Titel: Sternschnuppen Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original + Fan Fiction FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Advent 2008 Erstellt: 29.11.2008 *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* Disclaimer [Aufzählung alphabetisch]: # "Christ" ist eine Juwelier-Handelskette. # "Das Bildnis des Dorian Gray/The picture of Dorian Gray" ist der einzige Roman von Oscar Wilde. Zwei Zitate entstammen dem Roman in der Übersetzung. # "Die Simpsons" ist der Name einer Zeichentricksippe, die von Matt Groening gestaltet wurde. # "Eine Weihnachtsgeschichte/A christmas carol" wurde von Charles Dickens verfasst. # "Fake" ist eine Manga-Serie von Sanami Matoh. # "Highschool Musical" ist eine Filmserie des Disney Channel. # "La tempesta di mare/Der Seesturm" wurde von Antonio Vivaldi geschrieben. # "Manche mögen's heiß" lautet der deutsche Titel der amerikanischen Komödie "Some like it hot" von 1959, die zur besten Komödie aller Zeiten gekürt wurde. # "Mon oncle" (deutscher Titel: Mein Onkel) ist ein französischer Spielfilm von und mit Jacques Tati. # "Mondnacht" wurde von Joseph von Eichendorff verfasst. # "Murder by death/Eine Leiche zum Dessert" ist ein amerikanischer Spielfilm aus dem Jahr 1976, nach dem sich die Band (siehe unten) benannte. # "Paint it black" ist 1966 von den Rolling Stones geschrieben und veröffentlicht worden. # "Power Rangers" ist eine amerikanische Fernsehserie von Haim Saban. # "Reich und Schön (Fashion Affairs)" ist der deutsche Titel einer amerikanische Seifenoper namens "The bold and the beautiful". # "Rote Lilien" ist der dritte Band einer Romanserie von Nora Roberts. # "Sex and the city" ist der Name eine US-amerikanische Fernsehserie. # "Spongebob Schwammkopf" ist der Name einer Zeichentrickserie, die von Stephen Hillenburg entwickelt worden ist. # "The Adventures of Robin Hood/Die Abenteuer des Robin Hood/Robin Hood, König der Vagabunden" (1938), "Captain Blood/Unter Piratenflagge" (1935) und "The Sea Hawk/Der Herr der sieben Meere" (1940) sind bekannte Abenteuerfilme, in denen Errol Flynn mitwirkte. # "The stripper" wurde 1964 von David Rose komponiert. # "Wii" ist eine Abkürzung für die Spielkonsole Wii des Herstellers Nintendo. # "We're No Angels/Wir sind keine Engel" ist ein amerikanischer Spielfilm von 1955, in dem Humphrey Bogart eine der Hauptrollen übernommen hat. # Arminius/Ernie und Gunnar/Flausch gehören zu meiner eigenen Erzählung "Hosen runter!" # Das Zitat aus "Heinrich von Ofterdingen" verfasste Novalis. # Eine Weihnachtstorte ist hauptsächlich in Japan eine spezielle Ausprägung der Weihnachtsfeierlichkeiten. Es handelt sich um eine mit weißer Krem oder Glasur bedeckte Torte, die mit Erdbeeren geschmückt wird. Sie soll als Geburtstagstorte für das Christkind fungieren. # Erklärung: "GI" ist eine Abkürzung für US-Infanterie-Soldaten. # Humphrey Bogart und Errol Flynn waren berühmte Filmschauspieler. *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* ="Herausforderungen: + Von Absolutely Black Rain: - Rote Lilien - Erwähnung des Buchs "Das Bildnis des Dorian Gray" von Oscar Wilde oder ein Zitat daraus - das Gedicht "Mondnacht" von Joseph von Eichendorff - Vierblättriger Klee (ob getrocknet oder aus dem Blumenladen, wie es ihn für Silvester gibt ist egal, aber es soll echter Klee sein) - ein verschmuster, schwarzer Kater - eine breite, weich gepolsterte Fensterbank zum müßigen Nachdraußenschauen - Zimtschokolade - heißer Tee (mit Schoko-Vanille-Geschmack) - eine Duftlampe - ein handgestrickter eine Nummer zu großer Kuschelpullover + Von Imani: - Buchgutschein - pink(farben)e Unterwäsche - Schokoladenweihnachtsfrau - lila Handschuhe - Zimt - Power Rangers. + Von Lenchen: - "Comin home" der Gruppe "murder by death" + Von Miss P-chan: - eine verlorene Kontaktlinse - Pornobalken - Nikotinpflaster - nasse Socken - Humphrey Bogart - rote Wachsflecken - Augenbrauenpiercing - Mentholzigaretten - ein gebrochener Arm - Jugendsünden. + Von Misa: - Multifunktionskurzzeitdrucker - Schneekristalle - Weihnachtskonzert - ein Piano auf einem zugefrorenen See - 31 statt 24 Päckchen/Briefe/Geschenke von einem unbekannten Gönner - Eiskunstlauf statt Eishockey - 2 Wölfe statt Schlittenhunde - 99 statt 66 Tannenbäume - Weihnachtstorte statt Weihnachtskekse - das Buch "Eine Weihnachtsgeschichte (A Christmas Carol)" von Charles Dickens soll in der englischen statt der deutschen Version vorkommen (gelesen oder in Buchform). + Von Vegeta: - Fandom Fake - Eislaufen - zu viel Punsch - schlichte Ringe von Christ - Personalnotstand auf dem Revier - Barclay mit Schnupfnase - Spendenaktion für Dees Waisenhaus. + Von Koryu: - eine blaue Rose - "La Tempesta di Mare" von Vivaldi - Schneegestöber - ein altes Instrument (eine Querflöte). + Von Jutts: - ein total bescheuerter Goth (wirklich dämlich) - ein Versandhauspaket - Räucherkerzen - Liebeskugeln - die kleine Göttin - reichlich Gin-Tonic - Exciter Succulente, suffer. + Von Adeline: - Arminius und Gunnar aus "Hosen runter!" - Schneeeule - 2 x Weihnachtsbrand (Alkoholisches Getränk und ein Feuer) - Digitalkamera - Laptop. Vielen Dank an die tapferen Herausforderer und ConCon ^_^=b *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* *~*8*~* Sternschnuppen Kapitel 1 - Blizzard Dee Layton, dem 27. Revier und damit dem Morddezernat zugeordnet, trampelte heftig auf die vornehmen, polierten Steine des Trottoirs. Obwohl er gleich zwei Paar Socken in seinen Bikerstiefeln trug und sich mit langen Unterhosen ausgerüstet hatte, spürte er seine Zehen kaum noch. Ein eisiger Wind wehte vom Hudson hoch, wirbelte Schneeflocken durcheinander. Die schwere Mütze mit den Ohrenklappen und der hochgebundene Schal hielten den beißenden Frost nicht gänzlich ab. Zumindest nicht, wenn man zwei Stunden ununterbrochen in einem Viertel auf und ab ging. Dee blinzelte heftig, als er um eine Ecke bog, knurrte in das kleine Mikrofon an seiner Wange die neue Position. Ein Schneegestöber empfing ihn, tanzte in verrückten Säulen in den hohen Straßenschluchten des Big Apple. Und obwohl sich in den Rinnsteinen die Schneemassen zu eisigen Blöcken türmten, waren noch immer zahlreiche Passanten, dick vermummt, unterwegs. »Klar«, dachte Dee grimmig, »ist ja kurz vor Weihnachten!« Weshalb er sich auch hier in Zivilkleidung auf Patrouille befand. Keine Observation, bequem im Wagen, die Standheizung auf höchster Einstellung, nein, es musste ja die Straße sein! Grimmig und durchaus ungerechtfertigt verwünschte er stumm, um sich nicht die Zunge abzufrieren, seinen Vorgesetzten Ross Barclay. Aber sie hatten ja keine Wahl. Der unerwartet heftige Kälteeinbruch sorgte nicht nur für ein ständiges Verkehrschaos, Blizzards, Unterbrechungen in der Energieversorgung und eine wahre Grippeepidemie, sondern dünnte auch den Personalstand in Revieren aus. Was jedoch die Wirrköpfe, Wahnsinnigen, Terroristen, Amokläufer und anderen Kriminellen nicht davon abhielt, unablässig Drohungen auszustoßen. Seit dem 11.09.2001 konnte sich allerdings niemand mehr leisten, anonyme Ankündigungen von Terrorakten oder Anschlägen nicht ernstzunehmen. Und so mussten die Mordopfer eben zurückstehen, um die Lebenden zu schützen. Dee klopfte sich mit den Handschuhen Schneegriesel von seiner gefütterten Jacke. Ganz ohne sadistische Motive wünschte er sich, dass sein Partner, Randy Ryo MacLane, jetzt bei ihm wäre. Es war für ihn ungewohnt, ja, vollkommen unnatürlich, ohne Ryo im Einsatz zu sein. Immer wieder schaute er sich um, öffnete den Mund zu einer Bemerkung, nur um festzustellen, dass es niemanden gab, der ihm lächelnd zuhörte, neben ihm lief. Ihm Rückendeckung gab. Dee hielt inne, fummelte ungelenk in einer Jackentasche herum, gab schließlich auf und zupfte mit den Zähnen den lästigen Handschuh ab. So konnte er seine Sonnenbrille bergen und auf dem Nasenrücken justieren. Nicht nur die Reklame- und Straßenbeleuchtung blendete, auch die Mauer der Schneeblöcke. Zudem hoffte er, die Barriere vor seinen Augen behinderte die lästigen Schneeflocken daran, sich in seinen Wimpern einzunisten. »Wie soll man hier verdächtige Personen identifizieren?!«, verdrehte er innerlich die Augen. Die Passanten waren in unzählige Stoffhüllen eingemummelt wie Mumien, hatten die Silhouette des Marshmallow-Männchens und bewegten sich ebenso elegant. »Verdächtig, ha!«, schnaubte Dee ärgerlich. Selbst wenn er durch einen unglaublichen Zufall einen Verdächtigen entdecken würde, hätte er doch allergrößte Schwierigkeiten, ihn zu verhaften. Mit Handschuhen? »Komme ja nicht mal an meine Kanone!«, seufzte er missmutig. "He!", knurrte er übellaunig in das Mikrofon, ganz ungefährdet, da jeder Zweite hier in eine Freisprecheinrichtung eines Mobiltelefons plärrte, "wo steckt meine Ablösung? Soll ich mir hier die Kronjuwelen abfrieren, oder was?!" Die Antwort erfolgte ohne Verzögerung, allerdings für Dee vollkommen unverständlich. "Wie?!", hakte er nach, drehte sich einmal langsam im Kreis, um die Umgebung zu inspizieren. Auch den zweiten Anlauf konnte er nicht verstehen. War das überhaupt Amerikanisch? "He, bist du das, JJ?", brummte er ärgerlich, "also, wenn das n obszöner Anruf sein soll, dann musste noch verdammt viel üben!" Nun wurde es definitiv lauter, Dee kniff reflexartig ein Auge zu. Einzelne Worte konnte er nun identifizieren, aber sie ergaben als Solitäre in einem nuschelig-näselnden Wortgeklingel keinen Sinn. "Wer is da überhaupt?!" Dee drehte sich einer Hauswand zu, stellte die Schultern aus, um die akustische Verzerrung durch den eisigen Wind zu reduzieren., "Ach, Sie sind's...", brummte er gedehnt und keineswegs beeindruckt. Wer hätte das gedacht, Ross Barclay, der jüngste Spross der Hölle persönlich. Inkarnation des arroganten Kotzbrockens. Ungeduldig unterbrach er die zweifellos süffisante Anweisung. "He, Barclay, warum schreiben Sie's nicht auf und geben mir jemanden, der meine Sprache spricht? Ich versteh kein Wort, wenn Sie mit Ihrer Rüsselseuche herumnuscheln!" Barclay, der Erzfeind, hatte nach eigenem Bekunden lediglich eine "Schnupfnase" und befand, er sei so unentbehrlich, dass er trotzdem zum Dienst erschien. Dees Auffassung nach war DAS eine ungeheure Sauerei. Natürlich hatten sie auch im 27. Revier einen absoluten Personalnotstand, doch ihr Mordermittlerteam mit fünf Mann war noch vollzählig! Warum konnte diese menschliche Pest dann nicht ihre Killerviren in den heimischen Wänden versprühen und sie in Ruhe lassen?! Das Gebrüll endete in einem krachenden Hustenanfall, dann vernahm Dee die vertraute Stimme seines Partners Ryo. "Also wirklich, Dee!", ermahnte ihn der ein wenig ältere Mann tadelnd. "Das ist nicht nett!" Unerklärlicher Weise wirkte diese Äußerung wie eine kalte Dusche. Nicht allein bei Dee, sondern auch bei Ryos ungebärdigem Pflegesohn Bikky Goldmann. "Tschuldigung", knurrte Dee geschlagen, hoffte, dass Ryo ihn nicht zu einer Entschuldigung gegenüber Barclay zwingen würde. Fast glaubte er, Ryos Lächeln zu hören. Ihm wurde warm, und er spürte sogar die fernen Ausläufer seiner Zehen wieder. "Ted und Sam sind auf dem Weg zu dir. In zehn Minuten ist deine Schicht zu Ende", verkündete ihm Ryo. "Wann hast du frei?" Dee wusste, dass er sehnsüchtig klang und es war ihm vollkommen gleichgültig. Durch den Personalnotstand waren sie in wechselnden Schichten tätig, um den Engpass möglichst zu überbrücken und sahen sich deshalb kaum noch. "Leider erst morgen Früh, wenn du wieder arbeiten musst." Klang Ryo nicht auch ein klein wenig angespannt? Dee fluchte leise. "Ich komm im Revier vorbei!", knurrte er grimmig. Und es war ihm verdammt egal, ob Barclay von einem Rotzinfarkt dahingerafft wurde: er MUSSTE Ryo heute küssen! Sonst sank sein emotionaler Akku unter den Nullpunkt! Ungeduldig lief Dee auf den eisglatten Platten vor den luxuriösen Geschäften der Handelsketten auf und ab. Das Schneegestöber wirbelte in komplizierten Mustern über den Köpfen der Passierenden auf, erinnerte an den Vogelflug. Er wandte sich den geschmackvoll ausgeleuchteten Schaufenstern zu. Hier sammelten sich immer wieder Pärchen oder Mütter mit Kindern. Dee gesellte sich dazu, hoffte auf einen kleinen Warmluftstrom aus einer Klimaanlage. Er benötigte einen Moment, um zu begreifen, warum sich hier hauptsächlich Pärchen gruppierten: er stand vor der Auslage einer Juwelierkette. Frierend und die Nase unfein hochziehend stierte er auf das Angebot. Hier gab es hauptsächlich Ringe für Pärchen zu bewundern, gelegentlich auch einen Verlobungsring mit erlesenen Steinen. Was Ryo wohl von Partnerschaftsringen halten würde? Und wenn sie ihm zusagten, welche Form hätten sie wohl? Dee fühlte sich ein wenig auf verlorenem Posten, denn er hatte keine Ahnung, ob Ryo den Vorschlag, doch Ringe zu tauschen, positiv aufnehmen würde. Ihm selbst erschien der Gedanke durchaus verlockend, denn damit wäre für JEDEN, ob es der lästige JJ oder die Ausgeburt der Hölle-Barclay war, deutlich sichtbar, dass Ryo nicht mehr zu haben war. Sondern zu ihm gehörte. Andererseits neigte Ryo unglückseliger Weise dazu, große Rücksicht auf das Feingefühl seiner Umgebung zu nehmen. Wollte niemanden unnötig vor den Kopf stoßen. Dee seufzte, doch sein Atem verwirbelte im eisigen Wind, bevor er die Fensterscheibe beschlagen konnte. Selbst schlichte Ringe von Christ überstiegen sein Budget bei weitem. Und sie als Überraschung zu kaufen würde Ryo mindestens auf die Palme bringen, wenn nicht sogar stinkwütend machen. Erstaunlicherweise konnte Ryo ziemlich knauserig sein, wenn es um persönliches Vergnügen ging... Dee seufzte erneut. Immer gab es jemanden oder etwas, der/das Vorrang hatte. »Andererseits....« Dees Miene hellte sich auf, als ihm ein tollkühner Gedanke kam. Mit den richtigen Verbündeten könnte er Ryo vielleicht doch dazu bringen, mit ihm Ringe zu tauschen... *~*8*~* Ryo verließ die Kabine und trat an die Reihe der Waschbecken, um manierlich der Hygiene zu frönen. Hinter ihm schwang die Tür mit dem charakteristischen Elan auf, über den nur eine Person verfügen konnte: Dee. Ryo hob den Kopf und lächelte in den Spiegel, registrierte das begeisterte Strahlen in dem vertrauten, geliebten Gesicht seines Partners. Nicht nur beruflich, sondern auch privat. "Verdammt eisig draußen!", schnurrte Dee in sonoren Tönen und näherte sich in einer gefährlichen Mischung aus Katzenschleichgang und Horizontal-Tango. In seinen dunklen Augen blitzte es verheißungsvoll. Ryo drehte sich um und lehnte sich lässig mit den Händen auf den Waschbeckenrand hinter sich. "Na?" Dee zwinkerte und purrte guttural. "Siehst du irgendwo Eiszapfen?" Sein Gegenüber mit den ungewöhnlich schwarzen Augen, dem einzig sichtbaren Anzeichen für seine japanische Abstammung, studierte ihn eingehend und gründlich. Von den wirren Haarspitzen langsam bis zu den schweren Stiefeln. Und ebenso gemächlich wieder von Süd nach Nord. Bevor Ryos Blick exakt zwischen Dees Beinen hängen blieb. Dem röteten sich, zur eigenen Verblüffung, die Wangen. "...Eiszapfen, hmmmm?", murmelte Ryo nachdenklich und nur gewieften Beobachtenden entging das amüsierte Funkeln in seinen Augen nicht. "...Ryo...?" Dees Stimme klang wie ein Reibeisen, die Kehle eingeschnürt vor Sehnsucht. Zum Teufel mit der Grippeepidemie, dem Personalnotstand und Seiner Pestilenz, Oberstinkstiefel Ross Barclay! Doch bevor Dee den Abstand zwischen ihnen überwinden, Ryo fest an sich ziehen und ihm denkbar unmoralische, aber sehr befriedigende Angebote flüsternd unterbreiten konnte, flog erneut mit quietschendem Protest die Tür auf. "...verflixt, die hätten uns gleich Schneekanonen geben kö....DEE!" "UMPF!", stöhnte Dee laut und ließ gequält den Kopf sinken. Er SPÜRTE, wie Ryo schmunzelte und DAS verwandelte seine sehnsüchtige Begierde in heftigen Zorn. "Hallo, JJ", begrüßte Ryo unterdessen über Dees Schulter hinweg den Eindringling höflich. "Ryo." Ein denkbar knappes Nicken, dann klopfte Jamie James Adams, JJ genannt, Dee mit enthusiastischem Schwung auf die Schulter. "HALLO DEE! LANGE NICHT GESEHEN!" Man konnte Glitzersterne sehen und Fanfaren hören, die diesen lautstarken Ausbruch begleiteten. "Nichtlangegenug", knurrte Dee ärgerlich, fegte auf den Absätzen zu JJ herum. "Hör mal, das ist ne Privatunterhaltung! Warum ziehst du dir nicht draußen nen Lolli, hm?!" "Aber Dee!" Ein vorwurfsvoller Blick aus großen, feuchten Hundeaugen klebte sich an ihm fest, wollte ihn einsaugen. "Zucker ist SOOOO ungesund! Ich lutsche lieber an dir!" "WAG ES JA NICH'!", dröhnte Dee energisch, aber hastig, stemmte beide Handflächen gegen JJs Schultern, um ihn an Körperkontakt jeglicher Art zu hindern. "Och, komm schon!", quengelte JJ unbeeindruckt. "Das hat Null Kalorien! Außerdem könnten wir uns richtig schön aufheizen!" Dabei plinkerte er mit den Wimpern, als hätte ihn ein Stromstoß heftig erwischt. Hinter Dee kicherte Ryo unterdrückt. »Verräter!«, schnaubte Dee innerlich, »Schadenfreude ist TOTAL unfein!