreuer empört, "sind wir nicht zuständig! Wachstumsprobleme gehören nicht zu unserem Ressort." Und ließ Tarou mit dieser Aussage einfach stehen, marschierte mit hochgerecktem Kinn hinaus. Was tun?! Tarou überlegte fieberhaft, ob es einen Sinn hatte, seine Eltern zum Beistand herbeizurufen. Oder möglicherweise die Direktorin des Waisenhauses? Wenn man Yukimaru hier nicht mehr helfen wollte, dann könnte man ihn doch wenigstens in ein städtisches Krankenhaus überweisen? »Aber nein!«, schlug er sich selbst vor den Kopf, »die Madame!« Eilig suchte er die Visitenkarte heraus, die ihm den Zutritt gewährte, suchte nach einer Telefonnummer. "Ich bin gleich wieder bei dir, Yuki", versprach er seinem Freund und wischte zur Tür hinaus, flitzte den Gang hinunter, bis er einen Fernsprecher fand. Mobiltelefone in Betrieb zu nehmen, war innerhalb des Betriebsgeländes untersagt, weshalb hier mit Kartentelefonen operiert werden musste. »Herrje!«, seufzte Tarou, eilte zum Empfangsschalter, um gegen einen Teil seiner Barschaft eine Telefonkarte zu erwerben, wählte dann erwartungsfroh die aufgedruckte Nummer. »Yuki, Hilfe naht!« ~~~~~# Eine Stunde später verteilte Tarou mit bleicher, zorniger Miene Vaseline auf Yukimarus Lippen, kämmte ihm mechanisch Locken aus der verschwitzten Stirn. »Ich hoffe, die Kleine hat Yukis Charakter geerbt!«, wünschte er grimmig, drückte eine zuckende Hand beruhigend. »Dann mischt sie diesen sauberen Clan ordentlich auf!« Nach einer wahren Odyssee mit zahlreichen Stationen, deren Teilnehmer samt und sonders NICHT zuständig waren, hatte ihm schließlich eine unterkühlte Frauenstimme mitgeteilt, dass der abgeschlossene Vertrag sich ausschließlich und abschließend auf die ärztliche Behandlung der Augen-OP bezog. Eventuelle Erkrankungen, die nicht UNMITTELBAR Folge der Schwangerschaft und/oder der Augen-OP waren, fielen nicht unter die Bestimmungen des Vertrags und seien als allgemeines Lebensrisiko selbst zu tragen. Ein anderer wäre wohl in diesem Moment, um Hoffnungen betrogen und einen erheblichen Teil seines Bargelds erleichtert, in eine lautstarke, blumige und bildreiche Schimpfkanonade ausgebrochen, doch Tarou schwieg. Dafür konnte er innerlich toben und schnauben und brüllen und zürnen. Man lernte als Hunde-Leichtgewicht eben schnell, welche Optionen verfügbar waren. Yukimaru glühte und schwitzte, stöhnte in seinem Halbschlaf, nun ohne die lindernden Schmerzmittel der ganzen Gemeinheit einer sich rächenden Wachstumsperiode ausgesetzt, die nun komprimiert wütete. Es hatte sich auch noch kein Arzt gefunden, der die Resultate der Augen-OP begutachtete und die Binde entfernte. »Das ist ein Albtraum!«, dachte Tarou und hasste die eigene Hilflosigkeit. Was sollte er jetzt nur tun?! ~~~~~# Irgendwann, er wusste es selbst nicht zu sagen, musste er, die Arme unter dem Kopf verschränkt, auf Yukimarus Bett eingeschlafen sein. Eine Hand um dessen in eine Socke halb verpackte gelegt, vage hoffend, die Creme würde wenigstens die Extremitäten seines bestens Freundes warm halten. Mit schmerzendem Genick richtete er sich auf, stellte fassungslos fest, dass es bereits mitten in der Nacht war. Niemand war gekommen, um nach Yukimaru zu sehen oder ihn selbst aus dem Gebäude zu expedieren! Yukimaru stöhnte wieder leise, murmelte Unverständliches mit heiserer Stimme und versuchte vergeblich, die Hände anzuheben. "Yuki? Yuki, ich bin's, Tarou!", eindringlich wisperte Tarou, drückte über das Bett gelehnt beide Hände bekräftigend, "Yuki, verstehst du mich?" "...Tarou?", krächzte Yukimaru mit dünner Stimme, "...uuuuuhhhhh, mein Kopf!" "Warte mal, rühr dich nicht, ja?", hastig gab Tarou die Hände frei, huschte im Halbdunkel der Nachtbeleuchtung durch das Zimmer, um lauwarmes Wasser aus einer tropfenden Kanne in einen Becher zu füllen. Es kostete ihn etwas Anstrengung, das widerspenstige Kopfteil des Bettes zur Kooperation zu überreden, doch dann hatte er es und Yukimaru aufgerichtet, hielt ihm den Becher an die Lippen und ließ ihn einige Schlucke nehmen. "Besser jetzt?", erkundigte er sich angespannt, wirrte klebrige Locken aus dem Gesicht. "...ich kann nichts sehen", stellte Yukimaru mit ungewohnt dunkler Stimme in einem Anflug von Panik fest, versuchte erneut, seine Handgelenke zu befreien, "warum bin ich angebunden?!" "Ganz ruhig", Tarou drückte die Fingerspitzen, "Yuki, ich mache dich los, aber du musst leise sein. Es ist mitten in der Nacht." "Was ist mit meinen Augen?", bange umklammerte Yukimaru Tarous Hände, gab ihm gar nicht erst die Gelegenheit, die ledernen Riemen aufzuschnallen. "Die sind zugeklebt und darüber ist eine Binde", erläuterte Tarou besänftigend, "der Arzt hat erklärt, die Operation sei gut verlaufen. Ich weiß aber nicht, ob ich sie einfach so runternehmen kann", ergänzte er aufrichtig, aber zweifelnd. "Mach mich los, BITTE!", Yukimaru krächzte eindringlich. "Schon dabei", Tarou zerrte an den Riemen, "aber, Yuki, BITTE zapple nicht herum!", ermahnte er streng. Nachdem er erst die Hände, dann die Fußgelenke befreit hatte, bemühte sich Yukimaru um eine bessere Sitzhaltung, zupfte blindlings an der Decke, die ihm zu entgleiten drohte. "Tarou?" "Hier", Tarou berührte ihn an der Schulter. "...wieso habe ich nichts an?!" Yukimaru klang nun weniger heiser und sehr viel misstrauischer. "Vermutlich wegen der Membranen und Schläuche, die sie vorher montiert hatten", wagte sich Tarou an eine Vermutung, fing eiligst Yukimarus Hände ein, die sich SOFORT des Sichthindernisses entledigen wollten. "Lass das und hör mir erst mal zu!", verlangte Tarou energisch. "ABER...Ich-Kann-Nichts-Sehen!", knurrte Yukimaru ungeduldig zwischen gefletschten Zähnen hindurch. "Das ist mir keineswegs entgangen", flüsterte Tarou eindringlich, "trotzdem hörst du mir erst mal zu. Es ist WICHTIG." "...fein", brummte Yukimaru endlich, "bitte, ich bin GANZ OHR." Tarou ließ sich auf dem Bett nieder, wickelte die Socken von Yukimarus Händen, eine Maßnahme, um die Wirkung der Creme zu verstärken, hielt ihn dann vorsorglich fest. "Also, ganz knapp", Tarou holte tief Luft, "seit der Entbindung ist eine Woche vergangen." Yukimaru schnappte überrascht nach Luft, doch bevor er nachhaken konnte, setzte Tarou eilig seine Erklärung fort, "es ist ein Mädchen, Drachen-Schwergewicht. Gleich danach haben sie deine Augen operiert. Und dann lagst du in künstlichem Schlaf, weil die Pubertät heftig eingesetzt hat. Ganz zu schweigen von der Umkehrung nach der Schwangerschaft." "...oh", stellte Yukimaru schließlich ausschweifend fest. Dann, sehr behutsam, tastete er sich an die Gegenwart heran, "warum fühle ich mich immer noch beschissen?" Nun seufzte Tarou, knetete unbewusst Yukimarus dünne Finger. "Tja, laut Vertrag ist das persönliches Pech. Morgen, nein, heute setzen sie dich an die Luft." "...aha", stellte Yukimaru grimmig, aber nüchtern fest. "...tut mir leid", entschuldigte sich Tarou, kam sich nun recht unsensibel vor. "Dazu besteht kein Anlass", grummelte Yukimaru, "hätte mich auch sehr gewundert, wenn es anders gekommen wäre." "Meine Briefe hast du wohl nicht erhalten, oder?", lenkte Tarou ab. "Nein", Yukimaru gab sich nicht einmal Mühe, überrascht zu wirken, "hast du meine erhalten?" "Ja. Nachdem man dich hierher gebracht hat", konnte sich Tarou nicht verkneifen zu ergänzen. "So so", knurrte sein bester Freund, "hat sich irgendwas getan, was ich JETZT noch unbedingt wissen sollte?" Tarou überlegte, verneinte dann entschieden. Für Klatsch und Tratsch hatten sie noch ausreichend Zeit, wenn es Yukimaru besser ging! "Schön", entschlossen entzog ihm der seine Finger, tastete an seinem Gesicht. "Warte, lass mich das machen", mischte sich Tarou ein, erhob sich, um zwischen dunkelroten Locken elastische Bänder zu lösen. Unter der Binde klebten Schutzpads auf Yukimarus Augenlidern. Tarou seufzte, "es ist zwar ziemlich dunkel hier, aber...bist du dir sicher?" "Hast du nicht gesagt, es wäre alles in Ordnung?" Yukimaru rieb sich ungeduldig die Finger, beanstandete dann mit einem Zungenschnalzen die überlangen Fingernägel. "Nun, denn!", Tarou klemmte die Zungenspitze im Mundwinkel ein, "das wird jetzt wehtun!" Immerhin hatte man die Pads mit Klebeband befestigt, unter anderem auch über die Augenbrauen hinweg. Yukimaru presste die Lippen aufeinander, nahm den Schmerz als unvermeidlich hin und blinzelte unwillkürlich. "Vorsichtig!", hauchte Tarou angespannt, legte die Hände zum Abschirmen über Yukimarus Augen, lupfte sie nur langsam. "...ich seh immer noch nix", fauchte Yukimaru, eher enerviert als erschrocken. "Total verklebt!", beklagte er sich ärgerlich und unternahm Anstalten, sich einfach die Augen zu reiben. "Nein, bloß nicht!", mischte sich Tarou hastig ein und umklammerte Yukimarus fragil wirkende Handgelenke, "irgendwo sind hier bestimmt Tropfen! Lass die Augen zu und fass NICHTS an!" "Ta-chan...", in diesen zwei Silben versammelte sich eine geballte Portion Ungeduld und Verdruss, doch Tarou ignorierte die drohende Entladung, blickte sich panisch um. Er hielt es für grundsätzlich EXTREM bedenklich, einfach so mit einbalsamierten Handrücken in frisch operierten Augen herumzurubbeln! "Kopf in den Nacken", kommandierte er, als habe er bereits die Tropfen aufgestöbert und kramte eilig im Halbdunkel herum. Hatte nicht einer der Zimmergenossen irgendwo...?! Glücklich fündig geworden studierte er flüchtig die Aufschrift, befand sie für unbedenklich und zupfte aus einem Spender einfache Zellstofftücher. "Los geht's", beeilte er sich, Yukimaru zu versichern, damit der nicht doch in Versuchung geriet, den Anweisungen zuwiderzuhandeln. Träufelte ungeübt, aber konzentriert wasserklare Flüssigkeit auf Yukimarus dichte Wimpern und wischte überschüssige Rinnsale sanft von den weißen Wangen. Yukimaru blinzelte, kniff wieder die Augen zusammen, blinzelte erneut, bemühte sich offenkundig, die in künstlicher Dunkelheit eingeschlossenen Linsen an die dämmrigen Lichtverhältnisse des Krankenzimmers zu gewöhnen. Schließlich wagte er, die Augenlider ganz aufzurollen, den Blick zu fokussieren. Tarou, der halb über ihm kauerte, in einer Hand zerknüllte Tücher, in der anderen den kurzerhand requirierten Flüssigkeitsspender, sackte mit herabhängender Kinnlade auf Yukimarus Bett herunter. "...ich bin nicht blind", stellte Yukimaru endlich ehrfürchtig mit flacher Stimme fest. Es war gelungen! All die Anstrengungen, die Entbehrungen, die Einsamkeit, die Demütigungen: sie hatten sich am Ende doch ausgezahlt! "Ta-chan, ich kann sehen", lächelte er seinen besten Freund an und registrierte nun einigermaßen verblüfft, dass Tarou weinte. Glasklare Perlen quollen aus den dunkelbraunen Augen, als habe jemand einen Hahn aufgedreht, ein Ventil geöffnet, ohne dass sich unsägliches Geheul anschloss. Nein, Tarou lief einfach das Wasser aus den Augen, während er ihn unverwandt anstarrte! "Was ist los?!", beunruhigt fasste Yukimaru seinen Freund an den Schultern, "was stimmt nicht?!" Aber Tarou antwortete ihm nicht. ~~~~~# "...also doch", stellte Yukimaru leise fest. Nun ja, er hatte nicht WIRKLICH erwartet, sich als verstoßenes Kind japanischer Eltern zu entpuppen, aber nun wusste er, dass diese Wahrscheinlichkeit knapp über Null lag. Hinter dem Komma. Unwillkürlich wickelte er die Decke enger um seinen nackten Leib, denn von irgendwoher zog es unerfreulich unter den Stoff. Tarou stand hinter ihm, blickte über seine Schulter ebenfalls in den Spiegel, die Nasenspitze vom Schnäuzen leicht gerötet. "Nun, SO schlecht ist es ja auch nicht", befand Yukimaru entschlossen. Man konnte, -nein, man WÜRDE!-, sich daran gewöhnen. "...schön", krächzte Tarou hinter ihm mit belegter Stimme, "...einfach schön!" "Na, so doll is das nun auch nich", brummte Yukimaru, kehrte dem Spiegel entschlossen den Rücken, "blaue Augen haben ne Menge Menschen." Leider nicht unbedingt hier, wo er lebte. Und das würde als Indiz angesehen werden, dass er ein Ausländer sein musste und deshalb bei der nächsten Überprüfung seiner Abstammung zweifellos zum Mittelpunkt neuer Ermittlungen. "Nein", widersprach ihm Tarou ungewohnt streng, "solche Augen hat nicht jeder!" Und sie profan als blau zu kategorisieren, entsprach keineswegs den Tatsachen! Vielmehr war es die Farbe einer tropischen Lagune bei Sonnenschein, eine brillante Mischung aus warmem Grün und ozeanischem Blau, ungewöhnlich und verzaubernd. Tarou konnte es gar nicht erwarten, bei Tageslicht in Yukimarus Augen zu sehen, den Kontrast zur weißen Haut zu bestaunen und das besondere Feuer der dunkelroten Locken mit dieser unglaublichen Farbgebung zu kombinieren. "Übertreib mal nich!", schnodderte Yukimaru bodenständig, den es ziemlich überrascht hatte, dass sein bester Freund seinetwegen als Wassersprenger fungierte. Das war ihm nun doch ein wenig peinlich, auch wenn er selbst die profunde Erleichterung über den glücklichen Ausgang dieses Abenteuers teilte. "Wichtig ist, was wir jetzt tun", lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Zukunft. "Zum Verschwinden ist es noch zu früh", Tarou konsultierte seine Armbanduhr kritischen Blicks, "außerdem fährt noch keine Bahn." Er hob den Kopf, "ich schlage vor, wir ruhen uns noch ein wenig aus. Ich habe dir keine Nachtwäsche mehr mitgebracht, aber wenn es dich nicht stört, kannst du schon mal etwas überziehen?" "Guter Gedanke", Yukimaru rümpfte die Nase, "aber vorher brauche ich DRINGEND eine Dusche!" Und jemanden, der Schmiere stand. ~~~~~# Tarou atmete erleichtert aus, als Yukimaru endlich einschlief. So viel Energie der auch angesichts der geglückten Operation freigesetzt hatte, zeigte sich recht schnell, dass Yukimaru erschöpft war und keineswegs in der Lage, sich heimlich mit ihm davonzumachen. Außerdem konnte er selbst auch eine anständige Mütze Schlaf gebrauchen, und hatte die vornehme Familie Amashiki nicht für eine weitere Nacht Logis gezahlt?! »Na eben!«, stellte er fest, schmiegte sich enger an seinen besten Freund. ~~~~~# "Ich verstehe nicht, warum es jetzt noch so voll ist!", murmelte Tarou unbehaglich, auch wenn er für Yukimaru einen Sitzplatz organisiert hatte. Aber an einem späten Vormittag am Ende der Woche sollten einfach nicht so viele Leute unterwegs sein, die heimlich herüberstierten und Yukimaru aus den Augenwinkeln anstarrten. Der wischte sich weniger verstohlen als matt mit einem Stofftuch übers Gesicht und hing wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf dem Sitzplatz. Glücklicherweise war es nicht mehr weit, denn Tarou fürchtete, dass Yukimaru ihm umfallen würde. "Komm", fasste er Yukimaru unter den Ellenbogen, zog ihn auf die Beine, "hier steigen wir aus!" Artig schwankte Yukimaru neben ihm her, rückte näher an Tarou heran, weil er im Gedränge den einen oder anderen Stoß erhielt. "Halt dich an mir fest", raunte Tarou deshalb, legte beschützend den Arm um die überschlanke Taille seines besten Freundes, zog ihn aus dem Menschensog zu einem Sitzplatz im Bahnhof. Yukimaru sackte förmlich in sich zusammen, atmete mühsam, vornüber gebeugt. Tarou ging vor ihm in die Hocke, tupfte ihm das Gesicht ab, "ich hole jetzt die Medikamente, Yuki. So geht's nicht weiter!" "Nein!", mit klammen Fingern krallte Yukimaru sich an seiner Uniformjacke fest, "die brauch ich nich!" "Das sehe ich GANZ anders!", versetzte Tarou streng, fischte aus Yukimarus Jacke die beiläufige Notiz. "Ich will die nich!", fauchte Yukimaru heiser, zerrte an Tarous Uniform. "Warum nicht?!" Zum ersten Mal hatte Tarou Mühe, sich konziliant zu zeigen, "ist es wegen der Kosten?! Markierst du lieber den starken Mann?!" Yukimaru sprühte ihm Speichel ins Gesicht, "das hat gar nichts damit zu tun! Ich weiß wohl am Besten, was ich brauche!" "...fein", Tarou richtete sich auf, "da ich dir ja offenkundig keine Hilfe bin, kannst du sicher allein neben mir nach Hause laufen, richtig?!" Steif sammelte er seine Schulmappe ein, machte auf den Hacken kehrt und unternahm Anstalten, sich zu entfernen. Das war so typisch Yuki! Immer den harten Macker markieren, bloß niemandem etwas schulden! »Duldet er mich aus Mitleid?!«, Tarou ballte die Fäuste, da wurde er unversehens am Saum ausgebremst. "...Ta-chan", Yukimaru sah nicht gut aus und hielt sich den Bauch. "IchHabSDirDochGesagt!", sofort vergaß Tarou seine verletzten Gefühle, denn er konnte Yukimaru nie lange ernsthaft zürnen, hockte sich vor ihn hin. "Was soll ich...?" Weiter kam er nicht, denn eine fremde Pranke landete schwer auf seiner Schulter. "Wieso seid ihr beiden nicht in der Schule?!" »Oh nein...«, Tarou erhob sich flink, musste kein besorgtes Gesicht fälschen, auch wenn ihm das Herz bis zum Hals schlug. Freiwillige Tugendwächter aus dem Viertel, die herumpatrouillierten und Schulschwänzer anzeigten. "Ich habe meinen Freund aus dem Krankenhaus abgeholt", hielt sich Tarou an die Wahrheit, "wir sind auf dem Heimweg. Es geht ihm nicht gut", ergänzte er angespannt. "Ach, Unsinn! Auf so einen alten Trick fallen wir nicht rein!", verkündete eine Matrone hinter dem aufrechten Bürger entschlossen. "...Trick?", gurgelte Yukimaru vorgebeugt, "waschfürnTrigg?" Und übergab sich würgend über zwei Paar Schuhe. ~~~~~# Kapitel 5 - Spätfolgen "Sag mir nicht, dass dir wirklich übel ist", murmelte Tarou am Ende seiner Nervenstärke. Die Notiz über die Schmerzmittel, die Yukimarus Wachstumsschübe in Schach halten sollten, hatte zusätzlich zur galligen Beweisführung genügt, dass man sie in Ruhe ließ und schimpfend davonstapfte. "Langsam trinken", ermahnte Tarou hilflos, hielt Yukimaru eine kleine Flasche Wasser an die Lippen. Neben ihnen rollte eine Reinigungsfachkraft ungeduldig mit den Augen, wollte endlich aufwischen. Yukimaru schenkte Tarou ein Zähne starrendes Grinsen, der verzweifelte Versuch, ihnen beiden Mut zu machen. Er ließ sich von Tarou auf die Beine helfen, stützte sich auf ihn, dann kämpften sie sich mit kurzen, langsamen Schritten durch den Bahnhof. "Taxi", wenn Yukimaru schon die Medikamente verschmähte, musste er wenigstens diese Beförderung akzeptieren! "Geht schon", zischte der trotzdem zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Bei dir vielleicht, mir schlottern jedenfalls die Knie!" Tarou dirigierte ihn unbarmherzig zu einem Mietfahrer. Zu seiner Erleichterung verzichtete Yukimaru auf eine weitere Diskussion, lehnte sich im Fond an seine Schulter und umklammerte mit zitternden Händen das nasse Stofftaschentuch. Hätte er nicht üblicherweise schon eine milchig weiße Gesichtsfarbe präsentiert, wäre jeder Betrachter angesichts der totenbleichen Miene entsetzt gewesen. Tarou entzog den verkrümmten, sich unablässig verkrallenden Fingern das lädierte Stofftuch, eine traurige, widerlich klamme Erscheinung und stopfte es in seine Hosentasche. Yukimaru machte ihn nervös, und deshalb wollte er lieber die eigene Hand opfern als Anker in der Gegenwart, als weiterhin diesem unbehaglichen Schauspiel ausgeliefert zu sein! Für einen verunsichernden Augenblick zögerte sein bester Freund, schloss dann aber die mageren, schweißfeuchten Hände um seine Hand. Diese Geste hatte etwas Kindliches an sich, besorgniserregend und herzzerreißend zugleich. "Wir sind gleich da", raunte Tarou beruhigend, neigte sich Yukimaru zu, "dann wird alles gut." Vor diesen elysischen Zustand hatte die Vorsehung allerdings die Zahlung des Taxentarifs gesetzt, das Zusammensammeln von Schulmappe und Gepäckstücken inklusive eines schwankenden Yukimaru. Final komplettiert von einem Umzug, der den Aufzug blockierte, weshalb sich Tarou genötigt sah, mit dem würgenden Gespenst an seiner Seite die Treppe nach oben zu nehmen. Niemals zuvor waren ihm fünf Stockwerke so unerreichbar vorgekommen! Nach dem elendigen Aufstieg bugsierte er Yukimaru kurzentschlossen ins Badezimmer, nicht gerade gastfreundlich, aber pragmatisch. Der würgte wieder Galle, wischte sich fahrig über die Augen, immer wieder. "Nicht doch!", mahnte Tarou ihn streng, kassierte die dürren Handgelenke ein und fixierte den irrenden Blick in die eigenen, dunkelbraunen Augen, "Yuki, tun dir die Augen weh? Oder der Kopf?" "...Kopf", murmelte der mit glasigem Blick. "In Ordnung", rappelte sich Tarou auf, "keine große Sache! Alles halb so schlimm!" »Vor allem totaler Quatsch!«, tadelte seine Ratio den verzweifelten Optimismus streng, doch Tarou sah sich dem Dilemma ausgeliefert, entweder die Wünsche seines Freundes zu ignorieren und ihn damit zu kränken. Oder sich aber zu beugen und dabei von Schuldgefühlen geplagt zu werden, gerade weil er erkennen konnte, dass es Yukimaru wirklich dreckig ging. »Man muss es versuchen!«, orientierte er sich an einem Ausweg, filzte eilig den heimischen Medikamentenvorrat. Kurz darauf nötigte er Yukimaru Kopfschmerztabletten auf, deren Dosis normal verträglich sein sollte, selbst für Jugendliche. Tupfte ihm dann stark duftendes, japanisches Heilöl auf die Schläfen und auf jede fiebrig heiße Körperpartie, bevor er ihn in sein eigenes Bett dirigierte. Es nahm sich durchaus beschwerlich aus, Yukimaru zu entkleiden, aber sobald der lag, schien sich seine Nervosität ein wenig zu mindern. Kein Wunder, mit geschlossenen Augen in der Waagerechten musste man nicht ständig panisch gegen den Eindruck ankämpfen, im nächsten Augenblick platt aufs Parkett zu klatschen! Tarou wickelte ihn warm ein, sehr warm sogar. Es hieß zwar, dass Wärme bei entzündeten Gelenken nicht immer half, doch er erhoffte sich von dieser Schwitzpackung, dass zumindest die verspannten Sehnen und Muskeln ein Einsehen hatten. Irgendwie musste es schließlich möglich sein, diese furchtbaren Wachstumsschmerzen zu besiegen! Yukimaru fiel in einen tiefen, beinahe apathischen Schlaf, glühte still vor sich hin. Tarou seufzte tief, begann dann, Ordnung zu machen, verschmutzte Kleidungsstücke der Waschmaschine anzuvertrauen. Und den Eltern eine Nachricht darüber zu senden, warum er in der Nacht nicht nach Hause gekommen war und was er jetzt gerade tat. Mit dem traurigen Rest Geld, der ihm nach den Abenteuern der letzten zwei Tage verblieben war, erstand Tarou frisches Gemüse. Entschlossen, Yukimarus Gesundung voranzutreiben, quartierte er sich in der Küche ein, schnippelte das Grünzeug klein, was durchaus dem Frustabbau genügte. Setzte den getrockneten Fond aus Fisch und Algen auf, damit er später eine kräftige Gemüsesuppe kreieren konnte. Aber das alles vertrieb nicht die unschöne Aussicht, mit Yukimaru ein aufklärendes Gespräch führen zu müssen. ~~~~~# Ob es die Kopfschmerztabletten, das stark riechende Heilöl, die Suppe oder die warme Geborgenheit in Tarous Bett war: Yukimaru erwachte am späten Abend und fühlte sich sehr viel besser. Am Schreibtisch arbeitete Tarou in einem winzigen Lichtpegel konzentriert und lautlos, um ihn nicht etwa im Schlaf zu stören. Rücksichtsvoll und bescheiden. "Ta-chan?", krächzte Yukimaru und setzte sich richtig auf, "ist noch etwas Suppe da?" Tarou schreckte hoch, blinzelte und nickte eilig, bereits auf dem Sprung, "ich bringe dir sofort etwas!" Noch ehe Yukimaru ihm neckend antworten konnte, es sei keine Hast vonnöten, ja, den Dank formulierte, war Tarou schon zur Tür hinausgeschossen. »Etwas ist faul hier«, diese Erkenntnis verriet sich nicht nur durch die herausragenden Meeresgetier-Sinne! Hatte Ta-chan etwa wegen der Nacht im Krankenhaus Ärger bekommen? Oder aufgrund der Ausgaben für das Taxi? Aber so, wie Yukimaru dessen Eltern kannte, schien das wirklich atypisch zu sein. »Was also dann? Die Schule? Oder die blöden Tugendbolde?!«, unwillkürlich verzog Yukimaru die Miene zu einer wütenden Schnute. Er konnte sich nur schemenhaft an die Konfrontation erinnern, bedauerte aber nicht, sich über deren Schuhwerk erleichtert zu haben. Diese ständige Auflauerei, das war doch Mobbing auf andere Art! Als Tarou wieder in sein Zimmer kam, apportierte er eine dampfende Schüssel auf einem Tablett mit klappbaren Beinchen. "HMMMMMMMM!!", schnurrte Yukimaru genießerisch, sog tief das Aroma ein. Und ergänzte laut, "danke schön, Ta-chan! Für alles!" Der errötete erfreut ob der Anerkennung, verschwand unter dem schräg hängenden Pony und sortierte aus Verlegenheit Serviette und Löffel. Zunächst löffelte Yukimaru schweigend, ermutigt durch Tarous Verbleib auf der Bettkante. Oder wollte der ihn täuschen, so gelöst wie sonst erscheinen? »Tatsache!«, Yukimaru kniff die lagunenblauen Augen zusammen. "Ta-chan, raus mit der Sprache, was ist los?", schoss er sich unerwartet und gnadenlos direkt ein. Tarous Kopf färbte sich, unwillkürlich leckte er sich über die Lippen, als seien sie ausgetrocknet und hinderten ihn am Sprechen. "Denk nicht lange darüber nach, frisch von der Leber weg!", forderte Yukimaru ihn unerbittlich auf. Im Schoß wurden schlanke, elegante Hände gewrungen. Klappernd ließ Yukimaru absichtlich den Löffel in die Schüssel fallen, funkelte seinen besten Freund an. "Ich bin kein Telepath, du wirst also schon den Schnabel aufsperren müssen", versetzte er betont herrisch. Für eine Sekunde spürte er Tarous Blick vorwurfsvoll blitzen, dann richteten sich die Augen wieder auf den Boden. Um einem weiteren Tadel zuvorzukommen, räusperte sich Tarou verhalten. "Du erinnerst dich doch noch an deine Offerte im Netz, nicht wahr?", begann er schließlich umständlich, begleitet von fahrigen Gesten. Yukimaru stieß ein grimmiges Grunzen aus, fragte sich insgeheim, was denn noch kommen konnte, wenn doch die Auktion bereits beendet war?! "Es hat sich natürlich herumgesprochen, dass du engagiert worden bist." Tarou nahm Fahrt auf, hob den Kopf, wischte die langen Ponysträhnen beiseite und fixierte die entfernte Zimmerwand, "und es sind neue Angebote gekommen." "Neue Angebote?" Yukimaru stellte die Schüssel zur Seite, schlug die Decke weg und klappte die Beine über die Bettkante. Aber Aufstehen im Adamskostüm? Tarou legte ihm eilig eine Hand auf die Schulter, "bitte, Yuki, bleib im Bett! Du erkältest dich sonst noch!" "Dann spuck schon die Details aus!", grummelte Yukimaru, wickelte sich wie ein Indianer in die Decke, "was für Angebote von wem?" In Tarous Miene zuckten beinahe unbemerkt Sehnen, doch Yukimaru war so vertraut mit dem Ausdruck seines besten Freundes, dass IHM diese unwillkürliche Reaktion keineswegs entging. "Man bietet dir an, dich finanziell zu entschädigen, wenn du zum Beispiel noch ein Kind austrägst." Tarous Tonfall konnte man die verbitterte Verachtung nicht entnehmen, die er für die Offerte empfand. "Wie freundlich", spottete Yukimaru abschätzig, "bin ich plötzlich in Mode gekommen? Wieso hat keiner von den ehrenhaften Komitätern die Angebote ausgeschaltet?" Nun wandte Tarou ihm das Gesicht zu, eine blasse, schmale Erscheinung. Yukimaru lupfte eine dunkelrote Augenbraue. "...nein...", murmelte er endlich verblüfft, "sie können's nicht durchsetzen?" DAS war eine Neuigkeit! Grinsend trommelte er mit den nackten Fersen auf die Matratze, "he, DAS nenne ich Vergeltung!" Tarou pflichtete ihm jedoch nicht wie erwartet bei, sondern behielt seine angespannte Miene bei. "Ich glaube", formulierte er höflich, "du unterschätzt die Situation." "Ach was!", winkte Yukimaru unbekümmert ab. "Ich brauche kein Geld, also ist mir das wurscht! Jetzt werde ich endlich ein neues Leben führen, Ta-chan! Essen, so viel ich will, richtig wachsen und mächtig stark werden!" Zur Illustration posierte er als Mann aus Stahl, strahlte über die Aussicht, der ewigen Zwangs-Diät entkommen zu sein. Hatte er nicht schon den Stimmbruch erreicht? Dann konnte er jetzt auch ohne Angst wachsen, ein Mann werden statt eines Mäuschens, das sich vor der Blindheit fürchtete! Tarou erhob sich, brachte die leere Schüssel auf seinem Schreibtisch in Sicherheit, bevor er sich umwandte. "Du begreifst nicht, wie ernst die Lage ist", hielt er Yukimaru leise, aber vernehmlich vor. "Nein", nach einem Augenblick Verblüffung über Tarous ungewohnte Hartnäckigkeit bellte Yukimaru streitlustig zurück, "tue ich nicht! Abgesehen von diesem blöden Wachstumsproblemen geht's mir endlich gut! Also, was willst du?!" Die Hände, zu Fäusten geballt und deshalb hinter dem Rücken verborgen, ragte Tarou vor ihm auf, knirschte mit den Zähnen. Für Yukimaru ein ungewohnter Anblick, da er Tarou als harmonischen, ausgeglichenen und sanften Freund kannte. Nicht als einen Mann kurz vor der Explosion. "Du denkst", Tarou wisperte bitter, "dass die Angebote eine Klatsche für die Gesellschaft sind, nicht?" Er zischte durch die Zähne wie ein alter Wasserkessel, stellte die Schultern aus und straffte seine schlanke, windschnittige Gestalt auf volle Höhe. "Im Gegenteil", flüsterte er eindringlich, "DU bekommst die Klatsche! Sie müssen bloß darauf warten, dass dich einer erwischt." "Erwischt?!", in Yukimarus lagunenblauen Augen zogen ärgerliche Gewitter auf, "ich kapier kein Wort!" Tarou lachte knapp auf, "nein, das merke ich!" Er ging vor Yukimaru in die Hocke, blickte hoch in das vertraut-fremde Gesicht seines besten Freundes. "Weißt du, was es bedeutet, dass sie die Angebote zulassen?" Seine rhetorische Frage traf auf stürmisch zusammengezogene Augenbrauen. "Es bedeutet", Tarou zupfte mit einem traurigen Lächeln die Bettdecke um Yukimaru zurecht, "dass du jetzt Freiwild bist." Er hob den Kopf an, erkannte die verständnislose Miene und erläuterte leise, "vorher warst du wegen deiner unbekannten Herkunft vor Nachstellungen sicher. Jetzt, wo es akzeptabel ist, sich mit dir einzulassen, wird sich keiner es nehmen lassen, ein Meeresgetier zu besitzen." Yukimaru begriff immer noch nicht, das konnte Tarou erkennen. Damit die geistige Dämmerung rascher aufzog, musste er wohl in die Details gehen. "Meeresgetier steht ganz oben. Du bist Premium, und es gibt niemanden, der deine Rechte verteidigt, wenn es einem der oberen Zehntausend einfällt, dich als...", er schluckte, "als Liebhaber zu nehmen." Die lagunenblauen Augen blinzelten. Einmal. Tarou legte den Kopf in den Nacken, schloss für einen langen Moment die Augen. Ohne Yukimaru anzusehen, wisperte er gequält, "es kamen schon Typen von der elitären Oberschule vorbei. Es laufen Wetten darauf, wem es gelingt, dich flachzulegen. Weil du ja offenkundig darauf stehst, von einem niederrangigen Madararui gevögelt zu werden." In jedem Wort lagen Abscheu und Verzweiflung. Unglücklich, der Überbringer einer derart unerfreulichen Botschaft zu sein, wartete Tarou auf das Urteil. Yukimaru nagte an seiner Unterlippe, die Finger in die Bettdecke gekrallt. SO lief das Spiel jetzt?! Irgendwelche aufgeblasenen Idioten wollten ihn vergewaltigen, als Trophäe präsentieren?! NA WARTE! "...so einfach wird das nicht sein", zischte er schließlich grimmig, "ich werde mich wehren!" "Ja?!", Tarous heiserer Ausruf ließ sie beide zusammenzucken. Der erhob sich, ragte vor Yukimaru in die Höhe, "gegen wie viele? Und was wirst du tun, wenn sie drohen, jemandem etwas anzutun, der dir etwas bedeutet? Was machst du, wenn sie dir zu verstehen geben, dass das Heim geschlossen wird, wenn du nicht nachgibst?" Yukimaru starrte hoch, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern...und schloss ihn wieder. Tarou sackte neben ihm auf das Bett, die Hände im Schoß geballt. "Du weißt nicht, wie das ist, wenn sie dich jagen", wisperte er leise, "wenn es irgendwann nur noch eine Frage ist, WANN du klein beigibst." Neben ihm richtete sich Yukimaru steif auf, "hat man dir etwas angetan?!" Er löste die Hände aus der Bettdecke, wo seine Fingernägel Löcher in die Füllung gebohrt hatten, umfasste Tarous Windhundgesicht, drehte es zu sich. "Wer hat dir etwas angetan?" In seinen Augen loderten kobaltblaue Flammen der Rachsucht. "Mir ist nichts passiert", Tarou lächelte fahl, "ich bin unter der Würde dieser Herren. Ein bedeutungsloses Leichtgewicht." "Ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas tut", knurrte Yukimaru kriegerisch. Tarou stieß einen verächtlichen Seufzer aus, "wie schon gesagt, es ist bloß eine Frage der Zeit, wann ich nachgeben muss." "Nichts da!", protestierte Yukimaru vehement, "ich lasse das nicht zu! Hörst du? Auf GAR KEINEN FALL wirst du dich von irgend einem schmierigen Arschloch misshandeln lassen!" "Du kannst aber nicht ständig bei mir sein!", fauchte Tarou heftig zurück, "begreifst du das nicht?! Ich werde mein ganzes Leben lang Beute sein! Und dass du mich ständig beschützt, macht es mir nicht leichter, endlich den Tatsachen ins Auge zu sehen!" Grob machte er sich von Yukimaru los und verließ im Laufschritt sein Zimmer. Perplex ob dieses heftigen Ausbruchs ließ Yukimaru die Hände auf den Schoß sinken. »Was soll das?! Vertraut er mir denn nicht mehr?!«, der Gedanke empörte ihn. Zugegeben, während seiner Abwesenheit hatte er Tarou nicht so wie sonst vor Gemeinheiten bewahren können, aber ab jetzt würden sie sich nicht mehr trennen müssen! Wieso also diese Reaktion?! »Diese aufgeblasenen Elite-Schnösel!«, seine Augen verdunkelten sich gewittrig, genau! Die mussten Tarou eingeschüchtert haben, als sie in der Schule nach ihm suchten! Wütend schleuderte er einige Lockenstränge auf den Rücken, "SO NICHT!" Tatsächlich, das musste er Tarou zugestehen, mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Dass plötzlich ein magerer Halbwüchsiger mit ungeklärter Staatsangehörigkeit en vogue wurde. Und leider hatte Tarou auch recht damit, dass er ziemlich allein da stand, wenn man ihn entführte und zu Repräsentationszwecken vergewaltigte. »Was tun?« Yukimaru zog die spitzen Knie vor den Leib und umarmte sie. Ganz klar würde keine der ach so noblen Familien ihn aufnehmen, adoptieren. Was zählte, war sein Status als Meeresgetier. »Und so geht's mir wie Ta-chan«, stellte er bestürzt fest. Ihm war bisher nicht in aller Deutlichkeit aufgegangen, wie es sich ausnahm, nicht als Persönlichkeit, als einzigartiges Wesen wahrgenommen zu werden, sondern lediglich als Körper mit einem speziellen Merkmal. Er selbst konnte sich nicht, NIEMALS, vorstellen, irgendeinen anderen Madararui zu belästigen, einfach, weil er die Macht dazu hatte. Das war...erbärmlich. Schäbig. Abstoßend und ekelhaft. Deshalb fiel es ihm schwer, diese Motive zu begreifen. Andererseits konnte er auch nicht verstehen, warum sich manche wegen irgendwelcher modischer Kleider gegenseitig abstachen. "Na toll", stellte er laut und zynisch fest. Von einer Klemme in die nächste. Er hatte jedoch nicht die Absicht, aufzugeben und auf das vermeintlich Unvermeidliche zu warten. Irgendwie musste es möglich sein, allen ein Schnippchen zu schlagen. Also, wie wurde man absolut out?! ~~~~~# Tarou schöpfte sich Wasser ins Gesicht, trocknete sich dann ab und schenkte sich einen abgekämpften Blick im Spiegel. »Was bist du bloß für ein rücksichtsloser Idiot«, bedachte er sich voller Verachtung. Gerade hatte Yuki eine schwere Operation und eine Schwangerschaft überstanden, quälte sich nun mit einer Pubertät in Zeitraffer und er selbst hatte nichts Besseres zu tun, als seinen besten Freund auch noch in Wut zu versetzen! »Und der Gipfel ist, dass du Yuki beschimpft hast! Als Dank dafür, dass er dich jahrelang beschützt hat!« Ja, das war wirklich das Letzte. Tarou sackte vor dem Waschbecken in sich zusammen, presste die Handflächen gegen das Gesicht. Bevor Yuki in sein Leben getreten war, hatte er außerhalb seiner Familie in ständiger, subtiler Angst gelebt. Dann kam Yuki. Und jetzt, wo ihm in der Kürze dreier Monate mehr als deutlich gemacht worden war, wie seine Perspektiven aussahen, konnte er nicht mehr länger in Lala-Land leben. Sondern musste sich an die Angst gewöhnen. An die Unvermeidlichkeit von Übergriffen. Der Gedanke drehte ihm den Magen um. Theoretisch war er seit dem Wechsel von der Grundschule darüber unterrichtet worden, was ihm bevorstand. Warum er stets vorsichtig sein musste. Und dass es im schlimmsten Falle besser war, nicht durch unnötigen Widerstand den Angreifer zu provozieren. Ihm wurde übel, wenn er sich vorstellte, wie er... Es war nicht der Schwarze Mann aus Albträumen, eine maskierte Gestalt, die ihn vergewaltigen würde, verprügeln, demütigen, nein, sie hatte Gesichter. Wechselnde Köpfe all derer, die ihm direkt sagten, er solle sich nicht so anstellen, irgendwann sei er sowieso fällig. Die ihn ungeniert begrapschten, ungehindert und ohne das geringste Unrechtsbewusstsein. Gäbe es nicht Yuki in seinem Leben, so hätte er wahrscheinlich längst resigniert. Mit dem geringsten Übel begonnen, sich an das Unglück zu gewöhnen, Strategien entwickelt, Seele und Verstand vom Körper zu lösen, um sie zu schützen. »Aber das sind DEINE Probleme!«, ermahnte ihn sein Gewissen unerbittlich. »Yuki trägt daran keine Schuld! Also geh endlich und entschuldige dich!« Halbwegs wieder in seiner gewohnt gefassten Haltung verließ er das Badezimmer und kehrte leise zu Yukimaru zurück. Zu seiner Überraschung kochte dort kein Rotschopf fuchsteufelswild ein unbekömmliches Süppchen aus, sondern lag, nun in einen frischen Pyjama geschlüpft, in seinem Bett im Dornröschenschlaf. Tarou wechselte die Kleidung, löschte das Licht der Schreibtischlampe und huschte durch das Zimmer, um neben Yukimaru unter die Decke zu kriechen. "Yuki, bitte entschuldige. Es tut mir leid", flüsterte er leise in den wirren Lockenschopf. Tiefe Atemzüge antworteten ihm. Damit musste er sich zufrieden geben. ~~~~~# "Ta-chan? Ta-chan?" Ein ungeduldiger Finger stippte Tarou in die kurzen Rippen. Der Besitzer drängelte ziemlich aufgekratzt mit ungeduldigem Tonfall, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Eingedenk der Unmöglichkeit, noch einmal in wirre, aber sichere Träume zurückzukehren, beugte sich Tarou der höheren Gewalt in Gestalt seines besten Freunds. "Hmm, ja?", er rieb sich die Augen, wischte die Ponysträhnen auf eine Seite und setzte sich unterdrückt gähnend auf. Yukimaru kniete neben ihm auf dem Bett und wippte vor Aufregung. "Ich hab's!", verkündete er triumphierend. Angesichts der ungewohnten Munterkeit legte Tarous Verstand noch ein paar Briketts mehr auf das geistige Feuer und heizte an. "Guten Morgen", grüßte er höflich, "also, was hast du denn?" Yukimaru grinste, wirkte zwar noch bleich und ausgelaugt, aber durchaus wieder auf dem Damm. »Bis zum nächsten Anfall«, warnte Tarou seine innere Stimme nachdrücklich. "Also", unbeeindruckt von der besorgten Miene des Hunde-Leichtgewichts an seiner Seite gestikulierte Yukimaru schwungvoll, um seinen Masterplan vorzustellen. "Du hast doch gestern erzählt, dass die Jagdsaison auf mich eröffnet ist, oder? Weil es total angesagt ist, sich ein Meeresgetier zu halten", rekapitulierte er mit leicht angewidertem Knurren. "Damit das aufhört, muss es also bloß TOTAL OUT sein, mit mir herumzuhängen, nicht wahr?!" Um Zustimmung heischend funkelte er aus den faszinierend lagunenblauen Augen in Tarous dunkelbraune. "Das...hört sich richtig an", pflichtete der ihm vorsichtig bei. "Ergo", Yukimaru klatschte in die Hände, "muss ich OUT werden. Und dafür müssen die Komitäter der doofen Gesellschaft sorgen. Klar soweit?" "Ich kann dir folgen", antwortete Tarou höflich, aber trocken. "Deshalb", Yukimaru hockte sich in einen bequemeren Schneidersitz, zupfte am geliehenen Pyjama herum, der ihm naturgemäß zu groß war, "werde ich es wie Youjimbou machen!" Diese Idee bewirkte bei Tarou keine Zündung, er blinzelte verständnislos. "Du weißt schon!", Yukimaru wedelte lästige Lockenstränge auf den Rücken, "der Leibwächter in dem Samuraifilm!" "Den Part habe ich ja verstanden", verteidigte Tarou sich, "aber was genau willst du wie Youjimbou machen?" "Ganz simpel", zählte Yukimaru an den Fingern ab, "zuerst stelle ich fest, wer die einflussreichsten Madararui sind, die auch im Komitee sitzen und Söhne ungefähr in meinem Alter haben. Dann gebe ich den Söhnen zu verstehen, dass ich schon daran interessiert bin, mit einem von ihnen zu gehen." Er zwinkerte Tarou zu, dem für einen Augenblick fassungslos die Gesichtszüge entgleisten, "natürlich nur zum Schein! Der Trick kommt ja noch!" "...da bin ich aber gespannt", murmelte Tarou, der den Optimismus seines besten Freunds nicht teilen konnte. Allein die Vorstellung, sich mit den Eliten der Madararui anzulegen, verursachte ihm Beklemmungen. "Ich stelle die Bedingung, dass ich mich nur mit dem höchsten Madararui einlasse!", Yukimaru schnippte mit den Fingern. "...oh oh", kommentierte Tarou schwach, als ihm klar wurde, worin Yukimarus Strategie bestand. Zweifelnd zog er die Stirn unter den Ponysträhnen kraus, "bist du wirklich sicher, dass das funktioniert?" "Klar!", bekräftigte Yukimaru selbstbewusst, "die bilden sich doch sonst was auf ihren Status ein, oder? Also werden sie sich gegenseitig überbieten und auszustechen versuchen, um mich zu bekommen! Denn ich bin ja der Pokal, der an den Sieger geht!" "Und dann?", hakte Tarou nach, der Yukimarus Zuversicht nicht teilen konnte. "Wie soll's dann weitergehen?" "Na", Yukimaru feixte, "gar nicht, natürlich! Das ist ja der Dreh!" Als er Tarous skeptische Miene registrierte, sah er sich zu weiteren Einlassungen genötigt, um die Brillanz seines Vorhabens herauszustellen. "Sieh mal, die Jungs werden sich einen Wettkampf liefern und gegenseitig überbieten. Gleichzeitig werden sie mich beschützen, weil keiner will, dass ihm ein anderer zuvorkommt, verstehst du?" "Nun gut, selbst wenn das funktioniert", Tarous Stimme spiegelte seine Zweifel wider, "was dann? Gehst du wirklich mit dem Sieger?" "Ach was!", Yukimaru grinste spitzbübisch, "bis dahin wird das Komitee längst begriffen haben, dass die Sache total aus dem Ruder läuft. Die werden eingreifen und verbieten, dass ihre elitären Schnöselsöhne sich mit mir einlassen!" Tarou presste die Lippen aufeinander. Das klang viel zu leicht. Von den fehlenden Details mal abgesehen. "Es ist wie bei Youjimbou", erläuterte Yukimaru aufgekratzt, "ich spiele die Parteien gegeneinander aus, bis ihnen die Lust vergeht, sich mit mir abzugeben!" "Also...ich weiß nicht", seufzte Tarou, "das klingt arg abenteuerlich." Yukimaru stimmte ihm zu seiner Überraschung zu, "ja, tut es. Aber etwas Besseres ist mir nicht eingefallen." Dabei warf er Tarou einen auffordernden Blick zu, den dieser mühelos dechiffrierte. "Mir auch nicht", gestand er ein. "Gut", Yukimaru streckte Tarou die Hand hin, "hilfst du mir? Abgemacht, ja?" Wie hätte Tarou diese Bitte ablehnen, das Friedensangebot ausschlagen können? Er nahm die kleine, weiße Hand und drückte sie behutsam. "Natürlich helfe ich dir", antwortete er laut. "Womit fangen wir an?" "Hmmm", Yukimaru entfaltete seine Beine und stand auf, "zunächst hätte ich gern Frühstück. Das hoffentlich auch innen bleibt", fügte er grummelnd hinzu. Man musste ja die Gelegenheit nutzen, wenn ihm nicht gerade übel war. "Und dann suchen wir uns die Kandidaten für das Youjimbou-Projekt heraus!" ~~~~~# Sie verbrachten den gesamten Vormittag in dem winzigen Park, der zwischen den Häusern bei einem Shinto-Schrein belassen worden war, diskutierten die Kandidatenliste und eine erfolgversprechende Strategie. Da Tarou potentiellen Anwärtern schon unerfreulich begegnet war, konnte er seine Eindrücke einfließen lassen. Wer stand ohnehin mit wem auf Kriegsfuß? Wer hatte die nötigen Mittel, also Vermögen, Einfluss und Ämter? Und wer konnte ausgesondert werden? "Ich denke, das ist es", stellte Yukimaru befriedigt fest. Dann wischte er sich unruhig über die Stirn, verärgert über das leichte Pochen, das ihm Unwohlsein ankündigte. "Kopfschmerzen?", Tarou studierte ihn besorgt. "Geht schon", wedelte Yukimaru unbehaglich die Fürsorge weg, "wahrscheinlich war ich zu lange an der frischen Luft." "Ja, bestimmt", Tarou stimmte zu, ohne davon überzeugt zu sein, "gehen wir hinein. Du hast bestimmt auch Durst." Und er erinnerte sich an die anderen Dinge, die noch zu erklären und zu berichten waren. ~~~~~# "Das ist sie?!" Yukimaru musterte kritisch den Bildschirmausdruck, nippte an seinem Teebecher. "Irgendwie... sehr klein", stellte er ratlos fest. Väter- oder mütter-, zumindest elterliche Gefühle wollten sich nicht bei ihm einstellen. Es kam ihm eher surreal vor, dass dieses kleine Wesen in seinem Körper herangewachsen war. "ICH finde sie sehr hübsch", stellte Tarou klar, "schau mal, sie hat deine Haarfarbe geerbt!" "Na, die wird sich noch bedanken, wenn sie merkt, wie viel Arbeit der Kopfputz macht", kommentierte Yukimaru trocken. Dann wandte er sich abrupt Tarou zu, "sag mal... könnte ich Gilles eine Nachricht schicken? Und das Bild hier?" "Natürlich, gern", lächelte Tarou, der zu seiner Beschämung registrierte, wie sehr es ihn erleichterte, dass Gilles nur ein Freund war und offenkundig Yukimarus Herz nicht für sich in Beschlag genommen hatte. Es war schändlich, derart eifersüchtig zu sein, das hielt er sich streng vor, aber SEIN Herz ignorierte diese moralischen Keulen schlichtweg. Während Yukimaru eifrig und nun ungehindert durch Sehstörungen seine elektronische Mitteilung an Gilles verfasste, scannte Tarou zuvorkommend das Bild des gemeinsamen Nachwuchses ein. Dann schob er es in eine Klarsichthülle, die er in einer festen Kartonage mit einer Zierschleife verpackte. "Was machst du denn da?", wunderte sich Yukimaru, der nach der Korrespondenz Tarous Briefe querlas, die ihm nie ausgehändigt worden waren. "Ich hebe es gut auf", bemerkte Tarou tadelnd, "wer weiß, wann du das nächste Bild von ihr bekommst. Auch wenn diese Amashikis das anders sehen: sie ist immer noch deine Tochter." Yukimaru ließ die Briefe sinken. "Das bestreite ich auch nicht. Bloß", er zog die Nase nachdenklich kraus, "ich fühle mich nicht gerade...elterlich." "Na ja", Tarou nahm neben ihm auf seinem Bett Platz und legte ihm schüchtern den Arm um die Schultern, "du hast ja auch nicht viel Zeit gehabt, sie als Baby zu erleben." "Wenigstens muss ich so keine Windeln wechseln und nachts ständig aufstehen", schüttelte Yukimaru aufgeräumt sein vages Schuldgefühl ab. Er hatte für seine kleine Tochter getan, was in seiner Macht stand. Jetzt musste er sich um sich selbst kümmern. ~~~~~# Da Yukimaru noch längst nicht wiederhergestellt war und unter heftigen Migräneattacken litt, die von Übelkeit, Erbrechen und großer Lichtempfindlichkeit begleitet wurden, vereinbarte er mit der Leiterin des Kinderheims, dass er noch ein wenig länger die Gastfreundschaft seines besten Freunds in Anspruch nahm. Tarous Eltern erhoben wie gewohnt keine Einwände, sie akzeptierten die Fürsorge ihres Sohnes für Yukimaru hochherzig und frohgemut. Bereits am zweiten Schultag traten nach Schulschluss die "Interessenten" auf. Die meisten Madararui sandten ihre Kinder an Privatschulen, wo sie häufig unter Gleichartigen blieben. Je höher der Status, umso elitärer die Einrichtung. Der Madararui-Adel war auch ein Geldadel, deshalb wunderte sich Yukimaru nicht über den Auftritt der Gruppe, die am Schultor lässig gruppiert auf ihn wartete. Tarou an seiner Seite spannte sich an, schnappte hörbar nach Luft. Yukimaru reichte ihm die Hand, drückte sein Rückgrat durch und reckte herausfordernd das Kinn hoch. Jetzt wäre es schön, noch ein wenig größer zu sein, aber Spontanwachstum stand bedauerlicherweise nicht auf seiner Agenda. Abwartend, schweigend identifizierte er die hochgewachsenen Madararui, die sich nonchalant gaben, ihn ebenso ausgiebig musterten und dabei ihre Ausstrahlung nicht um einen Iota reduzierten. Wie üblich schirmte Yukimaru mit seinen herausragenden Fähigkeiten Tarou ab. Er bezweifelte allerdings, dass irgendeiner der eingebildeten Fatzkes seinen besten Freund überhaupt wahrnahm. "Nun?", eröffnete er mit gelupfter Augenbraue den ersten Schlagabtausch. Eine mit den Amashikis rivalisierende Dynastie von Drachen hatte einen Sohn von 16 Jahren, der als Kandidat auf ihrer Liste den ersten Rang einnahm. Gefolgt vom gleichaltrigen Spross einer neureichen Familie von Schlangen. Diese beiden, sich belauernd, überließen den Vortritt einem Katzen-Mittelgewicht, das offenkundig als Sprachrohr fungierte. »Oder als großer Sack heißer Luft«, dachte Yukimaru abschätzig, als sich der Jugendliche vor ihm aufbaute. "Es heißt, du wärst auf ein Date scharf", schnodderte der ihn an. "Dann heißt es etwas Falsches", versetzte Yukimaru betont frostig, "war das jetzt alles?" Und deutete Anstalten an, einfach durch die Gruppe zu marschieren. "Nich so eilig", das Katzen-Mittelgewicht, das für Yukimaru gerade penetrant nach irgendeinem aufdringlichen Rasierwasser stank, packte ihn am Oberarm. Yukimaru blendete seine Kraft ein, umklammerte die fremde Grapschpfote und funkelte eisig, während er den Daumen langsam Richtung Elle bog. "Hände weg, Arschkrampe, sonst kannst du bald mit den Füßen essen!" Sein Gegner stieß ein Winseln aus und ging in die Knie, um die Belastung auf den Bändern seines Daumens zu reduzieren. Er taumelte zurück, umklammerte sein Handgelenk, als Yukimaru ihn von sich stieß. "Gehen wir, Ta-chan", kommandierte er hochmütig, hob das Kinn noch ein wenig höher. "Bitte warte doch", säuselte das Schlangen-Schwergewicht und trat vor, trennte die Gruppe wie Moses das Rote Meer. Er lächelte auf Yukimaru herab, der sich für einen Moment versucht sah, dessen wahre Seele vor allen zu strippen. »Doppelzüngig und janusköpfig«, warnte ihn seine innere Stimme angewidert. Diese katzenfreundliche Aufforderung der Schlange konnte nur eine Finte sein! "Ja?", gelangweilt schnippte Yukimaru eine rote Locke aus seinem Gesicht, "ist noch was?" "Möchtest du nicht mit einem von uns ausgehen?", fiel das Drachen-Schwergewicht mit der Tür ins Haus, baute sich neben seinem Rivalen auf. Der ihn mit einem düsteren Blick bedachte, bevor er wieder die trügerisch freundliche Front vor Yukimaru aufsetzte. Yukimaru gab sich nachdenklich, "warum sollte ich das tun wollen?" "Möglicherweise hast du Lust, am Wochenende auf einer Yacht aufs Meer zu segeln?", köderte das Schlangen-Schwergewicht, bevor ihm der Drache erneut die Schau stehlen konnte. "Oder du stehst mehr auf Kart-Rennen?", der Drache bleckte die Zähne werbend. Yukimaru gab die junge Naive, äugte mit tellergroßen Kullerguckern von einem zum anderen, "ehrlich? Ihr wollt mich und Ta-chan einladen?" Innerlich feixte er breit, als sich für einen verräterischen Moment sauertöpfische Grimassen entblößten. "Das ist ja reizend", plinkerte er mit den Wimpern, als habe man ihn unter Strom gesetzt, "aber ich bin erst 14 und muss Ta-chans Eltern um Erlaubnis fragen." "...ja...warum tust du das nicht, haha?", täuschte der Drache Jovialität vor. "Ja...das könnte ich schon", zierte sich Yukimaru, "wissen eure Eltern denn Bescheid?" Ein sehr blanker Blick quittierte diese Bemerkung. Die Herren Söhne besprachen ihre Freizeitaktivitäten nur noch selten mit ihren Altvorderen. Allein die Idee kam einem Affront gleich! "Ich bin sicher, dass meine Eltern keine Einwände haben", lautete die fixe, glattzüngige Replik der Schlange, die den momentanen Schockzustand ihres Rivalen ausnutzte. "Also abgemacht?" Tarou umklammerte Yukimarus Ärmel besorgt, doch der hatte ihre Strategie keineswegs vergessen. Es gab nichts, das ihn davon abbringen würde. DAS stand nicht in der Macht dieser Nobelschnösel! "Oh, da ist ja noch etwas!", Yukimaru tippte sich mit der Handfläche gegen die Stirn, "wie dumm von mir!" Er zeigte alle Zähne, "herrje, das hätte ich beinahe vergessen, ich Dummerle!" Tarou schabte mit einem Absatz über den Boden, signalisierte, dass Yukimaru nun wirklich zu dick auftrug. Ganz so dumm waren diese Jugendlichen nicht, und es wäre sehr gefährlich, sie zu unterschätzen. Yukimaru zeigte sein süßestes, knuddeligstes Lächeln und holte zum Tiefschlag aus, "ich darf aber nur mit einem Madararui ausgehen, der zur höchsten Familie gehört. Das versteht ihr sicher." Tarou schloss die Augen und murmelte ein kurzes Stoßgebet. »Bitte, lass es nicht schiefgehen! Bitte, bitte!« Madame Fortuna war ihnen hold: nach einem langen Augenblick völliger Verblüffung brach ein heftiger, mit spitzen Bemerkungen und Beleidigungen gewürzter Schlagabtausch aus. ~~~~~# "Das lief doch großartig" Yukimaru lächelte, aber er wirkte fahl und ging langsam, als habe er Mühe, die Füße voreinander zu setzen. "Fürs Erste, ja." Tarou hoffte, dass einer der Beteiligten wütend genug war, um das Thema bei den Eltern zur Sprache zu bringen. Vielleicht wäre dann schon das Problem gelöst! Als Yukimaru stehen blieb, hielt er besorgt inne, musterte ihn eindringlich. "Schaffst du es noch bis nach Hause?", erkundigte er sich bange. "Gehtschon", presste Yukimaru hervor, biss die Zähne zusammen. Wann war endlich diese blöde Pubertät überstanden?! Tarou, der schon beide Schultaschen trug, schob seinen Arm unter Yukimarus, hielt dessen von klammem Schweiß benetzte Hand fest in seiner eigenen. Umsichtig setzte er ihren Weg fort, stützte seinen Freund. »Lass das bloß nicht passieren, wenn die anderen in der Nähe sind«, betete er inständig. Niemand sollte wissen, wie schlecht es wirklich um Yukimarus Gesundheit stand. ~~~~~# Den Anschein aufrechtzuerhalten erwies sich ab dem folgenden Tag als weitere Komplikation: mindestens drei Laufburschen folgten ihnen vom Haus bis zur Schule und wieder dahin zurück. Sie sprachen Yukimaru nicht an, sondern beobachteten nur. "Wohl, um sicherzugehen, dass keiner dem anderen zuvorkommt", knurrte Yukimaru grimmig. Es kostete ihn erhebliche Anstrengung, sich gesund, arrogant und selbstbewusst zu geben. Nach der Schule fiel er bereits auf der Türschwelle in sich zusammen, verbrachte die Zeit danach in Tarous abgedunkeltem Zimmer, fiebernd, mit steter Übelkeit kämpfend und oft genug schluchzend vor Kopfschmerzen. Die Hausmittel, die Tarous Familie zur Verfügung standen, linderten die Pein zwar ein wenig, aber gegen den resistenten Rest schien kein Kraut gewachsen. Tarou setzte sich zu Yukimaru, trocknete ihm das Gesicht, streichelte vorsichtig zerdrückte Locken. Er fühlte sich elend, weil es keine Möglichkeit gab, Yukimaru zu helfen. »Und wir uns auch noch mit diesen eingebildeten Idioten herumschlagen müssen!«, grollte er ungewohnt grob. Tatsächlich spielten sich die Auseinandersetzungen weitgehend außerhalb ihrer Sichtweite ab. Süffisant berichteten allein die Communities der Madararui über Dispute und streuten Gerüchte. Mit dem belustigten Tenor: alles nur wegen eines kleinen Meeresgetiers ohne Eltern oder Staatsangehörigkeit! Aber noch rührte sich das Komitee nicht. Zumindest nicht offiziell. ~~~~~# Einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sich Yukimarus Zustand noch immer nicht verbessert. Seine Augen sahen zwar ungetrübt, allerdings in eine sehr unerfreuliche Zukunft. Die Narbe unter seinem Bauchnabel war gut verheilt, dafür rumorte es ständig unter der Bauchdecke. Und das Paradies des Schlemmens und Sattessens schien nur eine Fata Morgana gewesen zu sein, weiter entfernt denn je. Yukimaru weigerte sich, einen Spiegel zu konsultieren. Er WUSSTE, dass er noch dürrer aussah als vor der Schwangerschaft. Nur noch ein Gerippe mit Sandpapierhaut. »Klapprig und schwach«, verachtete er sich selbst. Dabei war noch nicht eingeschlossen, wie oft er vor Tarou herumheulte! Diese Schwäche beschämte ihm zusätzlich, auch wenn Tarou taktvoll und verschwiegen damit umging. "Eigentlich", raunte er Tarou gallig zu, "müssten die Typen doch abgeschreckt sein! Ich meine", er wies mit einer zittrigen Hand an sich herab, "würdest du mit MIR ausgehen wollen?!" "...ich vermute, darum geht es längst nicht mehr", antwortete Tarou ausweichend. Folgte man den Diskussionen in den Foren und Communities, so war Yukimaru längst zu einer Trophäe verklärt worden, vollkommen unabhängig von seinem äußeren Erscheinungsbild oder seiner persönlichen Situation. Es ging nur noch darum, welche Familie an der Spitze stand. ~~~~~# Die sommerliche Schwüle setzte unerwartet, aber umso drückender ein. Tarou merkte an Yukimarus glasigem Blick, dass der nicht bis zum Unterrichtsende würde durchhalten können. Außerdem hatte er sein Frühstück erbrochen. In einer Pause, die dem Wechsel des Unterrichtsraums diente, schnappte er Yukimarus Habseligkeiten, zog ihn, so unauffällig es ging, zu den Spinden am Eingang. Eigentlich wollte er Yukimaru dazu nötigen, sich hinzusetzen, um ihm beim Tausch der Schuhe behilflich zu sein, doch der winkte ab. Wischte sich mit einem Taschentuch ständig über die Lippen und würgte unterdrückt. "Ich komme nicht mehr hoch...", deutete er mit flackerndem Grinsen in einem fahlbleichen Gesicht an. "Ich bringe dich nach Hause", versprach Tarou, "halt bitte nur noch so lange durch." Yukimaru nickte so vorsichtig, als sei sein Kopf nicht am Hals angewachsen und könne sich jederzeit lösen. Gemeinsam warteten sie einen unbeobachteten Moment ab, schlüpften dann durch das Schultor, bevor es wieder geschlossen wurde. Allzu rasch kamen sie nicht vorwärts, Tarou musste sich Yukimarus stockendem, zögerlichen Schritt anpassen. Deshalb entdeckte Tarou ihre Verfolger auch eher, als diese es erwartet hatten. "Oh nein", fluchte er unterdrückt, fasste Yukimaru um die Taille, "Yuki, wir müssen weiter!" Wieso lungerten diese Figuren um die Uhrzeit in der Nähe der Schule herum? Nur ein unglücklicher Zufall? Wie es sich auch verhielt: sie steckten in der Klemme. Obwohl Yukimaru sich bemühte zu beschleunigen, wurden sie doch in kürzester Zeit von einem Trio eingeholt und gestellt. Tarou schob sich vor Yukimaru, zu allem entschlossen. Der Anführer, ein Katzen-Schwergewicht, bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, "du willst wohl Dresche, was? He, Süße, komm her, damit ich dir zeigen kann, wer wirklich ein Premium ist!" "... als ob du ein Premium erkennen könntest", schnarrte Yukimaru, hielt sich mit Mühe aufrecht, "was willst du überhaupt, du Pappnase?!" Sein Gegenüber knurrte und stieß Tarou beiseite, "ich fick dich, bis du um Gnade bettelst", kündigte er an. Tarous Augen wurden schmal, auch wenn die Ausstrahlung der drei Katzen ihm erheblich zusetzte. Yukimaru funkelte zwar frostig zurück, aber dieses Mal, das spürte Tarou, würde sein Freund nicht als Sieger hervortreten. Weil er schon zu geschwächt war. Unauffällig tastete er in seiner Tasche nach der Munition. Sie wirkte äußerlich wie die billigen Kaugummikugeln, die man in den Automaten flippern konnte. Tatsächlich verursachten sie weniger Karies als Chaos. Blitzartig schleuderte er gezielt einen Ball vor die Brust der beiden Begleiter, die aufschrien. Durch den Aufprall splitterte die Hülle, und die enthaltenen Chemikalien kamen mit Sauerstoff in Kontakt. Eine stinkende Wolke explodierte, besprengte die Opfer auch gleich noch mit einer ätzend gelben Farbe. Faule Eier rochen lieblich dagegen. Tarou schleuderte die restliche Munition auf den Boden, rammte die verstärkte Oberkante seiner Schultasche dem wie ein wilder Stier schnaubenden Anführer genau in die Familienjuwelen, packte Yukimarus Hand und zerrte ihn im Laufschritt weg. Für seine Flucht steuerte Tarou die nächste belebte Kreuzung an, irgendeinen Ort, wo sich viele Menschen aufhielten. Wo es nicht so einfach wäre, ihnen etwas anzutun. Yukimaru stolperte und taumelte hinter ihm her, musste sich mehrfach mit einer Hand abfangen, um nicht der Länge nach hinzuschlagen. "Verdammt!", keuchte Tarou, als er bemerkte, dass ihre Angreifer sich Verstärkung herbeigerufen haben mussten. Panisch blickte er sich um. Yukimaru ging neben ihm in die Knie, japste zum Steinerweichen. "Bitte!", widerwillig grob zerrte Tarou Yukimaru wieder hoch, schob ihre Schultaschen in ein Gebüsch am Weg, legte sich einen Arm um den Nacken und fasste Yukimaru um die Hüfte. So kamen sie zwar etwas zügiger vorwärts, aber das würde nicht helfen. Glücklicherweise mündete die Gasse, die sie herunterstolperten, auf eine große, mehrspurige Kreuzung. Das Gebrüll der anstampfenden Horde im Genick sah Tarou rasch nach rechts und links, stürzte dann mit Yukimaru auf die vielbefahrene Kreuzung. ~~~~~# Die Autos fuhren gerade an, als er über die Straße schoss. Gerade rechtzeitig noch erreichte er den mittleren Sicherheitsstreifen, der die beiden Spuren pro Richtung voneinander separierte. Yukimaru hing schwer an seiner Seite. Seine Augen waren geschlossen, Speichel sickerte aus seinem Mundwinkel. Tarou wusste, dass ihre Flucht zu Ende war. Yukimaru konnte nicht mehr, und er würde seinen besten Freund nicht im Stich lassen. Er legte sich Yukimarus dünne Arme um den Nacken, presste ihn eng an sich, damit sie nicht von den hupenden, beschleunigenden Wagen mitgerissen wurden. Hinter ihnen lauerte die gesamte Truppe schon, wartete auf einen Wechsel der Ampelphasen. »Was tun?!«, dachte er hilflos, »WAS TUN?!« Vorhin hatte ihm seine Munition für Notfälle geholfen inklusive des Überraschungseffekts, aber nun hatte er nichts mehr in petto. »Und ewig können wir hier nicht stehen!«, stellte er hilflos fest. Ihm wurden schon die Arme schwer, und wenn er Yukimaru fallen ließe, würde der überrollt werden. Gerade als die Ampelphase wechselte, spürte er eine ungewohnte, mächtige Präsenz. Instinktiv umklammerte er Yukimaru enger, stellte die Schultern aus und zog den Kopf ein. Ein blauweißer Blitz preschte heran und kam ebenso elegant wie flink neben ihm zu stehen. Tarou blinzelte ungläubig. Vor ihm stand, in eine Art enganliegenden Sportlerdress gehüllt, ein großgewachsener, muskulöser Mann mit Sturzhelm und spiegelnder Sonnenbrille. Ein semmelblonder, buschiger Zopf und ein entsprechender Kinnbart verrieten, dass ihr Besitzer definitiv kein Einheimischer war. Deshalb verblüffte es Tarou auch vollkommen, als der Inliner-Flitzer ihn munter und fließend auf Japanisch mit leichtem Osaka-Einschlag ansprach. "Etwas Hilfe gefällig?" ~~~~~# Kapitel 6 - Weiße Ritter In Hochgeschwindigkeit sprudelte Tarou hervor, "bitte, mein Freund ist krank! Helfen Sie uns, bitte!" Da hörte er schon Hupen und Getrappel, als ihre Verfolger heraneilten und mit den Abbiegern kollidierten. Der Fremde wandte den Kopf, warf einen Blick auf die Jugendlichen, die siegesgewiss auf eine Möglichkeit warteten, zum Mittelstreifen zu kommen, wenn die Abbieger weniger wurden. Obwohl die verspiegelte Sonnenbrille keinen Rückschluss auf die dahinter verborgenen Augen und ihren Ausdruck gestattete, spürte Tarou die Attacke des Mannes wie ein Erdbeben. Mehrere Katzen taumelten, hielten betäubt inne. "Ich nehme deinen Freund besser Huckepack", bot der semmelblonde Hüne an, ging in die Knie, damit Tarou Yukimaru auf seinen Rücken befördern konnte. "Und los!", kommandierte er, verließ sich darauf, dass Tarou ihm im Laufschritt folgte. Nachdem sie es wohlbehalten auf die andere Straßenseite geschafft hatten, schlug der Fremde auf den Inline-Skatern Haken durch die verwinkelten Gassen und Wohnviertel. An winzigen Hinterhofgärten vorbei und über einen Spielplatz, bis selbst Tarou die Orientierung verloren hatte. Auch der Fremde hielt inne, balancierte Yukimarus Gewicht scheinbar mühelos aus. "Siehst du irgendwo ein Wohnhaus mit rotem Geländer am Balkon?", erkundigte er sich bei Tarou. Der blickte sich auch suchend um, "das da?" "Ah! Genau!", der Hüne strahlte ihn an, präsentierte ein perfektes Gebiss mit starken Zähnen, "ich bin erst seit drei Tagen in der Stadt." Damit nahm er wieder Fahrt auf, überließ Tarou das Verfolgungsrennen. Ihr Ziel war jedoch nicht das Wohnhaus, sondern ein kleines, recht exklusives Haus in der unmittelbaren Nachbarschaft. "Wärst du so nett?", der Fremde steuerte den mit Marmor gefliesten Haupteingang an, wo sie aufmerksame Kameraaugen verfolgten, "die Codekarte steckt in meiner Tasche." Damit war der Beutel gemeint, den sich der Fremde um die Taille geschlungen hatte. Verlegen öffnete Tarou den Reißverschluss, denn immerhin handelte es sich ja um fremdes Eigentum, fingerte dann ein flaches Plastikkärtchen heraus. "Sehr schön", erneut lächelte der Hüne gewinnend, "bitte durch den Kartenschlitz da ziehen." Nachdem Tarou diese Aufgabe erfüllt hatte, erschien ein großer Aufzug in gemächlichem Tempo, gestattete ihnen den Zutritt. Der Fremde nannte dem Mikrophon deutlich Stockwerk und die Nummer des Appartements, dann erst schloss der Aufzug auch die Türen und setzte sich geruhsam in Bewegung. "Ich bin Arjen", stellte sich der Hüne nun vor, "und du?" Tarou nannte seinen Namen und übernahm auch die Honneurs für Yukimaru, der immer noch scheinbar bewusstlos auf Arjens Rücken hing. Der Aufzug gab ihnen den Zutritt auf einen ebenso exklusiven Flurabschnitt frei. Arjen rollte zur Appartementtür, bat Tarou, erneut die Karte zum Einsatz zu bringen und sprach dann deutlich ein Codewort in ein Mikrophon. Das Stimmmuster wurde verglichen... und endlich knackte das Türschloss leise, erlaubte ihnen den Zugang. Nachdem sie auch diese Hürde genommen hatten, ließ Arjen Yukimaru sehr behutsam herunter, lehnte sich an, um seine Inliner abzuschnallen. Tarou streifte sich und Yukimaru die Schuhe ab, klopfte ihm sanft auf die Wangen. Nur ein Ächzen antwortete ihm, die Lider blieben gesenkt. Inzwischen hatte sich Arjen auch von seiner Sonnenbrille und dem Helm getrennt, legte sie mit fingerlosen Handschuhen auf ein offenes Schuhregal, wo er auch die Türkarte deponierte. Tarou staunte ihn an, bevor er sich der Ungehörigkeit bewusst wurde und beschämt eilig den Blick hinter seinen schrägen, langen Ponysträhnen verbarg. Arjen lachte gutmütig, "nur keine Scheu. Was denkst du, sehe ich eher wie ein Wikinger oder wie ein heidnischer Halbgott aus?" Da Tarous Kenntnisse über Halbgötter eher übersichtlich ausfielen, votierte er für Wikinger, schwieg aber verlegen. "Keine Angst", Arjen klopfte ihm kurz auf die Schulter, "ich bin harmlos." Dann ging er in die Knie, um Yukimaru mühelos aufzulesen und auf die Arme zu nehmen. "Was genau fehlt deinem kleinen Freund eigentlich?", fragte er über die Schulter, während er sein Schlafzimmer ansteuerte. Wie viel der Wahrheit sollte er aussprechen? Andererseits... andererseits hatte er gegen diesen Mann nicht die geringste Chance, wenn der beschließen sollte, nicht mehr harmlos sein zu wollen. Seine Präsenz war so ungewöhnlich, so beeindruckend, dass Tarou keine Möglichkeit sah, ihm etwas entgegenzusetzen. "Migräneanfälle", murmelte er und verfolgte, wie Arjen Yukimaru umsichtig ablegte, ihm beinahe zärtlich klebrige Locken aus dem Gesicht kämmte. "Scheußliche Sache", nickte der Hüne, reduzierte den Lichteinfall der Jalousien über dem Bett sofort. "Sonst noch was?" Tarou senkte den Kopf und studierte seine Zehenspitzen. "Längere Geschichte, hm?" Arjen legte ihm eine Hand auf die Schulter, "weißt du was? Ich husche unter die Dusche und ziehe mich um, während du uns Tee machst. Irgendwo müsste auch Gebäck sein.." ~~~~~# In eine abgeschnittene Jeans und ein lässiges T-Shirt mit Hai-Motiv gekleidet, die semmelblonde Mähne zum Trocknen auf den Schultern ausgebreitet, wirkte Arjen auf Tarou wie einer dieser Surfer in amerikanischen Collegefilmen. Jedenfalls nicht furchteinflößend. In wenigen Worten, von kleinen Schlucken grünen Tees mit Limone unterbrochen, hatte er Yukimarus Gesundheitsprobleme preisgegeben. Und auch, warum eine Horde wild gewordener Katzen sie verfolgt hatte. Arjen kaute krümelnd an einem Keks, die Stirn in Falten gelegt. "Dann war es gut, dass ich euch gefolgt bin", antwortete er nachdenklich, "ich habe nämlich deine Aktion mit diesen Knallerbsen beobachtet." Er griente breit, "Mann, das war KLASSE! Hat mir imponiert! Ich hatte euch zwar kurzzeitig verloren, weil ich auf asphaltierte Seitenstraßen ausgewichen bin, aber... Ende gut, alles gut!" Tarou konnte dem nicht ganz beipflichten. Er hatte Yukimaru nicht dazu bringen können, in Wasser aufgelöste Kopfschmerztabletten einzunehmen und musste hilflos den fiebrigen Schlaf seines Freunds akzeptieren. "Hmmm", Arjen fingerte einen weiteren Keks aus der Packung, "ich glaube", er mümmelte und schluckte, "ich habe doch schon mal von dem kleinen Wassermann gelesen!" Abrupt federte er von der Schlafcouch hoch, wechselte zu einem Kabinett, das er aufklappte, um einen Laptop auszurichten. Den angebissenen Keks zwischen den Zähnen tippte und touchierte er so lange, bis er die gewünschte Bildschirmanzeige produziert hatte. "Da!", murmelte er undeutlich mit Keksdämpfung. Tarou leistete der unausgesprochenen Aufforderung Folge, gesellte sich zu ihm. Abgebildet wurde eines der Madararui-Foren, in dem Klatsch und Tratsch breitgetreten werden konnte. Der Keks wanderte nun endgültig seiner Bestimmung entgegen, während Arjen den Lautsprecher aktivierte. Die Einträge wurden ein wenig dumpf, aber gut verständlich vorgelesen. Arjen schmunzelte über Tarous höfliche Verwirrung und erklärte, "ich spreche zwar recht ordentlich Japanisch, aber mit den Kanji habe ich große Probleme. Deshalb lasse ich mir Webseiten vorlesen." Er deaktivierte den Internetbrowser wieder, klappte das Gerät zu und verstaute es ordentlich. "Also seid ihr beide das wirklich?", erkundigte er sich ruhig. Tarou nickte langsam, beäugte Arjen verunsichert. Würde der sein Verhalten ihnen gegenüber jetzt verändern? Nun, da er wusste, welchen Ärger er auf sich ziehen konnte, wenn er für Yukimaru Partei ergriff? "Tja", Arjen zwirbelte seine semmelblonde Mähne wieder zu einem buschigen Zopf zusammen und zupfte an seinem Kinnbart, der die markanten, nordischen Gesichtszüge betonte. "Ich schätze, du rufst zuerst mal deine Leute an, dass du hier bist, damit sie sich keine Sorgen machen." "Und dann", er machte kehrt, riss die Kühlschranktür auf und inspizierte die traurigen Reste, "gehen wir zwei Futter kaufen. Und sammeln eure Schultaschen ein." ~~~~~# Obwohl es Tarou widerstrebte, Yukimaru allein zu lassen, musste er doch einsehen, dass die Sicherheitsvorkehrungen im Gebäude gut genug waren, um für ausreichend Schutz zu sorgen. »Mehr jedenfalls, als du bewerkstelligen könntest«, wies ihn seine innere Stimme tadelnd auf die prekäre Lage hin. Einfach nach Hause gehen schied jedenfalls auch aus, da man sie auf dem Heimweg überraschen konnte. Arjen marschierte unbekümmert neben ihm her, forcierte aber kein Gespräch, bis sie den Supermarkt erreichten. Dann deckte er Tarou mit zahlreichen Fragen ein, um den Einkaufskorb mit Genießbarem zu füllen, das sie auch beide zubereiten konnten. "Änderung des Plans", verkündete er, als sie mit vollgepackten Tüten durch die automatische Tür traten. "Wir gehen jetzt zurück. DU machst etwas zum Abendessen, ICH hole eure Taschen und fahre bei deinen Leuten vorbei, um Kleidung und Toilettensachen einzusammeln." Tarou blieb stehen. "Aber...das geht doch nicht", wandte er ein, von dieser Entwicklung überrumpelt. Immerhin kannten sie Arjen ja gar nicht. Der wandte sich ihm zu, lächelte gutmütig, "ich halte es für die beste Lösung. Glaubst du nicht, dass ihr beide bei mir gut genug aufgehoben seid, bis sich die Lage etwas beruhigt hat?" Ratlos presste Tarou die Lippen zusammen, versteckte sich hinter seinem langen Schrägpony. "Vorschlag zur Güte", Arjen nahm gemächlich seinen Spazierschritt wieder auf. "Ich spreche mit deinen Eltern. Wenn sie ja sagen, machen wir's wie geplant. Sagen sie nein, liefere ich euch beide sicher bei dir zu Hause ab. Einverstanden?" Eine andere Antwort als Zustimmung konnte Tarou nicht geben. »Warum«, studierte er den breiten Rücken des Hünen, der an das Kreuz eines Kurzstreckenschwimmers erinnerte, »warum hilfst du uns?