« In diesem Moment platzte ihr Vorgesetzter, Ross Barclay, ebenfalls in den Waschraum. Unter der eckigen Brille, die sein kantiges Gesicht dominierte und ihm einen strengen, arroganten Ausdruck verlieh, leuchtete seine Nase so rot, dass Rudolf vor Neid erblasst wäre. "Waschnhiälosch?!" Wütend trompetete er mit blutunterlaufenen Augen in ein Papiertaschentuch, um dann deutlich verständlicher zu ergänzen, "soll ich Ihnen vielleicht noch einen Schreibtisch und das Telefon reinbringen lassen?!" Bevor Dee dem Erzfeind verbal den Krieg erklären und die Privatsphäre einer Toilette proklamieren konnte, klopfte ihm Ryo leicht auf die Schulter. "Du solltest dich auf den Heimweg machen. Ruh dich aus, ja?" Dee brummte etwas Unverständliches, schubste JJ beiseite und verließ griesgrämig die Heiligen Hallen der Hygiene. Ryo schmunzelte innerlich, nickte Ross zu und marschierte zu seinem Schreibtisch zurück. Es würde eine lange Schicht werden, und er WUSSTE, dass er Dee vermissen würde. JJ verzog die Miene zu einer bitteren Grimasse, bevor er eine der Kabinentüren aufstieß und sich persönlicheren Verrichtungen widmete. Ross grinste spitzbübisch, bemerkte dann sein Spiegelbild und grunzte angewidert. Vor dem Gebäude warf Dee einen rachsüchtigen Blick an der Fensterfront hinauf, wo sich Ross' Büro befand. Er schob die Hände tief in die Taschen der gefütterten Jacke, stutzte dann. Langsam breitete sich ein sehr vergnügtes Grinsen auf seinem Gesicht aus, als er einen schmalen Zettel hervorholte. "In zwei Tagen, Zeitfenster zwei Stunden, bei mir" Kein Liebesgedicht hätte mehr Wirkung erzielen können. Dee feixte und war Bikki einmal mehr dankbar, dass der ein begabter Langfinger und sein Ziehvater offenkundig ein geschickter Schüler war. An einem Werktag, ja, SCHULTAG, allein mit Ryo in dessen Appartement! Zwei Stunden lang! Bevor ihm der Sabber am Kinn festfrieren konnte, reckte Dee triumphierend die Faust in die Luft. "YiPPPIEEYAiYEEHHH, Schweinebacke!", brüllte er an der Gebäudefront hinauf zu einem ganz bestimmten Fenster. "Ich bin wieder im Spiel!" *~*8*~* Ryo erhob sich, stellte sich hinter seinen Bürodrehstuhl, absolvierte einige Dehn- und Streckübungen, nahm die Augen allerdings nicht von den zahlreichen Schriftstücken auf seinem Schreibtisch. Aufgrund der angespannten Personalsituation residierte er nicht in dem Zwei Mann-Büro, das er üblicherweise mit Dee teilte, sondern im großen Aufenthaltsraum. Hier liefen nun auch alle imaginären Nervenstränge des Morddezernats zusammen, denn er war als einziger Beamter dafür vorgesehen, sich um die akuten Ermittlungen zu kümmern. Unglückseliger Weise bedeutete das im Augenblick, dass er die Informationen bündelte, die andere für sie vor Ort sammelten. Sie alle wussten, dass der Zeitfaktor bei den meisten Morden entscheidend war. Die Affektverbrechen ließen sich recht simpel aufklären. Außerdem waren die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin ein eingespieltes Team, das gerichtsfeste Beweise lieferte. Doch es wurmte Ryo wie jeden seiner Kollegen, dass sie den anderen Mordfällen nicht ihre Aufmerksamkeit schenken konnten, sich nicht selbst in jedem Fall vor Ort ein Bild machen konnten. So viel Technik und Wissenschaft auch vermochten: an einem persönlichen Eindruck und der Erfahrung kamen keine Ermittelnden vorbei, wenn sie erfolgreich sein wollten. Und Ryo nahm jeden Mordfall wichtig. Er lockerte seine Muskeln und blickte sich unwillkürlich um, doch hier war kein Dee, der ihm Grimassen schnitt, unversehens Kaffee, Tee oder Schokoladenriegel neben ihm deponierte. Sich frech einen Kuss stahl, wenn er über ihm lehnte, sich eigentlich mit dem Bildschirm befassen sollte. Selbst die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Dee und Barclay vermisste Ryo nun, was ihm durchaus zu denken gab. Aber er war von Natur aus gewissenhaft und fühlte sich den Mordopfern, ihren Angehörigen und dem Kollegium verpflichtet, stets sein Bestes zu geben. Persönliche Sehnsüchte hintanzustellen. Ein Bote marschierte Schneeflocken bezuckert zu seinem Schreibtisch, der aufgrund der Kartons, Aktenmappen, Tüten und Pappsammler eher wie eine Festung wirkte. "Officer MacLane?", krächzte der Bote, tropfte Schneeschmelze auf das Linoleum. "Ja, das bin ich." Automatisch lächelte Ryo aufmunternd, griff dann nach dem kleinen Stift, um auf dem elektronischen Anzeigefeld den Empfang zu quittieren. Noch ein gewaltiger Manila-Umschlag mit Dokumenten! Er seufzte leise, stützte die Hände an der Schreibtischkante auf und schloss für einen Moment die Augen. Wenn er im 'Ermittlungsfieber' war, angesteckt von einer heißen Spur, kümmerte es ihn wenig, wie lange er schon im Einsatz war. Doch hier, eingesperrt und zwangsweise die Spinne im Netz, erschien ihm seine Arbeit belastend. Das Telefon klingelte mit dem Signal eines internen Anrufs. Ryo meldete sich mit Namen und bemühte sich, den Anrufer zu verstehen. Schließlich unterbrach er das gekrächzte Genuschel resolut. "Sir, ich komme zu Ihnen ins Büro. Bitte haben Sie einen Moment Geduld." Mit forschem Schritt durchquerte er den Raum, nickte der Aufsicht führenden Beamtin hinter ihrem Tresen zu. Als er Ross' Büro betrat, wie gewöhnlich nach einem höflichen Klopfen, registrierte er sofort, dass die "läppische Erkältung", wie sie sein Vorgesetzter selbst heruntergespielt hatte, sich keineswegs so harmlos ausnahm. Nun leuchtete nicht nur die Nase, auch auf den Wangen und am Hals zeichneten sich rote Flecken ab. Außerdem konnte sich der Leiter des Morddezernats kaum noch verständlich machen. "Sir, bei allem Respekt!", energisch umrundete Ryo den Schreibtisch, schnappte sich die ungekennzeichnete Plastiktüte und leerte die Medikamente auf dem Tisch aus, "Sie sehen zum Fürchten aus. Sie sind ernsthaft krank." Ross knurrte eine Erwiderung, deren kernige Botschaft beschämender Weise von einer Nies-Orgie konterkariert wurde. Mit gerunzelter Stirn sortierte Ryo die Medikamente. Er hatte des Öfteren mit den Kollegen für Drogen- und Waffengeschäfte zu tun und war nicht ganz unkundig, was Inhaltsstoffe betraf. "Die haben Sie doch hoffentlich nicht die ganze Zeit genommen?!", erkundigte er sich schockiert. Denn dann saß ein menschliches Labor vor ihm, mit dem man Biochemischen Waffen den Rang ablaufen konnte! Ross reagierte mangels Stimme mit einer wegwerfenden Handbewegung, trompetete anschließend in ein Taschentuch. "Das ist unvernünftig!" Ohne Rücksicht auf die dienstliche Hierarchie belehrte Ryo seinen Vorgesetzten. "Sie sind krank und gehören ins Bett! Und DAS!", anklagend richtete er den Zeigefinger auf Ross' Glühnase, "ist keine Erkältung, sondern eine Grippe! Damit können Sie unseren Personalnotstand noch verstärken!" Seine Stimme war so streng, dass er selbst erschrak. Doch Ross würde ihn niemals ungebührlichen Verhaltens zeihen, dazu schätzte er ihn zu sehr. Bevor der protestieren konnte, gab sich Ryo konziliant. "Einen Vorschlag zur Güte, Sir: Sie packen Ihre Sachen zusammen, und ich bringe Sie nach Hause. Meine Schicht ist in Kürze vorbei, ich warte nur noch auf die Übergabe." Zu seiner Überraschung ließ sich Ross nicht mal auf eine Diskussion sein, sondern gab sofort nach. Demzufolge musste es ihm wirklich sehr schlecht gehen, befand Ryo. Und was bedeutete schon eine kleine Verspätung, wenn Dee ihn dafür vor dem Beginn seiner Schicht vernaschen konnte? *~*8*~* Ryo entlohnte den Taxifahrer und legte sich Ross' Arm um die Schultern, stützte ihn mit einer Hand auf dessen Taille. Die Überquerung des Bürgersteigs stellte sie wie alle anderen Zufußgehenden vor eine Herausforderung. Überall hatte man in Ermangelung von freiem Stauraum den verharschten, zu Eisblöcken gepressten Schnee aufgeschichtet. Eine schmutzig-graue Mauer blockierte bis auf wenige Passagen den ungehinderten Wechsel von Asphalt zu gepflastertem Weg. Nachdem dieses Hindernis sicher und ohne Sturz überwunden war, atmete Ryo Kondenswolken ins Foyer des Appartementhauses, in dem Ross wohnte. Er seufzte. Auch hier hatte man, um Energie zu sparen, keine Klimaanlage mit Heizung eingebaut, deshalb funktionierte nun die empfindliche Technik für die Aufzüge nicht mehr zuverlässig. Entweder ging man das Risiko ein, steckenzubleiben und auf Hilfe zu warten, oder man schleppte sich fluchend die Nottreppen hinauf. An seiner Schulter schnappte Ross hörbar ächzend nach Luft. Kein Wunder, hatte ihm die Grippe doch das Atmen ohnehin erschwert. "Gleich haben wir es geschafft, Sir", versuchte Ryo ihn aufzumuntern, aber er war selbst in Schweiß gebadet, als sie endlich das richtige Geschoss erreicht hatten. Ross machte auf Ryo keinen guten Eindruck, denn zu den roten Flecken gesellte sich eine glänzend-bleiche Hautfarbe. Entschlossen nahm Ryo Ross die Appartementschlüssel aus den zittrigen Fingern und ließ sie in die mondäne Wohnung ein. Er wusste bereits, dass Ross einen gutbürgerlichen familiären Hintergrund hatte, ja, beinahe sogar zur ländlichen Oberschicht des Staates New York gehörte. Deshalb wunderte er sich keineswegs über die geschmackvolle und kostspielige Einrichtung. "Einen Augenblick", zwang er Ross zum Innehalten, ging vor ihm in die Hocke, um zunächst die nassen Halbstiefel aufzuschnüren. Er hatte schließlich nicht die Absicht, nass hinter seinem Vorgesetzten aufzuwischen! Nachdem er eilig aus den eigenen Halbstiefeln mit Reißverschluss geschlüpft war, pellte er Ross aus dem teuren Kamelhaarmantel, dirigierte ihn dann konsequent zum geräumigen Badezimmer. "Sir, bitte entkleiden Sie sich. Ich denke, eine Dusche würde Ihnen gut tun, während ich Ihr Bett herrichte und Ihnen einen Pyjama bringe", ordnete er an. Ross lächelte und krächzte. "Warum leisten Sie mir nicht Gesellschaft, Ryo?" Doch ein Verführer, dessen Nase einen Leuchtturm ersetzen konnte, gepaart mit einer Schmirgelpapierstimme konnte wohl kaum reüssieren. Ryo verzog den Mund zu einem nachsichtigen Grinsen, aber seine schwarzen Augen formulierten deutlich die Botschaft, die er Ross immer signalisierte, wenn der ihm eindeutige Angebote unterbreitete: "ich bin nicht interessiert." "Bitte bewegen Sie sich vorsichtig, Sir", antwortete er distanziert, nahm den Beutel mit den Medikamenten auf und verließ das Badezimmer. Er war noch nie bei seinem Vorgesetzten in dessen Privatwohnung gewesen, aus gutem Grund. Auch wenn er sich seiner Gefühle sehr sicher war, bedeutete das noch lange nicht, dass er Dees Eifersucht herausfordern wollte. Klare Verhältnisse waren ihm ohnehin viel lieber. Wie viele wohlhabende Männer verfügte Ross nicht nur über ein Schlaf-, sondern auch über ein separates Ankleidezimmer. Ryo pickte sich einen Pyjama heraus, betrat anschließend das in gedeckten Tönen gehaltene Schlafzimmer. Wie nicht anders zu erwarten bei einem Junggesellen gab es ein großes Bett mit Tagesdecke und einigen Kissen. Einen geschmackvollen Kunstdruck über der Kopflehne, eine wertvolle Kommode und einen gemütlichen Lesesessel. Auf der Ablage allerdings stapelten sich Fachzeitschriften und Dokumente. Ross war also nicht nur mit seiner Arbeit verheiratet, er ging auch mit ihr ins Bett. Grinsend schlug Ryo die Tagesdecke auf, faltete sie zusammen, um sie auf der Bank am Fußende des Bettes abzulegen, bevor er die Bettdecke zurückschlug. ER hatte sich selbst immer verboten, Arbeitsunterlagen mit ins Bett zu nehmen! Das bewies doch, dass er gar nicht so ein furchtbar besessenes Arbeitstier war, wie Dee ihm gelegentlich unter die Nase rieb! Ryo wechselte in die Küche hinüber, mit einer Durchreiche zum Wohnzimmer ausgestattet. Natürlich, ein notorischer Junggeselle hatte nicht gerade üppige Vorräte! Aber Ross' Kühlschrank war bis auf eine Batterie Wasser vollkommen leergefegt. "Ach du liebe Güte", murmelte Ryo folglich, legte die Tüte ab und sah sich kritisch um. Doch die hübschen, blitzblanken Vorratsschränke spuckten lediglich Geschirr und Kochutensilien aller Art aus, aber keine Nahrungsmittel. Offenkundig hatte Ross eine Zugehfrau, die für Ordnung und Sauberkeit sorgte, aber niemanden, der für ihn einkaufte. Notgedrungen entschied sich Ryo für ein lösliches Erkältungsmittel, das er Ross vor dem Einschlafen servieren wollte. Dann zückte er einen Notizblock, hielt in Stichworten fest, was Ross unbedingt benötigte, wenn er seine Grippe überstehen wollte, ohne eine Hungerkur durchzumachen. Entschlossen machte er kehrt und näherte sich dem Badezimmer mit dem Pyjama. Er klopfte wohlerzogen und rief durch das Türblatt. "Sir? Ich habe Ihren Pyjama vor der Tür deponiert. Ihr Bett ist aufgeschlagen, und ich habe Ihnen etwas zu trinken daneben gestellt. Ich werde noch mal vor Beginn meiner Schicht vorbeischauen und Ihnen einige Lebensmittel mitbringen." Nicht ganz unerwartet öffnete sich die Tür vor ihm, doch Ross stand nicht etwa provozierend im Adamskostüm im Türrahmen, sondern in einen plüschigen Bademantel gehüllt. "Danke schön, Ryo", schnurrte er heiser, "arum bleiben Sie nicht noch ein wenig?" Ryo unterdrückte ein nachsichtiges Seufzen. "Bitte legen Sie sich schlafen, Sir. Wenn Sie sich entsprechend schonen, können Sie sicher bald in den Dienst zurückkehren." Er wandte sich zum Gehen, als eine glühend heiße Hand sich um sein Handgelenk legte. "Muss es dieser Rabauke sein?" Ross' Stimme klang wie rostige Nägel auf einer Schiefertafel. Ohne sich umzuwenden versetzte Ryo geduldig über die Schulter. "Sir, Sie kennen die Antwort. Guten Abend." Und damit machte sich Ryo entschieden los, schlüpfte in seine Halbstiefel und trat den Heimweg an. *~*8*~* Dee war hin und her gerissen, trommelte wütend auf die Schreibtischplatte, während er auf die letzten Details seines Außeneinsatzes wartete. NATÜRLICH wurde er wieder in die eisige Nacht geschickt, nun, da es auch noch in einer Tour schneeregnete! In Momenten wie diesen verabscheute er die Rund-um-die-Uhr-Shopping-Angebote der Einkaufsmeilen, denn gerade vor den Feiertagen bedeutete es, dass sich zahlreiche Nachtschwärmende dort herumtrieben, Obdachlose mit den privaten Sicherheitskräften in Streit gerieten, wenn sie sich nicht fix wieder aus der Wärme entfernten. Aber seine schlechte Stimmung hatte nichts mit seinem Einsatz zu tun. Nein, er war eifersüchtig. Was idiotisch war. Und ihn deshalb mächtig gegen sich selbst aufbrachte. Dass etwas im Busch war, hatte er schon gespürt, als Ryo leicht verspätet zu ihrem Rendezvous in dessen Appartement eintraf. Dass er seinen Liebsten dann wirklich ohne Einwände nach allen Regeln seiner Liebeskunst vernaschen durfte, hatte ihm die Gewissheit geliefert, dass es nicht nur Rauch gab. Nein, irgendwo loderte ein verdammtes Feuer! SELBSTREDEND war dieser Oberstinkstiefel Ross die Ursache! Konnte sich der Saftsack nicht irgendeine Oberschicht-Prinzessin zulegen, die ihn verhätschelte, wenn der sich schon die Schnodderseuche einfing und als Pestilenzverbreiter im Revier hockte?! Aber wenn Ryo ihn mit seelenvollen, schwarzen Augen anblickte, einen feuchten Schimmer auf der rosigen Haut, nachdem sie sich ausgiebig geliebt hatten, dann war Dee Wachs in seinen Händen. So hatte er zähneknirschend akzeptieren müssen, dass Ryo Ross in dessen Appartement besuchte, um nach dessen Befinden zu sehen und ihm Lebensmittel zu bringen. »Der Kerl ist eine verdammte Plage!« Dee kaute lautstark und schnalzend einen Kaugummi. Er spielte mit dem Gedanken, die befreundete FBI-Agentin Diana Spacy anzurufen und auf Ross anzusetzen, denn die beiden waren schon lange miteinander bekannt. Doch gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass sie ihnen eine süffisante E-Mail geschickt hatte, sie befände sich über die nächsten zwei Monate auf Barbados. »Sollte verboten werden!« Dee hätte sich auch gern an einem sonnigen Strand geaalt, vorzugsweise mit Ryo. Dummerweise ließen seine bescheidenen Mittel solche Extravaganzen nicht zu. "Yo, wie läuft's, Dee?" Ted klopfte ihm auf die Schulter. Sein Kinn wies jedoch auf die festen Kästen, die überall im Revier angekettet worden waren und um Spenden für das Waisenhaus warben, in dem auch Dee aufgewachsen war. Nach einem spektakulären Bombenanschlag von Miethaien hatte das Waisenhaus, das von einer Nonne allein geführt wurde und nur von ihrem privaten Vermögen sowie Spenden zehrte, in ein besseres Gebäude umziehen können. Doch eine neue Heimat verlagerte die finanziellen Probleme lediglich auf andere Gebiete. Das Waisenhaus, in dem Dee aufgewachsen war, hatte sich längst zu einem großen Kinderheim umgewandelt. Die wenigsten der minderjährigen Bewohner waren tatsächlich Waisen. Viele hatten noch Eltern, doch diese waren außerstande, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Und es wurden immer mehr. Dee grimassierte betont selbstbewusst. "Je mehr, je besser!" Tatsächlich hoffte er, dass alle sich spendabel zeigten, damit die aktuellen Engpässe durch den strengen Winter und die anhaltenden hohen Energie- und Lebenshaltungskosten abgefedert werden konnten. Da seine Spendenaktion jedes Jahr lief und die meisten im Kollegium ihn persönlich kannten sowie auch Schwester Mary Rain, musste er nicht mal mehr die Werbetrommel rühren, denn sie kamen ganz von selbst. "Hier!" Ted ließ einen Computerausdruck vor Dee auf den überfüllten Schreibtisch segeln, bevor er sich sicherheitshalber entfernte. Wenn Ryo nicht im Dienst war, musste er die Kommunikationsaufgaben erfüllen. Im Augenblick tat er das gar nicht gerne. Dee stand so heftig auf, dass der Stuhl hinter ihm umkippte. "DIESER KLEINE MISTKÄFER!", brüllte Dee, fegte mit funkelnden Augen herum und nahm Drake ins Visier, JJs Einsatzpartner. Der unternahm gerade Anstalten, sich still und heimlich in den Feierabend zu verdrücken. "Drake! Warte!" Dee schnappte seinen gefütterten Parka und stürmte hinter seinem Kollegen her, der ein erstaunliches Tempo entwickelte. "Ich bring ihn um, ich schwör's!", hörte Ted ihn wie einen wahnsinnigen Hirsch röhren. Er seufzte, lauschte auf den Tumult im Treppenhaus und fischte sein Mobiltelefon heraus. "JJ? Halt die Luft an! Dee sucht dich, und er ist STINKSAUER!", warnte er seinen übereifrigen Kollegen vor, unterbrach dann die Verbindung und widmete sich dem Aufstellen des nächsten Schichtplans. Der Computerausdruck verschwand unter einem anderen Stapel im Dokumentengebirge. Aber niemand zweifelte daran, dass JJs Idee einer Spendenaktion für Dees Waisenhaus für Furore sorgen würde. Armdrücken oder einen Kuss für die Spende waren Klassiker, zweifellos, aber wenn Dee beteiligt war und Ryo das erfuhr, wäre der Teufel los. Dagegen konnte die Hölle ein gemütliches Urlaubsparadies werden. *~*8*~* "Nanu?" Schwester Mary Rain umarmte Dee mit einem warmherzigen Strahlen. "Mein lieber Junge, wo hast du denn deinen Freund gelassen?" Dee zog eine gequälte Grimasse. "Er arbeitet." Und jedes weitere Wort, das konnte die Nonne seinem Gesicht ablesen, würde seine auferlegte Fröhlichkeit unwiederbringlich ruinieren. "Das tut mir leid", antwortete sie ihm sanft, tätschelte seine Wange. "Kann man nichts machen", murmelte Dee angestrengt, klatschte in die Hände, "also, wie viele Racker sind es denn?" Die Truppe, die sich johlend um ihn versammelte, war kleiner als erwartet. Auch im Waisenhaus grassierte die Grippe. Trotzdem war Dee froh, dass er Verstärkung hatte, denn gerade heute fühlte er sich wirklich nicht auf der Höhe. Weil Ryo nicht da war. Dabei hatte der ihm sogar nachgesehen, dass für die von JJ verbrochene Spendenaktion Opfer gebracht werden mussten. Aber der Personalnotstand ließ es einfach nicht zu, dass sie an einem Sonntagnachmittag gemeinsam frei hatten. "Geht's jetzt los, oder brauchst du Doppelherz, alter Sack?" Bikky rammte ihm einen spitzen Ellenbogen in die Seite. Obwohl er selbst nie im Waisenhaus gelebt hatte, war er wie Dee für die Kinder ein Held. Ganz zu schweigen davon, dass es kaum einen Jugendlichen gab, der goldblonde Haare zu einer bronzefarbenen Haut spazieren trug, auf den Straßen aufgewachsen war und es geschafft hatte, bei Ryo zu leben. ALLE liebten Ryo. "Ich verpass dir gleich nen Scheitel!", grummelte Dee, ohne recht bei der Sache zu sein. Carol, Bikkis langjährige Freundin und eine ausnehmende Schönheit, hakte sich bei ihm unter. "Wir werden trotzdem viel Spaß haben!" Dee lächelte, weil er ihren Versuch schätzte, ihn aufzumuntern. Außerdem konnte er sich schlechterdings unmöglich vor den Kindern gehen lassen! "Dann mal los!", gab er das Kommando aus. "Bikky, du gehst vorneweg!" Bedrängt von gut eingepackten Kindern marschierte Bikky breitbeinig voraus, um ebenso bereitwillig seine neuesten Heldentaten zum Besten zu geben. Dee zählte seine "Mannschaft" durch und bildete mit den stilleren Kindern die Nachhut. Er spürte, dass sie auf Ryos Erscheinen gehofft hatten, der es wie kein anderer verstand, verletzte Kinderseelen zu heilen. "Ich habe eine Digitalkamera dabei!", verkündete er, "dann machen wir viele Bilder für Ryo! Der arme Kerl muss nämlich arbeiten und darf gar keinen Spaß haben!" So hatte er gleich Verbündete gewonnen, die gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals mit ihm angehen wollten! *~*8*~* Es