« ~~~~~# Als der erlösende Telefonanruf seiner Eltern in Arjens Appartement einging, war Tarou bereits sicher, wie die Antwort ausfallen würde. »So sind sie wenigstens aus der Schusslinie«, dachte er schuldbewusst. Zwar waren sie in die grobe Linie des Youjimbou-Projekts eingeweiht worden, aber mit Yukimarus tatsächlichem Gesundheitszustand hatte Tarou sie nicht belasten wollen. Er bezweifelte nicht, dass sie schon genug unter Druck standen, weil sie als Hunde-Leichtgewichte gewagt hatten, ein Meeresgetier bei sich aufzunehmen. Das gehörte sich schlichtweg nicht! Als ob ein König bei einem Bettler hauste! Tarou nahm seinen Platz neben Yukimaru wieder ein. Dessen Kondition hatte sich in der vergangenen Zeit rapide verschlechtert. Unruhig warf er sich hin und her, fieberte und winselte unter starken Kopfschmerzen. Als Arjen wieder eintraf, begrüßte Tarou ihn bleich und abgekämpft. Er entschuldigte sich, dass er noch nichts für das Abendessen zubereitet hatte, aber.. Der Hüne bedurfte keiner weiteren Erklärungen, stellte die beiden hastig gepackten Reisetaschen vor dem offenen Schuhschrank ab und strebte zügig seinem Schlafzimmer zu. Er setzte sich auf die Bettkante, studierte Yukimaru eindringlich, suchte nach dessen Pulsschlag und fühlte die abstrahlende Hitze. "Ist es oft so?", erkundigte er sich ernst, ohne den Blick von Yukimaru zu wenden. "Manchmal", würgte Tarou besorgt, "ich kann ihm die Kopfschmerztabletten nicht einflößen. Er schluckt einfach nicht." "Hmmmmmmmmmmmmmm", brummte Arjen sonor und nachdenklich, verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. Dann erhob er sich federnd, "wie spät ist es?" Ein Blick auf die Uhr beantwortete seine Frage, doch Tarou vermutete, dass eine Eingebung ihn antrieb. Hoffnungsvoll blickte er in das kantige Gesicht mit den blitzenden, hellblauen Augen. "Bleib bei Schneewittchen", spielte Arjen auf Yukimarus Namen an, "ich versuche, guten Rat einzuholen." Damit verließ er das Schlafzimmer. Tarou, der Yukimaru immer wieder über das Gesicht, Hals und Brust wischte, hörte, wie das Kabinett aufgeklappt wurde. Einige Minuten später klangen unverständliche, fremdartige Silben einer einseitigen Konversation an sein Ohr. Arjen telefonierte offenkundig, doch Tarou konnte nicht verstehen, über was gesprochen wurde. Japanisch oder Englisch war es nämlich nicht. Etwas später steckte Arjen den semmelblonden Kopf zur Tür rein, schwenkte einen Computerausdruck. "Kannst du noch mal die Stellung halten? Ich bin gleich wieder da!" Tarou nickte und fragte sich, was Arjen wohl anstellen wollte. ~~~~~# "Gut, dass ich mal bei den Pfadfindern war", murmelte Arjen und improvisierte den Tropf, an den er Yukimaru angeschlossen hatte. "Kekse backen war nicht meins, aber Erste Hilfe ging ganz gut." Tarou war nicht sicher, ob Arjen das zur eigenen Aufmunterung sagte oder um ihn zu trösten. Mit einer Pipette tropfte er Yukimaru ein Gemisch in den Mund, das gegen die Schluckbeschwerden und die Übelkeit helfen sollte. "Am Besten, wir wechseln uns ab", schlug Arjen vor, "dann geht's dem kleinen Feuerkopf morgen bestimmt schon besser." Tarou pflichtete ihm besorgt bei und erhob keine Einwände, als Arjen ihn für die zweite Schicht einteilte. Obwohl das Abendessen ausgefallen war, fiel er wie ein Stein auf das Bett im Gästezimmer und schlief sofort vollkommen erledigt ein. ~~~~~# Arjen hatte sich den Laptop zur Gesellschaft geholt. Auf diese Weise konnte er den kleinen Wassermann im Auge behalten und gleichzeitig elektronisch korrespondieren. Wobei dieser Austausch im Wesentlichen darin bestand, dass sein Gesprächspartner kategorisch jede Hilfestellung ablehnte, ihm Vorhaltungen machte, schimpfte und grollte. Grinsend spulte Arjen das Gesprächsprotokoll herunter. Nichts war so verlässlich und aufbauend wie Georges' Wutausbrüche. ~~~~~# Tarou pickte bedrückt in seiner Reisschale herum, aber obwohl er Hunger hatte, verspürte er doch weder Appetit noch Verlangen danach, etwas zu verzehren. Yukimarus schlechter Zustand raubte ihm den letzten Nerv. Wie sollte es denn weitergehen, wenn der nichts bei sich behalten konnte und schon zu schwach war, um ordentlich zu trinken?! Arjen, der gerade geduscht hatte, legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter. Es überraschte Tarou immer wieder, wie direkt der Mann war, ihn wie einen engen Familienangehörigen behandelte. »Ausländer eben«, aber es irritierte Tarou ebenso, wie flüssig Arjen Japanisch mit seinem Osaka-Einschlag sprach. Nichts passte hier zusammen! "Iss ordentlich, wer weiß, was es demnächst gibt", neckte ihn der Hüne, inspizierte das Angebot und schaufelte sich seine Reisschale voll. "Ehrlich", brummte er dabei, "ich sollte mich nicht beklagen, aber manchmal vermisse ich wirklich ein richtiges Frühstück mit Brot und Croissants. Marmelade, schmelzender Butter und krümeligem, sauren Käse", seufzte er profund. Für Tarou hörte sich das nicht gerade nach einer leckeren Alternative an. Arjen grinste gut gelaunt, "das hängt wohl davon ab, wie man aufgewachsen ist, wie?" "Vermutlich", murmelte Tarou deprimiert, legte seine Stäbchen beiseite. Wenn er nur wüsste, wie er Yukimaru aufpäppeln konnte! "Mach dir keine Sorgen mehr!" Arjen langte über den Tisch und wischte ungeniert Tarous lange Ponysträhnen aus dem Gesicht, klemmte sie dem völlig Überrumpelten hinter ein Ohr, "ich habe gute Nachrichten." "...gute Nachrichten?!", echote Tarou hoffnungsvoll, wenn auch ein wenig skeptisch. "HmmHmm", Arjen kaute mit prallgefüllten Backen, spülte eilig nach und tupfte sich anschließend artig den Mund mit einer Papierserviette ab. "Ja, definitiv. Gestern Nacht habe ich einen Spezialisten konsultiert, der es ABSOLUT und KATEGORISCH abgelehnt hat, mir zu helfen. Oder mit dem nächsten Flugzeug hierher zu kommen." Tarou blinzelte, lupfte die Augenbrauen im angestrengten Bemühen, höflich zu bleiben und Arjen nicht in deutlichen Worten verstehen zu geben, was er von dieser Art Scherzen hielt. Der Hüne griente und hob beide Hände zur Beschwichtigung, "das bedeutet, dass ich nachher losziehe und unsere Koryphäe vom Flughafen abhole." "Ich verstehe nicht...", brachte Tarou kritisch vor. "Deshalb", Arjen nahm seine Reisschüssel wieder in eine große Hand, "sagte ich, du solltest besser ordentlich zulangen. 'Orkan Georges' ist im Anzug, und der hat überhaupt keinen Sinn für Humor." ~~~~~# Tarou tupfte Yukimaru das käsig bleiche Gesicht ab und tropfte erneut von der nicht sonderlich appetitlichen Mischung auf dessen trockene Lippen, hoffte, sein bester Freund möge die Flüssigkeit schlucken. Dabei überdachte er den Vortrag, den Arjen ihm gehalten hatte, als sie gemeinsam gespült und ein wenig Ordnung gemacht hatten. 'Orkan Georges' war ein Jugendfreund und laut Arjens Urteil DER Spezialist für Yukimarus Kopfschmerzen. Außerdem hasste Georges eigentlich alles und jeden, vor allem Reisen, Menschenmengen, Kinder, fremdes Essen oder Sprachen, Flugzeuge und Gesang. "Dummerweise", Arjen grinste, "hat sein Geschäftspartner, mit dem er eine Apotheke in Brügge führt, sich den Knöchel verstaucht und konnte nicht zu einem Fachsymposium nach Singapur fliegen. Also musste Georges einspringen und für ihn den Vortrag halten." Angesichts der Einführung über des unbekannten Georges' Abneigungen hatte Tarou eine vage Vorstellung davon, wie sich der Unbekannte fühlen musste. Doch Arjen hatte ihm abgewinkt, "nicht mal, wenn du das um den Faktor 1000 steigerst, hast du eine Vorstellung davon, wie ANGEPISST Georges ohnehin ist." Demgemäß stand ihnen wohl eine sehr unerfreuliche Bekanntschaft bevor. Er konnte nur nicht begreifen, warum Arjen so gehobener Laune war. ~~~~~# Arjen konsultierte die Anzeigetafel, um bloß nicht die Landung der Maschine aus Singapur zu verpassen. Er wartete geduldig, als die Heerscharen an ihm vorbeizogen, zum nächsten Ausgang drängten. Georges HASSTE Menschenansammlungen. Gedränge. Körperkontakt. Deshalb war es nur logisch, dass er mit brodelnder Wut die anderen Fluggäste vorließ. Tatsächlich bemerkte Arjen einen jungen Mann, der ganz in Schwarz gekleidet mit schwarzem, etwas ungeordnet wirkendem Lockenschopf, einer gewaltigen Sonnenbrille und einem bockenden Rollkoffer heranstürmte. Bevor er noch ein Wort der Begrüßung formulieren konnte, deckte Georges ihn erst auf Deutsch, dann auf Niederländisch und schließlich auf Französisch mit Vorhaltungen und Beschimpfungen ein. Dabei wurde er nicht übertrieben laut, aber sein Zischen und Brodeln von Silben lenkte trotzdem die Aufmerksamkeit anderer Anwesender auf sie. Arjen griente, schnappte sich unaufgefordert den Rollkoffer und machte kehrt. Der Wutausbruch seines Begleiters endete in einem erbosten Fauchen. "...ich sollte dich mal so richtig verprügeln", knurrte Georges, als sie hinaustraten, um ein Taxi zu finden, "ich HABE dir gesagt, dass ich NICHT komme!" "Hast du", nickte Arjen und steuerte einen Mietwagen an, dessen Fahrer nicht schnell genug schaltete, um den beiden streitenden Ausländern auszuweichen. Widerwillig öffnete er den Fond und lud den Rollkoffer in den Kofferraum. "Ich HASSE es hier!", köchelte Georges neben ihm weiter, "es ist VOLL! Total ZUGEBAUT! Überall Leute! Und das ESSEN!" "Du willst nicht hier sein", legte Arjen fürsorglich vor, "du wolltest auch nicht in Singapur sein. Oder im Flugzeug, wo wir schon dabei sind." Nun wandte Georges den Kopf, rammte sich die überdimensionierte Sonnenbrille auf den Kopf und funkelte Arjen aus nachtschwarzen Augen zornig an. "Riskier noch mal ne kesse Lippe, und du fängst dir Eine!", drohte er düster. Arjen zuckte lässig mit den Schultern, "weißt du, ich habe dich wirklich vermisst. Und ich freue mich, dich zu sehen." Auch wenn er überrascht war, wie bleich Georges aussah. Dass der tiefblaue Ringe unter den Augen trug und verdächtig an Stummfilmstars erinnerte. Üblicherweise wirkte Georges eher wie ein romantischer Held des Empire, ein Heathcliff mit korrekter, aber provozierend nachlässiger Kleidung. Einem wild gelockten Schopf, einer Ahnung von Bartschatten und diesem flammenden Blick, der vor Leidenschaft loderte. Alles an ihm proklamierte Sturm und Drang. Noch bevor er seine spitze Zunge offenbarte. "Spar dir den Schmus!", ging der erneut auf ihn los, "hast du diese blöden Gören wirklich zufällig aufgetan, oder ist das alles eine Erfindung, um mich die Wände hochzutreiben?!" "Am Besten", Arjen zwinkerte, "überzeugst du dich selbst." Georges knurrte etwas Unverständliches und verschanzte sich wieder hinter der gewaltigen Sonnenbrille, drehte den Kopf weg. Ohne im Geringsten beleidigt zu sein, lächelte Arjen vor sich hin. Er wusste 'Orkan Georges' schon zu händeln. Schließlich hatte er lange Jahre Erfahrung darin. ~~~~~# Als Tarou Geräusche an der Tür hörte, erwog er zunächst, den Spezialisten höflich zu begrüßen. So, wie es sich gehörte. Dann registrierte er eine Ahnung in der Luft, zuckte zusammen und entschied, lieber bei Yukimaru zu bleiben. Angespannt und ängstlich wartete er mit klopfendem Herzen darauf, dass Arjen den Neuankömmling in sein Schlafzimmer führte. Ein Blick von Georges genügte, um Tarou ganzkörperlich zittern zu lassen. ~~~~~# "Mach ihm keine Angst", mahnte Arjen sanft, schob sich an Georges vorbei. "Tarou, das ist Georges. Er spricht kein Japanisch, versteht aber Englisch. Oder Französisch, wenn du das kannst." Zu Georges gewandt winkte Arjen auffordernd, "siehst du? Ich habe dich nicht angeschwindelt." "Als wenn du das könntest!", schnarrte Georges vernichtend, schälte sich aus dem schwarzen Parka, den er nicht hatte ablegen wollen, drückte ihn Arjen in die Hände. Seine nachtschwarzen Augen ruhten auf Yukimarus wächsernem Gesicht. "Los, verzieht euch. Alle beide", kommandierte er herrisch, hockte sich neben Yukimaru auf die Matratze. Tarou, der nicht verstand, was die beiden Männer sprachen, ballte die Fäuste, auch wenn er noch immer am ganzen Leib zitterte. Er würde Yukimaru nicht allein lassen! "Hey you!", Georges fixierte ihn nun durchdringend, "get lost! NOW!" Arjen schnalzte tadelnd mit der Zunge, "Georges, hör auf, den Kinderschreck zu markieren." Er fasste den erbleichten Tarou beim Arm und adressierte ihn freundlich, "Tarou, lassen wir die beiden allein, damit Georges sich Yukimaru anschauen kann, in Ordnung? Keine Angst, ihm passiert nichts." Mit weichen Knien, von Arjen gestützt, verließ Tarou das Zimmer. Er fühlte sich elend und winzig. »Der Kerl ist...!!« ~~~~~# "Du musst keine Angst haben", wiederholte Arjen, reichte Tarou eine Limonade und nahm neben ihm Platz. "Ich weiß, Georges wirkt ein bisschen...", er überlegte und entschied sich endlich für, "furchteinflößend, aber er würde Yukimaru nie etwas antun." Tarous Hände zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, die Limonade nicht zu verschütten. "Ich kenne ihn schon lange", Arjen bemühte sich angestrengt, Tarou zu beruhigen, "deshalb weiß ich, dass er zwar brodelt und kocht wie ein Vulkan, aber eigentlich sehr beherrscht ist. Er hält sich Leute eben gern auf Abstand." An Tarous Miene konnte er ablesen, dass seine Versicherungen keinen Erfolg zeitigten: in den braunen Augen glitzerten Tränen. Er zauberte ein Stofftaschentuch hervor, hob Tarous Kinn mit einer Hand an, kämmte die langen Ponysträhnen beiseite und tupfte dann die feuchten Spuren ab. "Mach dir nichts daraus", tröstete er sanft, "bei der ersten Begegnung mit Georges geht es den meisten so. Damit versteckt er, dass er eigentlich sehr nett ist." Und um den Beweis für diese Behauptung anzutreten, legte er einen Arm um Tarou und erzählte ihm, wie er Georges das erste Mal begegnet war. ~~~~~# Arjen hielt Ausschau nach seinem Großvater, doch der schien in den herumwandernden Erwachsenengruppen verloren gegangen zu sein. Unterhaltungen in Sprachen aller Herren Länder füllten die Luft. »Nun«, dachte sich Arjen, der zum ersten Mal seinen Großvater auf eine dieser Gesellschaften begleitete, »dann schaue ich mich eben allein um!« Neugierig spazierte er zwischen den flanierenden Erwachsenen in ihren Cocktailkleidern und Abendanzügen hindurch, fragte sich, ob irgendwo das Buffet in der Nähe war, denn er hatte Durst. Im Garten, hinter den großen Partyzelten, traf er jedoch nicht auf Labsal für seine trockene Kehle, sondern auf andere Kinder. Auch sie waren prächtig herausgeputzt und schienen miteinander zu spielen. Erfreut wollte sich Arjen anschließen, denn so langsam hatte er genug davon, allein zu sein. "Hallo, ich bin Arjen", stellte er sich auf Englisch vor, wie er es gelernt hatte. Das löste allerdings keine Begeisterung aus. Stattdessen wurde er abschätzig bis feindselig gemustert. "Deine Mutter ist doch mit einem Affen verheiratet!", stellte ein hübsches Mädchen mit Zahnlücke und Korkenzieherlocken fest. Arjen runzelte die Stirn. "Meine Mutter ist mit meinem Vater verheiratet", stellte er richtig. "Du bist ein Affe!", ein kleiner Pummel stieß ihn vor die Brust, "hau bloß ab, blöder Affe!" "Ich bin kein Affe!", protestierte Arjen verwirrt. Was hatten sie hier alle mit Affen?! "Affen sind schwach und doof!", tönte es hinter ihm, begleitet von einem Schubs, "hau ab, Affe!" "Genau, hau ab!" "Ich bin KEIN AFFE!", brüllte Arjen wütend und wehrte sich gegen die Kinder, die ihn herumstießen. Er verstand nun, warum seine Eltern nicht erfreut darüber gewesen waren, dass er seinen Großvater hierhin begleiten wollte. Diese Kinder waren gemein! "Hau ab, hau ab, hau ab!", kreischten sie nun im Chor, traten und schlugen nach ihm, zerrten an seinen feinen Kleidern. "Opa! OPA!", rief Arjen um Hilfe, doch der Lärm in den Zelten übertönte ihn. "SCHNAUZE!", donnerte nun eine helle, wütende Stimme. Um ihn herum zuckten die Kinder zusammen, wichen hastig von ihm zurück. "Haltet SOFORT alle die Klappe!", zischte ein zierlicher Junge mit dicken, schwarzen Locken, der einen sehr altmodischen Samtanzug mit Schößen trug. "..mi-misch dich nicht ein!", fauchte der Größte der Truppe und baute sich vor dem zierlichen Jungen auf, die Hände in die Hüften gestützt. Arjen wurde umgestoßen und landete unsanft auf dem Hintern. Der zierliche Junge mit den schwarzen Locken ignorierte die Bedrohung. Dafür zogen sich die elegant geschwungenen Augenbrauen blitzförmig zusammen. "Ihr", verkündete er eisig, "haltet jetzt den Mund, oder es wird euch noch sehr leid tun. Ihr geht mir nämlich auf die Nerven mit eurem blöden Geplärre." Als sein direkter Gegner zu einer Kopfnuss ausholen wollte, offenkundig begierig auf eine Prügelei, ereignete sich etwas für Arjen vollkommen Verblüffendes: sämtliche Kinder fielen jammernd und heulend auf den Boden! Unbehaglich kam er auf die Beine und versuchte zu begreifen, was geschehen war. "Was ist denn los? Ist euch nicht gut?", erkundigte er sich bange. Das war unheimlich hier! "Du!", der zierliche Junge, der ungerührt inmitten der schluchzenden und winselnden Kinder stand, zeigte mit dem Finger auf ihn, "sei still." Arjen zögerte, denn er hatte den sicheren Eindruck, dass dieser Junge für das merkwürdige Verhalten der anderen Kinder verantwortlich war. Als der sich nun abwandte und, die Hände auf den Rücken verschränkt, in adretten Schnallenschuhen davonspazierte, eilte er ihm nach. "Entschuldigung! Warte doch mal, bitte!", rief er ihm nach. Sofort traf ihn ein wütender Blitz aus nachtschwarzen Augen, ein gebieterischer Finger auf den Lippen verlangte Stille. "Ja", flüsterte Arjen, "ich will auch still sein, aber kannst du mir nicht erst helfen, meinen Opa zu finden? Ich hab ihn hier verloren." Ein hochnäsiger Blick traf ihn, angeschlossen eine Musterung von Kopf bis zu den Zehen. "Sehe ich aus wie deine Kinderschwester?!", fauchte ihn der zierliche Junge empört an. "Eigentlich", entgegnete Arjen grundehrlich, "siehst du aus wie der kleine Lord aus dem Spielfilm." "Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst", beschied ihm der andere Junge kühl und hob gebieterisch eine Hand, "UND ich wünsche nicht, es zu erfahren. Du darfst dich nun entfernen." Damit wandte er sich ab und setzte seinen Gang fort. Arjen folgte ihm mit etwas Abstand. "Habe ich nicht gesagt, du sollst mir nicht nachlaufen?", aufgebracht fegte der zierliche Junge herum, weiße Hände wurden geballt. "Tue ich gar nicht!", Arjen verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, "ich gehe zufällig in die gleiche Richtung!" "PAH!", schnaubte der Lockenschopf und stolzierte davon. Arjen heftete sich an seine Fersen und landete so doch noch beim Buffet. Von der Suche nach seinem Großvater abgelenkt inspizierte er das Angebot und entschied sich für eine gewaltige Schüssel mit Waldmeisterwackelpudding. Eine Servicekraft nahm von seiner Anwesenheit Notiz und füllte ihm lächelnd eine kleine Schüssel. Wie aus dem Nichts materialisierte sich der unheimliche Junge neben ihm, als Arjen vom Buffet wegtrat. "Igitt", urteilte er abschätzig, "weißt du, dass dieses Zeug nur aus Zucker besteht? Und aus ausgekochten Ochsenknochen?" "Wirklich?", bemerkte Arjen im Konversationston, löffelte selig, "schmeckt sehr lecker!" "Warum hast du dir nicht auch noch gleich einen Klacks Sahne darauf geben lassen, damit du zu deinem Karies und Rinderwahn auch noch schön fett wirst?", ätzte der Lockenschopf bissig. "Sahne?", Arjen seufzte und leckte sich über die Lippen, "das hätte ich wirklich machen sollen." "Du...!", drohte ihm der fremde Junge aufgebracht, doch da näherten sich einige Erwachsene mit ernsten Gesichtern. "Georges. Bitte komm mit uns", ein Mann in strengem Frack trat zu dem zierlichen Jungen, vermied aber jeden Körperkontakt. "Selbstverständlich", antwortete der Junge namens Georges mit ausdruckslosem Gesicht. Arjen fühlte sich unbehaglich, weil er sich fragte, was diese vielen Erwachsenen von Georges wohl wollten. Fröhlich oder freundlich wirkten sie nicht gerade. "Ich heiße Arjen!", rief er ihm nach, "Arjen, hörst du!" Georges antwortete ihm nicht, aber ein kurzer Blick über die Schulter bewies Arjen, dass er verstanden worden war. Am Abend erzählte er seinem Großvater aufgeregt von der Begegnung mit diesem merkwürdigen Jungen namens Georges. "Halte dich lieber von ihm fern, Arjen", warnte ihn sein Großvater vor. "Der ist kein Umgang für dich." Und so dauerte es vier Jahre, bis Arjen Georges wiedersehen konnte. ~~~~~# "Warum wolltest du ihn denn wiedersehen?", erkundigte sich Tarou interessiert. Für ihn klang es immer noch so, als sei Georges das größte Ungeheuer, dem man begegnen konnte, arrogant, herrisch und unfreundlich. "Ich war neugierig", Arjen schmunzelte, strich sich über den semmelblonden Kinnbart, "denn er hat mich fasziniert. Du weißt schon, man gruselt sich zwar ein bisschen, aber das macht es erst richtig spannend." Er erhob sich, um neuen Tee aufzubrühen, erzählte dabei weiter. "Mein Großvater wollte nicht über ihn sprechen, meine Eltern wussten gar nichts, und sonst konnte ich auch niemanden fragen. Bis mein Großonkel zu Besuch kam." Arjen kramte nach trockenem Gebäck, "es stimmte natürlich, dass mein Vater kein Madararui ist. Ich war auch keiner", zwinkerte er Tarou zu, der ihn überrascht anstarrte. "Wie denn?", amüsierte sich Arjen, "hast du das nicht gemerkt? Ich gehöre zu den Verschütteten." "Oh", murmelte Tarou, mehr als perplex. Aus Arjens Ausstrahlung konnte man das nun wirklich nicht schließen! "Also", Arjen servierte und nahm wieder Platz, um den Faden seiner Erinnerungen aufzunehmen, "weil meine Mutter einen Affen geheiratet hat, gab es ziemlich viel Ärger. Das habe ich aber erst später begriffen. Mein Opa jedenfalls hat mich trotzdem akzeptiert. Vielleicht", ergänzte er versonnen, "weil ich sein einziger Enkel war." Er zuckte mit den Schultern. "Nun ja, dann hat sich mein Großonkel gemeldet. Der ist ein richtiger Globetrotter, mal hier, mal da. Treibt sich auf der ganzen Welt herum, macht überall Geschäfte und gilt bei den meisten anderen Madararui als schwarzes Schaf." Arjen grinste, "ihm gehört Übrigens die Wohnung hier." "Also", fuhr er fort, "mein Großonkel kam zu Besuch und erwähnte, dass er zu einer Gesellschaft gehen wollte. Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt eine Einladung hatte, aber rausgeworfen hätten sie ihn wohl nie." Er schmunzelte, "ich habe mich an ihn geheftet wie eine Klette und gebettelt, er möge mich doch mitnehmen. Dann habe ich von Georges erzählt. Und mein Großonkel hat gelacht und mir versprochen, mich mitzunehmen." Er nippte an seinem Teebecher, strich sich über den Kinnbart. "Mein Großonkel war der Einzige, der mich ermuntert hat, Georges anzusprechen, wenn ich ihn treffe. Weil Georges es so schwer habe, wie er sagte." Arjen runzelte die Stirn, "darüber habe ich lange gegrübelt. Wenn ich Leute dazu bringen könnte, heulend herumzukriechen, dann wäre ich doch ein toller Hecht, oder?" Tarou studierte Arjens Miene, die sich von der üblichen freundlichen Aufgeschlossenheit in traurigen Ernst verwandelte. "Also war ich noch neugieriger, Georges wiederzusehen. Und dieses Mal wusste ich ja, dass ICH der Affe war." ~~~~~# Arjen schlenderte scheinbar gelangweilt durch den kleinen Park, aber eigentlich hielt er Ausschau nach einem Jungen in seinem Alter, vermutlich noch immer zierlich gebaut, mit schwarzen Locken. Bisher hatte er von Georges noch keine Spur entdecken können und fragte sich nun enttäuscht, ob der vielleicht gar nicht gekommen war. Da hörte er Stimmen in seiner Nähe. Erfreut schob er sich durch die Büsche...und fand sich unmittelbar zwischen einigen Jugendlichen. Die rauchten, und nicht nur Nikotin, wie der süßliche Geruch verriet. Arjen war erst 12 Jahre alt, aber er war nicht dumm. Bevor er kehrtmachen und Fersengeld geben konnte, hatte sich schon ein Halbwüchsiger vor ihm aufgebaut. "Sieh mal an, was haben wir denn hier?! Einen BESCHISSENEN Affen!" Die Leier kannte Arjen schon. "Schließ nicht von dir auf andere", konterte er herausfordernd und ballte die Fäuste. "Du willst wohl Prügel kassieren, was?!", versperrte ihm ein anderer mit lässig von der Unterlippe baumelnder Zigarette den Weg. "Danke, nein, ich suche Georges", Arjen strengte sich an, die Jugendlichen alle im Blick zu behalten. "Georges?!", ein Mädchen kicherte hämisch, "der hat irgendeinen alten Typen gekillt! Habe ich vorhin gehört!" "Quatsch!", entgegnete Arjen schroff, "so was würde Georges nie tun!" "Ach ja?!", sie kam auf die Beine und klopfte sich ihren Minirock-Schlauchgürtel ab, "ich hab selbst gesehen, wie so eine Drachentussi ihm Eine geklebt hat! Weil er den alten Knacker umgelegt hat!" "Das ist eine Lüge!", schnaubte Arjen. "Wenn ihr nicht wisst, wo Georges ist, dann lasst mich durch!" "Großes Maul für nen blöden Affen!", bemerkte jemand hinter Arjen spöttisch. Er fegte herum, entging so einem gemeinen Tritt, dafür traf ihn aber ein Schwinger von der Seite. Arjen teilte nun auch aus, aber allein gegen vier Schläger und anfeuernde Schaulustige hatte er keine Chance. Ein Wurfgeschoss traf ihn an der Stirn und riss eine blutige Schnittwunde, die ihm die Sicht verklebte. Nun musste er noch mehr Keile einstecken. "Was tut ihr da?!", hörte er, quasi einäugig, eine heisere Stimme scharf rufen. Vor ihnen stand Georges, die Haare noch wilder, eine Wange dunkelrot, die nachtschwarzen Augen glühend, die weißen Fäuste geballt. Ohne sich um die Umstände zu kümmern, hielt Georges auf Arjen zu, nahm dessen Kopf in die Hände und inspizierte die Wunde, wobei er sich auf die Zehenspitzen stellen musste. "Verpiss dich, Missgeburt!", eine Tasche traf Georges am Rücken. Arjen sah, wie Georges' Augäpfel schwarz wurden, hörte dessen Zähne knirschen. Georges sagte kein Wort. Aber um ihn herum sanken kreischend, heulend und sich einnässend sämtliche Jugendliche zu Boden. Und Arjen wurde ohnmächtig. ~~~~~# "Und dann?" Tarou hatte die Beine vor den Leib gezogen, wippte unruhig auf dem Polster. "Tja, dann", Arjen befeuchtete seine trockene Kehle mit Tee, "dann haben sie Georges in ein großes Zimmer gesperrt und ihm Hausarrest verordnet. Er bekam natürlich alles, was er haben wollte", Arjen zwinkerte Tarou zu. "Was ist mit dir passiert?", erkundigte sich Tarou. "Mir?", Arjen lehnte sich zurück, "ich bin im Krankenhaus aufgewacht, nachdem man mir die Wunde an der Stirn genäht hatte." Damit tippte er auf eine Stelle, doch Tarou konnte beim besten Willen nichts Bemerkenswertes entdecken. "Mein Großonkel saß neben mir und beruhigte mich, als ich davon zu faseln begann, ich sähe überall Tiere um mich herum", Arjen grinste. "'Verdammt kluger Bursche, dieser Georges' hat er gesagt und mir jede Menge Wackelpudding gekauft." "Das heißt...", Tarou zögerte, runzelte die Stirn. "Ja", beantwortete Arjen die unausgesprochene These, "Georges wusste, dass ich ein Verschütteter bin. Und weil er mich berührt hat, als er seine Kräfte einsetzte, bin ich aufgewacht." "Und jetzt", er spannte die Muskeln an und posierte wie ein Bodybuilder, "siehst du vor dir ein Kodiak-Schwergewicht." Dann gab er die Scharade auf und lächelte, "aber frag mich bloß nicht, wer in der Familie dieses Erbe eingebracht hat!" Tarou überdachte die ganze Geschichte gründlich. Arjen wollte ihm beweisen, dass Georges niemand war, der anderen etwas zuleide tat. Bisher jedoch hatte sich bloß erwiesen, dass Georges Arjen ungeschorener ließ als die anderen Madararui, die ihm nicht konveniert hatten. "Was ist aus dem alten Mann geworden?", fragte er Arjen, "der umgebracht worden ist." "Ah", Arjen knabberte etwas Salzgebäck, "daran trug Georges keine Schuld. Er war unheilbar krank und..", Arjen seufzte, "hör mal, das musst du jetzt für dich behalten, ja?" Tarou nickte entschlossen. Wer würde ihn wohl auch nach diesem Georges befragen? "Also", Arjen beugte sich vertraulich vor, "der Mann war schon vorher krank. Sie haben Georges gebeten, ihm zu helfen. Eine Weile ging das auch, doch irgendwann konnte selbst Georges nichts mehr tun. Das hat er wohl gesagt. Und daraufhin hat man dem Boten des Unglücks die Schuld zugeschoben." "Ist er eine Art Heiler?" Tarou wurde aus dieser Erklärung nicht ganz schlau. Es fehlten zu viele Mosaiksteinchen im Bild. "Nein...ja...", Arjen zögerte, rieb sich den semmelblonden Kinnbart, "eigentlich kann ich das gar nicht sagen. Er hat einfach sehr besondere Fähigkeiten", signalisierte er hilflos. "Kann er Yukimaru helfen?", hakte Tarou nervös nach. Ihm war nicht wohl bei der Vorstellung, dass dieser Georges mit seinem besten Freund Frankenstein nachspielte. "Wenn es jemand kann, dann Georges", verkündete Arjen im Brustton der Überzeugung. "Er ist das mächtigste Meeresgetier, das es gibt." ~~~~~# Yukimaru schlug die Augen auf und sah sich einem Fremden gegenüber, der ihn konzentriert musterte. Ihm war noch immer sehr elend, aber das bleierne Band um seinen Kopf, das ihm die Gehirnmasse aus den Ohren quetschen wollte, hatte sich ein wenig gelockert. Seine Schwäche nahm sich jedoch so überwältigend aus, dass ihm ganz gegen seinen Willen Tränen aus den Augen quollen. Alles tat so weh, und er konnte NICHTS dagegen tun! Der Fremde sagte nichts, sondern legte kühle, weiße Finger auf Yukimarus Schläfen. Ganz behutsam und vorsichtig. Wenige Augenblicke später fiel Yukimaru in einen tiefen, traumlosen Schlaf. ~~~~~# Tarou, der noch immer über den unheimlichen Georges nachgrübelte, schreckte zusammen, als unerwartet die Schlafzimmertür aufgerissen wurde und Georges höchstpersönlich heraustrat. Ihn simpel ignorierte und sich direkt an Arjen wandte. "Jetzt Dusche! Dann Bett!", fauchte er heiser, aggressiv, "und weck mich bloß nicht, klar?!" Arjen schmunzelte, wies mit dem Daumen in Richtung Badezimmer und sah Georges nach, der sich wie ein Orkan übellaunig verzog. "Ich beziehe gerade mal das Gästebett frisch. Besser, du holst deine Sachen, bevor Georges den nächsten Aufstand probt", zwinkerte er Tarou zu. Der folgte gehorsam den Anweisungen, platzte aber dann doch heraus. "Ich kann einfach nicht begreifen, warum er so...so unfreundlich ist!" Oder warum Arjen dieses Verhalten tolerierte. Etwa aus Dankbarkeit dafür, dass Georges ihn damals aufgeweckt hatte? "Na ja", Arjen zupfte und glättete Falten, klopfte das Kopfkissen flach, "man muss ihn schon kennen, um zu wissen, wie er es meint", pflichtete er Tarou gutmütig bei. "Du wirst schon sehen, dass er gar nicht so übel ist, denn", Arjen grinste spitzbübisch, "ich wette, er bleibt, um Yukimaru auf die Beine zu helfen!" ~~~~~# Tatsächlich erwies sich Arjens Prophezeiung als zutreffend: Georges beschlagnahmte das Gästezimmer, beklagte sich über das unsägliche japanische Essen, verließ die Wohnung nicht und betreute Yukimaru. Seine Äußerungen waren knapp gefauchte Befehle, die Arjen so unbeeindruckt fröhlich wie zuvor übersetzte. Und ihnen musste UNBEDINGT Folge geleistet werden. Weshalb sich Tarou oft aus Arjens Schlafzimmer ausgeschlossen fand, Yukimaru nicht wie zuvor pflegen konnte. Arjen lenkte ihm ab, indem er zu Tarous Eltern fuhr, Kopien der Schulaufgaben besorgte und mit ihm spazieren ging. Das blieb natürlich nicht unbemerkt, aber Arjen kümmerte das nicht. "Keine Angst", hingebungsvoll nuckelte er an einem Eis, "gegen Georges kommt keiner an. Yukimaru ist so sicher wie in Abrahams Schoß." Andererseits waren auch andere Entwicklungen zu beobachten, vor allem in den Gesellschaftsforen der Madararui-Gemeinde. Dass Ausländer gekommen waren, um sich in das inoffizielle Rennen um Yukimarus Gunst einzumischen. Erwachsene, die Minderjährige verführen wollten... wobei niemand sich ausreichend enragierte, da dieses Thema bei den Madararui selbst heikel war. Im Glashaus warf niemand gerne mit Steinen. Yukimaru hingegen, der nach drei Tagen schon wieder im Bett sitzen und einige wacklige Schritte ins Badezimmer absolvieren konnte, hatte gegen Georges' Gesellschaft gar nichts einzuwenden. Obwohl Georges ihm nichts verriet, sie sich nur zögerlich verständigen konnten, begriff er genau, dass jemand von seiner Sorte vor ihm saß. Ein Meeresgetier. Und ohne ausdrückliche Erläuterung begriff er, dass Georges sich bemühte, ihn den Umgang mit seinen speziellen Meeresgetier-Fähigkeiten zu lehren. Und wie er mit den Migräneattacken umgehen konnte. Sich vollkommen entspannte. Da Yukimaru nie gelernt hatte, was Madararui-Familien ihrem Nachwuchs beibrachten, verblüffte ihn das Ausmaß seiner besonderen Kräfte immer wieder. Und wie geduldig Georges ihn schweigend korrigierte. Aber im Gegensatz zu ihm selbst, der sich öffnen musste, offenbaren, wie er es instinktiv aus Selbstschutz nie getan hatte, blieb Georges ab einer gewissen Ebene für ihn verschlossen. »Schon ziemlich gemein«, stellte Yukimaru fest und zurrte seine langen Lockenstränge zu einem dicken Zopf zusammen, »er spaziert in meinem Kopf herum und stellt alles Mögliche damit an, während für mich 'ich muss draußen bleiben' gilt!« Aber ohne einen Dolmetscher konnte er Georges nicht danach fragen. Und es schien ihm, als trage sein Lehrer durchaus dafür Sorge, dass sich dieser Zustand nicht änderte. ~~~~~# "Yuki?" Tarou nutzt die rare Gelegenheit aus, mit seinem besten Freund allein zu sein, da Georges wie ein Zombie von der Dusche ins Gästezimmer gewankt war und dort offenkundig Friedhofsruhe hielt, "behandelt er...dich gut?" "Georges?" Yukimaru schaufelte das japanische Nationalgericht "Eltern und Kind/Henne und Ei" in sich hinein. Vor Eifer und Appetit hatten sich seine blassen Wangen dezent gerötet. "Sicher tut er das!" Seine Antwort indizierte, dass er die Frage für merkwürdig hielt. Tarou sah sich zu einer Erklärung gezwungen, "zu uns ist er...eher schroff." "Wirklich?" Yukimaru lupfte erstaunt die Augenbrauen und lehnte den Nachschlag nicht ab, "hmmm... vielleicht, weil wir uns kaum verständigen können. Er redet auch nicht so viel mit mir." "Ich finde ihn unheimlich", bekannte Tarou und klemmte seine Ponysträhnen hinter ein Ohr. "Nein", Yukimaru widersprach ihm entschieden, "Georges ist nett. Es soll bloß keiner merken", fügte er verschmitzt an. "Bei mir hat er damit Erfolg", murmelte Tarou, beschloss aber, das heikle Thema nicht zu vertiefen. "Geht's dir jetzt besser?" "Oh ja!", Yukimaru nickte eifrig, "und ich glaube, ich könnte sogar noch ein bisschen wachsen!" Lächelnd wischte Tarou ihm eine vorwitzige, rote Locke aus der Stirn, "dazu hast du noch genug Zeit." Skeptisch verzog Yukimaru den Mund, gab dann aber dem Obstsalat den Vorzug, den Arjen gezaubert hatte. Der offenkundig über ausreichend Barschaft und eine unbeschränkte Mietdauer verfügte, denn er gab sich stets gelassen, auch wenn die Wohnung nun mit drei weiteren Personen geteilt werden musste. Und nur zwei sich gelegentlich nach draußen begaben. Was seine Gedanken auf ein anderes Sujet lenkte. "Sag mal, Ta-chan", Yukimaru beobachtete seinen Freund eindringlich, um sich nicht die kleinste verräterische Regung entgehen zu lassen, "was ist eigentlich aus unserem Youjimbou-Projekt geworden?" Tarou senkte den Kopf, um hinter seinen Ponysträhnen in Deckung zu gehen. "Das... ist ein wenig heikel", bekannte er und berichtete Yukimaru, wie man sich in elektronischen Meinungsplattformen darüber zerstritt. Das Wetteifern um die mächtigste Madararui-Familie vor Ort war in den Hintergrund getreten angesichts der Ausländer, die sich einmischten und wie Platzhirsche aufführten. "Es ist nämlich so", Tarou seufzte, "dass gegen ein Meeresgetier oder einen Verschütteten niemand antreten will. Hat Arjen dir Übrigens erzählt, dass er ein Kodiak ist?" "Nein! Wirklich?!", Yukimaru staunte, "hast du ihn mal gesehen? Ich meine, seine wahre Seele?" Tarou bedachte Yukimaru mit einem entrüsteten Blick, "also wirklich, Yuki! Er ist ein anständiger Erwachsener!" Und würde sich nicht derart intim vor einem Jugendlichen in seiner Obhut entblößen! Yukimaru seufzte, "schade. Ich glaube, ich habe noch nie einen richtig großen Bären gesehen." "Du solltest dich schämen", tadelte Tarou, "du bist schließlich in einer vorteilhaften Position." "Die ich aber nicht ausnutze!", protestierte Yukimaru heftig, hielt sich dann aber wieder den Kopf. "Autsch...", murmelte er. Sofort bereute Tarou, diese Auseinandersetzung herbeigeführt zu haben und reichte über den Tisch, streichelte Yukimaru besorgt über den Schopf, "schon wieder ein Anfall? Soll ich Tabletten holen? Wasser?" "Es geht schon", brummte Yukimaru, rieb sich die Schläfen und atmete tief durch. Er musste einfach lernen, diese gemeinen Nackenschläge der Pubertät auszuhalten, bis er endlich ausgewachsen war. »Zumindest habe ich eine Deadline vor der Deadline«, tröstete ihn seine innere Stimme sarkastisch. Georges hatte es ihm jedenfalls versichert. Um sich abzulenken, vertiefte er die aktuelle Situation des Youjimbou-Projekts. "Was denkst du, wie es weitergeht, wenn Georges nach Hause fährt?" Tarou richtete den Blick auf seinen Schoß, knetete seine Finger unbehaglich. "Ich weiß es nicht", bekannte er leise. Wenn man annahm, dass Yukimaru sich mit den Ausländern eingelassen hatte... würde er dann out sein? Oder weiterhin Freiwild? ~~~~~# Kapitel 7 - Konsequenzen Arjen betrat geräuschlos sein Gästezimmer. Er wusste, dass für ihn wie für die beiden Jugendlichen das absolute Verbot galt, sich Zutritt zu verschaffen, wenn Georges darin schlief. Aber er hielt eine Verletzung des Gebots für erforderlich. Denn Georges' Zustand bereitete ihm mehr und mehr Sorgen. Umso wortkarger er agierte, je dunkler die tiefen Augenringe wurden, der Teint durchscheinend, desto mehr fachte es seine innere Unruhe an. Georges ging es nicht gut. Gar nicht gut. Was der aber wie immer zu verbergen versuchte. Doch Arjen kannte seinen schwierigen Freund gut genug, um die Indizien richtig einzuordnen. Wenn Georges still wurde, beinahe füg- und duldsam, sich in einem dunklen Raum im Bett verkroch und wie ein Bär Winterschlaf hielt, dann stand es schlecht. Deshalb hatte er auch mit Huub in Brügge korrespondiert. Bereits die Aussicht auf einen mehrstündigen Flug nach Singapur hatte Georges zugesetzt. Es gab zwar Zwischenlandungen, aber das reichte wohl kaum aus, Georges' Abneigung merklich zu lindern. Huub vertraute Arjen an, dass die Lage auch vorher nicht einfach gewesen war. Sie hatten viele Kunden in ihrer Apotheke, außerdem einen Versandhandel über das Internet und immer wieder war Georges abgeholt worden, um zu helfen. Worüber er mit Huub nicht sprach, sondern hohe Rechnungen für Beratungsleistungen ausstellte und mauerte, wenn der nachfragte. Dass Georges jetzt auch bei Yukimaru sein Bestes gab, potenzierte nach Arjens Mutmaßung die Last noch, die ihm aufgebürdet wurde. Tapfer tastete er sich deshalb im Dunkeln durch den Raum, dankbar für seine Fähigkeiten als Kodiak. So kollidierte er wenigstens nicht mit Mobiliar. Eingerollt, die Decke hoch über den Kopf, sodass nur noch eine Ahnung von schwarzen Locken hervorragte, schien Georges zu schlafen. »Jeder andere wäre erstickt!« Arjen schüttelte den Kopf. "...geh weg", krächzte eine rostige Stimme unerwartet. Arjen holte tief Luft und ließ sich auf der Bettkante nieder. "Georges, auch wenn du jetzt stinkig wirst...ich mache mir Sorgen um dich. Was ist los?" Für eine Weile blieb es sehr still, so ruhig, dass Arjen seinen eigenen Herzschlag wie Paukendonner dröhnen hörte. Dann wisperte Georges, "später. Später reden." Arjen zögerte, dann legte er eine Hand auf die eingerollte Bettdecke und schickte sich drein. "Also gut. Reden wir später." Als er das Zimmer verließ und bemüht leise die Tür schloss, wurde ihm klar, dass sein vages Unbehagen sich in nagende Sorge verwandelt hatte. ~~~~~# "Berichten!", verlangte Georges heiser, wedelte ärgerlich das Angebot von Tee, Kaffee oder Saft weg. "Gern", Arjen nahm Platz und musterte Georges. Trotz der sommerlichen Wärme trug der einen dicken Rollkragenpullover und Wollsocken unter schwarzen Jeans. "Was genau möchtest du denn wissen?" "Yukimaru. Alles", bellte der schwarzlockige Mann unwillig und blitzte Arjen ungeduldig an. Der runzelte die Stirn. Hatte er Georges denn nicht schon genug Informationen gegeben, bevor der aus Singapur eingetroffen war? Trotzdem begann er, vor Georges alles auszulegen, was er erfahren und von Tarou gehört hatte. ~~~~~# Nach einer Stunde erhob Georges sich unvermittelt. "Was ist?", Arjen sah perplex zu ihm auf. "Heim", knurrte Georges, "ich will heim." "Jetzt?!", rutschte Arjen heraus, bevor er sich auf die vorschnelle Zunge beißen konnte. "Nächster Flieger. Nach Hause." Georges' Telegrammstil fehlte nun sogar der Pfeffer, der sonst feurig würzte. "Aber das geht nicht!" Arjen schraubte sich hoch, "ich brauche deinen Rat! Wie soll's denn jetzt weitergehen?" "Was hat das mit mir zu tun?!", fauchte Georges zurück, "DU hast dich hier eingemischt, nicht ich!" "Und ICH bitte dich um Unterstützung", Arjen blockierte vor Georges den Weg zum Flur, "ich möchte den Kindern helfen!" "Du weißt ganz genau, dass ich Kinder nicht ausstehen kann!", brüllte Georges, "das hier ist ALLES dein Problem!" "Gut, es ist MEIN Problem!", Arjen breitete die Arme aus, um Georges' Weg abzuschneiden, "gib mir einfach deinen Rat!" "Rat?! Von wegen!", Georges baute sich vor Arjen auf, hob die Stimme noch stärker, "du willst keinen RAT, du willst eine ANWEISUNG! Damit nichts auf dich zurückfallen kann!" Dieser Vorwurf beleidigte selbst den langmütigen Arjen, der sich zu Unrecht verdächtigt fühlte. "Das ist nicht wahr! Ich schiebe die Verantwortung nicht ab!" "Schön zu hören!", giftete Georges stürmisch, "dann weißt du ja, was zu tun ist! Und leugne das nicht!" "Wenn ich's wüsste, müsste ich ja nicht deinen Rat erfragen!", schnaubte Arjen, stellte sein mächtiges Kreuz aus. Dann, plötzlich, er konnte beinahe das Klimpern hören, fiel bei ihm der Groschen! Wenn das nicht wieder eine von Georges' tückischen Nebelkerzen war! Und von was sollte sie ihn wohl ablenken...? "Du weißt etwas!", platzte er heraus und angelte Georges' Handgelenke, als der sich an ihm vorbeidrücken wollte, "aber klar! DU WEISST ETWAS!" "Sogar eine ganze Menge!", verbissen strengte sich Georges in der Kraftprobe an, seine Arme freizubekommen, "lass mich los, du Trampel!" »Nichts da!« Arjens Verstand arbeitete auf Hochtouren. Es musste einen triftigen Grund geben, warum Georges erneut alle Fakten hatte hören wollen. Für was benötigte er eine Bestätigung? "Du hast eine Ahnung, wer seine Eltern sind, oder?! Das ist es doch, nicht wahr?!", platzte er triumphierend heraus. Georges' Augenbrauen zogen sich gewittrig zusammen, "und selbst wenn ich das wüsste, tut es nichts zur Sache! Es ändert GAR NICHTS, kapierst du das?!" Arjen zögerte. Konnte das bedeuten, dass Georges zwar eine Vermutung hatte, aber eine Offenbarung Yukimarus traurige Situation nicht verbessern würde? "Aber Schneewittchen braucht Hilfe!", drängte er, "seine Eltern könnten zumindest..." "Vergiss das ganz schnell wieder", zischte Georges und trat Arjen vors Schienbein, "zieh mich nicht in diesen Mist rein, hörst du?! Das ist allein DEIN Bier!" Ihr lautstarker Streit lockte nun auch Yukimaru und Tarou aus dem Schlafzimmer, die verunsichert die beiden Ringkämpfer beobachteten. "Aber ich weiß nicht, wie's weitergehen soll!", beharrte Arjen wütend, "deshalb musst du mich nicht treten!" "Nein, ich würde dir auch lieber deinen dämlichen Quadratschädel eindellen!", brüllte Georges heiser zurück, "zum Denken benutzt du ihn ja nicht!" Yukimaru mischte sich tapfer ein, "könnt ihr etwas leiser sprechen? Sonst beschweren sich noch die Nachbarn.." Da er nicht verstand, um was es ging, hoffte er, sein Appell würde für Frieden sorgen. Er verhallte ungehört, da sich Georges und Arjen wie zwei Kampfhähne mit gesträubtem Federputz gegenüberstanden. Arjen war erbost darüber, dass Georges ihm zum ersten Mal wirklich NICHT helfen wollte UND ihm nicht glaubte, dass er einen Ratschlag benötigte. Was Georges betraf, so konnte jeder Zuschauer zutreffend vermuten, er koche vor Wut auf die ganze Welt. "Lass mich jetzt raus hier, oder es setzt was!", drohte Georges mit geballten Fäusten. "Nein!", Arjen verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und blockierte den Weg, "erst klärst du mich auf!" "Aufklärung willst du?! Einen Rat?!", Orkan Georges zog mit Tiefausläufern, Sturmfront und Hagelschlag heran. "Na bitte! Wenn der Herr es wünscht! Dann werde ich dir doch gern heimleuchten!" Selbst Arjen wankte, weil Georges nun nur noch aus tiefschwarzen Augenhöhlen in einem kalkweißen Gesicht bestand. Und aus gebleckten Zähnen, die Silben wie Gewehrsalven zischten. "Fein! JA, ich habe eine Vermutung, wer seine Eltern sind. NEIN, ich werde es dir nicht sagen, ihm nicht", er deutete auf Yukimaru, der zusammenzuckte, "und sonst auch NIEMANDEM. Und NEIN, er darf von dieser Seite keine Hilfe erwarten!" Georges holte tief Luft, wischte sich mit dem Ärmel Speichel von den Lippen, spießte Arjen förmlich mit blitzenden Augen auf. "Da du so PESTILENT nach meinen RAT", er spuckte die Silbe verächtlich aus, "gefragt hast, sage ich dir, wie's aussieht." Unerwartet drehte er den Kopf zu Tarou, der erbleichte und sich auf Yukimarus Schulter stützen musste, um nicht unwillkürlich in die Knie zu gehen. "ER oder DU, ihr seid am Zug! Da draußen wartet ein Lynchmob darauf, IHN", nun deutete die Fingerspitze auf Yukimaru, "dafür zahlen zu lassen, dass ihr alle die Madararui hier brüskiert habt! Blamiert!" Arjen ließ die Arme sinken, "wie meinst du das...?" "IDIOT!", brüllte Georges, "die wollen jetzt Blut sehen! Erst narrt er sie!" Yukimaru versuchte, der anklagenden Fingerspitze auszuweichen. "Dann TRAMPELST du hier rein wie ein Platzhirsch und REISST dir die Beute unter den Nagel! Was denkst du wohl, wie's hier rundgehen wird?!" "Deshalb", Arjen gab sich noch nicht geschlagen, "brauche ich ja deinen Rat! Ich möchte nicht, dass Yuki oder Ta-chan etwas passiert, also..." Georges donnerte eine Faust gegen die Wand. Eine weiße Druckwelle fegte durch den Raum und die beiden Jugendlichen von ihren Füßen. Tarou würgte und hatte das Gefühl, er müsse sich hier und jetzt übergeben. Dabei war ihm auf vage Weise bewusst, dass er ohne Yukimarus schützende Arme und dessen Präsenz noch sehr viel stärker getroffen worden wäre. Arjen starrte Georges fassungslos an. Das hier war keine Schau, die Georges abzog, nein, dieses Mal reagierte er tatsächlich unbeherrscht! "Georges...", er streckte die Hände aus, die Handflächen friedfertig zur Decke gedreht. Nun war ihm auch unbehaglich zumute. Georges rang dagegen nach Atem. Unkontrolliert öffneten und schlossen sich seine Fäuste, die Zähne knirschten hörbar aufeinander. Langsam, quasi in Zeitlupe drehte er den gesenkten Kopf zu Yukimaru. "You...", streckte er den Arm aus, zeigte mit dem Finger auf Yukimaru, der Tarou bange umklammert hielt, "YOU decide. You choose who will FUCK you till you're pregnant AGAIN." Dann wandte er den Blick wieder Arjen zu, wechselte ins Flämische. "Mir ist gleich, ob du oder der Hundejunge ihn bumsen. Aber halte MICH da raus." Arjens Mund lief auf Autopilot, "Georges, das kann doch nicht die Lösung sein..." "Ah nein?", unerwartet packte Georges ihn vorne am Sweatshirt, zog ihn zu sich herunter, säuselte trügerisch sanft, "kann es nicht? Wäre es dir lieber, der Mob da draußen nimmt ihn sich vor? Nein?" Mit einem gewaltigen Stoß schleuderte er Arjen von sich, der rudernd ins Stolpern geriet und gegen einen Wandschrank krachte, dessen Türen aus der Führung gerissen wurden. Arjen ächzte vor Schmerz und rutschte haltlos herunter. "Du WEISST genau, wie ich über diese Dinge denke", Georges durchquerte das Zimmer, funkelte auf ihn herab, "und trotzdem... und TROTZDEM bringst du mich in diese Lage! Ich MACHE keine Kinder, das WEISST du!" Rasch öffnete er die Zimmertür, riss seinen Parka vom Garderobenhaken und schlüpfte in seine Schuhe, dann schlug die Appartementtür schwer ins gesicherte Schloss. Mühsam, nach Luft ringend, setzte Arjen sich auf. Ihm war noch schwindelig, und er hatte das Gefühl, ihm sei der komplette Brustkorb eingedrückt worden. "...bist du verletzt?", Yukimaru warf ihm einen ängstlichen Blick zu. "Nicht so schlimm", murmelte Arjen und bemühte sich um ein Grinsen, denn ihm war nicht entgangen, dass die beiden Jugendlichen kreidebleich und verängstigt waren. Er vermutete, dass in Japan solche Auseinandersetzungen als sehr ungewöhnlich und befremdlich galten. »Und ich hätte nie geglaubt, dass Georges...« Arjen rieb sich mit den Händen kräftig über das Gesicht. DIESES Mal war Georges zu weit gegangen. Hatte die Beherrschung verloren. Und dennoch konnte Arjen das beklemmende Gefühl nicht verdrängen, dass er Georges erst so weit getrieben hatte. Ihn verletzt hatte. "Was hat er damit gemeint?" Yukimaru räusperte sich, seine Stimme klang belegt, "was hat er vorhin gemeint?" Arjen hob den Kopf aus den Händen und hielt dem flehenden Blick aus den lagunenblauen Augen stand. "...lass uns später darüber reden", bat er leise, zwang sich ein Lächeln ins Gesicht, "wenn ich wiederkomme, ja?" Langsam kam er auf die Beine, inspizierte die zerstörten Schranktüren, hebelte sie aus und stellte sie seufzend an die Wand. "Wohin...wohin gehst du denn jetzt?" Yukimaru fasste ihn zögerlich am Ärmel. Ohne sich umzublicken, legte Arjen eine Hand auf den roten Lockenschopf. "Nach draußen. Ich muss Georges suchen." ~~~~~# Arjen blickte sich suchend um und nutzte den Vorteil seiner überlegenen Größe aus. Theoretisch konnte Georges sich nur seinen Weg gesucht haben, indem er Menschenansammlungen vermied und willkürlich abbog. »Bis ihm die Puste ausgeht.« Von der schien er jedoch reichlich zu haben, da Arjen ihn schon geschlagene zwei Stunden auszumachen versuchte. Ohne jeden Erfolg. Nicht einmal, wenn er Passanten befragt hätte, wäre das Ergebnis positiv gewesen, das wusste er aus Erfahrung. Wenn Georges nicht wahrgenommen werden wollte, tauchte er einfach aus dem Bewusstsein seiner Umgebung ab. Blendete sich aus, wurde quasi unsichtbar. Arjen ließ sich an einer Bushaltestelle nieder, streckte die langen Beine aus und überdachte seine Vorgehensweise. Unbestreitbar musste er Georges aufstöbern. Nicht nur wegen ihrer Auseinandersetzung, sondern auch, weil Georges sich überhaupt nicht auskannte, des Japanischen nicht mächtig war und die grundsätzliche Gewohnheit pflegte, niemanden um Hilfe zu bitten. Außerdem verfügte Georges nicht über die Zugangserlaubnis für das Appartement. »Verflixt, Georges...!«, aber seine Enttäuschung über Georges' unbeherrschten Ausbruch und die Wut über dessen Weigerung, ihm zu helfen, waren längst verraucht. Dafür hatte sich die bittere Erkenntnis breitgemacht, dass er mal wieder impulsiv gehandelt und seine Aktionen nicht bis zum Ende durchdacht hatte. »Aber du weißt auch, dass die Situation schon vorher verfahren war«, argumentierte er mit dem imaginären Georges in seinem Kopf, »hätte ich zulassen sollen, dass die Bande die beiden Jungs vergewaltigt?« »Nein«, war er sich sicher, das hätte Georges nicht bevorzugt. Und ihm vielleicht sogar Kredit eingeräumt, was die Beschützer-Rolle betraf. »Stimmt«, Arjen rieb sich über den semmelblonden Kinnbart, »über die Folgen habe ich mir keine großen Gedanken gemacht.« Georges dagegen schon. Möglicherweise bereits, als er von Singapur aufbrach, selbst das wollte Arjen nicht mehr ausschließen. Tatsache war, dass Yukimaru nicht ausreisen konnte. Dass er mit seiner Erscheinung viel zu auffällig war, um irgendwo auf dem Land versteckt zu werden. Und dass man nicht nur Yukimaru verbergen musste, sondern auch Tarou, der als Blitzableiter prädestiniert schien. »Gibt's denn wirklich keine andere Lösung?«, fragte er den Georges in seinem Bewusstsein unglücklich. Musste ein 14-jähriger Junge innerhalb eines Jahres zweimal Nachwuchs austragen, damit man ihn in Ruhe ließ? Abgesehen von einer schweren Augen-OP und den heftigen Schüben der Pubertät. »Positiv gesehen«, versuchte er sich aufzumuntern, »Georges ist trotzdem gekommen. Und Yukimaru geht es schon wieder sehr viel besser. SO falsch lag ich bisher gar nicht.« »Nur«, ätzte sein Über-Ich bissig, »dass Georges hier irgendwo durch die Gegend irrt, total neben der Spur und im Appartement zwei Jungs verängstigt darauf warten, dass du ihnen erklärst, warum sie in derselben Situation wie vorher stecken!« Arjen seufzte laut. Sein Blick wanderte über Gebäude, Leuchtreklamen und vernahm die unermüdliche Geräuschkulisse. Diese Stadt schlief wirklich nie, und er konnte verstehen, warum Georges mit Ablehnung reagiert hatte. Zu laut, zu voll, zu viel von allem. Langsam schraubte Arjen sich hoch. Wenn es keine andere Lösung gab, dann musste er für das Unvermeidliche Vorkehrungen treffen. Deshalb folgte er dem Leuchtband eines Geschäfts für Madararui und erwarb Utensilien zur Zeugung der nächsten Generation. ~~~~~# "Mir ist immer noch übel", murmelte Tarou und wischte sich mit dem feuchten Lappen über Stirn und Nacken. Yukimaru, der neben ihm auf der Couch kauerte, die Beine vor den Leib gezogen, kommentierte tonlos, "so war er zu mir nie." "Ich habe dir gesagt, dass er unheimlich ist", ging Tarou mit nachvollziehbarem Groll auf Yukimarus verständnislose Klage ein, ergänzte stumm, »und ein Ungeheuer!« "Warum hat er das gesagt?" Yukimarus Mund lief mutmaßlich auf Autopilot, reagierte gar nicht auf Tarous Bemerkung, "ich verstehe nicht, warum er das gesagt hat." Tarou legte den Lappen ab und studierte seinen besten Freund bekümmert. Er hatte verstanden, was Georges gesagt hatte. Und der hätte sich nie der Mühe unterzogen, ins Englische zu wechseln, wenn er nicht gewollt hätte, dass ihn die beiden Jugendlichen auch verstehen. »Ist besser, du kommst selbst drauf«, entschied Tarou, legte behutsam einen Arm um Yukimarus schmächtige Schultern. Immerhin oblag die Entscheidung, wie es weiterging, wirklich einzig und allein Yukimaru. ~~~~~# Gegen ein Uhr fand Arjen Georges endlich. Die meisten kleinen Shinto-Schreine wurden über Nacht geschlossen, die Parktore ebenso. Also hatte er systematisch öffentliche Spielplätze abgeklappert, wo sich niemand aufhielt und der Lärm der Menschen gedämpft wurde. Georges saß auf einer Bank, steif wie eine Statue, starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere. Sein Anblick war mehr als gruselig, erinnerte an Stummfilme mit Monstrositäten. Arjen blieb stehen, wartete ab, welche Reaktion seine Anwesenheit hervorrufen würde. Flucht oder Attacke? Unwillkürlich stiegen Erinnerungen in ihm auf. Von Gerüchten, die sich über Georges' Eltern und ihr Verhältnis zu ihrem einzigen Kind rankten. Dass sie ihren Sohn unheimlich fanden. Wirtschafter anheuerten, damit die für das leibliche Wohl sorgten. Sich keinem Bildungsvorhaben ihres extravaganten Sohnes widersetzten, der die Schulen wechselte, wenn er sich unterfordert fühlte. Heimatlos, wie ein Suchender. Einmal hatte er es gewagt, Georges danach zu fragen. Statt eines Orkans erntete er eine nüchterne, kühle Erklärung. "Wir können nichts miteinander anfangen, also, warum sollten wir zusammen leben? Wir brauchen einander nicht." Georges schien wirklich niemanden zu brauchen. Wenn er jemanden in seiner Nähe zuließ, dann war das ein eher unerwartetes Entgegenkommen. So wie die Partnerschaft mit Huub. Oder seine Freundschaft mit Arjen. Georges legte keinen Wert auf Gesellschaft. Wollte niemanden für sich behalten. »Und er hasst Kinder.« Arjen wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Sondern bloß als Schutzschild fungierte, damit niemand nachfragte, sondern Georges sofort in selbstgerechter Empörung ablehnte. Das schreckte natürlich nicht alle ab. Beinahe legendäre Züge hatte die skrupellose Vermittlung einer Ehe angenommen, die eine ehrgeizige Drachenfrau anstrebte. Georges war tatsächlich gekommen, sehr zur Verwunderung anderer Anwesender im exklusiven Restaurant. Dann hatte er in Gegenwart des Kellners, der die Bestellung aufnehmen wollte, den Redefluss seiner potentiellen Ehefrau unterbrochen. Und sie vollkommen ungeniert gefragt, ob sie endgültig und nachweislich unfruchtbar sei. Ansonsten hege er kein Interesse an einer Verbindung. Danach gab es nicht mal bei den geschäftstüchtigsten Madararui-Vermittlungsagenturen ein Gebot auf Georges. »Wenn du nur mit mir darüber sprechen würdest«, dachte Arjen traurig, »wenn du mir das anvertrauen würdest, was in deinem Kopf herumgeht.« Aber Georges machte immer alles mit sich selbst aus. Zumindest an den guten Tagen. An schlechten Tagen tauchte er ab. »Heute ist allerdings ein bodenlos schlechter Tag...und ich bin hier. Er ist hier«, soufflierte seine innere Stimme energisch. »Wachs nicht hier an, sondern finde heraus, wie GUT du wirklich bist!« »Mir tut jetzt schon alles weh«, antwortete Arjen sich selbst und zog eine Grimasse. Trotzdem war er entschlossen, das auszulöffeln, was er sich eingebrockt hatte. ~~~~~# Yukimaru presste die Hände auf die Ohren, während Tarou entschlossen die Sicherheitsanlage inspizierte. Irgendwie musste sich die dezent läutende Klingelanlage doch abstellen lassen?! Big Ben hin oder her... es reichte! Sie waren beide todmüde, aber zu besorgt, um einzuschlafen. Und irgendwo vor dem Haus patrouillierten rachsüchtige Jugendliche, die alle fünf bis zehn Minuten läuteten, um ihnen deutlich zu machen, dass sie festsaßen. Dass man nur darauf wartete, sie zu erwischen, wenn sie einen Fuß vor die Tür wagten. »Sie müssen beobachtet haben, dass Georges und Arjen weggegangen sind...« Schließlich hängte er ein dickes Handtuch über den Lautsprecher, zog Yukimaru an einer Hand von der Couch hoch und führte ihn in Arjens Schlafzimmer. "Vielleicht verbringen sie die Nacht aushäusig", bemühte er sich um einen beiläufigen Tonfall, "duschen wir und gehen dann schlafen. Es bringt nichts, hier herumzusitzen." Yukimaru nickte langsam. Es arbeitete in ihm, das entging Tarou keineswegs. Aber er wollte abwarten. »Du wirst schon früh genug das Urteil hören...«, verspottete er sich bitter. ~~~~~# Arjen näherte sich Georges vorsichtig, wachsam. Als er ohne eine Attacke oder eine bissige Bemerkung bis zur Bank gekommen war, ging er vor ihm in die Hocke. Die nachtschwarzen Augen waren kaum von den tiefen Schatten der Augenhöhlen zu unterscheiden. Georges' Gesicht wirkte in der künstlichen Beleuchtung so kalkweiß, als habe er seine Haut mit Bleiche behandelt. "...Georges?", machte sich Arjen mit einem Räuspern bemerkbar. Es verstrichen lange Augenblicke, untermalt von Verkehrsrauschen und Fetzen der unablässigen Lärm-Melange der Großstadt. "Georges, es tut mir leid", Arjen legte behutsam seine Hände auf Georges', die flach auf dessen Oberschenkeln ruhten. "Du hattest vollkommen recht. Ich war", er seufzte und grimassierte kläglich, "mal wieder zu impulsiv." Georges' starrer Blick ins Leere jagte ihm eine Gänsehaut ein. "Ich bin froh, dass du trotzdem gekommen bist. Du hast schon mehr getan, als ich mir erhofft habe." Nicht ein einziges Blinzeln. Arjen musste sich des Eindrucks erwehren, er spräche zu einer Statue. Oder einer Leiche. Kalt genug dafür fühlten sich die weißen Hände an. »Und mir ist schon wieder klebrig warm!« "Georges...", er nahm die eisigen Hände auf, schraubte sich hoch, "Georges, rede mit mir! Sei wütend auf mich, klatsch mich gegen die nächste Wand, schrei mich an, aber..." Er räusperte sich, um seine belegte Stimme zu befreien, "schweige mich nicht an. Ignoriere mich bitte nicht." Wieder verstrichen Äonen, kalbten Gletscher, explodierten entfernte Sterne in Supernovae. Dann bewegte sich Georges. Kippte den Kopf langsam, zögerlich, als traue er den eigenen Wirbeln nicht, in den Nacken, um Arjen anzusehen. Er bewegte die Lippen, doch seine Stimme blieb weg. Arjen beugte sich vor, bemühte sich, im vagen Licht der Straßenlaternen die Worte abzulesen, die er nicht hören konnte. "...ich will heim... ich will nach Hause...heim.." E.T.? Eine Schallplatte mit Hänger? All diese Assoziationen irrten durch Arjens Kopf, während er sich bemühte, eine Schnittmenge zu bilden, die die gegenwärtige Situation und Georges einschloss. Es funktionierte nicht. »Er ist wirklich krank!«, diagnostizierte er mit wachsender Bestürzung, »das kann doch nicht wahr sein!« Hastig ließ er sich neben Georges auf der Parkbank nieder, rieb dessen Hände aneinander und hauchte auf sie. "Georges", plädierte er eindringlich, fixierte sich auf die nachtschwarzen Augen, "Georges, rede mit mir! Ich verspreche dir, ich bringe dich heim! Ehrenwort!" "..heim. Nach Hause..", krächzte Georges, das Gesicht maskenhaft eingefroren. "Ja, nach Hause. Der nächste Flug, ich organisiere alles!", versicherte Arjen nervös, "Georges, ist dir nicht kalt? Komm, lass uns aufstehen und ein paar Schritte gehen!" Wie konnte jemand nur in der nächtlichen Schwüle in Rollkragenpullover, Parka und dicken Jeans eine derartige Frostschicht tragen?! Er zog Georges auf die Beine, der artig wie eine Marionette folgte. Impulsiv, Arjen gab uneingeschränkt zu, dass er diese Eigenschaft nicht ablegen konnte, zog er Georges an sich und umarmte ihn beschützend. "Du kommst nach Hause, ich verspreche es", raunte er in die schwarzen Locken, "bald geht's heim, Ehrenwort." Er hoffte, dass seine Worte, zumindest seine Stimme, irgendwo in Georges' abgängigem Bewusstsein ein Echo auslösten. Es WAR unheimlich, Orkan Georges so zu erleben! "..Arje?", hörte er an seiner Brust ein fragendes Wispern. Wie lange hatte er diesen Kosenamen nicht mehr gehört? "Georges?", antwortete er sanft, lockerte seine Umarmung ein wenig, blickte in die nachtschwarzen Augen in ihrem dramatischen Stummfilmtrauerflor. "...mir ist kalt. Ich muss mich bewegen." Diese Bemerkung drang heiser, wenn auch deutlich und sehr gegenwärtig zu Arjen hoch. "In Ordnung", gab er sofort nach, "gehen wir ein paar Schritte." Zu seiner Erleichterung spazierte Georges, marschierte nicht im Sturm und Drang drauflos. »Vielleicht«, soufflierte ein trügerischer Gedanke hämisch, »kann er nicht mehr.« Obwohl ihm bewusst war, dass Georges belangloses Dahinplappern verabscheute, konnte er seinem Mund keine Fesseln anlegen und plauderte drauflos. "Hör mal, es tut mir ehrlich leid, dass ich dich da reingezogen habe. Du hast wie immer recht", zerknirscht zupfte er seinen Kinnbart, "ich habe mal wieder nicht nachgedacht." Georges wandte ihm den Kopf zu. Nach einem kritischen Seitenblick richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. "Du bist impulsiv", antwortete er betont gleichmütig, "das ist nicht zu ändern." "Jau, und immer bringe ich dich damit in Schwierigkeiten, wie's aussieht." Arjen gab sich reuig, auch wenn er nicht ganz davon überzeugt war, die 100%-ige Verantwortung zu tragen. "Schätze, ich wollte wieder mal den Helden markieren." Georges blieb neben ihm stehen, seufzte laut. Aber nicht spöttisch oder herablassend. Verblüfft stolperte Arjen beinahe über seine Füße, rotierte eilig, um zu Georges zurückzukehren. Der rang für einen Moment mit sich, warf ihm dann unter sich ungeniert in das bleiche Gesicht kringelnden Locken einen müden Blick zu. "Es war nicht falsch, den Jungen beizustehen." Mit einer wegwischenden Handbewegung nahm er sein Flaniertempo wieder auf, "die Situation war schon verfahren, bevor du hineingeplatzt bist." Das KLANG beinahe wie ein Lob! Arjen zupfte an seinem Kinnbart und riskierte Seitenblicke. Georges machte tatsächlich Konzessionen?! War sogar bereit, sich mit ihm zu unterhalten? »Junge, Junge, er muss wirklich erledigt sein«, spottete Arjens innere Stimme. Er jagte sie zum Teufel. Zu seiner Überraschung unterbrach Georges selbst die aufkeimende Stille. Er rieb sich fahrig über die Stirn, verhedderte sich in den eigenen Locken und murmelte, "ich bin müde, Arje. Ich MUSS heim." "Tut mir leid", Arjen fasste spontan Georges' eisige Hand, "wenn ich gewusst hätte, dass es dir so schlecht geht..." »UUPPPSS...« Er zog eilig den Kopf zwischen die Schultern und erwartete für seine Frechheit die Strafe, immerhin referierte NIEMAND zu Georges' Zustand. Nicht, wenn er noch den nächsten Geburtstag erleben wollte. Georges grimassierte neben ihm, bleckte die Zähne, "das hätte nichts geändert. Du kommst IMMER zu mir, wenn die Lage brenzlig ist." "Ich bereite dir nicht absichtlich Ärger!", dementierte Arjen eilig, "es ist bloß so, dass du..." "...der kleine Pfadfinder bist, der allzeit bereit alles auf die Reihe bringt", beendete Georges spöttisch Arjens Satz. "Ich weiß, ich weiß." Müde sackten seine Schultern herab, er fröstelte sichtlich. Arjen, der sich zwischenzeitlich um Orientierung bemüht hatte, fasste einen Entschluss. "Wir suchen uns ein Quartier für die Nacht. Du musst dich ein wenig ausruhen." Dass Georges ihm nicht widersprach, belegte ihm einmal mehr, wie prekär es um seinen Freund bestellt war. Konzentriert studierte er Gebäudewerbung, bog dann mit Georges in eine kleine Gasse ein, wo eine diskrete Tafel die angebotenen Dienstleistungen aufzählte. Rasch löste er seine Hand um Georges', zupfte dessen Parka zurecht, kassierte den Zopfgummi ein und fächerte dessen Locken auf. "Was GENAU wird das?", erkundigte sich Georges, nicht wie gewohnt giftig, sondern beinahe gleichgültig. "Tarnung", murmelte Arjen konzentriert, "kannst du dich als Frau geben? Sonst lassen sie uns vielleicht nicht rein." Georges warf ihm einen kritischen Blick zu, nickte dann aber stumm. Mit Erleichterung stellte Arjen fest, dass in dem adretten Love-Hotel noch nicht alle Zimmer belegt waren. Er erleichterte seine Barschaft am Schalter, wurde mit einem Zimmerschlüssel ausgestattet und nicht mal über die Gepflogenheiten belehrt, was ihm doch recht sonderbar vorkam. "Sag mal", gewann seine Neugierde die Oberhand, "hast du irgendwas...?" Georges kletterte hinter ihm die Stufen des engen Treppenhauses hoch. "DU wolltest doch hier übernachten", knurrte er heiser. "Sicher. Prima gemacht. Fein", gab Arjen eilig zurück. Wieder mal musste er eine Landmine mit beiden Füßen getroffen haben! Als er das Licht aktivierte, entpuppte sich der Raum als recht gewöhnlich. Wie ein Hotelzimmer eben, nur statt zweier Betten gab es ein größeres. Keine grellen Farben, kein Spielzeug für Erwachsene. Eine kleine Tafel führte Preise für die kleine Bar auf, wiederholte noch mal den Salär, wenn man den Aufenthalt verlängern wollte, aber Arjen hatte vorausschauend die gesamte Nacht gebucht. "Ich geh duschen", murmelte Georges neben ihm, verschwand ohne Weiteres im kleinen Separee. Arjen ließ sich auf das Bett sinken und erwog, in seinem Appartement anzurufen. Allerdings konnte er nicht erwarten, dass Yukimaru oder Tarou den Anruf entgegennahmen, deshalb gab er diese Idee wieder auf. Er konnte nur hoffen, dass die beiden klug genug waren, ins Bett zu gehen, wenn er nicht zeitig zurückkehrte. »Was uns wieder an den Ausgangspunkt führt«, sinnierte er ratlos. Gab es keine Alternative zu einer Schwangerschaft? Musste Yukimaru wirklich zwischen einem Verschütteten als erster Klasse und einem Hunde-Leichtgewicht als Holzklasse wählen? Er seufzte laut und rieb sich heftig über das Gesicht. Wenn er ganz ehrlich war... wollte er nicht. Erstens war er noch nie mit einem Mann SO weit gegangen, zweitens war Schneewittchen ihm VIEL zu jung und drittens...hatte er eigentlich gehofft, bloß ein paar Tage Ferien in Japan zu machen und dann nach Europa zurückzukehren. Immerhin wollte er seinen Abschluss als Umweltingenieur in klingende Münze umsetzen, die Auslandspraktika vorzeigen, die seine Bildungskarriere fördern sollten. Aber vom eigenen Kind so weit getrennt leben...das ging nicht. Und Yukimaru hier rausreißen... das ging auch nicht. »Aber du HAST ihm versprochen, ihm zu helfen!«, hielt er sich selbst unbehaglich vor. »Du kannst jetzt nicht einfach auskneifen, nur weil es für DICH unbequem wird! Was soll Yuki denn erst sagen?!« »JaJAJAAA!«, fuhr er sich selbst an, »das weiß ich doch! Ich sage ja auch nur, wenn's nach mir ginge...« Er ließ sich rücklings auf die Matratze sinken und streckte die Arme nach oben, dehnte seine Muskeln nachlässig. Dann plumpsten seine Arme spannungslos hinab, wurden unter seinem Hinterkopf verschränkt. Wie lange war es her, dass er sich mit Georges ein Zimmer geteilt hatte? Üblicherweise lehnte Georges es strikt ab, irgendjemanden in seiner Nähe zu haben. Er verlangte einen Rückzugsort und HASSTE es, wenn ihm dieser nicht gestattet wurde. Regelmäßig fand sich dann doch eine Lösung...weil Georges' Verärgerung auf alle anderen nachdrücklich wirkte. Deshalb galt er als arrogant, herrisch und kapriziös, was seine Ansprüche betraf. Nun konnte Arjen noch besser verstehen, warum Georges auf dieser Kondition bestand. Ihn schauderte es bei der Erinnerung an dessen Anblick auf der Parkbank. Wenn er sich richtig entsann, war er wahrscheinlich die einzige Person auf der Welt, die schon mal mit Georges gemeinsam eine Unterkunft bewohnt hatte. Selbstverständlich galten Georges' Regeln, aber darüber hinaus hatte Arjen seinen Freund nie als anstrengend empfunden. Es gab da eine Seite an Georges, die der niemandem zeigen wollte. Und, wenn Arjen ehrlich war, die viele gar nicht kennen wollten. Über die man tuschelte, hinter vorgehaltener Hand. Was nicht ausschloss, dass dieselben Madararui Georges eben aufgrund dieser Seite um Hilfe baten, wenn alle Stricke gerissen waren. Es ging das Gerücht, Georges könne Gedanken und Wahrnehmungen manipulieren. In fremdem Köpfen herumfuhrwerken. Er sei eine Art Hexenmeister oder Voodoo-Priester, der andere wie Marionetten an ihren Fäden tanzen ließ. Wie GENAU Georges' Fähigkeiten aussahen, wie umfassend seine Kräfte waren: Arjen hatte das nie zur Sprache gebracht. Nein, es hatte ihn nicht mal sonderlich interessiert. »Eben wie der impulsive Depp, der ich bin«, seufzte er stumm. Stets hatte er einfach und unerschrocken auf Georges zugehalten und ihn um Hilfe gebeten, im sicheren Vertrauen darauf, dass Georges entweder eine Lösung hatte oder ihm schon heimleuchten würde. Sie waren doch Freunde, oder nicht? Da konnte man sich vertrauen! Er drehte den Kopf und nahm die Tür des Separees in den Fokus. Trotz aller Ausbrüche, trotz der Sturmausläufer des 'Orkans' betrachtete er Georges als seinen besten Freund. Als die Person, der er ohne zu zögern seine intimsten Gedanken und Probleme anvertrauen konnte. Der sichere Hafen in einer bewegten Welt, der Anker in der aufgewühlten See. Und warum? Weil Georges... nett war. Nachsichtig. Geduldig. Mitfühlend. Hilfsbereit. Und sanft. »Wenn man zwischen den Zeilen liest, seine Schimpftiraden richtig übersetzt.« Georges, das gab Arjen unumwunden zu, gab sich allerdings nicht die geringste Mühe, eine Übersetzungshilfe anzubieten. Nur wenn man Geduld hatte, »oder ein impulsiver Idiot ist«, ergänzte Arjens innere Stimme spöttisch, gelang ein Blick hinter die Kulisse des Orkans. Dann erwies sich auch regelmäßig, wie durchdacht und planvoll Georges agierte. Der in diesem Moment das Separee verließ, in einen weißen Bademantel gehüllt, die schwarzen Locken feucht glitzernd. Arjen erschrak, als er registrierte, wie gering der Kontrast zwischen Hautfarbe und Stoff war. Außerdem schienen Georges' Zehen- und Fingernägel blau zu schimmern. Georges dagegen nahm ihn gar nicht richtig wahr, sondern dämpfte beiläufig das Licht, schwankte auf Autopilot zum Bett, ließ den Bademantel fallen und verkroch sich unter die Bettdecke, in die er sich einrollte. »Schlafwandelt er etwa??« Um diese These zu erproben, sprach Arjen ihn an, lehnte sich bequem auf eine Seite. "Georges, es hat doch einen Grund, dass du Ta-chan so mies behandelst, oder?" Er erhielt keine Antwort, lediglich die Decke wurde höher gezogen. "Du machst das mit Absicht. Damit er so richtig wütend wird, nicht wahr?", Arjen gab nicht so schnell auf. "...ich bin müde...", drang es gedämpft zu ihm. Keine flammende Tirade, keine Attacke. Arjen WAR beunruhigt. "..tust du das auch für mich?", behutsam streichelte er über die feuchten Locken, flüsterte in das verborgene Ohr darunter. "Schon wieder alles meinetwegen?" Georges brummte abwehrend. Arjen hauchte einen Kuss auf das freigelegte Ohrläppchen, "du kümmerst dich immer um alle. Aber wer kümmert sich um dich?" Unter ihm bewegte sich Georges unruhig, murmelte schließlich, "es ist gut, wie es ist." »Nein«, widersprach Arjen, studierte im warmen Dämmerlicht die eingerollte Gestalt. »Nein, es ist nicht gut. Aber du versteckst die andere Seite, damit niemand sieht, wie hoch der Preis wirklich ist. Den du zahlst.« Laut drang er weiter in Georges, dessen Geduldsfaden unter normalen Umständen schon längst gerissen wäre. "Ist dir noch kalt?" "HmmHmm", Georges bemühte sich offenkundig um Schlaf. »Ausgebrannt«, analysierte Arjen betroffen, »das ist es. Du bist nicht müde, du bist am Ende. Aber wenn man es nicht ausspricht, ist es auch nicht real, wie?« Er setzte sich auf der Matratze auf, pellte sich erst aus seiner Ober- dann aus seiner Unterbekleidung und robbte unaufgefordert unter die Bettdecke. "Ich wärme dich auf", deklarierte er seine Attacke. "...das funktioniert doch nicht", brummte Georges unwillig, "alte Mythen." Arjen war das durchaus bekannt, deshalb hatte er auch schon eine Retourkutsche parat, um Georges in die erschöpfte Parade zu fahren. "Wenn man sich bewegt, hilft's schon. Wirst sehen!" Und eigentlich, spätestens jetzt, hätte Arjen sich EXTREM lädiert irgendwo am anderen Ende des Raums befinden müssen. Dieser Zustand trat jedoch nicht ein. Georges drehte sich auf den Rücken und blinzelte mühsam, konnte kaum die Augen offen halten. Dennoch fixierte er Arjen angestrengt, der halb über ihn lehnte. "Ich bin müde, Arje.." "Und weiter?", der semmelblonde Hüne rollte sich ein, damit er Georges auf die Stirn küssen konnte, ohne ihn mit seinem Gewicht zu belasten. Über Georges' Gesicht irrlichterte ein Flackern, "..ich kann nicht mehr denken..." Arjen kauerte sich neben ihn, stützte die Ellen auf, um mit den Händen über Georges' Wangen und die Schläfen zu streicheln. "Und deshalb wird's gefährlich, nicht wahr? Darum musst du nach Hause." Georges kommentierte diese Erkenntnis nicht, dafür lächelte er plötzlich matt. Streckte die weißen, kalten Hände hoch, um mit den Fingerspitzen über Arjens Ohrmuscheln zu streicheln. "...ein blonder Kodiak... Bären haben so schöne kleine Ohren", murmelte Georges. Hätte Arjen nicht gewusst, dass Georges kaum etwas Alkoholisches trank, wäre die Vermutung naheliegend gewesen, der sei stark angetrunken. Daran lag es aber nicht. Arjen spürte, wie ihm eine Hitzestrahl durch den Leib fuhr. Es war nicht nur Georges' Geruch, der... anders war. Nein, dessen ganzer Air schien... verwandelt. Das Herz raste mit einem Mal, der Pulsschlag donnerte in seinen Ohren, die Kehle wurde ihm trocken, gleichzeitig kochte sein Blut. Und deshalb... deshalb sah Georges einen Bären über sich. »Oh oh«, kommentierte Arjens innere Stimme, die stark an Gehör verlor im Chor der Hormone, die aufbrüllten, mit den Hufen scharten, in den Startlöchern ausharrten. Und immer wieder diese unregelmäßigen Glutwellen, die Arjen in Brand setzten. Er war in Hitze. »Und das nicht zu knapp...« Obwohl das Georges war, sein Freund, ein Mann, ein männliches Meeresgetier, Alpha per definitionem. "...sie kriegen das nie richtig hin...", vernahm er gerade noch Georges' müdes Plappern. "Was kriegen sie nicht hin?", krächzte er heiser, streichelte Georges' Wangen und klappte die Glieder aus, um näher an diesen heranzurücken. "Die Ohren", antwortete Georges artig, dann fielen ihm die Augen zu, ein müdes Flattern, das an kleine Kinder erinnerte, die nicht einschlafen wollten, "bei den Teddybären. Immer zu groß...", schon driftete er weg. "Hattest du einen Teddybären?", Arjen tupfte glühende Küsse auf das kalte, bleiche Gesicht unter sich. "Als du klein warst?" Georges strengte sich sichtlich an, eine Antwort zu formulieren, die die träge Zunge meistern konnte, "glaube nicht.... brauchte keinen... Teddybären..." Nun schob sich Arjen gänzlich auf Georges' Leib. Er spürte die Kälte, die harten Knochen, die kantige Realität unter sich....und trotzdem glaubte er, im Augenwinkel etwas oszillieren zu sehen. Als schimmere für Sekundenbruchteile die weiße Haut perlmuttfarben wie Schildpatt. »Arjen...«, wollte er sich selbst mahnen, aber es war zu spät. Er war ein Madararui. Deshalb flüsterte er zärtlich, "das ist nicht richtig, Georges. JEDER braucht einen Teddybären." Dann küsste er Georges leidenschaftlich. ~~~~~# Tarou schreckte aus einem schwermütigen Dösen hoch, einmal mehr, tastete versichernd nach der zierlichen Gestalt seines besten Freundes neben sich... und fand Leere vor. Ruckartig klappte er in die Senkrechte, wischte eilig die Ponysträhnen aus den Augen, "Yuki?!" "...ich bin hier", hörte er leise, von der großzügigen Fensterfront. Eine Hand auf sein galoppierendes Herz gepresst, als könne es ihm unversehens aus dem Brustkorb entwischen und sich zu etwas hinreißen lassen, kletterte er aus den verdrehten Laken. Nein, diese Nacht war keineswegs eine ruhige! Yukimaru stand am Fenster, blickte hinaus, vielleicht auch hinunter auf die Straße. Die dunkelroten Locken waren längst dem Zopf entflohen, kringelten sich ungeniert um das blasse Gesicht des Jugendlichen. Stumm baute sich Tarou neben seinem besten Freund auf, touchierte, kaum mehr als eine Ahnung, dessen Schulter mit dem Oberarm. Eine sanfte Versicherung, ihn nicht in seinen Sorgen allein zu lassen. "...ich bin ein Idiot, nicht wahr?", murmelte Yukimaru leise, die gerade erst gewonnene, dunkle Stimme galvanisiert. Tarou hätte üblicherweise vehement widersprochen und solche Selbsteinschätzungen heftig von sich gewiesen. Nun jedoch zögerte er, ließ einen langen Moment verstreichen. Nicht etwa, weil er Yukimaru tatsächlich für einen Idioten hielt, sondern... "...es war von Anfang an eine verfahrene Situation", hörte er sich laut antworten. "Du hast nur getan, was das Beste in der jeweiligen Situation war." Yukimaru lachte bitter neben ihm auf und seufzte dann ebenso profund. "Ich wünschte wirklich, ich hätte deinen Verstand, Ta-chan", brummte er unglücklich, "und ich wünschte..." Er beendete den Satz nicht. Das war auch nicht notwendig, Tarou wusste nur zu genau, was folgen würde. Folgen musste. "Ja", krächzte er erstickt, "ich wünschte..." Trotz der nächtlichen Schwüle überzog seine Glieder ein Frostmantel, dessen eisige Ausläufer in seinen Adern in kürzester Zeit sein Inneres erstarren ließen. "...ich dachte, ich hätte das Schlimmste hinter mir", Yukimaru schien die Veränderung nicht einmal registriert zu haben, murmelte verächtlich über sein jüngeres, naiveres Ich, "nach all diesen physischen Herausforderungen, aber..." Seine Hand, noch immer klein, jedoch kalt und klamm, drängte sich in Tarous linke Faust. Unerbittlich, beinahe verzweifelt. "...eigentlich", Yukimaru holte tief Luft, was einem Seufzen ähnlich klang, "eigentlich will ich das nicht tun... NIE tun", die Stimme brach ihm für einen Augenblick weg, "aber..." Seine Fingernägel kratzten unwillkürlich in Tarous Haut, als er sich, mit aller gerade erst gewonnenen Kraft anspannte, Courage sammelte. Oder vielmehr die geballte Masse des Leidensdrucks in die Schlacht gegen Angst und hysterische Verweigerung der Realität warf. Er rang nach Luft, räusperte sich würgend, als der Kloß in seiner Kehle ihn zu ersticken drohte. Von Tarou kam keine Hilfe. Kein eilfertiges Einspringen, kein rasches Beruhigen. Keine Geste der Ermunterung. »Nein«, dachte Yukimaru gequält, »diesen bitteren Weg muss ich ganz allein und bis zu Ende beschreiten.« "Bitte", wisperte er in unglücklicher Verzweiflung, "kannst du mit mir ein Kind zeugen, Tarou?" ~~~~~# Kapitel 8 - Verhängnisvolle Entscheidungen »Das sollte nicht funktionieren!« »DAS DARF NICHT SEIN!« Arjen hörte die protestierenden Stimmen der Vernunft im Dauerfeuer seiner explodierenden Hormone nicht. Natürlich war es unmöglich. Nicht nur wegen ihrer unterschiedlichen Disposition als Madararui. Oder als Männer. Oder als Freunde. Oder weil es sich um Georges handelte. Den stärksten, mächtigsten, übellaunigsten, unwirschsten Madararui überhaupt. "...Georges...", hörte er sich stöhnen, gierig, fordernd, hungrig. Unter ihm eingekerkert, die weißen, knochigen Finger fest umklammert, jede Gegenwehr erstickend. Ohne Rücksicht auf die zweifellos miserable Kondition seines besten Freundes, der klapperdürr, totenbleich und eisig kalt unter ihm zuckte. Ausgeliefert der Gewalt eines Verschütteten, eines Kodiak-Schwergewichts, der sämtliche Zurückhaltung fahren ließ, vollkommen enthemmt jede Kontrolle verabschiedete. Sich an ihm weidete, jedes Fleckchen des geschwächten Leibs mit seiner Leidenschaft spickte, Male hinterließ, speichelbenetzt, sich rötend, aufschürfend. Arjen spürte durchaus, dass Georges sich zu wehren versuchte. Aber es waren keine gemeingefährlichen Attacken, keine Angriffe auf seinen Geist oder Körper. Lediglich ein vergebliches Winden unter ihm, ein mühsames Ringen um Luft, wenn er gerade Georges' Lippen freigab, um sich anderweitig zu verlustieren. »Eigentlich will ich das gar nicht!«, jaulte eine vereinsamte Stimme in seinem Hinterkopf. »Ha! Lügner! Sieh dich doch an!«, brüllte ein gewaltiger Chor zurück, »das ist genau das, was du willst. Was du schon immer wolltest!« Arjen entwirrte seine Finger aus einem Klammergriff, der seine Dominanz sicherstellen sollte, kämmte schweißnasse, schwarze Locken aus dem maskenhaft weißen Gesicht seines Freundes. »Ja«, gestand er sich ein, aufgewühlt und angetrieben durch ein übermächtiges Verlangen. »Das HABE ich schon immer gewollt.« Den Georges zu erobern, der sich unter dem brodelnden Vulkan verbarg. ~~~~~# "...das ist unvernünftig", hörte Tarou sich sagen. Aber war das wirklich seine Stimme? Dieses flache, blechern klingende, unzureichende Instrument seiner Mitteilungsfähigkeiten? Bevor er sich jedoch anschicken konnte, wie ein Computer artig programmiert die Vorteile aufzuzählen, die eindeutig für Arjen sprachen, schnellte Yukimaru herum und presste ihm die freie Hand auf den Mund. Er bebte, die Wangen fleckig vor Erregung, die Augen schwimmend. "Ist es nicht!", stieß er hervor, zog geräuschvoll die Nase hoch, "es ist total egoistisch und gemein und ausbeuterisch und..." Er schniefte heftiger, ignorierte die glänzenden Bahnen auf seinen Wangen, "weil du mein bester, mein einziger Freund und meine Familie bist! Trotzdem, bitte..." Tarou biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass die dünne Haut aufriss und ihn mit metallischem Geschmack beglückte. "...bitte...", Yukimaru schluchzte, hochrot im Gesicht, die überlaufenden, lagunenblauen Augen auf ihn gerichtet, "bitte... hilf mir..." "...wir könnten einen auswählen", hörte Tarou ungläubig, "per E-Mail Kontakt aufnehmen...", sagte er das wirklich selbst? Wieso drang aus der Eiswüste seines Körperpanzers noch eine Stimme, wenn alles andere erstarrt war?! Wieso konnte sie nicht schweigen, warum musste sie so grausam, so unerbittlich sein?! »Weil das hier erst der Anfang ist«, fauchte die stets in den Tiefen brodelnde Wut gehässig, »weil genug halbe Sachen gemacht worden sind! Sei endlich mal du selbst, Angsthase!« "Ich WILL keinen von denen!", Yukimaru detonierte vor Zorn und Enttäuschung, schluchzte nun auch vor Fassungslosigkeit, "bitte, Tarou, warum...?!" Der betrachtete das situationsbedingt nicht sonderlich reizvolle Erscheinungsbild seines Freundes. "...das genügt nicht", antwortete er, für sich selbst unerklärlich ruhig. "...was?!", Yukimaru schniefte, begriff nicht. Tarou beugte sich vor, blickte gelassen, über jede Verzweiflung, jede Enttäuschung, jede Zurückweisung weit hinaus, in die lagunenblauen Augen, in deren Wimpern dichte Tränenperlen hingen. "Überzeug mich", raunte er kühl, "bitte mich." Yukimaru starrte ihn an. Ungläubig. Vor den Kopf geschlagen. Mit knappen Bewegungen machte Tarou sich los und verließ das Zimmer, um ins Bad zu gehen. ~~~~~# Georges keuchte. Mit pfeifenden Lungen. Arjen richtete sich einen Moment auf, weidete seine ungeschminkt lüsternen Augen an dem Anblick unter sich. Er zweifelte nicht daran, dass er der einzige Mensch war, der Georges jemals so gesehen hatte. In seiner wahren Gestalt. Oszillierend, schimmernd, wie mit Perlmutt überzogen. Ein Meermann, exotisch und atemberaubend schön. Er sah die ausgemergelten Glieder nicht mehr, die hervorstehenden Knochen, die ungesunde Blässe der Haut. Spürte nicht mehr die pergamentene Beschaffenheit, die elendige Kälte, roch nicht den Notschweiß auf dem klammen Leib. »Mein«, dachte er berauscht. »MEIN. MEIN ALLEIN!«, triumphierte er. Tief in seinem Inneren, kläglich und sich selbst verachtend, schluchzte sein Gewissen auf, verfluchte das Madararui-Erbe. Doch alle Scham, alle Appelle an die Vernunft, das Beschwören der engen Freundschaft: nichts fruchtete. Arjens wahre Natur wollte erobern. Und vollkommen für sich vereinnahmen. ~~~~~# Yukimaru umklammerte seine spitzen Knie fest mit beiden dünnen Armen, wiegte sich selbst vor und zurück. Er konnte es einfach nicht fassen! Unbegreiflich! Warum tat Tarou ihm das an?! Konnte der denn nicht erkennen, wie erniedrigend und quälend es war, überhaupt solch ein Anersinnen an ihn zu richten?! Wieso dachte der kein bisschen daran, wie diese Mistkerle ihn behandeln würden?! Was sie ihm antun würden?! Und was sollte das heißen, "Überzeug mich"?! Erwartete er etwa, VERFÜHRT zu werden?! Auf Knien angefleht?! Oder was?! »Du musst mich doch bloß schwängern, mehr nicht!«, fauchte es zornbebend in ihm, »das ist doch keine große Sache!« »Ah nein?!«, nahm eine bittere Stimme den Diskurs auf, »und was ist dann mit dem Kind?! Oder Tarous Eltern?! Die werden sicher begeistert sein, den Bastard eines staatenlosen Taugenichts als sehr junge Großeltern versorgen zu müssen! Schon mal daran gedacht?!« Yukimaru schluckte, als sich sein Gewissen heftig und unerbittlich meldete. Er drückte die dünnen Beine enger an den Leib, verkroch sich in sich selbst. »Was soll ich denn tun?! Etwa wirklich....?!« Nun, wenn er sich dafür entschied, einem der widerlichen, arroganten Schnösel zu folgen, sofern die Angebote überhaupt noch Bestand hatten, würde vermutlich eine Zeit lang für ihn gesorgt. Und wahrscheinlich auch für ein Kind... Obwohl er längst nicht mehr sicher war, dass man es noch für erforderlich hielt, zu Prestigezwecken auch gleich noch Nachwuchs zu zeugen. »Ja, vielleicht genügt auch schon ein Video im Internet, wo alle sehen können, wie du rangenommen wirst, als Nachweis!«, spottete sein Gewissen zynisch. Um dann weggeworfen zu werden. »Und Arjen...?« Aber das stellte keine Option dar. Yukimaru wusste es hundertprozentig. Auf gewisse Weise war Arjen tabu. »Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären!«, schnaubte seine innere Stimme enragiert. Yukimaru schluchzte leise und schrumpfte in seinen Locken noch stärker ein. Tarou hatte ihm immer geholfen, immer beigestanden. Freundlich, sanft, in unverbrüchlicher Treue und Freundschaft verbunden. Warum dieses Mal nicht? Wegen des Kindes? Oder widerte ihn die Vorstellung an, mit einem Mann, nun gut, einem Jungen, Sex zu haben? »Oder bin ICH es, der ihn abstößt?« Kleinmütig rieb Yukimaru sich die verklebten Augenlider. »Was soll ich denn tun?! Wie soll ich ihn denn überzeugen?! Er ist nun mal meine letzte Hoffnung!« Plötzlich, als habe ihn ein unerwarteter, kühler Nachthauch gestreift, verstand er. ~~~~~# Tarou fühlte sich besser nach einer energischen Rubbelaktion mit einem nassen Waschlappen. Der Eindruck klebrigen Selbstekels, der an ihm haftete, verschwand gurgelnd im Bodenabfluss, während er selbst registrierte, dass wider Erwarten sein Körper nicht einem Eiszapfen nacheiferte. Ohnehin hatte diese Kälte ausschließlich über innere Qualitäten verfügt. Die sommerliche Schwüle beeindruckte sie nicht. Nachdem er sich gründlich den Mund ausgespült und mit einem Mundwasser gegurgelt hatte, lehnte er sich an die kühlen Kacheln einer Wand und reflektierte seine Lage. »Du bist ein ausgewiesen mieser Schweinehund«, bezichtigte er sich selbst. »Und das als Leichtgewicht«, spottete er grimmig zurück. Nein, auch wenn es wirklich gemein, gnadenlos und grausam gewesen war: es war gleichzeitig auch notwendig und überfällig. Trotzdem wollte Tarou erst noch eine Weile verstreichen lassen, bevor er zu Yukimaru zurückkehrte. ~~~~~# Arjen beherrschte mehrere Sprachen fließend, einige ausreichend, sich verständigen zu können. Doch im Augenblick bestand sein gesamter Wortschatz in nur einem einzigen Begriff: Georges. Wieder und wieder stöhnte, raunte, ächzte, fauchte er diesen Namen, begleitete damit seinen Eroberungsfeldzug. Würzte seine Liebkosungen, kündigte seine Absichten an. Er schmeckte nichts als Georges. Hörte nur die einzigartige Symphonie dieses Namens. Spürte nur ihn, nicht die Laken, die Matratze, die Kissen, das massive Bettgestell. Georges war SEIN. Haut, Haare, zerbrechliche Glieder, fliehender Atem, verzweifelt klammernde Finger, flatternde Augenlider, flehende Lippen. Aber das war nicht genug, nein, noch längst nicht! Die Hülle, so exotisch-schön, so bezaubernd und verleitend, genügte nicht! Er wollte alles, die vulkanische Wut, die erschöpfte Zurückgezogenheit, die einsame Zärtlichkeit! Arjen wollte Georges, so einfach war das. Der Kodiak hatte keinerlei Einwände. Und er war sehr viel stärker als Arjens Gewissen. Also setzte er sich durch. Und wusste genau, wie man bis zum Innersten einverleibte. ~~~~~# Als Tarou das Zimmer erneut betrat, entschlossen, sich in eine leichte Decke zu hüllen und wenigstens den Versuch zu unternehmen, Morpheus eine Tüte Schlaf abzuringen, kauerte Yukimaru auf dem Futon. Unter den verwüsteten Lockensträngen blickte ein Paar unkleidsam gerötete Augen zu Tarou hoch, der vor seinem Freund innehielt, ihn wie ein Turm überragte. Mit einem sichtbaren Ruck straffte Yukimaru seine zierliche Gestalt, setzte sich auf, entfaltete die angeklappten Glieder. Legte den Kopf in den Nacken, um sich tapfer dem Strafgericht auszusetzen. "Es tut mir leid", er räusperte sich, seine Stimme war belegt, "alles. Alles tut mir leid." Er holte tief Luft, die kleinen Hände zu Fäusten geballt, "dass ich so egoistisch bin. Dass ich vor lauter Angst bloß einen bequemen Ausweg gesucht habe." "Dass ich", er hielt inne, befeuchtete sich nervös die Lippen mit der Zunge, "dass ich unsere Freundschaft missbraucht und ausgenutzt habe." Tarou funkelte ungerührt auf ihn herab. Die langen Ponysträhnen verhängten nicht wie gewöhnlich eine Gesichtshälfte komplett, sondern waren hinter ein Ohr verbannt, sodass sein Mienenspiel offen zu erkennen war. Leider tat sich dort aber nichts, das Yukimaru zu Hoffnungen berechtigt hätte. "Und weiter?", erkundigte sich Tarou schließlich abweisend. Mit herabsackenden Schultern bekannte Yukimaru erstickt, "nichts weiter." Ärgerlich knurrend stemmte Tarou die Hände in die schlanken Hüften, fauchte, "was wirst du nun unternehmen?!" "Weiß ich nicht!", schnauzte Yukimaru wütend zurück, kam auf die Füße, um nicht länger wie ein gescholtener Schuljunge auf der Matratze zu kauern, "keine Ahnung!" "Toller Plan", ätzte Tarou, schob Yukimaru beiseite, wollte auf die Matratze klettern, um sich einen Schlafplatz einzurichten. "Wie kannst du nur so ekelhaft sein?!", nun platzte Yukimaru der Kragen, denn wie ein Möbelstück herumgerückt werden, das passte ihm gerade! Er griff ohne Nachzudenken nach einem Kissen und donnerte es mit Verve auf Tarous Haupt. Der ging, von sich selbst überrumpelt, sofort zum Angriff über, stürzte sich auf Yukimaru. Ineinander verkrallt rollten sie auf der Matratze, jeder bemüht, die Oberhand zu gewinnen, den anderen auszukontern. Üblicherweise hätte Tarou nicht den Hauch einer Chance gehabt, als Hunde-Leichtgewicht. Doch wie immer dachte Yukimaru nicht mal in der größten Empörung daran, seine Kräfte als Meeresgetier gegen den Freund einzusetzen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er kleiner, erschöpfter und leichter als Tarou war. Der hatte ihn endlich, nach Atem ringend, unter sich eingeklemmt, sodass Yukimaru sich nicht mehr befreien konnte. "Was nun?!", fauchte er aggressiv, "was machst du nun?!" "Weiß ich nicht!", brüllte Yukimaru zurück, "du willst mich ja nicht!" Tarou schwieg. Sein Körpergewicht drückte Yukimaru in die Matratze, seine Hände schlugen Yukimarus Handgelenke in eiserne Banden. Schließlich, als sich sein Atem vollkommen beruhigt hatte, stellte er knapp fest, "das habe ich nie gesagt." "Doch!", Yukimaru schnaubte wütend, konnte sich kaum regen, außerdem ziepten seine eingeklemmten Locken, "total! Du wolltest, dass ich mit einem von den Arschkrampen gehe!" "Nein", widersprach Tarou gelassen, "das wollte ich nicht." "Was?!", Yukimaru blitzte kobaltblaue Funken, "wer hat denn gesagt, es wäre unvernünftig, wenn ich von dir schwanger werde?! Das bedeutet doch nichts Anderes, als dass du mich nicht willst!" "Nein", Tarou verlagerte sein Gewicht, beugte sich tiefer, unerschrocken auf die zornblitzenden Augen konzentriert, "es bedeutet, dass es unvernünftig ist." "Was, verflucht noch mal, willst du denn hören?!" Yukimaru versuchte nun, vergeblich, sich frei zu strampeln. "Ich will hören, was du wirklich willst", Tarou verstärkte den Druck auf Yukimarus Brustkorb. "Das weißt du doch! Habe ich dir gerade gesagt!", fauchte Yukimaru enragiert, blinzelte wütende Tränen weg. "Dann wiederholst du es noch mal." Tarou gab nicht einen Millimeter nach, behielt eisern seine kühle Beherrschung. "Verdammt noch mal!", brüllte Yukimaru, knirschte mit den Zähnen, "also schön! Ich will, dass du mich schwängerst, okay?!" "Warum?", trügerisch beiläufig lagen diese zwei Silben in der Luft. "Weil... weil...", Yukimaru zögerte, ballte die eingequetschten Fäuste, "damit... damit sie mich in Ruhe lassen! Ich will ein ganz normales Leben haben!" Tarou über ihm lächelte leicht. Spöttisch. "Und das wird eintreten? Mit einem Säugling? Während der Schulzeit?" Yukimaru rang nach Luft. "Warum bist du so gemein, Tarou?! Wieso hilfst du mir nicht einfach?!" Über ihm lehnte sich Tarou noch tiefer, sodass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. "Und warum bist du so gemein, Yuki? Warum bist du zu feige, nur einen Augenblick über die Konsequenzen nachzudenken?" Den Kopf auf die Seite drehend wisperte Yukimaru erstickt, "nun wirst du ungerecht. Ich HABE über die Konsequenzen nachgedacht." "Oh? Nun, wie sieht dein Plan aus? Ich meine, für uns alle, die wir da mit reingezogen worden sind", scheinbar nonchalant richtete sich Tarou auf. "...ich habe keinen Plan", bekannte Yukimaru leise. "Und ich will auch nicht schon wieder schwanger werden. Oder alles kaputt machen. Ich will bloß in Ruhe gelassen werden!" Er unterdrückte mühsam ein Schluchzen, kniff die Augen fest zusammen und ballte die Fäuste, um seine Beherrschung nicht zu verlieren. "Also was jetzt?!", unbarmherzig beharkte Tarou ihn weiter, "willst du nun schwanger werden, oder deine Ruhe haben, oder was?! Entscheide dich mal!" Yukimaru stieß einen unartikulierten Laut des ohnmächtigen Zorns aus, blitzte wutschnaubend in das bleiche Gesicht seines besten Freundes, "verflucht noch mal, ich WILL endlich diese ganze Scheiße hinter mir lassen, kapiert?!" "...fein", Tarou schnurrte beinahe, die dunkelbraunen Augen hielten unbeirrt dem glühenden Blick Yukimarus stand, "also ist es DAS, was du wirklich willst." "Natürlich!", brauste Yukimaru heftig auf, "was dachtest du denn?! Glaubst du, es gefällt mir, dauernd für irgendwen den Hintern hinzuhalten?! Oder Gören in die Welt zu setzen?!" Dieser Ausbruch beeindruckte Tarou überhaupt nicht. Kühl und äußerlich gelassen zog er sich von Yukimaru zurück, gab dessen eingeklemmte Glieder frei. "Wie schön. Dann solltest du auch endlich anfangen, dein Gehirn zu gebrauchen." "Du aufgeblasener Esel!", Yukimaru schoss wie ein Schachtelteufelchen in die Höhe, tödlich beleidigt, und rammte erneut ein Kissen auf Tarous Hinterkopf. Der wandte sich herum, wich um Haaresbreite dem nächsten, gepolsterten Schwinger aus und rammte Yukimaru eine Faust in den flachen Bauch. Mit einem erstickten Wehlaut sackte der zusammen, umklammerte seine Körpermitte winselnd ob der unerwarteten Misshandlung. "...also, was jetzt?" Tarou hatte sich erhoben, schlug demonstrativ mit der Faust in die flache Hand. Unter verwirrten Lockensträngen hervorblinzelnd, die Zähne aufeinander gebissen, starrte Yukimaru ihn an. Was war bloß in Tarou gefahren?! Der hatte ihn noch nie geschlagen, niemals! "Willst du dich jetzt wehren, oder was?!" Tarou schnaubte verächtlich, "oder jammerst du bloß wieder herum?" "...pass bloß auf", zischte er schließlich zornig, "ich kann dich mit einem Schlag von den Füßen holen...!" "Ach ja?", spöttisch stemmte Tarou die Hände in die Hüften, "kannst du das, wirklich? Wenn du so groß und stark bist, warum greinst du dann hier herum?! Na los, hol mich von den Füßen! Aber denk dran, ich bin ja dein Notnagel, wenn alle Stricke reißen!" Nun konnte niemand seine Verbitterung mehr überhören. Yukimaru erstarrte, senkte dann beschämt den Kopf. "So habe ich das nicht gemeint", verteidigte er sich kleinlaut. "Hast du nicht?! Entschuldige", Tarou fauchte verächtlich, "da habe ich wohl was missverstanden. Oder nicht begriffen, welche Auszeichnung es ist, meine mickrigen Hunde-Leichtgewicht-Spermien zur Verfügung stellen zu dürfen!" "So war das NICHT gemeint!", brüllte Yukimaru, federte hoch, die Fäuste geballt, zornrot im Gesicht. "Was hast du bloß immer mit diesem Hunde-Leichtgewicht-Scheiß?! Du tust gerade so, als würde ich mir was auf diesen Madararui-Mist einbilden!" "Wer läuft denn hier rum und will sich den höchsten Schwergewichts-Stecher angeln?!", konterte Tarou ebenso enragiert. "Das war doch bloß eine Finte, verdammt!", fluchte Yukimaru, "damit sie mich in Ruhe lassen!" "Hat ja hervorragend funktioniert", ätzte Tarou unerschrocken, "ich darf dir dann zu deiner erneuten Elternschaft gratulieren!" "Darfst du nicht!", explodierte Yukimaru Speicheltröpfchen sprühend, "ich werde NICHT noch mal werfen, verdammte Scheiße! Ich habe die Nase gestrichen voll von diesem bescheuerten Madararui-Mist!" Er atmete heftig, die dunkelroten Locken kringelten sich elektrisiert. "...schön", stellte Tarou seelenruhig fest, "das ist endlich mal vernünftig. Und jetzt sollten wir über eine Strategie nachdenken." Yukimaru blinzelte. Fassungslos. War...war das etwa nur ein Test gewesen?! Hatte Tarou ihn bloß derart in Rage gebracht, um ihn vorzuführen?! Mit einem Ausfall schnappte er Tarou am Revers des dünnen Pyjama-Oberteils, zerdrückte es zwischen seinen Fingern und fauchte, "warum, zum Teufel, hast du mich so provoziert?! Und geschlagen?!" Tarous Finger legten sich ungerührt um die schmalen Handgelenke, er wich den lagunenblauen Augen nicht aus, "weil du die ganze Zeit schon wie sie gedacht hast." "Hab ich nicht!", protestierte Yukimaru in kindlichem Trotz, schob die Unterlippe vor. Sein Freund wartete geduldig, unverwandt in das so vertraute Gesicht blickend. "...okay", brummte Yukimaru mit niedergeschlagenen Augen schließlich, "schätze, das habe ich wohl doch." Er seufzte. "Echt, ich wünschte, ich hätte dein Hirn", murmelte er. "Du hast mein Hirn", versicherte Tarou sanft, "aber nur unter der Bedingung, dass du endlich wieder du selbst wirst. Scheiß auf den Madararui-Mist." "Genau", ein funkelnder, listiger Blick bohrte sich in seinen, "scheiß auf den Madararui-Mist!" Tarou lächelte. Und Yukimaru kam es vor, als sei eine Ewigkeit verstrichen, in der er auf dieses warme Leuchten verzichtet hatte. "Tut mir leid, ehrlich", gestand er mannhaft, "du bist kein Notnagel oder so etwas. Du bist mein Freund und meine Familie. Und wenn ich jemals wirklich ein Kind haben wollte, dann nur mit dir." Nur einen Wimpernschlag später färbten sich Tarous Wangen dunkelrot. Er brachte jedoch kein Wort über die Lippen. Ihm gegenüber grinste Yukimaru verschämt, "jetzt beschwer dich aber nicht, klar? Du wolltest ja wissen, was ich wirklich WILL." Das konnte Tarou schlichtweg nicht bestreiten. ~~~~~# Arjen stellte das Wasserglas ab, fädelte einen muskulösen Arm unter Georges' fötal zusammen gezwirbelten Leib und richtete ihn vorsichtig auf. Obwohl er sich bemühte, gelangte nur die Hälfte des feuchten Nasses auch in Georges' Kehle, der Rest sickerte in die Laken, glänzte auf der nackten, totenbleichen Haut. "Ich bring dich heim, Georges", wisperte Arjen bedrückt, streichelte und wiegte die vollkommen verkrampfte Gestalt behutsam, "so schnell, wie's geht. Ehrenwort." In ihm wehklagte eine einsame, hohle Stimme. »Was habe ich getan?! Was habe ich nur getan?!« Das wusste er leider zu genau. Und hätte es sich aus seiner Erinnerung durch den triebhaften Rausch, die hormonelle Orgie verabschiedet: Georges' Körper sprach eine eindeutige Sprache. Aber er konnte nicht jammern, er habe es nicht gewollt. Nein. Er HATTE es gewollt. Seine Leidenschaft ausgelebt, ohne Hemmungen, ohne Rücksichten. »Er hätte mich aufhalten können!«, rechtfertigte sich ein dünnes Stimmchen in seinem Hinterkopf kläglich. »Nein, hätte er nicht«, widersprach Arjen sich selbst, kämmte behutsam die klebrigen Locken aus der klammen Stirn, »er war am Ende. Hat es mir sogar gesagt. Sonst wäre es nie...« Ja. Sonst wäre es nie soweit gekommen. "Entschuldige", flüsterte er unglücklich, hauchte einen Kuss auf die zerbissenen, kalten Lippen, "verzeih mir bitte, Georges." Aber Georges reagierte nicht. Irgendwann, während Arjen seine Lust an ihm ausgetobt hatte, hatte Georges sich aufgelöst. War verschwunden, in sich selbst geflohen. Hatte Arjen allein zurückgelassen mit dem gezeichneten, erschöpften, ausgemergeltem Leib. ~~~~~# "Und du bist sicher, dass das funktioniert?" Yukimaru lupfte kritisch eine dunkelrote, fein gestrichelte Augenbraue. "Warum sollte es nicht funktionieren?", spielte Tarou konzentriert den argumentativen Ball zurück, "nur weil es noch keiner versucht hat? Oder weil wir nichts davon gehört haben?" "Hmmm", brummte Yukimaru und verhedderte einen unruhigen Finger in einem aufgedrehten Lockenstrang. Natürlich wusste er, wie man eine andere wahre Seele vorspielte. Über diese Fähigkeit verfügte jedes Schwergewicht und er als Meeresgetier selbstverständlich auch. Aber konnte man Schwergewichten wirklich vormachen, schwanger zu sein? Dabei ging es ja nicht um eine andere wahre Seele zur Tarnung, sondern um ZWEI wahre Seelen. "Hat dieser übellaunige Tiefausläufer dir nun was beigebracht, oder nicht?!" Energisch entzerrte Tarou die verwickelt-intime Verbindung von Zeigefinger und krisseliger Locke, "meine Güte, Yuki, komm endlich mal auf Touren!" "Hat er!", knurrte Yukimaru, nun wieder fähig, alle zehn Finger zu gebrauchen, "aber so etwas war kein Thema! Außerdem, wie sollen wir wissen, ob's funktioniert?!" "An einem Schwergewicht ausprobieren, selbstverständlich", schnaubte Tarou geplagt, "Arjen ist ein Schwergewicht, also wird er uns mitteilen, ob du nun schwanger bist, oder nicht!" "Schein-schwanger", korrigierte Yukimaru pikiert, denn mittlerweile ärgerte er sich über sich selbst. Weil Tarou so ernüchternd recht hatte: wo war sein Kampfgeist geblieben, seine Frechheit?! Warum musste ihn sein bester Freund erst bis aufs Blut reizen, um ihn aufzustacheln?! »Verdammt peinliche Sache!« "Also", Tarou holte tief Luft, "der Plan sieht folgendermaßen aus: du täuschst eine Schwangerschaft vor. Wir können aus diesem Gefängnis raus UND haben erst mal ein wenig Zeit gewonnen." Dass man Yukimaru trotz Schwangerschaft attackieren würde, schlossen sie beide aus. Mochten Madararui auch promiskuitiv sein und gelegentlich in ihrem Werben mehr als aufdringlich, so galt doch absolut, dass ein schwangerer Madararui nicht belästigt wurde. Wer ein Kind austrug, war für diese Zeitspanne tabu. "Die Sommerferien sind ja nicht weit, dann können wir uns leicht irgendwo verkriechen. Vielleicht auf dem Land? Na ja, wie auch immer, in der Zeit, in der dich niemand anrühren wird, musst du endlich wieder deine Kräfte aufbauen." Tarou packte unversehens einen dicken, dunkelroten Lockenstrang, "wenn dieser Georges ein Monster sein kann, kannst du das auch! Also nimm dir gefälligst ein Beispiel an dem Stinkstiefel!" Yukimaru zog eine Grimasse, "weißt du, SO mächtig bin ich dann doch nicht", bekannte er verlegen. Denn dann hätte er wohl Georges eine größere Herausforderung bedeutet, oder nicht? "Spielt keine Rolle", wischte Tarou brüsk den Einwand beiseite, "Hauptsache, du bist stärker als jedes Schwergewicht. Und dazu noch listiger." Nachdenklich rieb sich Yukimaru den noch leicht schmerzenden Bauch, studierte seinen besten Freund. "Habe ich mir das nur eingebildet, oder hast du wirklich mit Knallerbsen geworfen?" Ihm gegenüber funkelten die braunen Augen agitiert. "Denkst du", zischte Tarou hasserfüllt, "dass ich mich so einfach aufgebe?! Wenn sie mich erwischen wollen, müssen sie damit rechnen, dass ich mich bis zum Äußersten wehre!!" Diese ungefilterte Aggression verblüffte Yukimaru durchaus. So kannte er Tarou nicht, hatte immer angenommen, dass dieser sich wie zu ihrer Kinderzeit bange in seinem Windschatten hielt, um dort sicher zu sein. Aber offenkundig bot der Windschatten keine Zuflucht für seinen schlanken, alerten Freund. Nicht mehr. Ablenkend und durchaus verunsichert konzentrierte er sich auf die Strategie, "und wie geht's weiter? Werden sie nicht misstrauisch, wenn ich nicht zu einem Arzt gehe? Oder einfach so verreise?" "Du bist ein Meeresgetier, oder?", Tarou schnippte arrogant mit den Fingern, "also, warum zum Teufel solltest du dich wie alle anderen verhalten?!" Er kopierte Yukimarus Tonfall so perfekt, dass der verblüfft zurückwich. "Hmmm", brummte er nachdenklich, "hmmmm!" "Das Ziel", Tarou kehrte wieder gewohnt geschäftsmäßig auf die wesentlichen Dinge zurück, "besteht doch darin, dass sich niemand mehr sonderlich für dich interessiert, oder? Also musst du von der Bühne verschwinden und so GUT werden, dass sie dich nicht mehr als Beute identifizieren können. Setz deine Fähigkeiten dazu ein, ein Niemand zu werden. Ein Affe. Irgendwer." "Das wird nicht einfach", Yukimaru knabberte an einem Daumen. Schwergewichte zu täuschen, das entsprach höchster Kunstfertigkeit, da diese natürlich selbst bestrebt waren, solche Manöver zu durchschauen, um ihre Vorteile zu wahren. "Hat Arjen nicht erzählt, was dieser Georges mit den Köpfen anderer anstellen kann?!", Tarou entzog Yukimaru streng den Daumen, "also, kannst du das lernen, ja oder nein?!" "Schätze, schon... zumindest ein wenig." Yukimaru fühlte sich nicht sonderlich zuversichtlich. Gerade hatte sein Horizont noch in der Schmerzvermeidung bestanden, nun sollte es ihm gelingen, Schwergewichte so zu manipulieren, dass sie ihn quasi nicht mehr erkannten? Teuflisch tückische Sache! "Aber wenn Arjen Georges wirklich nach Hause bringt", wagte er einen Einwand, "wie soll ich dann...?" "Yuki, verflixt noch mal!", fuhr Tarou wütend aus der Haut, "du brauchst doch nicht ununterbrochen jemanden, der dir alles in kleinen Häppchen vorkaut, oder?! Übe mit dem, was er dir beigebracht hat!" "Schon", murmelte Yukimaru, den Kopf zwischen die Schultern eingezogen. Meine Güte, wann genau war Tarou so energisch geworden? "Wir zeigen's ihnen", verkündete der gerade mit finsterem Blick, "diesen eingebildeten, aufgeblasenen Schnöseln!" "He, he! Beruhig dich mal!", Yukimaru packte die geballten Fäuste besorgt, "klingt ja schon so, als wolltest du ein Radikaler werden!" Ganz zu schweigen von den Selbstverteidigungswaffen, die Tarou bei sich getragen hatte. Der funkelte ihn unverwandt an, "wenn ich wüsste, wo es einen effektiven Erfolg hätte", fauchte er guttural, "würde ich ihnen selbst ne Bombe legen!" »Uh oh«, konstatierte Yukimaru erschrocken. Dieses stille Wasser war so explosiv, dass nur noch ein Streichholz fehlte. ~~~~~# Eine Dusche zu nehmen, stand nicht zu Gebote. Arjen hockte also, für seine Begriffe mehr als unbequem, auf dem niedrigen Schemel, balancierte Georges' steifen Körper auf seinen Oberschenkeln aus. So behutsam es ihm möglich war, tupfte er mit einem feuchten Tuch über die dürren Glieder, die spröde Haut. Georges' Lider zuckten nicht einmal. "Es tut mir leid", wiederholte Arjen immer mal wieder, auch wenn er vermutlich kein Gehör fand. Abwechselnd mit, "ich bin ein impulsiver Idiot." Das änderte nichts an der Situation und verbesserte seine Gefühlslage auch keinen Deut. Aber die unwirkliche Stille, lediglich von seinen Atemzügen und dem Auswringen des Lappens unterbrochen, setzte ihm zu. Georges' Vitalfunktionen schienen in einen Winterschlaf gefallen zu sein. Vorsichtig teilte er die erbärmlich dünnen Beine, um nach der Reinigung dort eine Pflegelotion zu verteilen. Niemals zuvor war ihm Georges zerbrechlich vorgekommen. Schutzbedürftig. Jetzt jedoch in einem Maße, das ihm Tränen der Scham in die Augen trieb. Reflexartig presste er einen glühenden Kuss auf die kalte Stirn seines Freundes. "Es tut mir so leid, Georges", wisperte er unglücklich. Aber er konnte die Zeit nicht zurückdrehen, nichts ungeschehen machen. So blieb ihm nichts mehr zu tun, als Georges und sich zu reinigen, zu bekleiden und wenigstens sein Versprechen einzulösen. Georges musste nach Hause. ~~~~~# Tarou schreckte alarmiert hoch, als er die Appartementtür hörte, packte Yukimaru, der neben ihm schlummerte, hart an der Schulter. "Hrmpf?!", kommentierte der die unerfreuliche Veränderung, denn gerade hatte er endlich in einen erholsamen Tiefschlaf gefunden und war überhaupt nicht davon angetan, ausgerechnet jetzt aufwachen zu müssen. Bewaffnet mit einem Golfschläger, den irgendein Mieter in einem der Wandschränke vergessen hatte, schlich Tarou lautlos zur Tür, spähte in den Flur. Hinter ihm, unerbittlich an einer Hand gezogen, lehnte sich Yukimaru an. Vor ihnen bot sich ein verstörendes Panorama: Arjen schlüpfte eilig aus den Schuhen, neben ihm lag Georges auf dem Boden. "Was ist passiert?!", ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten schoss Yukimaru an Tarou vorbei, kniete sofort bei Georges und legte die schmalen Hände um dessen Haupt, drehte es zu sich. "Georges muss nach Hause", verkündete Arjen dumpf, "Tarou, kannst du seine Sachen packen, während ich die Flüge buche?" Sanft schob er Yukimaru beiseite, balancierte Georges wie ein Kind auf den Armen und brachte ihn ins Gästezimmer, wo er ihn auf dem unberührten Bett ablegte. Bange folgten ihm die beiden Jugendlichen. Während Tarou artig Georges' Habseligkeiten zusammentrug, der offenkundig aus trotzigem Prinzip kaum etwas ausgepackt hatte, hockte Yukimaru besorgt auf der Bettkante, die Hände um das totenbleiche Gesicht gelegt. "Wie geht's ihm?", flüsterte Tarou. "Weiß nicht", antwortete Yukimaru, nun ebenso fahl im Gesicht wie Georges. Aber er spürte genau, dass es um dessen Gesundheit gar nicht gut bestellt war. So vorsichtig es ihm möglich war, tastete er sich mit seinen Meeresgetier-Sinnen vor, hoffte auf eine Regung. Doch es schien ihm, als sei Georges gelungen, was er selbst noch anstrebte: sich vollkommen unsichtbar zu machen. Jede Spur seiner geistigen Existenz zu verhüllen. ~~~~~# Arjen hielt sich nicht lange auf, denn er hatte ja bereits im Vorfeld die Organisation des Heimflugs geplant. Er reservierte die notwendigen Tickets, engagierte den Service, der Passagiere mit Handikaps besonders betreute. Und dann rief er Huub an. Jemand musste dafür Sorge tragen, dass Georges heil vom Flughafen zu seinem Haus in Brügge kam. ~~~~~# Yukimaru hielt die kalten, spannungslosen Hände in seinen eigenen, wisperte konzentriert, "Georges? Georges, du musst aufwachen. Georges, hörst du?" Tarou, der inzwischen das Reisegepäck in den Flur geräumt hatte, betrachtete seinen Freund und den miesepetrigen Tiefausläufer von der Tür aus. Obwohl Georges in seinen Augen noch immer ein Ekel war, konnte er auch nicht verhehlen, dass erst dessen fortwährende Provokationen ihn ausreichend in Rage gebracht hatten, um selbst die Führung zu übernehmen. Nicht mehr hinter Yukimaru herzuzotteln, sondern die Marschrichtung vorzugeben. Außerdem entging ihm keineswegs, dass sich im Verhältnis Georges-Arjen etwas geändert hatte. Hatten sie sich überworfen? Die Freundschaft aufgekündigt? Was auch immer es war, die Wege der beiden würden sich temporär trennen. ~~~~~# "Georges?" Yukimaru bemühte sich angestrengt, in dem seltsamen Nebel nach einem Reizpunkt zu stochern. Obwohl Georges eindeutig da war, er ihn berührte, die klamme Kälte der Haut spürte... es gab kein Echo. »Unheimlich!« Aber irgendwo musste er sein. Irgendwo gab es einen Schalter, den man umlegen konnte, um Georges aufzuwecken. »Ich muss ihn bloß finden!«, konzentriert mit zusammengezogenen Augenbrauen studierte er das erschreckend bleiche Gesicht mit den olympischen Augenringen und den fahlen Schatten unterhalb der Wangenknochen. Yukimaru schreckte zusammen, als Arjen unerwartet hinter ihn trat, ihm eine Hand auf die Schulter legte. "Das Taxi müsste bald kommen. Ich werde ihn...", Arjen zögerte, presste die Lippen zusammen, wirkte sehr viel älter als seine gewöhnlich jungenhaft-fröhliche Erscheinung, "ich werde ihn wohl tragen müssen." "...Moment", Yukimaru entschloss sich zu einem Experiment. Es würde schließlich nicht das einzige in der nächsten Zeit werden! Er legte eine Hand über Georges' geschlossene Augen, packte mit der anderen Arjens kräftige Linke und zischte ihm zu, "erinnere dich an etwas, das ihn auf die Palme bringt." Die Miene schmerzlich verzogen ob der bitteren Ironie schloss Arjen ebenfalls die Augen und rief sich das Bild vor Augen, das seinen Rausch befeuert hatte: Georges, nackt und schutzlos, vor ihm ausgestreckt, bedeckt von den feuchten Spuren der frisch ausgelebten Leidenschaft. Er hörte einen erstickten, saugenden Laut, dann schoss Georges förmlich in eine aufrechte Sitzhaltung, die nachtschwarzen Augen geweitet, wie nach einem Sprint heftig um Atem ringend. Hätte Yukimaru nicht gerade noch rechtzeitig losgelassen, wären sie wohl beide von der Schockwelle, die Georges instinktiv aussandte, um sich vor dieser Erinnerung zu schützen, zu Boden gestreckt worden. Dafür hielt sich Tarou den Magen und den Mund, erneut von akuter Übelkeit heimgesucht. Nein, ER wäre durchaus dankbar, wenn sich dieser wandelnde Katastrophenherd aus ihrem Leben verabschiedete! "Georges", Arjen näherte sich vorsichtig, wagte aber nicht, den Freund zu berührten, "Georges, wir müssen runter. Zum Taxi. Der Flieger wartet." In spärliche Brocken verpackt die Botschaft, um auch einen Empfänger zu finden. "...nach Hause...", krächzte Georges, klappte wie aufgezogen die Beine über die Bettkante und kam in einer ruckartigen Bewegung in die Senkrechte. "Genau, nach Hause. Nach Brügge", Arjen studierte ihn besorgt, "ich bringe dich zum Flieger, ja?" "...ja...", ein geisterhaftes Lächeln, tatsächlich aber eine verzerrte Fratze, huschte über Georges' angespannte Züge. Eckig, aber entschlossen, aufgezogen wie ein Automat, steuerte er die Appartementtür an. "Mach's gut, Georges", Yukimaru wagte nicht, ihn aufzuhalten, rief ihm bange nach. Arjen schüttelte bloß den Kopf, murmelte, "ich bin bald wieder da, in Ordnung?" Dann folgte er dem Zombie seines Freundes mit dem Gepäck ins Treppenhaus. ~~~~~# Yukimaru und Tarou beobachteten vom Fenster aus, wie das Taxi beladen wurde, die beiden Männer einstiegen. "...wie hast du das gemacht?", erkundigte sich Tarou trügerisch beiläufig. "...weiß ich nicht", knurrte Yukimaru. Er wusste nicht, WAS Arjen Georges gezeigt hatte (oder ob es überhaupt ein Bild war, oder vielleicht ein Geruch? Ein Geräusch? Oder lediglich ein Gefühl?), aber die Wirkung war erschreckend heftig. "Nun, es hat jedenfalls funktioniert", stellte Tarou kühl fest, "du kannst also doch schon eine ganze Menge." "Na ja", schränkte Yukimaru ein. Besonders stolz fühlte er sich nicht gerade. "Wir sollten noch ein wenig schlafen. Es wird sicher eine Weile dauern, bis Arjen zurückkommt." Tarou ließ Yukimaru im Gästezimmer stehen. Als er den Flur betrat, um zu ihrem desolaten Lager zu gelangen, bemerkte er eine Plastiktüte, die vernachlässigt neben den vornehmen Pantoffelschrank geschoben worden war. Neugierig, und ohne die Anwesenheit tadelnder Zeitgenossen, sammelte er sie auf und riskierte einen Blick hinein. »Sieh an«, dachte er. Und beschloss, dass Arjen NICHT in ihren Plan eingeweiht werden würde. ~~~~~# Arjen warf besorgte Seitenblicke auf seinen Freund. Georges marschierte steif und ungelenk, einem Roboter ähnlich, neben ihm her, den Blick starr auf die Anzeigetafeln gerichtet. Dabei murmelte er immer wieder die Flugdaten und Gates vor sich hin, als könne ihn dieses Gebet mit Zuversicht erfüllen. Eine Dame vom Service erwartete sie bereits, bemerkte offenkundig Georges' derangiertes Erscheinungsbild, wahrte aber eisern die professionelle Höflichkeit. "Verzeihung", Arjen, im Vorteil des Sprachkundigen, "mein Freund leidet an Erschöpfungszuständen. Können Sie wohl dafür sorgen, dass man ihm beim Umsteigen behilflich ist? Er wird wahrscheinlich die gesamte Zeit über schlafen, es bedeutet also keinen besonderen Aufwand." Er konnte nur hoffen, dass man Georges mit diesem Hinweis ausreichend in Ruhe ließ. Und ihn nicht verhätschelte, was üblicherweise zu heftigen Temperamentsausbrüchen führte. "Ich habe verstanden", die Dame nickte adrett und nahm auch den Notizzettel entgegen, der die Kontaktdaten von Huub enthielt. Arjen wandte sich seinem Freund zu, dessen nachtschwarze Augen mit den geröteten Augäpfeln tief in beschatteten Augenhöhlen eher zu einem Horrorfilm gepasst hätten. "Georges, ich komme nach, versprochen! Und dann...", er zögerte, wusste nicht, was er zu bewerkstelligen erhoffen konnte. "Es wird alles gut", flüsterte er erstickt, streichelte flüchtig über eine leichenfahle, klamme Wange. Georges' Mundwinkel zuckten, aber ein Lächeln konnten sie nicht mehr programmieren. Abschiedslos machte er kehrt und folgte der Dame des Service. Obwohl Arjen sich selbst eingeschworen hatte, sofort zu seinen Mündeln zurückzukehren, musste er erst mal einen starken Kaffee bestellen und sich bleischwer auf einen Barhocker sinken lassen. »Verdammt noch mal!«, fluchte er teilnahmslos. Wenn er nur ein dummer Affe geblieben wäre, hätte er sich diesen Kummer bestimmt ersparen können! Oder? ~~~~~# "Ich find das nicht gut", bemerkte Yukimaru unbehaglich, nagte an einem Toastbrot. "Ich schon", stellte Tarou entschieden fest, schob sich entschlossen ein Stück Reis-Omelette in den Mund. "Er hat uns immer geholfen", Yukimaru gab sich so schnell nicht geschlagen. "Das tut er auch jetzt. Er verstärkt unsere Glaubwürdigkeit", konterte Tarou unbeeindruckt. Er hatte jedenfalls genug von hochkarätigen Madararui, die immer nur in der Enge ihrer kleinen Schachtel dachten! Und er hatte die Nase gestrichen voll von der Oligarchie der Schwergewichte, ihrer selbstherrlichen Tyrannei und dem ignoranten Umgang mit ihren Mitmenschen. Es machte ihnen nichts aus, zwei Jugendliche herumzuschubsen, ihre eingebildeten Sprösslinge nicht an die Leine zu legen oder in der Öffentlichkeit weder Respekt noch Umgangsformen zu wahren?! »Fein!«, dachte er grimmig. »Ich habe ein Meeresgetier hier, und ich werde nicht zögern, ihn auf euch loszulassen!« ~~~~~# Kapitel 9 - Erkenntnisse Arjen kehrte abgekämpft und emotional zutiefst erschöpft in das Appartement zurück. Dort erwartete ihn zwar ein gedeckter Frühstückstisch, aber er unternahm keine Anstalten, dem Magen zerfressenden Kaffee ein anderes Angriffsziel zu bieten. Tarou betrachtete ihn aufmerksam, stieß Yukimaru anschließend mit einem Ellenbogen in die Seite. Dabei deponierte er die Plastiktüte demonstrativ vor Arjen. "...oh", stellte der müde und ausschweifend fest. Yukimaru zögerte nervös, "wir... ich... also..." Hilfe suchend blickte er zu Tarou, fühlte sich nicht in der Lage, Arjen hinters Licht zu führen. Dunkelbraune Augen funkelten energisch, nicht mehr hinter dem verbannten Pony verborgen, die Lippen bildeten einen dünnen Strich der Entschlossenheit. "Ja, also", gab sich Yukimaru sichtlich einen Ruck, "es ist so... wegen der Schwangerschaft..." Arjen schmunzelte farblos, "verstehe schon. Ist auch besser so, Schneewittchen", damit tätschelte er Yukimarus lockiges Haupt, kämpfte sich dann leise ächzend in die Senkrechte. "Sorry, ihr beiden, aber jetzt brauche ich wirklich eine große Mütze Schlaf. Ja, Schlaf...", murmelte er selbstvergessen. Als er in das Gästezimmer getaumelt war, stellte Tarou ruhig fest, "nun, damit wäre der Anfang ja gemacht." Yukimaru seufzte laut auf und schnaubte ärgerlich eine verirrte Locke aus seinen dichten Wimpern. "Trotzdem", knurrte er, "mir gefällt das gar nicht!" "Dann denk einfach an die Alternativen", empfahl Tarou ihm spitz und räumte das Geschirr ab. »Holla!«, kommentierte Yukimaru stumm und beobachtete seinen sehnigen Freund unentschlossen. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass Tarou zwar nach Windspiel/Collie aussah, aber eigentlich mehr Bullterrier/Rottweiler WAR. ~~~~~# Arjen konnte nicht behaupten, der unruhige Schlaf habe ihm gut getan. Seine Glieder schmerzten verspannt, und das dünne Stimmchen seines Gewissens war zu einem drohenden Chor Wagnerschen Ausmaßes angewachsen. Um ihm dezidiert und unmissverständlich all seine Verfehlungen und charakterlichen Untiefen aufzuzeigen. Aber konnte man alles auf die Disposition als Schwergewicht-Kodiak schieben? Seufzend rubbelte Arjen sich nach der kurzen Dusche trocken. War da nicht mehr als blinde, zerstörerische Lust und Begierde gewesen? "...das wird er mir nicht verzeihen", stellte er resignierend fest. So langmütig und weichherzig Georges auch war, vor allem mit den gewohnten Katastrophen, die Arjen in sein Leben schleppte: dieses Mal konnte er keine Nachsicht erhoffen. Deprimiert kehrte er ins Wohnzimmer zurück, wo Yukimaru unter strenger Aufsicht seines besten Freundes mit Plastiktüten trainierte. In die er Bücher geladen hatte. Arjen ließ sich auf das Sofa fallen und eröffnete die Gesprächsrunde. "Was fangen wir jetzt an?" Ihm entging nicht, dass Yukimaru einen zögerlichen Blick auf Tarou warf. »Oha!«, registrierte Arjen, das klärte, wer hier die Hosen an hatte. "Nun ja", stotterte der Rotschopf ungewohnt verlegen herum, "also, wegen der Schwangerschaft... und du hast ja auch... ich meine, in der Tüte..." Ganz gegen seinen Willen musste Arjen grinsen und ersparte sich die Mühe, diese Emotion hinter einer vorgehaltenen Hand zu verbergen. "Verstehe schon", ersparte er dem errötenden Yukimaru weitere Ausführungen. "Es wäre schön, wenn wir bis zur Empfängnis hier bleiben könnten", Tarou dagegen hatte offenkundig keine Mühe, sensible Themen zur Sprache zu bringen. Da Arjen sich des Versprechens bewusst war, das er gegeben hatte und außerdem wohl kaum damit rechnen konnte, so bald einen freudigen Empfang in der alten Heimat erfahren zu dürfen, nickte er bekräftigend. "Natürlich. So ist's vereinbart." Federnd erhob er sich aus den Untiefen der Sofa-Landschaft, "ich werde mal frische Luft schnappen und unsere Vorräte aufstocken." Feige oder nicht: er hatte keine Lust, die Produktionsbemühungen aus Notwendigkeit in nächster Nähe erfahren zu müssen. ~~~~~# Während Arjen ungewohnt gemächlich durch die Häuserschluchten schlenderte, die lähmende Beklemmung zu überwinden suchte, die ihn seit der Entdeckung der Untiefen in seinem Charakter erschüttert hatte, entließ Tarou Yukimaru großzügig aus dem Trainingsprogramm. "Wir müssen überlegen, wie du deine besonderen Fähigkeiten richtig trainieren kannst", stellte er klar. Yukimaru raufte sich unbehaglich den Schopf, "ich find's trotzdem nicht richtig, dass wir Arjen hinters Licht führen." "Verflixt noch mal, Yuki!", polterte Tarou, "hat er nicht schon genug Ärger am Hals?! Und außerdem solltest du wissen, dass es nicht besonders wahrscheinlich ist, dich in kürzester Zeit zu schwängern! Immerhin können wir dir ja keinen Wurm einsetzen!" In Erinnerung an diese erniedrigende und vor allem schmerzhafte Prozedur schauderte Yukimaru sichtlich. Die Wahrscheinlichkeit, mittels besonders präparierter Kondome eine Schwangerschaft hervorzurufen, lag noch immer deutlich unter den Chancen einer Wurm gelenkten Empfängnis. "Also", mit erzwungener Geduld setzte Tarou ihm seine längst in die Zukunft eilenden Gedanken auseinander, "werden wir ohnehin nicht darum herumkommen, eine Scharade aufzuführen. Je eher deine Fähigkeiten einsatzbereit sind, umso schneller kommen wir zum Erfolg!" Yukimaru brummelte zwar unverständlich vor sich hin, aber gegen Tarous Argumentation hatte er keine Munition zur Hand. Also täuschte er die wahren Seelen verschiedener anderer Madararui-Spezies vor. Natürlich stellte es keine besondere Herausforderung dar, Tarous Sinne zu verwirren, aber zum Aufwärmen genügte es durchaus. "Jetzt zwei Seelen", Tarou musterte ihn kritisch, die feinen Augenbrauen konzentriert zusammengezogen, ein unerbittlicher Trainer seines widerstrebenden Schützlings. Durch die Erfahrung seiner Schwangerschaft wusste Yukimaru zwar, wie es sich anfühlte, eine andere, zweite Seele in sich zu haben, doch wie sollte er nun ohne ein zweites Wesen vorgehen? Konnte er einen Teil seiner Seele abknapsen und damit das Täuschungsmanöver absolvieren? "Also, ich bemerke nichts", stellte Tarou schließlich fest. "Ich kann zwar deine Seele gar nicht sehen, aber das führt nicht weiter." "Weiß ich", knurrte Yukimaru verbissen. Üblicherweise hätte wohl jeder Madararui, Gefahrenlagen ausgenommen, die Existenz des Nachwuchses verborgen. Dass sie hier genau umgekehrt vorgehen mussten, um zu beweisen, dass Yukimaru nicht mehr zu haben war, leuchtete ja ein, bloß..! "Es funktioniert nicht!", kapitulierte er schließlich frustriert. "Dann muss mehr geübt werden", Tarou ließ sich nicht leicht entmutigen, "wir haben ohnehin noch etwas Anderes zu erledigen." "Ach ja?", Yukimaru hätte nun sogar lästige Hausarbeiten begrüßt, um endlich ein wenig Bedenkzeit zu haben. Er folgte Tarou in das Schlafzimmer, wo dieser einen Spender für Papiertücher platzierte, die Tagesdecke samt Plumeau ordentlich zurückschlug und in der berüchtigten Plastiktüte herumkramte. Anschließend drückte er Yukimaru ein kleines Päckchen in die Hand, "hier. Und nun los." "Was, los?", Yukimaru starrte verwirrt auf die geschmackvoll-dezente Aufschrift der Kunststoffverpackung. Tarou zwinkerte nachsichtig, "dir ist schon bewusst, dass wir auch Nachweise über unsere Tätigkeit liefern müssen, richtig?" Das unübersehbare Nein stand Yukimaru deutlich ins Gesicht geschrieben. "So schwierig ist das nicht", Tarou hielt sich nicht lange auf, klopfte auf die Matratze neben sich, "betrachte es mal als Möglichkeit, ein großer Junge zu werden. Könnte auch die Pubertät anfeuern." "Schon, aber...", Yukimaru zögerte, ließ sich verlegen neben Tarou nieder, "sollte ich nicht besser im Badezimmer...?!" "Yuuukiiiii", dehnte Tarou Augen rollend die Vokale, indizierte, dass der besser schleunigst seine kleinen, grauen Zellen in Betrieb nehmen sollte. Yukimaru seufzte, bevor er ärgerlich grummelte, "und wenn ich mich geniere?!" "Darauf können wir derzeit keine Rücksicht nehmen", verkündete Tarou, verschränkte die Arme vor sich, um sich am Bund das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Gelassen knöpfte er seine Jeans auf, öffnete den Reißverschluss und streifte gleichzeitig auch seine Unterhose herunter. "Das ist dann wohl mein Päckchen", er fischte ein anderes Kondom heran, ebenso geschmackvoll gestaltet, warf dann einen auffordernden Blick auf Yukimaru. "Also, ich weiß nicht..." Yukimaru nagte an seiner Unterlippe. Er hatte Tarou schon oft nackt gesehen, aber diese Situation hatte ganz andere Qualitäten. "Nun komm schon", Tarou wickelte Yukimaru das T-Shirt über den wirren Lockenschopf, "weißt du nicht, dass Jungs das überall tun? Ist doch nichts dabei." »Sagst DU!«, widerwillig entblößte Yukimaru sich, durchaus befremdet bei der Vorstellung, sein bester Freund könne sich mal eben einen von der Palme wedeln. "Zeit, erwachsen zu werden", bestimmte Tarou, leckte sich provozierend über die Handfläche, bevor er sich selbst zu massieren begann. Hastig blickte Yukimaru auf seinen eigenen Schoß. Bisher hatte er es nicht nötig gehabt, sich selbst zu befriedigen, denn da war ja Gilles gewesen... Unschlüssig zögerte er, hörte mit hochrot leuchtenden Ohren, wie sich Tarous Atemrhythmus veränderte. "...Yuki...", klang die raue Stimme nun gequält ob seiner Zaghaftigkeit oder enttäuscht, weil er so ein hoffnungsloser Fall war? Er keuchte erschrocken, als Tarou ihn unerwartet um die spitzen Knie packte, zu sich drehte und heranzog. "Komm her", energisch zog er Yukimaru vor sich auf seine Oberschenkel, "rutsch ran." Yukimaru wagte weder, sich zu widersetzen noch den Blick zu heben. Er schämte sich zu sehr. Tarou dagegen wagte alles, wollte sich nicht mehr mit halben Sachen begnügen. Wollte Yukimaru nicht sein Hirn haben? Also würde er es bekommen! Sanft legte er sich die dünnen Arme seines Freundes um den Nacken, verkürzte die Distanz zwischen ihnen, bis er seine aufreizende Aufmerksamkeit beiden Pendants widmen konnte. Er wusste, was zu tun war. Eindeutig erregt und damit abgelenkt, konnte er Yukimaru auch so nahe an sich heranbugsieren, dass dessen flammend rote Locken knisternd zwischen ihren angeschmiegten Wangen gerieben wurden. Er stöhnte leise, genoss den Glutatem an seinem Nacken, erinnerte sich gerade rechtzeitig daran, dass er ja ihre nun deutlichen Erektionen artig verpacken musste, um Beweismaterial vorzeigen zu können. An ihn gelehnt, bebend und zuckend, leise keuchend, ergab sich Yukimaru zuerst dem hormonellen Ansturm auf seine Libido, bevor Tarou ihm mit einem Lächeln artig folgte. ~~~~~# Eigentlich sollte er sich wohl auf die Zubereitung einer Mahlzeit konzentrieren, aber Arjen verspürte keinen inneren Antrieb. Deshalb krönte er seine ziellose Wanderung mit dem Erwerb von diversen, gesunden Kleinigkeiten, die zum Verzehr eingepackt wurden. Unerwartet heftig sehnte er sich nach seinem Elternhaus. Nach der Ruhe, dem fröhlichen Miteinander, der sicheren Geborgenheit. Weit weg von dem hektischen Gewimmel hier, der Kakophonie von Alltagsgeräuschen, der Einsamkeit des Fremden. Und irgendwie... weg von sich selbst. Sein Erholungsurlaub übte nun gar keinen Reiz mehr auf ihn aus. Vorbei die Ausflüge per Inliner, die Kontemplation über seine berufliche Zukunft. Hier konnte er nicht mehr als die beiden Kinder beschützen, und was für ein erbärmlicher Schutz war das!, aber nun überlagerten die Erinnerungen an die Nacht mit Georges alles andere. Wenigstens konnte er Trost daraus schöpfen, dass Georges auf dem Flug gut betreut wurde. Und Huub würde ihn in Empfang nehmen und nach Hause bringen. »Und alles wird gut?« Nein, daran konnte er im Augenblick überhaupt nicht glauben. ~~~~~# »Ich komme mir wie ein Idiot vor!« Yukimaru lag, von einer heftigen Migräneattacke hingestreckt und nicht sonderlich darum bemüht, seine neu erlernten Fähigkeiten einzusetzen, im Halbdunkel des Schlafzimmers. Er starrte durch schmerzbedingt Tränen verschmierte Augen zur Zimmerdecke. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tarou nicht nur das Ruder übernommen, sondern auch Klein-Yukimaru gehändelt hatte (im wahrsten Sinne des Wortes), verstörte ihn. Sein Bild von Ta-chan sah ganz anders aus... oder er hatte einfach viel zu lange nicht mehr genau hingesehen. »Ganz zu schweigen davon, dass er so stinkwütend werden kann!« Aber Tarou, nun, der Tarou, den er sich einbildete zu kennen, explodierte nicht. Keine Detonation begleitete heftige Emotionen. »Vermutlich implodiert er...«, und das bereitete Yukimaru durchaus Sorgen. Natürlich wusste er, dass sein bester Freund einen Personenalarm mit sich herumtrug und sich nicht ohne Grund vor Übergriffen wappnen musste, aber... »Na, die Nummer mit den Knallerbsen, die war schon heftig...« Und Tarou war nicht dumm, ganz im Gegenteil. Wenn es jemanden gab, der vorausschauend planen und strategisch denken konnte, dann sein bester Freund! Fragte man Yukimaru, ob er es für möglich hielte, dass Tarou einen Sprengsatz zusammenbauen konnte, hätte er das bestimmt als sicheren Treffer für eine Wette angenommen. »Bloß wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass er so was tatsächlich tun und das Ding auch einsetzen würde!« Deshalb musste er sich ernsthaft prüfen, in sich gehen, ob er nicht gut beraten war, seinem besten Freund mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und dessen Aggressionen in weniger gefährliche Bahnen zu lenken. »Toll, wieso wächst mein Verstand nicht auch proportional zur Größe?! Blöde Pubertät!«, beklagte er sich ärgerlich. Galt die Pubertät nicht ohnehin als eine zeitweilige Vergiftung des gesunden Menschenverstands mit übermotivierten Hormonen?! »Na, das hat mir jetzt gerade noch gefehlt!« Unruhig wischte er sich mit dem Handrücken über die nässenden Augen. Gerade jetzt musste er sein bisschen Verstand zusammenhalten! »Sonst werde ich mich noch öfter vor Tarou blamieren!« Was ihn nun, nach all den Jahren ihrer Freundschaft, gänzlich ungewohnt und erschreckend verstörte. ~~~~~# Tarou hatte das Appartement aufgeräumt, Wäsche gewaschen, die Aufgaben erledigt, die sie per Fernstudium einreichen konnten, um nicht den Anschluss zu verlieren und bereitete nun eine leichte Mahlzeit zu. Er fühlte sich, eine ganz neue Erfahrung, als Herr der Lage. Nicht mehr das unbedeutende Hunde-Leichtgewicht, das man achtlos übergehen und beiseite schieben konnte. "Wir schaffen das", wisperte er sich selbst zu. Erstens gab es zum Erfolg keine Alternative, die erstrebenswert war, und zweitens vertraute er auf Yukimarus widerborstigen Charakter. Nein, sein rothaariger Freund steckte nie einfach auf, gab sich geschlagen, schickte sich drein! Und mit Yukimaru, dem mächtigsten Meeresgetier in Japan (zumindest in Kürze), an seiner Seite könnte er vielleicht das bestehende Gesellschaftsgefüge der Madararui verändern. Nein, Tarou wollte keine Revolution. Schließlich kennzeichnete sie ihr Scheitern über kurz oder lang. Er wollte eine Reform, eine bessere neue Welt. ~~~~~# Arjen schreckte aus einem unerquicklichen Dösen hoch, als sein Laptop signalisierte, dass eine Mitteilung eingetroffen war. Hastig wälzte er sich herum, rieb die Augen energisch und konzentrierte sich auf die Zeichen, die zunächst noch vor seinen Augen verschwammen. Ihre Entzifferung bedeutete gute Nachrichten, denn Huub war es gelungen, nach dem sehr langen Flug (mit Unterbrechungen) Georges aufzulesen und ihn sicher in dessen Wohnhaus in Brügge zu bugsieren. Dort, so teilte ihm Huub mehr als besorgt mit, sei Georges frontal auf sein Bett gekippt und wie ein Bär in Winterschlafstarre gefallen. Er bat um Auskunft, was sich ereignet hatte, um seinen Freund und Geschäftspartner in eine noch schlechtere Verfassung zu versetzen, als dieser bereits vor der Abreise zeigte. Arjen massierte sich unbewusst den semmelblonden Spitzbart, auf und nieder. Er kannte Huub schon lange und schätzte ihn als guten Freund. Aber anvertrauen, was er getan hatte? Nein, das konnte er nicht. Die Schande und die Scham wogen dazu viel zu schwer. Ungelenk, als wollten ihm selbst seine Finger nicht mehr gehorchen, tippte er eine Antwort. Bat darum, sich um Georges zu kümmern, so gut es ging. Und niemanden, vor allem keine Hilfe suchenden Madararui, zu ihm vorzulassen. ~~~~~# Im Fernsehen lief eine alberne Spielshow mit lautem Getöse, doch die drei Versammelten reagierten nicht auf die lächerlichen Possen. Sie saßen hier gemeinsam, hingen jeder den eigenen Gedanken nach, in eine seltsam realitätsgelöste Atmosphäre eingewoben. Wie merkwürdig, konnte es sein, dass der übellaunige Orkan Georges mit seinen Ausbrüchen ihnen die komplette Energie durch seine Abwesenheit geraubt hatte? Seine exzentrischen Auftritte den Tagesablauf vollkommen arrangiert hatten? Die Harmonie jedenfalls hatte sich verabschiedet. Und damit, so schien es, auch das zusammenschweißende Element. ~~~~~# "Verdammt..." Fluchte Yukimaru kaum hörbar, schwitzte Blut und Wasser, während er sich darum bemühte, Tarous Arm von seinem Brustkorb zu expedieren, ohne dessen Eigentümer aufzuwecken. Denn er musste, MUSSTE unbedingtganzdringendsofort das Badezimmer aufsuchen!! Nicht etwa, weil der Ruf der Natur sich unerbittlich bemerkbar machte... nun, gewiss, EIN Ruf der Natur durchaus, allerdings ein gänzlich unerwünschter! »Wieso muss das jetzt passieren?!«, verwünschte Yukimaru verzweifelt die Erektion, die unbeeindruckt von seinen seelischen Nöten stolz unter der leichten Decke flaggte und ein kleines Zelt in seinen Pyjama-Hosen errichtete. Er kannte diese Zustände (und Zumutungen!!) nicht und hätte es auch gern weiterhin so gehalten! Das Schicksal meinte es aber nicht gut mit ihm, denn obwohl er sich hauchzart des hinderlichen Arms entledigte, wachte Tarou auf. Und erfasste zu allem Überfluss auch noch ohne Umschweife die Situation! "Oh, wir sind ja richtig eifrig", neckte er Yukimaru grinsend, der am Liebsten spurlos in der Matratze untergegangen wäre. "Das passt aber gut", befand Tarou, schob die Decke zurück und entblößte ungeniert Yukimarus Unterleib, der vor Erschrecken aufkeuchte. Ebenso selbstsicher entblätterte er sich selbst, fingerte die Beweismittel heran und knöpfte auch Yukimarus Pyjama-Oberteil auf. "Was tust du denn da?!", zischte der bange, "wenn Arjen uns hört!" "Musst du eben leise sein", bescheinigte Tarou ihm unerbittlich, drängte nachdrücklich ein Knie zwischen Yukimarus Beine, um dessen Herumzappelei zu beenden. Yukimaru bemühte sich, Tarou wegzuschieben, doch jede Anstrengung versagte, weil sein bester Freund zielsicher den schwächsten Verteidigungspunkt identifiziert und sofort in Besitz genommen hatte. "Deine Arme", kommandierte er ruhig, funkelte in die ängstlich aufgerissenen Augen, "leg sie um den Kopf, Yuki. Du kannst dich am Laken festhalten." Hilflos zappelnd musste sich Yukimaru ergeben, atmete zischend durch die zusammengebissenen Zähne. Tarou über ihm lächelte. Dann beugte er sich hinab und wisperte durch die wirren, dunkelroten Locken, "du bist so süß, Yuki." ~~~~~# Wenn Arjen die merkwürdige Stimmung am Frühstückstisch bemerkte, so gab er keinen Kommentar ab, sondern rührte missmutig in seinem Milchkaffee. Nichts schmeckte mehr richtig, die lärmende Geschäftigkeit der Arbeitsdrohnen ging ihm auf die Nerven UND... er wollte nach Hause. Yukimaru ihm gegenüber würdigte seinen besten Freund keinen Blicks und schmollte vor sich hin. »Süß?! Ich und süß?!