gab zahlreiche ausgewiesene Eisflächen in der gesamten Stadt, einige sogar in den luftigen Höhen auf den Wolkenkratzern. Dee hatte sich für eine große Fläche in einem öffentlichen Park entschlossen, wo er nur die Gebühren für die Schlittschuhe würde zahlen müssen. Hier wimmelte es zwar von Besuchenden, aber die Atmosphäre war gut und die Kinder würden ihren Spaß haben. Zu seiner Überraschung wurden sie bereits erwartet. Lacy und Ray, enge Freunde von Bikky und Carol, winkten ihnen bereits. Dee warf Bikky einen scharfen Blick zu, ob der etwa die durchaus begrüßenswerte Verstärkung angeheuert haben konnte, doch der gab sich nonchalant und forderte Ray sogleich zu einem Wettrennen heraus. Glücklicherweise waren Carol und Lacy nicht ebensolche Heißsporne, sondern halfen dabei, zahlreiche Füße in Schlittschuhen zu verstauen, bevor sie in zwei Gruppen mit den Kindern aufs Eis gingen. Dee blieb mit einer kleinen Gruppe zurück, die lieber auf das Herumflitzen verzichten wollten. "Gehen wir bauen!", verkündete er großspurig, "Schneemänner? Eine Burg? Ein Schneemonster?" Sein kleiner Bautrupp war sofort Feuer, Flamme und flinker Handschuh. *~*8*~* Nach drei Stunden Bewegung an der eisigen, aber erfreulich trockenen Luft konnten auch die großen Flutlichter nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass es auf den frühen Abend zuging. Die Eislaufenden hatten sich ohne größere Blessuren ausgetobt und bewunderten nun die Skulpturen, die Dee mit seinem findigen Bautrupp hervorgebracht hatte. Alle wollten sich von ihm in Bits und Bytes der Digitalkamera bannen lassen, posierten vor einer mächtigen Burg, einer Gewitterhexe und einer mannshohen Schneeeule. Als sie sich auf den Weg machten, übernahm Dee nun die Vorhut. Er steuerte mit der Kinderschar im Gefolge ein benachbartes Einkaufszentrum an, wo es ein großes Schnellrestaurant gab. Auch hier hatte man die Gunst der Witterung genutzt und auf der ausgedehnten Brunnenfläche, die im Sommer durch ihre herrlichen, mehrere Meter langen Mosaike faszinierte, eine künstliche Eisidylle geschaffen. Von artifiziellen, mit weißer Farbe besprühten Bäumen und Sträuchern umgeben hatte man einen zugefrorenen See stilisiert, auf dem ein gläsernes Piano automatisch spielte, um die Besucher zu unterhalten. Dee erkannte einige der Melodien, die aus der Nussknacker-Suite stammten und schön weihnachtlich klangen. Mit Bikkys lautstarker Unterstützung gelang es ihm, die Rasselbande auf Stühle und Bänke zu verteilen. Dann nahm er pro Tisch Bestellungen für heiße Waffeln mit Sahne und Kirschen oder Karamell-Schokokrem auf. Lacy und Carol erboten sich, ihm beim Transport zu helfen und sicherzustellen, dass auch jedes hungrige, schon ein wenig müde Maul gestopft wurde. Inmitten der teils verschmierten, aber hauptsächlich von Freude rotwangigen Gesichter entspannte sich Dee und fand sein unwiderstehliches Lächeln wieder. Wer hätte auch in dieser wohlig-warmen Atmosphäre nicht zuversichtlich in die Zukunft blicken können? *~*8*~* Kapitel 2 - Grippe-Folgen Gutgelaunt und erstaunlich schwungvoll trotz drei Stunden Schlaf marschierte Dee in ihren Aufenthaltsraum. Der riesige Papierberg war zu seiner Überraschung unbemannt. "Yo, Drake!", klopfte er JJs Partner zur Begrüßung auf die Schulter, "wo steckt Ryo?" "Kaffee aufsetzen?" Drake wickelte sich in seine Jacke, wirkte erschöpft. "Verdammt, in der letzten Stunde sind drei weitere Fälle reingekommen, Dee." Sofort verdüsterte sich dessen Miene, doch sie hatten ja keine Wahl: sie durften nicht selbst ermitteln, sondern mussten dazu beitragen, dass kein Wirrkopf die Situation ausnutzte und seine Mitmenschen durch Anschläge gefährdete. Tröstend klopfte er Drake noch einmal auf den Rücken, tippte sich zum Abschiedsgruß mit zwei Fingern an die Schläfe. Ja, ihre Abteilung ging wirklich auf dem Zahnfleisch! Sie brauchten eine Wende, sehr schnell sogar! Er pellte sich aus seiner gefütterten Jacke und machte sich auf die Suche nach Ryo. Der hatte leider auch die Angewohnheit, bis zum Umfallen zu arbeiten und sich alles sehr zu Herzen zu nehmen. Deshalb musste er jetzt darauf achten, seinen Liebsten aufzubauen. Sofort, als er die geräumige Teeküche betrat, wusste Dee, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur die dampfende Lache Kaffee, von Keramikscherben durchzogen, die wie Eisberge auf einer braunen See wirkten, nein, es waren die weißen Knöchel. Ryos Finger, die krampfhaft die Arbeitsplatte umklammerten. "Ryo!", rief Dee alarmiert, stieg über die Pfütze und fasste seinen Partner um die Taille. Ein dünner Rinnsal Speichel sickerte aus Ryos Mundwinkel Richtung Kinn, sein Blick war glasig, die Lider flatterten. Drohten, sich zu senken. "Nein!", herrschte Dee ihn laut an. "Ryo, lass die Augen auf! Bleib bei mir!" Er verstärkte seinen Griff und spürte, wie Ryo ihm zu entgleiten drohte. "Verdammt!", zischte Dee unter seinem Atem, folgte der unaufhaltsamen Tendenz zum Boden, ging in die Knie, bis er Ryo absetzen und gegen die Front der Küchenschränke lehnen konnte. Sofort klapste er ihm mit der flachen Hand auf die Wangen. "Nichts da, Augen auf!" Auch ohne ein Thermometer war ihm klar, dass sein Partner eine unglaubliche Hitze ausstrahlte. "Es ist doch die Grippe!", verfluchte er Barclays Verharmlosung, streckte sich, bis er das interne Telefon erreichen, den Hörer von der Gabel ziehen konnte. "Janice?! Dee hier, Kreislaufkollaps in der Teeküche, vierter Stock. Beeil dich! Bitte!" Die Zeit verrann zähflüssig, und Dee konnte nichts anderes tun, als Ryo das Gesicht abzuwischen, ihm immer wieder wie einem Kind über die Haare zu streichen und ihn daran zu hindern, auf der Stelle in einen komatösen Fieberschlaf zu fallen. Janice keuchte heran, und ihr Auftritt zog Drake an, der die Situation schnell erfasste. "Ich besorg nen Wagen mit Schneeketten!", versprach er und eilte davon. Janice stellte unterdessen fest, was Dee bereits vermutete: Ryo litt unter einem hohen Fieber, schwitzte jedoch nicht, was besorgniserregend war. Und er wirkte, schloss man aus den verlangsamten, fahrigen Bewegungen, als schmerzte ihn sein ganzer Leib. "Eindeutig Grippe", diagnostizierte sie grimmig, rappelte sich auf. "Ich gebe ihm eine Spritze, damit das Fieber nicht noch steigt." "Barclay, dieser arrogante Stinkstiefel, hat das eingeschleppt!" Dee konnte nicht an sich halten vor Wut und Sorge. Er hatte vor Erkältungen, der Grippe, vor allem aber vor hohem Fieber gehörigen Respekt. "Hol seine Sachen!" Janice lehnte sich auf die Arbeitsplatte. "Ich sehe zu, dass er auf die Beine kommt." Damit träufelte sie eine glasklare Flüssigkeit auf einen Löffel, den sie ohne viel Federlesen zwischen Ryos geöffnete, rissige Lippen schob. Den Mund zugehalten und kurz die Nase eingeklemmt, schon tat der natürliche Schluckreiz sein Übriges. Dee ballte die Fäuste und flitzte zu ihren Spinden. Selbstredend kannte er Ryos Kombination, weil der es nicht für sinnvoll hielt, Dee größere Hindernisse in den Weg zu legen, immerhin stand ja zu befürchten, dass Dee ohnehin das Vorhängeschloss knackte. Als Dee in die Teeküche zurückkehrte, vertraute Janice ihm eine Liste an, Medikamente und Lebensmittel, die Ryo helfen sollten, die Grippe einigermaßen unbeschadet zu überstehen. "Danke, Janice!" Dee lächelte ebenso grimmig wie sie, dann ging er in die Hocke, um sich Ryos Arm über die Schultern zu legen und seinen Partner bedächtig in die Senkrechte zu hieven. An die Arbeitsplatte gelehnt gelang es Dee sogar, Ryo ordentlich einzupacken, bevor er ihn auf den Gang dirigierte. Die wenigen anderen, die im Innendienst waren, hielten inne, warfen ihm mitfühlende Blicke zu. »Noch einer weniger von uns!«, lautete die Botschaft, doch Dee hatte für Anteilnahme im Augenblick keinen Sinn. Der Aufzug beförderte sie in die Tiefgarage, wo Drake seine Ankündigung wahrgemacht hatte: ein schwerer Wagen mit Schneeketten wartete auf sie. Er gehörte offenkundig nicht zum Fahrzeugpool ihres Reviers, doch wer stellte schon in solchen Situationen allzu kritische Fragen?! Dee half Ryo beim Einstieg und schnallte ihn an, dann eilte er um die hohe Kühlerhaube herum zum Fahrersitz. "Ich komm später wieder, Drake!", versprach er widerwillig. "Aber jemand anders muss den verdammten Barclay übernehmen!" "Ist gebongt!" Drake nickte, schloss die Wagentür und trat zurück. Er konnte bloß hoffen, dass Dee nicht zu viel Schaden anrichtete, wenn er in der gewohnt halsbrecherischen Fahrweise sein Domizil ansteuerte. *~*8*~* Obwohl die Straßenverkehrssituation sich entsprechend der Wetterlage knapp über "katastrophal" bewegte, gelang es Dee mit eingeschaltetem Lichtsignal auf dem Dach und einer durchdringenden Signalhupe, sein Fahrtziel zu erreichen. Ohne Rücksicht auf Verluste ließ er den schweren Wagen quer auf dem Bürgersteig stehen und walzte dabei eine neue Furche für Zufußgehende. Folgsam, aber glühend vor Hitze und sehr benommen ließ sich Ryo von ihm hoch zu seinem Appartement führen, widersetzte sich auch nicht, als Dee ihn rasch entkleidete. Hätte Ryo normal geschwitzt, so wäre Dee durchaus erleichtert gewesen, doch es gab nur diese besorgniserregende Gluthitze, die Haut dagegen war spröde und trocken. Mühsam bewältigten sie die Aufgabe, Ryo in einen seiner Pyjamas zu bugsieren. Anschließend half Dee seinem vollkommen erschöpften Liebsten in das gewaltige Bett und deckte ihn fürsorglich zu. Ryo schenkte ihm einen leicht entrückten, definitiv abgehobenen Blick, lächelte schmelzend und ging aus wie ein Licht. Von einem Wimpernschlag zum Nächsten sackte er völlig weg. Dee wusste nur, dass er in seinem Appartement, das dem Revier am nächsten lag, nicht die passenden Medikamente vorrätig hatte. Trotz seiner großen Angst vor Grippe und Erkältungen. Eilig rannte er also los, rutschte rudernd und fluchend über verborgene Eisplatten und überwand wie ein Spring-ins-Feld aufgetürmte Schneehindernisse. Seine Mission war eindeutig: den Liebsten aus Lebensgefahr zu retten! Er hatte Glück und konnte Janices Liste abarbeiten, ausreichend Lebensmittel beschaffen, die für die Krankenkost unerlässlich waren, sie abschließend auch noch unbeschadet zurück zu seinem Appartement befördern. In Windeseile rührte er eine fertige Hühnerbrühe zusammen, füllte Orangensaft in Sportflaschen ab, deponierte Medikamente, Wasser und Strohhalme neben seinem Bett. Er hoffe, dass die Sportflaschen es Ryo erleichtern würden, ohne Unglück erst dem Saft ein Ende zu bereiten, bevor er sich am Wasser versuchte. Dee ließ sich auf der Bettkante nieder, streichelte über Ryos glühenden Schopf. Nur eine leichte Röte, die ihm in delikaten Situationen vertraut war, zeigte sich auf dem geliebten Gesicht. "Ryo, bitte entschuldige." Er beugte sich hinunter, küsste die aufgeheizte Stirn und räusperte sich heftig, weil ihm die Stimme so belegt, der Hals zugeschnürt war. Er wusste, dass er wieder zurück zum Dienst musste, ganz gleich, was sein Herz davon hielt. Aber er fühlte sich wie ein erbärmlicher Verräter, obwohl ihm sein Verstand eingab, dass es im Augenblick nichts mehr zu tun gab. Sichtlich geknickt verließ er sein Appartement, stolperte mit steifen Beinen die Treppen hinunter zum Dienstwagen. Dort kauerte er hinter dem Lenkrad, den Kopf auf die Hände gesenkt, atmete tief durch, lehnte sich dann weit im Sitz zurück, rubbelte sich kräftig über das Gesicht. Lamentieren half niemandem! Er fingerte sein Mobiltelefon aus dem Holster am Gürtel und tippte eine knappe Nachricht mit Anweisungen an Bikky ein. Der befand sich, hoffentlich!, gerade in der Schule, sodass ein direkter Anruf den ungebärdigen Ziehsohn seines Liebsten in weitere Schwierigkeiten gebracht hätte. Doch wenn die Schule für den Tag beendet war, würde es Dickkopf Bikky sicher gelingen, sich bis zu seinem Appartement durchzuschlagen und nach Ryo zu sehen. Nach Dienstschluss könnte er das vorlaute Gör ablösen. Dee startete den Motor, meldete sich bei Drake über Funk und lenkte den Wagen sehr viel umsichtiger zurück zu ihrem Revier. Trotzdem dauerte die Fahrt lange, es staute sich ungeachtet des spärlichen Verkehrs, weil immer mal wieder ein Wagen sich querstellte oder festfuhr. Dee nutzte die Zeit und telefonierte. "Pinguin? Ich bin's!", meldete er sich betont munter, doch er hatte Mutter Mary Rain nie etwas vormachen können. Rasch berichtete er ihr, dass Ryo krank geworden sei. Dazu musste er kein Wort darüber verlieren, wie sehr ihn die Lage ängstigte. Sein "Pinguin" versprach ihm ohne jede Bitte, dass sie für Ryo beten würde und verkündete Dee, er möge zuversichtlich sein und vertrauen. Mit einem Segen ausgestattet fühlte sich Dee besser, als hätte eine frische Brise seinen konfusen Kopf leergefegt und alle hinderlichen, irreführenden Gedanken weggepustet. Vielleicht war es an der Zeit, die eigenen Prioritäten zu überdenken. War ihm sein Appartement, das Ryo liebevoll als "Räuberhöhle" bezeichnete und in dem sie sich häufig trafen, um einander ungestört lieben zu können, wirklich so wichtig? Tatsache war doch, dass es für drei Personen zu klein war. Selbst wenn die Lage zum Revier sich als ideal ausnahm, der Zuschnitt angenehm und die Aussicht atemberaubend war. Warum also nicht das Appartement endlich aufgeben und zu Ryo ziehen? Selbstredend würde er auch seine Hygienestandards umstellen müssen, doch für Ryo wäre das wohl ein geringes Opfer, nicht wahr?! Dee seufzte und verzichtete darauf, sich mit der Hupe auszutoben, obwohl einige andere es ihm vortaten. Ryo hatte ihm immer wieder versichert, dass er die momentane Situation sehr zu schätzen wusste, doch er KANNTE Ryo! Der würde ihm niemals etwas sagen, um ihn zu verletzen oder zu kränken! War es nicht an der Zeit, endlich ernst zu machen? Oder zumindest ernster als bisher? Dee gestand sich ein, dass er Angst hatte. Angst um Ryo. Angst um sich selbst. Wenn er jemals ohne Ryo zurückbleiben würde. *~*8*~* JJ stampfte trotz einer langen Schicht euphorisch in den großen Raum, nickte Drake beiläufig zu. Doch seine Augen, die sich suchend umblickten, fanden das erwartete Ziel nicht. "Drake, wo ist denn Dee?" JJ hinterließ auf dem Linoleum kleine Pfützen Schmelzwasser. "Ist er etwa schon draußen?" Drake seufzte innerlich und wünschte, Ted wäre hier. Oder sonst jemand, der JJ daran hinderte, eine Szene zu machen. "JJ, Dee hat Ryo nach Hause gebracht", gab er sich geschlagen, drückte das Rückgrat durch, um das Unvermeidliche tapfer zu ertragen. "Ryo hat die Grippe." "Wann kommt Dee wieder?" JJ hörte gar nicht richtig hin, seine Gesten waren fahrig. "Er ist auf dem Rückweg." Drake erhob sich, um JJs Blickfeld einzunehmen. "Aber hör mal!", damit packte er seinen Kollegen am Arm, "er muss sofort in den Einsatz. Halte ihn bitte nicht auf." »Und trample bloß nicht auf seinen Gefühlen herum!«, schickte er innerlich hinterher. "Aber einen Kaffee zum Aufwärmen können wir doch noch gemeinsam trinken!", schmollte JJ erwartungsgemäß, "komm schon, D-Man, es ist kalt draußen!" In diesem kritischen Augenblick stürmte Dee das "Hauptquartier" ihres stark geschrumpften Teams. "Danke, Drake, ich bin dir was schuldig. Der Wagen steht in der Tiefgarage." Dee wischte sich schmelzende Schneeflocken aus dem wilden Schopf. "Ah, JJ!" Das klang ungewöhnlich erleichtert, wie JJ, ein wenig misstrauisch, befand. Noch überraschter war er von Dees ernstem, ungewohnt eisernen Gesichtsausdruck, der den frechen Bengel dahinter vollkommen verschwinden ließ. "Gib mir nen Moment, Drake", bat Dee, packte JJ am Hemdkragen hinten und schleifte ihn in den Waschraum. "Uuuuhhhhh!", stöhnte JJ anzüglich, "du bist heute so stürmisch, Dee!" Der drückte ihn gegen eine freie Wand und lehnte sich mit aufgestützten Armen an, musterte ihn erschreckend nüchtern. "JJ", begann er mit einer ruhigen, für JJ entsetzlich gefassten Stimme, "ich WEISS, dass du weißt, dass ich mit Ryo zusammen bin. Trotzdem läufst du mir nach und tust so, als himmeltest du mich an." JJ wollte energisch widersprechen, doch Dee versiegelte ihm mit einer Hand den Mund. "Lass mich bitte ausreden." Aber JJ wünschte sich, das nicht zu hören, deshalb öffnete er den Mund, um Dee wenigstens über die Handfläche zu lecken. Üblicherweise zog das eine kreischende Auseinandersetzung nach sich, doch heute hatte er keinen Erfolg. Lediglich Dees Augenbrauen zogen sich zusammen. "JJ, wenn Ryo wieder auf den Beinen und dieser beschissene Notstand samt der Urlaubssperre nicht mehr als eine höllisch finstere Erinnerung ist, dann werde ich ihn schnappen, das erste Flugzeug nach San Francisco besteigen und ihn dort heiraten." JJ stellte das Lecken ein, seine Zunge erstarrte auf halber Gaumenhöhe. Plötzlich war ihm eiskalt. "JJ, hör endlich auf, dich hinter mir zu verstecken. Wenn du nicht allein bleiben willst, musst du rausgehen und es riskieren. Ich werde nicht mehr dein Vorwand sein, um vor dir selbst wegzulaufen." Damit löste sich Dee, wischte sich die Handfläche am Hosenbein ab und verließ den Waschraum. JJ fühlte sich, als hätte man ihm einen Leberhaken versetzt. Ihm war übel. Er hätte sich am Liebsten übergeben und irgendwo zusammengerollt. Außerdem zitterte er unkontrolliert. Nicht etwa, weil eine rosarote Traumvision wie eine schillernde Seifenblase zerplatzt war. Nein. Weil Dee sein Motiv erkannt und so lange geschwiegen hatte. *~*8*~* Drake blickte auf, als JJ endlich aus dem Waschraum zurückkehrte. Er konnte an dessen Gesichtsausdruck erkennen, dass etwas Gravierendes vorgefallen sein musste. Nun stand er vor einem Dilemma: JJ darauf ansprechen und als Blitzableiter fungieren. Oder schweigen und sich ein bisschen schäbig fühlen? "Hey, JJ, weil Ryo krank ist", wagte er tapfer den Vorstoß in mutmaßlich vermintes Gelände, "könntest du da eben noch beim Chief vorbeifahren?" JJ sah ihn an, doch sein Blick wirkte unfokussiert, abgelenkt. Drake war gezwungen, seine Frage zu wiederholen. Vor ihm ballte JJ die Fäuste, öffnete sie dann aber wieder und seufzte leise, die Schultern herabsackend. "Sicher", murmelte er mit flacher Stimme, "hat Ryo irgendwelche Anweisungen hinterlassen?" "Ja, gebe ich dir, kleinen Moment!" Begeistert darüber, dass ihm keine Szene drohte und JJ sich so handzahm gab, wühlte Drake auf den Pyrenäen des Schreibtisches in den Papierbergen, bis er einen Notizzettel triumphierend herausfischte. JJ grummelte einen Abschiedsgruß, stopfte den Zettel ungelesen in seine Manteltasche und schlurfte aus dem großen Raum. »Von hinten sieht er jetzt aus wie ein alter Mann«, dachte Drake mitleidig. *~*8*~* JJ warf einen missmutigen Blick an der Gebäudefront hoch. »Natürlich!«, dachte er finster, klopfte sich wütend Schneeflocken vom Wollmantel ab, »unser großer Anführer residiert herrschaftlich!