«, gärte in ihm die Verärgerung über Tarous neckende Komplimente. Er war sich NATÜRLICH immer ihres Plans und der dazu notwendigen Maßnahmen bewusst, aber das konnte ja wohl KEIN ANLASS dafür sein, ihn auf diese Weise aufzuziehen! Außerdem hatte Tarou so einfach das Heft in die Hand genommen und schien keineswegs disponiert, es auch wieder abzugeben! Obwohl ja eigentlich...! Und genau hier wurde es kritisch: Yukimaru erwartete stillschweigend, dass selbstverständlich ER als Meeresgetier die Führung übernahm. Doch diese naturgemäße Rangfolge im Gefüge der Madararui DURFTE er eigentlich nicht erwarten, weil das ja EXAKT dem Klischee entsprach, gegen das sie beide heftig opponierten! Also konnte er Tarou nicht vorhalten, etwas für sich zu beanspruchen, das ihm gar nicht zukam. Wie aber sollte er seinem Unbehagen Ausdruck geben, wenn er sich dadurch als heuchlerischer Kleingeist entpuppte?! Tarou war kein Draufgänger, aber sein kühler Verstand und die übliche Zurückhaltung hinderten ihn nicht im Mindesten daran, mit Yukimaru... intim... zu werden! Allein schon die Erinnerung daran, wie geschickt und scheinbar selbstverständlich Tarou ihn zum Erguss brachte, obwohl eigentlich ER derjenige mit der größten Erfahrung sein sollte... Yukimaru zappelte unruhig auf seinem Stuhl herum und verwünschte seine geröteten Wangen. Wenn er es mit Gilles verglich... nein, die Situation war vollkommen anders. Kein Wurm sorgte für hormonellen Notstand und Urtriebe, kreierte einen lustschwangeren Tunnelblick, der gnädig alles ausblendete, was der unmittelbaren Befriedigung im Weg stehen konnte. Hier war er selbst, eindeutig ein Männchen, zusammen mit einem anderen Männchen... und inmitten all der Zweifel, Unsicherheiten, Scham und Nervosität verspürte er Lust. DAS machte ihm zu schaffen, nichts anderes! Sollten sie nicht bloß ein temporäres Ablenkungsmanöver inszenieren? Was aber, wenn diesen zwangsläufig erforderlichen Handreichnungen ein Gewöhnungseffekt innewohnte?! Wenn er nicht einfach mit der gelungenen Täuschung damit aufhören konnte?! Yukimaru knurrte und raufte sich mit beiden Händen die zerrupften Locken, bevor er krachend in ein Toastbrot biss und finster vor sich hinstarrte. Tarou dagegen speiste in ausgesucht munterer, zuversichtlicher Stimmung. Er kannte Yukimaru viel zu gut, um nicht genau zu begreifen, was seinen besten Freund wurmte. Und genoss die kleinen, seelischen Nadelstiche durchaus. Nicht aus Neid, sondern aus der Überzeugung heraus, dass Yukimaru zu ihm aufschließen würde. Mochte der Feuerkopf auch körperlich schon um eine gewichtige Erfahrung reicher sein, so fehlte ihm immer noch die emotionale Reife. Die anderen 50% zum Sex. Aber Tarou hegte keine Zweifel, dass Yukimaru geschwind aufholen würde. Nein, dafür trug er schon selbst Sorge! ~~~~~# Obwohl Arjen sich um Konzentration bemühte, nach Arbeitsangeboten im fernen Europa fahndete, mangelte es ihm erheblich an innerem Antrieb. Die müden Augen reibend schickte er sich schließlich drein, loggte sich aus und klemmte den Laptop ab. Verstaute ihn ordentlich und überdachte die momentanen Alternativen. In diesem ungeklärten Gefühlszustand würde er keine Bewerbung zustande bringen, die auch nur ein Fünkchen wert war. Also schraubte er sich hoch und durchquerte den Raum, um seinen Anzug vom Kleiderhaken zu nehmen. Wenn nichts mehr half, wenn ihm der Kopf von wirren Gedanken zu schwer wurde, musste er laufen. Gleiten, wie ein Schnellzug auf Schienen, stetig, unaufhaltsam, unbeeindruckt von Hindernissen oder der Witterung. War es ein Weglaufen? Oder der Anlauf zu neuen Wegen und Zielen? Arjen klappte die verspiegelte Sonnenbrille wie ein Visier herunter und verließ das mondäne Appartement. ~~~~~# Frustriert stierte Yukimaru in den Spiegel, den Tarou gegen eine Regalwand gelehnt hatte. Aber so sehr sich Yukimaru auch bemühte: er konnte noch immer keine zweite wahre Seele vortäuschen. Enttäuscht wanderte er nun im Schlafzimmer, ihrem Refugium der trauten Zweisamkeit auf und ab, ging immer wieder und wieder im Geist durch, was eigentlich zum Erfolg führen musste... und ihm dennoch versagt blieb. "Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen", offerierte Tarou generös, fischte eine kleine, weiße Hand ab und brachte Yukimaru auf diese Weise zum Stehen. "Ich begreif einfach nicht, warum's nicht klappt!", schnaubte der enerviert. "Vielleicht sollten wir Alternativen ins Auge fassen", deutete Tarou schmunzelnd an. Yukimaru betrachtete seinen besten Freund scharf. Dieses Lächeln wog ihm schwer, denn er vermutete, dass Tarou irgendwelche Hintergedanken hegte, auf die er selbst noch nicht gekommen war. Was ihn wurmte. Und außerdem... hatte sich Tarou verändert. Subtil, aber substantiell. Der lange Schrägpony wurde nun beinahe stets hinter ein Ohr verbannt, damit die dunkelbraunen Augen aufmerksam das Leben inspizieren konnten. Tarou blieb zwar gewohnt reserviert, doch wenn er das Wort ergriff, schwankte seine Stimme nicht, kein Zögern bremste ihn aus. »Der weiß genau, was er will!«, konstatierte Yukimaru und fühlte sich unbehaglich, weil er selbst nicht genau wusste, was Tarou tatsächlich wollte. "Was denn für Alternativen?", hakte er misstrauisch mit lauerndem Tonfall nach. Eine dunkelrote Augenbraue lupfte sich entsprechend kritisch. Tarou zwinkerte. Yukimarus Unterlippe klappte eingeschnappt nach oben. Flirtete der freche Kerl etwa mit ihm?! "Da." Bemerkte Tarou sanft, tippte auf Yukimarus Bauchnabel unter dem weiten T-Shirt. "Hu?" Yukimaru blinzelte, sah an sich herunter. Den Fehler erkannte er selbstredend in dem Moment, in dem Tarou vorschnellte, ihn vorne am lockeren Hosenbund fasste, während er ihm gleichzeitig mühelos die Beine wegsäbelte. Einen erschrockenen Laut später lag Yukimaru unter seinem Freund gefangen, der nicht nur die elegante Drehung bewerkstelligt hatte, sondern auch die Gegenwehr effektiv mit seinem Gewicht und strategisch positionierten Gliedern verhinderte. "Ta-chan, was soll das?!", fauchte Yukimaru ärgerlich, doch Winden und Drehen brachte ihm keinen einzigen Vorteil ein. Noch war er viel fragiler als sein schlanker, sehniger Freund, und zu seinem Leidwesen auch noch ein unerfreuliches Stück kleiner! "Wir ändern die Taktik", raunte Tarou an seinem Ohr durch den wirren Lockenwust, schmuggelte seine Rechte in Yukimarus Schritt, den ein Bein streng trennte, um Verteidigungsversuche zu unterlaufen. "...verdammt, Ta-chan!", winselte Yukimaru hilflos und ärgerlich, denn er spürte zu gut die Fingerfertigkeit seines besten Freundes. Daran änderte auch der dünne Sommerstoff der einfachen Jogginghose nichts. "Schsch, denk einfach an den höheren Zweck", zog Tarou ihn gnadenlos auf. Ein Schauer durchrieselte Yukimaru und ließ sich auch nicht gänzlich unterdrücken oder verbergen. Tarous warme, tiefe Stimme, die Stimme eines erwachsenen Mannes trotz ihres jugendlichen Alters, beschleunigte seinen Herzschlag zum Sprint. »Blödmann, das ist bloß Ta-chan!«, redete er sich ein, drehte abrupt den Kopf auf die andere Seite und versuchte zu schmollen. Ohne Erfolg. Er wusste, auch wenn er sich das nur ungern eingestand, dass Tarou ihm körperlich weit voraus war. Wie es hieß, kamen Hunde als erste in die Pubertät, betrachtete man allein die Madararui. Bisher jedoch hatte Tarou nicht so... so offenkundig seine Reife demonstriert! »Depp!«, schnarrte eine Stimme in Yukimarus Hinterkopf, während er vergeblich seine Arme freizubekommen versuchte. Oder Tarous Rechte behindern konnte. »Ja«, dachte Yukimaru mit zusammengepressten Lippen, Tarou hatte sich vermutlich immer zurückgehalten, um ihm keine Minderwertigkeitsgefühle einzuflößen! Und obwohl er das eigentlich wusste, hatte er den billigen Ausweg gesucht, es einfach zu ignorieren. »Typisch Schwergewicht eben!«, schnauzte seine innere Stimme erbarmungslos. Denn schließlich waren alle Schwergewichte eingebildete Egoisten. Das schien in der DNS irgendwie eingebaut zu sein! Endlich hatte er seinen linken Arm befreit und umklammerte das Handgelenk seines besten Freundes, als der ihm gerade über das Schlüsselbein leckte! "Was tust du denn da?!", quietschte Yukimaru perplex, konnte sich nicht länger vergrätzt abwenden. Tarou richtete sich einen Moment auf, einen rätselhaften Ausdruck auf dem schmalen Gesicht, die dunkelbraunen Augen fiebrig glänzend. Dann wanderte seine Zungenspitze langsam über die eigene Oberlippe, polierte sie mit Speichelglanz. Nur eine winzige Geste, nichts Bemerkenswertes... Yukimarus Pulsschlag explodierte förmlich. Er spürte ein fast krampfartiges Ziehen in seinem Unterleib, Hitze schoss ihm in die Wangen, und ein lautes Ächzen entfloh aus seiner Kehle. Diesen Augenblick der vollkommenen Faszination ausnutzend fing Tarou Yukimarus entwischtes Handgelenk ein. Verschränkte seine Linke mit Yukimarus Fingern oberhalb der dunkelroten Lockenmähne und schob seine Rechte über die warme, nackte Haut vom Bauchnabel fix tiefer unter den Hosenstoff. Bis er blitzartig sein Ziel erobert und vor allem ergriffen hatte. "Gu-AH!", stöhnte Yukimaru mit geweiteten Augen auf, beschrieb einen ihn selbst überraschenden Bogen auf der Matratze, konnte aber der Sensation nicht entfliehen, auch wenn er sich aufbäumte. Tarou lächelte nun nicht mehr. Plötzlich wirkte er fremd und einschüchternd auf Yukimaru, der nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand, aber auch den Blick nicht abwenden konnte. »Das kann doch nicht sein!«, jammerte es in seinem Inneren wie aufgezogen, »das kann einfach nicht sein!« Es war aber wahr, wie Yukimaru begriff, als Tarous Atem über sein Gesicht streifte. Ganz ohne künstliche Hilfsmittel, Würmer, temporäre Umwandlung in ein Weibchen und andere Kleinigkeiten wie Geschlecht und Rangstellung im Madararui-Gefüge erregte ihn die gezielte Liebkosung seines besten Freundes. Sein Madararui-Instinkt schlug aus wie ein Geigerzähler. "...oh Gott...", stöhnte Yukimaru, der damit alles und nichts meinte, bevor Tarou seine Lippen besitzergreifend versiegelte. ~~~~~# "Yuki?" "Geh weg!", brüllte Yukimaru erstickt, weil ihm peinliche und lästige Tränen den Hals aufrauten, umklammerte seine Knie, während er zusammengekrümmt auf der Toilette hockte. Er schniefte ungeniert und erwartete den nächsten Ruf, etwa eine kleinlaute Entschuldigung, einen schmeichelnden Appell, ein kindlich-trotziges Quengeln. Es blieb aus. Tatsächlich schien Tarou gar nicht mehr vor der verschlossenen Tür zu stehen! »Wie kannst du mich einfach hier allein lassen?!« Kochend vor Wut über diese kaltherzige Gemeinheit wäre Yukimaru beinahe vom Thron des kleinen Mannes aufgesprungen, doch im letzten Augenblick setzte sein Verstand ein und hieß ihn, gefälligst Platz zu behalten! "...verdammt...", schluchzte er leise, wischte sich ärgerlich über die nassen Augenwinkel. Ganz eindeutig war Tarou ein gemeiner, brutaler, verlogener, mieser Scheißkerl! Yukimaru zog erneut die Nase unmanierlich hoch, bevor er nach einem weiteren Stück Toilettenpapier griff und einen Salut schnäuzte. Da er nun sehr viel leichter durchatmen konnte, richtete er sich etwas auf und unternahm mehrere, tiefe Atemzüge. Tatsächlich war Tarou sein bester Freund. Und seine ganze Familie. Und, so entsetzlich beschämend und erschreckend der Gedanke auch war, ER SELBST stellte im Augenblick sein größtes Problem dar. "Idiot", knurrte Yukimaru. Und meinte damit unzweifelhaft sich selbst. Er hatte es nicht wahrhaben wollen. Einfach nicht akzeptieren können. Dass er Tarou wollte. Dass sein Körper nach ihm verlangte. Dass es ihm gefiel, sich komplett hinzugeben, vollständig auszuliefern. Dass es überhaupt keine Rolle spielte, ob Tarou nun ein Hunde-Leichtgewicht und ein Männchen und sein bester Freund seit Ewigkeiten war. In dem Moment, als Tarou sich die Lippe geleckt hatte, einen maskulinen Hunger in den dunkelbraunen Augen offenbarte, war Yukimaru ihm verfallen. Er wusste es ja selbst, verflixt! Das machte es doch aber nicht leichter! Wütend hieb er sich die kleinen Fäuste an die Schläfen und zerwirbelte dort die noch feuchten, ohnehin verwüsteten Locken. Sein Stolz war einfach angeknackst! Und ungerecht war es auch! Immerhin hatte er schon ein Kind geboren, während Ta-chan schließlich ein absoluter Amateur war... was jetzt gar nicht zählte! Unfair! Ein Beben erfasste ihn, als er sich unwillkürlich erinnerte, wie allein das sanfte Schnuppern an seiner Halskuhle ihn heftig erregt hatte. Obwohl er mit Gilles durchaus Erfahrungen gesammelt hatte, war es mit Tarou um UNIVERSEN anders gewesen. Er hatte nach jeder Berührung gehungert, in Lauten gewinselt, darum gefleht, von Tarou erhört zu werden! Jeder neckende Kuss, viel zu keusch für Yukimarus Begierde, hatte ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben! Er hatte mehr gewollt, viel mehr. Nichts konnte ihn schrecken oder aufhalten! Was spielte es schon für eine Rolle, all diese Dünkel und dämlichen Vorbehalte?! Sein Instinkt hatte votiert, trieb ihn an, sich selbst hastig zu entkleiden, immerzu den Kontakt mit Tarou zu suchen. Dessen verspielte, spöttische, dominierende Zunge in seinen Mund zu locken. Mehr und mehr Aufmerksamkeiten einzufordern, sich mit allen Sinnen einzulassen. »Ich hab danach verlangt.« Yukimaru legte die Stirn wieder auf die spitzen Knie, die Arme darum gewickelt, die Wangen schamrot glühend. Er wollte nicht nur Tarous Zärtlichkeiten. Nein, er hatte ALLES verlangt. Zügellosen, leidenschaftlichen und auch heftigen Sex. Und..... er hatte es genossen. Jeden einzelnen Augenblick. Als habe er schon immer darauf gewartet. Yukimaru stöhnte leise auf. In dem Moment, in dem sein Verstand wieder eingetrudelt war, hatte der leider auch seinen verfluchten Dünkel mitgebracht! Es hatte nur noch ein Auslöser gefehlt. Der gekommen war, als Tarou, schneller wieder von den Ausläufern ihrer lustvollen Vereinigung erholt, Yukimaru von den Sperma-Gleitmittel-Spuren befreien wollte. Mit einem unartikulierten Schrei hatte Yukimaru ihm hart ins Gesicht geschlagen und war nackt ins Badezimmer geflohen. Und nun hockte er hier, beschämt und unglücklich, spürte unter der Last seiner verquirlten Gedanken kaum, wie die zähflüssige Melange aus seinem Unterleib heraussickerte. Was sollte er jetzt bloß tun?! Der Schlag war vollkommen ungerechtfertigt gewesen, und er bereute seinen heftigen Impuls sehr. Doch im gegenwärtigen, sehr zittrigen Zustand wagte er nicht, Tarou gegenüberzutreten. "...beruhigen", murmelte er und ballte die kleinen Fäuste, "ich muss mich beruhigen!" Genau, wenn er sich erst mal gesammelt hatte, wieder Herr all seiner Sinne war, dann... Yukimaru seufzte laut. Und brummte, "dann werde ich zu Kreuze kriechen." Er holte tief Luft und entfaltete sich, richtete sich auf. Klatschte sich selbst auf die Backen. "Komm schon, reiß dich zusammen!" Unangenehm berührt begann er damit, die Überreste ihres Intimverkehrs mit einigen Verrenkungen zu beseitigen. Das war ein Novum, denn die Kondome hatten ihn stets vor derlei... Ungemach bewahrt. Diese Variante des Austausches von Körperflüssigkeiten, zumal einseitig, stürzte ihn in Verlegenheit. »Irgendwie animalisch«, schnaubte er innerlich und bemühte sich um eine tapfere Miene, »und irgendwie...eklig.« Er seufzte erneut. Wie lange dauerte es wohl, bis man so erwachsen war, dass einen das Ganze nicht peinlich, unangenehm oder unbehaglich berührte? Yukimaru entschied, dass er definitiv eine gründliche Dusche benötigte. Sauber und erfrischt sollte es leichter sein, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. ~~~~~# Tarou beschäftigte sich mit der Zubereitung der nächsten Mahlzeit. In ruhigen, kontrollierten Bewegungen zerteilte er Gemüse. Yukimaru zögerte im Türrahmen, trat unruhig von einem nackten Fuß auf den anderen und presste nervös-piepsig, "es tut mir leid", heraus. Sein bester Freund jedoch reagierte nicht auf diese Offenbarung, sondern arbeitete ohne irgendwelche Zeichen, dieses Schuldanerkenntnis vernommen zu haben, weiter. Die vorwurfsvolle Stille belastete Yukimaru, der zögerlich in die Küche tappte. Beinahe Zuflucht zu Ausflüchten und weitschweifigen Erklärungen genommen hätte, wäre ihm nicht selbst im letzten Moment die Erbärmlichkeit der Taktik bewusst geworden. "Sind...", er räusperte sich, "sind wir noch Freunde?" »Herrje, bist du Fünf, oder was?!«, nörgelte sein Stolz gequält, doch Yukimaru bedeutete ihm, gefälligst das Maul zu halten. Ohne dessen Einmischung wäre die Lage sehr viel übersichtlicher, verflixt! Tarou zerlegte fachmännisch und offenkundig zutiefst erbost weiter Gemüse. Hilflos schabte Yukimaru sich mit den nackten Zehen über eine ebenso bloße Wade, der Storch im Salat. Raufte sich die dunkelroten Locken. "Ehrlich", murmelte er bedrückt, "es tut mir wirklich leid! Ich tu's bestimmt nie wieder!" Weiterhin wurde er mit Nichtbeachtung gestraft. Bange näherte er sich einige Schritte, nur noch auf Armlänge entfernt. "Tut's sehr weh? Soll ich eine Salbe holen?" Mit präzisen Gesten legte Tarou das benutzte Messer beiseite, verteilte die Gemüseschnitzel in Gartöpfe und Schüsseln. "Und selbst?", bemerkte er in grimmigem Plauderton über die Schulter, "was macht dein angekratzter Stolz? Schon die Demütigung überwunden, von einem Hunde-Leichtgewicht gefickt worden zu sein?" Yukimarus Kinnlade logierte kurzfristig zwischen den Kniescheiben. Eigentlich sollte er auf diesen ätzenden Spott ebenso bissig und wütend reagieren, einen heftigen Konter fahren, aber... leider enthielt dieser Vorwurf zu viel Wahrheit und lähmte ihn. Sich unbehaglich einen Oberarm reibend verharrte er unschlüssig. Er war sich wirklich nicht sicher, ob er DIESEM Tarou gewachsen war. Überraschend drehte sich Tarou elegant auf den Fersen herum, funkelte Yukimaru an. Seine linke Gesichtshälfte hatte sich bereits verfärbt und schwoll an. "Oh, ich kann deine Skrupel durchaus verstehen", zischte er trügerisch sanft, "was sollen die anderen auch denken?! Oh, warte, Moment!" Dramatisch griff er sich an die Stirn, bevor er mit grimmig zusammengezogenen Augenbrauen knurrte, "das IST GENAU das, was wir sie laut Plan glauben machen wollen!" Dann hielt er auf Yukimaru zu, der rückwärts vor ihm herstolperte, mehr als erschrocken über den abgrundtief finsteren Ausdruck auf Tarous sonst so sanft-lieblichen Gesichtszügen. Eine Wand in seinem Rücken bremste ihn unsanft, dann donnerten schon Tarous Ellen rechts und links seines Kopfes gegen das Mauerwerk. Unwillkürlich zuckte Yukimaru zusammen und schrumpfte ein, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Tarou fauchte beinahe tonlos in sein Gesicht, "ich bin KEINE Notlösung. Und auch nicht deine LETZTE Hoffnung." "...es tut mir leid", wisperte Yukimaru eingeschüchtert. Dass er sich mühelos Tarous Zugriff durch den Einsatz seiner Fähigkeiten erwehren konnte, kam ihm nicht eine Sekunde in den Sinn. Der lehnte sich eng an ihn, raunte in ein Ohr, "ich bin BESSER als all diese aufgeblasenen Schwergewichte. Ich kenne dich. Ich weiß, was du wirklich willst. Und deshalb bin ich deine EINZIGE Wahl." In diesem Augenblick öffnete sich die Appartementtür. ~~~~~# Yukimaru kauerte auf einem Stuhl, die Beine eng vor den Körper gezogen. Wäre Arjen nicht in jenem Moment in die Wohnung getreten, hätten seine wackligen Beine wohl unter ihm nachgegeben! Eingekerkert von Tarous sehnigem Leib hatte er kaum noch Luft bekommen, obwohl der ihn nicht mal berührte! Nein, die Ausstrahlung, das gutturale Raunen der Silben, sein vertrauter Geruch... Yukimaru krächzte. Tarou hatte für Arjen Wasser in den Badezuber eingelassen und dessen erschöpfte Frage zur Ursache der Verletzung mit einer lapidaren Handbewegung beiseite gefegt. Nun kehrte er in die Küche zurück, um Geschirr aufzutragen und die letzten Vorbereitungen zu treffen. Yukimaru beobachtete ihn. Äußerlich wirkte Tarou immer noch... vertraut. Aber in den Details, kleinen Gesten, da erkannte er sehr wohl, dass sich Tarou verändert hatte. Oder war er bloß erwachsener geworden? Kämpferischer? "...woher...", er räusperte sich verlegen, "woher kannst du... es? Ich meine..." , mit flammenden Wangen ließ Yukimaru seine Frage in der Luft hängen. Tarou stützte sich auf den Tisch und beugte sich so weit hinunter, dass sie sich auf gleicher Augenhöhe befanden. "DAS", stellte er leise fest, "ist mein besonderes Talent. Ich KENNE dich." Yukimaru errötete noch heftiger und haspelte verlegen, "das ist.. also...ich wusste ja nicht..." Tarous Faust schnellte vor und schnappte einen dicken, dunkelroten Lockenstrang, umklammerte ihn bestimmend. "Yuki, es ist ganz simpel: ICH bin dein Partner. Gewöhn dich daran." ~~~~~# Yukimaru gab nicht vor zu schlafen. Starrte an die Zimmerdecke, wo Schattenspiele aufgeführt wurden. Obwohl sie sich das Bett teilten, kam er sich elend allein und abgeschnitten vor. »Bin ich wirklich so ein blöder Snob? Ein total aufgeblasener, degenerierter Madararui-Obermacker?« SO eine Meinung wollte er nicht von sich haben. Andererseits war ihm nie in den Sinn gekommen, ausgerechnet seinen besten Freund als... Partner ins Auge zu fassen. Für Madararui war die Wahl eines Partners eine instinktive Angelegenheit. Natürlich konnten sie auch Sexualverkehr pflegen, wie es ihnen gefiel oder entsprechend der komplizierten Vereinbarungen in den Familien- und Beziehungsgeflechten, etwa, um die nächste Generation zu zeugen. Doch die Partnerwahl war etwas Besonderes. Aussehen, Verstand oder Vermögen, all diese Attribute wurden überstimmt vom instinktiven Eindruck. Es war nicht nur der Geruch, nein, ein komplettes, sensorisches Bild innerhalb von Sekundenbruchteilen, noch bevor ein Denkprozess einsetzte. Eine Einrichtung aus der archaischen Ur-Zeit ihrer Ahnen, ein wesentlicher Bestandteil des Reptiliengehirns. »Aber wenn es so ist...«, und beschämenderweise konnte Yukimaru sich nicht vormachen, es verhielte sich anders, »warum habe ich das erst jetzt bemerkt?!« Das erboste ihn und verleitete zum vernehmlichen Zähneknirschen. Auf unbestimmte Weise kam er sich betrogen und verschaukelt vor. »Da kennt man jemanden praktisch von der Windel an und plötzlich entpuppt der sich als... Partner?! Wie peinlich ist das denn?!« Leider schienen weder der Lauf der Welt noch die schicksalhafte Fügung sich für seine gerechte Entrüstung zu interessieren. »Und wenn nun Ta-chan...?« Aber eigentlich war er sich bis ins Mark seiner Sache sicher: Tarou WAR sein Partner. Allerdings hatte er noch nie davon gehört, dass der Instinkt der Madararui sich für einen so extrem anderen Partner entschied. Natürlich gab es gleichgeschlechtliche Verbindungen, auch zwischen unterschiedlichen Arten, doch eine Partnerschaft zwischen einem Hunde-Leichtgewicht und einem Meeresgetier? Das vereinte die beiden extremen Pole der Madararui-Gesellschaft in einem beinahe undenkbaren Zusammenhang. »Na klasse, Einstein!«, mischte sich sein Verstand frostig ein, »wer von uns wollte die Gehirneunuchen denn davon überzeugen, er trage den Nachwuchs eines Hunde-Leichtgewichtes aus, um sich vom Acker zu machen?!« »Upps«, brummte Yukimaru innerlich. Und er konnte sich auch nicht damit herauswinden, dass üblicherweise der rangniedrigere Partner für die empfangende Rolle vorgesehen war. HIER hatte eindeutig und unzweifelhaft Tarou die Hosen an. Und nicht nur situationsbedingt. »DAS ist es doch, was dir zu schaffen macht!«, stichelte sein Gewissen gnadenlos und unverbrämt. "Nun ja...", grummelte Yukimaru ratlos. Tatsächlich hatte er sich GAR NICHTS in dieser Richtung mit Tarou vorgestellt, bis die Lage so verfahren war, dass sie gar nicht anders konnten... und fortan hatte er mit jeder Reaktion seinen besten Freund noch mehr aufgebracht. Ihn auf Gedeih und Verderb mitgerissen. Sein Gemurmel musste Tarou aufmerksam gemacht haben, denn unversehens rollte sich dieser auf ihn, auf die Ellen gestützt, die Finger in dunkelrote Lockenstränge gewoben. Yukimaru verspannte sich sofort und bekam kaum noch Luft, weil er sich so verkrampfte. "...na, Angst vor mir?", Tarou über ihm schnurrte beinahe, seine leise Stimme gurrte guttural. Eine Trotzreaktion schien Yukimaru nicht angezeigt zu sein. Und er verwünschte die Dunkelheit im Zimmer, die es ihm unmöglich machte, mehr als Tarous Umrisse zu erkennen. Er brachte kein Wort über die Lippen, bebte aber unwillkürlich, als heißer Atem neckend über sein Gesicht wehte. Sofort fingen seine Wangen Feuer. "Ist dir eigentlich klar, wie einfach es ist, mich loszuwerden?", Tarou wisperte in Yukimarus Ohr, als wolle er ihn verführen, schmeichelnde Silben, raue Vokale. Als Yukimaru ihn noch immer keiner Antwort würdigte, leckte er ihm über die Lippen, schmuggelte seine Zungenspitze ungeniert zwischen die Phalanx der Zahnreihen. Ein Lachen tanzte von seiner Kehle in Yukimarus, als der unwillkürlich aufstöhnte. "Kannst du es nicht?", purrte er samtig, "oder willst du es nicht?" Yukimaru umklammerte Tarous Oberarme, durchaus in der Position, sich von dessen Gewicht zu befreien... allein, der Kontakt konnte nicht verhehlen, dass seine Hände zitterten, er sich vielmehr festhielt. Von wegen Befreiungsschlag! "...du bist gemein", würgte er mühsam hervor und spürte zu seiner großen Scham tatsächlich Tränen in seinen Augen aufwellen! Über ihm stellte sich jede Aktivität ein, sah man von straffen Atemzügen ab. "...stimmt", bestätigte Tarou, ein wenig schrill, "wer hätte das gedacht, hm?" Abrupt löste er sich von Yukimaru, setzte sich auf und beschwerte dessen Hüften mit seinem Gewicht. "Ich bin ein richtig mieser Scheißkerl, oder?", erkundigte er sich im Plauderton, doch die Bitterkeit verätzte seine Worte unverkennbar. "Es tut mir leid", sprudelte Yukimaru hervor, "dass ich dich geschlagen habe und dass ich so egoistisch bin und dass ich dir nur Ärger mache und..!" Tarou versiegelte ihm mit einem gestreckten Finger den Mund. "Du trägst keine Schuld", er seufzte leise, seine Schultern sackten merklich herab, "du bist bloß in greifbarer Nähe mein Blitzableiter." Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Yukimaru versuchte zu verstehen, was Tarou ihm NICHT sagte. Was er nach eigener Erkenntnis schon längst hätte begreifen müssen! »Wenn du nicht fortwährend nur um dich selbst gekreist wärst«, trat sein Gewissen übellaunig nach. Scheu tastete er nach Tarous Händen, fasste sie vorsichtig und hielt sie fest. Über ihm seufzte Tarou erneut. Ballte dann die Fäuste, sodass sie beide den Schmerz spürten. "...ich bin manchmal so wütend", wisperte er, wandte den Kopf wieder Yukimaru zu, "das kannst du dir gar nicht vorstellen. So zornig und voller Hass...!", die Silben zischten wie Schrapnell zwischen seinen Zähnen hervor. Yukimaru schauderte. Was Tarou nicht entging. "Abstoßend, nicht wahr?", säuselte er, "vor allem steht es mir ja auch gar nicht zu. Wer bin ich schon, das Madararui-Gefüge in Frage zu stellen?!" Unter ihm wusste sein bester Freund nicht, was er sagen sollte. Ihm schnürte Tarous gallige Wut die Kehle zu. "Es verleidet einem natürlich das Leben", betont leichthin flüsterte Tarou in die Dunkelheit, "man sollte sich eben anpassen. Die richtige Verhaltensweise adaptieren. Unterwürfig sein, sich dreinschicken." Wieder drückte er ihre verbundenen Hände so sehr, dass Yukimaru die Lippen zusammenpresste, um nicht zu protestieren. "Bloß ", zischte Tarou bissig, "mangelt es mir offenkundig an Einsicht. Ich KANN einfach nicht akzeptieren, wie es ist." "...was soll ich denn tun?", Yukimaru wollte nicht länger schweigen. Er konnte ja wohl auch nichts dafür, dass er als Meeresgetier geboren worden war! Und wenn Tarou auf die Ungerechtigkeit im System wütend war, dehnte sich dieser Zorn auch auf ihn aus?! Seine Frage zumindest hatte Tarou aus dem Konzept gebracht. Für einen Moment die Zurschaustellung zynischer Abgeklärtheit aufgebrochen. "Ich bin etwas schwer von Begriff", nun lief Yukimaru zur alten/neuen Form auf, "schön, das gebe ich zu! Und es tut mir auch leid, dass ich immer so selbstverständlich auf deine Hilfe baue, ohne groß darüber nachzudenken! Aber hast du wirklich den Eindruck, ich würde dich in erster Linie als Hunde-Leichtgewicht sehen?!" Tarou beugte sich ein wenig tiefer, äußerte sich zunächst aber nicht. Stattdessen entzog er seine Rechte ihrem gemeinsamen Griff, wischte behutsam über Yukimarus Stirn, kämmte widerspenstig kringelnde Lockenstränge beiseite. "Nein", und Yukimaru konnte Tarous Lächeln hören, "nein, du bist wahrscheinlich der einzige Madararui, der sich nicht an die Regeln hält. Trotzdem..." Der Satz blieb unvollendet. Yukimaru fragte sich stumm, was Tarou sich wohl von ihm wünschte. Was er sagen oder tun könnte, um diese Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Was bedeutete ihm Tarou? "... du bist mein bester Freund", Yukimaru leckte sich verlegen die Lippen, "meine ganze Familie. Meine Nummer 1." Er drückte Tarous Linke bekräftigend. "Ich habe...", er räusperte sich verlegen, "nie in anderen... Dimensionen gedacht." Über ihm seufzte Tarou profund, raufte Yukimarus Locken, "ich weiß. Das weiß ich ja! Nur", er schnaubte ironisch, "das ändert leider überhaupt nichts an meiner gekränkten Eitelkeit. Ich bin so vermessen, mich für deinen Traumprinzen zu halten. Ich WILL unbedingt immer deine erste Wahl sein!" Er lachte spöttisch über sich selbst, aber Yukimaru konnte deutlich hören, wie unglücklich und verletzt Tarou tatsächlich war. Eine ohnmächtige Wut darüber ausdrückte, dass er nichts daran ändern konnte, ein Hunde-Leichtgewicht zu sein. Oder an den Umständen, die Yukimarus Eintritt in die Pubertät so lange verhindert hatten. Als ihm diese Erkenntnis kam, murmelte Yukimaru, "hat sich wohl das Warten nicht gelohnt, wie?" Nun ja, das musste er wohl eingestehen, ihn überforderte seine plötzliche Wandlung zum Objekt sexueller oder prestigeträchtiger Begierde durchaus. Tarou ließ sich auf ihn herab, stützte die Ellen auf und hauchte über Yukimarus Gesicht, der sofort heiße Wallungen verspürte. Von den gewaltigen Prickeln in seinem Unterleib ganz abgesehen. "Das ist nicht wahr", flüsterte Tarou an seinem Ohr, küsste ihn anschließend auf die Lippen, lässig, beinahe spazierend. Yukimaru haschte nach der neckenden Zungenspitze, entführte sie in seinen Mund und schmirgelte sie hingebungsvoll mit seinem Pendant ab. Viel zu früh entwischte ihm Tarou, zog sich zurück, richtete sich auf. Aber auch sein Atem ging schneller. Langsam, leicht angezählt, kam Yukimaru ebenfalls nach oben, kniete sich vor seinen besten Freund. Tastete mit suchenden Fingerspitzen über dessen Wangen, das spitze Kinn, glättete die langen Ponysträhnen. Bisher hatte er nur reagiert, war ungelenk hinterhergezottelt, bis Hormone die Eigeninitiative übernahmen und bewusste Denkprozesse auf Sparflamme köchelten. JETZT wollte er wissen, wie es war, Tarou zu verführen. Ihn zu locken, zu necken, zu verwöhnen und herauszufordern. Er war nervös, aufgeregt, flattrig und gleichzeitig hoffnungsfroh-erwartungsvoll. Als stünde ihm die Überreichung eines ganz besonderen Geschenks bevor, das er endlich dem richtigen Empfänger übereignen konnte. Wer brauchte jetzt noch dürre Worte? ~~~~~# Kapitel 10 - Getrennte Wege Yukimaru schmiegte sich zufrieden schnurrend an Tarous Seite, besitzergreifend die Arme um ihn geschlungen. Tarous Hand glitt hypnotisierend langsam und träge über seine Haut, streichelte ihn zärtlich. Nackt und bloß, noch feucht von der geteilten Leidenschaft und durchaus glücklich darüber, dass kein intimes Andocken notwendig war, sie beide aufs Äußerste lustvoll zu begeistern, hingen sie ihren eigenen Gedanken nach. Die kitzlige Kringeligkeit seiner Locken verwünschend, die ihn immer wieder dazu nötigte, die Fessel um Tarous Leib zu lösen, wenn er sich die Störenfriede wegkämmen musste, spürte Yukimaru eine immense Erleichterung. Darüber, wie entspannt sich Tarou neben ihm lagerte. Hatte er wenigstens einen Teil der unterdrückten, gefährlichen Aggression neutralisiert? Das konnte er nur hoffen. Tarou hingegen ging mit sich streng ins Gericht. Fortan müsse er sich stärker zusammenreißen! Nicht der niederträchtigen Seite seines Charakters nachgeben! Vor allem deshalb, weil Yukimaru so wehrlos war. Wenn die Leidenschaft aufflammte, enthüllte er gegen alle Selbstschutzregeln seine wahre Seele vor Tarou, folgte ihm ohne Zögern, gab sich hin ohne Rückversicherung. Nichts war zu spüren von dem kleinen Feuerkopf, der arrogant das Komitee in die Schranken verwies, gegen Ungerechtigkeit und Anmaßung unerschrocken eintrat, im vollen Vertrauen auf seine besonderen, aber bis dato untrainierten Fähigkeiten. »Sollte der unleidliche Georges dir nicht beibringen, wie du dich am Besten schützt?«, haderte Tarou versonnen mit dem Vertrauensbeweis seines besten Freundes. »Ein wenig musst du dich doch auch vor mir in Acht nehmen! So ungefährlich bin ich ja auch nicht!« Verwechselte er da aber die Geringschätzung der Madararui nicht mit Yukimarus unverbrüchlicher Loyalität? Vertraute der ihm, weil er einfach nicht glauben konnte, dass sein bester Freund ihm auch Ungemach bereiten könnte? Konsequent zwickte Tarou daraufhin Yukimaru in den Arm. "Autsch?!", Yukimaru hob den Kopf ein wenig von seinem Ruheposten, "was hab ich denn angestellt?" Tarou seufzte leise, klemmte mit der freien Hand Yukimarus Nasenspitze zwischen Mittel- und Ringfinger ein. "Hör mal", lektionierte er streng, "nur weil ich ein Hunde-Leichtgewicht und dein Freund bin, bedeutet das nicht, dass ich harmlos bin, klar?!" "Ach, bah!", die wilden Locken kuschelten wieder auf Tarous Schulter, "du tust mir nichts. Dazu magst du mich viel zu sehr. Außerdem bist du einfach zu nett!" "Nett?!", dieses vernichtende Urteil mochte Tarou nicht hinnehmen, bemühte sich, auf die Ellen zu kommen, doch unversehens wurde Yukimaru so schwer, dass er sich kaum rühren konnte. "Nett", wiederholte der nun gnadenlos, "und ein kleines Bisschen zu pessimistisch, was mich betrifft. Ich bin nämlich", Yukimaru grinste breit, was man HÖREN konnte, "kein totaler Depp. Ich weiß schon, dass du glaubst, ich könnte mich nicht gegen dich wehren, wenn ich wollte. Kann ich aber schon. Ätsch!" Ganz gegen seinen Willen musste Tarou kichern. DAS klang so sehr nach dem alten Yukimaru, den er vermisst hatte: frech, provozierend, kess und clever. Er drückte den Arm, den er so aufmerksam gestreichelt hatte. "Ich werde dich trotzdem nicht mehr hergeben!", verkündete er gespielt finster, "an niemanden!" "Gut", schnurrte Yukimaru und unterdrückte ein Gähnen, "hab ja gleich gesagt, wir sind das perfekte Team." ~~~~~# Arjen massierte sich den nicht mehr so ganz gepflegten semmelblonden Spitzbart, der sich üblicherweise um sein markantes Kinn schmiegte. War es wirklich schon eine Woche her, dass er Georges am Flughafen abgeliefert hatte? Es kam ihm wie Ewigkeiten vor. Und was hatte er in der Zwischenzeit eigentlich getan? Müde rieb er sich die schmerzenden Augen. Von einem inneren Drang aufgestachelt hatte er als blauer Blitz die benachbarten Viertel unsicher gemacht. Hatte Lebensmittel eingekauft. Lustlos Job-Angebote recherchiert. Doch tatsächlich... hatte er nichts getan. »Weggelaufen bin ich«, hielt er sich selbst vor. Nicht nur vor einer längst fälligen Entscheidung, wie sein Leben weitergehen sollte, welche Richtung er einschlagen wollte. Sondern auch vor den Konsequenzen seiner letzten impulsiven Dummheit. Huubs Nachrichten aus Brügge lasen sich besorgniserregend. Offenkundig hatte sich Georges' Zustand nach der Rückkehr keineswegs verbessert. Was genau ihm fehlte, konnte er aber nicht herausfinden, da Georges wie gewohnt mauerte. Aber dass es ihm wirklich schlecht ging, das konnte Huub nicht übersehen. Deshalb bat er Arjen, doch nach Brügge zu kommen. Sich um ihren gemeinsamen Freund zu bemühen. »Aber ich kann nicht«, antwortete Arjen auf der anderen Seite der Erdkugel verzweifelt. Was, wenn Georges ihn keines Blickes mehr würdigte? Oder in Gegenwart von Huub die Wahrheit ans Licht brachte: dass Arjen seine Wehrlosigkeit ausgenutzt und ihn quasi vergewaltigt hatte?! Scham und Schuld wogen schwer, drückten Arjens Seele nieder. Warum hatte er sich bloß hinreißen lassen?! Wieso musste er ausgerechnet in diesem Moment die Selbstkontrolle verlieren, wo er doch seit Jahren peinlich genau darauf achtete, nicht in diese dämliche Falle zu tappen?! Er liebte Georges, daran gab es keinen Zweifel. Schon seit Jahren. Diese innige, tiefe Verbindung jedoch in körperliche Leidenschaft umzusetzen, das hatte er sich immer verboten. Weil er ebenso genau wusste, dass Georges keine Ambitionen in dieser Richtung hegte. Jede Ahnung von hormoneller Anziehungskraft aus seiner Ausstrahlung tilgte und zum Neutrum mutierte. »Es ist gut so, wie es ist«, gingen ihm Georges' Worte durch den Kopf. Stimmte das? Hatte es bis zu dieser verhängnisvollen Nacht gepasst? Obwohl Georges keine Annäherungsversuche zuließ, glaubte Arjen von seinem Freund nicht, dass dieser ein menschenfeindlicher Einsiedler war. Bestimmte, zwingende Gründe überzeugten Georges, keine körperlichen Beziehungen einzugehen. Eine Sache des Verstands, der Ratio, nicht etwa des Herzens. »Und ich?« Arjen konnte von sich sagen, dass er für einen Schwergewichts-Madararui ungewöhnlich zurückhaltend war. Einige wenige kurze Affären hatte er gehabt, ein eher amüsantes Anbandeln und Tändeln, nie jedoch etwas Ernsthaftes. Die üblichen Verlobungen oder Eheanbahnungsversuche blieben ihm selbstredend aufgrund seiner schillernden, ungewöhnlichen Vergangenheit nicht erspart. Doch besonders seine Eltern und der umtriebige Großonkel ließen ihm die absolute Freiheit der eigenen Entscheidung. »Skandalös«, ein kleines Lächeln huschte über seine angespannten Züge, die der Bildschirm Schatten werfend beleuchtete. Er vermutete, nicht zu unrecht, dass es die Quittung seiner Familie darstellte, weil sie es gewagt hatten, einen Affen aus Liebe einer vernünftigen Madararui-Partnerschaft vorzuziehen. Deshalb durfte er auch uneingeschränkt nach der Liebe suchen... oder besser noch, dem Partner, mit dem er sich bis zum Lebensende den Weg teilen wollte. Doch Georges kam für diese Rolle nicht in Frage! »Und das WEISS ich ja!«, Arjen ballte die Hände zu Fäusten, presste die Lippen zu einem dünnen Strich der Verärgerung zusammen. Deshalb blieb Georges sein bester Freund. Und darum wollte er den Teufel tun und durch irgendwelche Anwandlungen ihr Einvernehmen gefährden. »Hast du ja gut hingekriegt!«, spottete hämisch sein Gewissen. "Was soll ich bloß tun?!", Arjen legte das Gesicht in die Hände, wischte sich dann grob durch die Haare, raufte sie ratlos. Huub drängte ihn immer inständiger, mit Georges Verbindung aufzunehmen. Zu ihm zu kommen. Da war es doch nur eine lächerliche Ausflucht zu behaupten, er sei den beiden Jugendlichen verpflichtet, die hier seines Schutzes bedurften! Nein, das hinderte ihn nicht, obwohl er sein Ehrenwort hochhielt. "... ich habe Angst." Und diese unglückselige Wahrheit lähmte ihn, eine Entscheidung zu treffen. ~~~~~# Yukimaru stöhnte, wiegte sich leicht vor und zurück. Über und hinter ihm spürte er Tarou wie einen Flächenbrand auf der Haut, die klebrig von ihrem Schweiß war. Die schwüle Hitze der Witterung tat ein Übriges, ihre gemeinsamen Anstrengungen zu erschweren. Er knickte die Ellenbeugen ein, um den Winkel zu verändern, in dem Tarou ihn penetrierte, ächzte vor Lust. Es war so anders mit Tarou! Beinahe beängstigend, wie bereitwillig er sich hingab, von der Leidenschaft mitreißen ließ. Doch zu seiner Verteidigung konnte er anführen, dass Tarou sich nicht umsonst rühmte, er kenne ihn. Tatsächlich schien sein bester Freund genau zu WISSEN, was ihm am Besten zusagte. Verfügte über ein untrügliches Timing. Yukimaru löste schwankend eine Hand, presste sie auf seinen Unterleib. Unter der Haut pochte und brodelte es, als warte eine Explosion auf den Zündfunken. Tarou wischte ihm leise keuchend Speichel vom Mund, beugte sich tief hinab, um ein Ohrläppchen zu schnappen, den spitzen Eckzahn hineinzugraben. Der Impuls raste durch Yukimarus ohnehin aufgepeitschtes Nervensystem, die Ausläufer verbündeten sich mit einem heimtückischen Rammstoß, der ihn in der Schwärze vor seinen Augen bunte Sterne sehen ließ. Sein Körper wehrte sich mit einem heftigen Orgasmus, der ihn durchschüttelte und auch den Initiator erfasste, der aufseufzend seine Ladung in Yukimarus Leib löschte. Schwankend, zitternd, ungelenk verharrten sie einige Augenblicke, bis der Schwindel sich legte, ihre Atemzüge nicht mehr asthmatisch in die stickige Atmosphäre entflohen. Tarou löste sich von Yukimaru, entfernte die Schutzhhüllen, bevor er es seinem erschöpften Freund gleichtat und sich ächzend auf den Rücken sinken ließ. Unter ihnen war das Laken vollkommen zerknüllt und feucht von der Hitze ihres Gefechts. Yukimaru tastete blindlings nach einer schweißfeuchten Hand, verschränkte die Finger mit Tarous. "...vielleicht...", krächzte er nach einer Atempause leise. "...nein...", antwortete Tarou wie stets. Ihr karger Dialog bedurfte keiner Erläuterungen. Yukimaru, der mit sich haderte, weil es ihm einfach nicht gelang, die notwendige Täuschung zu bewirken, erwog gelegentlich, ES doch zu riskieren. Was Tarou immer und ohne Zögern ablehnte. Ein Kind in dieser Situation zu zeugen, das kam NICHT in Frage. Er zweifelte nicht daran, dass Yukimaru einen Weg finden würde, die Schwergewichtler auszutricksen. »Es fehlt nur noch ein bisschen!«, entschied er wohlig erschöpft. Was auch immer für ein Quäntchen noch fehlte, um Yukimarus Fähigkeiten zum Vorschein zu bringen, er rechnete mit einem Erfolg. Yukimaru neben ihm seufzte, kämpfte sich erst auf die Seite, stemmte sich dann hoch, ohne Tarou loszulassen. Die nassen Lockenstränge auf den Rücken werfend hockte er sich rittlings auf Tarous Hüften, leise ächzend, die lagunenblauen Augen funkelnd. Tarou lupfte eine Augenbraue. Obwohl er sich nicht daran sattsehen konnte, Yukimaru SO zu sehen, nackt, leicht gerötet, von seiner wilden Lockenpracht wie einer Korona umgeben, sah er sich genötigt, einen Minimal-Beitrag zu leisten. Denn Yukimaru platzierte seine gekaperte Hand auf seinem flachen Bauch. "Ich kann das", murmelte er mit geschlossenen Augen, "ich kann das! Kein Problem." Mannhaft unterdrückte Tarou ein Grinsen. »Du bist so süß, Yuki!«, hätte er gern ausgerufen, aber das verbat sich selbstverständlich. Auf ihm verwandelte sich der trügerische Anschein. Yukimarus Haut wurde durchscheinender, schimmerte bläulich, wo Adern ihre Bahn zogen. Auch seine Züge veränderten sich auf subtile Weise. Seine wahre Seelengestalt überlagerte sich wie eine Vision mit seiner realen Figur. Tarou hielt den Atem an, als zwischen seinen schlanken Fingern hindurch ein Licht glomm. Die Haut seiner Fingerkuppen prickelte. "...Yuki...", murmelte er andächtig. Über ihm lächelten gänzlich dunkelblau gefüllte Augen triumphierend, streichelten über den Handrücken, der auf seiner Bauchdecke lag. "Geht doch", wisperte Yukimaru mit dezent geröteten Wangen. Aber er würde den Teufel tun und Tarou verraten, wie es ihm gelungen war, endlich die Illusion zu erzeugen! ~~~~~# Arjen stippte den Löffel widerwillig in das kostspielige Müsli, konnte sich aber nicht überwinden, die Milch getränkten Opfer aufzulesen und in seinen Mund zu befördern. Er hatte keinen Appetit. Schon eine Weile nicht mehr. Alles schmeckte irgendwie pappig, ein labbriger Brei, der an lang vergangene Kunststunden erinnerte, in denen mit Papierstreifen und Gips herumgematscht werden musste. Warum hatte er überhaupt Müsli gekauft?! Hier, wo Nahrungsmittel so furchtbar teuer waren?! »Und mich gleich noch mit einem schlechten Gewissen versorgt!«, ätzte er sich selbst bitter an. Typisch Europäer, der er trotz aller Weltläufigkeit war, verspürte er IMMER ein gewisses Schuldbewusstsein, weil es anderen ja schlechter ging und man sich eigentlich für das eigene Wohlleben zu schämen hatte. »Komm wieder runter!«, fauchte ihn sein Verstand ärgerlich an, »werd jetzt bloß nicht zum Öko-Sozio-Jammerlappen!« Gerade als sich sein Gewissen zu einer deftigen Replik rüsten wollte, denn in Arjens Brust residierten weit mehr als die zwei Faustschen Seelen!, die sich liebend gern kabbelten, gesellten sich Tarou und Yukimaru zu ihm. Wäre er alerter gewesen, hätte das geteilte Lächeln, mit einem Spritzer Triumph und in jedem Fall mehr als gewöhnlichem Lausbuben-Charme garniert, ihn vor einer gefährlichen Situation gewarnt. Aber Arjen war übermüdet, haderte mit sich selbst und dem Rest der Welt und fühlte sich überhaupt BESCHISSEN! Für Tarou die PERFEKTE Gelegenheit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. "Guten Morgen, Arjen", wünschte er höflich, musterte den jungen Mann aufmerksam, "ist es ein passender Moment, um über die unmittelbare Zukunft zu sprechen?" Verwirrt runzelte Arjen die Stirn, ein deutliches "Höh?" ins Gesicht geschrieben. Bezeichnend nickte Tarou Yukimaru zu, der wie besprochen geschmeidig vom Stuhl glitt und aufstand. Es dauerte einige Herzschläge, bis Arjen begriff. "...hey! Na so was!", er lächelte angestrengt, streckte impulsiv die Rechte aus, "da sind ja Glückwünsche angebracht!" In vorgespielter Souveränität ergriff Yukimaru die dargebotene Hand und schüttelte sie herzlich. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, denn die Konfrontation mit Arjen stellte für ihn die Feuerprobe dar. Konnte er einen so mächtigen Madararui täuschen, stünde ihrem Plan nichts mehr im Wege. Allerdings, und das hatte er Tarou auch gesagt, fühlte er sich nicht wohl dabei, auch Arjen, der ihnen immer geholfen hatte, hinter das Licht zu führen. Gegen Tarous nüchterne Argumentation zog er jedoch den Kürzeren. "Die besten Wünsche", nun schüttelte Arjen auch Tarous Hand, der es sich nicht nehmen ließ, Yukimaru auf seinen Schoß zu ziehen. Ruhig sondierte er Arjens Gemütszustand. Wie würde er ihnen raten? Was konnte man ihm suggerieren? Dankbar für ein ablenkendes Thema schob Arjen inzwischen achtlos seine ihm widerwärtige Müsli-Schale beiseite und fischte ganz altmodisch Bleistift und Papier heran. "Gut, dann lasst uns doch mal überlegen, wie wir ihnen ein Schnippchen schlagen..." ~~~~~# "Klappt doch wie am Schnürchen", zischte Tarou Yukimaru zu, während er aus dem Zugfenster einen letzten Gruß winkte. Arjen hatte darauf bestanden, sie zum Bahnsteig zu bringen und beobachtete sie nun durch die großen Scheiben des gewaltigen Schnellzugs. "Trotzdem", murmelte Yukimaru und drehte unbehaglich einen Lockenstrang um seinen Finger. Endlich fuhr der Zug an, pünktlich auf die Sekunde selbstredend, und sie konnten sich setzen. NATÜRLICH fuhren sie nicht allein zu ihrer Sommerfrische. Als sie das mondäne Appartementhaus verlassen hatten, folgte ihnen eine ganze Rotte Kundschafter der Madararui-Familien. Und NATÜRLICH hatte Yukimaru alle sehen lassen, dass er erstens schwanger war und zweitens das Hunde-Leichtgewicht gewählt hatte, was ihn fürderhin für alle Anbandelungsversuche eigentlich ausschließen sollte. Andererseits trauten einige wohl der Idylle nicht... "Das klappt schon", versicherte Tarou ihm noch einmal, fing die Linke ein und verwebte ihre Finger miteinander. "Hmmm", murmelte Yukimaru und legte vertraulich den lockigen Kopf auf eine einladende Schulter. Er hatte entschieden, dass er Tarou erst bei ihrer Ankunft in einem kleinen Gebirgsdorf auf Hokkaido gestehen würde, dass er Arjen eine Nachricht über seine Schwangerschaft hinterlassen hatte. ~~~~~# "Etwas stimmt nicht mit ihm", Huubs Stimme drang schleppend, durch die Übertragung leicht verzerrt an Arjens Ohr. "Wenn er mit dir Streit angefangen hat", sein üblicherweise gutmütiges Gesicht wirkte nun bekümmert und von Sorgen gefaltet, "vergib ihm, ja? Bitte, Arjen, ich bitte dich sehr, komm her. Ich bin mit meinem Latein am Ende." Arjen biss sich auf die Lippen. Seine Schutzbefohlenen würden wohl am Frühabend ihr Sommerquartier erreichen. Er war nun frei zu tun, was er wollte. "Er meint es nicht so, was auch immer er gesagt hat!" Huub flehte beinahe, "du bist sein bester Freund. Wer sonst könnte ihm helfen?!" Jedes Wort drang wie ein Dolchstich in Arjens gequältes Gewissen. Eigentlich sollte er Huub Einhalt gebieten, der so inständig um Unterstützung warb. Er sollte richtigstellen, dass nicht Georges, sondern ER das Problem war. Aber er brachte kein Wort über die Lippen. "Sag mir, was dich hindert, nach Brügge zu kommen, und wir finden eine Lösung", Huub blieb hartnäckig. Arjen seufzte, spannte seine Sehnen an, richtete sich endlich mal wieder gerade auf. Schluss mit der eingerollten, verkrümmtem Schildkröte! "Ich sehe zu, dass ich den nächsten Flieger erwische", versprach er Huub. "Die Daten schicke ich dir einfach, ja? Aber vielleicht solltest du Georges...", er schluckte, "...vielleicht solltest du es ihm noch nicht verraten. Dass ich komme, meine ich." Viel zu erleichtert, um sich Gedanken über diese Kondition zu machen, sicherte Huub ihm hocherfreut jede Kooperation zu und lobte ihn für seine Selbstlosigkeit. Hastig beendete Arjen das Gespräch, taumelte anschließend ins Badezimmer, um würgend die Galle beschämender Schuld auszuspeien, die ihm die Kehle verätzte. Von wegen selbstlos! ~~~~~# Ungewohnt gerädert von seiner Flugreise, obwohl er sich Unterbrechungen gegönnt hatte, sammelte Arjen erschöpft sein Gepäck ein. Zwei Wochen waren vergangen, seit er Georges so brüsk am Flughafen in Narita verlassen hatte. Ihm erschien es Ewigkeiten her zu sein. Sich in einem anderen Leben abgespielt zu haben. Er rechnete nicht damit, empfangen zu werden, denn an einem Wochentag oblag es Huub, die gemeinsame Apotheke zu führen. Er konnte sich nicht einfach mal eben absetzen. Doch das stellte für den erfahrenen Reisenden keine Schwierigkeit dar. Ein Taxi geordert und flink in 25km-Distanz rein nach Brügge, so weit es ging. Dann noch ein kleiner Spaziergang... Arjen stellte seinen Rollkoffer auf, wischte sich mit einer zittrigen Hand über die Stirn. Sein Herz raste, auf seiner Haut bildete sich eine klamme Schicht nervösen Kondensschweißes. Er hatte Angst. Nicht bloß Bammel. Wenn Georges ihn nun abwies? Oder schlimmer noch, wortlos stehen ließ? Plötzlich schien es ihm unerträglich, die Reisetasche, die er mit einem breiten Gurt quer auf dem Rücken trug, noch einen Augenblick länger zu schultern. Hastig streifte er sie ab, stützte sich schwer auf seinen Koffer. Nicht einmal beten konnte er! Nach jedem "wenn doch nur..." wagte er nicht mal, seinen Wunsch zu DENKEN! »Das ist bescheuert!«, brüllte ihm sein Stolz hochrot ins Gesicht, »nimm dich gefälligst zusammen!« Trotzdem. Ein Teil von ihm sehnte sich danach, doch von Huub hier aufgelesen zu werden. Die Atempause zu nutzen, sich ablenken zu lassen, bevor es zur Konfrontation kam. Der andere Teil schnaubte ihm zu, wie TOLL es wäre, wenn Huub ihn SO zu sehen bekäme, aufgelöst, übermüdet und beinahe hysterisch. Ja, SO ein Anblick schaffte doch sicher Vertrauen in seine Moderationsfähigkeiten! "..so geht's nicht", murmelte Arjen, quälte sich mit der Reisetasche, bis sie wieder auf seinem Buckel ruhte und schnappte sich den Griff seines Rollkoffers. Er steuerte eine der zahlreichen kleinen Imbissnischen an, die von Filialketten betrieben wurden. Dort orderte er trotz der schwülen Hitze eine heiße Schokolade mit Sahnehäubchen. "Ahh! HmmmmMMMM", ächzte er genießerisch, denn hier gab es nicht nur die besten Pralinen auf der ganzen Welt, sondern eine Sahne, die noch richtig schmeckte, sich nicht um Diäten, Fettgehalt und anderen Firlefanz kümmerte! Nach diesem heilsamen Schock für seine Nerven und dem Balsam für seine Seele fühlte er sich gestärkt genug, Panikattacken zu trotzen und sich für ein Taxi zu interessieren. Er las dementsprechend seine hinderlichen Habseligkeiten auf, steuerte dem Ausgang entgegen. Obwohl dort zahlreiche Menschen wie bunte Schmetterlinge in Sommerbekleidung gehüllt durcheinander wirbelten, konnte er mühelos eine besondere Gestalt herausfiltern. Sie trug schwarz, vom Scheitel bis zur Sohle. Bis zur Nasenspitze verdeckte ein feiner, aber voluminöser Wollschal die Gesichtszüge. Einer Ballonmütze entkamen schwarze Locken. Arjen spürte, wie ihm die Wirklichkeit entglitt. Wie alles andere in den Hintergrund trat. Ein Tunnelblick einsetzte. Wie aufgezogen marschierte er auf diese einsame, finstere Gestalt zu, so deplatziert an diesem lebendigen Ort an einem schwülen Sommertag. Als er vor Georges stand, blickten ihn kohlrabenschwarze Augen tief in den Höhlen und von violetten Schatten eingekreist einen langen Moment ausdruckslos an. Dann schraubte sich Georges eine überdimensionierte Sonnenbrille auf die Nase und machte kehrt, um die Halle zu verlassen. ~~~~~# Arjen warf verstohlene Blicke aus den Augenwinkeln auf seinen Freund, doch es gelang ihm nicht, seine Sprache wiederzufinden. Bisher hatten sie noch kein Wort gewechselt, keinen Gruß ausgetauscht. Aber Georges hatte auch nicht mit dem Taxifahrer gesprochen, sondern einfach eine Visitenkarte der Apotheke gezückt, um ihr Ziel zu benennen. Brügge strahlte im Sonnenlicht wie herausgeputzt, Touristen flanierten, überall garnierte man die mittelalterlichen Häuser mit bunten Blumen, stellte Sonnenschirme und Gartenmöbel auf, reduzierte unwillkürlich das Tempo. Die Kanäle, Reien genannt, funkelten, Libellen und Schmetterlinge tanzten einen Reigen. Alles wirkte idyllisch, freundlich, willkommen heißend. Das Taxi hielt, Georges entkletterte, um die Beförderung zu begleichen, während Arjen sein Gepäck barg. Stumm wie zuvor folgte er Georges über das altertümliche Kopfsteinpflaster einer schmalen Gasse in die Querstraße. Obwohl es kein Geheimnis war, wo Georges residierte, konnte kaum jemand von sich behaupten, die heiligen Hallen seines Refugiums jemals von innen gesehen zu haben. Georges empfing nicht. Wer einen Dienst wünschte, musste wie jeder andere auch in der Apotheke vorsprechen. Diese befand sich im Erdgeschoss eines alten, schmalen Bürgerhauses. Im ersten Stock wohnte Huub mit seiner Frau Marguerite. Georges hatte das ebenso schmale Nachbarhaus erworben, komplett mit einem kleinen Garten dahinter und dem Zugang zum Reien. Was ihn bewogen hatte, ausgerechnet mit einem Affen eine Partnerschaft einzugehen, hier, in dieser vergleichsweise kleinen Stadt... niemand wusste es zu sagen. Er war hier weder aufgewachsen, noch gab es Verwandte vor Ort. Arjen, der Huub neugierig zu dieser Situation befragt hatte, erhielt von dem gutmütigen, älteren Mann lediglich die Auskunft, er habe damals die Offerte eines jungen Mannes erhalten. Der ihm als Gegenleistung für die Partnerschaft anbot, die notwendigen Mittel für eine Renovierung der Apotheke einzubringen. Wer hätte da ablehnen können? Außerdem... mochte er Georges. Innerhalb kürzester Frist hatte er sich davon überzeugen können, dass Georges trotz seiner Jugend sein Metier verstand. Und auch wenn er das Reisen verabscheute, so kannte Georges doch die Welt. Was ihm selbst, der sich gern international weiterbildete, einen neuen Bekanntenkreis erschloss. Ganz zu schweigen von den ungewöhnlichen Einsichten, die ein Affe gewann, der von einem Meeresgetier in die erstaunliche Welt der Madararui eingeführt wurde! Und überhaupt: Marguerite fand Georges niedlich. Was für Huub das wichtigste Argument darstellte. Er vertraute seiner besseren Hälfte blind. Deshalb waren sie auch des Öfteren bei Georges eingeladen, wenn der gerade einen gelinden Anflug von Geselligkeit verspürte. Auch Arjen kannte das Innere des schmalen Häuschens. Georges hatte selbstredend die geschützte Fassade unberührt gelassen, jedoch dahinter ordentlich aufgeräumt. Niedrige Decken, verwinkelte Räumchen, unzureichende Verkabelung, altertümliche Rohre, steile Stiegen: fort! Was nicht der Stabilität diente, wurde entfernt, sodass eine großzügige Wohnküche im Erdgeschoss entstand. Darüber eine Galerie mit Wendeltreppe, die zum Bad und Schlafzimmer führte und ganz oben gab es noch ein Gäste- und ein Arbeitszimmer. Georges' Rückzugsort, seine Burg. Dass er über genügend Mittel verfügte, um sich eine prächtige Villa leisten zu können, war Arjen durchaus bekannt. Aber er fand, dass Georges genau das richtige Heim für sich gefunden hatte. Schön, traditionell und gleichzeitig praktisch und modern. Ihm gefiel es jedenfalls. Als sie vor der Vordertür standen, kam Huub aus der kleinen Apotheke gelaufen. Er umarmte Arjen und flüsterte ihm hastig zu, "irgendwie hat er's spitzgekriegt!" "Schon gut", Arjen zwang sich zu einem aufmunternden Grinsen, klopfte Huub das breite Kreuz, "wir sehen uns nachher, ja?" "Unbedingt!", dröhnte Huub ebenfalls laut, "Maggie zaubert uns was Feines! Haben uns ja lange nicht mehr gesehen!" Unterdessen wartete Georges in der offenen Haustür. Schweigend. ~~~~~# Arjen nahm verunsichert auf dem hochlehnigen, solide gepolsterten Sofa Platz. Er musste jetzt, verflixt noch mal!, endlich das Wort an Georges richten! Etwas sagen! Der verbannte gerade die gewaltige Sonnenbrille, schälte sich aus dem Wollmantel. Darunter kamen ein dicker Pullover und gefütterte Jeans zum Vorschein. Allein die Vorstellung, wie warm es in diesem Kleidern sein musste, trieb Arjen den Schweiß auf die Stirn. Georges nahm in einem aufgearbeiteten Ohrensessel ihm gegenüber Platz. Schlug ein Bein über das andere und legte die Arme auf die Lehnen. Seine Haut war leichenfahl und die Handgelenke, die aus den Ärmelbündchen hervorblitzten, schienen nur noch aus Knochen und Sehnen zu bestehen, die sich deutlich abzeichneten. Arjen wusste, dass er sein Entsetzen über Georges' Erscheinungsbild nur unzureichend maskierte. Dass ihm anzumerken war, wie erschüttert er über dieses bleiche Knochengestell war, das ihn aus tiefen Augenhöhlen anstarrte. Nach einem langen Augenblick hörte er Georges kaum vernehmlich rau krächzen, "hast du es gewusst?" Und sah zum ersten Mal nach jener verhängnisvollen Nacht dessen wahre Seele. ~~~~~# Kapitel 11 - Verhängnisvolle Verwechslung Zuerst war es pure Fassungslosigkeit. Sein Verstand weigerte sich simpel zu begreifen, was ihm seine übrigen Sinne zuverlässig meldeten. Dann, weil er im Reflex schockiert nach Luft rang, landete seine Kinnlade zwischen den Knien. In seinen Ohren rauschte es. Und schließlich, in diesem ganzen inneren Tumult, setzte Erkenntnis ein. "...oh... oh Gott...das... Georges... das war keine Absicht!" Unwillkürlich, ohne bewussten Entschluss rutschte Arjen vom Sofa auf die Knie. Er war derartig entsetzt, dass ihm die Augen feucht wurden. "Wirklich...", beteuerte er erstickt, "ich habe doch nicht... das würde ich nie...!" Georges erhob sich, langsam, wieder undurchdringlich gepanzert. Er sah auf Arjen herab, ohne auch nur für einen winzigen Augenblick die Miene zu verziehen oder merklich zu blinzeln. "Das sind meine Bedingungen", verkündete er kehlig, "ich werde diese Kinder auf die Welt bringen. Ich werde mich unwiderruflich deiner Familie anschließen. Als Gegenleistung wird deine Familie dafür sorgen, dass Tarous Eltern Yuki adoptieren können und er ungehindert die japanische Staatsbürgerschaft erhält. Außerdem", seine trockene Stimme splitterte zischend an den eigenen Zähnen, "werden sie verbreiten, dass alle Mitglieder dieser Familie meine PERSÖNLICHEN Freunde sind. Sollte ich jemals auch nur ein Gerücht darüber hören, dass man ihnen zusetzt, dann wird die Hölle auf Erden losbrechen." Arjen schluckte unwillkürlich. Man musste schon suizidär veranlagt sein, um Georges' Zorn zu riskieren. "Im Arbeitszimmer kannst du mit deinen Leuten Kontakt aufnehmen. Vor einem Ergebnis will ich dich weder sehen noch hören." Damit kehrte er Arjen den Rücken zu, schritt steif und eckig zur Glastür, die auf die winzige Veranda hinter dem Haus führte. Hastig schraubte Arjen sich hoch. "Georges... es war wirklich keine Absicht!", beteuerte er unglücklich. Der hielt inne, warf einen Blick über die Schulter und flüsterte, "ich weiß. Sonst hätte ich dich umgebracht." ~~~~~# Arjen stützte die pochenden Schläfen in seine Handflächen und stöhnte ungeniert. Er war übermüdet, verspannt und nervlich definitiv zerrüttet. Georges' Eröffnung, dass diese verrückte Nacht Früchte in Form von zwei kleinen Lichtpunkten getragen hatte, schockierte ihn bis ins Mark. »Du hast die beschissenen Kondome verwechselt!«, hatte ihm sein Verstand hilfreich souffliert, als er fassungslos der schimmernden Märchengestalt auf den Unterleib gestarrt hatte. "WIESO?!", herrschte er sich selbst an, "wieso hast du Depp bloß...?!" Aber es gab darauf keine Antwort. Der Rausch der Leidenschaft hatte ihn willig mitgerissen, diese eine, einzige Chance bei seiner großen Liebe zu nutzen. Da wollte man sich doch nicht mit Details aufhalten! Überhaupt erstaunlich, dass er daran gedacht hatte, die notwendigen Hilfsmittel zu benutzen! »Ja, herrlich!«, schnaubte sein Gewissen bitter, »hättest das bisschen Verstand in deinem blöden Döskopp besser nutzen können!« "Weiß ich doch!", blökte Arjen laut und raufte sich die mittlerweile fettigen Haare. Aber er konnte auch nicht verhehlen, dass der ganzen Situation etwas Schicksalhaftes anhaftete. Wie groß waren die Chancen, dass es ihm mit präparierten Kondomen in einer einzigen Nacht gelang, ein Meeresgetier zu schwängern?! »Na, ich bin sicher, Georges wird die Begeisterung teilen, die 1 zu einer Millionen Fehlversuche zu sein!«, ätzte sein Gewissen ohne Mitleid zurück. "Okay, ich BIN SCHULD!", brüllte er sich selbst an, "und es TUT mir LEID! Aber JETZT ist es nicht mehr zu ändern!" Lieber Himmel, jetzt führte er schon lautstark Selbstgespräche! Entschlossen stemmte sich Arjen aus dem Bürodrehstuhl hoch. Er musste ohnehin auf die Antworten warten, da konnte er die Zeit auch sinnvoll nutzen! Deshalb begab er sich erst ins Erdgeschoss, wo sein Gepäck noch neben der Eingangstür wartete, kramte darin herum, bis er Wäsche und Hygienezubehör ausgebuddelt hatte. Er kletterte die Wendeltreppe hoch ins erste Geschoss, um dort ungeniert von der Dusche Gebrauch zu machen. Deutlich erfrischt und zumindest äußerlich mit sich im Reinen überprüfte er mögliche Nachrichten in seinem Account, bevor er sich dazu entschloss, Huub und Marguerite einen ersten Besuch abzustatten. Marguerite kam gleich in die Apotheke herunter, als sie Huubs Stimme hörte und nahm sich Arjen zur mütterlichen Brust. Die herzliche und auch tröstende Umarmung wurde von zahlreichen Ermahnungen begleitet. Anschließend durfte er aber zur Erholung von diesem Überfall mit in die gute Stube gehen, wo ihm und dem Göttergatten eine umfangreiche Mahlzeit aufgetischt wurde. Nach dem Essen, als die Neuigkeiten über alle gemeinsamen Bekannten und die Aktivitäten der letzten Zeit ausgetauscht worden waren, kam Huub auf Georges' prekären Gesundheitszustand zu sprechen. Arjen sackte, ohne es zu wollen, sichtlich in sich zusammen. Prompt kaperte Marguerite seine Hand und streichelte sie mitfühlend. "Wenn ich gewusst hätte, dass es ihm so schlecht geht, wäre er nicht abgereist, da hätte ich schon für gesorgt!", seufzte Huub gerade in Selbstvorwürfen. Ihm gegenüber schüttelte Arjen den Kopf. "Du hättest nichts tun können", antwortete er mit einer schiefen Grimasse, "er wusste ja, dass ich gerade in Japan eingetroffen war. Und dass ich mir wie immer Schwierigkeiten aufhalsen würde." Marguerite protestierte, "aber du hast doch den armen Kinderchen helfen müssen!" "Schon", gab Arjen zu, schmunzelte nachdenklich, "allerdings war GEORGES die Hilfe und ich bloß der Magnet für Ärger." "Frage mich auch", Huub rieb sich nachdenklich das Kinn, "wie Georges rausgefunden hat, dass ich dich hierher gebeten habe?" Arjen sah sich gezwungen, auch zu dieser Frage ein Bekenntnis abzugeben. "Das wusste er, weil Yukimaru ihm eine Nachricht geschickt hatte." Und so wusste Georges nicht nur vor Arjen Bescheid über die wahre Natur der Schwangerschaft, sondern konnte ihm auch einen Account im Computer einrichten und ihn am Flughafen erwarten. "Hab mich schon gewundert", Marguerite beugte sich vertraulich vor, "dass er so lange weg war. In den letzten Tagen hat er kaum das Haus verlassen. Kein Wunder", sie seufzte, "so wacklig, wie er sich auf den Beinen hält!" Arjen biss sich auf die Unterlippe, aber er konnte sich nicht überwinden, die Hintergründe für Georges' Zustand zu offenbaren. Dazu war es noch zu früh. "Ruh dich auch ein bisschen aus, ja?" Marguerite tätschelte seinen Schopf, "du siehst müde aus, was ja auch kein Wunder ist! Wie heißt das, Jetlag? Ich packe dir rasch noch etwas ein, dann habt ihr was zum Abendessen." Als sie die gute Stube Richtung Küche verlassen hatte, neigte sich Huub eilig zu Arjen hinüber. "Sie hat ihm immer was vor die Tür gestellt, aber ich glaube, er hat kaum was gegessen. Versuch dein Bestes, um ihn zu einem Arzt zu schaffen, ja? So schlecht dran habe ich ihn noch nie gesehen." "Ich bemühe mich", murmelte Arjen niedergeschlagen. Hatte er diese Katastrophe ausgelöst? War seine unbedachte Aktion die Ursache für Georges' desaströse Verfassung? Huub schien seinen Gesichtsausdruck dechiffrieren zu können, denn er klopfte ihm sanft auf die Schulter, "du kannst das. Wahrscheinlich bist du der Einzige, auf den er wirklich hört." Ausgerüstet mit soliden Glasbehältern, gut genährt und unglücklich ließ sich Arjen wieder in Georges' Haus herein. Sein Weg führte ihn natürlich nach der Küchenzeile, wo er demonstrativ die kulinarischen Geschenke aufbaute, hoch in das zweite Geschoss. Doch durch die Zeitverschiebung musste er auf die entscheidende Rückmeldung noch warten. Seine eigene Familie, die nicht weit entfernt in Den Haag residierte, signalisierte selbstredend Begeisterung und unverhohlene Erleichterung darüber, dass Arjen endlich einen sicheren Hafen angesteuert hatte. Und die Aussicht, dass sie bald ein Meeresgetier, ganz zu schweigen vom berühmt-berüchtigten Georges, zu den ihren zählen konnte, schadete der Entscheidung keineswegs. Noch keine Antwort jedoch von seinem verehrten, umtriebigen, schlitzohrigen Großonkel. Und dessen Meinung bedeutete Arjen ungeheuer viel, da er nur dank dessen Intervention überhaupt die Gelegenheit bekommen hatte, Georges ein zweites Mal zu treffen. Arjen deaktivierte den Rechner und kam müde auf die Beine. Ob er sich wohl im Gästezimmer ein wenig ausstrecken konnte? Nur für eine kurze Zeit, um diesen lähmenden Bodennebel in seinem Verstand zu lichten. Im Gästezimmer war ein schmales, altmodisches Bett mit hohem Ziergestell gerichtet. Dankbar rollte er sich auf der dünnen Matratze zusammen, zog eine leichte Decke über sich. Vielleicht war es doch ganz gut, dass Yukimaru sich Georges offenbart hatte. Nicht auszudenken, wenn er unvermutet in dessen Zorn eingefallen wäre! »Erschreckend beherrscht«, lautete sein Urteil zu Georges' Auftritt. Oder war der berüchtigte 'Orkan' bereits so geschwächt, dass er nicht einmal mehr fuchtige Tiefausläufer loslassen konnte? ~~~~~# Yukimaru hockte sich mit nackten Füßen vor den niedrigen Klapptisch, beobachtete, wie Tarou ihr Gepäck verstaute. Sie hatten in dem alten Haus, nach traditioneller Weise gebaut, einen Raum für sich, den Schiebetüren abteilten. Er holte tief Luft und legte ein Geständnis ab. "Tarou, weißt du... ich hab Georges eine E-Mail geschickt. Damit er Arjen sagt, dass... ich nicht wirklich schwanger bin." Durch die wirren Locken blinzelte er hoch zu Tarou, um dessen Gemütsverfassung aufzufangen. Unter dem schrägen Pony lupfte sich sparsam eine Augenbraue. "Überrascht mich nicht", antwortete Tarou gelassen, trat hinter Yukimaru und drehte, in die Hocke gehend, dessen Kopf nach vorne, weil der ihm besorgt mit den Blicken gefolgt war. "Halt bitte still, ich flechte dir einen Zopf." Denn es war, obwohl sie in den Norden gefahren waren, sogar in die Berge, erstaunlich warm in ihrer temporären Heimat. "Sei nicht sauer, ja?", Yukimaru zog die Knie vor den Leib und umarmte sie. Als Team hätte er schließlich mit Tarou gemeinsam entscheiden müssen... bloß sein Gewissen plagte ihn eben unbarmherzig! "Es hätte mich gewundert, wenn du es NICHT getan hättest", beruhigte ihn Tarou schmunzelnd, hauchte einen Kuss auf eine helle Wange, "Yuki, das spielt jetzt keine Rolle mehr." Yukimaru seufzte und lehnte sich zurück, schloss die Augen. Tarous warmer Atem strich über seinen Nacken, nun befreit von der hitzigen Last seiner flammenden Lockenpracht. "Denkst du, wir werden die Typen los?", erkundigte er sich bei seinem besten Freund. "Schätze, sie bleiben noch zwei bis drei Tage", urteilte der, drehte den geflochtenen Zopf, um ihn auf dem Hinterkopf festzustecken, "dann werden sie aufgeben." "Und dann?", Yukimaru strich sich über den nun entblößten Nacken, zwinkerte Tarou dankbar zu, der neben ihm Platz nahm. "Dann?", Tarous dunkelbraune Augen funkelten, "dann werden wir den Schulstoff nachholen, den wir verpasst haben." "Schon klar", Yukimaru klemmte blitzschnell Tarous Nasenspitze zwischen Mittel- und Ringfinger ein, "aber das meinte ich nicht." Immerhin musste seine Schein-Schwangerschaft in ungefähr acht Wochen enden. Tarou bleckte seine gepflegten Zahnreihen sardonisch. "Bis dahin wirst du so stark sein, dass sie nicht mal daran denken, dich zu belästigen." ~~~~~# Tatsächlich verstrichen fünf Stunden, bis Arjen wieder in die Realität jenseits von Morpheus' fürsorglicher Obhut zurückkehrte. Draußen ging die Sonne langsam unter, färbte Dächer und alte Fassaden in Rottönen. Er legte die Decke ordentlich zusammen, wechselte dann ins Arbeitszimmer. Endlich war die ersehnte Rückmeldung seines Großonkels eingetroffen. Der hielt sich nicht lange mit Vorhaltungen oder Vermutungen auf, wie es zu dieser plötzlichen Verbindung gekommen sein konnte, sondern sagte zu, sich sofort persönlich um die Angelegenheit zu kümmern. Und empfahl seinem Großneffen, sich rasch um Ringe zu bemühen und Einladungen zu versenden, damit die offizielle Verbindung im Beisein der Familie bekräftigt werden konnte. Arjen lächelte erleichtert. Er druckte die E-Mail aus, als Beweis für die Erfüllung seiner Seite des Abkommens. Dann machte er sich auf die Suche nach Georges. ~~~~~# Georges saß, in seinen dicksten Wintermantel gehüllt, in einem Kunststoffstuhl auf der Wiese hinter seinem Haus, blickte auf den Kanal. Unbeweglich, schon seit geraumer Zeit. Er war sich nicht sicher, ob er sich erheben konnte. Seine Glieder dieser Anstrengung gewachsen waren. Manchmal kostete ihn das bloße Atmen schon erhebliche Mühe. Er wollte nicht nachdenken. Nichts mehr, als existieren. Einfach vegetieren. Eine Auszeit nehmen von Entscheidungen, Forderungen aller Art und Ansprüchen. Deshalb reagierte er auch nicht, als er Arjens Schritte auf den Verandaplatten hörte, dann ihr beinahe lautloses Spazieren über das japanische Moos seiner kleinen Wiese. Arjen ging vor ihm in die Hocke, stützte sich vertraulich mit der Linken auf Georges' rechten Oberschenkel ab, während er mit der Rechten ein Blatt Papier offerierte. Georges, sicher hinter seiner gewaltigen Sonnenbrille, unterzog sich nicht der Mühe, die Zeilen zu lesen. Er wusste, dass sie zustimmen würden. SELBSTVERSTÄNDLICH. Jahrelang, praktisch seit seiner Geburt, war er umworben worden. Konnte frei wählen, welcher Familie er sich assoziieren wollte, wenn er nicht eine eigene Dynastie begründete. Doch seine Disposition schloss solche Ansinnen aus. Befand Georges. JETZT war diese Entscheidung, die ihn über Jahrzehnte geprägt hatte, Makulatur. "Georges?", auf Arjens vertrautem, lausbubencharmanten Gesicht zeichneten sich Sorgenfalten ab. Er wusste, dass er irgendwie reagieren sollte. Mimik. Simpel. Aber seine Sehnen verweigerten die Kooperation. Zu anstrengend. Zu schmerzhaft. "Georges, willst du mich heiraten?", auf Arjens Wangen zeichneten sich schamrote Flecken der Verlegenheit ab, doch die hellblauen Augen ruhten unbeirrt auf ihm. Ein Zucken raste durch Georges' Arm in seine Rechte, wie ein spastischer Impuls. "Bitte", nun fing Arjens Linke Georges' Rechte ein, "ich weiß nicht, wie ich das, was ich angerichtet habe, wiedergutmachen soll, aber... ich liebe dich. Ich möchte nicht ohne dich sein. Du bist mein bester Freund, Georges. Bitte, gib mir eine Chance, ja?" Georges spürte, wie sich Speichel in seinem Mund sammelte. Widerlich! Unwillkürlich pulsierte Wut über seine körperliche Unzulänglichkeit durch seinen gemarterten Leib, trieb ihn an, sich der Anstrengung zu unterziehen und zu antworten. "...schwöre...", er räusperte sich kollernd, "schwöre mir, dass du die Kinder beschützen wirst. Ganz gleich, was passiert", drängte er, "schwöre es!" "Ich verspreche es", verkündete Arjen ehrerbietig. "NEIN!", explodierte Georges, stemmte sich auf dem zittrigen linken Arm hoch, "SCHWÖRE ES MIR! Bei allem, was dir heilig ist! Ich will dein Ehrenwort!" Verwirrt und erschrocken über den Ausbruch blinzelte Arjen, drückte Georges' Rechte und wiederholte artig, "ich SCHWÖRE dir, bei allem, was mir heilig ist, ich werde unsere Kinder beschützen. Was auch immer passiert." Georges hasste seinen unsicheren Stand, dieses beschämende Taumeln, doch er bezweifelte, dass er sich Arjens Griff entziehen und bis um Haus gehen konnte. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, triumphierten, verspotteten ihn, weil er sich wegen so einer kleinen Erregung bereits vollkommen erschöpft hatte. "Was auch immer passiert", wiederholte er heiser, "du musst zu ihnen halten. Auf dein Ehrenwort!" "Auf mein Ehrenwort", versprach Arjen, erhob sich ebenfalls. Sein kritischer Blick verriet, dass er Georges ins Gesicht sehen wollte, ungehindert von Ballonmütze, Sonnenbrille und Schal. "...ich nehme deinen Antrag an", antwortete Georges mit splitternder Stimme, versuchte, auf der Stelle kehrtzumachen und langsam zum Haus zu gehen. Doch Arjen ließ ihn nicht entwischen, sondern zog ihn schwungvoll und unnachgiebig in eine enge Umarmung. "Georges", wisperte er, leicht gebeugt, in ein von Locken und Wollstoff verborgenes Ohr, "ich bitte dich...verzeih mir. Ich wollte dir niemals etwas antun. Bitte gib mir eine Chance." ~~~~~# Arjen erschrak darüber, wie WENIG von Georges übrig geblieben war. Unter den Hüllen von Stoff und Wolle schien er nicht mehr als Knochen in den Armen zu halten! Und wo war Georges' entflammbares Temperament geblieben?! Hatte er seinen besten, geliebten Freund zerstört?! Einen erstickten Laut später schaltete er trotz der überstandenen Reisestrapazen schnell genug, um Georges' haltloses Abgleiten zu bremsen und ihn in der Hocke an sich abzustützen. "Verdammt", fluchte er leise, aber ungeniert. Dann hob er Georges auf seine Arme und transportierte ihn über Wiese und Veranda in die Wohnküche, wo er ihn auf dem Sofa ablegte. Ohne nennenswerte Gegenwehr entblätterte er Georges, bis dieser unter Mantel, Pullover, Sweatshirt, Winter-Jeans und zwei Paar Socken in langen Unterhosen und einem T-Shirt neben ihm lag. Leichenblass, abgemagert bis auf die spitzen Knochen, zitternd vor Kälte. "Verflixt, Georges...", erschüttert kämmte er verfilzte Locken aus dem spitzen Gesicht, "was hast du bloß angestellt?!" Schwarze Augäpfel blitzen Widerstand, doch Arjen konterte geistesgegenwärtig, legte die Hand auf Georges' Unterbauch. Wo dieser die Seelenlichter ihrer Kinder versteckte, um sie zu schützen. "Bitte, Georges", flüsterte er eindringlich, "lass mich helfen. Du hast mich schließlich schwören lassen, unseren Kleinen beizustehen." Georges schnaubte matt, dann senkten sich die durchscheinenden Lider ermattet. Arjen schnellte hoch, eilte zum Telefon. Er brauchte dringend Unterstützung! ~~~~~# Arjen hatte noch nie Georges' Schlafzimmer betreten. Die Premiere hätte er sich nun auch gern unter besseren Vorzeichen verdient, doch für Empfindlichkeiten war kein Platz. Obwohl sich nur wenige Möbel darin befanden, wirkte der Raum keineswegs spartanisch, sondern gemütlich. Einbauschränke mit Schiebetüren in der Farbe der gekalkten Wände enttourierten ein hohes Doppelbett mit zahlreichen Schubfächern und Regalen. Auf der angefügten Konsole des Nachttisches befand sich eine kleine Leuchte und ein winziges Musikabspielgerät. Linker Hand wartete ein altmodischer Frisiertisch aus dunklem Holz mit einer Karaffe und ZWEI umgekehrten Wassergläsern auf den nächtlichen Durst. Accessoires waren artig in den kleinen Schubladen verstaut. Unter dem Doppelfenster stand eine geflochtene Truhe, von einer sorgfältig gefalteten Decke gekrönt. Huub verlor keine Zeit, legte hastig eingesammelte Badehandtücher auf einer Matratze aus, damit Arjen Georges dort ablegen konnte. "Liebe Güte", murmelte er immer wieder vor sich hin, zog Flüssigkeit in einer Spritze auf, die er Georges setzte, bevor er einen mobilen Ständer arrangierte, an dem ein Tropf wartete. Unterdessen entblößte Arjen Georges' abgemagerten Leib vollständig, rieb ihm eilig mit einem feuchten Lappen über die fahle, ausgetrocknete und rissige Haut. Georges drehte den Kopf weg, und stumm leistete Arjen ihm Abbitte dafür, ihn so unerbittlich zur Schau stellen zu müssen. Nackt und bloß. Aber es musste etwas geschehen! Deshalb wickelte er ihn auch in einen frischen Pyjama, lehnte Georges an sich an, um dessen Locken mit einem immer wieder angefeuchteten Kamm zu entwirren und zu einem kurzen Zopf zu zwirbeln. "Du musst zu einem Arzt", mahnte Huub, sichtlich erschüttert, "Georges, das ist ernst!" Über Georges' ausgehöhlte Züge flackerte ein bitteres Grinsen, aber er antwortete nicht. "Ich kümmre mich darum", versicherte Arjen entschlossen. Er deckte Georges zu und dirigierte Huub zur Tür. Über die Schulter informierte er Georges, er werde gleich zu ihm zurückkommen. Huub kletterte schwerfällig die Wendeltreppe hinab. "Hab ihn noch nie so gesehen. Gefällt mir nicht. Gefällt mir gar nicht", murmelte er konsterniert. "Ich weiß", Arjen folgte ihm, legte dem älteren Mann eine Hand auf die Schulter. "Huub, kannst du mir helfen? Ich will nicht, dass Georges arbeitet. Oder schlimmer noch, Aufträge annimmt." "Die Apotheke schmeiße ich schon allein", versicherte Huub knurrend, "und das andere Volk halte ich ihm auch vom Leib. Wenn er sich nur helfen lassen würde..." "Wird er", versprach Arjen, dann atmete er tief durch. Wappnete sich, alle Karten auf den Tisch zu legen. "Es ist nicht Georges' Schuld", bekannte er, "ICH bin dafür verantwortlich." Huubs buschige Augenbrauen wanderten skeptisch nach oben. Er konnte sich wohl nicht vorstellen, dass 'Orkan Georges' sich von irgendwem beeinflussen ließ. Arjen zog eine jammervolle Grimasse. "Doch, glaub es ruhig", seufzte er, straffte dann seine athletischen Glieder, "denn ICH bin verantwortlich. Georges ist von mir schwanger." ~~~~~# Ausgerüstet mit einem Handtuch, einem Löffel und einem Topf kletterte Arjen wieder in den ersten Stock. Es erleichterte ihn, dass Huub die Madararui-typischen Besonderheiten akzeptierte und ihn nicht dafür verurteilte, dass er seinen Gefühlen für Georges nachgegeben hatte. "Bloß gleich schwanger werden... solltest überlegen, ob du nicht bei der Lotterie mitmachst", lautete sein unverbrämter Kommentar. Arjens Auffassung nach würde er von Madame Fortuna nie mehr etwas einfordern können, wenn er und seine kleine Familie in spe heil aus dieser kritischen Phase kamen! Als er Georges' Schlafzimmer betrat, lag dieser mit geschlossenen Augen im Halbdunkel der kleinen Nachttischleuchte, aber seine Atemzüge verrieten Arjen, dass Georges nicht schlief. Auf dem Frisiertisch stellte er seine Last ab, setzte sich dann neben Georges auf die Bettkante und sammelte Kissen ein, die er zum Abstützen hinter Georges' Oberkörper stopfte. "Bringt nichts", kommentierte der mit angewiderter Miene Arjens Bemühungen. "Müssen wir riskieren", antwortete Arjen ebenso knapp. Morgendliche Übelkeit hin oder her, Georges MUSSTE etwas essen! Er zog aus seiner Hosentasche eine Wäscheklammer, befestigte sie auf Georges' Nasenflügeln, der keuchend diesen Gewaltakt sofort beenden wollte. Doch Arjen schnappte beide Handgelenke, so dürr und zerbrechlich, nahm sie gefangen. "Georges, ich WEISS, dass du das nicht magst. Wir haben aber keine Wahl." Georges weigerte sich, wie Arjen die vergeblichen Befreiungsversuche interpretierte, deshalb sah er sich genötigt, die Handgelenke mit seinem Gürtel zu knebeln. Das entrüstete Schnauben ignorierend lud er sich die Schüssel auf den Schoß, nachdem er über Georges' Brust das Handtuch drapiert hatte. Seine Kreation bestand aus verdickter Tomatensoße mit Jodsalz und pürierten Kartoffeln, ein Speisebrei, der zumindest verlorene Mineralien ersetzen sollte. Zu erschöpft, um weiter zu kämpfen, ließ Georges sich widerwillig füttern. Arjen achtete penibel darauf, einen Rhythmus einzuhalten, der verhinderte, dass Georges sich etwa aus Atemnot verschluckte. Als er erkannte, dass Georges keine Kraft mehr hatte, noch mehr nahrhaften Brei zu verzehren, stellte er die Schüssel auf dem Frisiertisch ab, bevor er die Wäscheklammer entfernte. Seine Taktik schien erfolgreich, denn ohne den Geruch der Mahlzeiten konnte er die drohende Übelkeit austricksen. Arjen sammelte alles ein, "ich mache gerade noch sauber, dann komme ich wieder, in Ordnung?" Georges schnaubte bloß. Doch Arjen ließ sich nicht beirren. Immerhin hatten da ZWEI Gläser auf dem Frisiertisch gestanden. Was sie nicht getan hätten, wenn Georges nicht wollte, dass er ihm Gesellschaft leistete, oder?! Ermutigt von diesem logischen Schluss spülte er rasch das Geschirr, klappte die Holzläden vor die Fenster und löschte alle Lichter, bevor er in den ersten Stock kletterte. Eine Katzenwäsche später, die Zähne noch nach Pfefferminz duftend, kehrte er in Georges' Schlafzimmer zurück. Er wählte die zweite Hälfte des Doppelbetts, kroch unter die leichte Decke und rückte nahe an Georges heran. Dieser schlief noch immer nicht, obwohl zweifellos die Erschöpfung an ihm nagte. "Denk dran, kein Zappeln!", mahnte Arjen neckend, denn der Tropf, den Huub gesetzt hatte, leistete noch immer seinen Beitrag zu Georges' Rekonvaleszenz. Behutsam schob er einen Arm über die eingesunkene Brust seines Freundes. Konnte das wirklich der unbesiegbare, eiskalte, stürmische Georges sein? Dieses zerbrechliche, entkräftete Häufchen Unglück neben ihm? "Schlaf gut", wünschte Arjen, stemmte sich auf einen Unterarm, um Georges' Stirn zu küssen. Der seufzte bloß. Trotzdem legte sich eine kalte, knochige Hand auf Arjens Arm. ~~~~~# Arjen war durchaus überrascht, Georges brav neben sich zu finden, als er am nächsten Morgen erwachte. Die heruntergelassenen Jalousien ließen winzige Sonnenlichtfinger in den Raum, luden ein, sich an die aufwärmende Luft zu begeben. Folgerichtig kletterte Arjen aus dem Bett, umrundete es und erwog, wie er Georges von dem leeren Tropf befreien konnte, ohne ihn dabei aufzuwecken. Als er sich prüfend über Georges beugte, schreckte der mit einem unartikulierten Laut hoch. Ebenso erschrocken plumpste Arjen auf die Bettkante und keuchte, "Mensch, Georges, ich bin's doch nur!" Mit einem winzigen Vorwurf in der Stimme. Georges jedoch schien weit weg und benötigte einige Augenblicke, sich zu orientieren. "Hrmpf", brummte er, löste dann ohne größere Umstände die Verankerung in seinem Arm, schwang dürre Beine heraus, um wacklig, aber entschlossen das Schlafzimmer zu verlassen. "Ich lasse Luft rein, ja?", bemühte sich Arjen um leichte Konversation, blieb jedoch einer Replik ledig, da Georges im Badezimmer verschwand. »SO geht's nicht weiter!«, entschied sein Stolz herrisch, »wenn du mit ihm leben willst, werdet ihr endlich REDEN müssen! Und zwar MITEINANDER!« Arjen schüttelte die Kopfkissen auf und schnaubte. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als am Frühstückstisch das nächste Gefecht in Angriff zu nehmen! ~~~~~# Es herrschte zwischen ihnen zwar Übereinstimmung darüber, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages war. Ganz gleich, WANN man aufzustehen beliebte, aber WAS Georges sich darunter vorstellte, fand Arjen nicht nur sehr übersichtlich. Sondern erschütternd kümmerlich. "Milchkaffee?!", die semmelblonden Haare offen und leicht kringelnd auf die muskulösen Schultern ausgebreitet, noch von der Dusche dampfend, stemmte Arjen entrüstet die Hände in die Hüften. Georges, das totenfahle Gespenst, lupfte missmutig eine Augenbraue und schlürfte betont aus der bauchigen Schüssel. Arjen mutmaßte, dass sie eigentlich für Obst oder Müsli gedacht war. "DAS", er schnappte sich das Objekt des Abscheus und entfernte es entschlossen, "ist keine gute Basis. Ich hoffe bloß, es versaut die Ergebnisse nicht, wenn du nicht nüchtern beim Onkel Doktor auftauchst." "Gib mir SOFORT meine Tasse zurück!", brauste Georges auf, aber nicht mal am Tisch konnte er sich drohend auf die Beine ziehen, sodass es bei einem Stürmchen im Kaffee-Eimer blieb. "Du brauchst eine ordentliche Grundlage für den Start in den Tag", dozierte Arjen unnachgiebig, "wo ist die Wäscheklammer?" "Ich will sie nicht!", fauchte Georges, "mir wird GLEICH übel!" DAS war eine kindische Drohung, die Arjen zu einem gemeingefährlichen Grinsen verleitete. "Also, ICH", Arjen sammelte verschmitzt schmunzelnd Utensilien ein, "bin SEHR für Demokratie. Und ich vermute", tollkühn beugte er sich über Georges, der bitterböse nach oben funkelte, "es steht drei zu eins!" Damit zwinkerte er bezeichnend Richtung Georges magerer Körpermitte. "Infam!", krächzte Georges, doch die Tirade, die ihm auf den Lippen lag, erstickte, weil ein Küchenhandtuch unverschämt über seine Augen drapiert und am Hinterkopf verknotet wurde. Eilig landete die verschmähte Wäscheklammer auf der Nase, dann hielt Arjen die knochigen Handgelenke in Schach, die vergeblich um Befreiung kämpften. "Georges", Arjen wisperte zärtlich in ein abgeneigtes Ohr, "muss ich dich wirklich an den Stuhl binden? Reicht es nicht aus, dass ich alles tue, um meinen feierlichen Eid zu halten?" Obwohl er mit der Reaktion gerechnet hatte, erleichterte es ihn doch sehr, dass Georges' Mundwinkel zwar missbilligend zuckten, jeder Protest jedoch unterblieb. "Danke schön", hauchte er seine Referenz für das Entgegenkommen und küsste eine eingesunkene Wange liebevoll. Dann machte er sich zu einer Stippvisite auf, Kühlschrank und Vorräte zu plündern. ~~~~~# Glücklicherweise brachte Huubs besorgtes Eindringen in die morgendlichen Kampfhandlungen eine gewisse Entspannung mit sich. Bemüht, die Fassade freundschaftlicher Ordnung aufrecht zu erhalten, konnte Georges nicht Gift und Galle spucken, wie es ihm zweifellos beliebt hätte. Arjen war geschützt davor, sich ernsthaft und lautstark mit seinem Lebensgefährten in spe auseinanderzusetzen. Zwar war es ihm durchaus gelungen, Georges' vernachlässigte Körpermitte mit Nahrung zu versorgen, ohne dass der sich erbrechend auf die Toilette zurückgezogen hatte. Doch das bedeutete noch längst keinen Friedensvertrag. Mehr einen temporären, sehr fragilen Waffenstillstand. Huubs beunruhigte und drängende Fragen, ob es ihm auch wieder einigermaßen ginge und ob er auch genau wisse, wo die Privatklinik stationiert sei, ob er ihn nicht vielleicht doch begleiten solle oder wenigstens eine Empfehlung schreiben, oder... Georges' malmende Kiefer hatten mehr als angedeutet, was da alles unausgesprochen wieder ätzend heruntergeschluckt wurde. Arjen sah nicht die geringste Veranlassung, sich einzumischen. Ja, ehrlich gesprochen, es passte ihm recht gut, dass auch Huub Georges unnachgiebig bearbeitete. Je länger er über die Ereignisse der letzten Tage und Georges' seltsame Reaktionen nachdachte, ein Luxus, den er sich nur leisten konnte, wenn er wusste, dass jemand anders Georges in der Mangel hatte, führte zu dem unvermeidlichen Schluss, dass Georges ihm vieles verheimlichte. Zugegeben, es WAR seine Schuld, dass Georges nun gezwungen war, Kinder auf die Welt zu bringen, obwohl er das HASSTE. Doch warum? Woher diese vehemente Ablehnung? Arjen konnte durchaus nachvollziehen, dass man manchmal anderer Leute ungezogene Gören verwünschte, aber die eigenen Kinder waren doch IMMER besonders. Richtig? »Und warum hat er dich in sein Zimmer gelassen?«, hakte sein Misstrauen nervös nach, »hast du ihn jemals hochschrecken sehen?!« Georges fürchtete sich nicht. Es gab nichts, das ihn ängstigen musste. Befand Arjen. Wie auch immer GENAU Georges' ungewöhnliche Fähigkeiten beschaffen waren: man konnte ihn kaum jemals überraschen, wenn es ihm gut ging. Er WUSSTE, was andere anstellten, noch bevor sie sich daran begaben. Klarer Fall: alle Karten mussten aufgedeckt werden! Und das, analysierte Arjen mit einem Anflug schlechten Gewissens, würde nur gelingen, wenn Georges nicht mehr in der Lage war, sich zu wehren. ~~~~~# "Ich KANN gehen, verflucht! So weit ist es nicht!" Brüsk und zornig lehnte Georges Arjens Vorschlag ab, den Stadtbus zu nehmen. Zugegeben, eine halbe Stunde im Schlendergang genügte, um die Privatklinik zu erreichen, aber wollte er das riskieren? Immerhin war es schon sehr warm an diesem Sommervormittag, auch wenn noch keine Schwüle vom Wasser aufstieg. Georges stakste bockbeinig vor ihm her. Seine klapperdürre Gestalt war in eine dicke Winterjeans gehüllt, darüber ein Fleece-Sweatshirt und eine völlig verformte Strickjacke. Selbstverständlich alles in Nuancen von Schwarz gehalten. Arjen verkniff sich die Frage, ob Georges nicht noch eine Pudelmütze oder den geliebten Kilometerschal vergessen habe, von den Snowboots ganz zu schweigen. Ihn bedrückten die winzigen Perlen Transpiration auf der kalkweißen, pergamentartigen Haut. Er glaubte nicht, dass Georges wirklich schwitzte. Vielmehr deutete die verkrampfte Haltung darauf hin, dass er mit den Nerven zu Fuß war. Warum? Arjen, der zu seiner futuristisch verspiegelten Sonnenbrille ein Ringertop und eine abgewetzte Jeans trug, die unvermeidliche Gürteltasche und Mokassins, rieb sich besorgt den semmelblonden Kinnbart. Gut, Georges mochte Ärzte ("Quacksalber!") nicht, wenn sie ein BERUFLICHES Interesse an ihm persönlich hatten. Üblicherweise konsultierte er keine Ärzte, Punktum! Andererseits musste doch selbst Georges einsehen, dass DIESE Angelegenheit nicht einfach verschwand, wenn man sie hartnäckig ignorierte! »Fürchtet er eine Standpauke?«, grübelte Arjen und fasste unwillkürlich zu, als Georges für einen Moment auf dem altertümlichen Pflaster ins Straucheln geriet, »oder ist es etwas anderes? Stimmt mit unseren Kindern etwas nicht?« Aber das hätte Georges ihm bestimmt gesagt... oder? ~~~~~# Allein sein unbezwingbarer Wille, auf GAR KEINEN FALL eine Schwäche zu offenbaren, hinderte Georges daran, im Wartebereich auf einer gepolsterten Bank zusammenzusacken. Steif, hoch aufgerichtet, jeder Zoll arrogante Selbstsicherheit, baute er sich vor dem Empfang auf und verkündete mit heiserer Stimme sein Anliegen. Eine Aufnahme zwecks Entbindung in sechs Wochen. Die lebenserfahrene Matrone hinter dem trennenden Aufbau der Theke beäugte ihn einen Wimpernschlag länger als üblich, dann zog sie ein Klemmbrett heran. Fingerte einen zusammengehefteten Bogen heraus und bat höflich, er möge doch im Servicebereich die formalen Angaben notieren. Georges nickte knapp, pirouettierte in die entgegengesetzte Richtung und klappte seine Glieder wie ein Zollstock akkurat zusammen, um sich der Bürokratie zu widmen. Er spürte Arjens Irritation, entschied aber, sie betont zu ignorieren. Das endete jedoch, als er den ersten Bogen umschlug. ~~~~~# Arjen keuchte überrascht, als Georges ihm das Klemmbrett auf die Oberschenkel klatschte und herrisch mit dem Kugelschreiber auf den zweiten Bogen tippte. "Oh, verstehe", grinste er breit und riskierte einen Blick in Georges' Gesicht. Doch leider zeigte sich kein dezentes Erröten ob der ärgerlichen Zwangslage. Seufzend füllte er aus, was Georges' letzte Mahlzeiten enthalten hatten. Georges neben ihm ähnelte einem Sphinx. Nicht der Rätselhaftigkeit wegen, sondern der akkuraten Haltung. Kein Wimpernzucken, kein heimliches Ächzen, kein unkontrolliertes Zittern verriet, was hinter der bleichen Miene vor sich ging. Arjen begrüßte definitiv, dass sie die ersten Klienten an diesem Morgen waren. Sonst hätte es sicherlich herausgestochen, wie distanziert sich Georges gebärdete. Sie boten jedenfalls nicht das albern-überdrehte Bild eines glücklichen Elternpaars. Schweigend erhob er sich, um den ausgefüllten Bogen abzugeben und sorgte mit seinem charmanten Lächeln dafür, dass der weibliche Zerberus eine etwas bessere Meinung von diesem ungleichen Pärchen gewann. Nach wenigen Minuten der stillen Wartezeit, in der sie überdeutlich die klassische Klaviermusik hörten, die leise zur Unterhaltung gespielt wurde, bat man Georges, sich zwecks Blut- und Urinprobe einer jungen Mitarbeiterin anzuschließen. Arjens besorgte Blicke folgten ihm. ~~~~~# Georges nahm Platz, wickelte selbst die Ärmelschichten auf, nahm dann brüsk der vollkommen überrumpelten Frau die Spritze aus der Hand, setzte sie kundig und zog ebenso emotionslos die benötigte Menge seines eigenen Bluts in den Kolben. "Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen wollen", schnarrte er frostig und verzog sich in die kleine Kabine, um dort Wasser abzuschlagen. Glücklicherweise hatte Arjen ihn dazu genötigt, ausreichend zu trinken, sonst hätte er sich erbärmlich blamiert, befand Georges. Nicht, dass ihn dieser Umstand in IRGENDEINER Form GLÜCKLICH machen konnte! Eingeschüchtert von seinem Verhalten nahm die Frau den Plastikbecher entgegen, den er ihr zugeschraubt überreichte, dann verließ Georges wortlos den Raum, um wieder zu Arjen zu staksen. Mittlerweile war ihm übel, aber das durfte niemand bemerken. Er WOLLTE es schlichtweg nicht! ~~~~~# »Oh oh....!«, Arjen schluckte, als er das Zimmer des behandelnden Arztes betrat. Zunächst war Georges allein hineingebeten worden, mutmaßlich, um eine Untersuchung durchzuführen. Dass es ihm innerhalb von zwanzig Minuten gelungen war, den kleinen, leicht untersetzten Mann in der makellos weißen Uniform seines Gewerbes derart gegen sich aufzubringen, verhieß DEFINITIV nichts Gutes. Dr. Goodekirk schäumte. Dafür hatte Georges schon mit seiner ersten Antwort gesorgt, als er auf die Aufforderung, sich freizumachen zwecks Untersuchung, mit der Gegenfrage nach der Notwendigkeit geantwortet hatte. »SO SO!«, kochte Dr. Goodekirk innerlich, »wieder so ein arroganter Lümmel, der sich mal EBEN den Wanst aufschneiden lassen will, um das PAKET auszuliefern!« Es war nicht so ungewöhnlich, dass männliche Madararui Kinder austrugen, die der Verbindung von Familien und Dynastien dienten, nicht aus Zuneigung gezeugt worden waren. Aber es machte ihn WÜTEND! »Und dann noch ein Meeresgetier!« DAS hatte ihn dieser eingebildete, aufgeblasene, eiskalte Hungerhaken direkt wissen lassen, mit der Selbstherrlichkeit eines Madararui, der ÜBER allen anderen stand! Nun, es REICHTE ihm! Und deshalb wollte er sehen, wer der hübsche, junge Mann war, der laut Aussagen seiner tüchtigen Empfangsdame diesen UNERTRÄGLICHEN Lackaffen begleitete. Arjen streckte spontan die Hand aus, stellte sich mit einem fröhlichen Lächeln vor. Auch wenn er innerlich gegen die massive Befürchtung ankämpfte, Georges habe sich mal wieder auf seine guten Manieren zurückgezogen. Denn das war die gemeinste Waffe, derer sich Georges bediente, wenn er verletzen wollte. Höflich, korrekt, distanziert... keinen Millimeter abweichend, um seinem Gegenüber vorzuführen, wie erbärmlich, unkultiviert und lächerlich der sich aufführte. Dr. Goodekirk erwiderte seinen Händedruck fest und gestikulierte Arjen, neben Georges Platz zu nehmen. Aus den Augenwinkeln erkannte der Arzt etwas Ungewöhnliches. Für einen Wimpernschlag nur flackerte Nervosität in den schwarz umflorten, tief in die Augenhöhlen eingesunkenen Augen. »Sieh mal einer an!«, rieb er sich innerlich die Hände, »na warte, Bürschchen, JETZT reden wir Klartext!« Ring frei für die erste Runde! "Ich nehme mal an, Sie haben keinen Kontrakt, oder? Immerhin erfolgte die Besamung mit einem simplen Kondom." Georges funkelte arktisch, aber bevor er Arjen über den Mund fahren konnte, zumindest Dr. Goodekirk nahm an, er würde so handeln, platzte der mit der Enthüllung der Begleitumstände dieser Schwangerschaft heraus. "Das war ein Unfall. Mehr oder weniger." Deutlich sichtbar lief Arjen rot an und warf einen hastigen Seitenblick auf Georges, der zur Statue erstarrt zu sein schien, dann neigte er sich ein wenig vor. "Ich habe leider die Gummis verwechselt und deshalb...", Arjen biss sich auf die Lippen. "In der Tat...", dehnte Dr. Goodekirk die Silben, lehnte sich in seinem Bürosessel ein Stück zurück, stützte die Ellenbogen auf den Armlehnen und legte seine Fingerspitzen zu einem Dreieck aneinander. "Das erklärt natürlich Einiges." "Erklärt WAS?", fauchte Georges feindselig. Reflexartig fasste Arjen nach Georges' Unterarm und wurde überrumpelt durch das minimale Zittern, das er spürte. "Nun gut", scheinbar aufgeräumt lehnte Dr. Goodekirk sich nach vorne, einen trügerisch jovialen Ausdruck im Gesicht, doch die blauen Augen hinter der Halbbrille funkelten eisig. "Kommen wir zur Sache. Sie sind in der dritten Woche, also ist eine Abtreibung noch möglich. Die Formalitäten können wir gleich klären..." Arjen hatte das Gefühl, man habe ihm ein Brett vor den Schädel geschlagen und ihm gleichzeitig eine Faust in den Solarplexus gerammt. Er ächzte und bekam nicht mal eine Silbe des Protests heraus. Georges neben ihm federte hoch, zwei unattraktive Adern pochten sichtlich in seinen Schläfen, "WAS REDEN SIE DENN DA?!" "Was ich rede?!", Dr. Goodekirk rüstete sich ebenfalls zum Kampf, und er war als Drachen-Schwergewicht durchaus ein ernstzunehmender Gegner, "warum sagen Sie es nicht gerade heraus?! Ihr gesamter Zustand ist indiskutabel, Ihre Einstellung erbärmlich! Es wundert mich sehr, dass die beiden Kleinen nicht längst zu toten ROSINEN zusammengeschrumpelt sind!" "Es geht ihnen GUT!", brüllte Georges mit überschlagender Stimme, "es ist ALLES in Ordnung mit ihnen!" "Reden Sie sich das ein, ja?!", auch Dr. Goodekirk stand nun, die Fäuste auf den Tisch gestützt, wich keinen Millimeter vor Georges, "dass sie nicht schon VERHUNGERT sind, verdanken sie bestimmt nicht IHNEN! Wären diese Kinder schon geboren, hätte ich Sie wegen absichtlicher Misshandlung von Schutzbefohlenen angezeigt! Sie WOLLEN diese Kinder doch gar nicht!" "Das ist NICHT WAHR!", Georges schrie, sprühte Speicheltröpfchen, "ich habe ALLES für sie getan!" Er beachtete Arjen gar nicht, der sich vergeblich bemühte, ihn wieder in den Sessel zu ziehen und von der Eskalation vollkommen überrascht wurde. "Haben Sie?! Bei Gott, haben Sie wirklich?!", Dr. Goodekirk ätzte laut dagegen, "Ihre Werte sind armselig! Ist es nicht so, dass Sie hungern oder kotzen?! Nennen Sie das ALLES?!" "Was SIE wollen", damit tippte er Georges tatsächlich vor die eingefallene Brust, "ist, Ihre Ruhe haben! Die da", -der anklagende Finger stauchte ungeniert in Georges' Bauch!-, "sind Ihnen bloß lästig! Dann treiben Sie sie verdammt noch mal ab, anstatt sie bei lebendigem Leib verhungern zu lassen!" "Tue ich nicht! Tue ich ÜBERHAUPT NICHT!", Georges klang nun wie ein aufgebrachtes Kind, "kommt NICHT in Frage!" "Sie sind ja bloß verwöhnt und egoistisch", verächtlich zog sich Dr. Goodekirk zurück, "alles ist ja SO ungerecht! Erst werden Sie angebumst, und nun haben Sie diese nervige Bagage am Hals!", verspottete er Georges. "Ich JAMMERE nicht herum!", ohne es zu wollen, bestätigte Georges Dr. Goodekirk und Arjen den Vorwurf zu seinem inneren Konflikt, "ich werde NICHT abtreiben!" "Sie WOLLEN die Kinder doch gar nicht!", Dr. Goodekirk gab nicht nach. Arjen wusste, dass er Georges absichtlich provozierte und eigentlich sollte er mit so einer simplen Taktik bei dem ausgekochten Georges keine Chance haben. Doch der schlotterte neben ihm förmlich vor explodierenden Emotionen, vollkommen blind für die Manöver, die ihn fernsteuerten. "Will ich wohl!!", brüllte Georges, kämpfte gegen einen Schluckauf vor Aufregung, "ich WILL sie!" Dr. Goodekirk musterte ihn schweigend, von oben nach unten. Und in die andere Richtung. Georges kochte, seine Glieder zitterten heftig, die Kiefer, die er aufeinander presste, um nicht herauszuschreien, schmerzten vor Anstrengung. Neben ihm kam Arjen endlich auf die Beine, legte ihm behutsam einen muskulösen, warmen Arm um die verspannten Schultern. Da Arjen nicht wusste, ob er seiner Stimme trauen konnte, dirigierte er Georges durch pure Kraft wieder in den Sessel. Dr. Goodekirk hatte sich bereits gemächlich niedergelassen. Seine Miene war wieder unbewegt, als habe der heftige Schlagabtausch gar nicht stattgefunden. "Nun", er sortierte kühl einige Dokumente zu einem säuberlichen Stapel, "wenn Sie sich diese Albernheiten gespart hätten, wäre uns keine kostbare Zeit verlorengegangen." Georges ballte unter der Tischplatte die Fäuste, bis die Knöchel knirschten. Aber Dr. Goodekirk ließ ihn nicht vom Haken, "es ist ein Wunder, dass keiner der beiden Kleinen gestorben ist. Wir haben nur noch sechs Wochen", funkelte er frostig, "um ihnen eine veritable Chance auf ein Leben zu geben." Ein Finger deutete unmanierlich auf Georges, "und deshalb werden Sie JEDES MAL, wenn Sie das Gefühl haben, sich beklagen zu müssen, LAUT sagen, dass Sie diese Kinder wollen. Und Sie werden, OHNE HERUMGEZICKE, den Anweisungen Ihres behandelnden Arztes Folge leisten. Verstanden?!" "Verstanden", krächzte Georges knapp. Arjen konnte einen ungläubigen Blick auf seinen Gefährten nicht vermeiden. Er hatte felsenfest mit einer wuchtigen Replik gerechnet, denn Georges tat GRUNDSÄTZLICH nur, was er selbst wollte. Direktionsrecht genoss bei ihm NIEMAND. "Dann warten Sie jetzt draußen", entließ Dr. Goodekirk ihn kurzangebunden, "am Empfang erhalten Sie eine Terminliste und weitere Anweisungen." Als Arjen sich ebenfalls erhob, packte Dr. Goodekirk über den Tisch hinweg seinen Arm und bremste ihn, "Sie bleiben noch." Widerwillig gehorchte Arjen, denn er fürchtete, dass Georges ohne seine Anwesenheit möglicherweise einen Koller am Empfang austoben würde. Nun, zumindest die MÖGLICHKEIT bestand... bei der Großwetterlage! Dr. Goodekirk seufzte, schob die Halbbrille auf seinen Kopf und massierte sich die Nasenwurzel. Arjen sah sich zu einer Erklärung genötigt, "wirklich, es ist nicht Georges' Schuld! Es ging ihm lange nicht gut und dass er dann schwanger wurde... das hab ich allein verbockt!" Er rieb sich beschämt einen nackten Oberarm. "Georges ist wirklich sonst ganz anders", arbeitete er an einer Verteidigung, doch Dr.Goodekirk winkte ihm ab. "Ist Ihnen schon in den Sinn gekommen, wie unwahrscheinlich es ist, ein Meeresgetier mit einem präparierten Kondom zu schwängern?", bemerkte er gelassen. Ihm gegenüber schrumpfte Arjen leicht ein. Dr. Goodekirk lächelte nachsichtig, "ich unterstelle Ihnen keinen bösen Willen, junger Mann. Tatsächlich sind Sie Mitwirkender an einem kleinen Wunder." Seine Miene verdüsterte sich. "Ich werde mich nicht mit langen Reden aufhalten. Im Gegensatz zu Ihrem kotzbrockigen Gefährten sind Sie vermutlich nicht mit den Fakten vertraut." Bevor Arjen sich energisch zur Verteidigung aufschwingen konnte, fuhr Dr. Goodekirk erbarmungslos und betont sachlich fort. "Schwangerschaften von männlichen Meeresgetieren sind äußerst selten, selbst wenn sie geplant sind. Kommt es wirklich mal zu einer Empfängnis, ist mit zahlreichen Komplikationen zu rechnen." "Und", er fixierte Arjens mittlerweile eingeschüchterten Blick auf sich, "die Sterblichkeitsrate ist unübertroffen. Für ALLE Beteiligten." Die Aussage drohte in der Luft über ihnen wie ein Menetekel. Arjen fühlte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Alles schien unwirklich und für einen Augenblick glaubte er, ohnmächtig zu werden. Dr. Goodekirk sezierte ihn mit seinen Blicken förmlich, aber Arjen konnte sich nicht verstellen. Blankes Entsetzen prägte Linien in seine markanten Züge. "Aha", erlöste ihn Dr. Goodekirk schließlich, erhob sich gemächlich, um aus einem kleinen Wasserspender fürsorglich eine Portion zu ziehen und Arjen in die gefühllosen Finger zu drücken. "Schlucken Sie erst mal und hören Sie mir dabei aufmerksam zu." Mangels Alternativen und aufgrund schockgefrorener Gehirnzellen leistete Arjen der Aufforderung artig Folge. "Nehmen Sie sich für die nächsten sieben Wochen nichts vor. Beantragen Sie unbezahlten Urlaub. Kündigen Sie, wenn es nicht anders geht", Dr. Goodekirk präsidierte konzentriert in seinem Bürosessel. "Mit Disziplin, Anstrengung und VIEL GLÜCK", betonte er, "können wir in sechs Wochen die Voraussetzungen schaffen, dass zumindest alle drei die Entbindung überleben." "...und danach?", krächzte Arjen zittrig. Mitleidig betrachtete Dr. Goodekirk ihn. Er seufzte leise. "Meeresgetiere sind nach allen Erkenntnissen die Madararui, die am striktesten an ihrem natürlichen Status festhalten. Geschlecht, Disposition, alles bis hinunter auf die zelluläre Ebene ist einprogrammiert. Nun stellen Sie sich vor, welche Auswirkungen es hat, wenn innerhalb von neun Wochen aus einem Männchen ein Weibchen wird. ALLES muss umgekrempelt werden, vollkommen anders programmiert." Arjen wirkte noch käsiger als zuvor. "Das ist wie eine Feder", Dr. Goodekirk las ein Gummiband von seinem Schreibtisch-Butler auf, klemmte eine Büroklammer ein und legte zahlreiche Umdrehungen hin, bis das Gummiband vor Spannung zitterte. "Und dann wird nach neun Wochen alles wieder umgekehrt!" Mit einem unwirklich lauten Schnalzen federte das Gummiband wild zurück in seine entspannte Ausgangsposition. Als Dr. Goodekirk seine Utensilien wieder verstaut hatte, war es Arjen gelungen, seine Fingernägel aus dem Stoff seiner Jeans zu befreien. "Georges weiß das, oder?", wisperte er kaum hörbar. Ihm war übel vor Angst. "Davon gehe ich mit Sicherheit aus", Dr. Goodekirk hielt sich nicht mit Illusionen auf. "Sagen Sie mir, junger Mann, wollen SIE diese Kinder?" Unwillkürlich entschlüpfte Arjen ein gequältes Auflachen. Mühsam erklärte er sich. "Deshalb... deshalb also... verdammt, Georges", murmelte er erstickt, hieb mit einer Faust auf seinen Oberschenkel und wischte sich mit der anderen Hand über die Augen. "Er hat mich SCHWÖREN lassen, dass ich unsere Kinder beschütze. Wollte gar nicht lockerlassen..." Dr. Goodekirk entnahm einer Schublade eine hübsch verzierte Dose, drückte auf den winzigen Mechanismus, der den Verschluss auslöste und bot Arjen den Inhalt an. Verführerisch duftende, offenkundig flüssig gefüllte Bonbons. Arjen wählte ein Exemplar aus und bedankte sich leise. "Ihre Aufgabe", Dr. Goodekirk verstaute sein Kleinod wieder, "wird darin bestehen, alle drei zu unterstützen. Seien Sie unnachgiebig, wenn Ihr Gefährte einzuknicken droht. Werden Sie der böse Cop." Ohne Humor studierte er Arjens bleiche Züge, "treffen Sie alle Vorbereitungen, beziehen Sie die Verwandtschaft und Freunde mit ein. Seien Sie ein Tyrann, ein Autokrat, ein unerträglicher Bestimmer!" Nun musste Arjen doch lächeln, was Dr. Goodekirk zweifellos zu erreichen versucht hatte. Der Arzt erhob sich, streckte Arjen die Hand hin. Der ergriff sie und drückte dankbar zu. "Ich mache Ihnen nichts vor", Dr. Goodekirk führte Arjen zur Tür, "das wird härter und fordernder als alles in Ihrem Leben. Es gibt keine Garantien für ein Happyend." Arjen presste die Lippen zusammen. SO VIEL hatte er nun auch begriffen. "Bereiten Sie sich auf ALLES vor", Dr. Goodekirk nickte knapp, "denn, glauben Sie mir, junger Mann, ALLES unternommen zu haben, IST ein gewisser Trost." Ein Schatten huschte über seine Züge. "Das sage ich Ihnen aus der Erfahrung zweier Fehlgeburten und dreier wundervoller Kinder." ~~~~~# Arjen fühlte sich noch immer wacklig auf den Beinen, als er Georges am Empfang abholte. Der hatte einen ausgedruckten Terminplan akkurat gefaltet und einen frisch gebundenen Katalog von Anweisungen in eine ausgebeulte Tasche seiner Strickjacke deponiert und wartete mit streng kontrollierten Gesichtszügen. Schweigend verließen sie die Klinik, gingen langsam nebeneinander, den Blick auf das Pflaster gesenkt. Hinter den Visieren ihrer Sonnenbrillen verschanzt. Arjen drehte das fruchtige Bonbon in seinem Mund hin und her, von einer Backe zur anderen, gewann langsam wieder sein inneres Gleichgewicht. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass Georges, vermutlich gleich nach der Entdeckung, dass er schwanger war, sämtliche Informationen, deren er habhaft werden konnte, gesammelt hatte. Und längst wusste, dass er auf einer Rasierklinge spazierte. »Aber warum...«, Arjen musste sich anhalten, nicht versehentlich das Bonbon in die falsche Gurgel zu würgen, »WARUM hat er mich nicht sofort angerufen?! Wenn Huub mich nicht gebeten hätte...!!« Mannhaft kämpfte er gegen den beinahe überwältigenden Drang an, stehen zu bleiben, Georges bei den abgemagerten Oberarmen zu packen und ihn so lange durchzuschütteln, bis er ENDLICH eine Erklärung für dessen Verhalten bekam. Neben ihm winkte Georges ein Taxi heran. Seine maskenhafte Miene ließ keine Rückschlüsse zu, warum er nicht mehr laufen wollte. Aber Arjen schickte sich wortlos drein. ~~~~~# Kaum hatte er die Schwelle seines Heims, seiner Festung überschritten, kämpfte Georges sich bis zur Spüle und erbrach sich heftig. Krämpfe schüttelten ihn durch, der ätzende Speisebrei reizte seine Augen trotz der Sonnenbrille. Und es wollte kein Ende nehmen! Wütend und hilflos grub er die Finger in die Umfassung. Arjen hatte inzwischen das erste Geschoss in der betäubten Geruhsamkeit eines schockierten Unfallopfers erklommen, tränkte im Badezimmer ein Handtuch und kehrte zu Georges zurück. Ohne viel Federlesens packte er ihn mit einer Hand an der klammen Stirn, legte die andere Hand unter Georges' Kiefer und hielt ihm den Mund zu. Die Notwendigkeit, Luft zu schöpfen, besiegte den Schluckreflex, das Würgen ließ nach. Mit dem nassen Handtuch wischte er Georges' besudeltes Gesicht ab, ignorierte den beißenden Gestank aus der Spüle. Kaum dass sein Kiefer wieder freigegeben worden war, krächzte Georges, "es ist KEINE Absicht!" Es war ja nicht so, dass er dauernd kotzen WOLLTE! Oder dass es ihm kommodierte, dass seine zerrütteten Nerven gegen seinen Magen rebellierten! Arjen kommentierte seine Aussage nicht, sondern zog ihn fest in seine Arme. Hielt ihn eng umschlungen, als wollte er ihn niemals wieder loslassen. Unbehaglich klopfte Georges ihm sanft auf den breiten Rücken, wusste kaum, wie er reagieren sollte. "Warum", Arjen wisperte leise durch Georges' klamme Locken, "warum hast du mich nicht zu dir geholt? Auch wenn ich dir das angetan habe..." Heftig wurde sein Kopf in den Nacken gerissen, als Georges mehr als energisch den semmelblonden Zopf Richtung Fußboden zerrte. "Verdammt noch mal, Arje, sei kein Idiot! Du warst schusselig und ich", Georges schnaubte, "ich hab auch auf nichts geachtet, na schön! Ist eben passiert!" "Aber warum hast du mich nicht zu dir geholt?!", Arjen gab nicht nach, wollte alles erkunden. Georges blickte zur Seite, leckte sich über die Lippen, "was sollte ich denn machen? Du hast den Kindern dein Wort gegeben, und SO unfähig bin ich ja auch nicht, dass ich nicht klar käme..." "Darum geht's nicht!", brauste Arjen gekränkt auf, "WANN wolltest du mich denn informieren?! Oder gar nicht, wenn..." Bevor er die provozierende Unterstellung aussprechen konnte, hatte Georges ihn von sich gestoßen und ihm eine Ohrfeige versetzt. "WAG es ja nicht, mir zu unterstellen, ich hätte auch nur EINEN Moment daran gedacht, unsere Kinder abzutreiben!", zischte er aufgebracht. Mit entflammter Wange schoss Arjen auf ihn zu, packte ihn an den Oberarmen und schimpfte heftig zurück, "was hat dich dann aufgehalten, hm?! Na los, klär mich auf, Georges!" "Ich war noch nicht so weit, verflucht noch mal!" Georges brüllte nun enragiert, versuchte vergeblich, sich aus Arjens eisernem Griff zu winden, "was denkst du denn, verdammt?! Ich kann mich nicht mal erinnern, wie ich hierher gekommen bin! Willst du mich mal HERUMJAMMERN hören, ja?!" Ohne Arjens Replik abzuwarten, legte Georges nun erst richtig los, "irgendwie bin ich wieder hier, mir geht's noch beschissener als zuvor! Ständig belagern mich irgendwelche Leute, die von mir all ihre bescheuerten Probleme gelöst haben wollen und DANN", er holte zum ersten Mal wieder Luft, "muss ich feststellen, dass ich TRÄCHTIG bin! Als wäre alles nicht schon katastrophal genug, ist es mir gelungen, mich anbumsen zu lassen! Was denkst du wohl, WIE meine letzten drei Wochen gelaufen sind, hm?!" "Trotzdem hättest du anrufen und mich zusammenscheißen können!", hielt Arjen ihm vor, "das machst du sonst auch immer!" "Ach ja?! TOLLE IDEE!", brauste Georges auf, das Gesicht zu einer wenig attraktiven Grimasse verzogen, "und dann, du Genie?! Wolltest du mal eben in deine Zeitmaschine steigen und es ungeschehen machen, oder wie?! Dich zur Sau zu machen, das hätte mir ja UNHEIMLICH geholfen!" Seine bitterböse Antwort ließ Arjen sichtlich zusammenschrumpfen. Deshalb gab er Georges auch frei, der sich demonstrativ die eingequetschten Oberarme rieb. "Ist das alles?", Arjen lachte unglücklich auf, "bin ich immer nur der doofe Tölpel für dich? Der dich ständig in Schlamassel verwickelt?" Georges wirkte unbehaglich, schien sich nicht entscheiden zu können, ob er erneut blaffen oder sich auf versöhnliche Töne verlegen sollte. "...verstehe", würgte Arjen verzerrt hervor, "ich kann dir kaum widersprechen." Selbstverächtlich ergänzte er, "schließlich bin ich auch nur einer von irgendwelchen Leuten, die von dir ihre bescheuerten Probleme gelöst haben wollen." Er wandte sich ab, unschlüssig, ob es ihm helfen würde, zu einem langen, SEHR langen Spaziergang aufzubrechen. Oder ob er sich lieber irgendwo verkriechen sollte. Ein Kissen traf ihn am Hinterkopf. "Du ungehobelter Einfaltspinsel!", schrie Georges hinter ihm, "verdammt, du treibst mich noch in den Wahnsinn! Willst du etwa kneifen?! Komm her, damit ich dir den Arsch versohlen kann!" Arjen machte tatsächlich kehrt. Baute sich vor Georges auf, der ihn zornblitzend anfunkelte, die Hände zu Fäusten geballt. "Da siehst du mal, was du mir für eine Hilfe bist!", ging Georges sofort wieder verbal auf ihn los, "wenn's kritisch wird, schleichst du von hinnen! Na, das hätte mir noch gefehlt, dass ich bei all meinen verdammten Schwierigkeiten dir auch noch das Händchen halten müsste! Du bist so rücksichtslos und stoffelig und spontan idiotisch und..." Er konnte die Tirade nicht fortsetzen, da Arjen ihn in seinen Armen einkerkerte, vom Boden lupfte und ungeniert seine Zunge zwischen Georges' zeternde Lippen dirigierte. Nur zu gut erinnerte Arjen sich daran, dass Georges kein trainierter Küsser war. Nicht mal ein geübter Knutscher. Die Unsicherheit war förmlich greifbar. "Georges", wisperte er schließlich in die wirren Locken, hielt ihn immer noch über dem Boden fest. "Arje, du Kamel", antwortete der ihm ebenfalls leise, "wehe, wenn du mich im Stich lässt! Ich reiß dir deinen hässlichen Schädel ab, hörst du?!" Arjen lachte unterdrückt, ließ Georges wieder behutsam herunter, wischte sich über die Augen. Na gut, blieb er eben ein unnützer Idiot... aber wenigstens hatte Georges ihn nicht einfach gehen lassen! "Tut mir ehrlich leid", bekannte er, wischte durch Georges' zerdrückte Locken, "dass ich so ein Idiot bin." Georges schnaubte, "du kannst so viel Idiot sein, wie du willst, aber ich RATE dir, mich bloß nicht sitzen zu lassen, klar?! Sonst bist du höchstpersönlich Ehrengast beim Armageddon!" Diese Drohungen waren Arjen so wohlbekannt, dass sich ein breites Grinsen in seinem Gesicht einnistete. "Schätze, du heiratest mich trotzdem, oder?", forderte er frech sein Glück heraus. "Irgendwer muss ja", knurrte Georges und wandte sich angeekelt der Spüle zu. "Verdammt, was hast du mich heute Morgen essen lassen?!" "Vorher sah's wesentlich appetitlicher aus", bemerkte Arjen spitzbübisch, "komm, lass mich das wegmachen." "Phhh!", Georges bemühte sich vergeblich, seine zahlreichen Ärmel hochzukrempeln, "du willst bloß deine Schandtaten verbergen!" Aber er schüttelte Arjen nicht ab, der sich von hinten an ihn schmiegte, die Arme vor Georges' eingesunkenem Brustkorb verschränkte. "Bitte", raunte Arjen sanft, "sei nicht böse auf mich, Georges. Verzeih mir, dass ich ein notorischer Idiot bin." Georges stützte sich an der Einfassung der Spüle ab, ließ für einen Moment der Schwäche die Lider sinken. Der Geruch des Erbrochenen und Arjens ungefilterte Präsenz weichten seine mühsam zusammengehaltenen, letzten Reserven gnadenlos auf. "Ich bin dir nicht böse", seufzte er kaum hörbar. Und das entsprach den Tatsachen. Er KONNTE Arjen gar nicht böse sein. Seit er diesem komischen Vogel zum ersten Mal begegnet war, hatte er immer genau nachvollziehen können, was Arjen zu seinen Aktionen bewegte. Selbstredend glaubte Georges nicht an das SCHICKSAL. Oder irgendwelche mysteriösen Vorherbestimmungen. Doch ihm war mehr als bewusst, dass sie beide eine besondere Verbindung zueinander hatten. Und bei keinem anderen als Arjen hätte er sich trotz seiner erschreckenden körperlichen Verfassung aufgehalten, sondern wäre schnurstracks in seine Festung geflohen, um sich dort zu verbarrikadieren. »Von anderen Dingen GANZ ZU SCHWEIGEN«, soufflierte schnaufend sein unerbittliches Gewissen süffisant. "Lass mich saubermachen, ja?", behutsam dirigierte Arjen ihn weg von der Spüle. Wem sonst hätte er das gestattet? Oder die anderen Dinge, an die er sich nicht erinnern konnte, die aber zweifellos geschehen sein mussten? Arjen führte ihn zum Sofa, streifte ihm die Schuhe von den Wollsocken und arrangierte ihn längs, um eine leichte Decke über Georges auszubreiten. "Ruh dich einen Moment aus, in Ordnung?", ein sanfter Kuss landete leicht auf Georges' Stirn. Bevor Arjen sich tatendurstig abwenden konnte, hatte Georges ihn am Gürtel der Jeans erwischt. Besorgt drehte Arjen sich wieder zu ihm herum. "Ich bin dir nicht böse, Arje", versicherte Georges, halb trotzig, halb verlegen, "echt nicht!" "..danke", strahlte Arjen, erkennbar erleichtert, "bedeutet das, du willst mich zu DEINEM Idioten machen?" Georges knurrte und kniff Arjen in den erreichbaren Oberschenkel, doch es musste bezweifelt werden, dass die Muskeln sich seinem Willen beugten, "bist du das nicht längst?! Müsste mich sehr irren, wenn's anders wär!" Grollend rollte er sich herum, um Arjen den Rücken zu präsentieren, der ihm amüsiert die Decke zurecht zupfte. "Da hast du vollkommen recht", antwortete er schnurrend, "ich höre es nur immer wieder gern." Zu seinem Glück schätzte Georges das verbliebene Kissen unter sein Kopf stärker als die Genugtuung, es Arjen ins breite Kreuz zu schleudern. ~~~~~# Als Arjen die Aufräum- und Reinigungsarbeiten beendet hatte, stellte er fest, dass der stets misstrauische, argwöhnische und alerte Georges tatsächlich auf dem Sofa eingeschlafen war. Mutmaßlich vor Erschöpfung. Arjen kniete sich neben das Sofa, fischte mit spitzen Fingern sehr vorsichtig verklebte Locken aus Georges' Gesicht. Es schien ihm, als wären zumindest einige der Linien wieder verschwunden. Er ließ sich zurück auf die Hacken sinken und betrachtete seinen besten Freund. Spürte, wie sich ihm langsam die Kehle zuschnürte. Wenn Georges etwas zustieße... Arjen ballte hilflos die Fäuste. Schon seit Geburt schien 'Orkan Georges' ein Einzelkämpfer zu sein. Einer, der sich immer nur auf sich selbst verließ. Für alle anderen die letzte Rettung war. Einer, der es sich nicht gestattete, vor anderen schwach zu sein. Angriffsfläche zu bieten. »Und darum...!« Ja, aus diesem Grund war es ihm nicht möglich gewesen, wie jeder andere SOFORT den maßgeblichen Beteiligten zu sich zu zitieren. Ihn direkt mit Vorwürfen zu überhäufen oder zu verprügeln. »Tja, vermutlich musste er noch sein Testament aufsetzen», ätzte Arjens Gewissen unbarmherzig. Denn es konnte wohl kaum bezweifelt werden, dass Georges' verzweifeltes Beharren auf den Eid darauf gründete, seinen Nachwuchs zu beschützen. Weil die Möglichkeit bestand, dass er selbst nicht mehr lebte. Ungehindert ließ Arjen die Tränen über sein Gesicht perlen, auf Top und Jeans tropfen. Unbestritten WAR es seine Schuld. Und er gestattete sich keine mildernden Umstände, wie Georges sie ihm zugestand. Von einem bereits kranken Mann ohne JEDE persönliche Erfahrung konnte man schlichtweg nicht erwarten, dass er eine solche ESELEI vermutete! Gerade EIN MAL hatte er die Zügel schleifen lassen, nun gut, tatsächlich waren nach SEINER detaillierten Erinnerung drei Kondome von ihm aufgezogen worden, und prompt hing nun über Georges ein TODESURTEIL! "...klasse, Arjen", verspottete er sich halb erstickt. Ja, SO wünschte sich Georges bestimmt sein erstes Mal! Mit den Fingerspitzen touchierte er Georges' schwarze Locken, schniefte ungeniert und flüsterte beschwörend, "du darfst mich nicht allein lassen, Georges! Bitte, lass mich bloß nicht zurück!" Als er abgelenkt in der hinteren Hosentasche mit der freien Hand nach einem Papiertaschentuch fahndete, stemmte Georges sich überraschend auf die Ellen und wandte sich ihm zu. "He", knurrte er und lupfte missbilligend eine Augenbraue, "wenn du mir Flecken auf den Teppich heulst, verdresch ich dich!" Arjen entwich ein schniefend-verstopftes Prusten. Georges, der sich aufgesetzt hatte, musterte ihn mit einem durchaus ungewohnten Gesichtsausdruck. Von nervöser Bekümmerung. "Ich will nicht, dass du hier rumflennst!", versetzte er grob und zupfte energisch an Arjens semmelblondem Kinnbart. Obwohl Arjen sich eines Grinsens nicht enthalten konnte, perlten immer noch Tränen aus seinen Augenwinkeln. Er war simpel durcheinander, mit seinen aufgewühlten Gefühlen zu Fuß. Selbstredend wusste er, dass Georges Heulerei verabscheute, egal, wer der Rasensprenger war, und üblicherweise mit zynischen Gemeinheiten reagierte. "Kannst du nicht hören?!", beklagte sich Georges, "du suchst wohl Streit, was?!" Mit Ellen und Handrücken bemühte sich Arjen, sein beanstandetes Gebaren zu verbergen. "Werd jetzt nicht hysterisch!", fauchte Georges ihn an, die tiefliegenden Augen zu Schlitzen verengt, "sonst spuck ich in ein Taschentuch und polier dir damit die Visage!" Die finstere Drohung entlockte Arjen ein Kichern, der sich trotz verstopfter Nase um Schadensbegrenzung bemühte. Nicht sonderlich erfolgreich. "Herrje!", Georges warf die dünnen Arme nach oben, "du treibst mich echt noch die Wände hoch!" Und damit zog er sich Arjens Kopf energisch vor den ausgemergelten Körper, streichelte grob über die breiten Schultern, verhedderte seine Finger im semmelblonden Zopf. "Hab dir doch gesagt, dass ich dir nicht böse bin!", knurrte er ärgerlich, "ehrlich, wenn dich andere jetzt sehen könnten! Von wegen Wikinger! Höchstens ne Heulboje!" Arjen lachte erstickt, rieb seine nassen Wangen an der ausgeleierten Strickjacke trocken, atmete tief durch. Soweit es die verstopfte Nase zuließ. "Was haben die noch mal bei Nebel gerufen?" Georges klopfte ihm beiläufig auf die Rücken, mit einer gewissen Ungeduld. Prompt legte Arjen den Kopf in den Nacken und röhrte, "OOOOODIIIIN! OOOOODIIIIN!" Georges bedeckte seine kostbaren Ohrmuscheln mit den Handflächen und brummte, "na gut, Nebelhorn lasse ich gelten." Dann schnalzte er missbilligend mit der Zunge, "grässlich! Dein Makeup ist total versaut. Geh dich waschen!" Ehe er reagieren konnte, hatte Arjen die Strickjacke gepackt und rubbelte sein Gesicht ab, als benutze er ein Handtuch. Grinste Georges dann herausfordernd an. "Ferkel! Impertinente Sauerei!", Georges verpasste ihm eine Kopfnuss. "Also liebst du mich nur wegen meines blendenden Aussehens!", jammerte Arjen, doch sein Feixen verriet ihn. "Pah!", Georges kämpfte sich aus der Decke auf die Beine, "sagen wir lieber, ich habe mich in langen Jahren an dein Ponem gewöhnt", säuselte er boshaft, "aber deine Manieren...!" Arjen federte mühelos hoch und fing Georges ein, der argwöhnisch auf Distanz zu gehen versucht hatte. Er hob ihn hoch und hielt ihn fest, blickte in die so vertrauten und so erschöpften, schwarzen Augen. "Ich liebe dich", verkündete Arjen feierlich. Um dann leiser zu ergänzen, "was auch immer Idiotisches ich tue... ich liebe dich." Damit ließ er Georges langsam herunter, die Arme locker um dessen erschreckend magere Gestalt geschlungen. Georges seufzte theatralisch. "Du weißt schon, dass ich deine Ohren sehen kann?", bemerkte er geplagt. Und meinte damit, wie Arjen wohl wusste, die kleinen Kodiak-Ohren. Mit anderen Worten, seine wahre Seele offenbarte sich vor Georges. "Gefallen sie dir nicht?", Arjen lehnte die Stirn an Georges'. "DAS habe ich nicht behauptet...", bevor Georges weitere Vorträge zum Thema Manieren halten konnte, nutzte Arjen eine Atempause, um Georges zu küssen. Vorsichtig, nicht zu forsch, eher zärtlich als leidenschaftlich. Eine strafende Hand drehte schmerzhaft sein Ohr, "wir müssen DRINGEND", Georges blickte betont finster, "an deiner Einstellung arbeiten." Arjen winselte übertrieben und jammerte, "autsch, autsch, autsch!" Georges gab das Ohr frei, blickte streng, "merk dir das Gefühl! Denn wenn ich noch EIN MAL", zischte er, "von dir eine doofe Entschuldigung hören muss, prügle ich dich windelweich! Steh gefälligst wie ein richtiger Bär zu deiner Erstbesteigung!" DAS war selbst für Orkan Georges' Verhältnisse erstaunlich zotig. "In Ordnung", versprach Arjen gefällig, dippte einen Kuss auf Georges' Nasenspitze. "Es gibt NICHTS zu bereuen", fauchte Georges giftig, "auch wenn ich mich an nichts erinnern kann, klar?!" Dieses Versprechen fiel Arjen deutlich schwerer. Aber er gab es, weil Georges' zwingender Blick kein Auskneifen zuließ. "Also, was jetzt?!", aggressiv quetschte Georges Arjens Wangen zwischen seine kalten Hände, "wuppen wir das jetzt zusammen, oder wie?!" "Tun wir!", bekräftigte Arjen und schluckte. Denn er konnte hinter Georges' forschem Auftritt durchaus die Nervosität spüren. Er durfte ihn noch einige lange Augenblicke in den Armen halten, dann löste Georges sich energisch, klatschte Arjen chauvinistisch auf eine knackige Pobacke und kommandierte, "wolltest du dich nicht ums Essen kümmern?" "Aye Aye!", salutierte Arjen zackig, "irgendwelche Wünsche?" Georges zuckte mit den Achseln, Richtung Treppe unterwegs, "passend zur Spüle?" Erstaunlicherweise entwischte er dem rächenden Sofakissen. ~~~~~# Kapitel 12 - Annäherung Georges' empfindlicher Magen ließ kein Grillen zu, deshalb gab es Salat und Obst am Abend, als sie gemeinsam mit Huub und Marguerite auf der kleinen Veranda saßen. Zu Arjens Überraschung erhob Georges keine Einwände dagegen, dass die Anweisungen, die Dr. Goodekirk erteilt hatte, diskutiert wurden. Und dass man anschließend die Pläne für eine formelle Vermählung wälzte. Arjen legte den Arm um Georges' hochgezogene Schultern, lehnte ihn sanft an sich. Er konnte die Erschöpfung in minimalen Linien um Georges' Mundwinkel erkennen. Taktvoll verabschiedeten sich ihre Nachbarn bald darauf. Arjen führte Georges hinein und platzierte ihn auf dem Sofa, um mit einem Blutdruckmessgerät zu hantieren. Eine Auflage von Dr. Goodekirk bestand darin, dass morgens und abends Blutdruck und Gewicht gemessen werden sollte. Außerdem hatte Georges in einem kleinen Journal die Nahrungsmittel aufzuzeichnen, die er konsumierte. "Was für ein Umstand!", schnaubte Georges, hinderte Arjen jedoch nicht daran, sich eifrig den ärztlichen Anweisungen zu beugen. Der kniete vor ihm, um das Display der Personenwaage, die man der Apotheke entliehen hatte, abzulesen. "Ist ja nur für ein Weilchen", bemühte er sich, Georges' Unwillen zu bauchpinseln. "Hrmpf!", knurrte der gnädig und tätschelte Arjens semmelblonden Schopf. Es WIRKTE so, als wolle er ein Schoßhündchen loben, aber Arjen wusste Georges' brüske Gesten besser einzuschätzen. Georges WUSSTE durchaus, wie man körperliche Nähe gewährte. Es verhielt sich lediglich dergestalt, dass er bisher kein Beteiligter gewesen war. Jemand, der alle auf Distanz hielt, musste sich wohl mit einiger Anstrengung erarbeiten, was jedes Kind von seinen fürsorglichen Eltern lernte. Und nach Georges' eigenen Aussagen hatte sich bisher auch keine Notwendigkeit gezeigt, dieses Versäumnis nachzuholen! »Bloß nicht bedrängen!«, ermahnte sich Arjen, der gern schmuste und kuschelte. Wenn er sich geschickt genug anstellte, würde er Georges möglicherweise davon überzeugen können, dass man intime Nähe vielleicht nicht überlebenswichtig BRAUCHTE, aber es doch sehr angenehm sein konnte. Er stieß folglich ein neckendes Kläffen aus, hängte sich die Zunge aus dem Hals und hechelte hingebungsvoll. "Döspaddel", tadelte Georges, unterdrückte ein Gähnen. "Bei Fuß und aufwärts", kommandierte er Arjen, stapfte zur Treppe. Arjen ließ Georges wohlerzogen den Vortritt im Badezimmer, lederte sich anschließend ebenfalls mit einem feuchten Waschlappen ab und schlüpfte in eine verblichene Bermuda. Nur ein dezenter Schimmer durch die zugeklappten Holzfensterläden leitete ihn zum Bett. Er schlüpfte unter die dünne Decke, drehte sich dann auf die Seite, um Georges' Silhouette zu betrachten. Dann stützte er sich auf, beugte sich über Georges und küsste ihn sanft auf die Lippen. "Wieso schläfst du noch nicht?", knurrte Georges. "Weil ich DEIN Idiot bin", betonte Arjen mit diabolischem Grinsen, das glücklicherweise die Dunkelheit verbarg. "Und weil ich ohne Gute Nacht-Kuss nicht einschlafen kann." "...meine Güte", schnaubte Georges. "Kein Grund, sich zu beschweren", tollkühn klemmte Arjen Georges' Nasenspitze zwischen Mittel- und noch nacktem Ringfinger ein, "DU weißt doch, dass ich ein Teddy bin. Und die wollen geknuddelt werden." "Ha!", näselte Georges, "legst dir auch alles zurecht, wie's dir passt!" Aber das blieb die einzige Replik, obwohl sich Arjen an seinen Rücken schmiegte und behaglich löffelte. ~~~~~# Am nächsten Morgen ließ sich Georges dazu überreden, mit Arjen auszugehen. Arjen wollte nämlich herausfinden, ob es nicht doch möglich war, Georges' Appetit anzuregen. Indem man zum Beispiel eruierte, wie der Wochenmarkt mit seinen verlockenden Angeboten und kleinen Ständen sich mit Georges' empfindlichem Magen vertrug. Sie boten einen durchaus merkwürdigen Anblick, dieses seltsame Pärchen. Arjen, der semmelblonde Wikinger, spazierte in abgesäbelten Jeans und einem sehr losen, nur marginal geknöpften Seersuckerhemd, eine Baseballkappe zwecks Sonnenschutz über die futuristische Sonnenbrille geschraubt. Georges trug wie venezianische Gondeln gewohnt schwarz, mehrere Schichten, die aufgeplustert wirkten, dazu noch einen Borsalino. Einen großen Korb schwenkend bahnte sich Arjen gelassen den Weg, spähte neugierig in Töpfe, Kisten, Bütten, Tüten, Schütten und Schachteln. Georges wirkte unbeteiligt, maskierte sich hinter einer gelangweilten Miene. Bisher war das mit Minzöl beträufelte Taschentuch noch nicht zum Einsatz gekommen, gleichbedeutend mit einer nervlichen Entlastung. NOCH ging es Georges' Magen gut. Arjen erstand Obst, bemerkte dann, dass Georges verdächtig nonchalant neben einer kleinen, fahrbaren Bude lehnte. Schmunzelnd schlenderte er zu seinem Gefährten und inspizierte das Angebot. "Oh, Heringssalat? Und wie viele unterschiedliche Marinaden!" "Verblüffend", murmelte Georges, guckte betont in die Luft und wedelte sich mit einer bleichen Hand um den Kopf. "Hör mal", vertraulich neigte sich Arjen zu Georges, "wartest du am Brunnen auf mich? Bin gleich fertig." Ohne Diskussion entfernte sich Georges. Arjen schmunzelte und wandte sich der drallen Verkäuferin zu, die ihm sofort die Qualitäten ihrer speziellen Marinaden anpries. Da Arjen nicht wusste, was Georges kommodierte, wählte er nach eigenem Geschmack und verstaute grinsend die Plastikschalen im vollen Korb. "Fehlen noch Essiggurken und Schokolade", spöttelte er und gesellte sich zu Georges. "Kartoffeln", empfing der ihn energisch, "ich möchte Salzkartoffeln essen. Ich MAG Salzkartoffeln." Angesichts der belehrenden Lektionen, die Georges ihm seit ihrer ersten Begegnung widmete, wann immer es um Arjens unbekümmerten Konsum nicht ganz so gesundheitsförderlicher Speisen ging, nickte Arjen artig. Salzkartoffeln waren über jede Kritik erhaben. "Ich habe dahinten einen rollenden Stand gesehen", Arjen dirigierte Georges zwischen den Blumenständen hindurch, die traditionell am Brunnen stationiert waren. Unter Georges' kritischem Blick wählte er die zu adoptierenden Kartoffeln aus und staunte nicht schlecht, als Georges selbst den robusten Pappsack schnappte und vor der Brust umschlungen transportierte. Eigentlich waren seine Einkaufspläne noch nicht abgeschlossen, doch Arjen hielt es für angezeigt, Georges eine Pause zu gönnen, als sie langsam den Heimweg antraten. Es war heiß, brütend schwül. Unerfreulicherweise verloren sich die frischen Brisen seewärts, ohne die Altstadt zu besuchen. "Machen wir ein Päuschen", entschied er, als er sein Ziel erspäht hatte. Ohne auf Georges' Einverständnis zu warten, parkte er den Korb auf einer einfachen Steinbank, marschierte zu einer Frituur. Dass sie gut war, bekundete die Reihe wartender Kunden, angelockt von der Belgischen Spezialität, die in abgewandelter Form die Welt erobert hatte. Arjen zog genießerisch den Geruch der frittierten Kartoffelstäbchen ein und überließ es Georges, ihre Einkäufe zu bewachen und eifersüchtig den Kartoffelsack zu hüten. Er kehrte mit zwei üppigen Portionen zurück. Georges brummte, "hoffentlich haben sie auch das Fett gewechselt!" Arjen ließ sich nieder, platzierte die belgische Variante von Eingelegtem und verschiedene Saucen, "ich bin überrascht, dass du mir keinen Vortrag über krebserregende Substanzen halten willst." Dazu sagte Georges gar nichts, denn er tunkte bereits hungrig die dicken Kartoffelstäbchen ein und kaute. Spontan beugte Arjen sich über ihr opulentes Mahl und küsste Georges auf die Wange, zwinkerte ihm zu. Der verdrehte demonstrativ die Augen, hielt sich aber nicht damit auf, Arjen eine Lektion zu erteilen. Sondern vertilgte systematisch die üblicherweise indiskutablen Kartoffelprodukte. In heimlicher Freude arrangierte Arjen geschickt die Behälter, so, dass er Georges den größten Anteil zuschustern konnte, ohne dass der den offenkundigen Täuschungsversuch anprangerte. "Verflixt!", klatschte er sich mit der flachen Hand vor die Stirn, derart theatralisch, dass Georges sogar das Kauen einstellte und ihn misstrauisch musterte. "Ich hab was vergessen, ich Schussel!", schon stand Arjen, ging vor Georges in die Hocke, "wartest du auf mich? Bin gleich wieder da!" Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, da er Georges jedoch mit genug Futter zurückließ, kannte Arjen keine Skrupel. Er war schließlich auf einer wichtigen Mission! ~~~~~# Leidlich versöhnt ob der Wartezeit nagte Georges an einer großzügig dimensionierten Schaumwaffel mit Kremfüllung. Üblicherweise hätte man ihm so einen zuckrigen Mist nicht mal mit einem Quirl eintrichtern können, aber unseligerweise schien ein Komplott in seinem Inneren geschmiedet worden zu sein! Und weil er wirklich HUNGER hatte, konnte er sich nicht gegen diese Gelüste-Attacken zur Wehr setzen. Arjen apportierte artig den schweren, gut gefüllten Korb und hielt den Kartoffelsack unter dem freien Arm geklemmt. Seine gute Laune konnte durchaus als verdächtig kategorisiert werden, aber dazu war Georges mittlerweile zu müde. Es kam ihm seltsam vor, dass ihn Essen erschöpfte. Andererseits handelte es sich wohl kaum um ein Phänomen, weshalb er sich zu keiner Äußerung hinreißen ließ, sondern tapfer einen Fuß vor den anderen setzte, bereits die himmlische Ruhe in seinem gewohnten Bett vor Augen. Arjen hatte andere Pläne, denen Georges' gesättigte Erschöpfung sehr zupass kam. ~~~~~# In der Stille, die sich über die Altstadt legte, weil sie unter einer Hitzeglocke ächzte, die bestimmt in einem heftigen Sommergewitter enden würde, telefonierte Arjen mit seinem Großonkel. Seinen Eltern wollte er lieber nicht die unerfreulichen Details schildern, die ihn aufwühlten. Aber mit seinem Großonkel konnte er über alles sprechen. Über die Schuldgefühle, die Georges ihm zu hegen streng verbot, über die jüngsten Entdeckungen, dass Georges TATSÄCHLICH einen Notar aufgesucht hatte, um seinen Letzten Willen zu hinterlegen. Und einen Innenarchitekten beauftragte, im Haus Planungen für kleine Kinder vorzunehmen. Tadel blieb ihm erspart, denn einen größeren Kritiker als er selbst gab es ohne Zweifel nicht. Dafür munterte das Gespräch ihn auf, half ihm, die Vorbereitungen für die Anreise seiner Familie zu koordinieren. Arjen hatte den Ehrgeiz, nach dem verpatzten Start in seine Ehe alles Andere richtig zu machen. Und außerdem musste er dafür Sorge tragen, dass die getroffenen Vereinbarungen im fernen Japan auch erfüllt wurden. Deshalb hakte er systematisch seine Liste mit zu erledigenden Punkten ab. Wer anreisen konnte, wo die Gäste untergebracht werden konnten, wie man nach der legalen Formalität im Rathaus auch die feierliche Verbindung nach Madararui-Maßstäben schließen konnte. In welcher Lokalität getafelt wurde, wo passende Bekleidung zu leihen war... und wie viel Geld sie zur Verfügung hatten. Seine eigenen Mittel waren sehr bescheiden, und es gefiel ihm nicht sonderlich gut, nicht viel zum Unterhalt beitragen zu können. Das sorgte ihn durchaus, denn im Laufe seines Lebens hatte er viele Beziehungen am leidigen Geld zerbrechen sehen. Häufig war zu wenig vorhanden, manchmal aber auch zu viel, ein Werkzeug, um Machtkämpfe auszufechten. »Dann heb den Hintern hoch!«, trieb ihn sein Verstand an, »mach hier nicht den Two-Step-Tanzbären! REDE mit Georges! Kommunikation, klar?!« Klar wie Kloßbrühe. Leider leichter gefordert als getan, denn Arjen befürchtete, dass Georges mauern würde. Sich beleidigt geben... oder möglicherweise wirklich verletzt sein. Ein heftiges Donnergrollen riss ihn aus seinen strategischen Überlegungen. Der Himmel vor dem altmodisch gestalteten Fenster hatte sich schwefelgelb verfärbt, es dräuten finstere Wolkengebirge, die sich aufeinander stürzen wollten. Eine kühle Brise wischte durch einige lose Strähnen. Arjen erhob sich energisch, begab sich auf einen Rundgang durchs Haus, um sicherzugehen, dass ein Gewitter nichts unter Wasser setzen oder zerschlagen konnte. Als er sorgsam die Verandatür blockierte, kauerte Georges auf dem Sofa, hielt sich mit beiden Fäusten die Schläfen. "Kopfweh?!" Arjen näherte sich aus Erfahrung vorsichtig, denn einmal hatte er Georges bei einer heftigen Migräneattacke erlebt. Aufgeplatzte Adern in den Augäpfeln, halb verrückt vor Schmerz. Damals hatte Georges sich irgendwo verkriechen wollen, allein sein mit seinem Elend. Und Arjen, »ganz der treudoofe Idiot, der ich bin!«, stöberte ihn auf, um irgendwie Beistand zu leisten. Natürlich zeitigte seine selbstmörderische Treue keine Verbesserung des Zustands, veranlasste Georges bloß, ihn unartikuliert anzubrüllen wie ein waidwundes Tier. Nun stöhnte Georges auch, wiegte sich gequält. Arjen ging vor ihm in die Hocke, spähte in das verzerrte Gesicht, die zusammengekniffenen Augen, "Georges, was muss ich tun?" Er war stolz darauf, dass seine Stimme sachlich und tatkräftig klang. Nicht etwa nervös und hilflos, so, wie er sich fühlte. "...Küche...", würgte Georges, wirkte, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren. "Gut", ohne Federlesen klaubte Arjen Georges auf, zwang einen dünnen Arm über seine breiten Schultern und stützte den taumelnden Georges. Allerdings musste er ihn vor der Küchenzeile auf die Fliesen sinken lassen, weil Georges' Beine ihn nicht mehr tragen wollten. "Und jetzt?", hockte Arjen sich vor ihn, wischte feuchte Spuren von Georges' Gesicht. "... Buch...", für einen Moment entkrampfte Georges seine rechte Faust, um auf einen kleinen Band zu weisen, der mit einem Gummiband an einem Haken befestigt war. "In Ordnung", Arjen federte hoch, hoffte, seine Zuversicht belohnt zu sehen, blätterte in der kleinen Sammlung. Georges' Geheimrezepte. Das Migräne-Antidot fand er artig alphabetisch eingeordnet, schauderte jedoch angesichts der Rezeptur. »Wenn's hilft!«, rief er sich zur Ordnung und setzte nach Georges' präzisen Anweisungen einen Kaffee für Zombies auf, der mit einem Cola-Sirup abgemischt wurde. Das Ergebnis war dickflüssig, roch gelinde gesagt merkwürdig und würde wohl den niedrigsten Blutdruck unter die Decke treiben. Georges umklammerte den Becher wie ein Verdurstender und schlürfte laut seine Medizin. Arjen beäugte ihn angespannt. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es sein musste, wenn man mit dieser Koffein-Keule operierte! "Besser?", vorsichtig klaubte er den leeren Becher aus Georges' zitternden Fingern. Umständlich klappte Georges die Glieder auseinander, stemmte sich hoch und stützte sich auf die Arbeitsplatte. "Na ja", antwortete er verdrießlich, aber sein Blick erinnerte nicht mehr sofort an Horrorfilme. "Was hat denn die Attacke ausgelöst?" Arjen pflückte klebrige Locken aus Georges' Stirn. Ein finsterer Blick streifte ihn, dann zuckte Georges nonchalant mit den Schultern. So einfach ließ sich Arjen aber nicht abspeisen, schmiegte sich an Georges' Rücken an und seufzte herzerweichend. Georges grummelte unzufrieden vor sich hin, an steten Körperkontakt nicht gewöhnt, aber nun in der ungewohnten Lage, Arjen nicht abbürsten zu wollen. Schließlich bequemte er sich zu einem bissigen, "bin eben schwanger, klar?!", das jede inquisitorische Nachforschung unterbinden sollte. "Hmm, ich weiß", Arjen streichelte über eine Körpermitte, die so gar nicht aussah, als könne sie ein, -nein, ZWEI!