« Obwohl Barclay es nie direkt aussprach, wussten sie doch alle, dass er aus einem piekfeinen Stall stammte. Und das Morddezernat lediglich ein Sprungbrett für eine politische Karriere in der Stadt sein würde. Polizeipräsident, Bürgermeister, Senator: das alles war in Reichweite für jemanden, der einer derart vermögenden und einflussreichen Familie angehörte. Ärgerlich stampfte JJ in das feudale Foyer, wies sich beim Sicherheitspersonal am Empfang aus, die mit missbilligenden Blicken seine schneefeuchte Erscheinung und die wasserabweisende Tasche begutachteten. Es befand sich keine Bombe darin, aber die Lebensmittel, die der ach so liebenswürdige Ryo für ihren Boss besorgt hätte. Wenn ihn nicht die Grippe voll auf die Neun erwischt hätte. Übellaunig wartete JJ darauf, dass der für ihn bestellte Aufzug (denn hier lief alles aus Sicherheitsgründen über das extrem hochnäsige Personal im Empfang) endlich im Erdgeschoss eintraf. »Trotzdem!«, dachte er fuchtig. Es WAR eine Gemeinheit, ausgerechnet IHM den Freizeitjob seines Konkurrenten aufs Auge zu drücken! Als sich die Aufzugtüren mit einem dezenten Gong hinter ihm schlossen, lehnte sich JJ resigniert gegen die vornehm verkleidete Wand. Ryo war sein Konkurrent gewesen, in einem Wettstreit, den er niemals hatte gewinnen können. Eine Farce. Und zu seiner Demütigung fragte er sich nun selbst, ob die anderen das nicht längst gesehen hatten und ihn nun mit mitleidigen Blicken bedenken würden. DAS wollte er auf gar keinen Fall! "Ich habe auch meinen Stolz!", knurrte er gegen die dezente Cembalo-Einspielung der versteckten Lautsprecher. Er verließ die schwebende Luxuskrypta und wischte sich mit der freien Hand durch die Haare, von einer Stützwelle in elegantem Schwung gehalten. "Ryo! Endlich bist du da..." Vor ihm hielt in erstaunlich federndem Schwung, der so gar nicht zu einem Rekonvaleszenten passen wollte, Ross Barclay inne. Der erfreute Blick verwandelte sich in ein ebenso finsteres Starren, das JJ ihm zumaß. "Entschuldigung", schnarrte JJ bissig, "Ryo ist leider verhindert. Ihn hat Ihre Grippe erwischt." Nach einer langen Bedenkpause, die deutlich an Unverschämtheit grenzte, hängte JJ "Sir" an. Wie typisch für den arroganten Schnösel, eine ganze Etage zu bewohnen! Plötzlich hasste er seinen Vorgesetzten mit ungekannter Intensität. Der allerdings präsentierte sich in einem denkbar befremdlichen Bild: statt eines seidenen Pyjamas mit royalen Einstickarbeiten trug Ross lediglich ein enges Doppelrippunterhemd über einer schlabberbeinigen Jogginghose und Wollsocken. Lediglich die eleganten Lederslipper an seinen Füßen deuteten an, dass der Hausherr sich auch eines anderen Auftretens befleißigen konnte. "Ah. JJ. Welche Freude." Mit einem gewohnt süffisanten Grinsen deutete Ross eine Verbeugung an. "Warum treten Sie nicht ein?" Mit einem verächtlichen Schnauben folgte JJ der Aufforderung, trampelte betont laut auf dem fürsorglich deponierten Abtreter herum, der eigentlich nur der Dekoration dienen konnte. "Die Einkäufe", streckte er Ross die prallgefüllte Tasche entgegen. "Ich nehme mal an, ab morgen können Sie wieder selbst einkaufen. Oder einen Ihrer Lakaien damit beauftragen", ergänzte er schnippisch. "Vielen Dank." Ross nahm die Tasche entgegen wie einen begehrten Preis. "Warum so schlechter Laune? Mal wieder bei Layton abgeblitzt?" JJ ballte die Fäuste kämpferisch. "Da schimpft wohl ein Esel den anderen Langohr, wie?" "Oh?!" Feixend marschierte Ross voran in eine Küche, in die JJs kleines Appartement mühelos gepasst hätte, befüllte einen gewaltigen Kühlschrank. "Ich denke, meine Qualitäten werden für sich sprechen." Das klang so selbstgewiss und überheblich, dass JJs müde Frustration und der stille Entschluss, die finale Abfuhr ganz allein mit sich selbst auszumachen, sofort verflogen, dem immensen Hass auf Ross Platz machten, der glaubte, er könne Erfolg verbuchen, wo JJ gescheitert war. "Vergessen Sie's!", versetzte er höhnisch, "ich weiß aus erster Hand, dass Ryo Dee in San Francisco heiraten wird. Sieht mir nicht danach aus, als könnten Ihre Qualitäten überzeugen!" Überrascht drehte sich Ross um, die Augenbrauen zusammengezogen, keineswegs mehr jovial-arroganter Laune. "Noch sind sie nicht da", bemerkte er leise, in seinen Mundwinkeln zuckte es jedoch verräterisch. JJs Rechte explodierte auf dem gewaltigen Arbeitsklotz in der Mitte der Küchenlandschaft. "Verdammt, sind Sie blöd, oder was?! Kapiern Sie 's endlich: Ryo steht nicht auf SIE! Er lässt sich von Dee bumsen, klar?!" In Ross' hellen Augen blitzte ein Gewitter, dessen Ausläufer JJ in Kürze niederstrecken würden, doch das war ihm gleich. Warum allein über das Elend jammern, wenn er seine aufgestaute Enttäuschung hier loswerden konnte?! Seine Frustration und Zukunftsangst gegen einen anderen richten?! "Was weißt du denn schon?", schnarrte Ross bitterböse zurück, "du bist doch bloß eingeschnappt, weil Layton sich nicht auf deinen mickrigen Schwanz setzen will!" "DAS sagt der Richtige!" JJ baute sich mit geballten Fäusten vor Ross auf, funkelte zu ihm hoch. "Ich verpass meinem Kerl wenigstens keine verdammte Grippe!" "Dein Kerl?!", höhnte Ross, kopierte unmerklich JJs herausfordernde Körperhaltung. "Du rennst doch bloß hinter Layton her, weil der dich garantiert nie anrühren wird! Hast du überhaupt schon mal nen Kerl gehabt?!" "Von so nem reichen Schlappschwanz muss ich mir gar nix sagen lassen!", versetzte JJ, nun weiß im Gesicht, denn diese gemeine Replik verriet ihm, dass wohl das gesamte Revier über seine wahren Motive Bescheid wusste. "Du hast nix, was Ryo jemals beeindrucken könnte!" "Woher willst du das wissen, du verhinderter Schwanzlutscher?!", explodierte Ross ganz gegen sein gewohnt kühl-beherrschtes Auftreten. Er konnte, leider!, nicht bezweifeln, dass der verfluchte Layton seine Ankündigung in die Tat umsetzen würde. Und wenn Ryo erst mal Treue gelobt hatte... Allein der Gedanke, dass Dee mit Ryo geschlafen hatte, trieb ihn zur Weißglut. ER sollte derjenige sein, der Ryo auf kultivierte, anspruchsvolle, erotische Weise in die Liebe zwischen Männern einführte! Nicht so ein Pavian aus der Gosse, ohne Erziehung und Manieren, der gar nichts zu bieten hatte! "Willkommen in der Wirklichkeit, du Hengst!" JJ lachte ihm bitter ins Gesicht. "Du bist auf voller Linie abgeblitzt. Und musstest dich nicht mal ausziehen!" "Ausziehen hat dir ja wohl auch nix genützt!", versetzte Ross in derselben Diktion, klang überhaupt nicht mehr so wohlmoduliert und abgehoben wie sonst. JJ marschierte steif zum Ausgang, die Lippen so fest aufeinander gepresst, dass sämtliches Blut aus ihnen wich. Natürlich kannte Dee ihn ohne jedes Feigenblatt, immerhin trainierten sie gemeinsam. Während er den athletischen, stets frech-fröhlich aufgelegten Dee bewunderte, der sich aus einem denkbar schlechten Start ins Leben so weit hochgearbeitet hatte, brachte ihm der auch Jahre später nicht mehr als eine verlässliche Freundschaft entgegen. Von Dee hatte er vieles gelernt, er, der einer gutbürgerlichen Familie entstammte, in einer kleineren Stadt aufgewachsen war. Widerwillig verstand er, warum Ryo sich von Dee angezogen fühlte. Und leider auch, warum umgekehrt Dee sein Herz auf den ersten Blick an Ryo verloren hatte. Es zu verstehen und es zu akzeptieren, das waren allerdings zwei verschiedene Paar Stiefel. Er rammte die Faust auf den Rufknopf der Aufzüge, fischte dann in der Innentasche seines Wollmantels nach den Ohrsteckern, befestigte die Kopfhörer und spulte mit leerem Blick auf dem kleinen Abspielgerät. Sofort füllte sich sein schmerzender Kopf mit einer beschwingten Melodie, die so gar nicht zum Text passen wollte. "comin home" (murder by death) By the light of the moon, I'm comin' home Howlin' all the way, I'm comin' home On my hands and knees, I'm comin' home I know when I've been beat, yeah, I'm comin' home By the skin of my teeth, I'm comin' home By the sound of my feet you'll know I'm comin' home... I'm comin' home but I ain't comin' home for you I'm riding out the wind, I'm comin' home It don't matter where I been, no, I'm comin' home Crawlin' on all fours, I'm comin' home I'm turnin' brick walls into doors, I'm comin' home I got that taste in my mouth I got a hunger in my gut My skin has turned to leather My hair is banded rope My knees have buckled Beneath the weight of doubt but now I miss the things that I have done without I'm comin' home but I ain't comin' home for you I'm comin' home and there ain't nothin' you can do about it Don't leave the light on Don't need you anymore my old friend Put a cross above the door Hang up the boards 'cause I'm on my way I'm comin' home. Die Zeilen erfüllten JJ mit einer grimmigen Entschlossenheit. Auch wenn er sich jetzt gerade fühlte, als hätte ihn die gesamte Welt nach Strich und Faden vermöbelt, ihn ausgegrenzt, in die Dunkelheit gestoßen und verlassen: er WÜRDE nicht untergehen. Sich selbst aufzugeben, das kam nicht in Frage. Der Schmerz würde abflauen, die Wunde vernarben. Irgendwann würde er durchatmen und kein Ziehen in der Brust mehr verspüren. Auf sich selbst gestellt würde er diese Krise meistern, nicht zum ersten Mal seinen eisernen Willen gegen Widerstände erproben. »Ich schaffe das!«, sprach er sich selbst zu und lauerte auf den Aufzug, um endlich sein neues Leben beginnen zu können. *~*8*~* Ross lehnte über dem Arbeitsklotz, atmete tief durch und hob die kantige Brille von der Nasenwurzel, massierte diese mit zwei Fingern. »Sei kein Idiot!«, ermahnte er sich selbst wütend. Hätte er sich in Ryo verliebt, wenn der durch Geld, Einfluss oder berühmte Namen zu beeinflussen gewesen wäre? Sicher nicht. Aber seine Eitelkeit war verletzt, weil Ryo es vorzog, sich ausgerechnet von so einem ignoranten Proleten wie diesem Layton vernaschen zu lassen. Dass ausgerechnet der aufsässige, nervtötende Gorilla zu sehen bekam, wie Ryo sich in Ekstase gehen ließ, das würgte ihn im Hals! »Du willst eben immer nur das, was du nicht bekommen kannst. Und wenn du es dann hast, bist du nicht mehr daran interessiert«, hörte er Dianas spöttische Stimme in seinem Ohr. Er hatte das glattweg zurückgewiesen, als beleidigende Unterstellung verstanden. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Konnte er wirklich in derselben Lage wie JJ sein? Sich hinter einer Illusion verstecken, einem Trugbild nachjagen, um sich selbst nicht einzugestehen, dass er keine Chance hatte? Dass er umsonst gewartet hatte, umsonst enthaltsam gewesen war. Ein bissiges Lächeln verunzierte seine Lippen. »Clever, Layton, wirklich clever!«, zollte er seinem Rivalen und Erzfeind Anerkennung. Er selbst hätte nie gewagt, eine Heirat in San Francisco ins Auge zu fassen. »Oder ihn bei offiziellen Veranstaltungen als Begleiter mitzunehmen«, schnurrte seine Nemesis mit Dianas Stimme. Was hätte er Ryo wirklich bieten? Abgesehen von seinem Körper und kurzweiligem Vergnügen? Zumindest nicht genug. Er ließ seine Brille auf dem Arbeitsblock zurück, marschierte durch sein weitläufiges Appartement zum Ausgang. JJ schien ihn nicht zu bemerken, was Ross auf die Kopfhörer in dessen Ohren zurückführte. Gegen eine Säule gelehnt, die Augen geschlossen, die Miene weniger grimmig als erschöpft wirkte er nicht länger wie der lächerliche Welpe, der hinter Layton her hechelte. Wenn man ihn so sah, die kastanienbraunen Haare mit der Stützwelle leicht zerzaust, in einen taillierten Dreiteiler unter dem Wollmantel gehüllt, wirkte er wirklich wie der beste Scharfschütze der Stadt, auf diskrete Art elegant. »Zumindest bei der Wahl seiner äußeren Erscheinung beweist er Geschmack«, stellte Ross fest und schickte den Aufzug wieder weg, bevor JJ aus seiner Versunkenheit aufwachen konnte. Feine Linien zeichneten sich deutlich auf Ross' Stirn ab, als ihm klar wurde, dass selbst JJ bessere Karten hatte. Von dem würde niemand verlangen, seine Sexualität zu verleugnen, eine weitere Generation für die Dynastie in die Welt zu setzen. Er beneidete ihn. Wenn er doch nur einmal so impulsiv handeln könnte wie jeder andere Mann! Schwanzgesteuert, hirnlos, ohne Rücksicht auf Konsequenzen! Dann wurde Ross schlagartig klar, dass die Auseinandersetzung in der Küche bereits einen hässlichen Riss in seine makellose Fassade gefügt hatte. Wenn JJ darüber plauderte. "Scheißegal!", brüllte er sich selbst an, "heute ist mir alles scheißegal!" Er packte JJ beim Handgelenk, bevor der sich erschrocken zur Wehr setzen konnte, zerrte ihn im Polizeigriff in sein Appartement zurück. "Los!", fauchte er dem wütend fluchenden JJ ins Genick, "wo sind deine Dienstmarke und der Ausweis?!" Er zwang JJ, seine Insignien und die Dienstwaffe in einen Tresor zu legen, den er achtlos schloss. "Was soll der Mist?!" JJ wurde sichtbar nervös, beäugte das irre Glitzern in Ross' Augen verunsichert. "Ganz einfach." Der gab endlich JJs malträtierten Arm frei, nur um ihn gegen die Wand zu pressen. "Ich werde dich jetzt ficken." Vor lauter Ungläubigkeit über diese Ankündigung und die Ausdrucksweise sackte JJ die Kinnlade herab. "Und denk bloß nicht, dass du die zweite Wahl bist, weil ich Ryo nicht haben kann!" Ross verdrehte ihm nun den anderen Arm, dirigierte ihn durch die weitläufige Wohnung. "Ich habe die Schnauze voll von vornehmer Zurückhaltung! Ich will die Sau rauslassen, und du weißt das zu schätzen." Knurrend ergänzte er, "vermutlich als Einziger." Er stieß die Doppeltüren zu einem gewaltigen Kabinett auf, das von einem gewaltigen Bett mit Himmel, leger dekorierten Vorhängen und besonders stabilen Bettpfosten dominiert wurde. Die restliche Ausstattung erinnerte an alte Kostümfilme und intrigante Kurtisanen. JJ rammte die Fersen seiner Stiefel ins Parkett. "Ich will das nicht!", protestierte er heftig, die Augen nass, weil der Polizeigriff ihm wirklich Schmerzen zufügte. Er war doch keine sprechende Sexpuppe! Unerwartet kam er frei. Dies währte nicht lange, weil Ross' Rechte ihn im Nacken packte, während die Linke ihm den Reißverschluss der Anzughose herunterzog. "Nein!" JJ wehrte sich panisch. "Verdammt, das ist nicht komisch!" Wollte Barclay ihn tatsächlich vergewaltigen?! »Das glaubt dir keiner!«, geisterte ein hysterischer Gedanke durch seinen Kopf. Nun kam es vor dem Kabinett zu einem heftigen Handgemenge. Sie waren beide in guter Form, absolvierten regelmäßig das vorgeschriebene Training und verfügten beide über herausragende natürliche Anlagen. JJ hatte lediglich zwei Nachteile: erstens behinderte ihn sein schwerer Wollmantel und zweitens griff er nie zu schmutzigen Tricks. Ross nutzte diese Gewissheit weidlich aus und legte JJ wortwörtlich schwungvoll aufs Parkett. Während der noch ächzend durch den Aufprall nach Luft schnappte, verkeilte Ross JJs Handgelenke und vollendete sein Werk am Beinkleid. Einen Moment später stöhnte JJ nicht nur, weil er ziemlich heftig gelandet war. Über ihm kauerte Ross, musterte ihn wie ein Raubtier mit halb geschlossenen Augen, leckte sich unbewusst über die lasziv geschwungenen Lippen. Aus JJs Augenwinkeln sickerten Tränen, tropften auf das glänzende Parkett. Sein Herz raste, weil der verfluchte Barclay ihn reingelegt hatte. Weil er so verdammt geschickt war. Weil JJ nicht wollte, aber kommen würde. Abrupt drehte er den Kopf weg, wollte sich wenigstens nicht wie bei einer billigen Peepshow beim Orgasmus anstieren lassen. Heißer Atem wehte auf seine Wange. JJ kniff die Augen zusammen. Eine Zunge markierte seine Wangenknochen, schlängelte sich ungebeten in seine Ohrmuschel. "Jamie", raunte Ross kehlig, leckte salzige Spuren von den sich rötenden Wangen. "Komm schon! Lass uns Spaß haben. Die beiden wissen nicht, was ihnen entgangen ist." JJ zuckte unter ihm zusammen, versuchte vergeblich, die Beine anzuziehen. Ross setzte sich auf die Hacken, fingerte mit der freien Hand ein zerknittertes Papiertaschentuch aus einer ausgebeulten Hosentasche, trocknete sich die Linke ab. Zitternd bemühte sich JJ, wenigstens vom Parkett in eine sitzende Haltung zu gelangen. Er hasste seine derangierte Erscheinung, seine weichen Knie, die dünne Stimme in seinem Inneren, die ihn drängte, auf Barclays Vorschlag einzugehen. Was hatte er denn schon zu verlieren? »Du meinst, abgesehen von meinem Stolz, meiner sexuellen Selbstbestimmung?!« "Du arroganter Scheißkerl", zischte er Ross zornig an. "Hältst du dich für unwiderstehlich, oder was?! Nur, weil es dich juckt, sollen alle springen, ja?!" Der funkelte zurück, knurrte verbissen. "Wenn's mich juckt, muss ich's mir wegdenken! Ich kann nicht einfach wie du in nen Club abtauchen und mir nen Stecher für ne Nacht suchen." "Oh, du hast mein Mitgefühl!", fauchte JJ, stellte sich auf seine Beine, triefend vor Ironie. "Muss schon beschissen sein, so privilegiert zu leben." "Ja!", erwiderte Ross hitzig. "Vor allem, wenn man jemanden sucht, der nicht auf Geld oder Macht aus ist!" "Schlimm, schlimm!", säuselte JJ, stützte sich mit einer Hand am Türpfosten ab. "Dann könnte dich ja einer am Schniedel durch die Gegend schleifen!" "Was ne Schande wäre, denn es is n Prachtstück!", versicherte Ross bierernst. "Sicher doch", murmelte JJ nach einer verdutzten Pause. Wahrscheinlich würde der überhebliche Barclay gleich auch noch blankziehen! Der studierte ihn jedoch eingehend. "Was spricht dagegen?", fragte er leise, "dass wir miteinander Spaß haben? Wofür willst du enthaltsam bleiben?" JJ knurrte. "Ich kann dich nicht ausstehen, DAS spricht dagegen! Du bist ein unerträglicher, eingebildeter, arroganter Schnösel!" Zu seiner Verblüffung grinste Ross. "Stimmt, aber das ist bloß die Verpackung. Warum wirfst du nicht einen Blick unter die Haube?" "...das funktioniert doch nie", murmelte JJ, strafte die schmerzenden Schultern. "Ich will keine schnellen Abenteuer. Und du suchst bloß irgendwen zum Bumsen." Er spürte den intensiven Blick auf seinem Gesicht und schlug die Augen nieder. Barclay begriff wohl nicht, dass Vertrauen dazu gehörte, bevor man sich einem anderen Mann so auslieferte! Dieser Blödmann! Ross' Fingerspitzen streiften federleicht über JJs Wange, dann zog er sich zurück. Auf seinen aparten Zügen zeigte sich ein gequältes Lächeln. "Tja, die Geschichte meines Lebens. Mehr als das habe ich nie bekommen und wie es aussieht, muss ich auch darauf verzichten lernen." Langsam schloss Ross die Flügeltüren seines Kabinetts, kehrte JJ den Rücken. "Tut mir leid, dass ich so grob war. Komm, ich gebe dir deine Sachen wieder." Überrascht von dem plötzlichen Gesinnungswandel trottete JJ verwirrt hinter Ross her. Der öffnete den Tresor, trat dann ein wenig zurück, damit JJ sein Eigentum an sich nehmen konnte. Der zögerte, fing Ross' fragenden Blick auf. JJ ballte die Fäuste, öffnete sie wieder, wischte schließlich die feuchten Handflächen an seiner Hose ab. "...willst du bleiben?", erkundigte sich Ross leise, verwundert. Entschlossen, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, wandte sich JJ zu ihm um, holte tief Luft. "...wenn wir beide so tun, als wären wir verliebt ineinander, dann..." "...dann könnte es vielleicht funktionieren", beendete Ross kaum hörbar seinen Satz. Schon wieder einer Seifenblase hinterher jagen? Einer Illusion aufsitzen? Langsam hob Ross die Hand, streifte mit den Fingerkuppen schmetterlingszart über JJs angespannte Wange, näherte sich in Zeitlupe an, bis er bloß den Kopf zu neigen brauchte, die Lider senkte und einen Kuss auf JJs Mund hauchte. In winzigen Bewegungen dessen Lippen beknabberte, so zärtlich, als handele es sich um etwas außergewöhnlich Kostbares, Zerbrechliches. JJ war noch nie so geküsst worden. Instinktiv legte er die Hände unter Ross' Ellenbogen, wollte einen Halt finden. Als Ross sich nach süßen Ewigkeiten ein wenig zurückzog, sie die Augen beinahe synchron aufschlugen, waren sie beide verwundert darüber, dass diese Küsse sie bis ins Mark erschüttert hatten. Versetzte der Glaube nicht nur Berge? Ohne eine Aufforderung auszusprechen streichelten Ross' Finger an JJs Arm hinab zu dessen Hand. Überließen es ihm, ob er seine Finger mit Ross' verschränken wollte. JJ wollte. *~*8*~* Dieses Mal wurde JJ nicht in das ominöse Boudoir geführt, sondern in ein gedeckt gehaltenes, schlicht ausgestattetes Schlafzimmer. Ein Doppelbett aus dunklem Holz, zwei einfache Leuchten wie Antennen eines großen Insektes am Kopfende befestigt, der rechte Nachtschrank überquellend von Zeitungen und Zeitschriften. Ein eleganter Herrendiener, ein bequemer, von den Zeichen der Nutzung geprägter Lesesessel und der Durchgang zum separaten Ankleidezimmer, hinter dem sich ein Badezimmer anschloss. Gediegen-geschmackvoll, durchaus, aber hier hatte JJ wenigstens den Eindruck, dass nicht nur repräsentiert, sondern auch tatsächlich gelebt wurde. Ross schloss hinter ihm lautlos die Tür, überquerte den weichen, hochflorigen Teppich und begann damit, JJ zu entkleiden. Langsam, in einer feierlichen Zeremonie, sorgfältig und bedächtig. Wie jemand, der das Geschenkpapier möglichst nicht beschädigen wollte, es artig faltete und ordentlich zur Seite legte. Seine Fingerspitzen wanderten in federleichten Liebkosungen über JJs Haut, die Haare, berührten dessen Lippen, um einen Protest zu unterbinden. JJ spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Er erkannte schließlich eine Verführung, wenn er sie sah! Doch in Ross' Augen konnte er keinen selbstgefälligen Spott lesen, die arrogante Überheblichkeit, die kaum verborgene Verachtung für Gefühle, die nur Schwäche waren. Nein, Ross' Blick spazierte über seinen Körper, gemächlich und doch intensiv. Als gelte es, jedes Detail zu würdigen. Um sich zu revanchieren, nutzte JJ die Gelegenheit, Ross' labbrige Jogginghose zu entknoten, über dessen schlanke Hüften zu pellen und zu dessen Knöcheln sinken zu lassen. Es war schließlich nicht fair, dass er allein im Adamskostüm herumstand! Ross wich exakt aus seiner Reichweite, keinen Millimeter weiter, packte den Saum seines Unterhemds und streifte es nachlässig über den Kopf, ließ es achtlos auf den Teppich gleiten. Röte schmeichelte JJs ohnehin blühenden Wangen, denn, verflixt noch eins!, wer hätte gedacht, wie VERDAMMT SEXY dieser unausstehliche Mistkerl aussah! Ebenso souverän entledigte sich Ross beiläufig seines Slips, streckte dann auffordernd die Hand nach JJ aus. Der fasste nach kurzem Zögern zu, wollte nicht kindisch-trotzig darauf beharren, selbst unter die erstaunlich leichte Bettdecke zu kriechen. Ärgerlicherweise trommelte sein verräterisches Herz in wilder Erwartung freudig, konnte es kaum abwarten, den nächsten Schritt von Ross zu erfahren. Der verhielt sich zu JJs Verwirrung so, als wären sie tatsächlich ein Liebespaar, streichelte ihn am ganzen Körper, küsste ihn, sanft, zärtlich, behutsam, werbend. Als wäre es das Erste Mal. JJ gestand sich ein, dass er dieser Attacke nicht gewachsen war. Wer träumte nicht davon, einmal nach Strich und Faden verwöhnt zu werden, so geschätzt und geliebt wie niemand auf dem ganzen Erdenrund? Unter halb gesenkten, flatternden Lidern ließ er Ross gewähren, spreizte nachgiebig die Beine, drehte und wendete sich so, wie der es wünschte. »Wie lange...«, bemühte sich sein Gehirn um Ablenkung, um bloß nicht ZU FRÜH die Waffen zu strecken. »Seit dem letzten Mal...?« Er wusste es nicht zu sagen, konnte sich kaum noch daran erinnern. Ein unkenntliches Gesicht, ein Fremder, der vielleicht wie Dee gelächelt hätte, ihm ein wenig in der Gestalt ähnelte. Hatten sie einander den unerreichbaren Traumpartner für eine Nacht ersetzt? »Unwichtig!«, zerstoben melancholische Erinnerungen in seinem Kopf, denn Ross beschleunigte, weniger das Tempo als die Intensität seiner Aufwartung. Und JJ WUSSTE, dass er es wollte. In einer Lüge etwas Wahres spüren. *~*8*~* Ross erwachte, weil sein Mund staubtrocken war und sein auf Autopilot laufender Körper nicht an der gewohnten Stelle die kleine Thermoskanne mit dem japanischen Grüntee greifen konnte. Kein Wunder, sie befand sich in der Küche. Leer. Am späten Nachmittag, im Licht gedämpfter Lampen, setzte sich Ross in seinem Bett auf, leckte sich über die trockenen Lippen. Dann wandte er sich zur Seite, studierte den Tiefschläfer neben sich. Es war ein seltener Moment, und Ross wusste, dass es die letzte Gelegenheit war. Denn was er, -nein, was SIE!-, heute getan hatten, würde sich nicht wiederholen. JJ wirkte, selbst in der wenig glamourösen Beleuchtung, ungewohnt apart. Sogar sexy. Die helle Haut war von unzähligen Sommersprossen-Ansammlungen gezuckert, die man sonst selten zu Gesicht bekam. Die verstrubbelten Haare wirkten einladend, die Stupsnase und die sanft geröteten Wangen dagegen anrührend kindlich. Lange Beine, schlanke Hüften und ein sehr gut trainierter Po... Ross lächelte wehmütig. Ja, JJ war, äußerlich gesehen, erschreckend genau SEIN Typ. Dazu jedoch selbstsicher, eigensinnig, laut, unverblümt und extrem geschmacklos, was SEINEN Typ betraf. Umsichtig kletterte Ross aus seinem Bett, zupfte die Decke über den entblößten Schultern sanft zurecht. JJ war jemand, der an die große Liebe glaubte. Der einen Partner suchte, mit dem er zusammen leben, wohnen, im Sommer grillen und gemeinsam Ausflüge unternehmen konnte. Der seine Überzeugungen teilte, seine Perspektive einnahm. Ross wusste, dass er nicht der Richtige war. »Tja«, stellte er stumm fest. Aber für eine Umkehr war es längst zu spät. Er hatte sich darauf eingeschworen, von Kindesbeinen an, dass er politischen Einfluss gewinnen wollte. Die Geschicke seines Landes, seiner Mitmenschen mitgestalten und lenken. Dafür musste er zwangsläufig alles andere unterordnen. Wenn sich überhaupt ein Partner fand, dann jemand, der als Mauerblümchen und Dekoration sein Dasein zufrieden fristen wollte. Eine feste, unerschütterliche Bank in turbulenten Zeiten darstellte. Und wozu? Für einsame Tage und Nächte, dafür, alle wesentlichen Entscheidungen im Alltag allein treffen zu müssen, die ewige Nummer 2? Ross kannte sich gut genug, um Verachtung für eine derart servile Einstellung zu empfinden. Was ihn beschämte, denn dieses Gefühl war nicht gerechtfertigt. Aber er konnte es auch nicht abschütteln. Bei seinen Liebhabern verlangte es ihn immer nach einem ebenbürtigen Gegenüber, mit dem man sich messen konnte. Der eine Herausforderung war. Folglich, in Anbetracht dieser unvereinbaren Sehnsüchte, musste er auf eine Erfüllung verzichten. Überhaupt war es schon leichtsinnig genug gewesen, sich einen direkten Mitarbeiter ins Bett zu ziehen. Andererseits vertraute er JJ, denn abgesehen von dessen beklagenswerter Blindheit für Laytons Charaktermängel hielt Ross ihn für einen intelligenten, wachen jungen Mann. JJ würde es nicht missverstehen, nicht überbewerten. »Trotzdem«, seufzte seine Libido begehrlich. "Ja", antwortete Ross sehr leise. Bedauerlich war es schon, keine Frage. *~*8*~* Der aromatische Duft frisch aufgebrühten Kaffees lockte JJ schließlich aus dem Traumland seliger Erfüllung. Er rieb sich die Augen, studierte die ihm unbekannte Zimmerdecke und setzte sich langsam auf, während sein Gehirn auf Touren kam. "Wenigstens gibt's Frühstück", stellte er heiser fest, schwenkte die nackten Beine seitlich über die Bettkante. Erstaunlicherweise fühlte er sich geschmeidig und erholt. Das war überraschend, bedachte man doch, wie lange das letzte Mal her war. Langsam schraubte JJ sich in die Höhe. Eins musste man dem schnöseligen Barclay ja lassen: im Bett war er eine Wucht!Mit einem schiefen Grinsen sammelte JJ seine Kleider vom Lesesessel auf, suchte sich vorsichtig einen Pfad zum Badezimmer hinter dem Ankleideraum. Eine Dusche in Anspruch zu nehmen erschien ihm gerechtfertigt, immerhin hatte sein Gastgeber nicht unerheblichen Anteil an seinem derzeitigen Zustand, der allzu deutlich auf die letzten Aktivitäten hindeutete. JJ betrat die geräumige Duschkabine, mondän mit beschichtetem Glas ausgestattet und schmeichelnd illuminiert. »Hake es unter erfreuliches, einmaliges Intermezzo ab!«, ermahnte er sich selbst. Ross hatte zwar die richtige Figur und die verblüffend versierte Technik, die ihn im Sturm erobern konnte, aber dummerweise war Barclay ein unerträglich süffisanter, arroganter Pinsel. Und DAS war ein Ausschlusskriterium. »Abgesehen von der Tatsache, dass er dein Boss und ziemlich reich ist«, ergänzte sein Realitätssinn nachdrücklich. "Weischisch!", gurgelte JJ unter dem warmen Regen aus der gewaltigen Brause, schloss die Augen genießerisch und rubbelte seine Kopfhaut mit den Fingerknöcheln. Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder ganz er selbst zu sein. Nicht mehr getrieben, ein nervöser Gaukler, der auf seine eigene Fiktion hereingefallen war. JJ verließ die Kabine, trocknete sich sehr energisch ab, bis seine Haut zu glühen schien, stieg dann in seine Kleider und kämmte sich die Haare mit den Fingern zu einer wilden Mähne. Grinste sich weit feixend im Spiegelkabinett zu. Andere Mütter hatten auch scharfe Söhne mit Knackarsch und Verstand zwischen den Ohren! JJ war in Goldgräberstimmung. *~*8*~* Kapitel 3 - Paare im Nebel Llywelyn kam dem leisen Signalton seiner Armbanduhr zuvor, löschte die Alarmzeit und zog den USB-Stick aus dem hochwertigen Laptop. In kontrollierten Schritten ließ er die Maschine herunterfahren, bevor er sie von der Stromversorgung löste und sorgfältig in einer ledernen, gepolsterten Tasche verstaute. Das Gerät war neu, konnte für sein Empfinden viel zu viele Dinge, nach denen es ihn nicht verlangte und erfüllte ihn mit einem gewissen Misstrauen. Doch er benötigte den Computer als Arbeitsmittel für die Schule und als Lesehilfe für sein Vergnügen, deshalb schickte er sich drein. Der USB-Stick verschwand in dem winzigen Lederbeutel, den Llywelyn am Gürtel trug. Seine ursprüngliche Bestimmung hatte darin bestanden, losen Tabak aufzunehmen, doch zu diesem Zweck war er niemals eingesetzt worden. Die "stille Reserve" des Großvaters, die nicht mehr benötigt und deshalb verschenkt worden war. Ohne sich umzusehen verließ Llywelyn sein Zimmer im ersten Stock, sockte beinahe geräuschlos die breiten Stiegen des hochherrschaftlichen Bürgerhauses hinunter und verließ das Haus über die kleine, gemauerte Veranda. Sein Ziel war, wie jeden Freitag um diese Uhrzeit, ein umgebauter Schuppen, von dem nur noch eine mit roten Backsteinen errichtete Mauer als Erinnerung stand. Alle übrigen Wände und das Dach waren durch hochmoderne Stahlträger und Mehrfachverglasung ersetzt worden. Hier befand sich die "Sommerfrische" seiner Eltern, der Grüne Salon. An der schweren Eingangstür, eine Kopie alter Haustüren im flämischen Stil, wartete Llywelyn auf den kleinen, schwarzen Schatten, der sich hinter ihm mit hochgebogenem Schwanz einen Weg durch die verwilderte Naturwiese bahnte. Llywelyn öffnete die Tür und ließ seiner Begleiterin den Vortritt, wie es sich gehörte. Ihnen schlugen die verdichteten, satten, ein wenig süßlich nach Verrottung duftenden Ausdünstungen der hier versammelten Flora ins Gesicht. Als ob man vom nasskalten Herbstwetter unerwartet in einen schwülen Regenwald gelangte. Wie gewöhnlich hob Llywelyn Besen und Kehrschaufel von den Haken an der gemauerten Wand, lehnte sie an ein altes Poster, das dort schon seit langem platziert worden war. Er band sich eine knielange Schürze um und schlüpfte in Gummistiefel, bevor er seine Clogs in ein Regal räumte. Seine Gedanken schweiften in die Ferne, während sein Blick sich auf die ungewöhnliche Pflanze konzentrierte, die man abgebildet hatte. Irgendjemand hatte dem Aufdruck "Exciter" das Wort "succulente" mit schwarzem Filzstift angehängt. Dann hatte sich offenkundig eine andere Person dazu gemüßigt gefühlt, "Exciter succulente" mit einem Lineal säuberlich durchzustreichen, um in Druckbuchstaben "Agave attenuata, Drachenbaum-Agave" zu klassifizieren. Von wem dieser botanische Diskurs stammte, hatte Llywelyn nicht in Erfahrung bringen können, denn angeblich war die äußerst stimulierende Ansicht bereits bei Einzug seiner Eltern an dieser Stelle vorhanden gewesen. Ebenso müßig erwog er, irgendwann einmal nachzusehen, ob die so beworbene Band überhaupt noch existierte, ihre Mitglieder noch lebten. Er tat es jedoch nie. Wie ein eingespieltes Team bewegte er sich mit dem kleinen, schwarzen Schatten zwischen den offenen Regalen hindurch. Hier versammelte sich bunt gemischt, Topf an Übertopf, alles, was blühte, Blätter abwarf und ständig gegossen werden wollte. Lediglich ein kleiner Zweisitzer, mit Plastik überzogen, erinnerte an die Funktion als Salon. Um sich ein wenig Atemluft zu verschaffen und dräuenden Kopfschmerzen Einhalt zu gebieten, öffnete Llywelyn die verglaste Tür weit, verkeilte sie geübt. Wie gewohnt fand er auf der hölzernen Einfassung des Komposthaufens den Handfeger, ein Zeichen für eine gewisse Zerstreutheit seiner Mutter. Er hob das filternde Schutzgitter von der benachbarten Zisterne, klopfte das hinderliche Fallgut über dem Komposthaufen aus, bevor er wieder in den Grünen Salon zurückkehrte. Seine zierliche Begleiterin hatte sich ungestört auf den luftdicht eingeschweißten Polstern des Zweisitzers eingerollt und beäugte ihn gelassen. Unwillkürlich zuckte ein Lächeln in Llywelyns Mundwinkeln. Niemals hatte er Malefiz, die kleine Katzendame, aufgefordert, ihn zu begleiten. Überhaupt verstand er sich nicht als Tierhalter oder Herrchen. Sie teilten sich das Haus und lebten zusammen in gegenseitiger Akzeptanz. Niemand "besaß" den anderen, auch wenn Llywelyn sich die Freiheit genommen hatte, seine schöne Gefährtin mit einem Namen zu versehen. Er rief sie schließlich nicht damit! Methodisch fuhr er mit dem Handfeger gegen den Uhrzeigersinn über die Regalböden, von oben langsam nach unten. Dort fegt er dann Abschnitt für Abschnitt und sammelte die Ausbeute auf der Kehrschaufel, die hauptsächlich auf dem Komposthaufen entleert wurde, soweit es sich nicht um Keramikscherben, Plastik oder besonders fleischige, kaum verrottende Blätter handelte. Hörte sich die Aufgabe eintönig an, so verlangte sie jedoch Aufmerksamkeit und Geschick. Nicht nur, dass jeder vorhandene Quadratzentimeter mit Flora zugestellt worden war, nein, zu seinem Leidwesen zeichnete sich die Ausstattung des Grünen Salons auch durch die recht wahllose Dekoration mit exotischem Nippes aus. Da fanden sich langohrige Steinstatuen von den Osterinseln, die artig mit Moais betitelt worden waren, chinesische Tonsoldaten, Kopien von Maya-Gottheiten und diverse andere, mehr oder weniger hässliche Kopien berühmter Figuren. Ohne besondere Ordnung simpel an jeden noch so winzigen, freien Fleck abgestellt. Um nichts versehentlich zu zerbrechen, musste er also vorsichtig vorgehen und seine Abneigung gegen diese unansehnlichen Replikationen unterdrücken. Malefiz setzte sich auf seinen rechten Spann, legte den Kopf in den Nacken und musterte ihn stumm aus herrlichen Bernsteinaugen. Ebenso wortlos beugte sich Llywelyn hinab, nahm sie mit der Hand auf und beförderte sie in ein Regal in Brusthöhe. Er hatte es bereits von Staub und pflanzlichem Unrat gereinigt, sodass er nun leicht zurücktreten und beobachten konnte, wie unglaublich flexibel sich Malefiz durch die schmalen Zwischenräume zwängte, um ihr Ziel zu erreichen. Es war ein Spiel, das sie beide mit heimlichem Genuss betrieben. Unbeirrt hielt Malefiz auf eine Figurine zu, die die berühmte Venus von Willendorf kopierte. Diese kleine Göttin, auf wesentliche Rundungen reduziert, zeichnete sich nicht nur durch eine besonders kurvenreiche Silhouette aus, sondern auch durch die mangelnde Voraussicht ihrer späteren Kopisten. Es gab nämlich keinen zusätzlichen Standfuß oder Haken, mit dem man die ohnehin schwierigen Gleichgewichtsverhältnisse stabilisieren konnte. Llywelyn wollte nicht darüber spekulieren, warum die kleine Göttin Malefiz verärgerte. Sie wurde jedoch immer mit einem verächtlichen Niesen bedacht, dann nahm Malefiz manierlich Platz. Ihr aparter Schwanz beschrieb runde, elegante Figuren in der Luft. Dann, ganz beiläufig, hob sie die rechte Pfote, wischte sich scheinbar gleichgültig über die pelzige Wange. Doch Llywelyn ließ sich nicht mehr so einfach täuschen, denn im nächsten Augenblick versetzte Malefiz der wenig standfesten, kleinen Göttin einen heftigen Stüber, sodass die Figurine ins Trudeln kam, wie ein Kreisel rotierte und abzustürzen drohte. Robust genug hatte sie bereits öfter einen Absturz überstanden, ohne mehr als einige Kratzer in ihrer Lackierung zu erleiden. Reaktionsschnell fasste Llywelyn zu, fing die mutmaßliche Muttergottheit bzw. ihre lästige Kopie auf. Malefiz pflegte derweil vollkommen unbeteiligt ihre pechschwarze Schönheit, doch er glaubte, ein herausforderndes Funkeln in den Bernsteinaugen zu erhaschen. Llywelyn lächelte, studierte dann die kleine Göttin in seiner Hand. So sehr er Malefiz' augenscheinliche Abneigung teilte, konnte er doch nicht so unhöflich sein und ihre Zerstörung ungehindert zulassen. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass Malefiz noch einmal ihre geschickten Pfoten einsetzen würde, zumindest am heutigen Tag, sah er sich genötigt, endlich eine Lösung in Angriff zu nehmen. Folglich wandte er sich dem kleinen Schrank zu, in dem allerlei Zubehör lagerte, unter anderem auch Material zum Hochbinden von Ranken. Er teilte mit einer kleinen Gartenschere eine robuste Kordel ab, wickelte sie in einer festen Schlinge um den kaum vorhandenen Hals der kleinen Göttin und erhängte sie an einer Verstrebung des Regals. Zufrieden mit sich trat Llywelyn zurück und wartete auf Malefiz' Urteil. Sie näherte sich gelassen, schlenderte beinahe, mochte man glauben, ganz so, als sei die letzte Aktion von minderem Interesse, verpasste dann aber blitzschnell der kleinen Göttin erneut einen heftigen rechten Haken. Die Figurine trudelte und kreiselte, bevor sie langsam an Schwung verlor. Aber sie hing sicher. Und bekam die nächste Maulschelle. Llywelyn wandte sich schmunzelnd den letzten Regalen zu, lauschte amüsiert auf das Geräusch des Aufpralls, wenn die kleine Göttin erneut herumgewirbelt wurde. Malefiz hatte offenkundig Spaß an diesem neuen Spielzeug. Außerdem erfüllte die Figur nun einen Zweck, anstatt nur Platz zu beanspruchen und Staub anzuziehen. Nachdem Llywelyn gekehrt und seine Werkzeuge verstaut hatte, entrollte er den Gartenschlauch neben der Zisterne, um den Boden des Grünen Salons sehr vorsichtig mit Wasser abzuspülen. Der getanen Arbeit ledig sammelte er Malefiz ein, wechselte das Schuhwerk, legte die Schürze ab und trug Malefiz auf dem Arm wieder ins Haus. Die geräumige Wohnküche im Erdgeschoss war verlassen, was Llywelyn erleichterte. In der Backröhre knackte ein Auflauf mit krosser Kruste, eine Stoppuhr indizierte, dass in fünf Minuten das Abendessen eingenommen werden sollte. Llywelyn füllte ein Schälchen mit frischem Wasser, wusch die Hände über dem Spülbecken und lauschte auf entfernte Geräusche. Seine Eltern mussten sich wohl momentan im Wohn- und Arbeitszimmer aufhalten, urteilte er. Unaufgefordert verteilte er Geschirr auf dem Tisch, bestückte die Sitzbank mit Kissen und hob den Auflauf aus dem Ofen. Alles war bereits hergerichtet, als seine Eltern in parallelem Monolog energisch in die Wohnküche traten. *~*8*~* Llywelyn kauerte auf der breiten Fensterbank im Erker, gemütlich mit teuren Sitzpolstern und Kissen ausgestattet, deren bunte Farben gut zu den drei Rollos passten, die die Fensterfronten vor allzu neugierigen Blicken abschirmten. Er hatte keinen Blick für die Aussicht zur Straße übrig, denn es war bereits dunkel und der feine Nieselregen füllte die Luft mit einem dichten Vorhang, der sogar die Scheinwerfer der Autos dämpfte. Die Knie vor den Körper gezogen, darüber den gewaltigen, handgestrickten Pullover, Größe XXXL, bildete er ein kompaktes Paket. Geistesabwesend zupfte er an den Wollflusen, die sich im Laufe der Jahre gebildet hatten, während seine Augen auf den Fortschrittsbalken ruhten. Dieser Pullover begleitete ihn schon seit langem, war eigentlich seinem Großvater zugedacht gewesen, doch der mochte mit den wilden Rautenmustern nicht viel anfangen. Was dem Großvater lediglich eine Nummer zu groß war, umhüllte seinen Enkel damals mit der Eleganz eines Zirkuszeltes. Seit der feierlichen Übergabe dieses Geschenks hatte Llywelyn sich angewöhnt, seine Knie ebenfalls unter die schützende, wärmende Hülle des Wollpullovers zu bergen. Außerdem fühlte er sich in dieser gedrängten Haltung durchaus wohl, bot er doch wenig Angriffsfläche. Es entspannte ihn. Auch wenn es nun lächerlich schien, so übertrieben misstrauisch und vorsichtig zu sein: Llywelyn konnte nicht aus seiner Haut. Rational wusste er durchaus, dass sein Verhalten unangemessen war, doch sein Bauchgefühl votierte anders. Sein Bauch wollte ihm simpel weitere Enttäuschungen ersparen. Zufrieden registrierte er, wie ein Balken nach dem anderen blass wurde, Signal dafür, dass die gewünschten Dateien sicher im Speicher des luxuriösen Laptop eingetroffen waren. Sie würden allerdings nicht lange dort verweilen, sondern direkt auf den handlichen USB-Stick umziehen. Llywelyn gestattete sich die Unachtsamkeit nicht, auf dem Laptop irgendwelche verräterischen Spuren zu hinterlassen, auch wenn er sich durch verschiedene Passworte "eingemauert" hatte. Der Laptop nämlich, ein Geschenk, um das er nicht gebeten hatte, erfüllte ihn mit einem vagen Argwohn. Er konnte sich nicht überwinden, ihn als sein Eigen anzuerkennen, denn er hatte ein derartig kostbares Gerät nicht benötigt, obwohl es nun sehr viel bequemer war, zu Hause auf Beutezug zu gehen, ohne Kabel und umständliche Verarbeitung der Fundstücke. »Zu Hause.« Llywelyn hob den Blick aus seiner bunten Fensterresidenz in den großzügigen Raum, der ihm überlassen worden war. »Nein«, dachte er dumpf, »das ist bloß eine Bleibe. Nicht mehr.« Um sich abzulenken überprüfte er die Dateien, bevor er sie auf den tragbaren Speicher manövrierte, Spuren löschte. Darin hatte er eine gewisse Übung. Noch nicht so lange her hatte er die Texte, die ihn interessierten, online markieren, kopieren und in einem Text-Editor einfügen müssen. Das Herunterladen war untersagt, jedes mitgebrachte Gerät, besonders USB-Speicher, wurden jedes Mal rigoros formatiert. Die besuchten Adressen von einem Programm untersucht, ob sie zulässig waren im Sinne der Schulpolitik. Llywelyn wusste, dass er nicht auffiel, sich nicht unbeliebt durch Versuche machte, die Regeln zu umgehen. Es war auch nicht zu unangenehm, zu Hause über keinen Internetzugang zu verfügen. Auf einem alten Rechner, der asthmatisch ächzend seinen Dienst verrichtete, arbeiten zu müssen. Er war nicht anspruchsvoll, interessierte sich nicht für Pornos, Videos, Musik oder Computerspiele. Llywelyn wollte lesen. Die Klassiker, die Amateurwerke, Fiktion, Fachaufsätze, er war neugierig auf alles, was man ohne einen Cent ergattern konnte. Ein erster Blick entschied, ob der aufgestöberte Text seiner Stimmung entsprach, dann sackte er seine Beute wie ein Schatzjäger ein. Niemand konnte ihn zensieren, ausschließen, bevormunden! Für diese Freiheit liebte er das Internet. Und mochte manche Zäsur, durch Altersgrenzen verursacht, den einen oder anderen Text zerstückeln, so kümmerte es Llywelyn nicht sonderlich. Er las, was ihm gefiel. Sagte es ihm nicht zu, löschte er es eben sofort. Freiheit der Wahl. Freiheit der Gedanken. Ein Schauder ließ ihn die Schultern zusammenziehen. Nur allzu gut erinnerte er sich an sie, eine kleine, ältliche Frau in einem grässlichen Strickensemble, die Lesebrille an einer Kette um den Hals baumelnd, einen auffällig gefärbten Bubikopf, der ihr Alter nicht negieren konnte. Mit einem selbstgewissen, triumphierenden Lächeln und gespitzten Lippen. Er war ein zehnjähriger Junge, der das Leben nicht verstand und Trost suchte, in einer fremdem Umgebung, ganz allein und auf sich gestellt. Dem sie mit ihrer schrillen, überheblichen Stimme den Bücherstapel abnahm, um jeden Titel laut vorzulesen, dann zwei Säulen aufbaute. Die eine Säule enthielt das, was ein zehnjähriger Junge lesen durfte, die andere Säule war verbotenes Gelände. "Das verstehst du noch nicht. Das ist nichts für dich, mein Junge." Ihre honigsüße, Gift träufelnde Stimme jagte ihm noch in der Erinnerung Ekelgefühle ein. Und die Trostlosigkeit der Ohnmacht. Er hatte damals wie vor den Kopf geschlagen auf den blank gewienerten Tresen gestarrt, fassungslos, ungläubig. Dass sie ihm die Schätze nicht aushändigen würde. Dass sie darüber befand, was er lesen durfte. Dass sein eigenes Urteil mangelhaft war. Er hatte schließlich stumm das stark geschrumpfte Häufchen mitgenommen, gelesen und artig abgeliefert. Danach hatte er nie wieder die Gemeindebücherei betreten. Niemals wieder. Llywelyn hielt sich selbst zugute, dass er die Konsequenzen seiner Handlungen und Überzeugungen nicht scheute. Nach diesem ungerechten Urteil über seine Neugierde auf die gedruckte Welt hatte er für sich beschlossen, dass er niemanden mehr um Erlaubnis bitten würde, wenn er etwas lesen wollte. Niemand sollte ihn je wieder behindern, einschränken, ausschließen können. Deshalb galt es, sein Interesse zu verbergen, zu verschleiern, sich nicht angreifbar zu machen. Alle Bücher bekamen blickdichte Umschläge, wenn er sie mitnahm. Was er elektronisch ergattern konnte, war auf seinem USB-Stick versteckt. Durch das Verbot des Herunterladens wurden auch nur die aufgerufenen Seiten, nicht aber die Inhalte im Detail aufgelistet. In der sicheren Gewissheit, dass viele andere durch ihre Begeisterung, Verbote zu umgehen, genug Stoff für Kontrollaktionen boten, konnte er sich wie ein Phantom sicher bewegen. Unsichtbar werden. Es klopfte an seiner Zimmertür, ein schelmisch-freches Pochen. Hastig schob Llywelyn die Knie unter dem Wollpullover hervor, sperrte mit drei Fingern rasch den Bildschirm ab und erhob sich eilig. Seine Mutter trat bereits ein, wie immer ein Garant dafür, dass Privatsphäre nicht für Eltern galt. Warum Klopfen, wenn man nicht auf die Aufforderung, eintreten zu dürfen, wartete? "Liebling, bist du schon wieder fleißig?", gurrte sie, setzte sich ebenso unaufgefordert auf sein akkurat gemachtes Bett mit der Patchworkdecke. Llywelyn sparte sich eine Antwort. Sie würde sie ohnehin nur als Hintergrundgeräusch registrieren. "Weißt du, Liebling, ich habe nachgedacht. Dein Vater übrigens auch", ergänzte sie in einem Nachsatz, schwang die überlange Kette mit falschen Perlen um ihren schlanken Finger. "Wir wissen, dass du sehr gewissenhaft bist und für die neue Schule viel zu lernen hast. Es wäre aber sicher nett, meinst du nicht, wenn du mal ein paar deiner neuen Freunde einladen würdest, richtig? Zum Spielen und Abhängen!" DAS klang selbst in Llywelyns geduldigen Ohren anbiedernd. "Liebling, uns stört das nicht! Wirklich!" Sie erhob sich wieder, hinterließ Knitterfalten auf der Decke. "Du brauchst da keine Rücksicht auf uns zu nehmen! Denk einfach darüber nach, ja?" Sehr ernsthaft antwortete Llywelyn, der noch immer stand, "das werde ich tun." "Fein, das höre ich gerne! Dann lasse ich dich mal weiter schaffen, nicht wahr, Liebling?" Mit einer trillernden Stimme wie ein aufgedrehter Singvogel tänzelte sie hinaus, schloss die Tür nicht mal hinter sich. Llywelyn zählte innerlich bis Zehn, sehr langsam. Als sich niemand im Türrahmen zeigte, markierte, doch noch etwas vergessen zu haben, schloss er selbst seine Zimmertür, warf einen nachdenklichen Blick auf den USB-Stick, der recht harmlos im Laptop steckte. Eigentlich wollte er sich nun in Ruhe seine Ausbeute anschauen, herausfinden, ob sich das Beziehungskarussell der New Yorker Cops erneut drehte. Aber nun musste er sich zunächst mit anderen Dingen beschäftigen. Malefiz löste sich aus dem Regal, wo sie hinter einer Reihe von Taschenbüchern ein bequemes, nicht einsehbares Lager für sich beansprucht hatte. Llywelyn störte das nicht, denn es waren nicht seine Bücher, sondern eine Gabe seiner Eltern, Jugendbücher aus einer Serie über den Zweiten Weltkrieg. Er mochte sie nicht, mochte ihre Indoktrination nicht, ihre moralischen Belehrungen, ihre Schuldzuweisungen. Ein Paket, das man schultern sollte, um sich anzupassen. Eine Schranke im Kopf, die ein für allemal verhinderte, dass es jemals wieder "Anfänge" gab. Sie waren ein Beweis dafür, dass man kein Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit setzte. Dass es keine "Humanität" im Inneren eines Menschen gab. Man musste sie antrainieren, sie einpflanzen und zur Not mit Druck nachsetzen. Llywelyn wollte das nicht akzeptieren, sich die Hoffnung bewahren. Er kehrte in die Gegenwart zurück, als Malefiz sich auf seinen rechten Fuß setzte, auffordernd zu ihm aufsah. Lächelnd zwinkerte er dem verschmitzten Blinzeln in Bernsteinaugen zu. Wie gewohnt versetzte er dem alten Schaukelstuhl, der mit zwei Liegestuhlauflagen, Kissen und einer gewaltigen Decke ausgepolstert war, in Schwung. Malefiz erhob sich, wartete alert, bis sich die Sitzfläche wieder nach vorne neigte, sprang mit kurzem Anlauf hoch, krallte sich fest, bis das Schaukeln abebbte, rollte sich dann lässig zu einem schönen, schwarzen Fellball zusammen. Das erinnerte Llywelyn an ihre erste Begegnung. Schwerbeladen mit zwei Koffern, zwei Reisetaschen und seinem Rucksack hatte er vor dem großen Haus gestanden, höflich die beiden Fremden betrachtet, die ihn anstrahlten. Zu breit, zu engagiert. Viel nervöser, als er es selbst war. Seine Mutter hatte ihm dann unversehens einen kleinen Fellball in den Arm gedrückt. Ihm erklärt, der verschmuste, kleine Kater sei ein Geschenk für ihn. Llywelyn war vollkommen verblüfft gewesen, auch ein wenig hilflos, denn er hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt mit Tieren gehabt. Ohne Gitter oder Glasscheiben zwischen ihnen. Das kleine, pelzige Wesen hatte, verständlich, wie Llywelyn fand, die Krallen in seinen Pullunder gerammt und ein ärgerliches Knurren ausgestoßen. Gleichzeitig wurde ihm im zwitschernden Tonfall auferlegt, sich als neues Herrchen des niedlichen Katers, der SOOO verschmust sei, um dessen Pflege zu kümmern. So war Llywelyn auch in sein Zimmer gekommen, mit einem Pelzball auf dem Pullunder, der sich zu einer wütenden Kugel zusammengeballt hatte und nicht von der Situation erfreut war. Llywelyn hatte nicht die Absicht, irgendjemanden oder irgendetwas zu "halten". Er wollte niemanden besitzen, nicht mal ein Haustier, denn er selbst hatte etwas dagegen, zum Eigentum eines anderen gemacht zu werden und konnte sich deshalb auch nicht vorstellen, dass diese Situation irgendwem gefallen würde. Malefiz schien diese Ansicht zu teilen, denn sie nutzte die nächste Möglichkeit, ihre Karriere als schmuseweiche Beule zu beenden. Während er sich noch in seinem neuen Zimmer umsah, endlich der Aufsicht durch seine Eltern ledig, hatte sich Malefiz herabgelassen, um ihren artistischen Trick mit dem Schaukelstuhl vorzuführen. Ein Angebot der Verschwörung, auf ein friedliches Zusammenleben, in dem jeder seinen Neigungen nachgehen konnte, ohne den anderen zu inkommodieren. Llywelyn nutzte daraufhin mit Unbehagen den nagelneuen Laptop, um sich die nächste Tierarztpraxis herauszusuchen, alle Informationen zusammenzutragen, die man über die Pflege von Katzen wissen musste. Schnell hatte er erkannt, dass der "verschmuste, kleine Kater" eine zierliche, jedoch ausgewachsene Katzendame war. Mit einer eigenen Persönlichkeit, was wohl das Vermitteln durch eine Familie erschwerte. Für Llywelyn war Malefiz das einzige Argument, sich hier einzuleben. Ihre lässige Haltung, das verschwörerische Blinzeln, das tröstete ihn. Er würde sich einfach eine Lösung ausdenken, die für beide Seiten zufriedenstellend war! Leider ging das wohl nicht ohne persönliche Opfer, wie er schicksalsergeben feststellte. Er hatte sich den Regularien der anthroposophisch angehauchten Privatschule angepasst, bemühte sich um gute Leistungen, was ihm nicht sonderlich schwerfiel, da er gerne Neues lernte und bereits viel gelesen hatte. An seinen neuen Klassenkameraden hatte er kein Interesse. Sie waren eine gewachsene Gemeinschaft, sich ihres Sonderstatus durchaus bewusst und hielten ihn bestenfalls für einen armseligen Spinner. Llywelyn ignorierte sie im gleichen Maße wie sie ihn, obwohl er keine Ressentiments hegte. Er verspürte lediglich keine Notwendigkeit, sich mit ihnen zu befassen, ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Deshalb war es auch ausgeschlossen, dass er "Freunde" mit nach "Hause" brachte. Llywelyn wollte seine freie Zeit lieber nach eigenem Gusto verbringen, lesen oder alte Filme ansehen, wenn er nicht die Inliner unter den Füßen hatte. Unglückseliger Weise schienen seine Eltern dafür kein Verständnis aufzubringen. Man musste daher, so folgerte er und machte es sich wieder auf der Fensterbank gemütlich, zog die Knie vor den Leib und schlüpfte mit ihnen unter den weiten Wollpullover, ihre mutmaßlichen Befürchtungen, er isoliere sich selbst, zerstreuen. Also wäre es doch nur dienlich, wenn er seine Freizeit auf die Zeitspannen beschränkte, in denen er allein im Haus war. Und sonst seine Aufenthaltsdauer in der Privatschule verlängerte, nicht jedoch, um sich seinen Klassenkameraden zu widmen, sondern dort seine Hausaufgaben zu erledigen oder zu lesen. Niemand konnte schließlich wissen, ob er in der Schule allein oder mit anderen zusammen war! Entschlossen löste er sich aus dem kompakten Paket, nahm sich ein Klemmbrett zur Hand und wählte ein Blatt Papier, um seinen Wochenarbeitsplan umzustellen. Damit hatte er ebenfalls gleich zu Anfang Entsetzen bei seinen Eltern ausgelöst. Die hatten vermutet, dass ein Teenager in Essensresten, schmutzigen, auf den Boden verstreuten Kleidungsstücken und einer Posterhöhle hauste, unwillig auf häusliche Betätigungen reagierte und in einer pubertären Hormonhölle schmorte. Llywelyn war anders, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er begriff das Bild, dass sich seine Eltern von ihm als Jugendlichen machten, ganz und gar nicht. Wer wollte in Schmutz und Gestank leben? In Unordnung herumwühlen? Und wozu Poster, wenn man kaum die Tapete erkennen konnte, weil Möbel an den Wänden standen? Außerdem hatte er darauf bestanden, seinen Anteil an Hausarbeiten zu übernehmen, so, wie er das seit sechs Jahren gewohnt war. Schließlich hatte man sich darauf geeinigt, dass Llywelyn sein eigenes Zimmer bewirtschaftete, sich jede Woche einmal um den Grünen Salon kümmerte, die Leerungstermine der Mülltonnen überwachte, sich um den Glasmüll und um die Briefe sorgte. Er, der früher auch am Abend das Geschirr gespült hatte, sah sich mit einer ganzen Batterie an elektronischen Maschinen konfrontiert, die das Leben erleichtern sollten, aber im Regelfall nicht ohne menschlichen Eingriff funktionieren konnten. Eine Geschirrspülmaschine war so lange nützlich, wie man sie ein- und ausräumte, mit Pflegemitteln behandelte und ordentlich an die Wasserversorgung anschloss. Ein Trockner wollte ebenfalls ein- und ausgeräumt werden, Wäsche gefaltet oder gebügelt. Vorher sollte man sich auch Gedanken über die Waschtemperatur machen, Bunt- und Weißwäsche trennen, Flecken vorbehandeln. Llywelyn hatte von den Großeltern gelernt, wie man einen Haushalt schmiss, wie man die Abrechnungen von Gas, Strom und Wasser überprüfte, wie man ein Haushaltsbuch über die Ausgaben führte, wie man kochte und Reste verwertete. Deshalb fühlte er sich hier leicht unterfordert und war irritiert über die Gedankenlosigkeit seiner Eltern, die häusliche Arbeiten nicht mit dem nötigen Ernst absolvierten, dafür aber ein äußerst ärgerliches Faible dafür hatten, spontan in seine Lebensplanung einzugreifen, seine Freizeit einzuschränken, indem sie ihn zu Aktivitäten bewegen wollten, die ihm gar nicht behagten. Die Schule und ihre Anforderungen an ihn nach dem Wechsel boten in abnehmendem Maße einen gewissen Schutz gegen diese Einmischungen. Sorgfältig übertrug Llywelyn in seinen neuen Wochenplan seine Tätigkeiten, notierte Zeitdauer und Häufigkeit. Er seufzte leise. Für eine Weile würde das wohl genügen, dann müsste er sich etwas Anderes einfallen lassen. Malefiz maunzte leise, ein bisschen neckend. "Richtig", stellte Llywelyn fest, zwinkerte seiner Freundin zu, rief sich die nächsten Beutestücke aus einem Archiv für Amateurautoren auf. *~*8*~* "Verdammte Hacke!", brummte Arminius und schlang die Arme noch enger um den Leib. Das half allerdings wenig, auch wenn es die Angriffsfläche geringfügig reduzierte. Ihm war durchaus bewusst, dass es mehr als exzentrisch war, sich bei diesem Wetter VOR dem Haus aufzuhalten, auf der kleinen Gartenbank zu kauern, den Blick unverwandt auf die Pforte gerichtet. Andererseits war er vollkommen sicher, dass JEDER vernünftige Mensch bei näherer Betrachtung genauso gehandelt hätte. »Wahrscheinlich würde ich sogar mildernde Umstände bekommen!