-, Geheimnisse hüten. In seiner sanften, sehr bärigen Umarmung haderte Georges mit sich, bevor er brüsk schnaubte, "der Quacksalber hat dir doch gesagt, dass es erst schlimmer wird, bevor's wieder besser wird, oder?!" Arjen rieb seine Wange an Georges' und bestätigte artig, "er hat." Sein aufgeregter Herzschlag verriet allerdings, dass er sehr besorgt auf Georges' Einlassungen wartete. Wie SCHLIMM würde es denn werden? Konnte es noch ärger werden? "Hilft nix", aufgeräumt entschlüpfte Georges Arjens Armen, "müssen wir durch. Sollte mir vielleicht nen Vorrat auf Flaschen ziehen", nachdenklich studierte er die trübe Neige in dem Becher. "Georges?", Arjen stützte sich hinten auf die Spüleinfassung auf, betrachtete seinen schmalen Geführten, "können wir über die Vermählung reden?" Eine spitze Augenbraue lupfte sich in den Lockenhimmel darüber. "Du willst doch wohl nicht ausbiegen, oder was?!", mörderische Untertöne schwangen in der argwöhnischen Stimme. Ganz gegen seine Absicht musste Arjen schmunzeln. "Quatsch", zwinkerte er Georges zu, der höchst arrogant das eckige Kinn anhob, "ich möchte die Details mit dir absprechen. Damit mir kein anderer zuvorkommt und dich erobert", ergänzte er lausbübisch. "Pfff!", schnaubte Georges, "bin ich ne Prinzessin auf der Erbse, oder wie?!" "Man weiß nie, wo plötzlich Frösche lauern", neckte Arjen ihn aufgeheitert. Georges kehrte Arjen den abgemagerten Rücken zu und riss energisch den Kühlschrank auf, um den Inhalt zu inspizieren. "Ich mache mir nichts aus Fröschen", hörte Arjen hinter der Tür, schnippisch ergänzt um, "und wenn DIR dein Fell lieb ist, Zottelbär, sorgst du für Geschirr, denn ich habe Hunger!" Arjen lachte leise, salutierte mit Hackenschlag und deckte auf. Wenn Georges sich jetzt wirklich den Wanst vollschlug, würde die Vermählungsplanung sicherlich friedlich vonstatten gehen! ~~~~~# Arjen wusste nicht genau, was ihn geweckt hatte, aber plötzlich, ohne bewussten Entschluss, saß er senkrecht in Georges' Bett und blinzelte heftig in die Dunkelheit. Neben ihm stieß Georges unverständliche Silben aus, zuckte immer wieder heftig zusammen. Und bot, durchaus ungewohnt, seine wahre Seele an, die unwirklich schimmerte. "Georges?!" Arjen schleuderte die verhedderte Decke von sich, wickelte Georges ebenfalls aus und packte den Freund bei den Schultern. Das weckte Georges jedoch keineswegs aus den heftigen Albträumen, die ihn quälten. Folglich schüttelte er Georges' schmächtige Gestalt... fand aber kein Durchkommen. "Verdammt noch mal", fluchte Arjen leise und überaus besorgt. Georges wand sich, in eine wilde Auseinandersetzung verstrickt, von der Arjen nur eine Seite sah. Er ließ ihn auf das zerwühlte Laken sinken, rutschte von der Matratze und tastete sich seinen Weg zum Badezimmer, wo er eilig einen Waschlappen tropfnass tränkte und kleckernd zurückkehrte. Mit Schwung klatschte er seine Ladung auf Georges' Gesicht. Einen schrillen Aufschrei später verschwand schlagartig Georges' wahre Seele, der sich keuchend und zuckend von dem scheinbaren Aggressor entfernte. Arjen aktivierte den Lichtschalter und bemerkte, ihm selbst unangenehm laut, "Georges, beruhig dich bitte! Es ist nur ein Traum." Dessen schwarze Augen starrten ihn an, es dauerte durchaus einige Momente, bis Arjen sich tatsächlich wahrgenommen fand. Er setzte sich neben Georges auf die Bettkante und wischte Tropfen von Georges' bleichem Gesicht, "was ist denn los, hm?" Prompt öffnete Georges den Mund, die Miene dräuend finster... und klappte den Kiefer wieder hoch. "Willst mich wohl nicht anlügen, wie?", lächelte Arjen scharfsinnig, streichelte Locken aus den Wimpern, kringelte sie hinter die Ohren. Georges inspizierte ihn prüfend, abwägend. Dann, mit einem strengen Ruck, der seine abgemagerte Gestalt straffte, richtete er sich auf. "Er... der Quacksalber...", Georges räusperte sich, "hat dir doch gesagt, dass es... schwierig wird, nicht wahr?" "Hat er", pflichtete Arjen bei und fügte den unerfreulichen Veränderungen vom Spätnachmittag, nämlich Migräneattacken mit Übelkeit, auch noch Albträume hinzu. Georges blinzelte unter hartnäckig herabhängenden Locken hervor, "es ist nicht so...", er seufzte leise, "nicht so wie bei Yukimaru. Weil ich sehr...", er brach ab. "Ein Meeresgetier-Prachtexemplar bin?", half Arjen behutsam aus. Neben ihm zog Georges eine bittere Grimasse. "Wir sind nicht umsonst so selten", bestätigte er gallig, "so sehr Premium, dass wir die höchsten Anteile an Suiziden sowie seelisch-geistigen Erkrankungen haben." Arjen umfasste Georges' Hände, drückte sie zärtlich, "aber ich bin bei dir. Dein Idiot. Und dein Knuddelbär", lächelte er hoffnungsvoll. Georges senkte den Blick auf ihre Hände. Das Schweigen zwischen ihnen wog schwer wie Blei. Schließlich ergriff Arjen heiser das Wort, "reicht wohl nicht aus, hm?" Er wollte es leichthin aussprechen, nicht so kleinmütig und bange, wie es seinen Mund verließ! Georges seufzte leise. "Ich wünschte", wisperte er, "ich wäre schon bereit. Könnte ganz von selbst dein Gefährte sein, ein Vater, ein Ehemann...", kaum hörbar fügte er an, "ein Liebhaber." Arjen hob ihre Hände an, schmiegte Georges' Handflächen an seine Wangen, "wenn ich zu schnell bin, sag's mir, ja? Ich mach das auch zum ersten Mal", neckte er Georges unsicher. In Georges' schwarzen Augen las er melancholischen Widerspruch. "Arjen", so sanft, als müsse er einem Kind eine unglückselige Wahrheit nahebringen, "du bist ein Kodiak. Und ich bin ein Meeresgetier. Und die sind kalt und egozentrisch. Wir wissen mit Liebe nichts anzufangen." ~~~~~# "Georges." Arjen kopierte Georges' mitfühlenden Tonfall perfekt, "DAS gerade ist totaler Quark." Er erwiderte das beleidigte Funkeln amüsiert und fuhr freundlich fort, "ich gebe zu, ich bin der Idiot, der fortwährend Liebesschwüre säuselt." Arjen zwinkerte, "aber wenn wir das mal außer acht lassen, worum geht's denn eigentlich?" Georges gestattete die rhetorische Frage, ohne die Gelegenheit zu einem bissigen Einwurf zu nutzen. "Erwartungen", beantwortete Arjen seine eigene Frage, streichelte mit den Daumen über Georges' Handrücken in seinem Griff, "und zwar überzogene. Ich weiß nicht, was du dir vorstellst, aber ich erwarte nicht, dass du urplötzlich auf meine Avancen eingehst, zum Super-Papa mutierst oder Romeo den Rang abläufst." Arjen bemerkte durchaus, dass Georges getroffen war. »Typisch Georges«, lächelte er unwillkürlich gerührt, perfektionistisch und überkritisch mit sich selbst. Was er von sich selbst nicht behaupten konnte. "Ach was, du WILLST doch nicht, dass alles wie früher ist!", schnaubte Georges unterdessen eingeschnappt. "Recht hast du!", pflichtete Arjen ihm entschieden bei, "ich möchte zum Beispiel lieber in deinem Bett schlafen als in der Gästekammer. Und abreisen möchte ich gar nicht, was ich früher ja immer musste." Georges knurrte. "Und", Arjen schnellte vor, küsste Georges auf die Nasenspitze, "ich möchte mit dir hin und wieder intim sein. Also gelegentlich. Wenn sich's einrichten lässt." "Hab ich dir nicht gerade erklärt, dass MEINE Sorte kalt wie n Fisch ist?!", fauchte Georges aufbrausend. "Weißt du eigentlich, wie groß der Laich ist, den Fische pro Saison..." Bevor er besserwisserisch Georges' Metapher demontieren konnte, warf der sich auf ihn und drückte ihn tatsächlich in die Matratze! Arjen lächelte hoch in Georges' höchst ärgerliches Gesicht. "Also, KALT lässt es dich nicht", schnurrte er aufreizend. "Weil du's nicht kapieren WILLST!", fauchte Georges, "ich hab's einfach nicht mit diesen Infights!" Unter ihm riss Arjen betont die blauen Augen auf, "und ich dachte, ich wäre dein Erster..." Der Satz verschwand unter Georges' Handfläche, die seinen Mund versiegelte. "KEIN EINZIGES WORT MEHR", zischte Georges, das Gesicht interessant eingefärbt. Also schwieg Arjen brav. Allein seine Augen morsten liebevolle Aufforderungen. Über ihm rang Georges mit sich. Die Feststellung, auf einem Gebiet nicht der Experte, sondern ein verunsicherter Eleve zu sein, setzte ihm erheblich zu. Aber wie sollte es denn weitergehen?! Er wollte schließlich mit Arjen leben. Und den Kindern. Da konnte man ja wohl nicht erwarten, dass Arjen... zum Mönch wurde! Georges schluckte schwer und zog die Schultern hoch, die er langsam sinken ließ. "Ich vermute...", er murmelte unter sich, "ich bin aber...lernfähig." Arjen, immer noch streng geknebelt, streichelte über die dünnen Oberschenkel, aufmunternd, zuversichtlich. Über ihm zog Georges eine schiefe Grimasse, "verdammt, DU schaffst mich wirklich!" Arjen küsste die versiegelnde Handfläche und signalisierte ungeniert, »ich weiß«. Er begnügte sich damit, Georges unverwandt anzusehen. Die umschatteten Augen, die zerstrubbelten Locken, die angespannten Gesichtszüge, die unschlüssig benagte Unterlippe. Zum ersten Mal fragte er sich, ob die Kinder Georges wohl ähnelten. Ob sie auch, ganz unbewusst, in dieser süffisant-skeptischen Weise eine spitze Augenbraue lupfen würden. Oder mäkelige Esser waren. Oder... Er winselte auf, als Georges ihn kräftig in den Nasenrücken kniff. Verletzt blickte er hoch. Georges Stirn warf Falten des Missmuts, "du hast eben verdächtig bescheuert ausgesehen!", klagte er Arjen an. "Dann", schnurrte der wohlwollend, "sollten wir hoffen, dass es nicht erblich ist. Ich habe mir nämlich gerade unseren Nachwuchs vorgestellt." Das schien Georges Unbehagen zu bereiten, der sich abrupt erhob und von Arjen herunterkletterte. "Solltest besser schlafen", knurrte er, kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu. Arjen drehte sich auf eine Seite, stützte den Kopf in die Hand und begann mit der anderen, Georges' verwüsteten Schopf zu ordnen. "Weißt du", bemerkte er leise, "es ist ganz gleich, was du auch tust oder dir vornimmst, Georges. Du wirst sie lieben. Du liebst sie ja jetzt schon." Georges zog ruckartig die Schultern hoch, als könne er sich wie eine Schildkröte in einen Panzer zurückziehen. Aber er unternahm keinen Versuch, Arjens Mutmaßungen über seine Motive und Beweggründe zu widerlegen. Der seufzte, durchaus bezaubert. Der fiese, finstere, boshafte, argwöhnische, übellaunige 'Orkan Georges', das zweifelsohne gefürchtetste Meeresgetier überhaupt... war eigentlich, tief innen drin, sanft, unsicher, großmütig und absolut loyal. Unermüdlich darin, das Richtige tun zu wollen, sich streng an die eigenen hohen Erwartungen zu halten und über sich selbst zu Gericht zu sitzen. Er rutschte näher heran, schmiegte sich fugenlos in Georges' Gestalt, ließ sich das Gesicht von widerspenstig-elastischen Locken kitzeln und legte eine versichernde Hand auf Georges' Mitte. "Wir schaffen das", raunte er zärtlich, "gemeinsam, alle vier. Außerdem haben wir göttlichen Beistand." Arjen spürte, dass Georges aufmerkte, auch wenn dessen Körpersprache sich nicht im Mindesten änderte. Er lachte leise und küsste das erreichbare Ohrläppchen, "du weißt doch, mit den Dummen ist Gott!" "Hrmpf!", kommentierte Georges und fauchte energisch, "Licht aus, Klappe zu und pennen!" "Jawoll, mon General!", schnarrte Arjen diensteifrig, konnte es aber nicht unterlassen, Georges' empfindlichen Nacken zu küssen, bevor er seinen Aufgaben nachkam. ~~~~~# Zu Arjens Verblüffung gab sich Georges handzahm, was die von ihm eifrig betriebenen Vorbereitung zur Vermählung betraf. Keine Einrede bei der Wahl der Gäste, dem Catering für den Empfang in Georges' kleinem Häuschen, der Unterbringung, der anschließenden Zeremonie... Nicht mal die Aussicht, sich in einen hellen Cut kleiden zu müssen, entlockte Georges mehr als ein knappes Nicken! "Geht's dir wirklich gut?", besorgt legte Arjen die Hand auf die bleiche Stirn unter den filzigen Locken. "Seh ich so aus?!", fauchte Georges ärgerlich, schnappte bissig nach Arjens Linker. Lächelnd akzeptierte der die Zurückweisung und widmete sich den Gästen. Seine Familie war reichlich vertreten, sogar der Großonkel wollte anreisen. Von Georges' Seite dagegen, sofern man sie so einstufen wollte, waren lediglich Huub und Marguerite fest eingeplant. "Und deine Eltern?", tapfer wagte er sich auf vermintes Gelände. Georges' Miene verriet nichts über die Gedanken hinter der fahlen Haut, "ich habe sie bereits in Kenntnis gesetzt. Ich nehme an, es werden Glückwünsche eintreffen." Unwillkürlich zeichnete sich auf Arjens Gesicht Bestürzung ab. Er wusste zwar von Georges selbst, dass sich Eltern und Sohn überhaupt nicht nahestanden, einander aber mit Respekt begegneten. "Ich hatte angenommen...", tastete er sich behutsam vor. Abrupt kam Georges auf die Beine, "es ist zu warm hier. Ich gehe hinein." Blitzartig schnellte Arjen vor und schnappte ein dünnes Handgelenk. "Bitte, noch einen Moment, ja? Wir haben noch nicht über..." Tiefschwarze Augen, in Stummfilm-Manier umschattet, funkelten ihn an. "Dafür ist gesorgt. Denn", mit der freien Hand stieß Georges ihn vor die Brust, "DU wirst für die Kinderbetreuung verantwortlich sein." Bevor Arjen etwas entgegnen konnte, schnitt Georges ihm brüsk das Wort ab. "Und es ist mir SCHEISSEGAL, ob du überqualifiziert bist, dich als Hausmann ausgebeutet fühlst oder lieber die Welt retten willst: DEIN JOB", zischte er bissig, "sind die Kinder und danach das Haus. Und KEINE Widerrede!" Mit einem Ruck riss er sein Handgelenk aus Arjens Griff und stolzierte hocherhobenen Hauptes zur Veranda. Arjen kämpfte gegen widerstreitende Emotionen an. Es verärgerte ihn durchaus, wie selbstherrlich Georges darüber befand, wie er sein Leben fortan zu gestalten hatte. Andererseits konnte er momentan nicht mit einer besseren Lösung aufwarten. Und tatsächlich würden sie eine ganze Weile lang von Georges' Vermögen und dessen Einkünften leben müssen. Sein stets präsenter Sinn für Humor gewann die Oberhand, denn er kannte SEINEN Georges ja. Deshalb legte er die Hände um den Mund, formte ein trichterartiges Megaphon und schmetterte, "du hast SEX-SKLAVE vergessen!" Irgendwo in der Nachbarschaft, mittäglich ruhig, weil es brütend heiß war, fiel klappernd etwas zu Boden. Georges erstarrte für einen langen Wimpernschlag mitten in seiner Bewegung. Dann schmetterte er mit sehr viel mehr Schwung als notwendig die Verandatür ins Schloss. Breit grinsend ließ sich Arjen wieder nieder und verschränkte versöhnt die Hände im Nacken. ~~~~~# Dr. Goodekirk klappte das Notizbuch zu, warf einen strengen Blick auf Georges. Der saß ihm, steif wie ein Zollstock, gegenüber, trug eine gewohnt arrogante Miene zur Schau. Als ginge ihn das alles nichts an. "Das muss noch viel besser werden", Dr. Goodekirk schnalzte mit der Zunge, tadelte, "Sie sind noch immer unterernährt, Ihre Blutwerte gefallen mir auch nicht. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als mit Medikamenten nachzuhelfen." Georges entwischte ein angewidertes Schnauben. Beinahe erwartete der Arzt eine Diskussion, eine schnippische Bemerkung, doch beunruhigender Weise unterwarf sich sein problematischer Patient folgsam seinen Anweisungen. "Ihr Gefährte berichtete mir, dass Sie schlecht schlafen. Albträume und dergleichen", piekte er eine andere Schwachstelle an. In den schwarzen Augen blitzte es. "Schlaf ist wichtig", dozierte Dr. Goodekirk, der sich einen Punkt für die Heimmannschaft notierte, "wie wäre es mit autogenem Training?" Daraufhin bleckte Georges die Zähne in einer höhnischen Grimasse, verzichtete aber auf eine Antwort. "Sie ERINNERN sich an unsere Abmachung?" Dr. Goodekirk wollte sich nicht verspotten lassen und reagierte mit eiskalter Strenge. Ihm gegenüber wich jedes Anzeichen von Wärme aus Georges' ohnehin angespannter Miene, "nur keine Sorge, mein GEDÄCHTNIS arbeitet ausgezeichnet." Mit einem knappen Nicken entließ er sich selbst, stolz und abweisend. Dr. Goodekirk aber rieb sich nachdenklich das Kinn. Und entschied sich, Arjen anzuspitzen, damit der Georges auf den Zahn fühlte. ~~~~~# "Post!" Tarou schwenkte einen Umschlag, als er ihren kleinen Rückzugsort erreichte. Dieser bestand aus einer alten, ausgefransten Picknickdecke unter einem Schatten spendenden Baum, zehn Minuten Fußmarsch außerhalb der Dorfgrenze. In der Nähe klopfte in regelmäßigem Takt ein ausgehöhltes Bambusrohr auf eine Steinumfassung eines Brunnens, kontrastierte das gemächliche Gurgeln der Süßwasserquelle. Yukimaru erhob sich erfreut, dankbar für die Unterbrechung der doch recht ermüdenden Studien, die Tarou unerbittlich vorantrieb. Seit sie nicht mehr Gefahr liefen, als Betrüger entlarvt zu werden, hatte er das Augenmerk darauf gerichtet, die verlorene Zeit aufzuholen, um nach den Sommerferien Anschluss an die Klasse zu halten. "Deine Eltern?", Yukimaru gesellte sich zu seinem Freund, blinzelte neugierig auf den Umschlag. Wer sonst hätte sie hier aufspüren können? "...sieh an", murmelte Tarou, sichtlich beeindruckt, reichte Yukimaru einfach den ersten Bogen weiter, den er bereits überflogen hatte. Keine Frage, hier gab's keine Heimlichkeiten voreinander! Er merkte überrascht auf, als Yukimaru höchst unelegant auf den Hintern plumpste und fassungslos den Papierbogen zerdrückte. Unwillkürlich musste Tarou lächeln, ging vor seinem Freund in die Hocke und kraulte mit der freien Hand durch ungebärdige Locken. "Hat's dir die Sprache verschlagen?", neckte er ihn liebevoll. Yukimarus Kiefer bewegten sich zwar, produzierten aber keine hörbaren Laute. Um dieser Schockstarre abzuhelfen, provozierte Tarou herausfordernd, "gar nicht so fies für einen übellaunigen Stinkstiefel, das gebe ich zu." "..ist...ist er NICHT!", Yukimaru ballte die Fäuste, zerknitterte das Schriftstück rettungslos, die Wangen bereits entflammt vor Empörung. "Wie kannst du bloß so nachtragend sein?! Er hilft mir, eine Familie zu bekommen und eine Heimat... und einen Familiennamen!", schnaubte er enragiert. "Ist bestimmt bloß ein Ordnungsfanatiker", wider besseres Wissen stocherte Tarou mit funkelndem Blick in der ohnehin schwelenden Glut, "so unsortierte Verhältnisse wie deine müssen ihm ja aufstoßen..." Weiter kam er nicht, da Yukimaru ihn erbarmungslos umkegelte und unter sich begrub, "QUATSCH! MIT SOSSE!" Wütend blitzte Yukimaru in die braunen Augen, registrierte das freche Zucken der Mundwinkel. "DU bist bloß sauer, weil er dich aufgestachelt hat! Und du hast's nicht gleich bemerkt!" Das war eine zutreffende, wenn auch ausgesprochen schonungslose Feststellung. Tarou presste die Lippen zusammen, nun gar nicht mehr übermütig zum Streit aufgelegt. Dann seufzte er nachgiebig, "na gut. Er hat mich gegen das Fell gebürstet, und das wurmt mich." Yukimaru ließ sich von der Hocke auf seine Hüften sinken, studierte ihn eindringlich, "denkst du denn nicht, dass wir ihm viel zu verdanken haben? Er ist wirklich sehr nett!" Unter ihm lupfte Tarou betont eine Augenbraue. Dieses Plädoyer schien ihm gänzlich ungeeignet, die Anflüge von Eifersucht auf Georges' überlegene Fähigkeiten auszumerzen. Mit einem Schnauben kniff Yukimaru ihn schmerzhaft in die Nasenspitze, "ehrlich, Tarou, für einen so cleveren Typen, der IMMER behauptet, er KENNE mich, sind solche affigen Eifersuchtsanfälle total erbärmlich!" Während Tarou noch nach Luft schnappte (und nach einer gepfefferten Replik fahndete), überflog Yukimaru auch ungehindert die zweite Seite des Schreibens. "Zwillinge? Mann...", ungeniert pfiff er anerkennend, denn seine Kopfrechnung ergab, dass sich das glückliche Ereignis exakt mit der unheilvollen Nacht von Georges' Flucht verbinden ließ. »Da hat wohl jemand die Gummis verwechselt«, schlussfolgerte sein Verstand ohne jede Häme. Er fragte sich, wie diese beiden so ungleichen Partner wohl die vollkommene Veränderung ihrer Umstände verkrafteten. Sein nachdenklicher, mitfühlender Gesichtsausdruck berührte Tarou, der noch immer an Yukimarus Volltreffer zu knabbern hatte. Eigentlich hätte er längst daran gewöhnt sein müssen, dass Yukimaru zu einmal getroffenen Entscheidungen unverbrüchlich stand, doch immer mal wieder reizte es ihn, sich eine Bestätigung zu holen. »Als traue ich unseren Gefühlen nicht...« Keine schmeichelhafte Intention. Er hob die Hände hoch, um über Yukimarus schlanke, bloße Oberschenkel zu streichen. DAS brachte ihm sofort dessen alerte Aufmerksamkeit ein. "Ich gebe zu, dass meine Eitelkeit gekränkt ist", erklärte er tapfer, "und dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du irgendwen nett findest, der nicht ICH ist." Yukimaru lächelte, beugte sich zu ihm herunter, leckte neckend über Tarous Nasenspitze. In einem Hollywoodfilm hätten sie jetzt wohl pathetische Liebesbekenntnisse ausgetauscht. In der Realität dieses kleinen Bergdorfes, an einem herrlichen Sommertag, genügte es ihnen jedoch, sich schweigend anzusehen. Ohne Scheu, mit klopfendem Herzen, heiter und melancholisch zugleich. Sie wussten, es lag noch ein steiniger, gewundener Weg vor ihnen, bis sie ganz unauffällig und selbstverständlich wie andere Pärchen miteinander leben konnten. Es gab jedoch nicht den geringsten Zweifel, dass diese Option die EINZIGE war, die sie jemals wählen würden. Yukimaru kletterte von Tarou, der sich wieder aufrichtete, seine Kleider abklopfte. Er zwinkerte frech, als Yukimaru ihm die Hand hinstreckte, um ihn auf die Beine zu ziehen, "soll ich dich denn jetzt Aniki-großer Bruder nennen?" Erst mit einer gewissen Verspätung begriff Yukimaru, dass er ja nun laut Familienregister der älteste der jüngsten Generation war... um ganz drei Monate! "Nicht nötig", antwortete er schließlich großmütig, übergab Tarou die arg lädierten Papierbögen, "aber du darfst ab sofort meine Schultasche tragen." "So schwach auf den Beinen?", forderte Tarou unbekümmert und gut gelaunt ein neues Gefecht heraus. "Von wegen!", schnarrte Yukimaru herausfordernd und stürzte sich auf seinen Freund. Herr Nishida, der wie gewöhnlich einen kleinen Spaziergang zu seinen Feldern unternahm, schüttelte nachsichtig den Kopf, als er die beiden Jugendlichen zu einem quirligen Ball mit fliegenden Gliedern verknäult über die Wiese rollen sah. »Wie junge Hunde!«, schmunzelte er und vermutete nicht zu unrecht, dass diesen beiden ihre Balgereien sehr wohl gefallen mussten, da man sie ständig so antraf. ~~~~~# Der Tag hatte schon nicht gut angefangen. Übellaunig, schmallippig und grundsätzlich vergrätzt beäugte Georges sein Frühstück, bevor er es mit sichtlicher Todesverachtung in sich hineinstopfte. Arjen war durchaus gewarnt und enthielt sich jeden Kommentars. Da er außerdem mit der Organisation der geplanten Vermählung ausgelastet war, gelang es ihm, Georges den Vormittag über aus dem Weg zu gehen. Gegen Mittag begab er sich zur Küchenzeile, um sich seiner neuen Fron als Hausmann zu widmen. Das Ergebnis seiner Bemühungen gereichte ihm jedoch nicht zum Lob aus Georges' verkniffenem Mund. Erbsen wollte er nicht, der Käse stank, die Nudelplatten waren zu trocken, die Tomatenscheiben zu heiß, die Sauce zu scharf... und auf Georges' Wasserglas konnte man mühelos Fingerabdrücke abnehmen! Der üblicherweise so manierliche Georges schleuderte also seine Papierserviette auf den Teller, stieß den Stuhl um und stapfte nach draußen. Arjen atmete mehrfach konzentriert tief durch und wiederholte stumm sein Mantra: »denk dran, er ist schwanger. Irrationales Verhalten vollkommen normal. NUR NICHT AUFREGEN!« Die letzte Ermahnung galt zwar für sie beide, doch ihm kamen Zweifel daran, dass Georges sie auch beherzigte. In der Annahme, Georges habe sich durch seinen Anfall extremer Unhöflichkeit ein wenig erholt, verließ Arjen ebenfalls das Haus, wollte Nachtisch in Form von Obst und Eis anbieten. Georges MUSSTE etwas essen. Ob er wollte oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt bestritt Georges jedoch schon eine lautstarke Diskussion mit einem Paddler, der ungeladen auf der Wiese logierte und dort ziemlich unmanierlich picknickte. Auch wenn von der Wasserseite der Kanäle keine Umzäunung darauf hinwies, wusste jeder, dass es sich ausnahmslos um Privatgrundstücke handelte. Einfach anlanden und sich breitmachen, das ging nicht. Georges war dem frechen Usurpator körperlich nicht gewachsen, so zerbrechlich und überschlank er auftrat. Doch sein übellauniger Zorn auf alles und jeden, der nun ein gerechtfertigtes Ventil gefunden hatte, tobte sich umso begeisterter und furioser aus. In mehreren Sprachen brüllte er aus Leibeskräften auf den in Bedrängnis geratenen Paddler ein. "Ihm wird noch eine Ader platzen", murmelte Arjen unter seinem Atem, "oder zuerst die Sicherung durchbrennen." Das war nicht der Georges, den er kannte. Der hatte meist süffisant-vernichtende, spitze Bemerkungen bei solchen Gelegenheiten in petto, die den Gegner derart beschämend an den Pranger stellten, dass die meisten flugs Reißaus nahmen. Behutsam legte Arjen die Hände auf Georges' Schultern, "he, he, immer langsam! Die Kavallerie ist ja hier." Georges fegte herum, um nun lautstark und erbost Arjen über die unglaublichen Missetaten des nassforschen Eroberers in Kenntnis zu setzen, wild gestikulierend. Arjen nickte artig, während er den Paddler ins Visier nahm und wisperte, "hau schon ab, Kumpel, bevor er WIRKLICH sauer wird! Bei ihm hat mal ne Tollwut-Impfung versagt." Obwohl diese Warnung mehr als lächerlich war, entschied der merklich eingeschüchterte Mann, hastig sein Zeug in das Kanu zu schleudern und eiligst das Weite zu suchen. Georges, den Arjen energisch um die schlanke Taille fasste, brüllte ihm Schmähungen hinterher, bis die Kanalbiegung ihn außer Sichtweite brachte. "Gehen wir rein", Arjen dirigierte Georges Richtung Veranda, "ist viel zu schwül heute." Vor ihm, die Fäuste geballt, echauffierte sich Georges noch immer, taub für seine Bemühungen, diese lästige Episode zu verabschieden. Innerhalb des Hauses besann er sich, lehnte aber aufgebracht jedes Angebot von Nachtisch ab und bestand auf Kamillentee. Unerträglich gesüßt. Arjen ignorierte seine vom schieren Gedanken quietschenden Zähne mannhaft und servierte artig das Gewünschte. Er zog sich anschließend wieder in das Noch-Arbeitszimmer zurück, um weiterhin seinen Vorbereitungen zu frönen. Dann sah er sich auch noch die Entwürfe an, die Georges eingeholt hatte. Es würde unzweifelhaft ein hübsches Zimmer für ihren Nachwuchs werden... zumindest, wenn sie dort schliefen. Arjen hegte berechtigte Befürchtungen, dass ihr Nachwuchs das ganze Haus für sich in Beschlag nehmen würde. »Na ja«, Gelenke knackend streckte er sich ausgiebig, »bisschen Schwund is ja immer.« Als er den Arbeitsplatz aufräumte, bemerkte er eine Mappe, in verstärkte Pappe eingebunden. Neugierig schob er die elastischen Bänder beiseite und klappte sie auf. Nachdem er flüchtig über die ordentlich abgelegten Blätter geblickt hatte, setzte er sich bedächtig und widerstand dem Bedürfnis, den Kopf in beide Hände abzustützen. Georges hatte wirklich an alles gedacht. Den eingedruckten Daten zufolge musste er innerhalb der ersten Woche seiner Schwangerschaft seine Hausbank darüber informiert haben, dass von nun an ein Partnerkonto geführt werden würde, mit vollem Zugriffs- und Verfügungsrecht. Ein lebenslanges Wohnrecht war eingetragen worden, beim Notar hinterlegte er eine vollständige Liste seiner verstreuten Vermögenswerte. Außerdem hatte Georges einen Vertrag mit einer Pietät abgeschlossen und eine zu verzinsende Anzahlung geleistet. ".. du warst nicht so weit?!", ächzte Arjen tonlos. Das hatte Georges augenscheinlich nicht daran gehindert, alles für sein mögliches Ableben vorzubereiten! Und Arjen als seinen Erben und Verfügungsberechtigten einzusetzen! "...das ist doch schizophren", murmelte Arjen und widerstand dem Drang, nach seinen Inlinern zu forschen und sich davonzumachen. Wie konnte Georges so umsichtig und zielstrebig alles organisieren, als ginge es ihn persönlich gar nichts an, und gleichzeitig behaupten, dass er vollkommen neben sich gestanden hätte? Arjen musste sich ernsthaft fragen, wie gut er Georges wirklich kannte. Und ob Dr. Goodekirk nicht damit recht hatte, dass Georges irgendetwas verheimlichte. ~~~~~# Georges würgte, zwang sich aber, eine zweite Flasche seiner Migräne-Spezialmischung zu öffnen und einzuschenken. Ihm war bereits übel, sein Magen protestierte hörbar, aber es gab keine Alternative: entweder mit dem Schädel gegen die Wand rennen, oder mit klarem Kopf vor dem Porzellan-Altar kniend Poseidon verehren! Angespannt lauschte er, ob irgendwo Schritte zu hören waren. Noch immer ungewohnt, dass er sich in seinen eigenen vier Wänden vorsehen musste! Doch Arjen schien noch immer beschäftigt, er musste also keinen verständnisvoll-traurigen Kodiak-Blick fürchten! Die sirupartige Mischung quälte sich bedächtig in Richtung seiner Kehle, er kämpfte den Brechreiz herunter und ballte die freie Faust. Sein Schädel schmerzte so sehr, dass ihm die Augen vor Tränen verklebten. Immer wieder verkrampften sich unkontrolliert Sehnen in seinem Gesicht. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er am Liebsten die Fingernägel in seine Gehirnmasse gegraben und sie ordentlich durchgepflügt, bis die unerträgliche Pein vertrieben war! Eigentlich, so weit er überhaupt einen rationalen Gedanken fassen konnte, erlitt er solche Migräneattacken sehr selten. Doch seit einiger Zeit, und vor allem nun, in diesem Zustand... Wut brodelte in ihm auf, während er mit übermenschlicher Anstrengung das Glas leerte, sich mit dem Handrücken über den zuckenden Mund wischte. Es war so UNGERECHT! Und AUSWEGLOS! Hatte er nicht IMMER versucht, das Richtige zu tun?! Selbst in hoffnungslosen Situationen geholfen?! Nicht schamhaft oder feige zurückgezuckt?! Jetzt war er hilflos diesem VERDAMMTEN MIST ausgeliefert! Konnte sich selbst nicht befreien, obwohl er doch das stärkste aller Meeresgetiere war! "...Georges?! GEORGES?!" Unerwartet brach Arjens Stimme in seinen inneren Vulkanausbruch. Durch den schmierigen Film vor seinen Augen identifizierte er den semmelblonden Kodiak, der sich ihm besorgt mit einem Küchentuch näherte. "..WARSCHHHH?!", speichelte Georges zischend, wollte sich eigentlich nicht gegen Arjen wenden, doch der idiotische Bär rückte IMMER genau dann an, wenn's ihm nicht gut ging! Er verstand nicht genau, was Arjen antwortete, in seinem Kopf lärmte aggressiv ein ganzer Schwarm Hornissen. Georges schlug mit den Fäusten gegen seine Schädelseiten. Dass ihm warmes Blut aus den Nasenlöchern rann, bemerkte er gar nicht, auch nicht den Tropfenregen, der die Fliesen besprenkelte. Als Arjen ihn anfassen wollte, um den Schaden einzugrenzen, wich er fauchend und spuckend vor ihm zurück, "lassch mchh nn Ruuuhhh!" "Aber du saust alles hier ein!", Arjens Miene verfinsterte sich. »Böser Cop, hmmm?!«, schnarrte Georges innerlich gehässig. Hatte sich wohl mit dem Quacksalber verbündet, sein Dumm-Bär! "Bleib hier!", ungewohnt unbarmherzig packte Arjen ihm am Oberarm, stemmte die Fersen in die Fliesen. "Ich weiß ja, dass du Kopfschmerzen hast, aber...!" "Wasch weissschdduuu schnnn?!", gurgelte Georges und spuckte Blut aus, das ihm in den Gaumen gelaufen war. "Georges, komm zu dir!", forderte Arjen wütend, wischte ihm mit dem Küchentuch im Gesicht herum. Natürlich wehrte sich Georges gegen Arjens selbstherrliches Gebaren. Arjen umfasste schließlich, nun auch mit Blut besprenkelt, Georges' abgemagerte Oberarme so kräftig, dass der sich nicht mehr rühren konnte und vor Wut aufjaulte. "Was ist denn mit dir los, verflixt?!", tadelte er Georges kopfschüttelnd. "Müsstest DU ja wohl am Besten wissen!", brüllte Georges zurück. Arjen zuckte sichtlich zusammen, was Georges' abgründige Seite mit Genugtuung registrierte. Seine bessere Hälfte quälte ihn dagegen mit Gewissensbissen ob seiner Gemeinheit gegen die eine Person, der er wirklich mit jeder Faser seines Herzens zugetan war. "Abgesehen davon!", beharrte Arjen mit zusammengebissenen Zähnen, die seinen Kampf um Selbstbeherrschung verrieten. "Ich hab Migräne!", Georges schluckte den aufsteigenden Sirup angeekelt herunter, "als WEIBCHEN darf ich das ja wohl!" "Wir sollten Dr. Goodekirk deshalb befragen", schlug Arjen todesmutig vor, "es könnte etwas ..." "Ernsteres sein?!", fiel Georges ihm zornig ins Wort, "und was soll dieser Quacksalber tun, hm?! Der hat doch keine Ahnung!" "Wer kann denn dann helfen?" Arjens sachlicher Ton verhinderte nicht, dass Georges sich auf ihn einschoss. "Keiner, du Depp!", blökte der ihn aufgebracht an, "denkst du, mir macht es Spaß, mich beschissen zu fühlen?! Aber zu deiner Information: NIEMAND kann was tun, klar?!" "Wie kannst du das so sicher wissen?" Arjen gab tollkühn nicht auf. Allein sein konzentrierter Blick warnte Georges vor, der sich beinahe zu einer wütenden, verräterischen Tirade hätte hinreißen lassen. Stattdessen senkte er wie ein angriffslustiger Stier den Kopf, funkelte Arjen zornig an, "so ist das also, ich verstehe! Der blöde Quacksalber hat dich angestiftet, mich auszuhorchen, was?!" "Quark!", protestierte Arjen verletzt, "ICH bin um dich besorgt! Aber soll das heißen, dass du mir etwas verheimlichst?!" "HA!", schnaubte Georges, wütend, weil er sich selbst so weit entblößt hatte, und bemühte sich erfolglos, aus Arjens zupackendem Griff zu entwischen. "Sag's mir doch, Georges", drängte Arjen eindringlich, "ich möchte es verstehen, bitte!" "Kannst du nicht!", versetzte Georges betont hochmütig, um Arjen abzubürsten. Wenn er ihn ausreichend verärgerte, sollte der doch endlich aufstecken, oder?! "Versuch's bitte trotzdem!" Arjen blieb hartnäckig und ließ sich nicht ablenken. "Keine Lust!", fauchte Georges und winselte, als eine neue Migräneattacke ihre Klauen in seinen Schädel grub. Wütend zappelte er in dem eisernen Griff, wollte sich irgendwo in einer dunklen Ecke verkriechen, zusammenkauern, als könne er auf diese Weise weniger Angriffsfläche bieten. "Es könnte mit deinen besonderen Fähigkeiten zusammenhängen." Arjen widerstand den Ausbruchsversuchen stoisch, ließ wie eine Bulldogge einfach nicht locker. "Was du nicht sagst!", Georges trommelte Arjen auf die muskulöse Brust, "lass mich endlich los, du Idiot!" "Kommt nicht in Frage!", beharrte der entschlossen, "also sind deine Fähigkeiten dafür verantwortlich, dass es dir so schlecht geht? Wie kommt das? Früher..." "Was weißt du schon von mir?!" Georges brüllte ihm aggressiv ins Gesicht, "du würdest es nicht mal kapieren, wenn du's sehen könntest!" Arjens hellblaue Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, "lassen wir's auf den Versuch ankommen!" "Du Blödmann weißt doch gar nicht, was du da sagst", winkte Georges ihm verächtlich ab, presste die Lippen dann dünn zusammen, weil eine weitere Schmerzwelle sein Gehirn in eine Schraubzwinge klemmte. "Du bist bloß feige", antwortete Arjen in einer ebenso abschätzigen Replik, "hast wohl Schiss, dass ich herausbekomme, was für ein weinerlicher Jammerlappen du bist." Unter normalen Umständen hätte sich Georges UNMÖGLICH mit dieser durchsichtigen Provokation ködern lassen. Aber in diesem Moment, gepeinigt, frustriert und vollkommen erschöpft, wollte er sich wehren, dem Schicksal mal einen Kinnhaken verpassen. Dass es ihm in Gestalt von Arjen derart auf die Nerven ging, war eben Pech! "...fein", zischte er, die Fäuste geballt, zitternd vor Anspannung, den jaulenden Nervenenden zu widerstehen, die ihm alle gleichzeitig mitteilten, wie beschissen es ihnen ging. "Du willst wissen, wie es ist, ich zu sein? Schön, kannst du haben!" ~~~~~# Kapitel 13 - Geteilte Geheimnisse Arjen benötigte einige Augenblicke, bis er verstand, was seine verklebten Augen ihm meldeten. Er lag in Georges' Küche, auf dem Boden. Unter seinem Kopf war ein Sofakissen platziert, seinen nackten Leib bedeckte eine leichte Decke. Und er zitterte so sehr, dass es ihn schüttelte. Als die Erinnerung wieder einsetzte, verstärkte er den klammernden Griff um Georges' Handgelenk. In seinen Ohren dröhnten seltsame Trommeln... bis Arjen begriff, dass es seine eigenen Zähne waren, die unkontrolliert aufeinander schlugen. Georges' freie Hand streichelte ihm über die Haare, mit dem Handrücken behutsam über das Gesicht. "...ich hätte das nicht tun sollen", wisperte Georges ernst, bleich im Gesicht. Als er seine Haltung veränderte, verkrampfte sich Arjen reflexartig und verstärkte unwillkürlich seinen Klammergriff. Georges presste die Lippen dünn zusammen, um einen Aufschrei zu ersticken. "Ich gehe nicht weg", beruhigte er Arjen leise, drehte ihn dann auf den Rücken, aus der stabilen Seitenlage. Dann nahm er Arjens freie Hand, schob sie, die eigenen Finger eingefädelt, auf seinen Unterbauch. Obwohl er ohne sichtbare Anstrengung seine wahre Seele vor Arjen entblößte, konnte der nicht das sanfte Zwillingsglühen entdecken. Ein panisches Krächzen entfloh ihm, doch Georges' müdes, trauriges Lächeln verdrängte das aufkeimende Entsetzen. "Keine Angst", Georges bemühte das verlorenste, geschlagenste Grinsen, das Arjen jemals an ihm gesehen hatte, "die beiden Racker sind wohlauf." "Es ist nur so...", er holte tief Luft, seufzte mit heruntersackenden Schultern, "eins unserer Kinder ist ein Meeresgetier. Und hat gelernt, wie es sich und seinen Zwilling beschützt." Georges' Blick ging ins Leere, wich Arjen aus, "na ja, vielleicht...", er räusperte sich verlegen, "vielleicht ist es nicht wie ich. Mit ein bisschen Glück..." Arjen hätte sich gern aufgerichtet, Georges in seine Arme gezogen und fest an sich gedrückt. So vieles wollte er ihm sagen, versichern, versprechen. Aber er war zu schwach, vollkommen ausgelaugt und durchaus verängstigt. Allein der Hautkontakt mit Georges hielt ihn bei der Stange. "Trotzdem", Georges fixierte Arjens Blick, eindringlich, beschwörend, "du musst sie beschützen! Ganz gleich, was passiert, Arjen." Er seufzte müde. "Bitte, Arjen." Es war das erste Mal, dass Arjen Georges um etwas so demütig bitten hörte. ~~~~~# »Seltsam«, dachte Arjen und kuschelte sich in Georges' Schoß, der mit Kissen gestützt aufrecht in seinem Bett saß. Die überstandenen Schrecken wirkten nun, mit zeitlichem Abstand, so unwirklich, als hätte er lediglich einen furchtbaren Albtraum durchlitten. Aber er WUSSTE, dass er sich nichts eingebildet hatte. Und, wie Georges widerwillig zugegeben hatte, bescherte ihm die Erfahrung, einmal wie Georges zu sein, eine Auszeit von mehr als drei Stunden. Von anderen, sehr viel beschämenderen Dingen ganz abgesehen. Georges kraulte ihm sanft den Schopf, ließ seine freie Hand langmütig von Arjen in Beschlag nehmen. Die Hämatome, die Arjens Kraft und Verzweiflung hinterlassen hatten, kümmerten ihn wenig. Endlich wieder im Vollbesitz seiner Sinne wagte Arjen, Georges anzusprechen. "Ist Yuki auch so, ich meine...?" Georges lächelte auf ihn herab, eindeutig beruhigend, "nein. Yuki ist nicht wie ich. Er ist...", Georges blickte auf, grübelte, "er ist anders." "Und deine Eltern?" Arjen war entschlossen, JETZT die Untiefen auszuloten. Auch wenn er sich in den Abgründen fürchtete und an Georges festhalten musste. "Nein", nun wirkte Georges verschlossen, distanziert, stellte das Kraulen ein. "Sie sind... normal. Für unsereins", ergänzte er mit einer Grimasse. Arjen runzelte die Stirn, "wissen sie denn, was du...?" Ein bitteres Lächeln tanzte in Georges' ausgefransten Mundwinkeln, "oh nein! Nein, sie haben keine Ahnung. Höchstens gewisse Vermutungen." "Bist du ihnen deshalb böse?" Arjen wagte sich mit dieser kindlich formulierten Frage in den verbotenen Bereich. Zu seiner Verblüffung seufzte Georges bloß, kanzelte ihn aber nicht ab oder verbat sich kategorisch jede Schnüffelei. "Böse, nein", die tiefschwarzen Augen wirkten trübe, "vielleicht... enttäuscht. Ich habe nicht vermutet...", Georges lachte kopfschüttelnd über sein so viel jüngeres Ich. "Ich konnte mir damals einfach nicht vorstellen, dass ich der Einzige bin. Es erschien mir so...unfair." Unwillkürlich durchströmte Arjen tiefes Mitgefühl. Er hob die freie Hand, um sie aufs Georges' Wange zu legen. Über ihm zwinkerte Georges in vorgeblicher Erheiterung, "nun ja, man ist eben jung, dumm und eingebildet..." Arjen ging nicht auf diese Nebelwerfer-Taktik ein. "Dann gibt es niemanden, der deine Fähigkeiten hat?", hakte er nach. "Hoffentlich", Georges schnitt ihm eine Grimasse, "aber...", er biss sich selbst auf die Lippe. "Dann musst du mir helfen, Georges!", plädierte Arjen, der die Auslassung mühelos füllen konnte. Würde er auch der beste Paps der Welt sein, DIESE Hilfestellung konnte er nicht leisten! Georges' Blick ging ins Leere, seine Gesichtszüge froren ein. Er erstarrte förmlich. "Georges?" Arjen drückte bange ihre verschlungenen Hände. "...ich weiß nicht, wie", flüsterte Georges, die Augenbrauen zusammengezogen, konzentriert auf etwas, das Arjen nicht sehen konnte. "Nicht mal mir selbst..." Arjen dachte an die wenigen, ihm schier ewig anmutenden Augenblicke, als er Georges gewesen war. Durch den Kontakt gespürt hatte, wie es war, mit allen Sinnen ALLES wahrzunehmen. Diese infernalische Informationsflut hatte ihn postwendend in eine nachhaltige Ohnmacht katapultiert, während sein Körper einen heftigen, epileptischen Anfall durchlitt. Mit allen unerfreulichen Konsequenzen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Georges, alleine und auf sich gestellt, diese unbeschreibliche Fähigkeit gemeistert hatte. Wie er überlebt hatte, ohne verrückt zu werden oder sich umzubringen. "Ist es denn immer...so schlimm?", brachte er sich schüchtern in Erinnerung. Georges blinzelte, kehrte dann aus den Untiefen zurück, die ihn in Beschlag genommen hatten. Zupfte an Arjens Kinnbart. Und zog eine Grimasse. "Man könnte sagen", antwortete er sarkastisch, "dass sich nun die Konsequenzen meiner Sünden zeigen." Da Arjen diese Botschaft nicht entschlüsseln konnte, hielt er weiterhin den Blick konzentriert in die tiefschwarzen Augen gerichtet. "Ich kann nicht glauben, dass du jemals etwas wirklich Schlimmes angestellt hast", verkündete er schlicht. Dazu ging Georges viel zu streng mit sich selbst ins Gericht. Über ihm seufzte Georges, leise, nachsichtig. In seine Züge prägten sich sonst verborgene Linien, ließen ihn gealtert und resigniert wirken. "Natürlich kannst du das nicht glauben", er tätschelte Arjens Schopf betont nachlässig, "du willst NIE glauben, dass ich tatsächlich so ein fieser Charakter bin, wie alle anderen behaupten." "SELBSTVERSTÄNDLICH nicht!", trumpfte Arjen auf, "ICH kenne dich ja wohl viel besser als irgendwelche Leute!" "Ha!", schnaubte Georges bloß, beließ es jedoch dabei. Arjen studierte ihn aus seiner horizontalen Position nachdenklich. Er erkannte durchaus, dass JETZT die Gelegenheit war, alles zur Sprache zu bringen, was sonst tabu, lebensgefährlich oder unverschämt indiskret war. Zum ersten Mal konnte er seinen besten, langjährigen Freund sehen und tatsächlich BEGREIFEN, dass Georges nicht unschlagbar war. Dass hinter dem übermächtigen, unbesiegbaren, selbstherrlichen 'Orkan' Georges ein Mensch unentwegt mit sich rang, seinen besonderen Fähigkeiten verpflichtet, seinem Gewissen unterworfen. Von seinem Stolz geknechtet, niemals vor anderen Schwäche oder Ratlosigkeit einzugestehen. Hatte er selbst dieses Bild heraufbeschworen? Oder waren es andere gewesen, die es geprägt hatten, bis Georges nichts mehr übrig blieb, als sich anzupassen? Wenn er sich an ihre erste Begegnung erinnerte, diesen abweisenden, so befremdlich altmodisch gekleideten Prinzen, der so gar nichts Zutrauliches, Kameradschaftliches an sich hatte, wie es bei Kindern ihres Alters üblich war... "... du hast es gewusst, oder?", bemerkte er leise, fing Georges' freie Hand ein, um sie behutsam zu halten. Kein Gängelband, kein Knebel, aber eine stete, warme, lebendige Verbindung. "Du wusstest, was ich wirklich bin." Georges schwieg, richtete seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand. Für Arjen war das Antwort genug. "Warum hast du mich nicht gleich beim ersten Mal aufgeweckt?", erkundigte er sich gelassen, kannte er die Antwort doch schon. Über ihm schnaubte Georges erwartungsgemäß, "weil es NICHT meine Aufgabe ist, ständig in das Leben anderer Leute hineinzupfuschen! Bin ich Gott, oder was?!", schnappte er giftig. Arjen grinste. So breit, dass seine Ohrläppchen sich über die Hautfalten beschwerten, die bei ihnen anbrandeten. "Du hättest aber einen süßen, knuddeligen, kleinen Kodiak-Teddy für dich allein haben können", schnurrte er herausfordernd. "So was TUE ich nicht!", fauchte Georges energisch, entwischte Arjens losem Griff, um diesem kräftig in die Nasenspitze zu kneifen, "solches Besitzstreben ist tyrannisch, kleingeistig und NICHT akzeptabel!" Die schwarzen Augen loderten sengend auf Arjen herunter, der gebannt diesen Anblick genoss. "Ich hätte mich dir natürlich GESCHENKT", triezte er Georges weiter in süffisantem Tonfall. Georges knurrte laut. Doch anstelle einer weiteren, scharfen Attacke seufzte er leise, zupfte an Arjens Bart, der sich stillschweigend mit kahlen Stellen abfand. "Arjen", Georges sprach ernsthaft, "ich möchte, dass du unseren Kindern auch diesen Grundsatz vermittelst. Jeder gehört ausschließlich sich selbst. Nicht Kinder Eltern und nicht Eltern Kinder." Arjen packte Georges' Zupf-Hand unnachgiebig, "vermittle ihnen das selbst, Georges!" Energisch, auch wenn ihm kurz flau wurde, setzte er sich auf. "Du darfst mich nicht hängen lassen!", bedrängte er Georges eindringlich, hob die von ihm umklammerten Hände auf Brusthöhe und presste sie an sich. "Ich weiß, ich bin ein Dumm-Bär und habe EWIG gebraucht, bis ich zur Sache gekommen bin, aber, bitte, Georges..." Er musste sich räuspern und krächzte mit belegter Stimme, "lass mich nicht allein." Vor ihm zog Georges eine bittere Grimasse. "Du wirst nicht allein sein, sondern zu dritt", korrigierte er bemüht spitzfindig, "und es ist ja nicht so, als würde ich mich darum reißen, den Löffel abzugeben...!" Seine letzten Worte erstickten, weil Arjen, von einer akuten Attacke bangen Aberglaubens geschüttelt, ihm eilig eine Hand auf den Mund presste. "Sag's nicht!", forderte er beschwörend. Arjen begriff erst, dass er heftig zitterte, als Georges ihm mit der freien Hand übers Ohr streichelte. Was er dann zu tun pflegte, wenn Arjen seine wahre Seele vor ihm entblößte. Impulsiv löste er beide Hände und umarmte Georges eng, schmiegte sich bebend an dessen magere Gestalt. Ein wenig unbeholfen, da außerordentlich ungeübt, streichelte Georges ihm über den Nacken das Rückgrat herunter. Wieder und wieder. "Es ist nicht DEINE Schuld", raunte er Arjen ins Ohr, "du hast nichts falsch gemacht, Arje. Also rede dir keinen törichten Unsinn ein, verstanden?" Arjen konnte nicht sehen, was daran töricht war: in einem Rausch von Leidenschaft und Dummheit hatte er dafür gesorgt, dass über Georges ein Todesurteil kommen konnte! "Und GENAU DAS", grob stieß Georges Arjen von sich, um ihm demonstrativ die Nase einzuklemmen und sie zu drehen, "meine ich damit!" Als Arjen nicht gewillt war, sich diese Auffassung zu Eigen zu machen, drückte Georges ihn schwungvoll, und durch Arjens halbwegs überlebten Horrortrip in Georges' Gemüt, problemlos auf die Matratze. Platzierte sich rittlings über ihm und legte Arjens Handgelenke in eiserne Griffe. "Du bist noch dusseliger als Puh, der Bär!", beschimpfte er Arjen aufgebracht, "denk doch mal ein bisschen nach, verdammt!" Dass seine Bemühungen in dieser Hinsicht Georges nicht zusagten, konnte Arjen SOFORT an dessen Miene ablesen. "Herrschaftszeiten!", fluchte er ärgerlich, "denkst du allen Ernstes, ohne deine Initiative wären wir JEMALS im Bett gelandet?! Glaubst du, ich hätte irgendwen außer dir so nahe an mich herangelassen?!" Arjen blinzelte. Natürlich erinnerte er sich lebhaft an diese außergewöhnliche Nacht, doch er hatte angenommen, dass Georges wenigstens mal... also probeweise... quasi aus wissenschaftlichem Interesse... mit einem Weibchen... nun ja, geschmust... oder so?! Georges zog eine sauer-verächtliche Grimasse. "Was DU mir unterstellst", fauchte er und ergänzte dann bissig, "ja, auf gewisse Weise KANN ich Gedanken lesen! Vor allem, wenn sie dir quer über dein Ponem geschrieben stehen!" Er packte Arjens ungeschützte Ohren und beutelte sie energisch, "begreifst du eigentlich, was für ein ungeheures Glück wir haben?!" DAS kam Arjen nun definitiv Spanisch... nun, eher Chinesisch vor! Über ihm rollte Georges ausdrucksstark die Augen, "Herr, an den ich nicht glaube, gib mir Geduld!" Dann fokussierte er sich auf Arjens amüsiertes Schmunzeln. "Wir haben hier zwei Eiertänzer", unbeeindruckt jagte Georges durch den Parcours, "die seit Jahren NICHTS auf die Reihe kriegen." Er zählte nun demonstrativ an den Fingern ab, "und in EINER Nacht klappt's mit ZWEI Kindern! DAS kann ja wohl nur Glück sein, oder wie?!" "Vor allem bei nur DREI Durchgängen", ergänzte Arjen, angesteckt durch Georges' Beweisführung. "Meine Güte", Georges raufte sich die Locken, funkelte auf ihn herab, "wolltest du mich umbringen, oder wie?! DREI MAL ANDOCKEN?!" Arjen feixte, auch wenn ihm die Röte in die Wangen stieg. "Du hast keinen Einspruch erhoben", antwortete er samtpfotig. "ICH kann mich an nichts erinnern", verkündete Georges hoheitsvoll, bevor er erneut Arjens armes Ohr bezupfte. "Aber zurück zum Thema! Wenn das alles ganz unzweifelhaft auf eine besondere Gunst von Madame Fortuna hindeutet", setzte er seine Beweisführung fort, "dann ist ja wohl davon auszugehen, dass es weiterhin so bleibt. Ganz gleich, was noch kommt!" Arjen biss sich auf die Lippen. Er wusste nicht, ob etwas von Georges' Fähigkeiten auf ihn abgefärbt hatte, aber er erkannte deutlich dessen ungewöhnliche, ja, nie dagewesene Absicht, das Gute ihrer Situation über alles Andere zu stellen. Und ihm damit zu verkünden, dass selbst um den Preis seines Lebens die Entwicklung der Ereignisse GUT und GLÜCKLICH war. Bevor er einen Einspruch erheben konnte, tippte Georges, ganz ohne den missionarischen Eifer seiner Brandrede, auf seine Nasenspitze und ergänzte, "denk an unsere Kinder, Arje. Mit WELCHER Wahrheit sollen sie aufwachsen?" Arjen schrumpfte ein wenig in sich zusammen. Gegen dieses Argument gab es keine Widerrede. Er blickte benommen in die schwarzen Augen über sich, die ihn beschworen, DIESE Wahrheit zu adaptieren. Nicht mehr von Schuld und Fehlern zu sprechen. Und dieses flammende Plädoyer ausgerechnet von dem Mann, der sich zeitlebens bemüht hatte, AUF KEINEN FALL Nachwuchs zu produzieren, stets allein blieb, sich selbst ausgrenzte von der Gesellschaft. Aber nun den Teufel tun würde und zulassen, dass seinen Kindern etwas geschah. Die er schon vor ihrer Geburt auf seine eigene Weise so sehr liebte, dass er sämtliche eigenen Prioritäten und Maßstäbe über Bord warf. "... ich hätte es schon längst tun sollen", murmelte er, hob eine Hand, um damit über Georges' Wange zu streicheln. "Ich hätte dich nicht gelassen", entgegnete Georges ihm schlicht und bestätigte, dass er sich entgegen aller Beteuerungen DOCH auf eine Version des Gedankenlesens verstand. "Sprichst du mir das Urteilsvermögen ab, den richtigen Gefährten zu finden?", gab Arjen milde im Ton zurück. Über ihm zeichneten sich zwei rötliche Flecken auf Georges' Wangen ab, unerwartet deutliches Signal dafür, dass er sich ertappt und in eine Ecke gedrängt sah. Bevor er eine Verteidigung aussprechen konnte, tippte Arjen ihm siegelnd mit der Fingerspitze auf die Oberlippe, "nein, du irrst dich. Es gibt NIEMANDEN, der besser zu mir passt als du." Wenn es darauf ankam, konnte Arjen AUCH Gedanken lesen. Oder zumindest voraussagen, mit welchem Konter Georges ihn abfertigen wollte. "Aber du machst das ja nicht", neckte er Georges sanft, "dieses erbärmliche Besitzstreben und für sich Reklamieren! Abscheulich! Und so niederträchtig egoistisch, wenn man für eine gewisse Person doch eine Schwäche hat und sie gern ganz für sich beanspruchen würde! Bloß ist das ja tyrannisch und..." Georges erstickte weitere spöttische Wiederholungen seiner eigenen Worte mit der Handfläche. "..ich kann nicht dagegen an", flüsterte er müde, "frei zu sein ist meine Natur, Arje." "Ich habe nicht vor, dich anzubinden", entgegnete Arjen mitfühlend. Er fragte sich, wie oft Georges wohl heimlich mit sich gerungen hatte. Ohne dass er seinem besten Freund diesen Konflikt jemals angemerkt hätte. "Obwohl", fiel ihm ein, "ach je..." Mit einem schelmischen Augenaufschlag blinzelte er Georges an, der eine bewegliche Augenbraue misstrauisch in den Lockenwust lupfte. "Na ja",bekannte Arjen grinsend, "binden will ich dich nicht, aber beringen schon." "So so", schnaubte Georges kühl, ganz der arrogante Herrscher aller Klassen, "aber wag es bloß nicht, mir irgendwelche Nachrichtenkapseln ans Bein zu binden und mich dann zwecks Flug in die Luft zu schmeißen!" Arjens schallendes Gelächter echote von den Wänden des Schlafzimmers. ~~~~~# Arjen, der Georges grundsätzlich zu den ärztlichen Untersuchungen begleitete, konnte an den säuerlichen Mienen seines Lebensgefährten und Dr. Goodekirks erkennen, dass es einmal mehr zum Zwist gekommen war. Eilig verstaute er seine Notizzettel, denn er wollte keine Zeit mehr verschwenden, die Feierlichkeiten für ihre Vermählung zu koordinieren. Der Termin stand ja bereits, die Miete war gezahlt, doch es gab ja noch diese zahlreichen Kleinigkeiten, z. B. wer neben wem saß, wer wann wie abgeholt werden musste usw. Georges verabschiedete sich mit der ihm eigenen, giftigen Höflichkeit, überließ es Arjen, dem Doktor besänftigend ein Schulterzucken zu widmen und ihm zu folgen. "Sag schon", Arjen passte sich Georges' forschem Schritttempo an, auch wenn er in der anhaltenden Hitze ins Schwitzen geriet, "warum habt ihr euch dieses Mal in den Haaren?" Georges schnaubte abschätzig. "Ihm passt nie irgendwas", antwortete er betont gleichmütig, "ich wiege zu wenig, mein Blutdruck ist zu niedrig, die Kinder verstecken ihre wahre Seele, blablabla." Arjen warf die Stirn in Falten. "Hast du dir wenigstens seine Verbesserungsvorschläge angehört?", erkundigte er sich unerschrocken. "Ach, bah!", Georges wedelte geringschätzig mit der Rechten, "ich soll mich gefälligst aufs Essen konzentrieren! Was ist das für ein Ratschlag?!" "Außerdem", er blieb abrupt stehen und funkelte Arjen an, "ich soll diese widerlichen Pillen in Honig tauchen, wenn ich nicht Manns genug bin, sie runterzuwürgen!" Beinahe hätte er Arjen übertölpelt, der im letzten Augenblick auf die Bremse trat, um Georges nicht ebenso leidenschaftlich beizupflichten. "Sekunde mal", hob er die Hand und formulierte bedächtig, "soll das bedeuten, dass du diese verflixten Pillen ÜBERHAUPT NICHT geschluckt hast?" Georges verschränkte trotzig, und ganz gegen seinen Auftritt als dünkelhaft-arroganter Stiesel, die Arme vor der Brust und fauchte, "sie waren einfach WIDERLICH! Und auch völlig nutzlos!" "Ach, und das kannst du beurteilen, weil du wie viele... eine?!, angeleckt hast?!", konterte Arjen sarkastisch. ER nahm Georges' Gesundheitszustand jedenfalls nicht auf die leichte Schulter! "Ge-SCHLUCKT!", korrigierte Georges würdevoll, bevor er erneut in Kampfpose verfiel, "und DENK nicht mal dran, sie mir in den Schlund stopfen zu wollen!" "SO etwas", versicherte Arjen beleidigt, "würde ich nicht tun!" "Gut zu wissen", schnurrte Georges, der mit dieser Finte schon einen Teilerfolg für sich verbuchte. Jetzt musste er nur noch sicherstellen, dass Arjen es nicht mit der Prinzessin auf der Erbse hielt und anderweitig das ekelerregende Objekt seines Abscheus unter seine Nahrungsmittel zu schmuggeln versuchte! Ihm gegenüber rang Arjen mit sich. Natürlich hätte er seinem ungezogen selbstsicheren Freund nur zu gern die Leviten gelesen, andererseits verließ er sich stets auf Georges' Urteil. Doch wer hatte nun recht?! Ratlos und vollkommen gleichgültig für ihre Umgebung nahm er Georges' Hände, hielt sie fest, auch wenn er für einen Moment Scham über die witterungsbedingte Klebrigkeit seiner Handinnenflächen empfand, "aber was nun, Georges?" Sein bekümmerter Ausdruck veränderte etwas in Georges' angespannt-unleserlicher Miene hochmütiger Attraktivität. "Es geht mir gut", versicherte er ruhig, "Arjen, den Kindern geht's prächtig. Glaub mir, ich würde es sofort wissen, wenn es ihnen an etwas mangelt." "Aber was ist mit dir?" Arjen gab nicht nach, obwohl er sich unbehaglich fühlte, das Minenfeld zu betreten, "bist du stark genug? Die Albträume und die Übelkeit..." Vor ihm stanzten sich Sehnen in Georges' ohnehin abgezehrtes Gesicht, die Kiefer malmten sichtbar, um bloß keinen zornigen Ausbruch entschlüpfen zu lassen. Arjen seufzte leise, strich mit den Daumen über die weißen Handrücken in seinem Zugriff. "Ich weiß ja, dass du alles für die Kinder tust, ohne Rücksicht auf eigene Verluste", bekannte er kaum hörbar, "trotzdem, warum... warum geht's dir nicht besser?" Hatte er nicht sämtliche Anfragen auf Georges' besondere Dienstleistungen abgewehrt? Versorgte er Georges nicht mit den Dingen, die der gern essen wollte? Nötigte er Georges nicht sogar, auf dem kleinen Trampolin herumzuhopsen, um wieder zu Kräften zu kommen? »Was stimmt nicht? Wo tue ich nicht genug?!«, fragte er sich erneut stumm. "Komm", Georges zog ihn sanft, aber unnachgiebig weiter. Nicht nur der behagliche Baumschatten hatte sich rar gemacht, da eine wüstenartige Brise aufkam, auch fühlte er sich exponiert und befürchtete, das neugierige Glotzen gelangweilter Passanten könnte ihn zu Wutausbrüchen reizen. Arjen tappte artig neben ihm her, spürbar überrascht davon, dass Georges keine Anstrengungen unternahm, ihre Hände von einander zu lösen. Im Gegenteil, er verschränkte sogar ihre Finger miteinander! Erst im trauten Heim, nachdem eine Kanne Pfefferminztee aufgebrüht und mit einigen Spritzern Zitrone aromatisiert worden war, brach Georges das Schweigen. "Es wäre besser", er reichte Arjen einen Glasbecher, "du würdest dich daran gewöhnen", stellte er fest, zögerte einen Augenblick, bevor er ergänzte, "an die Albträume. Und die Übelkeit." "Hast du diese Beschwerden etwa schon immer?" Arjen wollte es nicht glauben. Hätte ihm das nicht auffallen müssen?! Er kannte Georges doch gut genug... oder? Seine Gedanken mussten einmal mehr auf seinem Gesicht geschrieben stehen, denn Georges lächelte widerwillig. "Ich gehe mit meinen Malaisen nicht hausieren", bemerkte er spöttisch, betrachtete Arjen mit versonnenem Gesichtsausdruck. Abwägend, nachdenklich. Arjen fühlte sich, vollkommen zu recht, einer bedeutenden, aber stummen Prüfung unterzogen. Tapfer erwiderte er den sezierenden Blick, verwünschte seine Ratlosigkeit. Unerwartet schraubte sich Georges hoch, begann, vor der abgedunkelten Glasfront der Veranda auf und nieder zu laufen. "Eigentlich", er schnaubte unwillig, "wollte ich niemanden etwas sagen. Vor allem nicht dir", er hielt in seinem unablässigen Marsch inne, fokussierte sich auf die hellblauen Augen, die ihn verletzt anblickten. Mit einer schmerzlichen Grimasse setzte Georges seine Parade fort, "tatsächlich möchte ich nicht reden. Aber ich muss wohl." Erneut blieb er stehen, stützte sich auf eine Rückenlehne. "Du erinnerst dich sicher noch, dass ich sagte, die Konsequenzen meiner Sünden träfen mich, nicht wahr?" Arjen nickte knapp. Georges' Miene bereitete ihm Unbehagen. "Dass ich nicht nett bin, weißt du, hoffe ich", Georges' Stimme klang betont boshaft, gehässig. "Und ich habe im Laufe meines Lebens eine MENGE Dinge getan, die nicht NETT sind." Er wirkte angespannt, kämpferisch. "Niemand...", er korrigierte sich selbst spöttisch, "nun, dich ausgenommen, weiß genau, worin meine Fähigkeiten bestehen. Und ich habe mich darum bemüht, keine Gewissheit aufkommen zu lassen." Georges verschränkte die Hände hinter dem Rücken, spazierte nun umher, es war jedoch nicht die gelangweilte Pose eines Müßiggängers. Vielmehr schien er darüber zu brüten, wie und was er offenbaren konnte oder musste. "Aber all die Leute...", Arjens Stimme klang brüchig, er krächzte, "woher wussten die...?!" "Hrmpf!", schnaubte Georges verächtlich, "sie wussten es nicht. Sie sind gekommen, haben mich mit ihren Problemen zugeschüttet und erwartet, dass sich irgendeine Lösung präsentiert." Er blieb stehen, fixierte Arjens verwirrten Blick. "Arjen", warnte er ihn eindringlich, die Miene düster, "du darfst NIEMANDEN wissen lassen, worin genau meine Fähigkeiten bestehen. NIEMANDEN, verstehst du?" Arjen begriff nicht. Waren alle denn nur auf Verdacht zu Georges gekommen? Schön, sie glaubten, er könnte heilen, aber hatten nicht damals die gehässigen Gören unterstellt, er habe einem alten Mann im Kopf herumgewirtschaftet? Georges blieben selbstverständlich Arjens Gefühlsregungen nicht verborgen. Er seufzte leise, gab seine Wanderungen auf und nahm neben Arjen Platz, legte die Hände um dessen Kopf und drehte ihn unmissverständlich zu sich. "Ich möchte das nicht tun", bekannte er und registrierte bedauernd die Gänsehaut, die Arjen überlief. Der annahm, er würde zum zweiten Mal eine Portion Georges verabreicht bekommen. Georges jedoch lächelte bloß traurig, "du bist immer so ein unbekümmerter, zuversichtlicher Teddy gewesen." Dann straffte er sich energisch, "aber es ist wichtig. Und deshalb...", er zog eine bittere Grimasse, "muss ich wohl deine heheren Vorstellungen von mir geraderücken." Arjens verwirrten Protest im Keim erstickend schüttelte er streng den Kopf. "Nein, mein Lieber, es gibt keinen Weg zurück. Wie ich also schon sagte, du musst darüber schweigen. Über das, was du erlebt hast. So wie ich immer über alles geschwiegen habe." Ihm gegenüber staunte Arjen trotz seiner Ratlosigkeit nicht schlecht über das Mitgefühl in den schwarzen, noch immer umschatteten Augen. Vor was hatte Georges ihn all die Jahre schützen wollen? Der hatte ihm inzwischen die schmalen Hände auf die muskulösen Schultern gelegt. "Sie sind wegen allerlei Dingen gekommen. Wenn die Lage nur verzweifelt genug ist, greift jeder zum Strohhalm", Georges bemühte sich um Ironie, doch ein Nerv in seiner Schläfe zuckte verräterisch. "Und es ging nicht immer nur um Krankheiten." Arjen schluckte trocken. Ihm gefiel nicht, in welche Richtung diese Aufklärung sich bewegte. "Unsere Fähigkeiten sind entweder dem Selbstschutz oder der Manipulation unserer Umwelt gewidmet." Georges überging das sichtliche Unwohlsein seines Gefährten, "und je größer die Kraft, je weiter das Spektrum, umso mächtiger wird ein Madararui. Also gibt es immer welche, die sich diese Fähigkeiten, andere zu manipulieren, zunutze machen möchten." "...oh nein", murmelte Arjen, dem dämmerte, worauf Georges abzielte. "Oh! Es kommt noch besser", versicherte der galgenhumorig, "du begreifst also jetzt, warum ich so beliebt bin, nicht wahr? Und auch wenn du noch so ein Herzchen bist, kannst du dir ausmalen, wer mich alles konsultiert hat." Arjen presste die Lippen aufeinander. "Ja", Georges' Hände glitten über die Schultern die Arme entlang, bis sie Arjens kraftvolle Hände umfassten, "einige meiner illustren Klienten hegten sehr finstere Absichten. Ich habe in Köpfe geschaut...", angewidert schüttelte sich Georges. "Kurz und abgeschmackt", fasste er sich wieder, spottend, gallig, "obwohl ich mich nicht einmischen sollte, habe ich es oft genug getan. Manchmal kam nicht das raus, was sich meine Auftraggeber", er spuckte die Silben angewidert aus, "erwartet haben. Und manchmal..." Georges verstummte, betrachtete Arjens bestürzte, aber auch beschämte Miene. Weil der sich gerade vorwarf, Georges nie angeboten zu haben, mit ihm über alles zu sprechen. Ihm nicht einen Iota seiner Last abgenommen zu haben. "Ach, Arje...", seufzte Georges leise, durchaus gerührt, löste seine Rechte, um über Arjens Wange zu streicheln, "du warst immer mein Freund. Wie hätte ich dich in diesen Dreck ziehen können?" »Also bist du ganz allein in der Finsternis gewandelt! Wie unerträglich TUGENDHAFT!«, begehrte es in Arjen auf. "Ja", Georges nickte ernst, "ich HABE dich im Dunkeln gelassen. Aber bestimmt nicht, weil ich so ein edelmütiger Charakter bin", nun grinste er verächtlich, "sondern rein um meiner Selbst willen. Es wäre schäbig und erbärmlich gewesen, aus persönlichem Kleinmut dein Leben in Gefahr zu bringen." "... was für eine Gefahr?", nach einem langen Augenblick horchte Arjen angespannt auf. Georges' verquere Auffassung darüber, was ehrenhaft und moralisch akzeptabel war, missfiel ihm zwar, aber er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Vor ihm zögerte Georges merklich, musste sich erst einen Ruck geben. "Es sind... Dinge an mich herangetragen worden, die...", Georges suchte ungewöhnlicherweise nach passenden Formulierungen, "die abstoßend und widerwärtig waren. Und um meine Kooperation zu sichern, wollte man mich erpressen." Arjen erstarrte, seine Muskeln ballten sich gespannt zusammen. "Weißt du", Georges bemühte sich um einen beschwingten Tonfall, völlig fehl am Platz in diesem Zusammenhang, was das Unbehagen noch potenzierte, "jeder niedere Beweggrund eines Shakespeare'schen Dramas ist mir über den Weg gelaufen. Neid, Missgunst, Verrat, Mord, Betrug..." Er seufzte. "Man kann sich vornehmen, nicht hinzusehen, es einfach NICHT zu tun... aber es hat keinen Zweck", Georges' Schultern sackten herab, "wenn man einmal den Blick geschärft hat, dann... vergeht das nicht mehr." "...was hast du getan?" Arjen wollte nicht länger warten, im Ungewissen spekulieren. "Ich habe mich gewehrt", antwortete Georges leise. "Ich wollte nicht mitspielen, also hat man mir gedroht. Und weil man mir gedroht hat..." Georges zögerte, leckte sich die Lippen. Arjen begriff verblüfft, dass Georges nervös war. Angst davor hatte, wie er auf dessen Geständnis reagieren würde. "Ich kann keinen Grund erkennen, warum du dich nicht hättest wehren sollen!", versicherte er Georges grimmig. Der legte den Kopf schief, beäugte ihn einen langen Moment halb belustigt, halb gequält. "Nicht mal, wenn ich dafür in den Verstand mehrerer Personen gewaltsam eingedrungen bin und sie dazu gezwungen habe, allein beim Gedanken an mich in haltlose Panik zu verfallen?" Arjen presste finster die Lippen zusammen. "Ich kann das, weißt du", ergänzte Georges im Plauderton, doch seine gespielte Souveränität täuschte Arjen nicht einen Wimpernschlag. "Und ICH weiß", knurrte Arjen, "dass du nicht ohne Grund so reagieren würdest. Du warst, bist und wirst IMMER einer von den Guten sein!", verkündete er entschieden. "Arje, wirklich..." Georges schmunzelte traurig, doch ungewohnt heftig schnitt Arjen ihm das Wort ab, "quälen dich deshalb Albträume?! Hast du Angst, sie könnten sich an den Kindern oder mir vergreifen?!" Georges verharrte still. Senkte den Blick. Atmete hörbar gepresst. "...es ist... es ist nicht nur das", bekannte er matt, "manchmal...", er leckte sich nervös über die Lippen, "...manchmal möchte ich..." Den Rest konnte Arjen nicht verstehen, denn Georges wisperte tonlos. "Was möchtest du?", erkundigte er sich sanft, hob das spitze Kinn seines Freundes behutsam an. Der selten kindlicher und beschämter gewirkt hatte. "Manchmal möchte ich springen", krächzte Georges, "in den Abgrund springen." Arjens Augenbrauen hoben sich fragend. Georges schnaufte, abschätzig, doch Arjen verstand sofort, dass er sich selbst damit meinte, "es ist so einfach! So verlockend! Bloß nachgeben, die Situation nutzen...", er ballte die Fäuste verkrampft. "Aber du hast es dir noch nie einfach gemacht", Arjen lächelte erleichtert. "Du wirst dich nicht hinreißen lassen, Georges. Davor brauchst du nun wirklich keine Angst zu haben!" Neben ihm sprang Georges agitiert auf, "wie kannst du das behaupten?! Du hast keine Ahnung, wie kurz ich SO OFT davor war, diesen ganzen Mist...!!" "Hast du aber nicht", verkündete Arjen in Seelenruhe, schnellte vor, um Georges auf seinen Schoß zu ziehen. "Und du wirst es auch nicht", das wusste er mit Bestimmtheit. "Aber ich TRÄUME davon, und du weißt nicht, wie sich das anfühlt!", mit aller Vehemenz wehrte sich Georges dagegen, zu einem beherrschten, besonnenen und verantwortungsvollen Super-Madararui stilisiert zu werden! Arjen wollte einfach nicht einsehen, dass er KEIN Held war! "Ich träume manchmal, dass ich nackt mit nem Fallschirm aus nem Flugzeug hopse", entgegnete Arjen aufgekratzt, "und wenn schon! Mache ich ja auch nicht nach!" "Das hast du gerade frisch erfunden!", beschuldigte Georges ihn ärgerlich. "Stimmt!", bestätigte Arjen grinsend, hinderte Georges aber energisch an einem Ausbruch, "aber das hier meine ich ernst, Georges: lass für eine Weile diese Konsultationen. Du hast genug ganz allein getragen." Bevor Georges aufbegehren konnte, drückte ihm Arjen einen flinken Kuss auf die Nasenspitze. "Denk dran", erinnerte er ihn ernst, "wir sind jetzt zu viert. Du kannst dich nicht mehr für irgendwelche Leute und ihre bescheuerten Probleme aufreiben", zitierte er Georges' eigene Worte. "Schon, aber daraus beziehe ich einen Teil meines Einkommens...", bemühte Georges sich um Einsicht. "Dann finden wir eine andere Lösung!", beharrte Arjen streng. Er legte beide Hände um Georges' eingefallene Wangen, "du wärst beinahe vor die Hunde gegangen, Georges", erinnerte er ihn bekümmert, "sag, war es das wirklich wert?" Georges seufzte jämmerlich, "...ich hatte doch nichts Anderes", wisperte er. Arjen schluckte eine heftige Antwort herunter. So TYPISCH für Georges, sich seinen Potentialen stärker verpflichtet zu fühlen als dem eigenen Wohlergehen! "JETZT", betonte er kommandierend, "hast du mich und unsere Kinder. Dazu kommen noch Huub, Marguerite, meine gesamte Familie, höchstwahrscheinlich auch Yuki und Tarou, sobald sie von deinem Einsatz erfahren haben..." Er brummte warnend, als Georges ein Schnütchen zog, um Widerspruch anzumelden. "Und DAS ist erst der Anfang! Wir ALLE werden ganz UNFEIN Besitzansprüche anmelden, capice?!" "Ich lasse mich aber nicht einfangen!", grollte Georges. "Ach ja?!", Arjen rollte demonstrativ mit den Augen, "aber parat stehen, wenn's irgendwen juckt, das tust du?! Also, wenn das kein Gängelband ist...!" Georges funkelte ihn böse an, holte tief Luft, mutmaßlich, um einen Vortrag zu halten über besondere Verpflichtungen und Verantwortung bei herausragenden Fähigkeiten, klappte dann aber wieder unverrichteter Dinge den Kiefer hoch. "Was du brauchst", Arjen zwinkerte versöhnlich, "ist einen kuscheligen, gemütlichen, großen Teddybären, Georges. Ganz für dich allein." Georges schwieg, betrachtete ihn versonnen. "Was ist", Arjen lächelte, "willst du diesen großen, blonden, tollpatschigen, aber sehr anschmiegsamen Bären nicht als Geschenk annehmen?" »Jemanden, der dich unterstützt, vor dir selbst beschützt, dich nicht ausnutzen will, deine Schwächen und Fehler nicht als Waffen gegen dich einsetzt?