«, schnaubte er innerlich. Wenn es nicht mutmaßlich eine elende Sauerei wäre, das dämliche Schwonster abzumurksen! »Ich bräuchte ein Aufnahmegerät«, sinnierte er und wischte sich über die Haare. Sie waren etwas zu lang und von unzähligen Tropfen getränkt. Wenn man, davon war er überzeugt, nur eine halbe Stunde aufzeichnete, was diese unerträglich blöde Zimtzicke ohne Pause absonderte, MUSSTE man eigentlich für einen selbstlosen Mord sogar einen Orden verliehen bekommen. Er klimperte mit den Wimpern und schnaubte prustend eine nasse Strähne aus den Augen, von den lästigen Wasserperlen enerviert. Nebel dick wie Erbsensuppe, der nicht nur die Sicht auf höchstens fünf Meter begrenzte, sondern auch hartnäckig wie eine Mauer in den Straßen waberte. Jeden Laut verschluckte. Deshalb saß er auch draußen, denn im Haus war es nicht ohne EXTREME Maßnahmen auszuhalten. Und selbstverständlich befand er sich auch hier, weil er auf ein gewisses himmelblau lackiertes, gewaltiges Wikinger-Fortbewegungsmittel wartete, das einen Quasi-Schweden zu ihm bringen würde. Einen großgewachsenen, athletischen Hünen mit hellen, wasserklaren, blauen Augen und einer sandfarbenen Mähne, die ihn wie eine Korona umstrahlte. Oder einen Löwenzahn. Den Besitzer eines tiefen, sonor vibrierenden Lachens, eines blitzenden Lächelns und eines spitzbübischen Humors. »Beeil dich, ja?!«, flehte er stumm, wackelte mit den Beinen in einer hackenden Bewegung. Langsam sickerte die Feuchtigkeit durch und die Kälte verführte zu einer verkrümmten, ungesunden Fehlhaltung. Endlich deutete sich ein großer Schemen in der Nebelbank an. Sofort sprang Arminius auf die Beine, rannte zum großen Tor, riss es mit viel Schwung auf, wartete nicht ab, dass die nebulöse Gestalt sich materialisierte und den 'Mordstrümmer' aufbockte. Nein, er sprang federnd vom Boden und warf sich Gunnar förmlich an den Hals, schmiegte das kalte, nasse Gesicht in dessen warme, gastfreundliche Halsbeuge. "Hej", lachte es leise an seinem Ohr, während sich ein Arm um Arminius' Rücken wand. "Hast du mich vermisst, Ernie?" "Keine Spur!", murmelte Arminius und drückte einen kalten Kuss auf die warme Haut an Gunnars Hals, atmete tief durch. Meine Güte, war er verspannt! Die freie Hand strich durch seine nassen Haare. "Du bist ganz nass! Hast du etwa draußen auf mich gewartet?" Heftig löste sich Arminius von Gunnar, grub die Finger in dessen abgewetzte Regenjacke. "Ich hatte keine Wahl!" Er funkelte zu ihm hoch. "Ehrlich, Flausch, ich könnte sie auf der Stelle umbringen! Sie treibt mich in den Wahnsinn!" Gunnar lächelte amüsiert. "Willst du mir drinnen davon erzählen?", schlug er subtil eine Ortsveränderung vor. "Aber hallo!", knurrte Arminius grimmig, wandte sich halb ab, um einen Lenkergriff zu übernehmen. "Schieb dein Rad vor die Garage, ja? Wenn es nicht so nass wäre, hätte ich glatt Zement angerührt und die Spinatwachtel schon in einem Hafenbecken versenkt!" Gunnar zog die Stirn in dezente Falten, löste die Sicherheitsvorkehrungen für sein treues Gefährt aus und nahm seine Tasche. "Wäre das nicht Umweltverschmutzung?" "Sogar Tierquälerei", bestätigte Arminius düster. "Wenn es da noch andere Lebewesen gäbe. Nicht mal Bakterien haben so was verdient!" Schmunzelnd ließ Gunnar seinem Freund den Vortritt die kleine Eingangstreppe hinauf. Wohlerzogen entledigte er sich an der Garderobe seiner triefend nassen Jacke und der Schuhe. Arminius kam ihm schon wieder entgegen, apportierte Handtücher. "Beug dich mal runter!", kommandierte er, denn er wollte selbst die sandfarbene Mähne leicht frottieren und dann eintüten. Als er nun den eigenen Schopf eintopfte und lose Enden feststopfte, bemerkte er, wie Gunnar sich aufrichtete, lauschte. Eine Augenbraue lupfte. Es war tatsächlich verdächtig ruhig. Gunnar kräuselte den Nasenrücken, schnupperte. Die winzigen Linien auf seiner Stirn vertieften sich ein wenig. "Oh ja!", pflichtete ihm Arminius wütend bei. "Da ist nicht nur etwas faul im Staate Dänemark, es stinkt bis zum Himmel!" Er nahm Gunnar an der Hand, um ihn in die Küche zu dirigieren. Diese Geste verriet Gunnar, dass offenkundig Arminius' Eltern nicht in der Nähe waren, denn üblicherweise reagierte sein Freund dann gehemmter. Misstrauischer. Wachsamer. Besonders vorsichtig. Gunnar konnte es ihm nicht verdenken und seufzte innerlich, weil direkt vor ihm der anmutige Nacken durch den Handtuchturban freigelegt war und ihn lockte, eine zärtliche Kussspur auszulegen. "Was möchtest du trinken? Oder hättest du lieber eine Suppe zum Aufwärmen?" Arminius war ganz Gastgeber, doch die Rolle würde schnell vergessen sein, so, wie es in dessen Augen loderte. Er WOLLTE unbedingt die Knüppel, die ihm das Schicksal zwischen die Beine warf, thematisieren! Vorsichtig setzte Gunnar seine Tasche auf die Spüle, wischte die Tropfen ab. "Oh, hast du was mitgebracht?" Neben ihm lugte Arminius neugierig in die Tasche, die Wangen von der im Haus vorherrschenden Wärme leicht gerötet. Gunnar wischte sich die Rechte an der Hose ab, dann schlang er den Arm um dessen Taille, zog ihn eng an sich und küsste Arminius so lange, bis sie beide taumelten. "...ich habe dich furchtbar vermisst", wisperte er mit rauer Stimme. "...das merke ich", hörte er Arminius murmeln, ließ dessen Gesicht nicht einen Wimpernschlag aus den Augen. Er liebte diese schönen Augen, die so viel Wärme und Selbstironie ausstrahlten, diesen neckenden, oft spöttisch geschürzten Mund, das sanft gerundete Gesicht. Nun beschlugen Arminius' Augen mit Sorge, seine Hände strichen behutsam über Gunnars Wangen. "Geht es dir gut? Ist etwas nicht in Ordnung?" Der Quasi-Schwede seufzte leise. "Ich möchte mit dir zusammen sein." Er erkannte die Entschlossenheit in den geliebten Augen, der Kinnpartie, den zusammengepressten Lippen. Dann ließ er sich von Arminius umarmen, durch die wilde Mähne streicheln, lehnte sich an und stahl sich ungeniert die köstliche Wärme, die von ihm ausging. Schließlich stellte Arminius das Kraulen ein, fixierte Gunnars helle, wasserklare Augen ernst. "Ich mache uns etwas Warmes zu trinken, dann gehen wir nach oben, ja?" "Einverstanden." Gunnar blendete sein gewohnt freundliches Lächeln auf. Lange musste er sich ja nicht hinter dieser Maske verstecken. Arminius musterte ihn noch einen Augenblick länger, nickte dann bloß. "Also!", wandte er sich den Schränken zu, "möchtest du lieber eine Suppe? Oder was Süßes?" "Es sollte hierzu passen", antwortete Gunnar, lüftete das Geheimnis um seine Tasche, in der sich eine schmucklose Plastiktüte befand. "Wir waren heute einkaufen", erklärte er, als er die Süßigkeiten durcheinander schüttelte, damit sich Arminius neben ihm ein Bild von der Beute machen konnte. Es waren Artikel zu Halloween gewesen, die nicht pünktlich hatten verkauft werden können und deshalb stark reduziert angeboten wurden. "Uiiiii! Lecker!", stellte Arminius betont euphorisch fest. Unausgesprochen schwebte zwischen ihnen ein Tabu-Thema: Geld. Arminius war recht gut bestellt in seiner Familie, während Gunnars Mutter allein für den Unterhalt sorgen musste. Deshalb tappte Arminius um eventuelle finanzielle Aspekte auf Zehenspitzen herum wie ein Bombenentschärfer auf einem Minenfeld. "Nun, was meinst du?" Gunnar überließ Arminius gern die Führung in der Küche. "Hmm Hmmm!", brummte der konzentriert vor sich hin, stellte erst eine große Thermoskanne hin, arrangierte zwei Wärmebecher, bevor er einen Schrank öffnete und die vorhandene Batterie der Möglichkeiten studierte. "Zimtschokolade", verkündete er und setzte das erwählte Pulver in Dosenform auf den Arbeitsbereich ab. "Krokant? Oder Marzipan? In jedem Fall Zartbitter!" Er wandte sich Gunnar zu. "Kommst du da oben ran? Da gibt es eine Packung mit geriebenen Erdnüssen, die müssen oben drauf!" Artig fischte Gunnar, der Arminius um etwas mehr als Haupteslänge überragte, die gewünschte Zutat herunter. Auf ihn wirkte die konzentrierte Arbeit seines Freundes wie ein alchemischer Prozess, bei dem zweifellos flüssiges Gold herauskommen würde. Arminius plünderte unterdessen den Kühlschrank, rührte, mixte, füllte mit Milch auf, erhitzte Anteile in der Mikrowelle und jagte den Wasserkocher zu dampfendem Einsatz. Als er das Endergebnis seiner Anstrengungen in die vorgewärmte Thermoskanne einfüllte, bemerkte er, wie Gunnar neugierig die Reihen der Vorräte in dem geöffneten Schrank studierte. "Ha!", fauchte er vernichtend, "siehst du das Paket da unten? Wer kauft so einen Scheiß?! Rate mal!" Folgsam gab Gunnar mit betont gleichmütigem Gesichtsausdruck einen Tipp ab. "Das Schwonster?" "Exakt!" Arminius verdrehte ausdrucksstark die Augäpfel gen Himmel. "DAS muss ich dir einfach erzählen!" "Oben", soufflierte Gunnar sanft, der mehr Tuchfühlung und sehr viel weniger Schwonster präferierte. "Ja, genau!" Arminius apportierte das Geschirr. "Nichts wie hoch, bevor diese hohle Nuss noch aus ihrem Bau kommt!" Gemeinsam stiegen sie unter das Dach, und Gunnar schloss hinter ihnen Arminius' Zimmertür ab. Der aktivierte sofort seine Stereoanlage, Swingmusik, die alle anderen Hausbewohnenden vertrieb. Er hängte zusätzlich noch ein großes Handtuch an die Haken vor das Türblatt. Gunnar lächelte und entledigte sich seines Handtuchturbans. Er wollte sich nicht wie in einer Sauna mit dampfender Dachbegrünung fühlen. "Oh!", bemerkte Arminius, "he, warum hast du mir nicht gesagt, dass deine Jeans ganz nass geworden ist?!" Er stellte rasch das Geschirr auf dem kleinen Schreibtisch ab und wandte sich seinem Kleiderschrank zu, um Ersatz herauszukramen. Gunnar wuchs hinter ihm aus dem Teppich, drückte entschlossen die beiden Türflügel zu. "Ich brauche keine andere Hose", raunte er in Arminius' Schopf und genoss die Gänsehaut, die sich für einige Augenblicke zeigte. "Fein!" Arminius stampfte auf, stemmte die Hände in die Seiten, drehte sich zu ihm herum und fauchte fuchtig. "Dann kriech aber unter die Decke! Ich habe keine Lust, mir von dir irgendwann die Schnodderseuche einzufangen!" "Aye aye!" Gunnar tippte sich mit zwei Fingern salutierend an die Schläfe und verkrümelte sich sehr zufrieden in Arminius' Bett. Er stellte seine Tasche in Reichweite ab, fischte die Tüte heraus und verteilte auf der Bettdecke einige Beutestücke. Arminius schaffte inzwischen Platz für das Geschirr, hängte beide feuchten Handtücher auf, musterte Gunnar dann, der ihn mit halb gesenkten Lidern erwartungsvoll studierte. Er ballte die Fäuste und zog eine besonders grimmige Miene. Wenn er JETZT direkt zu Gunnar unter die Decke kroch, würde der in kürzester Zeit dafür sorgen, dass ihm alles andere egal wurde. Auch seine durchaus berechtigte Wut auf die blöde Sumpfralle, die irgendein besonders humorvoller Gott in seine Familie gepflanzt hatte. Gunnar fasste den Bund seines Sweatshirts überkreuz und rollte sich den Stoff über den Kopf. »Ich seh gar nich hin!«, kämpfte Arminius' Trotz mit der Realität, denn er verschlang Gunnar tatsächlich mit den Augen. Ruckartig drehte er sich um und holte tief Luft. "Diese aufgetakelte Mistbiene tyrannisiert das ganze Haus!", schleuderte er hervor und steigerte sich eilig in gerechten Zorn. "Seit ganzen ZWEI Tagen hat sie einen Freund!" Er grunzte abschätzig. "Kaum zu glauben, dass sich ein rasierter Pavian gefunden hat, der sich mit ihr abgibt! Der Typ muss entweder tot oder kryogenisch behandelt worden sein!" Mit einem raschen Schulterblick registrierte er, dass Gunnar lächelte. Hastig fuhr er fort, marschierte in seinem Zimmer auf und ab, während die Swing-Band an Tempo zulegte. "Also, die dusselige Kuh labert von abends bis morgens über diesen dämlichen Trottel, ohne Punkt und Komma. Wahrscheinlich ist das so ne Type, dem die Hose in den Knien hängt, der bloß in Wortfragmenten grunzen kann!" Abrupt blieb Arminius stehen, stellte das Gestikulieren ein. "So, nun stell dir folgendes Szenario vor!" Er hob Achtung gebietend den Zeigefinger in die Höhe. Gunnar markierte folgsam gesteigerte Aufmerksamkeit, auch wenn es in seinen Mundwinkeln verräterisch zuckte. "Wir!", Arminius ignorierte die schelmische Miene seines Freundes tapfer, "sitzen also beim Frühstück. Ne kurze Pause zwischen der Dauerbeschallung dieser eingebildeten Mistbiene, wenn sie beim Wiederkäuen mal die Klappe zumachen muss. Da blökt sie doch glatt raus, sie müsse am Montag unbedingt zum Frauenarzt, denn sie wolle ja nicht schwanger werden! Beim Sex seien Männer ja immer so zerstreut!" Gunnar biss sich fest auf eine Wangeninnenseite, um ein Pokerface zu bewahren. "Du kannst dir sicher vorstellen, was dann passiert ist!" Arminius knurrte aufgebracht. "Mein Vater ist fast unter den Tisch gekrochen! Er hat die Zeitung in zwei Teile zerrissen und sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen!" Da Gunnar Arminius' Vater bisher nur als den schweigsamen Flüchtling vor häuslichen Komplikationen kennengelernt hatte, verspürte er einen Anflug von Mitleid. "Total gleichgültig hat die dämliche Schnepfe weiter darüber schwadroniert, dass sie die Pille braucht, ganz dringend, weil sonst Godzilla, ihr Amateur-Besamer, bestimmt genervt wäre, wenn er seine Banane in Latex eintüten müsste!" Arminius funkelte auf Gunnar hinab, sonderte Schwefel ab wie ein Vulkan vor der Explosion. "Dann hat sie auch noch dieses widerliche Gebräu vor uns hingestellt. Heißer Tee! Angeblich mit Schoko-Vanille-Geschmack!" Man konnte deutlich sehen, dass diese Beleidigung der feinen Geschmacksnerven das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. "Also wirklich! Schwarztee, den man mit einigen Estern zugequalstert hat, damit es nach Schoko-Vanille riecht?! Wenn ich nur solchen Abfall wie diese aufgeblasene Gehirnamputierte in mich reinstopfen würde, dann würde ich auf so einen Schwindel ja hereinfallen! Aber NICHT MIT MIR!" Nun sprühte Arminius Speicheltröpfchen und elektrische Ladungen gleichermaßen, selbst seine Haarspitzen schienen statisch aufgeladen. "Ich habe ihr also gesagt, ich werde ganz sicher nicht diesen verkommenen Modder, der angeblich Tee mit Schoko-Vanille-Geschmack sein soll, zur Feier ihrer in Kürze bevorstehenden Defloration runterwürgen! Allein schon der Gedanke, sie könne sich fortpflanzen und die grassierende Dummheit auf diesem Planeten potenzieren, treibe mir den Notschweiß auf die Stirn!" Nun war es um Gunnar geschehen: er rollte sich zusammen und platzte lauthals lachend heraus. Bis ihm das Zwerchfell schmerzte, er Tränen aus seinen Augenwinkeln tupfen musste. "Dasisnichkomisch! Überhaupnich!", wiederholte Arminius empört krähend. "Macht dir das etwa keine Angst?! Noch mehr idiotische Klone wie das Schwonster?! Kombiniert mit einem debilen Einzeller?!" Keuchend lehnte sich Gunnar in die großen Kissen, die die Wand polsterten. "Verzeihung, Ernie. Was hat deine Mutter denn gesagt?" "Das ist die Krönung gewesen!" Arminius dampfte noch immer metaphorisch aus den Ohren. "ICH bekomme Hausarrest, weil ich die Wahrheit sage! Und sie geht mit der Planschkuh am Montag zum Frauenarzt! Als ob die doofe Nuss sich merken könnte, jeden Tag ne Pille einzuschmeißen!" "Ich bin sicher", Gunnar lächelte und knisterte scheinbar abgelenkt mit der Verpackung einer Süßigkeit, "dass deine Mutter höchstpersönlich die Einnahme überwachen wird." "Ist mir ja wirklich ein Trost!" Grummelte Arminius, ließ sich auf seinem Bürodrehstuhl nieder und baumelte ärgerlich mit den Beinen. "Ich verstehe nicht, warum sie ihr nicht nen Scheitel zieht! Wieso darf die dämliche Tröte das ganze Haus mit Räucherkerzen verpesten?! Als wäre das ne GAAAANZ dolle Sache, wenn sie sich nen Stecher angelandet hat, die man zeremoniell begehen muss?!" Er trommelte mit den besockten Fersen auf den Teppich. "Sie kriegt nich mal nen Anschiss, wenn sie die Glühbirnen mit Aromaöl einschmiert, weil sie keine Duftlampe hatte!!" "Stimmt", stellte Gunnar mitfühlend fest, "das erscheint mir auch nicht besonders gerecht." Arminius fixierte den Teppichboden vor seinen Füßen, rollte leicht vor und zurück, eine böse Miene aufgesetzt, die sich langsam in Bitterkeit wandelte. "Weißt du, was mich wirklich nervt?", erkundigte er sich leise, rhetorisch, hob dann den Kopf, um Gunnar anzusehen. Der lächelte nicht mehr, denn die Stimmung schien deutlich getrübt. Mit einem gequälten Grinsen fuhr sich Arminius durch die Haare, denen ein Schnitt gute Dienste geleistet hätte. "Die ganze Zeit, ununterbrochen, tönt sie herum, dass SIE einen Freund hat und reibt mir unter die Nase, ich solle mich auf eine lebenslange Liebesbeziehung mit meiner Rechten einstellen, weil ich ja ein KLEINES Problemchen habe." Er senkte das Kinn auf die gekreuzten Arme, die auf der niedrigen Rückenlehne auflagen. "Am Liebsten möchte ich ihr ins Gesicht schreien, dass ich mit dir zusammen bin. Dass ihr verblödeter, offenkundig gehirntoter Affenarsch von einem Begatter nicht anstinken kann gegen den attraktivsten Jungen der ganzen Schule." Zögerlich wagte er einen Blick zu Gunnar hinüber. "Ich war wirklich kurz davor, mit dir anzugeben, um ihr so richtig einen reinzuwürgen." Arminius seufzte laut, zog die Schultern hoch und ließ sie tief sacken. "Aber ich habe es nicht gemacht. Wäre unvernünftig." Er seufzte noch einmal, lächelte bitter. "Die quatscht das doch sofort weiter. Mein Vater kriegt graue Haare und verkriecht sich vollkommen. Und meine Mutter redet sich bestimmt ein, dass ich ein Trauma erlitten habe und deshalb verwirrt bin, schleppt mich womöglich noch zu einem Psychiater!" Geschlagen stieg er schwerfällig wie ein alter Mann von seinem Bürodrehstuhl herunter, ballte kurz die Fäuste. "Wir hätten keinen ruhigen Moment mehr." Gunnar schlug die Decken zurück, wischte dabei die Süßigkeiten beiseite und war in zwei langen Schritten bei Arminius. Der taumelte in der heftigen Umarmung, die ihn auf die Zehenspitzen zwang, widersetzte sich allerdings nicht. "Du kannst es sagen, wenn du magst", versicherte Gunnar gepresst, hielt ihn fest an sich gedrückt. Arminius rieb die Wange an der warmen, leicht gebräunten Haut, sog den vertrauten Geruch ein. "Nein." Er legte den Kopf in den Nacken, erkannte Kummer und Zorn in Gunnars Augen. "Flausch, es wäre jetzt unvernünftig. Was aber nicht heißt, dass ich mich schäme. Auf gar keinen Fall!", versicherte er mit vehementem Nachdruck. Um sich wieder Trost suchend anzuschmiegen. "Die blöde Kuh nervt mich bloß gerade unglaublich." "Ich werde sie rausschmeißen", raunte Gunnar kehlig, löste die Rechte und tippte Arminius sanft an die Schläfe, "HIER werde ich sie löschen. Du wirst keinen Gedanken mehr an sie verschwenden!" Arminius blinzelte verwirrt, doch Gunnar ließ sich nicht beirren, schälte ihn effizient aus seinen Kleidern. "Ich wette mit dir, Ernie", hauchte er in Arminius' Ohr, der sich an ihn schmiegte, "dass du nur noch an mich denken wirst." Wobei größere geistige Anstrengungen gar nicht zu erwarten standen, denn er wollte Arminius verführen. *~*8*~* Arminius hörte nichts mehr außer den eigenen Atemzügen. Und Gunnars Stimme. Nicht den rasenden Jazz der Anlage, nicht das Trommeln der Regentropfen eines heftigen Schauers auf der Fensterscheibe. Vor seinen gesenkten Lidern explodierten Sonnen unaufhörlich, im Augenwinkel lauerte schon das Schwarze Loch. Er wand sich, zuckte zurück, um gleich wieder vorzuschnellen, wollte die heiße Haut wieder spüren, in dem süßen, quälenden Liebesschmerz vergehen. Sich festklammern, auf jedem Quadratmillimeter Haut seine Fingerabdrücke hinterlassen. Unter dem kraftvollen Griff aufstöhnen, sich Duell um Duell liefern mit der glühenden Hitze, die jeden Kuss zu einem Austausch