« Georges errötete leicht, was Arjen verriet, dass Georges seine Gedanken gelesen haben musste. Statt einer bissigen Replik schlang der ihm jedoch die Arme um den Hals und umarmte ihn eng. Und Arjen spürte, wie ein großer Teil der steten Anspannung von ihnen abfiel. ~~~~~# Kapitel 14 - Nur gemeinsam! »Ich hätte das schon viel früher tun sollen«, eine Feststellung, die Arjen in den letzten Tagen ungezählte Male begleitete. Zu erfahren, wer 'Orkan Georges' tatsächlich war, ihn dazu zu zwingen, einem anderen Menschen zu vertrauen, das hatte sie beide verändert. Es gab keine wüsten Schimpfkanonaden mehr, die er mit unbekümmertem Charme und absichtlicher Ignoranz konterte. Stattdessen ruhte Georges' Blick länger auf ihm, bevor er antwortete, keine Ausflüchte oder Beleidigungen einflocht. »Er bewegt sich wie jemand auf schwimmenden Trittsteinen über einem Sumpf«, konstatierte Arjen mitfühlend und amüsiert zugleich. Georges mochte immer ein einsamer Kämpfer gewesen sein, ein strenger, oft unnachsichtiger Richter mit sich selbst, aber hier, jetzt strengte er sich an, Teil eines kleinen Rudels zu werden. Sich an Gesellschaft, an Kompromisse und an unablässige Verhandlungen zu gewöhnen. "Ja", knurrte Georges, der gerade mit erstaunlichem Geschick Fleischtomaten mit einer Reis-Gemüse-Mischung füllte, "ich verlasse meinen Gouverneursposten auf der einsamen Insel mit Elfenbeinturm!" Arjen brummte, "ich wünschte, du würdest nicht ständig meine Gedanken lesen." Er schlang die Arme um Georges' schmale Hüften und legte sein bärtiges Kinn auf eine knochige Schulter. Zu seiner Überraschung wand sich Georges verlegen, seufzte und ließ sein Arbeitswerkzeug auf das große Küchenbrett sinken. "Das...also, das...", er holte tief Luft, straffte seine noch immer zu schlanke Gestalt, "das wird nicht gehen. Noch nicht. Denn... ich meine, ich mache das ja nicht zum Spaß!" Er brauste hastig auf, als sei es notwendig, seinem Ruf auch hier, in trauter Zweisamkeit, Genüge zu tun. "Erklär's mir bitte", Arjen nahm Georges diese Eigenmacht keineswegs übel. Er wusste aus ihrem Zusammenleben mittlerweile sehr sicher, wie zurückhaltend und gelegentlich schamhaft sein Lebensgefährte war. Welche hohe Bedeutung Privatsphäre, vor allem die der eigenen Gedanken, für ihn hatte. "Na ja", murmelte Georges, tätschelte ablenkend die aufgesetzten Hütchen der Tomaten, "ich versuche...nun, ich weiß nicht, OB es möglich ist!" Arjen seufzte übertrieben, um sein Amüsement zu kaschieren, "ehrlich, Georges, ICH kann nicht Gedanken lesen, und gerade verstehe ich kein Bisschen von dem, was du mir erklären willst." "Von WOLLEN kann gar keine Rede sein!", schnarrte Georges, drehte sich dann aber in der lockeren Umarmung, um Arjen ins Gesicht zu sehen. Mit diesem ein wenig zu langen, prüfenden Blick direkt in die hellblauen Augen. "Eine Verbindung", flüsterte er dann, als könne man sie belauschen, "ich versuche, eine Verbindung herzustellen. Damit die Kinder..." Georges leckte sich reflexartig über die Lippen, unbehaglich bei dem Thema, "verstehst du, Arje, damit, wenn etwas passiert, die Kinder wissen, dass sie nicht allein sind." Arjen spürte, wie sich seine Züge verfinsterten. Obwohl er sich als Realist und Pragmatiker einschätzte, war er extrem abergläubisch und ängstlich bei der reinen ERWÄHNUNG, es könne Georges etwas zustoßen. Er WOLLTE diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen! "Es ist so", Georges legte die Arme behutsam auf Arjens breites Kreuz, wickelte sich sogar dessen blonde Strähnen um die Finger. "ICH bin immer da. Nicht bloß wie eine Mutter, weißt du", er zögerte wieder, "womit ich nichts gegen Mütter gesagt haben will, aber... ich bin nicht allein als Wirt da, sondern als ich. Als Bewusstsein..." Er seufzte ungeduldig, "verdammt, tsk!, ich meine verflixt noch mal, ich weiß einfach nicht, wie ich's treffend erklären soll!" "Zeig's mir", forderte Arjen ihn mutig auf. Nach dem Erlebnis, Georges zu sein, auch wenn es in der realen Zeitrechnung nur Sekunden gewährt hatte, fürchtete er sich ein wenig. Aber das würde ihn, verd---verflixt noch mal!, auch nicht daran hindern herauszufinden, was Georges ihm zu erklären versuchte! "Na schön", gab Georges erleichtert nach, lehnte ihre Stirnpartien aneinander, knurrte dann, "nun atme schon weiter, du oller Teddy, oder willst du umfallen?!" Arjen, der vor Anspannung tatsächlich die Luft angehalten hatte, grinste und schnaubte vernehmlich. Zunächst bemerkte er keine Veränderung, aber dann spürte er, ganz merkwürdig, kaum zu beschreiben, eine andere, eine zweite Präsenz in seinem Kopf. Dieser Eindruck machte ihn ganz kribbelig, auch fragte er sich, ob diese andere Präsenz irgendwelchen Einfluss auf ihn ausübte. Und wie er sich sicher sein konnte, dass ER und nicht der GAST in seinem Bewusstsein die Befehle erteilte. Georges zog sich langsam von ihm zurück, betrachtete ihn mit unleserlicher Miene. "So was tue ich nicht", antwortete er leise, "nun, äußerste Bedrängnis ausgenommen. Es wäre zu gefährlich." "Das... das wollte ich auch gar nicht unterstellen!", beeilte Arjen sich zu beteuern, "ich weiß nicht, warum ich das gedacht habe!" "Ich schon", Georges zwinkerte verschmitzt, ein ungewohnter, da seltener Anblick, "und ich würde an deinem Verstand zweifeln, du Bär, wenn du es NICHT getan hättest." "Aber verstehst du", kam er, wieder konzentriert, auf das Thema zurück, "ungefähr SO ist es für unsere Kinder. Sie wissen, dass ICH da bin. Und wenn ICH nicht da bin, könnten sie Angst bekommen, und deshalb..." "Aber du WIRST da sein!", unterbrach Arjen ihn eilig, umklammerte ihn in einer heftigen Umarmung, "Georges, du WIRST da sein! Eine andere Option ist NICHT akzeptabel, hörst du?!" Beruhigend streichelte Georges über Arjens verspannten Rücken, "Arje, du vergisst, dass ich für eine Weile nach der Geburt außer Gefecht gesetzt sein werde." "Trotzdem wirst du da sein!", beharrte Arjen in kindlich anmutendem Widerborst. "ARJEN!", mit unerwartet heftigem Schwung drückte Georges ihn von sich, die Handflächen gegen Arjens Brustpartie gestemmt, "reiß dich, verflixt noch mal, zusammen!" Seine schwarzen Augen funkelten agitiert. "Sie sind ganz klein, frisch geboren und könnten Angst bekommen!", schimpfte er seinen besten Freund aus, "da wirst du ihnen doch wohl ein wenig Präsenz zeigen können!" "Schon!", protestierte Arjen, durchaus in die Enge getrieben. "Na ALSO!", stellte Georges grimmig fest, "und deshalb bemühe ich mich, eine Verbindung herzustellen. Eines unserer Kinder KÖNNTE einen Teil meiner Fähigkeiten geerbt haben. Und wenn sie WISSEN, wer DU bist, könnte sie das außerordentlich beruhigen!" Seine unnachgiebige, strenge Haltung entwaffnete Arjen vollständig. "In Ordnung, in Ordnung!", hob er bittend die Hände, "ich gebe mich geschlagen. Wenn du das wirklich schaffst, bin ich dafür!" "Siehst du!", schnurrte Georges mit Genugtuung, "du hast während der Entbindung ja ohnehin nichts zu tun. Kannst dich also auch nützlich machen." "Oh, na warte!", diesen Vorwurf wollte Arjen nicht ohne Konter stehen lassen. Deshalb attackierte er Georges mit spitzen Fingern, stippte hier, kitzelte da, während der sich verzweifelt, aber durch die Küchenzeile eingekeilt, zu schützen suchte. Atemlos nach einem heftigen Handgemenge standen sie einander gegenüber, Georges auf die Arbeitsplatte hinter sich gelehnt, Arjen vor ihm, leicht vorgebeugt, die Hände auf die muskulösen Oberschenkel gestützt. Von unten blinzelte er hoch, in das so vertraute, leider immer noch bleiche Gesicht, in das sich ungebärdige, schwarze Locken kringelten. "...oh, Georges!", raunte er kehlig, schnellte vor, überrumpelte den so all ahnenden Freund. Schlang einen kräftigen Arm um die zerbrechliche Taille und bedeckte dessen Gesicht mit neckenden, sanften Küssen, während die andere Hand einen rächenden Gegenangriff verhinderte. "...nicht doch! Das Essen!", protestierte Georges aussichtslos, zerrte und rupfte an T-Shirt-Ärmeln, aber diesen Kampf konnte er nicht gewinnen. Ganz gleich, wie unerfahren, unbeholfen und verunsichert er sich vorkam, Arjens ungefilterte, überbordende LUST auf IHN und die Leidenschaft, mit der er Überzeugungsarbeit leistete, sie überrollten ihn förmlich. Er wusste nicht, wie man küsste. So richtig, nicht bloß aus Höflichkeit. Sondern die Art von Kuss, die MEHR bewirkte, als ein Beischlaf jemals konnte. Die alle Sinne verwirrte, Explosionen in allen Nervenenden auslöste, jegliche Selbstkontrolle kurzschloss. Die süchtig nach endlosen Wiederholungen machte. Nach Arjens erstem Kuss verabschiedete sich sein allgegenwärtiger Verstand zu einem ausgedehnten Spaziergang. ~~~~~# "Wir müssen bloß noch die Anzüge abholen." Artig zerlegte Arjen die gefüllte Tomate, um sich nicht den Mund zu verbrennen, ganz so, wie Georges ihn ermahnt hatte. "Und dann geht's rund", strahlte er ihn erwartungsfreudig an. Georges nickte, löffelte Reis, kaute gedankenverloren. Morgen war IHR großer Tag. Arjens Familie würde kommen, zum Teil mit dem Zug, der geliebte Großonkel per Flieger. Und von seiner Seite wären Huub und Marguerite dabei. Einige von Arjens Freunden hatten sich auch angekündigt, nicht zur Eintragung ins Madararui-Familienregister, aber zur anschließenden Feier. Er kannte sie kaum, fragte sich, ob sie wohl enttäuscht von Arjens Wahl sein würden. NATÜRLICH war er der beste Fang nach Madararui-Maßstäben, aber... auf persönlicher Ebene konnte das Urteil durchaus vernichtend sein. "Georges?" Arjen legte ihm die Hand sanft auf eine unvermutet geballte Faust, "mach dir keine Sorgen, ja? Es wird schön werden", verkündete er im Brustton der Überzeugung, "wirst sehen, wir werden viel Spaß haben!" Georges lächelte zerknittert, um guten Willen zu beweisen. Eigentlich war es ihm stets VOLLKOMMEN gleichgültig gewesen, was irgendwer von ihm dachte, doch nun... mit wachsender Bestürzung hatte er in den letzten Tagen festgestellt, dass er sich von seinem Rebellentum verabschieden musste. Weil er möglicherweise Arjen Kummer bereiten konnte. Oder den Kindern irgendwann Anlass gab, sich seiner Haltung zu schämen. Georges seufzte leise. Als er Arjens aufmerksamen Blick auf sich spürte, sah er auf und zog eine betont schmerzliche Grimasse. "Mir ist gerade aufgegangen", bekundete er selbstironisch, "dass 'Orkan Georges' sich tatsächlich WOHLWOLLEN erwerben muss!" Seine tragische Gestik ermunterte Arjen zu einem amüsierten Feixen. "Das wirst du ohne Weiteres gewinnen", verkündete er und tätschelte spöttisch-tröstend Georges' wilden Lockenschopf. "Ha!", schnaubte der abschätzig, "DAS sagst du nur, weil du TOTAL voreingenommen bist!" "Stimmt!", pflichtete Arjen ihm sonnig bei, kaperte eine Hand, um einen verehrungsvollen Kuss auf den Handrücken zu platzieren. "Aber sieh es mal so: bei MIR hat dein Charme gewirkt! Und da ich so ein gewöhnlicher, durchschnittlicher Trottel bin..." Er grinste breit, präsentierte die gepflegten, starken Zähne ungeniert. Georges zog die Stirn kraus. "Es ist sehr viel leichter, wenn sie einen NICHT mögen", bemerkte er gedämpft. "Oh ja!", Arjen bemühte sich um einen leichten Ton, wollte sich nicht Georges' Unsicherheit zu Eigen machen. "Keine Ratschläge, keine häufigen Besuche, keine Angebote zu dubiosen Investitionen, keine unerwarteten Erbschaften, keine scheußlich ungezogenen Schoßtiere, die man verhätscheln muss..." "DAS gibt's doch bloß in Seifenopern!", widersprach Georges ihm. Ein winziger Zweifel allerdings färbte seinen Tonfall. "Ha!", kopierte Arjen grinsend Georges' Ausruf, "du kennst MEINE Familie noch nicht!" Georges lupfte eine Augenbraue, doch seine Miene wirkte nicht selbstsicher. War es ein Scherz, eine Übertreibung, oder blühte ihm morgen wirklich sein blaues Wunder? Arjen erlöste ihn schmunzelnd, "sie werden dich mögen, Georges. So, wie du bist." "Woher willst du das wissen?", Georges' Skepsis machte keine Pause. "Ganz einfach", Arjen streckte eine Hand aus, um über Georges' Wange zu streicheln und widerspenstige Locken zu bändigen. "Sie mögen mich. Und da ich bekanntermaßen einen guten Geschmack habe und DICH liebe, ist es nur logisch, dass MEINE Wahl auch IHRE Wahl ist und sie deshalb auch dich mögen werden." "...quod est demonstrandum", ergänzte Georges spöttisch, doch ganz konnte er sich dieser kuriosen Beweisführung nicht verschließen. "Ich werde mir Mühe geben", versprach er, den Blick trotzig-verlegen auf seinen Teller gesenkt, in den Reis-Gemüse-Trümmern stochernd. Arjen lächelte einfach, setzte das Gefecht nicht verbal fort. Unverwandt betrachtete er seinen nervösen, schüchtern-störrischen Gatten in spe. Mit Georges würde es ihm, da war er sich absolut sicher, niemals langweilig werden. Immer wieder würde es Augenblicke wie diesen geben, wo er ihn bezaubert und amüsiert ansah und wusste, dass er um keinen Preis auf Georges' Gesellschaft verzichten konnte. Besagter Georges errötete erstaunlich tief und hob bis zum Ende der Mahlzeit den Blick nicht mehr aus den Tiefen seines Tellers. ~~~~~# "... ich hab nicht gespuckt!", lauteten Georges erste Worte, als Arjen das Badezimmer betrat, neben ihm in die Hocke ging. "Das ist gut", antwortete er, die Stimme noch schlafesrau, streichelte Georges über den verkrümmten Rücken. Obwohl er durchaus bemerkt hatte, dass Georges unruhig schlief, hatte die vorherrschende Hitze ihn im Laufe der Nacht einfach schachmatt gesetzt. So konnte er nur vermuten, dass einer der Albträume Georges heimgesucht hatte. Arjen erhob sich, füllte ein Glas mit einer Mundspülung, die er mit Wasser verdünnte. Georges gurgelte artig, blass, die Locken feucht verklebt. "Ist es jetzt besser?" Arjen tränkte einen Waschlappen, pellte Georges ungefragt aus dem Pyjama-Oberteil, wischte ihm über die verschwitzt-klamme Haut. Ein stummes Nicken genügte ihm als Antwort. Behutsam tupfte er Georges' Oberkörper ab, nahm ihn dann schweigend an der Hand und führte ihn zurück ins Schlafzimmer. Dort streifte er sich das lose Top ab, das er immer zu den verwaschenen Boxershorts als Nachtwäsche wählte, und kletterte zurück ins Bett. Auffordernd streckte er Georges einen Arm entgegen, der ihm, nun nur mit der Pyjamahose bekleidet, zögerlich folgte. Doch es war noch zu früh, ihre zahlreichen Unternehmungen für diesen, IHREN Tag in Angriff zu nehmen, sodass er sich ohne Weiteres fügen konnte. Außerdem fühlte er sich wacklig auf den Beinen. Kaum dass er sich ausgestreckt hatte, was den schmerzenden Rücken erleichterte, der gar nicht gern über der Toilette kauerte, schlang Arjen einen Arm um ihn und zog ihn vorsichtig, aber unnachgiebig an seine Seite. "Zu kratzig?", erkundigte er sich sotto voce, spielte auf seine Brustbehaarung an, an die Georges sich schmiegte. "Nein", gab der ebenso leise zurück. Tatsächlich gefiel es ihm recht gut. »Geborgen«, dachte Georges verblüfft, »ich fühle mich...geborgen.« Eindeutig kurios, in SEINEM Alter noch für diese trügerische Sicherheit empfänglich zu sein! "Fahr die Antenne aus", bat Arjen ihn sanft. Georges zögerte einen Augenblick, doch die kryptische Botschaft gab ihm keine Rätsel auf. Er rutschte noch näher heran, suchte den Hautkontakt und blendete seine Präsenz in Arjens Bewusstsein ein. Gleichzeitig spürte er dessen Herzschlag, die ruhige Gewissheit, die Zuversicht, die sein Bär ausstrahlte. Sollte man kaum glauben, aber es war zu verlockend, sich davon einlullen zu lassen...! Arjen lächelte zufrieden, als er bemerkte, wie Georges' Atemzüge tief wurden, ihn wärmend streichelten. Vielleicht konnte er nicht in Morpheus' Finsternis gegen die Albträume gewinnen, aber jedes Mal, wenn Georges die Augen aufschlug, würde ER der Sieger sein! ~~~~~# Artig ließ Georges zahlreiche Umarmungen über sich ergehen, schüttelte Hände und antwortete höflich auf die unentwegten Fragen zu seinem Befinden. Arjen lächelte und fand Georges hinreißend. In dem geliehenen Abendanzug, aus sommerlich leichter Qualität und in Elfenbeintönen gehalten, wirkte Georges mit den zusammengefassten, schwarzen Locken wie ein vornehmer Gentleman aus einem vergangenen Jahrhundert. Vor allem aber nicht blass oder erschöpft. Er selbst hatte sich für einen blaugrauen Anzug mit Kummerbund entschieden, der seine athletische Figur angemessen würdigte und sowohl seiner Bräune als auch seinem mühsam dressierten Schopf gerecht wurde. Seine Familie wiederzusehen, gefiel ihm sehr. Und jeder schien aufrichtig erfreut, dass er endlich SEINEN Gefährten fürs Leben gefunden UND auch erobert hatte. Die amtliche Zeremonie verlief kurz und schmerzlos, zwei Autogramme in den gemeinsamen Vertrag, die Übertragung in die Register, reine Formalitäten. Trotzdem glaubte er, hinter sich seine Mutter vernehmlich schniefen zu hören. Die Vermählung, zu der sich zahlreiche seiner Freunde und Studienkollegen eingefunden hatten, zeichnete sich durch sehr viel mehr lebhaftes Treiben aus. Da sie beide nicht religiös gebunden waren und sich vorher geeinigt hatten, auf unsäglich kitschige Gelöbnisse zu verzichten, stimmten sie lediglich zu, einander auf dem gemeinsamen Weg zu begleiten. Sich stets mit Respekt und Loyalität zu begegnen und in ihre gegenseitige Fürsorge auch ihre Eltern und Kinder einzuschließen. Anschließend hatte er Georges endlich den bei ihrem ersten, gemeinsamen Marktbesuch heimlich erstandenen Ring an den Finger stecken können. Schlicht, flach und schmal, ein bescheidener Goldreif. Zu seiner Überraschung hatten Georges' Hände gezittert, als er ihm dieselbe Höflichkeit erwies, sie auch sichtbar miteinander zu verbinden. Um die Situation zu entspannen, konnte Arjen nicht anders, als Georges kokett-frech zuzuzwinkern, diesen in einen eleganten Ausfallschritt zu drängen und ihn wie ein romantischer Held banaler Liebesromane in seinen Armen aufzufangen. Selbstredend, um mit einem äußerst unzüchtigen Kuss ihr Versprechen zu besiegeln! Georges verpasste ihm zwar, kaum dass er wieder sicher stehen konnte, einen merklichen Knuff in den Oberarm, doch folgte keine der gewohnten Tiraden. Nun war es an Arjen, ein wenig verunsichert Seitenblicke auf seinen Gatten zu werfen, der mit einem heiteren Lächeln höflich Glückwünsche entgegennahm und mit Artigkeiten antwortete. Gemeinsam eröffneten sie das Buffet, sommerlich-leicht ausgewählt, Salate, Süßspeisen, viel Obst, dazu noch der Witterung gemäß Grillgut und, auf Georges' entschiedenen Wunsch hin, die belgische Nationalspeise: frittierte Kartoffelstäbchen! Bis in den frühen Abend wurde getafelt, gelacht, viel erzählt und aufgefrischt, dann verabschiedeten sich nacheinander die Gäste. Arjen begleitete seine Familie, die als große Schar durchaus Aufsehen erregte, zum Bahnhof, während Georges mit dem Caterer die Abschlussarbeiten besprach und anschließend Arjens geliebten Großonkel zum Hotel begleitete. ~~~~~# "... du liebe Güte...", murmelte Arjen, als sie gemeinsam, nach einem kleinen Spaziergang in der Dämmerung, ihr Wohnhaus erreichten. Der Tag war so aufregend und angefüllt gewesen, dass ein wenig Ruhe ihnen gut getan hatte. Huub und Marguerite, die sich artig wie alle anderen verabschiedet hatten und keiner besonderen Begleitung bedurften, wollten wohl keinen Zweifel aufkommen lassen, warum an diesem Tag die Apotheke geschlossen geblieben war. Quer über die Breite des Hauses war ein Spruchband befestigt, das dem frisch vermählten Paar gute Wünsche offerierte. Außerdem hatten sie überall Papierschlangen und Luftballons befestigt, Papierblumen auf die Fensterscheiben geklebt und als Hochzeitsgeschenk ein kleines Orangenbäumchen hübsch verpackt vor dem Eingang platziert. "Diese Heimlichtuer", kommentierte Georges sparsam, strich mit den Fingerspitzen über die Blättchen ihres neuen, grünen Freundes. Er nahm Arjen die Anzugjacke ab, die dieser lässig über den Rücken an einem Finger baumelnd transportiert hatte, zog ihn dann in seine Arme und wisperte, "jetzt küss mich richtig!" Seine schwarzen Augen wiesen bezeichnend hoch zum Nachbarhaus, wo zweifellos zwei Heimlichtuer neugierig auf die Reaktion des Ehepaars lauerten. Arjen grinste und kam dieser Aufforderung so gründlich nach, dass das Orangenbäumchen in Gefahr geriet, umgekegelt zu werden. ~~~~~# Die Anzüge ordentlich aufgehängt, frisch geduscht und rechtschaffen müde begaben sich Georges und Arjen ins Schlafzimmer. Aufräumen, Dekoration entfernen, Bilder durchsehen, Glückwunschschreiben beantworten: all das musste einfach warten! "Das war doch heute richtig nett, oder?" Arjen streckte sich neben Georges aus, langte nach dessen Rechter und führte sie an die Lippen, "mein Göttergatte! Könnte ich glatt noch mal machen." "Sind wir prominent, oder was?!", schnaubte Georges giftig, bevor er Arjen misstrauisch beäugte, "oder leidest du schon unter Gedächtnisschwund?" Arjen feixte. Er spürte genau, dass Georges ihm zuliebe seinen Kratzbürsten-Charme abstaubte. "He", neckte er sanft, "ich dachte schon, ich hätte nen Doppelgänger erwischt, weil du so artig warst." "Versuchst wohl, dich rauszuwinden, was?" Georges kniff ihm in die Nase, "Pech gehabt! Dein Otto ist protokolliert!" "Deiner auch!", lachte Arjen, täuschte einen Tackle an, den er niemals umgesetzt hätte, um die Kinder nicht zu gefährden. Fing Georges in seinen Armen ein und drehte sich mit ihm um die Achse, bevor er sich halb über, halb neben ihm einrichtete. "Ich liebe dich, mein Georges", raunte er zärtlich und genoss ungeniert die erhitzende Röte in Georges' Wangen. Georges unter ihm blinzelte, rang mit sich und murmelte schließlich, "na ja... dito, schätze ich. Du ungehobelter Bär." "Aber ungemein attraktiv", korrigierte Arjen grinsend, drückte einen Kuss auf Georges' zum bissigen Spott geschürzte Lippen. "Ein bisschen", korrigierte Georges boshaft, nachdem er sich mit spitzen Fingern in Arjens kurze Rippen befreit hatte. Sie grinsten einander Zähne bleckend an, dann, ohne es Aussprechen zu müssen, schlossen sie Frieden miteinander. Georges schmiegte sich an Arjens Seite, atmete tief durch. Er war erschöpft, von den vielen Menschen, den Gesprächen, den Emotionen, der Aufregung und Anspannung. Arjen kraulte ihm den Nacken unter den Locken, summte leise vor sich hin. Zu seiner eigenen Überraschung war er nicht aufgekratzt und überdreht, sondern auf eine stille Weise absolut zufrieden und mit sich im Reinen. Es war richtig, an Georges' Seite zu sein, hier zu leben, sich auf ihre Kinder zu freuen. Es KONNTE nicht anders sein. Er lächelte noch, als er einschlief, Georges in Morpheus' Domäne folgte. ~~~~~# Als Arjen am nächsten Morgen erwachte, schlief Georges neben ihm noch tief und fest. Lächelnd wischte er einige verwirrte Locken beiseite, hauchte einen Kuss auf Georges' ihm zugewandte Wange und verließ das Schlafzimmer. Im Arbeitszimmer ließ er sich nieder und lauschte den Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Einige Glückwünsche, dann der Anruf seiner Mutter, die nicht nur die glückliche Heimkehr verkündete, sondern davon schwärmte, was für ein wohlerzogener und bildhübscher Mann sein Gatte sei! Dass sie UNBEDINGT sofort einige Fotos benötigte, um der scheeläugigen, arroganten Zicke von Nachbarin mal zu zeigen, wie ein WIRKLICH nobler Ehemann aussah! Arjen unterdrückte ein Auflachen und besprach seinerseits den Anrufbeantworter seiner Eltern, er werde sich zügig um entsprechende Bilder bemühen und dankte ihnen auch herzlich für ihren Besuch. Anschließend kümmerte er sich um die elektronische Post und sagte seinem Großonkel zu, der sie zu einem frühen Abendessen einlud, bevor er sich wieder in den Flieger schwingen wolle. Als Arjen die Treppe hinunterstieg, traf er Georges an, der gerade das Badezimmer verließ. "Oh, habe ich dich etwa geweckt? Tut mir leid!" Arjen hielt Georges locker um die Hüften, küsste ihn auf die Stirn, "guten Morgen übrigens, mein Georges." "Guten Morgen", Georges studierte ihn einen langen Moment, "mein Hals war trocken." Das erklärte durchaus die Wanderung zum Badezimmer, allerdings... Arjen stutzte. Denn er spürte, dass zwar Georges' Locken ungezähmt trocken kringelten, wie ihnen beliebte, doch eine Ahnung von Frische umgab seinen besten Freund, deshalb... "...schätze, nicht nur dein Hals", antwortete er schließlich gedehnt. Um dann eifrig das Thema zu wechseln, "na, was möchtest du frühstücken? Ich habe ja nicht so einen großen Appetit, gestern ordentlich über die Stränge geschlagen...", plauderte er munter los. "Arjen", unterbrach Georges ihn leise, "wenn wir die Läden geschlossen lassen, ist es noch immer Nacht." Arjen blinzelte. Mit einiger Verzögerung entschlüsselte er die Botschaft. "...oh", er räusperte sich, ungewohnt verlegen, "stimmt." Ein wenig unschlüssig erwiderte er Georges' aufmerksamen Blick. Seit seiner Ankunft hatte er ihn zwar mehr als einmal geküsst, durchaus leidenschaftlich, mit ihm gekuschelt und geschmust, aber mehr... war nie in Frage gekommen. Eine seltsame Scheu befiel ihn. Er hatte angenommen, dass Georges keinen Bedarf danach verspürte, dem ersten Beischlaf seines Lebens, den er so gründlich aus dem Gedächtnis gestrichen hatte, eine Wiederholung folgen zu lassen. Auch wenn es ihre Hochzeitsnacht war, aber, herrje, wer klammerte sich denn heutzutage noch an diese überkommenen Vorstellungen in der stressgeplagten Realität? Georges nahm ihn an der Hand, wortlos, dirigierte ihn zurück in das Schlafzimmer, wo noch immer die Dämmerung vorherrschte. »Und er hat geduscht! Extra!«, leuchtete Arjen seine Libido heim, »Herrschaftszeiten, ran an DEN Mann!« Der ihm gerade, so anrührend scheu, den Rücken zukehrte, um aus dem Pyjama zu schlüpfen. Arjen baute sich hinter ihm auf, griff unter Georges' Armen hindurch, um den zittrigen Händen dabei zu assistieren, die Knopfleiste zu bezwingen. Er musste nicht metaphysisch begabt sein, um die nervöse Anspannung zu bemerken. Behutsam ließ er den Stoff von Georges' mageren Schultern gleiten, kämmte die langen Lockenstränge nach vorne, bevor er Kussspuren auf den Nacken, die Schulterblätter dippte. Während seine Hände beruhigend über Georges' nackte Arme auf und nieder strichen. Geduldig und sanft arbeitete er sich hinunter am Rückgrat, bedauerte die knochigen Knoten, die hervorstanden und deutlich verkündeten, wie zerbrechlich dünn sein Freund geworden war. Wie sehr ihn sein einsamer Kampf ausgezehrt hatte. »Alles wird gut«, wiederholt er in Gedanken beschwörend, »es wird gut, Georges. Keine Angst! Gemeinsam schaffen wir das. Alles wird gut.« Er ging auf die Knie hinter Georges, entkordelte die Pyjamahose, ließ sie zu einem kleinen Häufchen Stoff um Georges' Knöchel zusammensinken. Streichelte die Gänsehaut von den mageren Beinen, küsste die flachen Pobacken, die nur noch aus Sehnen zu bestehen schienen, bevor er das erste Mal mit der Zunge eine Kniekehle nach oben bestrich. Georges keuchte auf und taumelte, stützte sich instinktiv auf Arjens Schultern ab. Sein erschrockener Blick über die Schulter hinunter traf auf Arjens hellblauen, leidenschaftlichen. »Keine Angst«, beschwor er Georges, »keine Angst!« Aber er wusste, dass Georges unerfahren war, stets streng mit sich ins Gericht ging und es verabscheute, seiner Würde beraubt zu werden. Deshalb musste er geduldig sein, sich bezähmen. Ihm die Arme entgegenstrecken und ihn auf seinen Schoß hinunterziehen, in eine versichernde, zärtliche Umarmung. ~~~~~# Arjen hielt inne, von einer Kondenswasserschicht bedeckt, stieß ächzend wie eine alte Dampflokomotive Atem aus. Ihn schwindelte, das letzte Reservoir seiner Beherrschung war ausgeplündert. Vom Scheitel bis zur Sohle hatte er Georges in seine Zärtlichkeiten eingehüllt, ihn liebkost, geküsst, gestreichelt, mit allen Sinnen und der gelenkigen Zunge erkundet. Hatte mit einer geübten Hand Erleichterung gebracht, als der sich aufbäumende, zuckende Leib nach Erlösung schrie, sein Besitzer aber nicht wusste, wie man um diese winzige Gefälligkeit bat. Und Arjen wollte es RICHTIG machen! Georges sollte seine Gefühle nachempfinden können, diese elektrisierende Spannung aus liebevoller Zärtlichkeit und leidenschaftlicher, begehrlicher Lust! Aber es war nicht genug! Und Arjen verwünschte sich dafür, dass es ihm einfach nicht genügen wollte, so viel Hautkontakt wie irgend möglich mit Georges zu haben. Nein, MEHR sollte es sein, ein Verschmelzen, ein aufpeitschender Pas de deux, der sie im hitzigsten Gefecht zur Explosion führen würde! »Das kannst du NICHT TUN!«, brüllte ihn sein Verstand, hoffnungslos unterlegen, von überbordenden Hormonen umzingelt an. Sie waren beide Männer, einander ebenbürtig und Arjen hatte noch nie eine Vorliebe für Analsex gehegt, und trotzdem...! Trotzdem, gegen all seine guten Vorsätze, seine Überzeugungen, kochte es SCHON WIEDER auf! Einmal bereits, vor genau sieben Wochen, hatte er nachgegeben. Sich überrennen lassen. Weil es nicht genug war. Und weil er immer MEHR haben wollte. Er rang mit sich, verzweifelt, sich quälend. Erst als Georges ihm die Fingernägel in die Brust hieb, öffnete er die zusammengekniffenen Augen und verabschiedete sich einen Augenblick aus seinem inneren Konflikt. "...es ist... okay", formulierte Georges mit Mühe. Nasse Locken klebten in seinem schweißbedeckten Gesicht, sein ganzer Leib bebte vor Anstrengung, sich zu zügeln. Sein Mut, ungeachtet der letzten Erfahrungen, sich tapfer zu stellen, rührte Arjen bis ins Mark und beschämte ihn. Er beugte sich hinunter, Georges zärtlich zu küssen, bevor er ihm half, sich zu drehen, auf alle Viere zu begeben. Georges war erschöpft, gespannt wie eine Feder, so erregt, dass er sich auf die Lippen beißen musste, um nicht zu heulen, weil die Erlösung auf sich warten ließ. Mochte anderen dieser Schmerz bittersüß sein, sie ihn bis zur Neige auskosten wollen: IHM langte es! Und wenn Arjen es nun mal danach begehrte, seinen Körper rektal zu invahieren, dann zum Teufel damit! Für verletzte Eitelkeit und seine jammernde Würde hatte er JETZT einfach keine Nerven! Arjen hingegen bemühte sich darum, Georges weder zu verschrecken, noch ihm unnötige Qualen zu bereiten. Auch wenn sein eigener Geigerzähler wie verrückt ausschlug! Er schätzte sich glücklich, dass er damals, im Love-Hotel, auch ohne Georges' aktive Unterstützung, herausgefunden hatte, wie er unangenehme Beklemmung in aufreizende Lustbefriedigung umwandeln konnte. Jetzt blieb ihm nur noch zu hoffen, dass sein internes GPS fehlerfrei funktionierte! ~~~~~# Georges nippte an seiner schweren Tasse, aufgewärmte Milch mit viel Honig. Sein Hals war rau, und seine Hüfte pochte dumpf. Diese beiden Körperteile hatten die Hochzeitsnacht NICHT sonderlich genossen und beschwerten sich wehleidig. Arjen umschwirrte ihn wie eine besorgte Glucke. Auch wenn das nicht das ganz BESTIMMTE Glitzern in den hellblauen Augen tilgen konnte. "Ich mach das aber nicht ständig, klar?!", konnte Georges sich einer bärbeißigen Anmerkung nicht enthalten. Arjen rieb sich verlegen den ordentlich rasierten Kinnbart und murmelte, "nein, das verstehe ich doch." Sein unglücklicher Kleinmut hätte Georges früher zu einer scharfen Bemerkung gereizt, doch nun fühlte er sich bemüßigt, ihn aufzumuntern. "Hör mal, du Bär", schnaubte er deshalb und blickte angestrengt in seine gesüßte Milch, "ich weiß, dass man Übung braucht, um ein Meister zu werden. Mir wär's bloß lieb, wir verschieben die Turnübungen auf später." "Das versteh ich doch!", beeilte Arjen sich zu versichern, hockte sich neben ihn auf den Boden neben das Sofa, "wirklich! Tut es sehr weh?" Seufzend ließ Georges seine Tasse im Stich, tätschelte das semmelblonde Haupt. "Meine Hüfte tut weh", erklärte er belehrend, "und das nächste Mal werde ich mir eine Tüte Hustenbonbons neben das Bett deponieren. Aber sonst geht's mir gut, also erspar mir diesen waidwunden Blick, klar?!" Und zur Bekräftigung seiner Forderung zog er sehr kräftig an einem Ohr. "Autsch!", murmelte Arjen, noch immer kleinlaut, salutierte aber gehorsam. Eigentlich war ihm nun die Demission erteilt, doch wollte er lieber hier sitzen und Georges betrachten. Die rosigen Wangen, die zerwühlten, offenen Lockenstränge, das übergroße Hemd, das nur vage ahnen ließ, was für ein schöner, aber zarter Körper sich darunter befand. Der zu einer Märchengestalt wurde, wenn sie sich liebten. Arjen seufzte unwillkürlich hingerissen. Kein Dichter, kein Maler könnte jemals dem Zauber gerecht werden, der von Georges ausging, wenn er ihm seine wahre Seele enthüllte. "Also", schnarrte der unerbittlich, "ich weiß wirklich nicht, was mich stärker erschüttert!" Er schnalzte mit der Zunge, "dein unzüchtiges Grinsen vorhin, das dich GARANTIERT wegen Störung der öffentlichen Ordnung in den Knast bringen wird. Oder dieses blödig-selige Schmalzgrinsen jetzt, das nicht mal fortgeschrittene Gehirnerweichung entschuldigen könnte!" Unbeeindruckt von dieser vernichtenden Kritik lächelte Arjen nachsichtig. "Ich find dich auch super-geil", antwortete er treuherzig. "ARGGGHHHHH!", brüllte Georges, ignorierte seine zeternde Hüfte und holte zu wilden Schwüngen mit einem Sofakissen aus. ~~~~~# "Aber...", murmelte Arjen unbehaglich, ließ mit einem schabenden Geräusch die Scherenklingen aneinander reiben. Eigentlich wollte er das nicht tun. Georges, bis auf die Unterhose entblößt, stand im Badezimmer vor ihm, blickte streng und unnachgiebig. "Tu's!", gebot er mit funkelndem Blick gebieterisch. Arjen seufzte herzerweichend, schluckte schwer. Und säbelte systematisch die langen Locken ab. Als er endlich, nach einer halben Stunde, fertig war, blickte ihn ein fragiler, sehniger Mann mit leicht gewölbtem Unterbauch an, das schmale Gesicht von kurzen, wolligen Locken eingekräuselt. Georges wirkte trotz seiner Körpergröße nun knabenhaft, fast kindlich. Seine Miene und die tiefschwarzen Augen, die schon so viel gesehen hatten, konterkarierten diesen Eindruck. Er warf sich im Spiegel einen Blick zu, verließ dann den traurigen Kreis seiner prachtvollen Locken, straffte die Schultern. Die Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Jetzt", wisperte er kämpferisch, "bin ich bereit." Arjen wurde einmal mehr bewusst, dass trotz all der Heiterkeit und Bedeutung der letzten beiden Tage die tatsächliche Schlacht erst noch geschlagen werden musste. ~~~~~# Selbst Dr. Goodekirk konnte sich widerwillige Anerkennung nicht verkneifen. Seit der Vermählung hatte Georges mit unnachgiebiger Entschlossenheit seinen ausgebeuteten Körper darauf getrimmt, in den bestmöglichen Zustand versetzt zu werden. Georges, der sportlicher Betätigung nichts abgewinnen konnte, marschierte frühmorgens und spätabends, wenn die Hitze noch nicht so groß war, fünf Kilometer entlang der Kanäle. Hopste auf dem armen Trampolin, bis er überall nur noch Pudding in den Gliedern hatte und stemmte Wasserflaschen, die er sich zu diesem Zweck sogar um die Schienbeine band. Er achtete auf seine Ernährung, stellte sich einen Plan zusammen, der so viele Nährstoffe und Vitamine vorsah, wie sein Körper überhaupt verarbeiten konnte. Und wenn er aus Albträumen hochschreckte, verweigerte er sich dem Drang, alles auszuspucken, dem archaischen Wunsch, möglichst ohne Ballast fliehen zu können. Arjen, der Augenzeuge dieser Anstrengungen war, konnte sich ein stolzes Strahlen leisten. DAS war zumindest besser als die bange Frage, was um alles in der Welt Georges erwartete, dass er sich derart kasteite, um vorbereitet zu sein. Es beschämte Arjen durchaus, dass ein Teil seiner Selbst sich hartnäckig weigerte, der potentiellen Bedrohung ins Auge zu sehen. Georges aber war zufrieden mit sich. Was er zu leisten vermochte, hatte er getan. Und sollte es nicht genügen, dann... Dann wusste er seine Kinder in guten Händen. Bei seinem Bären, dessen quirliger Familie und ihren Freunden. Obgleich es ihm nicht gelungen war, eine feste Verbindung zu etablieren und Arjens Präsenz wie die eigene den Kindern zu vermitteln, zweifelte er nicht daran, dass sie ihn erkennen würden. Was also hatte er noch zu fürchten? ~~~~~# Arjen warf Georges einen beunruhigten Blick zu. In den letzten zwei Wochen hatten sie sich abends, wenn sie gemeinsam die Runde beendeten, nach einer erfrischenden Dusche, auf die Veranda zurückgezogen. Auf das Orangenbäumchen geschaut, Arm in Arm, Arjens Hand stets auf Georges' sich nun stärker wölbender Leibesmitte. Mit gedämpfter Stimme sprachen sie über alles Mögliche, die Pläne für die Zukunft. Die Umgestaltung der Zimmer, die Arbeitsteilung (falls es Arjen gelang, genug Zeit abzuknapsen, um eine Teilzeitbeschäftigung zu finden), das leidige Geld (von dem Georges genug hatte und es ohne jede Diskussion teilte), die Erziehung der Kinder... An diesem Abend aber lief Georges unruhig auf und ab, ständig in Bewegung. "Vielleicht sollten wir doch schon mal losfahren...", schlug Arjen endlich tapfer vor, "nur zur Sicherheit, nachschauen lassen..." Georges warf ihm einen gehetzten Blick zu, paradierte weiter. Seine Gesichtsfarbe war käsig, in den kurzen Locken glitzerten Schweißperlen. "Noch nicht", wisperte er heiser. Natürlich war sich Arjen der Tatsache bewusst, dass Georges wohl am Besten wusste, wann die Entbindung anzusetzen war. Trotzdem konnte er es nicht auf sich beruhen lassen. "Wenn wir aber JETZT ein Taxi nehmen, geht's recht schnell", argumentierte er, "noch warten sie ja auf Kundschaft. Später dagegen, wenn nichts mehr los ist..." Er zuckte zusammen, als Georges erstickt ächzte und sich an einer Lehne festklammerte. "Was ist?!", eilig stützte er seinen Lebensgefährten, "sag mir nicht, dass du schon Wehen hast?!" "...aber sie haben Angst!", keuchte Georges, rang nach Atem. Für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerzen. Arjen begriff, dass Georges versuchte, mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeiten den Abstoßungsprozess zu verzögern. Seinem Körper seinen Willen aufzuzwingen, um der Kinder Willen. Er unterdrückte einen heftigen Kraftausdruck, stürzte zur Haustür hinaus und klingelte Huub heraus, sie zur Klinik zu fahren. Unterdessen hatte sich Georges vor die Haustür geschleppt, die Lippen blutig gebissen, noch immer um Selbstbeherrschung ringend. Arjen sammelte die vorausschauend gepackte Umhängetasche ein, verschloss das Haus und half Georges die wenigen Meter zum Wagen, wo Huub schon nervös wartete. Er erschrak sichtlich, als er Georges' Miene sah. "Lieber Himmel!", ächzte er, während er eilig pilotierte, "warum hast du so lange gewartet?!" Georges, dem vor Schmerzen Tränen aus den Augenwinkeln sickerten, konnte ihm keine Antwort geben, so sehr presste er die Zähne aufeinander. "Die Kinder", sprang Arjen ein, der beide Arme um Georges gelegt hatte, um ihn zu schützen und spürte, welche Krämpfe durch dessen Leib tobten, "er sagt, dass die Kinder Angst haben." Glücklicherweise kamen sie ohne Hindernisse durch den spätabendlichen Verkehr, und auch die Klinik, bei der Georges durch Dr. Goodekirk angemeldet worden war, reagierte mit souveräner Gelassenheit auf Noteinlieferungen. Georges' Gesicht war mittlerweile kalkweiß, die Schmerzen krümmten ihn zusammen, sodass er nicht mal mehr gehen konnte. Arjen selbst war den Tränen nahe, weil er nicht wusste, wie er Georges Erleichterung verschaffen sollte. Aber es dauerte eben einige Minuten, bis ein Operationssaal für die Entbindung gerüstet und die notwendige Mannschaft zur Stelle war. "Es wird alles gut", wisperte er, drückte Georges' verkrampfte Hand, dem man ohne Zögern die hinderliche Kleidung vom Leib geschnitten hatte, bevor man ihn für den OP aufbahrte. "..Versprechen...", zischte Georges durch seine verkeilten Zähne, "...dein Versprechen..." "Das halte ich!", bekräftigte Arjen, zog unmanierlich die Nase hoch und wischte sich mit dem Unterarm über die Augen, "ich hol dich ab, klar?! Lass mich also nicht hängen, versprochen?!" Georges blinzelte, zog die Lippen zurück, die schmerzerfüllte Parodie eines Lächelns. Dann mussten sie sich trennen. Arjen blieb allein zurück, Georges' Trauring als Unterpfand in seiner geballten Faust. ~~~~~# Huub leistete Arjen Gesellschaft, der die gefalteten Hände vor der Stirn vornüber gebeugt kauerte, auf Nachrichten wartete und stumm betete. Welche wohlgesonnenen Götter auch immer ihm ein Ohr leihen wollten, er wäre ihnen dankbar, wenn sie für Georges und ihre beiden Kinder tätig würden! Obwohl lediglich eine halbe Stunde verstrich, nachdem die schwere Sicherungstür zum OP-Trakt zugefallen war, glaubte er, bereits Ewigkeiten hier zu sitzen, das winzige Muster der Bodenplatten und ihre Fugen zu studieren. Huub ersparte sich die Mühe, ihm wie einem kranken Pferd zuzureden, klopfte ihm nur hin und wieder beruhigend auf den verspannten Rücken. Und jedes Mal, wenn sich die schwere Tür öffnete, zuckten sie zusammen, hoffnungsvoll-bange Blicke entsendend, ob es Nachricht für sie gab. Es war eine zermürbende halbe Stunde, die Arjen als persönliche Höllenfahrt empfand und die ihm leider Gelegenheit gab, sich aller Vergehen zu entsinnen, die ihm nun übel vergolten werden konnten. Er schreckte aus seinem privaten Fegefeuer hoch, als zum ersten Mal die gedämpften Schritte vor IHM innehielten, allerdings, ohne zuvor die schwere Sicherheitstür bemüht zu haben. Vor ihm stand eine ältere Frau im Kostüm, lediglich mit einem ihrer Zunft entsprechenden, leicht zerknitternden Mantel als dem Personal zugehörig kenntlich. "Van Maarten", streckte sie ihm die Hand hin, "Dr. Goodekirk hat Sie mir angekündigt. Allerdings nicht so plötzlich." Arjen erhob sich, nahm die ausgestreckte Hand, stellte Huub ebenfalls vor und bezwang seine Sorge mannhaft, "ich nehme an, es... ist noch nicht vorbei?" "In der Tat", antwortete sie ihm, "bitte begleiten Sie mich doch in mein Büro, ja?" Huub erklärte, sich einen Kaffee holen zu wollen, um Unklarheiten über die Natur ihrer Beziehung auszuräumen, denn er war kein Angehöriger und deshalb wohl auch nicht befugt, die Intimitäten des Gesprächs teilen zu dürfen. Die Fäuste ungeduldig geballt nahm Arjen in einem kleinen Büro Platz, das lediglich aus Papierstapeln, überquellenden Rollschränken und einer Plastikpalme zu bestehen schien. Man konnte lediglich den Schreibtisch vermuten, hinter dem Frau van Maarten einen Stapel Papier entfernte, um sich setzen zu können. "Zunächst", ihre graublauen Augen blitzten aufmerksam über eine Lesebrille, die sie aus einem wirren Wust eisgrauer Locken befreit und auf ihre Nase montiert hatte, "darf ich Sie zu einem gesunden Pärchen beglückwünschen. Ein Junge und ein Mädchen." Arjen erstarrte, schnappte nach Luft, "aber haben Sie nicht gerade...?! Wieso, wenn die Kinder...?!" Es überlief ihn eiskalt. Wenn die Kinder schon geboren waren, was war dann aus Georges geworden?! "Ihre Kinder sind wohlauf", wiederholte sie nachdrücklich, fixierte ihn aufmerksam. Der Blick erinnerte Arjen an Georges, so prüfend und abwägend, wie er wohl reagieren mochte. "Was ist mit Georges?! Was ist mit ihm passiert?!", er sprang aus dem Freischwinger, sah auf sie herab, kämpfte mit einer Panikattacke, die den Puls in seinen Ohren hämmern ließ. "Bitte!", mit einer gebieterischen Geste deutete sie auf den Bürostuhl, "setzen Sie sich doch wieder." Arjen WOLLTE nicht. Aber seine Knie zitterten heftig genug, um ihn an seine guten Manieren zu erinnern und anzumerken, dass er im gegenwärtigen Zustand ohnehin nirgendwohin gelangen würde. Ungelenk plumpste er also in die ungenügenden Polster. "Ihr Lebensgefährte hat die Operation gut überstanden", wieder lag dieser beschwörende Blick auf Arjen, dem vor Grauen ganz flau wurde, "allerdings kam es anschließend zu Komplikationen." "Welche?", krächzte er heiser. "Nun, ganz unangekündigt kollabierte sein Kreislauf, als gerade die Wundversorgung beendet war. Wir vermuten, dass frühzeitig der Umkehrungsprozess eingesetzt hat." Arjen ballte die Fäuste, hielt sich am Schmerz des einschneidenden Rings in seine Muskeln aufrecht. "Und nun?", flüsterte er tonlos. "Es blieb uns nichts anderes übrig, als Ihren Lebensgefährten in ein künstliches Koma zu versetzen. Er liegt nun auf der Intensivstation." Ihm blieb die Luft weg, er musste sich vornüber beugen, um gegen die drohende Ohnmacht anzukämpfen. Eine kalte Kompresse landete in seinem Nacken. "Es ist nicht alle Hoffnung verloren", tröstete Frau van Maarten ihn mitfühlend, "wir tun, was wir können. Denken Sie an Ihre Kinder." Aber Arjen konnte nur an Georges denken, der um sein Leben kämpfte. ~~~~~# Betäubt folgte Arjen einer Säuglingsschwester, die ihn vor eine große Besucherwand führte. Hinter dem sicheren Glas wuselte Krankenhauspersonal zwischen Brutkästen hin und her, in denen winzige Madararui-Babys versorgt wurden. Zu so später Stunde waren keine anderen Besucher zugegen, sodass er sich nicht mit Entzückensrufen belasten musste. Es gab winzige Hundewelpen, kleine Katzen, eingerollte Drachen und eine heulende Schlange zu sehen. Diese Kinder waren noch zu klein, um ihre wahre Seele zu verbergen. Anders aber die beiden ineinander verknäulten Winzlinge, die man gerade hereinrollte. Ein schwarzer Schopf, gelockt, ein hellbrauner, verwirrt, winzige Glieder, rötliche Haut. Eindeutig aber Miniaturausgaben von Säuglingen. Welche wahre Seele sie auch hatten: sie offenbarten sie nicht. Arjen lehnte sich schwer an die Scheibe, starrte seine Kinder an, die trotz der Schläuche und aufgeklebten Membranen wie kleine Tiere die gegenseitige Nähe zum Trost suchten. "Es geht ihnen sehr gut", versicherte ihm die Säuglingsschwester aufmunternd, "sie atmen sogar schon selbstständig! Sie machen das schon ganz prächtig!" Er erwiderte nichts und bemerkte nicht mal, dass sie ihn taktvoll allein ließ. »Es geht ihnen gut«, wiederholte Arjen für sich, »es geht ihnen gut.« Natürlich tat es das. Und er würde jede Wette eingehen, dass Georges dafür Sorge getragen hatte, dass sie nicht spürten, wie schlecht es um ihn stand. Eigentlich sollte er jetzt wohl vor Freude tanzen, dass ihre Kinder so stark und gesund waren, gute Chancen hatten, die gefährlichen ersten drei Monate zu überstehen, aber der Kloß in seinem Hals würgte ihn zu sehr. Ihm war hundeelend zumute. Huub, der nach einer Weile kam, um seine neuen Nachbarn auch zu betrachten, nahm Arjen wortlos in die Arme und erstickte dessen verzweifeltes Schluchzen in seinem Pullover. ~~~~~# "Dachte nicht, dass sie so klein sind", bemerkte Huub schließlich nach dem anhaltenden Schweigen, steuerte seinen Kleinwagen umsichtig durch die verlassenen Straßen. Arjen neben ihm reagierte gar nicht. "Oder, dass es so viele gibt", Huub gab nicht auf. Was auch immer in Arjen vorging, ER wollte ihn nicht diesem Kampf ohne Schützenhilfe ausliefern! "Müssen alle in diese Brutkästen?", drängte er Arjen unnachgiebig seine Gegenwart auf. Ein leichtes Beben ging durch die zusammengesunkene Gestalt auf seinem Beifahrersitz. Arjen krächzte matt, "die, die nicht auf natürlichem Weg geboren werden, ja. Sind in den ersten drei Monaten am anfälligsten. Und müssen den Vorsprung der Affen-Babys aufholen." "Dann kannst du sie also gar nicht so schnell nach Hause holen?" Huub erweiterte seinen Horizont gründlich. Mit dem vorgeblichen Kinderhasser Georges hatte er solche Details nicht diskutieren können. Arjen schüttelte mutlos den Kopf. "Essen und Schlafen, am Anfang. Nicht viel sonst." Tatsächlich konnte niemand genau erklären, wie es den Madararui-Kindern gelang, in allen Belangen innerhalb von drei Monaten zu den übrigen Kindern aufzuschließen. Dazu war diese Fortpflanzungsform noch längst nicht alt genug. "Ach, verflixt!", murmelte Huub plötzlich, "Maggie wird mich nen Kopf kürzer machen!" Ein erschöpfter Seitenblick richtete sich auf ihn. »Ha!«, dachte Huub triumphierend, »raus aus dem Sumpf von Selbstmitleid und Vorwürfen, mein Junge!« "Ich hab doch glatt vergessen, Bilder zu machen! Meine Maggie ist total verrückt nach Babys!", erläuterte er sein Versäumnis. Verzichtete aber auf den gleichmütigen Nachsatz "Frauen eben!", da SEINE Maggie ihm zu diesem Thema hitzige Vorträge zu halten pflegte. "Später", murmelte Arjen und senkte die Lider, "später können wir Bilder machen." "Gut, sag mir Bescheid, ich begleite dich!" Huub gab sich betont geschäftig. Doch trotz dieser Vereinbarung war ihm unbehaglich zumute, als sie den Wagen abgestellt und die wenigen Meter zu ihren Wohnhäusern zurückgelegt hatten. Konnte er Arjen wirklich allein lassen? Scheu fasste er ihn an der Schulter, sah in die rot geäderten Augen. "Kommst du zurecht, mein Junge?", erkundigte er sich leise. Über Arjens Gesicht wischte ein geisterhaftes Lächeln. "...hab's versprochen", nickte er schließlich, straffte seine athletische Gestalt. "Dann", Huub räusperte sich, die Stimme von Mitgefühl belegt, "dann sehen wir uns später." Arjen nickte abgehackt, ließ sich dann in das dunkle, schmale Haus ein. Huub warf einen Blick nach oben, wo Maggie bereits hinter dem Fenster wartete. Er konnte im Schein der Straßenlaterne ihren bestürzten Gesichtsausdruck sehen. »VERDAMMT!«, fluchte Huub still, bereitete sich auf eine sehr unerfreuliche Offenbarung vor. ~~~~~# Als Arjen erwachte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er überhaupt das Bett gefunden hatte. Oder wie es ihm gelungen war, sich auszukleiden und alles sorgsam zusammenzufalten. Es schien so... kaltherzig. Unbeeindruckt. »Idiot!«, trat ihn sein Verstand in den Hintern, »reiß dich zusammen! Willst du ausgerechnet JETZT zum Jammerlappen mutieren?!« Arjen knirschte mit den Zähnen, setzte sich energisch auf. Er hatte länger geschlafen als üblich und deshalb wärmte die Sonne bereits trotz geschlossener Läden den Raum auf, sorgte für ein stickiges Klima. Die Beine über die Bettkante geschwungen bemühte er sich um Frischluftzufuhr und stellte sich unter eine eisig kalte Dusche. Das Wasser erwärmte sich zwar nach kurzer Zeitspanne, doch der erste Eindruck genügte, ihn aufzuputschen. Entschlossen, sich nicht EINEN Augenblick hängen zu lassen, deponierte er das nasse Handtuch ordentlich auf das Trockengestell, rasierte sein bloßes Ich sorgfältig. Verpasste sich eine ausgiebige Dosis Mundspülung, bevor er mit Deodorant dem Müffelteufel ein erhebliches Hindernis in den Weg stellte. Seine neu entdeckte Tapferkeit wankte einen Augenblick, als er im Schlafzimmer auf dem Nachttisch Georges' Trauring erblickte, doch sein Gewissen kniff ihn heftig in den imaginären Po und ermahnte ihn, gefälligst bei der Stange zu bleiben. Als er ins Erdgeschoss stieg, kam es ihm ohne Georges verlassen und einsam vor. "Er schafft das", verkündete er mit rauer Stimme der Stille, "Georges kneift nicht! Er ist zäh wie Leder!" Erneut senkte sich die Stille über ihn, doch bevor sie bedrückend werden konnte, wehrte er sich mit der Aktivierung des Radiogeräts. Nicht dass er auf die Beiträge lauschte, aber die Geräuschkulisse simulierte Normalität. Sodass er sogar frühstücken konnte. Und anschließend einen Lederriemen suchte, um sich Georges' Ring um den Hals zu binden. ~~~~~# Frau van Maarten empfing ihn erneut, was Arjen nicht gerade mit Zuversicht erfüllte. Vor Marguerite und Huub allerdings wollte er sich keine Blöße geben, deshalb schüttelte er höflich ihre Hand und bedankte sich artig für den Einsatz des Personals. "Ich würde Sie gern zur Ihrem Partner lassen, wir haben jedoch ein dringenderes Problem." Frau van Maarten hielt sich nicht länger als notwendig mit gesellschaftlichen Gepflogenheiten auf. "Geht es den Kindern nicht gut?" Marguerite hing sofort wie eine Bulldogge an ihren Fersen, bediente sich des scharfen Tonfalls, der jedem Inquisitor Respekt abgenötigt hätte. "Nun, VERMUTLICH geht es ihnen prächtig", Frau van Maarten, die offenkundig Zweikämpfe mit Schwieger-/Müttern gewohnt war, feuerte im gleichen Tonfall bissiger Aggression zurück. "Sie machen es UNS jedoch schwer, das zu verifizieren." Huub umklammerte Marguerites Handgelenk, um den Flurschaden zu begrenzen, während Arjen geistesgegenwärtig einhakte, "was meinen Sie damit?" Eine gewisse Ahnung beschlich ihn, und der argwöhnische Seitenblick, der ihn von Frau van Maarten traf, tat nichts dazu, ihn zu beruhigen. "DAS", schnaubte sie gallig, "zeige ich Ihnen am Besten selbst." ~~~~~# "...oh...", murmelte Arjen matt. Er HATTE geahnt, dass es ein Fall für Georges war! »Der nicht hier ist!«, sein Stolz trat ihm in die Hacken, »los doch, tu was!« »Aber was?!« Arjen leckte sich unbewusst über die Lippen. Sie befanden sich nicht vor der großen Besucherscheibe, sondern in einem kleinen Seitenraum, ehemals eine bescheidene Isolierstation, in die man allerhöchstens bei großem Aufkommen Säuglinge unterbrachte. Was lange nicht mehr vorgekommen war, denn auch unter den Madararui schrumpfte die Zahl des Nachwuchses. Hinter der Scheibe stand ein Brutkasten, in dem seine zwei winzigen Kinder lagen. Ein Pflege-Tandem, bei Madararui-Zwillingen üblich, versuchte sich daran, durch die im Brutkasten befestigten Handschuhe die Kinder vorsichtig zu trennen, um sie zu versorgen. Sofort flackerte das Licht, die Anzeigen der Aufzeichnungs- und Messgeräte schlugen unkontrolliert aus, während ein hohes, jämmerliches Wimmern ertönte. Man hätte sich in Gegenwart eines übellaunigen Poltergeistes vermuten können. In einem albernen Gruselfilm. "SO können wir nicht arbeiten!" Frau van Maarten starrte Arjen auffordernd an, als die beiden vermummten Säuglingspflegerinnen erfolglos ihre Versuche einstellten. "...sie haben Angst", verteidigte Arjen seine Kinder hilflos, wiederholte Georges' Worte. Aber was durfte er offenbaren?! Georges' Warnung letterte vor seinem inneren Auge in Leuchtbuchstaben. "Dann sollten Sie sie beruhigen", schnappte die weibliche Bulldogge. »Aber das kann NUR Georges!«, zeterte es in Arjens Hinterkopf, »bei MIR hat die Verbindung doch nicht geklappt!« Ungeachtet seiner Panik unternahm er eine Kehrtwende, schoss auf Frau van Maarten zu und schnappte ebenso bissig zurück, "warum zeigen Sie mir nicht gleich, wo ich so einen Kampfanzug bekomme?!" ER war vielleicht nicht bereit, aber durchaus willens, es mit allen weiblichen Oberfeldwebeln dieser Welt für seine Kinder aufzunehmen! ~~~~~# Quasi klinisch rein präpariert und eingetütet, mit dem seltsamen Gefühl, auf einer Mars-Mission zu sein, betrat Arjen das Goldfischglas, wie das Pflegepersonal respektlos den kleinen Raum nannte. Das Pflege-Tandem begleitete ihn, denn er kannte sich nicht damit aus, Kinder zu versorgen. Vor allem nicht, wie er mit flauem Gefühl in der Magengrube eingestand, wenn sie gerade mal die Größe seines Handtellers erreichten! Doch das sollte gar nicht seine Aufgabe sein. Lediglich beruhigend einzugreifen mochte genügen. Die große Klappe wurde geöffnet, was üblicherweise nicht so häufig vorgenommen wurde, um die Belastung der Winzlinge mit Keimen und Viren gering zu halten. Während die Säuglingspflegerinnen in die eingebauten Handschuhe schlüpften, bereit, ihre gewöhnliche Arbeit zu erledigen, schob Arjen behutsam einen Arm in den Glaskasten. Er spürte, ein wenig unbehaglich, die mit Vergrößerungsgläsern besetzten OP-Brillen der beiden Frauen auf sich gerichtet, schluckte nervös. Seine Fingerspitze, steril verpackt, streifte sehr, SEHR vorsichtig über ein ihm zugekehrtes, winziges Rückgrat. Mit einem erstickten Keuchen wich er ein wenig zurück. Für einen winzigen Moment...war da etwas gewesen! Behutsam schob er die Fingerspitze wieder an das winzige Kind heran. Und erneut... spürte er eine fremde Präsenz. So zerbrechlich wie ein schmaler Lichtfinger eines Leuchtturms in einer nebligen, undurchdringlichen Nacht. Arjen seufzte erleichtert, bewegte ganz vorsichtig die Fingerspitze über die winzige Rückenpartie. "Keine Angst", flüsterte er sanft, fühlte sich wie ein Riese im Reich der Liliputaner, wollte seine Kinder nicht mit dröhnender Stimme verschrecken. "Keine Angst, ihr Krabben, ich bin ja da." Auch wenn er nicht wie Georges bei ihnen SEIN konnte. Erwartungsvoll warteten die beiden Pflegerinnen auf sein Zeichen. Arjen schloss die Augen, bemühte sich um Entspannung. Für Georges war es einfach gewesen, doch für so ein winziges Kind musste es ungeheuer schwierig sein, diesen Kontakt aufrechtzuerhalten. »Tja, Georges, eins unserer Kinder kommt EINDEUTIG nach dir«, lächelte er ratlos. Dann nickte er knapp. Und dieses Mal gab es kein Spektakel, als die beiden Säuglinge behandelt wurden. ~~~~~# Huub wartete mit Marguerite im Flur, die sich kaum darüber beruhigen konnte, WIE klein diese Kinder waren. Dazu starrte sie auf das Display der Kamera, schüttelte ungläubig den Kopf. Arjen hatte je ein Kind sehr vorsichtig auf seine Hand gehoben und dann durch die Scheiben von ihr ablichten lassen. Aber zumindest waren sie, nun auch dokumentiert, wohlauf. Zwar, wie alle Madararui, noch blind und rechtschaffen schläfrig/hungrig, aber im Übrigen auf gutem Wege. Nun saß er allerdings vor einer schwierigen Aufgabe. Denn die Geburt seiner Kinder musste registriert werden, was voraussetzte, dass es auch Vornamen gab. Über die Georges sich nicht ausgelassen hatte, sodass Arjen sich plötzlich in alleiniger Entscheidungsgewalt befand. Er schloss die Augen, ignorierte Frau van Maarten in ihrem Papier-Mausoleum und wartete auf Inspiration. Dann, in einer fließenden Bewegung, taufte er seine Kinder auf Manon und Mathieu. ~~~~~# Ausgerüstet mit einem Plan, wann seine Assistenz vonnöten werden würde, um seine wehrhaften Kinder zu beruhigen, weil man sie voneinander trennte, wurde Arjen allein zur Intensivstation geführt. Dort lag Georges, in einem weiteren Glaskasten, verkabelt und invahiert von Schläuchen, dass er wie ein Bestandteil einer bizarren Androiden-Neuschöpfung wirkte. Der zuständige Spezialist, Dr. Khateeb, schüttelte ihm aufgeräumt die Hand und deutete Arjens erschütterten Gesichtsausdruck richtig. "Oh, es sieht schlimmer aus, als es ist", versicherte er mit einem aufmunternden Grinsen, "sein Zustand ist stabil." Arjen räusperte sich, krächzte, "und, wie geht's ihm?" "Nun ja", Dr. Khateeb baute sich neben ihm auf, verschränkte die Arme vor der Brust und studierte das Maschinenwesen hinter Glas, "wir haben seine Körpertemperatur stark heruntergekühlt, damit sich der Umwandlungsprozess verlangsamt. Glücklicherweise spricht er darauf an, das Fieber sinkt. Außerdem", er zählte an den Fingern ab, "Sauerstoffversorgung, Tropf, absolute Isolation, um das Infektionsrisiko gering zu halten." Arjen biss sich auf die Lippen. "Eine Magensonde will ich zunächst noch nicht legen, er hält sich ja ganz wacker", Dr. Khateeb klang beschwingt, "Herzleistung ziemlich gut. Wir überwachen seine Organe, es besteht also Grund zu Optimismus." Arjen ballte die Fäuste. IHM war nicht so leicht ums Herz. "Hatten Sie denn schon mal so einen... Fall wie ihn?", erkundigte er sich mühsam beherrscht. "So einen?" Dr. Khateeb grübelte nicht lange, "nein, ganz sicher nicht. Sie müssten sich mal die Aufzeichnungen im EEG ansehen! Er mag zwar da reglos liegen, aber in seinem Kopf ist der Teufel los!" »Wie beruhigend«, hörte Arjen sarkastisch Georges' Stimme in seinem Hinterkopf. "Wie schon gesagt", Dr. Khateeb klopfte Arjen auf die Schulter, "wir haben allen Grund zur Hoffnung. Und jetzt stelle ich Ihnen mal unseren Brabbelstab vor." ~~~~~# Arjen hielt das schmale Mikrophon, den Brabbelstab, in der Hand und überlegte, was er Georges übermitteln sollte. Da er ihn nur erahnen konnte inmitten der Maschinerie, fühlte er sich eingeschüchtert. Schließlich räusperte er sich und aktivierte den Knopf, "Georges, ich bin's." »Toll!«, grimassierte er, »klingst ja sehr souverän!« Die spöttische Kritik hinderte ihn jedoch nicht daran, seinem Lebensgefährten die letzten Neuigkeiten zu übermitteln. "Ich hatte gerade einen Schwatz mit deinem Arzt, Dr. Khateeb. Du wirst das bestimmt besser wissen als ich, aber sie haben dich auf Eis gelegt, begeistern sich über dein EEG und wollen dir NOCH keine Magensonde legen." Arjen sammelte sich und ergänzte betont humorig, "Junge, ICH würde auf Schlauchfutter unbedingt verzichten, wenn ich du wäre." Er lehnte den Kopf an die Scheibe, unbehaglich, weil er scheinbar ins Leere sprach. "Georges, ich habe auch nach unseren Kleinen geschaut", flüsterte er in das Mikrophon, "sie sind so... winzig. Aber es geht ihnen gut." Ein Lächeln trudelte um seine Mundwinkel, "ehrlich, Georges, das hast du gut gemacht. Wenn ich könnte, würde ich dich jetzt in Grund und Boden knutschen!" Um die bedrückende Stille, der kein wütender Protest folgte, wie er ihn liebte, zu vertreiben, fuhr Arjen hastig fort. "Ich musste mich auch gleich mit dem Papierkram rumschlagen, und weil DU", er bemühte sich um eine vorwurfsvolle Note, "dich ja geweigert hast, mit mir Namenslisten anzulegen, musst du jetzt damit leben, dass ich unseren Nachwuchs Manon und Mathieu getauft habe. So!" Arjen schloss die Augen, doch er konnte kein Echo spüren. Keine tröstliche Präsenz. Keinen Georges. Er seufzte, was das Mikrophon getreulich übertrug. "Jedenfalls...", wacker strengte er sich an, die einseitige Konversation fortzuführen, "werde ich jetzt ziemlich oft hier sein. Besonders Manon ist dir sehr ähnlich, Georges. Wirklich SEHR ähnlich", betonte er und hoffte, Georges möge verstehen. "Ich werde immer bei dir reinschauen", verkündete er, straffte seine matte Gestalt, "also vergiss nicht, was du mir versprochen hast." Als er das Mikrophon eingehängt hatte, betrachtete er noch einen langen Moment Georges' Maschinen-Lager. »Bitte«, flehte er stumm, »gib bloß nicht auf, Georges!« ~~~~~# Kapitel 15 - Liebe Um sich abzulenken, beantwortete Arjen diszipliniert die Post, vermied aber Telefonate. Er verschickte die von Marguerite angefertigten Aufnahmen der Kinder und umging jede Nachfrage nach Georges. Allen ging es den Umständen entsprechend gut, das musste genügen. Auf keinen Fall wollte er ein Schlupfloch finden, um in Katzenjammer zu versinken. Er zwang sich, den Haushalt zu ordnen, Wäsche zu waschen, Lebensmittel einzukaufen, einen Alltag zu etablieren. Und raste mit seinen Inlinern ins Krankenhaus, wenn das Pflegepersonal Untersuchungen vornehmen oder Windeln wechseln wollte. Nach drei Tagen waren Manon und Mathieu vertraut genug mit den Ritualen, dass sie auch ohne seine vorsichtigen Streicheleinheiten akzeptierten, kurzzeitig voneinander getrennt zu werden. Arjen vergaß die Zeit, wenn sie danach alleine miteinander waren. Fasziniert betrachtete er die kleinen, perfekten Händchen, die einander hielten, die dünnen, gekrümmten Beinchen, die sich ineinander hakten. Manon und Mathieu schliefen immer einander zugewandt, hielten Körperkontakt. Äußerlich konnte man sie leicht unterscheiden, Manons Haarflaum war nicht nur schwarz, sondern auch so kraus wie Georges' Lockenpracht. Ihre Hautfarbe hatte die rötliche Tönung der Geburt verloren und schimmerte weiß wie Schnee. Mathieu, ihr Bruder, präsentierte wirre Strähnchen hellbraunen Haars. Seine Haut war rosig, und er machte einen wonnig-knuddeligen Eindruck. Beide Kinder waren IMMER wach, wenn er kam. Und schliefen beruhigt ein, wenn sich der Glaskasten wieder schloss. Kein jämmerliches Jaulen, kein Spektakel mehr. Arjen wünschte sich, sie einmal lächeln zu sehen. Sie ohne die lästigen Sicherheitsvorkehrungen ganz vorsichtig in seine Hände nehmen zu können. Aber noch waren sie zu klein, die Welt zu gefährlich. Noch mussten sie in Windeseile wachsen, einen Vorsprung hinterherflitzen, denn die übrigen, auf natürlichem Weg nach neun Monaten geborenen Kinder hatten. "Ich schaue mal nach eurem Pappa", verkündete er zum Abschied stets, "tut nichts, das ich nicht auch tun würde, ja, ihr Krabben?" Georges dagegen kämpfte noch immer. Und baute rapide ab, zehrte die Reserven auf, die er so mühsam gesammelt hatte. Dr. Khateeb beharrte weiterhin darauf, es bestünde jeder Grund zu Optimismus, aber die steile Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen verriet ihn. Arjen hasste seine Hilflosigkeit, wenn er förmlich an der Scheibe klebte, wie ein Papagei nachplapperte, was sie sich für ihre gemeinsame Zukunft vorgenommen hatten. Eine schlimmere Strafe als seine Machtlosigkeit konnte es nicht geben! ~~~~~# Fünf Tage nach der Entbindung, noch vor der sehr frühen Routine, traf Arjen ein und entschied, zuerst bei Georges eine Stippvisite abzuleisten. Wenn er zu Hause seinen strikten Arbeitsplan erfüllt hatte, fiel ihm die Decke auf den Kopf. Da war er doch lieber auf den Rollen oder hier. Eine Armlänge von Heulen und Zähneklappern entfernt. Als er jedoch die Intensivstation betrat und zu Georges' Glaskasten marschierte, fand er die Maschinerie verwaist, ordentlich eingeparkt, von Georges aber keine Spur. "Nein!", rief er sich selbst laut zur Ordnung. Georges musste verlegt worden sein, DAS war die einzig mögliche Erklärung. Also betätigte er sich kurzerhand als Wegelagerer und überfiel den ersten Weißkittel, der seinen Weg kreuzte, mit der Begehr nach Auskunft. Tatsächlich hatte man Georges umquartiert. Arjen stöberte ihn auf einer anderen Station auf, mit Tropf und Sauerstoffmaske, jedoch ohne diverse andere medizinische Wurmfortsätze. Dr. Khateeb, den man eilig in Kenntnis gesetzt hatte, dass ein junger Mann in blau-weißem Sportlerdress nach einem Patienten gesucht hatte, flitzte mit wehenden Mantelschößen heran. Bloß keinen falschen Eindruck erwecken! "Was macht Georges hier?!" Arjen funkelte mit übermüdeten Augen aufgebracht. Konnte man ihn einfach hier, wo jeder Keim hereinspazierte, schlafen lassen?! Und warum war plötzlich dieser ganze andere Zinnober nicht mehr nötig, an den sie Georges vorher gekettet hatten?! "Ah, guten Morgen!" Dr. Khateeb bleckte die blendend weißen Beißer, "wir hatten Sie heute noch gar nicht so früh erwartet." »Darauf wette ich!«, knurrte Arjen innerlich, begnügte sich aber damit, die breiten Schultern auszustellen. Immerhin war er ein Kodiak-Schwergewicht, da reichte schon der Schattenwurf, um viele in die Flucht zu schlagen. "Sehen Sie, wir haben das künstliche Koma beendet, da ja auch der Umwandlungsprozess sich stark verlangsamt hat. Und seine Lage ist ja auch sehr stabil, da genügen die üblichen Überwachungsmechanismen." Der Arzt tippte in Windeseile auf ein EKG-Gerät, strahlte besorgt. "Wieso wacht Georges dann nicht auf?" Arjen stemmte die Hände auf die schmalen Hüften, wurde zu einem gewaltigen Bergmassiv. "Nun ja, das kommt vor", Dr. Khateeb hüstelte. "Gelegentlich. Kein Grund zur Sorge. Alle Werte im grünen Bereich, laienhaft ausgedrückt. Es ist mehr eine Art Winterschlaf, zum Vergleich. Und das ist ja gut, weil er sich auf diese Weise nicht überanstrengt, nicht wahr? Noch ist die Umwandlung ja nicht beendet." Arjen knurrte, ohne sich dessen bewusst zu sein. "Na schön", brummte er abweisend. Dann nahm er neben Georges' regloser Gestalt Platz, knöpfte den Lederriemen auf, den er um den Hals trug, nahm sanft Georges' eisig kalte Rechte, um vorsichtig den Trauring an seinen angestammten Platz zu schieben. ~~~~~# Arjen grinste, als er spürte, wie schwer es ihm fiel, Manon oder Mathieu in der ausgestreckten Hand zu halten. Verblüffend schnell nahmen die beiden an Gewicht zu, streckten sich, wuchsen. "Das macht ihr klasse, meine Krabben!", lobte er stolz, neckte mit der Spitze des kleinen Fingers das winzige Grübchen in Mathieus linker Wange. Es verlieh dem kleinen, runden Gesicht einen verschmitzten Ausdruck. Sie waren erst sechs Tage alt, aber schon jetzt konnte Arjen den Tag kaum erwarten, wenn er sie nach Hause holte. Aber zuerst musste es irgendwie gelingen, Georges' anhaltenden Dornröschenschlaf zu beenden. ~~~~~# Arjen war von einem leichten Schauer überrascht worden, den er durchaus begrüßte. Die schwüle Hitze hatte sich, nach seiner persönlichen Ansicht, lang genug ausgetobt. Er streifte sich die Tropfen von seiner Rennkombination, entstieg seinen Inlinern, schlüpfte in Espandrillas, hängte sich die Sonnenbrille in den Ausschnitt und spazierte den gewohnten Weg zur Inneren, um Georges einen Besuch abzustatten. Und nachzuhorchen, ob er nicht doch eine verflixte Erbse unter dessen Matratze schmuggeln solle, damit der sich endlich aus dem Lotterbett bequemte! Galgenhumor, aber Arjen konnte sich Georges' bissige Antworten vorstellen und fühlte sich dann nicht mehr so allein. Leise schlich er sich an den beiden anderen Betten vorbei, die inzwischen ebenfalls belegt worden waren, ältere Männer mit Herzproblemen. Ihr Schnarchen dröhnte unverändert, sodass er keine Furcht haben musste, sie etwa geweckt zu haben. Als er Georges' Bett erreichte, blieb er abrupt stehen und hätte beinahe die Inliner auf den Boden schlagen lassen. Die Bettdecke war nachlässig zurückgeschlagen, auf dem Laken zeichneten sich noch Spuren eines Körpers ab. Doch wo war Georges?! ~~~~~# Arjen kümmerte sich nicht um die mahnenden Rufe, rannte, so schnell er konnte, von der Inneren zur Säuglingsstation. Wenn IRGENDETWAS Georges' Rekonvaleszenz vorzeitig beenden konnte, würden es die Kinder sein! Zumindest hoffte er das, als er wie ein geölter Blitz das Treppenhaus stürmte und sich Zutritt zur Station verschaffte. Da das Pflegepersonal ihn kannte, ließen sie ihn vor, warnten ihn aber, in diesem Aufzug nicht zu den Kindern zu gehen. Das hatte Arjen auch gar nicht vor. Als er die Tür zur alten Isolierstation aufriss, empfing ihn ein nie zuvor vernommenes Geräusch. Georges schluchzte herzzerreißend, stützte sich am fahrbaren Gestell seines Tropfs ab. ~~~~~# Arjen ließ die Inliner achtlos sinken, warf einen panischen Blick in das Goldfischglas, doch er konnte kein Anzeichen entdecken, dass den Kindern etwas fehlte. Die Aufzeichnungen jedenfalls wirkten unbedenklich. "Georges! Georges, was ist denn los?!", er umklammerte seinen völlig aufgelösten Freund, ein Gespenst aus Haut und Knochen, unzureichend in einen Patientenkittel gekleidet. Der Rotz und Wasser heulte, würgend und keuchend nach Atem rang. "Was ist denn?! Was ist los?!", alarmiert stützte er Georges ab und versuchte, aus den hervorgestoßenen Silben schlau zu werden. "...tut mir... so leid... nicht verstanden... wollte nicht!" Georges weinte untröstlich und laut, nahe der Hysterie, klammerte sich seinerseits an Arjens Sportdress, "so leid!... zu spät... hab's nicht... verstanden!!" "Was hast du nicht verstanden?!" Arjen raffte den lächerlichen Kittel, versuchte, der Fluten, die Georges' Gesicht verheerten, irgendwie Einhalt zu gebieten, sie abzutrocknen. "Georges, bitte, ich versteh kein Wort!" Sein Blick irrte zu ihren Kindern, die jedoch schienen seelenruhig in ihrem Brutkasten zu liegen. Georges entglitt ihm, sackte auf die Knie, kauerte sich zusammen und schluchzte noch gequälter. Nun war es an Arjen, in Panik zu geraten. Er verstand nicht, was Georges ihm sagen wollte, wie er es überhaupt in seinem Zustand bis hierher geschafft hatte. Und was der von ihm erwartete. Härter als beabsichtigt packte er Georges an einem sehnigen Oberarm, zerrte ihn hoch in eine aufrechte Haltung und brüllte, "was stimmt nicht, Georges?! Verflucht, reiß dich zusammen!" Georges erstarrte, einen verängstigten Ausdruck im Gesicht, den Arjen noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Sofort überfielen ihn Schuldgefühle, die Beherrschung über sich verloren zu haben und Georges so entsetzlich schlecht zu behandeln. Doch sein Ausbruch brachte die Wende. Georges zitterte zwar am ganzen Leib wie Espenlaub, aber er sammelte sich ausreichend, um einen vollständigen Satz zu formulieren. "Manon ist blind." ~~~~~# Georges weinte wieder, als das Pflegepersonal die beiden Kinder sanft trennte und untersuchte. Tatsächlich schlugen beide Kinder die Augen auf. Mathieus funkelten in einem erstaunlichen Blau, Manons dagegen schimmerten Granatrot. Selbst vor der Scheibe konnte Arjen das überraschte Keuchen der beiden Pflegerinnen wahrnehmen. Er stand neben Georges, hielt ein wenig Distanz, weil er sich selbst nicht traute. Georges' verzweifeltes, untröstliches Unglück rieb ihn auf. Er hatte Mühe, dem Impuls zu widerstehen, Georges eine Ohrfeige zu verabreichen. Geübt untersuchte Frau van Maarten selbst die Reaktion der Kinder. Zu aller Verblüffung aber folgte Manon durchaus den Bewegungen. Was eigentlich nicht möglich sein konnte. "Georges?" Arjen warf einen Blick auf seinen Ehemann, so völlig derangiert und aufgelöst, "Georges, hast du dich geirrt?" Georges würgte ein Aufschluchzen hinunter, schüttelte den Kopf, "blind", winselte er todunglücklich erneut. "Das KANN nicht sein!" Arjen verlor die Geduld, riss Georges an der Schulter herum, "sie folgt dem Lichtpunkt mit den Augen, ich seh's doch, verdammt!" "Mathieu", flüsterte Georges, ließ den Kopf hängen, als habe er einen verdammenswerten Verrat begangen. Arjens Kopf wischte verblüfft herum. Konnte dieser winzige Bursche mit den neckischen Grübchen etwa... als Späher für seine Schwester fungieren?! Er schob Georges beiseite und aktivierte die Gegensprechanlage, "lenken Sie Mathieu ab, sodass er nicht verfolgen kann, was Sie tun", erteilte er beherrscht eine Anweisung. Sobald Mathieu herumgedreht wurde, nicht mehr wahrnehmen konnte, was vorging, begann er jammernd zu protestieren. Manon dagegen störte die Aufzeichnungsgeräte, rollte sich zusammen, um weniger Angriffsfläche zu bieten. "Aufhören!" Arjen zuckte zusammen, als Georges neben ihm erstaunlich kräftig mit den Fäusten gegen die dicke Scheibe schlug, "Sie machen meinen Kindern Angst!" Dass die Erwachsenen innerhalb des Glaskastens auch nicht gerade munter waren, verrieten ihre bleichen Gesichter im knackenden und knisternden Spektakel, das Manon betrieb. "Ist ja gut, Liebes", Georges wisperte, konzentrierte sich und sorgte für ein abruptes Ende des Aufruhrs. "Ich bin ja hier, alles wird gut", formulierten seine aufgebissenen Lippen. Manon rollte sich zu ihm herum, sah unverwandt hinüber zu ihrem Vater. Ausgeschlossen und hilflos verfolgte Arjen diese stumme Konversation. Was auch immer um sie herum geschah, kümmerte diese beiden keinen Deut. Georges, der so zerbrechlich an der Scheibe klebte, und Manon, dieses winzige Handvoll Leben. Schließlich stieß sich Georges mühevoll von der Scheibe ab, flüsterte, "ich muss hinein. Sie müssen mich zu ihnen lassen." Arjen holte sich mit einem Blick das vorwurfsvolle Zugeständnis von Frau van Maarten. Er wusste, DIESE Szene würde ein Nachspiel haben. ~~~~~# In einen Bademantel gehüllt kauerte Georges zusammengesackt in einem Bürodrehstuhl im Konferenzsaal. Den hatte man kurzerhand besetzt, da auch Dr. Khateeb ein Hühnchen mit seinem Patienten zu rupfen hatte. Arjen, der sich ob seiner heftigen Reaktionen und der unkontrollierten Eifersucht schämte, legte sich Schweigen auf. Er würde Georges unter vier Augen Abbitte leisten. Bevor sich jedoch die Fronten verhärten, man ihn mit Vorwürfen überhäufen konnte, die ihn das letzte Quäntchen Kraft kosten würden, entschied sich Georges für einen Ausfall. "Ich musste aufstehen, verstehen Sie", flüsterte er heiser ohne Einleitung, "sie hat nach mir gerufen. Ganz verstört." "Wie denn gerufen?" Dr. Khateeb beugte sich vor, eher neugierig als empört, doch Georges wedelte diesen Einwurf weg. "Vorher...", er suchte nach Worten, "vorher hab ich's nicht bemerkt. Alles in Ordnung, vorher. Erst jetzt... weil es anders ist als bei Mathieu. Hab's nicht richtig verstanden, deshalb..." Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf, "es tut mir so leid! So leid!" "Das erklärt aber keineswegs, wieso Ihre Tochter solche Reaktionen zeigt! Sie FIXIERT uns! Das entspricht NICHT meiner Auffassung von Blindheit!" Frau van Maarten schnaubte ungeduldig über Georges' erneuten Ausbruch. Arjen seufzte leise, schlüpfte aus seinem Sessel und hockte sich vor Georges', entfernte durchaus mühevoll die knochigen Hände von dessen nassem Gesicht. "Georges, du musst uns das erklären, bitte. Versuch, dich zu beruhigen." Georges zog so eine bittere, selbstverächtliche Grimasse, dass es Arjen schauderte. "Genügt es nicht, dass sie blind ist?!", fauchte er giftig, funkelte quer über den Tisch, "was ändert Ihre Neugierde daran?!" Bevor Arjen schockiert eine Entschuldigung für seinen offenkundig vollkommen derangierten Freund formulieren konnte, zischte der bösartig, "wenn ich Ihnen erkläre, was passiert ist, muss ich Sie danach umlegen. Sind Sie immer noch so scharf auf die Details?!" "...Georges!", keuchte Arjen. Er bemerkte, wie sich Georges' Finger tief in die Armlehnen gruben, während er konzentriert Frau van Maarten und Dr. Khateeb anstarrte. "...was tust du denn da?!", alarmiert wollte er Georges am Handgelenk packen, doch in diesem Moment stieß Frau van Maarten ihren Sessel zurück und verkündete pikiert, "tja, dann wäre ja alles geklärt." Auch Dr. Khateeb erhob sich, "ich sehe Sie dann später, damit wir Ihren Zustand untersuchen können." Er zwinkerte, blendete sein makelloses Gebiss auf und entfernte sich im Windschatten seiner Kollegin. Arjens Kinnlade hing in seinen Kniekehlen. Neben ihm sackte Georges leise winselnd in sich zusammen, massierte sich in kreisenden Bewegungen die Schläfen. "Was hast du bloß getan?", murmelte Arjen fassungslos. Aber eigentlich wollte er keine Antwort darauf erhalten. ~~~~~# Bis zur Aufklärung der vergangenen Ereignisse musste Arjen sich einen ganzen Tag gedulden. Georges' Zustand war so schlecht, dass er sich direkt nach der denkwürdigen Konferenz wieder in die Innere begeben musste, bis ins Mark ausgelaugt. Am nächsten Tag erhielt Arjen die Erlaubnis, Georges in einem Rollstuhl ein wenig an die frische Luft zu fahren. Georges schwieg, ein Häufchen Elend, das sich wohl am Liebsten irgendwo verkrochen hätte. Was Arjen auf keinen Fall zuzulassen beabsichtigte. "So", stellte er aufgeräumt fest, "und jetzt will ich deine Erklärung hören. Angefangen damit, wieso du plötzlich aus deinem Bett steigst, obwohl mir alle erklärt haben, dass du dafür viel zu schwach bist." Georges starrte auf seine sich verkrampfenden Hände auf seinem Schoß. "He", Arjen packte sein spitzes Kinn energisch, zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen, "ich werde dich nicht abhauen lassen, Georges. Vor MIR kannst du dich nicht verkriechen. Also versuch es lieber erst gar nicht." Georges' Blick war leer, ausgebrannt. Arjen ergriff Georges' verkrampfte Rechte, hielt ihm die eigene vors Gesicht, "erinnerst du dich? Wir haben uns was versprochen, Georges!", mahnte er. Der ächzte leise. Fasste aber zu, als ihm Arjen seine Hand anbot. "Ich erinnere mich", flüsterte er bekümmert, "dass es ihnen gut ging. Sie hatten Angst, aber ich habe versprochen, dass ich da sein würde." "Danach...", er schluckte, "danach musste ich alle Verbindungen abbrechen. Ging nicht anders", entschuldigte er den höchst egoistischen Kampf um sein Leben. Arjen drückte seine Hand stumm. Es gab keine Worte ausdrücken, wie sehr ihn Georges' verzweifelter Mut bewegte. "Sie hat nach mir gerufen", Georges blinzelte, zog die Nase hoch, aber die Tränen ließen sich nicht so einfach zurückschlagen, "ganz unruhig. Ich hab's aber nicht verstanden!" Wütend hieb er sich selbst auf den Oberschenkel, "sie kann's ja nicht erklären, und ich Idiot hab's einfach nicht KAPIERT!" Arjen fing die Faust ab, bevor Georges sich ernsthaft selbst verletzen konnte. Was unzweifelhaft seine Absicht war. "Wie kann sie dir etwas mitteilen?", unterbrach er Georges' Selbstanklage. Der rang merklich um Beherrschung, "das ist keine Telefonleitung", krächzte er bitter, "wir tauschen... Gefühle aus. Eindrücke." So plötzlich seine Verbitterung aufgetaucht war, wurde sie von Trauer und Schuldgefühlen verdrängt, "deshalb hab ich's nicht verstanden. Erst als sie den Unterschied bemerkte. Weil Mathieu sehen kann... verdammt!" Wütend schlug er sich die Faust an die Stirn und schluchzte auf. "Das ist nicht DEINE Schuld!", feuerte Arjen ab, bevor er sich erneut anhören musste, wie leid es Georges tat. Angesichts der Erfahrungen mit Yukimaru und Manons granatroten Augen zog er stark in Zweifel, dass die Erblindung sich nach der Geburt ereignet hatte. "Aber ICH hätte es merken müssen! ICH war es, der immer behauptet hat, alles wäre in Ordnung!" Georges schluchzte und schrie zugleich, "es IST meine Schuld! Sie ist BLIND! Das ist NICHT in Ordnung!" Arjen holte ansatzlos aus und ohrfeigte Georges. Dann federte er aus der Hocke und packte ihn an den Aufschlägen der dünnen Strickjacke. "Ich schwöre dir, Georges, wenn ich noch EIN MAL aus deinem Mund höre, mit unserem Mädchen sei etwas nicht in Ordnung, dann prügle ich dich windelweich!", fauchte er außer sich vor Zorn. "Sie kann nicht mit ihren Augen sehen, DAS ist alles! Aber sie hat Mathieu, sie hat mich und hoffentlich auch ihren jämmerlich herumheulenden Pappa! Sie IST in Ordnung!" Georges zitterte am ganze Leib, während sich seine Wange einfärbte. Er wagte kein Wort des Widerspruchs. Arjen zwang sich, wiederholt tief durchzuatmen. Er gab Georges' Strickjacke frei und trat einige Schritte vom Rollstuhl weg. »Was habe ich getan?!«, entsetzte er sich über sich selbst. Er zuckte erschreckt zusammen, als sich Georges' Hand in seine schob. Unbemerkt hatte der den Rollstuhl in Bewegung gesetzt, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. "...glaubst du wirklich", krächzte er nach einem Augenblick, "dass unser kleines Mädchen dir Vorwürfe machen wird, weil sie ist, wie sie ist?" Georges neben ihm seufzte. Beschämt. "Ich wollte nur...", er seufzte erneut kläglich, "sie sollen es doch nur gut haben. Glücklich sein, Freunde haben, ein ganz normales Leben..." Arjen begriff, was Georges ausließ: nicht die gefürchtete, einsame, streng disziplinierte Außenseiterexistenz ihres Pappas. "Du kannst nicht alles lenken, weißt du", antwortete er ihm sanft, blickte auf Georges hinunter. Der nun alles andere als übermächtig, unbezwingbar, arrogant war. Georges sah mit waidwundem Blick zu ihm auf. So verletzlich und gequält. Arjen beugte sich zu ihm herunter, schloss ihn in die Arme. Drückte ihn fest an sich. "Georges", murmelte er erstickt, "du hast mir so gefehlt!" ~~~~~# Arjen erwartete eigentlich, dass man sich weiterhin über Georges' seltsames Gebaren und das ungewöhnliche Verhalten von Manon auslassen würde. Doch weder von Frau van Maarten noch von Dr. Khateeb kamen irgendwelche Kommentare oder spitze Bemerkungen. Es schien, als hätten sie die Erinnerung an die verdächtigen Umstände aus ihrem Gedächtnis gestrichen. »Oder jemand hat gründlich nachgeholfen.« Dieser Verdacht quälte ihn, doch konnte er Georges deswegen zur Rede stellen? »Und herausfinden, dass dein geliebter Göttergatte in anderer Leute Gehirn herumfummeln kann? Und sich danach immer fragen, ob er nicht auch bei DIR operativ tätig ist?«, säuselte sein Misstrauen giftig. Arjen fragte sich, was genau Georges ihm verschwiegen hatte. Von den Anfragen, die er bekommen hatte. Als er jedoch an dessen Bett saß, die ausgemergelte Gestalt studierte, brachte er es einfach nicht übers Herz, Georges streng zu befragen. Nicht, wenn dieser schon erschöpft in sich zusammensackte, wenn man ihm den lächerlichen Krankenhauskittel wechselte. Sanft streichelte er über die kalte, knochige Hand. Georges blinzelte müde, kämpfte darum, die schweren Lider offen zu halten. Meistens war er sogar zu erschöpft, um mehr als ein paar Bissen zu essen. "Wärst du ein Bär, könntest du jetzt Winterschlaf halten", neckte Arjen seinen Freund leise. Ein schwaches Lächeln taumelte über Georges' Gesicht. "Wirst du mich denn im Frühling wecken?", flüsterte er rau. "Nein", Arjen zwinkerte, "ich roll mich direkt neben dir ein!" Georges schüttelte den Kopf, drückte Arjens Hand, "du musst auf die Kinder aufpassen!" Arjen runzelte die Stirn, beugte sich tiefer herunter, "Georges, hier geht's ihnen gut. Das hast du selbst gesagt." "Bitte!", Georges stemmte sich ächzend auf die Ellen, und Arjen erkannte an seiner Miene, dass er gegen Schwindel ankämpfte, "bin noch zu schwach!" Um Georges zu beruhigen, drückte Arjen ihn behutsam auf die Matratze herunter, streichelte die ungewohnt kurzen Löckchen liebkosend, "ich hab's dir geschworen, Georges. Daran hat sich nichts geändert." Die beabsichtigte Wirkung trat ein: Georges' angestrengte Züge entspannten sich sichtlich. "Und ich wecke dich auch im Frühling", Arjen küsste eine klamme Stirn liebevoll, "also sei bloß in Form!" ~~~~~# Wann immer Arjen, verpackt wie eine Mumie, wie er knurrend bemerkte, seinen Kindern im Goldfischglas Gesellschaft leistete, waren sie wach und artig. Kein jämmerliches Heulen von Mathieu, keine Störaktionen von Manon. Er rückte nahe heran, verwünschte die leidigen Sicherheitsvorkehrungen und betrachtete ihre Gesichter aufmerksam. Mathieu konnte, durchaus ungewöhnlich für einen Säugling von gerade ein paar Tagen, bereits grinsen. In seiner rechten Wange nistete unübersehbar ein Grübchen. »Der kommt nach mir!«, dachte er dann mit stolzgeschwellter Brust und erwiderte das zahnlose Feixen begeistert. Ja, Mathieu entwickelte sich schon jetzt zum Charmebolzen und bewies eine unerschütterlich gute Laune. Manon dagegen lächelte nicht. Abgesehen von ihren granatroten Augen blieb ihr weißes Gesicht ausdruckslos. Und Arjen verstand auch, warum das Pflegepersonal sich ein wenig unbehaglich fühlte. Manon fixierte alert jede Bewegung. Obwohl sie blind war. Und sich in ihrem Alter noch überhaupt nicht so lange konzentrieren können sollte. Arjen streichelte sie sanft mit einer Fingerspitze und ließ sich mustern. Seit dem ersten Mal hatte es keinen schüchternen Lichtfinger in seinem Kopf gegeben. »Ich muss mit Georges darüber sprechen«, nahm er sich vor. Denn er ahnte, dass gerade so Einiges nicht mit rechten Dingen zuging. Allerdings ließ dessen Gesundheitszustand immer noch stark zu wünschen übrig. Deshalb saß er neben Georges' Bett, streichelte eine kalte, knochige Hand und fragte sich, ob sein zerbrechlich wirkender Freund tatsächlich einen Winterschlaf absolvierte. »Oder einfach unseren Kindern nacheifert«, seufzte er still. Obwohl er Georges ganz sicher nicht die lebhaften Aktivitäten von Essen und Schlafen neidete, fühlte er sich doch einsam. Natürlich sahen Huub und Marguerite immer nach ihm, auch seine weitläufige Familie erkundigte sich unerbittlich nach dem Fortgang der Ereignisse und verlangte nach hübschen Bildern der glücklichen Familie. Aber das Gefühl der Einsamkeit, das ihm bisher noch nie begegnet war, ließ sich nicht so einfach verscheuchen. »Vielleicht«, resümierte er unwillig abends, allein auf der Veranda, »weil ich vorher noch nie so... ernsthaft mit jemandem verbunden war.« Zuvor hatte es ihn nicht sonderlich gestört, mit sich allein zu sein, ja, er hatte gelegentlich die freie Zeit sogar genossen. Aber nun fühlte er sich wie amputiert ohne Georges. Und es stand zu bezweifeln, dass es ihm in Kürze anders mit den Kindern gehen würde. "Du könntest dich nicht unter Umständen ein wenig beeilen?", raunte er Georges zu, der in einen Dornröschenschlaf gesunken war, "ohne dich ist alles irgendwie...", Arjen seufzte, "na ja, doof." So platt (und frech gestohlen) dieser Ausspruch auch war. Dieses Mal allerdings konnte Georges ihm offenkundig nicht zur Hilfe eilen. ~~~~~# Zwei Wochen waren seit der Entbindung verstrichen, und Arjen befand sich wie immer viel zu früh auf den Rollen. Was sollte er auch in aller Herrgottsfrühe zu Hause anstellen?! Das Frühstück schmeckte allein pappig, die Läden waren noch geschlossen und jeden Morgen irgendwas zu putzen, kam ihm reichlich neurotisch vor. Wie gewohnt verschaffte er sich Zutritt zur Station, verpuppte sich ordnungsgemäß und betrat das Goldfischglas. So leise, dass der andere Besucher ihn nicht bemerkte. Arjen sträubte sich unwillkürlich das Bärenfell. Dieser Kerl gehörte ganz bestimmt nicht zum Pflegepersonal! "HE!", röhrte er aus urigen Tiefen, grapschte eine Schulter und riss den Eindringling herum, "was treiben Sie hier?!" "Na, erlauben Sie mal!", plusterte sich der Fremde auf, ein Schlangen-Schwergewicht, das ihn empört musterte, "ich bin Vertreter des Madararui-Komitees!" "Mir scheißegal!", polterte Arjen und stellte seine ohnehin athletischen Schultern noch breiter aus, "Sie haben hier drin nichts verloren!" "Im Gegentum!", zischelte das Schlangen-Schwergewicht bösartig, "ICH befinde darüber, ob Ihre Angaben zur Identität Ihrer Kinder zutreffend sind!" "WAS?!" Arjen rollte die Schultern, präsentierte unbewusst die Sehnen in seinem Gesicht, "und deshalb schleppen Sie hier Keime und sonst was rein?! Ticken Sie noch ganz richtig, oder was?! Raus HIER!" "Wagen Sie es nicht!", drohte ihm der angebliche Inspektor bissig, "ich bin autorisiert, mir selbst ein Bild zu machen!" "Draußen!", grollte Arjen übellaunig, während eine leise Stimme in seinem Hinterkopf darüber spekulierte, warum die Kinder so ruhig waren. DAS bereitete ihm Sorgen. Der Klemmbrett-Fanatiker ignorierte ihn und bemerkte spitz, "tja, bedauerlich, dass die Kleine blind ist. Scheint nicht allzu viel Potential zu haben, obwohl ihr Vater..." Blitzartig, noch bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, hatte Arjen eine Hand um die Kehle des anderen Mannes gelegt, würgte ihn. "Kein einziges Wort über meine Tochter!", schnaubte er, mühsam beherrscht, "sonst kannst du durch die Grasnarbe atmen, verstanden?!" Ohne sich um die wackere Gegenwehr zu kümmern, schleifte er seinen Widersacher zur Schleuse hinaus und schleuderte ihn verächtlich in den Gang. Baute sich auf, wie es nur ein verschüttetes, blondes Kodiak-Schwergewicht konnte. Bedachte den Fremden mit einer imponierenden Fülle von Schimpfworten in einer Dezibelzahl, die selbst im entfernten Flügel des Krankenhauses noch zu hören war. ~~~~~# Arjen kochte noch immer vor Wut, als er zwei Stunden später Georges durch leichten Nieselregen chauffierte. Der Rollstuhl quietschte protestierend, doch Arjen war nicht aufzuhalten. "...ich fass es nicht, was DENKT sich dieser intrigante Haufen von degenerierten, inzestverseuchten Sesselfurzern?! Schicken da so einen dämlichen Penner her, um nachzuschauen, ob ich meine Kinder kenne!!" Kleine Dampfwölkchen materialisierten sich um sein blondes Haupt, waren jedoch der Witterung und Arjens Körpertemperatur geschuldet. Unter ihm kicherte Georges heiser. "ICH finde das gar nicht komisch!", knurrte Arjen finster. Und wunderte sich insgeheim darüber, dass Georges noch immer ruhig zuhörte, obwohl er seiner Empörung bereits zum dritten Mal Luft verschaffte. Georges legte den Kopf in den Nacken, zwinkerte zu ihm hoch. Zwinkerte!!! Dazu gesellte sich außerdem noch ein spitzbübisches Grinsen, als er anmerkte, "ich finde, du hast das prächtig gelöst." "Ach ja?!" Arjen lupfte kritisch eine Augenbraue. Frau van Maarten hatte seine Schimpftirade definitiv anders kategorisiert. "Du bist richtig zum Bären geworden", Georges wirkte sehr zufrieden, sein fahles Gesicht glänzte nicht nur vom Nieselregen. Arjen trat mental auf die Bremse und überdachte den Verlauf ihrer Konversation. DAS hier passte nicht zu Georges. Ausgenommen... Entschlossen steuerte er eine verlassene Sitzbank an, positionierte den Rollstuhl und nahm dann daneben Platz. "Georges", energisch schnappte er eine Hand und hielt sie fest, funkelte in die schwarzen Augen, "was zur Hölle geht hier vor?" Im liebenswürdigsten Tonfall formuliert. Georges blinzelte Regentropfen aus seinen langen Wimpern, rieb sich mit dem freien Handrücken über den kaum merklichen Bartschimmer am Kinn. "Du hast dich sehr wacker geschlagen", lächelte er Arjen amüsiert an. Wie eine Katze neben der leeren Sahneschüssel, die Schnurrhaare noch putzend. Arjen streckte die freie Hand aus, klemmte Georges' Nasenspitze einen Moment ein, bevor er ihm über die sich kringelnden, kurzen Löckchen streichelte. "Willst du mich wirklich sauer machen?", erkundigte er sich unter Auferbieten seiner letzten Reste an Selbstbeherrschung höflich. Georges legte den Kopf schief, pflückte Arjens Hand aus seinen schwarzen Locken und legte sie in seinen Schoß, hielt sie behutsam umfangen. "Bist du sicher", plötzlich war sein Blick laserscharf, die ausgezehrten Züge konzentriert, "dass du alle Antworten erfahren willst?" "Besser das, als mich fragen, ob du auch in meinem Kopf herumwirtschaftest", schoss Arjen postwendend und ungewohnt gallig zurück. Nur ein winziges Zucken in Georges' Gesicht verriet ihm, dass er getroffen hatte. Sogleich reute ihn seine gezielte Gemeinheit. "Georges...", murmelte er beschämt, streichelte mit den Daumen über die knochigen Handrücken. Georges senkte den Blick auf seinen Schoß, schluckte. "Nein", ein Lächeln zuckte irrlichternd in seinen Mundwinkeln, "du hast recht. Kein Grund, sich entschuldigen zu wollen." Dann sah er wieder auf, schenkte Arjen einen melancholisch-wehmütigen Blick. "Ich wünschte sehr, ich könnte dir versprechen, dass ich niemals in deinem Kopf herumgeistere. Leider hat mich die Erfahrung", er grimassierte grimmig, "gelehrt, dass solche Vorhaben zum Scheitern verurteilt sind." Arjen fühlte sich zu Kompensationen herausgefordert und antwortete großmütig, "na, solange DU es bist, mache ich mir keine Sorgen." An seiner Seite seufzte Georges kopfschüttelnd, "und DAS ist ein Grund dafür, warum ich dich heute als BÄR gebraucht habe. Du bist so ehrlich und geradeheraus, dass sie dir keine Ränke zutrauen." "Willst du damit sagen, dass ich ein trotteliger Simpel bin?", erkundigte sich Arjen prompt, durchaus ein klein wenig verletzt. Georges schmunzelte. "Ich kann mich nicht erinnern, dass eins mit dem anderen synonym ist", neckte er ihn, lächelte über die beleidigt vorgeschobene Unterlippe. "Aber?!", schnaubte Arjen, immer noch nicht gänzlich versöhnt. Als Antwort erhielt er einen profunden Seufzer. Dann löste Georges sogar seine Hände, doch bevor er ihn beschwichtigen konnte, legten sie sich bereits um seine Wangen. Unwillkürlich rückte Arjen näher, lehnte die Stirn an Georges'. Leider stießen ihre Knie aneinander, doch das entlockte Georges lediglich ein Prusten. Und Arjen spürte wieder die Verbindung in seinem Kopf. Wie ein warmes Glühen. Nicht aufdringlich, nein, mehr etwas im Hintergrund seines Bewusstseins, wie eine willkommene Präsenz in seinem Blinden Fleck. Unwillkürlich ächzte er erleichtert und senkte die Lider. "Arjen", Georges' Stimme war ein sanftes, jedoch leider nicht zärtliches Flüstern, "ich möchte nicht, dass du aus deinem kuscheligen Bärenfell fährst, wenn ich dir erkläre, was wir ausgeheckt haben." "...schön", murmelte Arjen, nicht sonderlich erbaut, denn es stand zu befürchten, dass ihm die Enthüllungen nicht gefallen würden, "und wer ist wir?" Georges lachte heiser, seine Fingerspitzen streichelten über Arjens Wangen und Schläfe, "na, Manon, Mathieu und ich!" "Oje!", jaulte Arjen auf. Ihm schwante schon Übles angesichts dieses Triumvirats. Dennoch kannte er sich gut genug, um sicher zu sein, dass seine Neugierde und lästige Gutmütigkeit ihn die Fassung wahren lassen würden. ~~~~~# "... ich kann nicht glauben, dass sie...!" Arjen schüttelte noch immer das nun deutlich feuchte Haupt, verbesserte sich dann aber selbst, "das heiß, ich KANN schon, aber, verflixt noch eins, ich WILL es nicht!" Aber er zog keineswegs in Zweifel, was Georges ihm enthüllt hatte. Besorgt legte er eine Hand auf die eingesunkene Schulter, "werden sie uns denn nie in Ruhe lassen?" Georges ließ sich mit der Antwort Zeit. Endlich räusperte er sich, merklich erschöpft von ihrem Ausflug, "nach meinen Erfahrungen? Nein, Arje, tut mir leid, aber... sie werden nicht lockerlassen." Arjen ballte die Fäuste um die Griffe, hörte das Metallrohr protestierend knirschen, "sollen's bloß wagen! Würde ihnen bitterlich leid tun!" Unter ihm lachte Georges leise, "deshalb werde ich mich nicht beeilen, Arje, sondern in Ruhe fit werden. Damit ich nicht neben dir zum Versager mutiere", neckte er ihn liebevoll. Und musste nicht den Kopf in den Nacken legen, um zu wissen, dass Arjens Wangen eine bemerkenswert dunkle Tönung angenommen hatten. Verflixt, bekam der Bursche denn alles mit?! ~~~~~# Arjen saß auf einem Hocker und betrachtete seine Kinder. Mathieu grinste ihn fröhlich an, hatte bereits ausgiebig mit dem Pflege-Tandem geflirtet, die ihn einfach hinreißend fanden. Manon dagegen erwiderte den Blick ihres Daddys unverwandt, direkt, ohne die Miene zu verziehen. "Herrje", wisperte Arjen sanft, der seine Tochter keinen Augenblick lang als unheimlich oder monströs empfunden hatte. Ganz im Gegensatz zu den Pflegekräften, "Wird wohl nicht einfach, dir beizubringen, dass du reden musst, wenn du dich austauschen willst, hm, mein Schatz?" Manon zwinkerte, Mathieu gurgelte leise. Arjen schnappte nach Luft. Wie konnten sie verstehen, was er sagte?! Zugegeben, Georges HATTE ihm erklärt, auf welcher Ebene die beiden Krabben ihre Umgebung begriffen, aber trotzdem...!! Vorsichtig kraulte er den krausen Flaum auf ihrem Köpfchen. "Kommst sehr nach deinem Pappa", raunte er kaum hörbar, "und ich weiß nicht, ob ich das momentan so gut finde." Mathieu gähnte bis zur Maulsperre, blinzelte dann müde. Ebenso charmiert wie die weiblichen Pflegekräfte lachte Arjen auf, kraulte einen winzigen, runden Bauch und nickte. "Schon verstanden, ihr Racker! Bis später dann und... stellt nichts an, dass wir nicht wieder ausbügeln können, ja?" Denn wie er nun wusste, konnte sie Einiges tun, das er NICHT tun würde. ~~~~~# Auf dem Heimweg überdachte Arjen, was Georges ihm erzählt hatte. Dass es wirklich fiese Figuren da draußen gab, die Georges' Schwäche ausnutzen wollten, um herauszufinden, ob man nicht die Kinder benutzen konnte. Ob nicht eines der Kinder Georges' Fähigkeiten geerbt hatte und leichter zu lenken war als der widerspenstige Vater. Unwillkürlich ballte er die Fäuste, knirschte mit den Zähnen. Wie konnte irgend jemand nur SO ABARTIG sein, sich deshalb zwei Wochen alte Säuglinge vorzunehmen?! Beinahe bedauerte er, dieses Schlangengezücht nicht in widerliche Einzelteile zerlegt zu haben. Allerdings, das musste er zu geben, den Plan, den Georges ausgeheckt und mit den Krabben umgesetzt hatte, konnte er nicht toppen. Und noch immer bewegte es ihn, dass Georges Manon in kürzester Frist beigebracht hatte, sich wie eine richtige Blinde zu geben... und wenn Zweifel entstehen sollten, gezielt die Wahrnehmung ihres Gegenüber zu manipulieren. So wie Georges selbst Frau van Maarten und Dr. Khateeb eine Gehirnwäsche verpasst hatte. »Eigentlich«, dachte Arjen, »sollte ich das verwerflich und besorgniserregend finden...« Er tat es jedoch nicht. Er zweifelte nicht daran, dass Georges ihre Kinder so akzeptierte, wie sie waren, ihre möglichen Fehler nicht übersah. Doch würde er sie bis zum Äußersten verteidigen, ohne Reue oder Skrupel. »Und angesichts dieser Mistkerle...!«, sah sich Arjen außerstande, diese Einstellung zu verurteilen. Zum ersten Mal hatte Georges ihm mehr als nur Andeutungen darüber zugemutet, was er seit früher Kindheit meisterte. Welche widerwärtigen Typen aufkreuzten, um sich seiner vermuteten, nie bestätigten Fähigkeiten zu bedienen. Es ging beileibe nicht darum, eine Krankheit zu lindern, Hilfe zu leisten. Oh nein, man wollte spionieren, fremde Ideen aushorchen, sogar Gedanken einpflanzen, Gegner in den Selbstmord treiben... man hätte es als Sci-Fi-Spinnerei abtun können! Wenn Georges nicht zugegeben hätte, dass er selbst seine Grenzen nicht kannte. Was nicht bedeutete, dass er bereit war, sich Erpressungen, Drohungen oder Bestechungen zu beugen, um herauszufinden, wie weit er gehen konnte. Sein eigener moralischer Kompass bestimmte seine Handlungsweise. Und wer keine Ablehnung akzeptieren konnte, lernte Georges' Kreativität kennen. Es war nicht nötig, selbst Hand anzulegen. Wozu gab es Sondereinsatzkräfte, Steuerfahnder, Konkurrenten oder übellaunige Ehefrauen? "Bloß ...!", seufzte Arjen, als er sich die Inliner abschnallte und Marguerite winkte, die beruhigt lächelte, als er das Haus betrat. Er wünschte bloß, dass es nicht nötig sei, dass seine kleinen Kinder noch im gewindelten Zustand ihre Fähigkeiten entwickeln mussten, um ihre Umgebung nachhaltig zu täuschen. ~~~~~# Eine Woche später stützte sich Georges leicht auf Arjens sichernden Arm, absolut entschlossen, das Krankenhaus aufrecht zu verlassen. Natürlich war er gewohnt leichenblass, viel zu dünn und ermüdete noch immer schnell bei der geringsten Anstrengung, aber er befand, seine Erholung würde in den eigenen Wänden schneller fortschreiten. Außerdem enervierte ihn die Langeweile im Krankenhaus. Arjen beteuerte artig, dass es ihm keine Mühe bereite, sich um Georges zu kümmern. Wie auch, da er endlich nicht mehr einsam sein würde! Huub strahlte, als er seinen Kompagnon behutsam und ungewohnt umarmte. Mochte Georges auch ein Gespenst seiner selbst sein, das agitierte Glitzern in den schwarzen Augen versprach Hoffnung! Rücksichtsloser und herzlicher drückte Marguerite Georges an ihre üppigen Kurven, ignorierte seine indigniert-hilflosen Proteste und schwärmte von den niedlichen Kindern. Nach einem gemeinsamen Mittagessen gelang es Huub, Marguerite wieder in die eigenen vier Wände zu bugsieren, damit das junge Ehepaar etwas Zeit für sich hatte. Georges ließ sich von Arjen die Treppe hinauf ins Schlafzimmer helfen. Die Mahlzeit hatte ihn ausgelaugt. Arjen schlug das Bett auf, pellte Georges neckend aus den Kleiderschichten, bevor er ihn zärtlich einwickelte. "Hast hübsch saubergemacht", lobte Georges ihn mit mühsam hochgeklappten Lidern, die sich bleischwer senken wollten. "Bin eben kein Einzelgänger-Bär", kokettierte Arjen lächelnd, beugte sich vor, um Georges' Stirn sanft zu siegeln, "du weißt, dass ich dich sehr vermisst habe." "Bin da", Georges verlor trotz heftiger Gegenwehr den Kampf gegen den Schlaf, "bin immer bei dir." "Schon", Arjen zupfte die Decke zurecht, streichelte über eine eingefallene Wange, "ich brauche dich aber auch zum Schmusen." "Hmmm", brummte Georges bloß noch. Arjen verdunkelte das Schlafzimmer, lächelte dann über Georges' Märchengestalt, die ihn wohl immer bezaubern würde. Er schloss die Zimmertür leise hinter sich, bevor er im Erdgeschoss wieder in seinen Sportlerdress schlüpfte. So, wie er seine Krabben kannte, wären sie heute schon wieder ein wenig gewachsen und ein geduldiges Publikum für seine Grimassen! ~~~~~# "Ich beschwere mich gar nicht", verkündete Georges demonstrativ, hoch aufgerichtet auf dem kissengepolsterten Gepäckträger. "Ja, das merke ich", brummte Arjen gutmütig und trat kräftig in die Pedalen. "Kein Wort der Kritik kommt über meine Lippen", Georges ließ nicht locker, die indignierende Position zu kommentieren. "Lieb von dir", betont gleichmütig antwortete Arjen und verkniff sich ein Ächzen, da Georges' Festklammergriff ziemlich perfid Fleisch einquetschte und sich nicht wie vereinbart auf die Gürtelschlaufen beschränkte. "Ich bin ausgesprochen konziliant", proklamierte Georges unerschütterlich. Arjen, der sich schon unerfreulich als Zwilling des Planeten Saturn sah, nämlich mit farbenprächtigem Ring um die Mitte, unterdrückte mannhaft einen Wehlaut und rettete sich die Haut mit einem Vorschlag. "Hör mal, sobald's dir besser geht, nimmst DU das Fahrrad, und ich wieder die Inliner, ja?" Für einen Augenblick herrschte Quietschen und Stille, dann bequemte sich Georges zum Einverständnis, "nun gut, aber das Kissen kommt weg!" "Selbstverständlich!", antwortete Arjen prompt und sah einen Teil seines Bärenfells schon als gerettet an. Zumindest entschied sich Georges, die Arme locker um seine Mitte zu schwingen und von weiteren Liebesbeweisen seiner Meinung zum aktuellen Transportmittel abzusehen. Anschließend marschierten sie gemeinsam zu ihrem Nachwuchs. Arjen schmunzelte einmal mehr über seinen Freund, den berüchtigten Kinderhasser, der selbstvergessen mit den Krabben spielte, Wange an Wange schmuste und vergnügt Grimassen schnitt. "Du kannst auch mit ihnen reden", neckte Arjen ihn, denn eingestandenermaßen fühlte er sich manchmal ein wenig außen vor. Georges' Möglichkeiten, mit ihren Kindern zu kommunizieren, überstiegen seine bei weitem. Nach einer halben Stunde hieß es gewöhnlich Zapfenstreich, denn selbst die muntersten Krabben mussten bald wieder schlafen, um zum Endspurt anzusetzen. Arjen löste das Fahrrad aus und wollte schon in den Sattel steigen, seinem Göttergatten Chauffeurdienste leisten, doch Georges ordnete an, "wir laufen." "Tun wir?", Arjen hielt das für arg ambitioniert, setzte sich aber artig in Marsch. "Ich denke, wir können sie bald nach Hause mitnehmen", leitete Georges die Unterhaltung ein. "Bald?", Arjen lupfte die Augenbrauen, "heiß es denn nicht, dass sie mindestens drei Monate...?" "Schon", fiel Georges ihm knapp ins Wort, bot ihm sein Profil, "aber wir machen eine Ausnahme." "Aha", kommentierte Arjen ratlos, "und aus welchem Grund tun wir das?" "Weil sie dann bei uns sind und noch schneller Fortschritte machen", Georges widmete ihm noch immer keinen Blick. Doch Arjen war noch nicht geneigt aufzustecken, "und was ist mit den Keimen und Viren und all dem Zeug? Sie können ja noch nicht geimpft werden. Oder denkst du, irgendwer ist hinter ihnen her?!" "Irgendwer wird immer hinter ihnen her sein", Georges grollte, "aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Und ihnen wird's gut gehen, ganz bestimmt." Arjen verdaute diese Erklärung einige Meter schweigend. "Und es kann nicht zufällig sein, dass du die Racker lieber bei dir hättest?", steuerte er tapfer vermintes Gelände an. "Zufällig nicht", schnurrte Georges unbeeindruckt, lupfte das Kinn noch einige Millimeter höher, "sogar ziemlich absichtlich. Allerdings würde ich das nicht in Angriff nehmen, wenn's gefährlich wäre." Ein SEHR vorwurfsvoller Blick streifte Arjen, der sich beinahe genötigt sah, den Kopf schützend zwischen die Schultern zu ziehen. "Schön", rettete er sein Bärenfell, "ich hab bestimmt nichts dagegen!" Außerdem war er ja als Hausmann auserkoren worden und konnte sich so endlich nützlich machen! Und wie viel Arbeit/Chaos konnten so zwei kleine Racker schon auslösen? »Mehr, als du ahnst«, grummelte sein Schweinehund verdrießlich, aber Arjens Optimismus wischte solche kleinmütigen Einwürfe energisch weg. "Da gibt's noch etwas", Georges' Marschtempo wurde langsamer. Arjen hielt an und wartete artig darauf, dass Georges registrierte, dass er ihm nicht mehr folgte. Als der sich auch umdrehte, eine Augenbraue tadelnd gelupft, klopfte Arjen demonstrativ auf den Sattel. Georges verschränkte stur die dürren Arme vor der abgemagerten Brust. "Bitte Platz zu nehmen", Arjen lächelte unverändert. Er merkte schließlich genau, wie müde Georges bereits war. Auch kein Wunder, so schnell konnte er sich nicht wieder vollends erholen und den Raubbau an seiner Gesundheit umkehren! "Ich kann laufen", beharrte Georges grimmig. "Ist mir bekannt", schmunzelte Arjen, "setz dich bitte trotzdem neben mich." Und um Georges die Entscheidung zwischen Stolz und Kondition zu erleichtern, rollte er zu ihm hin. "Herrje!", Georges warf die Arme hoch, "wenn du darauf bestehst!" Ein wenig wacklig erkletterte er seinen Thron, und Arjen schob den Drahtesel an. Er verspürte keinen Triumph, seinen Willen durchgesetzt zu haben, sondern Erleichterung, weil er hoffte, dass Georges seine Kräfte schonender einteilte. "Aber zurück zum Thema", sein Freund ließ sich nicht ablenken, "ich muss ein Hühnchen mit dir rupfen." DAS klang wirklich nicht nach 'Orkan Georges'! Arjen warf ihm einen beunruhigten Blick zu. Üblicherweise verpasste Georges ihm eine verbale Abreibung, die anderen die Ohren schlackern ließ. Er selbst war natürlich abgehärtet und konnte Georges' Tobsuchtsanfälle dechiffrieren. "Es findet kein Wettbewerb zwischen Super-Pappa und Mega-Daddy statt", legte Georges energisch fest, "und ich erwarte von dir, dass du das verinnerlichst." Neben ihm zögerte Arjen. Selbstredend wäre es lächerlich, sich mit Georges messen zu wollen, bloß konnte er nicht umhin, ihre Möglichkeiten zu vergleichen... Ein heftiger Ruck an seiner Ohrmuschel ließ ihn aufjaulen. "Ich werde es dir schön langsam erklären", zwitscherte Georges gefährlich süß, "du bist ja schließlich blond außen rum!" Arjen schluckte diese Gehässigkeit mühelos, fühlte sich sogar sentimental an alte Sturm und Drang-Zeiten erinnert. "Also, waren deine Eltern Kodiaks?", schoss Georges sich auf Arjen ein, der irritiert den Kopf schüttelte. "Hat Yuki je seine Eltern kennengelernt?", Georges setzte das Fragespiel hoch zu Drahtesel fort. "Nicht dass ich wüsste", Arjen hielt sich brav an sein Skript. "Schön. Würdest du sagen, dass aus dir oder auch aus Yuki etwas Anständiges geworden ist?", der Quizmaster der Hölle legte nach. "Nun ja...denke schon", so ganz begriff Arjen nicht, worauf Georges abzielte. "Dann fassen wir mal eben zusammen: ist es notwendig für ein Kind, dass seine Eltern vergleichbare Kräfte haben?" Arjen, der an einem Überweg zum Halten gezwungen war, brummte gutmütig, "sieht wohl nicht so aus." "Fein", demonstrativ tätschelte Georges ihm das blonde Haupt, "und erinnerst du dich daran, was du mir gesagt hast, bevor du zum Erstbesteiger wurdest?" "Ich wünschte, du würdest es nicht so nennen", murmelte Arjen und grub die Finger so fest in die Griffe, dass seine Knöchel blutleer schimmerten. "Ist dir Defloration lieber? Obwohl ich nicht weiß, ob man in diesem Fall..." Georges hatte den Gehässigkeitsmodus eingeschaltet und kannte offenkundig keine Bremse. Neben ihm hielt Arjen abrupt an, sodass Georges Mühe hatte, sich im/auf dem Sattel zu halten. Deutlich sichtbar durch die hervortretenden Sehnen in seinem anziehenden Gesicht kämpfte Arjen mit sich und einer heftigen Replik. Georges schmuggelte eine Hand unter dem Kinnbart vorbei, schmiegte sie an Arjens Wange und drehte dessen Kopf zu sich. Unerschrocken blickte er in die hellblauen, sturmumwölkten Augen. "Du hattest recht", seelenruhig lächelte er Arjen an, verhalten, ein wenig melancholisch, "ich habe es lange Jahre nicht akzeptieren wollen, aber... JEDER braucht einen Teddybären." Arjen blinzelte, überrumpelt, da seine Wut sich nicht so rasch verwandeln konnte. "Und deshalb", Georges streichelte behutsam über die kantige Wange, "habe ich keine Angst gehabt, unsere Kinder dir zu überlassen. DU bist der Bär..." Weiter kam er nicht, denn Arjen löste eine Hand vom Lenker, schlang sie stützend um Georges' zerbrechliche Taille und küsste ihn hingebungsvoll. Nur ein quengelndes Klirren warnte ihn, dass sie gefährlich ins Trudeln gerieten, wenn er nicht bald losließ. "Was machst du denn?!" Georges' Wangen hatten sich dezent eingefärbt, "doch nicht am helllichten Tag, auf offener Straße!" Arjen grinste breiter als jedes Scheunentor, "das heißt abgedunkelt im Schlafzimmer ist in Ordnung?!" Demonstrativ, wenn auch ein wenig unsicher verschränkte Georges die Arme vor der Brust, "finde es doch heraus." DAS ließ sich Arjen nicht zweimal sagen: er stieg in die Pedalen, wer musste schon sitzen?!, und strampelte wie ein Weltmeister Hormon-gedopt los! ~~~~~# Arjen seufzte sehr zufrieden und streichelte behutsam den feuchten Lockenschopf, der auf seinem Brustpelz lagerte. Mit der anderen Hand hielt er Georges' schmale sanft umfangen und füßelte neckend. Eine Dusche nach rhythmischer Bettgymnastik vor dem Kuscheln war eine Tradition, die sich einzuführen lohnte. "SO sollte es immer sein", brummte er selig. Georges grummelte, "verdammte Sportler!" Leise lachend hauchte Arjen einen Kuss auf die Locken, "tschuldige, Georges." "Ha!", schnaubte es auf seinem Brustkorb, was ein SEHR wohliges Gefühl auslöste, "warte nur! Ich hetz dir die Krabben auf den Hals!" "Hab ich gar nichts gegen", feixte Arjen unbekümmert, "wirst dir aber den kuscheligen Platz auf dem Echtfell dann teilen müssen!" "Ein Bär, ein Wort!", stellte Georges energisch fest, stützte sich auf Arjens Brustkorb auf und funkelte aus den schwarzen Augen agitiert, "vergiss das bloß nicht!" "Ich wette", schmunzelte Arjen, "dass DU keine Gelegenheit auslassen wirst, mich daran zu erinnern." "PAH!" schnaubte Georges betont grimmig, aber er studierte Arjen weiterhin konzentriert. Endlich rückte er mit der Sprache heraus, "du bist doch einverstanden, die Kinder zu holen... nicht wahr?" Arjen blinzelte überrascht. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass Georges seiner Meinung in dieser Angelegenheit ein Gewicht beimaß. Immerhin WUSSTE Georges ja, wie es um die Kinder bestellt war! "Na, hör mal!", protestierte Georges, ungewohnt verlegen, "ich bemühe mich ernsthaft, eine gleichberechtigte Partnerschaft zu führen!" "Oje!", Arjen verzog die Miene in jämmerlichem Erschrecken, "hast du etwa heimlich Frauenzeitschriften konsultiert?!" Georges rollte sich demonstrativ auf die Seite, kehrte Arjen den Rücken zu und verkündete schnippisch, "das stand in der Wochenendbeilage der Tageszeitung!" "Das erklärt alles", Arjen schmiegte sich löffelnd an seinen beleidigten Göttergatten, bevor er nachgab, mit der Nasenspitze Georges' sensiblen Nacken touchierte und wie ein brünftiger Stier schnaubte. "Nicht! Lass das!" Georges rotierte, spielte Arjen in die Arme, der sogleich herausfand, wie kitzlig der war. Ein mittleres Tohuwabohu später, die Matratze federte noch nach, lagen sie wieder einträchtig nebeneinander. Arjen verschränkte seine Finger mit Georges', drehte den Kopf und zwinkerte, "ich vertraue deinem Urteil, Georges. Und ich freue mich schon auf die kleinen Racker, dann kannst du dich nämlich auch endlich richtig erholen." Georges wurde bemerkenswert still. Sehr langsam wandte er Arjen den Kopf zu. Lächelnd langte Arjen mit der freien Hand hinüber, tippte Georges auf die Nasenspitze und zwinkerte. "Hast du geglaubt, ich merke das nicht? Ich weiß zwar nicht, was du alles angestellt hast, so auf Fernsteuerung, aber ich finde, du solltest dir endlich eine Pause gönnen und den feschen Bären hier ranlassen." "... es ist nur", Georges räusperte sich, so scheu und verlegen, wie Arjen ihn noch nie erlebt hatte. "Sie sind noch so klein. Ich will nicht, dass man gemein zu ihnen ist. Nur weil sie ein bisschen anders sind...", er zog eine trotzige Schnute. Arjen lächelte ausgesprochen schurkisch, bevor er ungeniert unter Georges' Arm einfädelte und ihn auf sich, in seine Arme zog. "Dein Bär hat dich sehr lieb, du Sprotte", raunte er zärtlich. Georges grummelte zwar ob des Kosenamens, tupfte aber einen Kuss auf Arjens Lippen, "ich mag mich auch." Das konnte Arjen natürlich nicht unkommentiert lassen und setzte zu einer neuen Runde Körperkontakt-Sport an. ~~~~~# Arjen hatte mit Protest gerechnet. Bürokratischen Hemmnissen. Göttlicher Intervention. Aber nichts geschah. Und eigentlich, das musste er sich eingestehen, verursachte die Reibungslosigkeit ihm ein unerquicklich kaltes Prickeln im Nacken. Trotz dickem Pferdeschwanz. Georges wirkte bleich, aber hochkonzentriert. Sein bezwingender Blick überwachte jede Handreichung, beschleunigte das Tempo. »Was hast du wieder angestellt?!«, Arjen widerstand tapfer der Versuchung, den Arm um Georges' magere Schultern zu legen, ihn auf diese Weise unauffällig zu stützen. Artig nahm er also seine Kinder im Empfang, legte sie vorsichtig in die kleinen Schlaufen, die er sich quer vor die Brust geschlungen hatte. Mathieu gab ein aufgeräumtes Brummeln von sich, blinzelte kurz und entschied, dass der Ortswechsel nicht gravierend genug war, sein Verdauungsschläfchen zu unterbrechen. Manon funkelte zu ihm hoch, ihr beunruhigend direkter Blick ankerte in seinen Augen. Sie zog die winzige Nase kraus, was Arjen so sehr an Georges erinnerte, dass er unwillkürlich ein breites Grinsen hinunterfeixte. Seine winzige, puppenhaft wirkende Tochter lupfte eine wie gestichelt wirkende Augenbraue und zog skeptisch einen Mundwinkel hoch. So, als sei sie noch nicht überzeugt, dass dieses Feixen der Situation auch angemessen war. Behutsam streichelte Arjen über das Lockenköpfchen vor seiner Brust und raunte, "na los, du Krabbe, zähl Schäfchen, die Rückfahrt ist langweilig." Wie gewohnt äußerte Manon sich nicht, senkte nach einer kleinen Bedenkzeit aber die durchscheinenden Lider und schmiegte eine Wange an seinen Brustkorb. Arjen seufzte unwillkürlich. Er fragte sich, was die Zukunft wohl bringen würde, für dieses ungewöhnliche Wesen mit den unwirklich schönen Zügen und dem zweifellos skalpellscharfen Instinkt ihres Pappas. "Gehen wir", Georges riss ihn aus seiner Versunkenheit, genug der Händeschüttelei und Höflichkeiten! Schmunzelnd streckte Arjen die Hand nach ihm aus, während er den anderen Arm vorsichtig unter seine kostbare Last legte. Georges ergriff ohne Zögern seine Hand und ließ ihn, wohl nur für einen Herzschlag, die zittrige Schwäche spüren, die er empfand. "Taxi?", schlug Arjen prompt vor. Was auch immer Georges angestellt hatte, der Zoll schien hoch zu sein. "Laufen", schnarrte Georges, lupfte das Kinn noch höher. Wollte sich, wie immer, keine Schwäche zugestehen. "Angeber", neckte Arjen ihn sanftmütig. Georges warf ihm einen Seitenblick zu, grinste dann verstohlen, was Arjen beinahe zum Stolpern brachte. "Stimmt", zwinkerte Georges freimütig, bevor er wieder die arrogante Maske aufsetzte und ihnen eine freie Passage durch die Passanten mit seinem fürchterlichsten Blick freilaserte. ~~~~~# Kapitel 16 - Familie Mathieu blickte sich interessiert um, schnupperte dann. So viele Menschen! Und so viel Trubel! Natürlich bestand der Menschenwald im Moment hauptsächlich aus Beinen, was daran lag, dass ein Fünfjähriger eben noch nicht ganz das durchschnittliche Gardemaß erreichte, aber Mathieu sah diesen Umstand nicht als Problem an. Vertraut drückte er Manons Hand, die neben ihm lief. Sie lächelte ihm kurz zu, und plötzlich hatte er ein Bild, oder eher einen Eindruck von frisch gebackenen Waffeln vor Augen. "Hmmmmm!", schnurrte er genießerisch. Also gab es hier irgendwo einen Waffelstand!! "Noch nicht", eine Hand legte sich auf seine kleine Schulter. Sie gehörte seinem Pappa und gebot Gehorsam. Mathieu seufzte und verabschiedete sich einstweilen von der süßen Versuchung. Also beschränkte er sich erneut darauf, die sie umwogende Menschenansammlung neugierig zu beobachten. Die Blicke, die sich auf ihn und vor allem auf Manon richteten, kümmerten ihn nicht sonderlich, das war er längst gewohnt. Oder auch lächerliche Ideen darüber, dass man nicht mit Mädchen spielte. Mit ihnen Hand in Hand ging! Mathieu fochten diesbezügliche Schmähungen nicht an, er begriff sie nicht mal, sondern schob sie als bedeutungslos beiseite. Manon war Manon, Punkt. Zugegeben, sie war auch ein Mädchen, aber was spielte das schon für eine Rolle? Und solange sie zusammen waren, mit ihrer Familie, den netten Nachbarn und den vielen Freunden ihrer Eltern, juckte es ihn kein bisschen, wenn irgendwelche Doofies im Kindergarten nicht mit ihnen spielen wollten. Manon drückte verschwörerisch seine Hand. Mathieu verstand ihre wortlosen Signale problemlos und grinste verhalten, um nicht einen tadelnden Blick ihres Pappas auf sich zu ziehen. Sie hatte also den Waffelstand geortet! Mathieu hinterfragte nicht, wie Manon alles aufspüren konnte. Oder woher sie wusste, was gleich passieren würde. Manon war Manon, Punkt. Und so würde es immer sein. "In Ordnung", hörte er über sich die Stimme seines Pappas und legte den Kopf in den Nacken, um die Wetterlage auszuloten. Georges, der seine schwarzen, langen Locken zu einem losen Zopf im Nacken zusammengefasst hatte, entspannte seine Züge merklich. Noch immer wanderten die tiefschwarzen Augen sezierend über die Menge, aber er konnte keine gefährlichen Ansinnen auffangen. Er ging vor den Zwillingen in die Hocke, schnalzte mit der Zunge, um die Klammer erneut zu befestigen, mit der Manons lockiger Zopf an ihrem Hinterkopf hochgesteckt wurde. "Also, habt ihr alles?", erkundigte er sich, betrachtete prüfend die runden Gesichter seiner Kinder. Mit der jeweils freien Hand klopften Manon und Mathieu auf ihre kleinen Umhängetaschen. Sie enthielten eine bescheidene Notfallausrüstung, die Nachwuchsentdeckern gute Dienste leistete. "In Ordnung, dann schaut, ob ihr Yuki und Tarou aufstöbern könnt", wie gewohnt tippte Georges mit dem Zeigefinger auf jedes Näschen, "und gebt Obacht, versprochen?" "Ehrenwort!", krähte Mathieu eifrig, Manon stimmte ihm mit ihrer leisen, stets beherrschten Stimme zu. Ein kurzer Händedruck, dann wuselten die beiden bereits davon. Und niemand hätte vermutet, dass Manon blind war. Georges richtete sich aus der Hocke auf und wandte sich zu seinem Freund um. "Soll ich unser kleines Faultier übernehmen?", erkundigte er sich fürsorglich. Arjen grinste und klopfte behutsam auf einen kleinen Windelpopo, was ein dumpfes Brummen bewirkte. "Nicht nötig, uns geht's gut", verkündete er fröhlich. Und dieses uns schloss nicht nur das kleine Faultier ein, das spannungslos wie ein alter Sandsack über seiner linken Schulter hing, sondern auch das letzte Mitglied ihres Krabben-Quartetts, das in zwei Wochen zur Welt kommen würde. Georges lupfte wie immer eine Augenbraue, widersprach aber nicht. Zu seiner Erleichterung absolvierte Arjen seine zweite Schwangerschaft ebenso unbekümmert und komplikationsfrei wie die erste vor einem Jahr. "Nun, lange wirst du sie nicht für dich haben", murmelte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menge. Arjen neben ihm schmunzelte und kraulte behutsam das Faultier auf seinem Arm. Natürlich hatte der stolze Pappa vor einem Jahr nach der Entbindung einen anderen Namen eingetragen, nämlich Odile. Die Zwillinge jedoch verpassten ihrer kleinen Schwester nach dem ausgiebigen Studium von bebilderten Lexika bei 'Opa Huub' den Spitznamen, da sie nichts anderes zu tun schien, als von Schultern herabzuhängen und zu schlafen. Tatsächlich schien Odile sich nicht vom unermüdlichen Tatendrang ihrer Geschwister anstecken zu lassen. Sie schlief, sie brummte gelegentlich vor sich hin, sie aß artig... aber sie robbte nicht über den Teppich, plapperte nicht los, spielte mit Stofftieren oder türmte Klötzchen auf. Das rief Besorgnis hervor, nicht jedoch bei Georges. Mit finsterstem Blick verkündete er eisig jedem Bedenkenträger, mit Odile sei ALLES in vorzüglichster Ordnung, besten Dank auch! Arjen war durchaus geneigt, Georges zu vertrauen. Und wenn Odile über die Schulter ihres Pappas hing, ein Auge lässig öffnete und ihrem Daddy zuzwinkerte, wusste er sich bestätigt. Alle ihre Kinder waren von Geburt an Persönlichkeiten, sodass er sich schon darauf freute, den jüngsten Spross kennenzulernen! "..aha", murmelte Georges neben ihm, wie stets adrett in dreiteiligem Anzug, der seiner elegant-schlanken Gestalt hervorragend stand, ein Gothic-Dandy der Sonderklasse. Er selbst hatte sich eine etwas gesetztere Figur in den vergangenen Jahren zugelegt, eher kräftig-athletisch als sehnig, der Pferdeschwanz war abgeschnitten, sein Kinnbart wanderte ordentlich rasiert nun auch über seine Kieferlinie bis zu den Koteletten. Seinem eher lässigen Kleidungsstil blieb er allerdings treu, was sich gerade in abgeschnittenen Cargohosen und lockerem Seersucker-Hemd über Trekking-Sandalen äußerte. Vor ihnen arbeitete sich ein älterer Herr mit schlohweißer Mähne unerschütterlich durch die Menge, lächelte charmant trotz der ausgefahrenen Ellenbogen. "Arjen! Georges!", rief er erfreut, schüttelte Georges die Hand, umarmte seinen Großneffen kurz, bevor er die Hände nach Odile ausstreckte. "Wie geht's meinem Mädchen?", gurrte er vernarrt und hielt Odile vor sich, die ihm ein nachlässiges Grinsen schenkte. "Hrmrmmmrmrm", kommentierte sie die Verlagerung ihrer Schlafposition, ließ sich dann wieder zum Weiterdösen über eine Schulter legen, Arme und Beine von sich gestreckt. Arjen grinste Georges zu. Sein Großonkel liebte Odile heiß und innig, von ihrem eigenwilligen Charme verzaubert. "Das gemütlichste Frauenzimmer, das mir je begegnet ist!", pflegte er auszurufen, während Odile bereits brummend auf seinem Arm einnickte. Georges dagegen nutzte die Gelegenheit, Arjens Hand zu okkupieren. Warum sollte er auch nicht mit seinem blonden Wikinger-Freund angeben?! "Wo sind denn die Krabben?" Arjens Großonkel kraulte den zarten Nacken des Faultiers und blickte sich suchend um. "Sie halten nach Yuki und Tarou Ausschau", erklärte Arjen, amüsiert über Georges' funkelnden Blick auf eine kleine Gruppe Frauen, die eindeutig zu ihnen herüberstarrten. Aufquiekend stoben sie auseinander, irgendetwas musste im Gras zu ihren Füßen aufgetaucht sein. "Georges", tadelte er raunend. "Phf!", schnaubte der neben ihm verächtlich, "selbst schuld." Sein ungnädiger Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht zu Konzessionen geneigt war. Arjen schmunzelte über Georges' Eifersucht, beugte sich vor und küsste ihn sanft auf die ärgerlich geschürzten Lippen, "dieser Bär gehört nur dir." Georges grummelte etwas, was verdächtig nach "verflixte Co-Schwangerschaft" klang, streichelte unauffällig über Arjens Mitte. Um ihn von seiner temporär labilen Gemütslage abzulenken, schlug der ihm vor, "lass uns auch nach Yuki und Tarou suchen. Oder zumindest ein ruhigeres Eckchen." "Gute Idee", sein Großonkel wühlte sich mit Odile bereits durch die Menge. Georges, der Arjens Hand nicht preisgab, sorgte auf seine Weise effizient für einen bequemen Korridor. Odile öffnete ein Auge und zwinkerte ihren Eltern zu, bevor sie sich mit einem gemütlichen Schnaufer wieder ihrem liebsten Zeitvertreib widmete. ~~~~~# Mathieu blieb stehen, blickte sich um, verschaffte sich ein Panorama. Manon neben ihm wartete geduldig, konzentrierte sich. Ohne Worte zu wechseln, spürte Mathieu, dass sie noch niemanden hatte ausfindig machen können, der Yuki oder Tarou ähnelte. "Hmm", kommentierte er nachdenklich. Und schnupperte, ob sie nicht REIN ZUFÄLLIG doch in der Nähe der verlockenden Waffelbude waren... Manon drückte seine Hand. Sofort verabschiedete Mathieu seine kulinarischen Sehnsüchte. Ihr Pappa hatte ihnen eingeschärft, auf alles zu achten, das ihnen merkwürdig vorkam. Natürlich überließ Mathieu Manon den Vortritt, sie konnte das sehr viel besser. Er verstand sich gut darauf, zu beißen, zu treten und flink abzutauchen. Es gab nämlich da draußen, in der weiten Welt, Menschen mit bösen Absichten, wie ihnen ihr Pappa erklärt hatte. Die sie weg-verschlepp-nappen wollten! Vor zwei Jahren waren solche Leute in Anzügen im Kindergarten aufgetaucht, mit Papieren und falschem Lächeln. Manon hatte sie jedoch zuvor entlarvt und sich mit ihm in der Lüftungsanlage versteckt. Gemeine Räuber, wie in dem Bilderbuch, das Daddy ihnen abends vorgelesen hatte! Deshalb hatten sie auch nach Pappa gerufen. Und der hatte den miesen Molchen ordentlich die Hölle heißgemacht! Selbstverständlich wusste Pappa auch genau, wo sie sich versteckt hatten und konnte die klemmende Verschlusskappe aufstemmen. Und wie immer störte es ihn nicht, wenn sie ein bisschen sehr schmutzig waren! Gespannt wandte Mathieu sich seiner Zwillingsschwester zu, die konzentriert in eine Richtung spähte. Auf ein unausgesprochenes Signal hin marschierte Mathieu voran, nicht zu schnell, damit Manon sich gut orientieren konnte. Er spürte, was vor ihnen lag, auch wenn immer wieder Beine den Weg versperrten. Und da er daran gewöhnt war, solche Eingebungen in seinem Kopf vorzufinden, bezog er sie in seine Erkundung ein. Ihr Weg endete am Rand des Veranstaltungsgeländes, eines weitläufigen Parks. Genauer gesagt vor einem ziemlich pieksig wirkenden Busch. Aus dem Busch befreite sich gerade, mit einiger Mühe, ein kleines Mädchen. Dunkelrote Locken hingen wirr um ihr Gesicht, Spangen und Klammern aussichtslos im Kampf um eine Fasson. Energisch zerrten kleine Hände an einem Kleid, das vor der Begegnung mit dem widerspenstigen Grün mutmaßlich sehr vornehm und strahlend weiß mit rosafarbenen Schleifen gewesen war, nun jedoch schmutzig und ärgerlicherweise verhakt. Mathieu wechselte einen Blick mit Manon, dann trat er vor und säbelte mit einer kleinen Schere aus seiner Umhängetasche den kleinen Rotschopf frei. "Vielen Dank!", der Rotschopf lächelte ihn an, schmutzig, selbstbewusst und offenkundig aus Japan stammend, urteilte man nach der Sprache. Da Manon und Mathieu sich mit Yuki und Tarou übers Internet hauptsächlich auf Englisch unterhielten, konnte sich hier keine ausgedehnte Kommunikation entspinnen. Mathieu verstaute die Schere und kramte ein Bonbon heraus, das er dem Rotschopf anbot. Er deutete auf Manon, nannte ihren Namen, stellte sich dann selbst vor und schloss ein hoffnungsfrohes "Hello" an. Zu seiner Überraschung grinste der Rotschopf ihn an, nahm das Bonbon artig entgegen, bedankte sich auf Englisch und erklärte, sie heiße Ryuu. Na ja, eigentlich Ryuuko, weil sie ein Drache sei, aber der Name sei blöd. Mathieu hörte aufmerksam zu und fragte höflich nach, wie sie denn gern heißen würde. Er wusste nicht, warum Manon ihn zu diesem Mädchen gesteuert hatte, aber er fand sie schon sehr nett. Der Rotschopf überdachte die Lage. Schließlich antwortete sie ihm, "ich weiß nicht. Hast du eine gute Idee?" "Arielle", schlug Manon vor, "sie ist mutig und neugierig." Außerdem war es eines der Bilderbücher, das 'Oma Maggie' ihnen vorgelesen hatte. Sie konnte sehr gut die widerlichen Muränen nachmachen, sodass man sich richtig gruselte! Die frisch getaufte Arielle nickte heftig, "einverstanden! Wollen wir Freunde sein?" Warum Zeit verschwenden, wenn man sich doch gleich so gut verstand? Mathieu grinste und streckte Arielle/Ryuuko die freie Hand hin, "magst du mit uns Freunde aus Japan suchen?" ~~~~~# "Puh, ist das voll!", schnaubte Yukimaru und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Seit drei Tagen waren sie auf ihrer Kavalierstour in Europa mit dem Zug unterwegs und wollten sich hier mit Georges, Arjen und der restlichen Rasselbande treffen. Deshalb hatten sie ihre Rucksäcke auch in der Jugendherberge gelassen und waren losmarschiert. "Wir könnten uns eine ruhigere Ecke suchen", schlug Tarou vor, "sie finden uns eher als umgekehrt." Wie üblich klang seine dunkle Stimme gelassen und überlegt. "Du willst bloß nicht durch das Gewühle robben!", grinsend stippte Yukimaru seinem Freund einen spitzen Finger in die Seite. Tarou führte, vermutlich uneinholbar, mit einem halben Kopf in der Höhe, doch eigentlich, wenn man es genau erwog, war das durchaus praktisch. Vor allem beim Küssen. Tarou zwinkerte, "regt dich die Kulisse an?" "PAH!", schnaubte Yukimaru prompt, dem es nicht unbedingt genehm war, wie leicht Tarou ihm seine Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Er packte dessen Rechte, spürte den einfachen Ring in seinem Griff und pflügte unerschrocken durch die wabernde Menschenmasse. Eigentlich hätten sie eines offenkundigen Symbols für ihre Verbindung gar nicht bedurft. Die Feststellung, dass sie beide eifersüchtig jeden Blick oder Kommentar beäugten, der dem geliebten Freund gewidmet war, schien es jedoch anzuraten, der Umwelt zu bedeuten, dass HIER definitiv nichts zu holen war. Tarou ließ sich gehorsam ziehen, blickte sich dabei um, ob er nicht doch ein vertrautes Gesicht erspähte. Für ihn als Hunde-Leichtgewicht waren üblicherweise diese Treffen der Madararui tabu, denn er wollte nicht als einfache Zielscheibe für Bosheiten herhalten. Andererseits gab dieses Treffen hier ihnen die Möglichkeit, nach fünf Jahren endlich den Männern gegenüberzustehen, die so selbstlos dafür gesorgt hatten, dass ihre Zukunft nach dem Schulabschluss rosig aussah. Dass sie es sich leisten konnten, über einen Monat lang zu verreisen, bevor der Alltag japanischer Studenten sie einholte. Ein Arm wedelte über Köpfe hinweg, und Yukimaru wühlte sich energisch in die angegebene Richtung. Bald schon konnten sie auf die erstaunlich gemütliche Lichtung treten, die zweifellos Georges' Werk war. Arjen löste sich und zog erst Yukimaru, dann Tarou in seine Arme, erklärte auf die besorgten Fragen, es ginge ihnen BEIDEN großartig, während er auf seine Mitte klopfte. Georges beschränkte sich auf das Händeschütteln, Arjens Großonkel schwenkte Odile, um ihr Loblied zu singen. Man kannte sich bereits aus Japan, und früher als unbedingt notwendig wollte er seinen gemütlichen Liebling bestimmt nicht abgeben! Tarou schmunzelte und streichelte Odiles pralles Bäckchen, als sie ihn und Yukimaru über die Schulter in Augenschein nahm. Sie grinste nachlässig, brummte gnädig und rollte die Lider wieder herab. Die Audienz war beendet. Yukimaru lachte und wollte von Georges erfahren, wo sich die beiden kleinen Plagen versteckten. Georges konzentrierte sich einen winzigen Moment, presste kurz die Lippen dünn aufeinander, bevor er antwortete, in Kürze sei mit dem Eintreffen der Zwillinge zu rechnen. Unter anderem, doch das verschwieg er lieber. "Yuki!", hörte Yukimaru schon Mathieus Stimme, noch bevor sie in Sichtweite waren. Auf Georges' beredeten Blick, der ihm bedeutete, dass er sich besser über gar nichts wunderte, wühlte sich Yukimaru der fröhlichen Stimme entgegen. Als er sie erreichte, blieb er jedoch so abrupt stehen, dass Tarou, der ihm wie immer folgte, mit ihm zusammenstieß. "Yuki! Und Tarou!", krähte Mathieu begeistert, bevor er sich auf seine Manieren besann. "Ach, das ist Arielle, die in echt leider Ryuuko heißt, was ihr nicht gefällt! Sie ist nett und hat mein Bonbon genommen!" "Wirklich?", sprang Tarou für seinen Freund ein, der fassungslos dem kleinen Rotschopf ins Gesicht starrte. Er unterbrach den Blickkontakt der Feuerköpfe, verneigte sich höflich und stellte sich auf Japanisch vor. Arielle/Ryuuko antwortete so wohlerzogen, dass es keinen Zweifel darüber geben konnte, was die Qualität ihrer Erziehung betraf. Yukimaru starrte noch immer, als Manon ihn an der Hand nahm. Ihn einfach nur mit ihren granatroten, blinden Augen ansah. Ein hilflosen Lächeln irrlichterte über sein Gesicht, bevor er sich ungelenk in die Hocke begab und stockend seinen Namen preisgab. Ungeniert betrachtete ihn das kleine Mädchen, "wir haben die gleiche Haarfarbe", stellte sie fest. "Deine Augen sind schöner, dafür bin ich aber nicht so blass", verglich sie nachdenklich, "was meiner Großmutter aber nicht gefällt." Ihre Meinung zu dieser Frage konnte die verächtliche Schnute kaum verhehlen. Mathieu fasste nach Tarous Hand, schielte besorgt zu ihm hoch. Er zweifelte nicht daran, dass es richtig war, Arielle mitzunehmen, aber die seltsame Spannung in der Atmosphäre verwirrte ihn. "Alles in Ordnung", raunte Tarou ihm zu, "sollen wir zu den anderen gehen, was meinst du?" Eifrig nickte Mathieu und streckte die freie Hand nach Manon aus. Die löste sich von Yukimaru, wählte den kürzesten Weg zu ihren Eltern. "Ich bin mit meiner Großmutter hier", vertraute Arielle/Ryuuko Yukimaru an, der so seltsam gebannt vor ihr kauerte, "und Mrs. Kidder, meiner Gouvernante." Unaufgefordert streckte sie Yukimaru die Hand hin, "aber ich bin stiften gegangen", energisch zog sie ihn hinter den anderen her, wandte sich immer zu ihm herum. "Es ist Zeitverschwendung, immer nur herumzustehen und zu lächeln. So kann man nichts von der Welt sehen!" Und das schien ihr ein großes Anliegen zu sein. "Ich bin mit Tarou aus Japan hierher gekommen", hörte er sich selbst wie ein Automat plappern, "wir wollen durch Europa reisen." "Du darfst dir sicher angucken, was du magst", knurrte der winzige Rotschopf in dem verschmutzten, ehedem vornehmen Kinderkleidchen ärgerlich. "Ich muss immer im Hotel bleiben. Und aus dem Fenster gucken darf ich auch nicht, weil das schlechte Manieren sind!" "Verstehe", murmelte Yukimaru und verstand gar nichts. Warum sich sein Herz so verräterisch gebärdete, er das Gefühl in seinen Gliedern zu verlieren schien. Inzwischen hatten Manon, Mathieu und Tarou bereits Arjen und Georges erreicht. Mathieu erklärte eilig, dass sie ein nettes Mädchen kennengelernt hätten, das sich in einer Hecke verwickelt hatte. Und deshalb natürlich befreit werden musste. Arjen lobte ihn unbefangen und fasste Mathieu unter den Achseln, hob ihn sich über den Kopf, damit der auf seinen Schultern reiten konnte. Georges neben ihm warf einen kryptischen Blick auf seine kleine Tochter, die ihn ebenso unverwandt ansah. Sie benötigten keine Worte, und zumeist, wenn Arjen nicht nachdrücklich darauf bestand, vergaßen sie sie auch. Er war nicht verwundert über Yukimarus bleiches Gesicht und das kleine Mädchen, das ihn munter plaudernd hinter sich her zog. Wenn man sie sah, konnte niemand verkennen, dass Blutsbande bestanden. Die Ähnlichkeit war mehr als frappierend. Arjen übernahm die Honneurs, polierte sein Japanisch auf und bestätigte dem neiderfüllten Irrwisch vor sich, dass Manon und Mathieu nicht nur Zwillinge waren, sondern noch eine kleine Schwester hatten! "Ich hätte auch gern Geschwister", stellte Arielle/Ryuuko fest, "wenn ich schon nicht tun kann, was ich mag, hätte ich wenigstens Gesellschaft!" Ihr energischer Gesichtsausdruck sprach Bände, sie war ein Persönchen, das sich nichts gefallen lassen würde ohne Gegenwehr. Gerade als Arielle/Ryuuko auch Odile die Aufwartung machte, platzte eine vornehm gekleidete Dame in die Unterhaltung. Mit hysterischem Unterton befahl sie Ryuuko sofort, zu ihr zu kommen! Dünne, rote Augenbrauen zogen sich wütend zusammen, bevor Ryuuko in erstaunlich eisigem Ton antwortete, sie werde sich in geziemender Weise von ihren Freunden verabschieden. Mrs. Kidder lief unkleidsam rot an vor Zorn, verneigte sich minimal und starrte ins Leere, um auf ihren widerspenstigen Schützling zu warten. Mathieu blickte bestürzt hinunter zu seinem Pappa, "können wir nicht vielleicht gemeinsam feiern?" An Georges' Stelle antwortete Arjen, "ich glaube, Arielles Großmutter möchte sie bei sich haben. So, wie wir dich bei uns haben wollen." "Oh", murmelte Mathieu, "schade." Hilfe suchend sah er zu Manon hinüber, die Georges gerade auf der Hüfte balancierte. Sie zwinkerte ihm vertraulich zu. Das munterte Mathieu sichtlich wieder auf. Arielle/Ryuuko schüttelte erst Tarou, dann auch Yukimaru mit undamenhaften Schwung die Hand, "ich hoffe, Sie bald wiedersehen zu können. Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen." Steife Phrasen aus einem Kindermund, doch das mutwillige Grinsen, das Mrs. Kidder zweifellos in Unruhe versetzen würde, hätte sie es sehen können, sprach Bände: dieser Feuerkopf steckte bestimmt nicht auf! Tarou nahm Yukimarus Hand, als Mrs. Kidder das Mädchen wegzerrte, als sei sie auf der Flucht. "Hat sich hübsch herausgemacht", bemerkte er leichthin. Yukimaru schluckte, wusste aber seine Bestürzung nicht ausdrücken. Es waren gewiss keine elterlichen Gefühle, die ihn bewegten, dennoch fühlte er eine überwältigende Verbundenheit mit dem rothaarigen Trotzkopf, der ihn so schelmisch angesehen hatte. Ob sie wusste, wie es sich mit ihren Eltern verhielt? Was hatte man ihr gesagt? Hatte sie die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen ihnen erkannt? "Daddy, hast du nicht furchtbar Hunger? Für zwei?", drängte sich Mathieus Stimme munter in die durchaus angespannte Atmosphäre. "Du könntest bestimmt ein paar Waffeln essen, oder?" Arjen schmunzelte über den durchsichtigen Versuch seines Sohnes, mal wieder seiner Leibspeise zu ergattern. Andererseits, Mathieu war ein knuddeliger Bär, warum ihm also eine Waffel verweigern? "Na ja", rieb er sich demonstrativ über den dezent vorgewölbten Bauch, "Platz wäre da schon." Mathieu auf seinen Schultern krähte triumphierend, "weißt du, Daddy, ich glaube, ich kann eine Waffelbude sehen! Immer der Nase nach!", wiederholte er einen Lieblingsspruch seines Pappas. "Fein!", Arjen sicherte die Beine seines Sohnes, warf Georges einen fragenden Blick zu. Georges nickte, "geh ruhig voran." Also arbeitete Arjen sich vor zur Quelle der Glückseligkeit für seinen Sohn, gefolgt von seinem Großonkel und einer unbeeindruckt dösenden Odile. Georges kämmte unterdessen Manon einige Locken aus dem Gesicht, studierte sie aufmerksam. "Nicht richtig?", Manon hob fragend die Augenbrauen. Sie hatte, ganz wie ihr Pappa ihr immer riet, ihrem Instinkt vertraut. Und neugierig durfte sie auch sein, wenn sie niemandem schadete. "Kleiner Naseweis", Georges rieb seine Nasenspitze an der seiner ältesten Tochter, konnte ihr nicht böse sein. Manon verhielt sich trotz ihrer Jugend immer umsichtig, suchte keine Konfrontation und fand keinen Gefallen daran, andere zu verletzen. Gute Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit ihren gewaltigen Fähigkeiten. Er wandte sich Tarou zu, der den Arm um Yukimaru gelegt hatte. "Na los, ihr habt doch sicher auch Hunger. Mir nach!" Tarou schob Yukimaru vor sich her, der noch immer an der unerwarteten Begegnung zu knabbern hatte. Manon drehte ihm den Kopf zu, lächelte aufmunternd, was der erschreckenden Puppenhaftigkeit ihres Aussehens eine lebendige, fröhliche Note verlieh. "Sie mag Pizza. Auf Bäume klettern. Und ausrücken", verriet sie ihm. Yukimaru erwiderte tapfer ihr Lächeln, "danke. Klingt richtig nett." Tarou, der ihn ein wenig vom Gedränge abschirmte, brummte dazu, "und ich wette mit dir, sie LIEBT Waffeln!" Denn wenn sie mit Yukimaru nicht nur das äußere Erscheinungsbild gemein hatte, so würde sie kein Mittel unversucht lassen, ganz ZUFÄLLIG ihren neuen Freunden bei der Waffelbude über den Weg zu laufen. Manon grinste frech, schmiegte dann ihre Wange an die ihres Vaters, der sie liebevoll auf der Hüfte trug. Tarou seufzte, drückte Yukimaru einen Moment etwas stärker an sich, "ich sehe auf uns eine spannende Zukunft zukommen. Wie IMMER." Seine betont säuerliche Grimasse entlockte Yukimaru endlich ein Lächeln und hob dessen Stimmung beträchtlich an. Ja, zweifellos würde die Zukunft noch sehr interessant werden. Und warum auch nicht? Immerhin war ihnen gelungen, was unmöglich schien: dass sich ein Meeresgetier und ein Hunde-Leichtgewicht seit fünf Jahren als festes Paar behaupteten. Da konnte es ihn auch kaum überraschen, dass Arielle/Ryuuko ein weiteres Mal Mrs. Kidder entwischt war, um sich eine frische Waffel mit Kirschkompott schmecken zu lassen! ~~~~~# Ende ~~~~~# Danke fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Die dritte FanFiction zu Tarako Kotobukis kurioser Serie "Sex/Love Pistols" war eigentlich die erste im Bunde... bloß musste sie die beiden anderen, nämlich "Revolution" und "Zündfunken" vorlassen ^_^ Den ersten Part innerhalb der Handlung hatte ich zum Jahreswechsel 2008/2009 schon abgeschlossen, und dann... einfach keine Zeit mehr, weshalb alles auf der Festplatte herumlag. Erst 2010 habe ich dann den Faden wieder aufgenommen, um auch die andere Hälfte fertigzustellen. Wer sich mit der Serie nicht auskennt, sollte sich dennoch nicht abschrecken lassen, hier gilt simpel, dass das Tier vor allem im Manne sehr viel prägnanter fürs Leben ist als gewohnt ^_~ Die als amerikanische Ausgabe vorliegende, noch nicht abgeschlossene Serie stockt bei Band 5, dafür gibt es schon einen OVA, der sehr sehenswert ist und den ersten Teil der Serie umfasst. Angekündigt ist der abschließende Part zum Jahreswechsel 2010/2011. Leider steht zu befürchten, dass es keine deutsche Lizenzausgabe der OVA geben wird ;_; da die Serie hier nicht publiziert worden ist. Ich hoffe da ungeniert auf amerikanische Ausgaben und empfehle den Interessierten, es einfach mal zu wagen ^_~