von Magma verwandelte. Die Glieder verweben, sich verhaken, ineinander schlingen wie DNS-Ketten. Das Fieber ergriff von ihm Besitz und löschte jeden Gedanken aus. *~*8*~* Gunnar beseitigte die Spuren ihres Liebesaktes umsichtig, wischte sich sorgsam die Hände ab, bevor er die Tüte mit den Süßigkeiten heranfischte. Ein Kissen in den Rücken gestopft hievte er den immer noch keuchenden Arminius auf seine gekreuzten Beine, schälte für ihn ein Schokoladenbonbon aus der Verpackung und bugsierte es sanft zwischen die noch speichelfeuchten Lippen. Arminius stöhnte mit geschlossenem Mund, lehnte sich vertraut gegen Gunnars breite Schulter, die Lider gesenkt. Einen Arm um dessen Taille geschlungen beugte sich Gunnar vor, um die Spezialmischung in einen Warmhaltebecher zu gießen. Er richtete sich wieder auf, blies aufsteigenden Dampf weg und hielt Arminius zärtlich den Becher an die Lippen. Der stöhnte wieder, dieses Mal voller Genuss. "Besser?", raunte Gunnar zärtlich, hauchte einen Kuss auf Arminius' feuchte Schläfe. "Mhmmmmm", schnurrte Arminius, streichelte ein wenig unkoordiniert über Gunnars Arm. Gunnar pulte eine weitere Leckerei aus der Umhüllung, stopfte sie sich in den Mund, kaute kurz, bevor er Arminius unter das Kinn fasste, dessen Mund an seinen eigenen dirigierte und ihn wie eine Vogelmutter fütterte. Ohne das Heraufwürgen selbstredend. "...Ferkelchen", kommentierte Arminius, nachdem er die Gabe heruntergeschluckt hatte, lächelte aber friedlich. "Dein Zaubertrank schmeckt wirklich sehr lecker", komplimentierte Gunnar sanft, bewunderte das gelöste Strahlen auf Arminius' Gesicht. Manchmal schien es ihm, als könne er sich in diesen Augenblicken auflösen. In eine Wolke purer Liebe. Als könnte sein Körper nicht groß genug sein für dieses überwältigende Gefühl. Hastig holte er tief Luft. Wenn zu viel Druck entstand, MUSSTE er sich einfach bewegen. Doch im Moment war es nicht tunlich, erneut über Arminius herzufallen. Schnell fummelte er eine weitere Verpackung auf, wollte sich ablenken. "Flausch?" Arminius' Stimme klang seidenweich, wie eine federleichte Daune. Ertappt errötete Gunnar, blinzelte verlegen in die geliebten Augen. "Du willst mich doch nicht mästen, oder?" "...pardon?" "Wenn ich das alles esse, muss ich mich STUNDENLANG bewegen. Ziemlich intensiv sogar." "...oh." "Und ich darf nicht aus dem Haus gehen!" "...ja...das habe ich nicht bedacht..." "Flausch, ich erwarte, dass du die Verantwortung dafür übernimmst!" "..." "He, nicht doch! Das kitzelt!" Prustend verschwanden sie beide wieder unter der Decke. *~*8*~* Kapitel 4 - Der Prinz Er summte die Melodie aus dem Internetradio mit, einer Station, die nur Rock-Klassiker rund um den Globus sendete, während er flott seine Hausaufgaben erledigte. Das dezente Summen veranlasste ihn, den Kopf zu heben, denn es bedeutete, dass Kundschaft durch die Lichtschranke getreten war. »Von wegen Kunden!«, seufzte er und richtete sich auf. "Was hat die Katze da ins Haus geschleppt", begrüßte er die Eintretenden nachlässig. Jermaine grunzte etwas, stampfte dann zielgerichtet weiter in die Erotiksektion für Erwachsene. Unbeteiligt drückte Isolder den Knopf, der die mannshohe Schranke öffnete. Sie war Bestandteil jeder Familien-Videothek und sorgte für ein sauberes Image der Ladenkette. Er setzte sich wieder hin und vertiefte sich in seine Hausaufgaben, tadelte dann ohne Aufzusehen. "Hardy, hör auf, dich zu kratzen." "Scheiße, s juckt aba!" Ein ausgiebiges Schabgeräusch folgte. "Komm her", kommandierte er, legte seinen Tintenroller beiseite. "Bringen wir das eben in Ordnung." "Scheiße, nee! Is doch keine Peep-Show!", protestierte Hardy beharrlich, wollte zwischen den Regalen abtauchen. "Ich wollte ja eigentlich das Separee vorschlagen", Isolder bleckte die Zähne, "aber vielleicht möchtest du lieber Mom darum bitten?" Hardy fluchte unflätig, warf dann einen bitterbösen Blick auf seinen älteren Halbbruder. Wie immer vollkommen ohne Wirkung. Der legte ihm dirigierend eine Hand auf den Rücken und schob ihn zur Erotiksektion, die er öffnete. "Also bitte!", grinste er und summte die Melodie von 'the stripper', eine Anspielung, die dem Jüngeren gar nicht gefiel. Trotzdem lupfte er zwei Garnituren übergroße T-Shirts und entblößte helle, fleckige Haut. Ein Nikotinpflaster klebte auf den unteren Rippen der rechten Seite, hatte sich durch das ständige Scheuern und Kratzen allerdings schon deutlich verformt. "Das ist ausgelutscht", kommentierte der Ältere und entfernte das Pflaster mit einem beherzten Ruck. Dieses Mal ertönte nur ein Zischen, aber kein Fluchen. "Gib mir bitte das nächste." Er drehte den Halbbruder herum, löste die Schutzfläche ab und befestigte das Nikotinpflaster auf dem Rücken, außer Reichweite. Wenn Hardy sich jetzt nicht an einer Säule reiben würde, bestünde keine Gefahr, dass die leidige Kratzerei erneut losging. "Fertig", erklärte er und verpasste Hardy einen Klaps auf den Allerwertesten. "Und jetzt raus hier." "Ich geh mit Jem!", quäkte der wütend. "Wenn Jem jetzt fertig ist, kannst du auch mit ihm gehen. Sonst gehst du jetzt gleich, verstanden?" Isolder musste nicht laut werden oder fluchen. Mit beinahe 1,85m Körpergröße, einem schwarzen Dan in Karate und einem Ruf wie Donnerhall wagte niemand, sich seinen vernünftigen Vorschlägen zu widersetzen. Außerdem verspürte Hardy nicht die geringste Lust, den Abend ohne ein bisschen Zocken an der Playstation zu verbringen. Die befand sich aber im Zimmer seines älteren Halbbruders und ohne dessen Erlaubnis war an einen Zutritt nicht zu denken. "Ich les ihm die Titel vor!", verhandelte er eifrig. "Guck mal, "Wenn Santa zweimal klingelt"! Oder das hier, "Knecht Ruprecht zieht blank"! Teil zwei heißt "Ruprecht und sein Knüppel"!" "Ja, saisonale Höhepunkte." Unerbittlich wurde er zur Schranke gedrängt. "Und das hier, "Liebling, lass die Kugeln klingeln"!" Hardy feixte seinen drei Freunden zu, die begehrlich durch die Schranke spähten. "WasnfürKugeln?", nuschelte einer. "FürnBaum?" Die Hose auf Halbmast, ebenso wie die Baseballkappe und die geistigen Fähigkeiten. "Quatsch!" Hardy wandte sich herum. "Jem, lies ma den Text vor." "Tut er nicht", verkündete sein älterer Halbbruder kategorisch. "Warum schaut ihr euch nicht da hinten um? Power Rangers oder Wrestling?" "Is doch was für Kids!", winkte Hardy verächtlich ab. "Sol, sag schon, was für Kugeln?" "Herrje!" Der zuckte schicksalsergeben, aber innerlich amüsiert mit den Schultern, umrundete den Tresen. "Dann seht ihr aber zu, dass ihr hier verschwindet, verstanden?" Allgemeines Murren, aber die Neugierde überwog. "Kommt näher!" Er winkte sie mit gekrümmten Finger heran, beugte sich verschwörerisch vor. Obwohl sie wie eine Bande kleinwüchsiger Halsabschneider wirkten, konnte man noch Spuren der Kinder erkennen, die sich in ihnen verbargen. "Also!", dozierte er sanft, "Liebeskugeln sind Kugeln, die mit einander verbunden sind. Frauen führen sie hier unten ein." "...und dann?" Hardy schien auf eine Fortsetzung zu warten, eine Pointe zu vermissen. "Machen sie's sich selbst damit?" "Möglich", Isolder nickte ernsthaft, "sie bewegen sich damit ganz normal, und es bereitet ihnen Lust. Ganz ohne Beteiligung." "Voll krass...", murmelte einer aus dem Quartett, "die rennen damit rum?" "Pervers!", stellte Hardy fest, "weiß doch jeder, dass ne Tussi nur mit nem Schwanz drin kommen kann." Der zehnjährige Experte hatte sein Urteil verkündet. "Leider falsch." Isolder schmunzelte, tätschelte väterlich den ausgewachsenen Hahnenkamm krauser Locken. "Männer gehören einer aussterbenden Art an. Bald werden wir nur noch zum Vergnügen gehalten, selbst die Fortpflanzung kann ohne uns vonstatten gehen. Frauen haben uns schlichtweg nicht nötig." Hardy beäugte ihn misstrauisch. "Das is doch gelogen, oder? Du verkackeierst mich!", warf er ihm vor. "Warum sollte ich?" Isolder grinste herausfordernd. "Hol dir doch von deinem Biologielehrer eine zweite Meinung ein." Skeptisch, aber verunsichert trat das Quartett den Rückzug an, um in der Sektion für Action-Filme das Inventar zu begutachten. Isolder warf einen Blick auf die kleinen Überwachungsmonitore, nahm dann seinen Stift wieder auf, um sich den Hausaufgaben zu widmen. Nun baute sich vor ihm sein älterer Halbbruder auf. "Hrmpf!", grunzte Jermaine, die Kurzfassung von "ich möchte bitte diese beiden DVDs ausleihen." Ein schelmischer Blick genügte, denn der etwas kürzer geratene Ältere mit der vierschrötig-bulligen Figur rührte keinen weiteren, aufgepumpten Muskel. "Hast du auch das Geld, Jem?", erkundigte Isolder sich sanft. "GehörzurFamilie", knödelte Jermaine ärgerlich, musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen, die einen einzigen buschigen Balken über den tiefliegenden Augen bildeten. "Nun", Isolder klemmte sich den Stift hinter das rechte Ohr, "wenn du zur Familie gehören würdest", näselte er in einer überraschend guten 'Paten'-Kopie, "dann wüsstest du, dass die Familie keine Rabatte gibt. Für niemanden. Capito?" Damit verschränkte er die Arme vor der Brust und kopierte die trotzig-drohende Haltung seines älteren Halbbruders vor dem Tresen. Bei ihm zogen solcherart nonverbale Drohgesten allerdings nicht. Jem würde sich hüten, einen Finger an ihn zu legen. Auch wenn sein Bruder sich zweifelsohne nicht durch besondere Intelligenz auszeichnete, wusste er doch mit dem Instinkt eines Rudelmitglieds, mit wem man sich nicht anlegte. Früher, in einem anderen Leben, war ihm sein älterer Halbbruder, der sich dem damaligen Lebensgefährten ihrer Mutter erstaunlich in dessen miesen Gewohnheiten angepasst hatte, einmal zu oft quer gekommen. Hatte ihn einmal zu oft verprügelt. Er hatte sich gewehrt. Als Folge davon trug sein Halbbruder eine lange, ausgeblichene Narbe auf dem linken Unterarm. Den hatte er ihm gebrochen, als eine lebenslange Ermahnung daran, dass Schmerzen nicht nur dem Opfer vorbehalten waren. Ein gebrochener Arm war in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Kombiniert mit seinen Karate-Fertigkeiten, seiner überragenden Körpergröße und dem Status als einziger Verdiener in der Familie wurde daraus die unangefochtene Vormachtposition. "...Ausbeuter!", grollte Jermaine schließlich verdrießlich. »Ui!«, spendete Isolder stumm Applaus. Für die beschränkten Verhältnisse seines Bruders war das eine wirklich elaborierte Replik. "Oh nein!", antwortete er laut, zwinkerte spitzbübisch, "ich gehöre zur Klasse der Leibeigenen, ein armer Lohnknecht! Ein Opfer der real existierenden Marktwirtschaft! Geknechtet durch die wirtschaftlichen Umstände!" Jem glotzte, erinnerte mit dem halb geöffneten Mund und den aufgeblasenen Backen an einen Karpfen. Ohne vorstehende Augen selbstredend. Man konnte seinem Ponem ablesen, dass er eine Frechheit in dieser Antwort vermutete, aber nicht in der Lage war, sie zu benennen oder richtig einzuordnen. "Grmpf!" Mit einem wütenden Grunzen ließ Jem die DVDs im Stich, stopfte die Hände in die Taschen seiner aufgeblähten Bomberjacke und stampfte zum Ausgang. "Nimm doch die Kleinen mit!", rief Isolder ihm nach, doch sein Bruder unterzog sich nicht mal der Mühe, die Hände zu einer obszönen Geste aus den Taschen zu nehmen. "Auch gut." Unbeeindruckt nahm er die beiden DVDs, riegelte automatisch die Schubladen und das Kassensystem ab, um sie wieder in die Erotiksektion zurückzubringen. Bedauerlich, dass Jem lieber die Hand als den Verstand trainierte. Oder wenigstens Anstalten unternahm, etwas anderes mit seinen Händen zu unternehmen, das auch legal bezahlt wurde. Danach sah es aber derzeit nicht aus. Jermaine hatte nach seinem mageren Hauptschulabschluss zwei abgebrochene Ausbildungen vorzuweisen, befand sich in der endlosen Schleife der Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme für schwierig vermittelbare, junge Erwachsene. Es fiel ihm zunehmend schwer zu akzeptieren, dass sein älterer Halbbruder keine Perspektive hatte, keine Vorstellungen zu seiner Zukunft, keine Ziele oder den nötigen Ehrgeiz, seine persönliche Situation zu verändern. Konnte man denn wirklich mit 22 Jahren ein Leben basierend auf staatlichen Transferleistungen als Erfüllung betrachten?! "Scheiße, noch n bescheuerter Goth!", hörte er seinen jüngeren Halbbruder rufen. Anlass genug, eilig zum Tresen zurückzukehren. *~*8*~* Llywelyn war sich der Aufmerksamkeit durchaus bewusst, als er aus den Inlinern in die schwarzen Clogs schlüpfte, seinen Rucksack wieder umhängte und die Filiale betrat. Er war zum ersten Mal in einem solchen Geschäft, blickte sich um, orientierte sich. Vermutlich musste man, vage glaubte er sich an entsprechende Informationen zu erinnern, zunächst eine Mitgliedschaft vereinbaren, bevor man als Kunde tätig werden konnte. In diesem Augenblick näherte sich ihm jedoch eine dürre, wenig vertrauenerweckende Gestalt in einem glänzenden, bodenlangen Ledermantel, die ihm den Weg versperrte, unaufgefordert nach seinem Gehrock fasste. "Wahnsinn, endkrass!", brabbelte der Unbekannte, während seine bleichen, spinnenartig wirkenden Finger über den samtigen Stoff glitten. Unwillkürlich wich Llywelyn zurück und fauchte. "Noli me tangere! Vade retro!" "Häh?" Der Fremde wischte sich fettige, schwarz gefärbte Haarsträhnen hinter ein erschreckend mit Metallgehängen durchlöchertes Ohr. "Zehn Schritt vom Leib", half eine amüsierte, warme Stimme hilfreich aus. "Aber Ferdi, hat dir deine Mama nicht beigebracht, dass man nicht unaufgefordert anderen an die Wäsche geht?" Llywelyn funkelte abwechselnd die beiden Jugendlichen an, die Hände zu Fäusten geballt. Dekorativen Fäusten, da sie in den schwarzen Spitzenhandschuhen steckten. War es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen? *~*8*~* "Ich heiße Black!", korrigierte Ferdi ihn hoheitsvoll, wandte sich dann wieder dem exotischen Neuankömmling zu. Isolder umrundete gemächlich den Tresen, nahm dahinter Aufstellung und verfolgte mit großem Interesse die weitere Entwicklung. Vor allem aber studierte er den Fremden eingehend. Ohne Frage musste der von der anderen Seite der Demarkationslinie stammen. Die Videothek bildete einen Anlaufpunkt in der neutralen Zone, doch jeder konnte GENAU einschätzen, wer zu den gutbürgerlichen Bewohnenden des alten Viertels gehörte und wer in der "Proletenburg" dem Prekariat zuzurechnen war. Eins war jedoch sofort klar: so einem Wesen war er noch nie zuvor begegnet. Diese Gewissheit erfüllte ihn mit prickelnder, aufgeregter Erwartung. *~*8*~* "Mann, wo haste das her? Echt Wahnsinn!", wiederholte sich die menschliche Zaunlatte, unternahm erneut Anstalten, ihm zu nahe zu kommen. Llywelyn ließ in einer schwungvollen Bewegung den Rucksack von seinem Rücken herunter, spürte das vertraute Gewicht der dort temporär verstauten Inliner. Wenn man sie im Halbkreis schwang, sollte damit wirklich JEDE Annäherung unterbunden werden können! "NochnGrufti", stellte jemand zu seiner Linken fest, erschien mit Begleitung aus einer Regalreihe. "Dachte, die wärn ausgestorben." Ein unappetitlich wirkender Rotzlöffel polkte ungeniert in seinen gelichteten Zahnreihen. Llyewlyn war keine Kinder gewöhnt, die schon so ausgelaugt und heimtückisch wie Erwachsene wirkten, mit nikotingelb gefärbten Fingern und schlechten Zähnen. Sie stießen ihn ab, widerten ihn an. "Bruder, ich freue mich, einen Gesinnungsgenossen gefunden zu haben!", verkündete unterdessen der Mantelträger begeistert, rückte schon wieder zu nahe an ihn heran. "Teilt euch jetz ne Gruft, wie?", näselte ein anderes der abstoßenden Bälger provozierend. "Goth sind scheiße!" "Halt's Maul!" 'Black' wirbelte auf hoch geschnürten Stiefeln herum und schwang unversehens eine schwere Kette. Bevor er jedoch ein Handgemenge auslösen konnte, adressierte Llywelyn ihn höflich. "Was ist ein Goth?" *~*8*~* Er hatte Mühe, ein breites Grinsen zu verkneifen, denn absolut sehenswert war die Runde ungläubiger Mienen. Nein, dieser Fremde war alles andere als gewöhnlich! Wie ein Zeitreisender aus einem anderen Jahrhundert, in der Stimme eine distanzierte, kühle Förmlichkeit, seine Haltung aufrecht und gespannt wie eine Feder. »Ich würde gern dein Gesicht sehen!«, fuhr es ihm durch den Kopf. Gänzlich unerwartet verspürte er das drängende Bedürfnis, UNBEDINGT die Bekanntschaft dieses Jugendlichen zu machen. Als ob es schlichtweg unerträglich wäre, ihn einfach ziehen zu lassen. Seine Augen saugten sich an jedem Detail fest, brannten es in die Netzhaut, damit er nichts vergessen konnte. An den Füßen steckten schwarze Clogs über schwarzen Kniestrümpfen, die blickdicht gewebt ein dezentes Streifenmuster zierte. Die Kniehose, mit Zierschleifen unter dem Knie geschlossen, war aus kräftigem Baumwollstoff, ebenfalls mit zierlichen Streifen durchzogen und schimmerte in beschlagenem Schwarz. Darüber befand sich ein figurbetonter Gehrock mit Taille und langen Schößen, aufgesetzten Taschen und einem Stehkragen. In den Samtstoff hatte man ein verschlungenes Muster aus Ranken gepresst. Oberhalb wickelte sich ein gewaltiger, mit silbernen Fäden durchwirkter Schal um den Hals, verdeckte die Knopfleiste des Gehrocks und reichte von der Brust bis über die Nasenspitze. Die Ausmaße dieses Accessoires mussten wirklich gewaltig sein! Zur Maskierung gehörten weiterhin ein schwarzes Kopftuch unter einem flachen Dreispitz und eine Sonnenbrille mit violett getönten, runden Gläsern. Gesicht oder Haarfarbe konnte man unter dieser Verkleidung nicht einmal erahnen. Eine solche Aufmachung hätte wohl in einem Kostümfilm Furore gemacht, denn sie war in der Tat atemberaubend. Sie hier zu sehen, an einem Jugendlichen, der beinahe seine eigene Körpergröße erreichte, in einem profanen Video- und Computerspieleverleih, wirkte grotesk. Oder abenteuerlich. Wie der Anfang einer unglaublichen, phantastischen Geschichte. *~*8*~* Llywelyn musterte sie abwartend. Zumindest hatte seine Frage dafür gesorgt, dass es nicht zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, in die er nicht verwickelt zu werden wünschte. "...das hier is n bescheuerter Goth", antwortete ihm schließlich ein Vertreter dieser abstoßenden Kinder-Greise, bleckte kariöse Zahnruinen. "Halt's Maul!", fauchte 'Black' unfreundlich. "Goth nennen WIR uns nicht. Wenn schon, dann Grufti", dozierte er herausfordernd. "Goth is doch bloß kommerzielle Kacke!" Llywelyn studierte die unangenehme Erscheinung vor sich. Sie war ihm keine ausreichende Antwort. "Nun, was zeichnet einen Goth aus?", versuchte er geduldig einen neuen Anlauf zu verstehen, um was genau es sich hier drehte. War er ein Goth? Dazu musste man doch erst mal erfahren, was exakt ein Goth war. Der sich selbst als 'Black' titulierende Kauz, mutmaßlich der dominierenden Bekleidungsfarbe geschuldet, baute sich vor ihm auf. "Goth is Kommerz-Kacke. Die verfluchte Industrie benutzt unsere Ideale, um Kohle zu machen! N Grufti, das is ne Lebenseinstellung! Leute mit Tiefgang, die sich Gedanken machen! Nich so mutierte Affenärsche, die wie Barbie und Ken n buntes Plastikleben führn wolln! Verstehste, wir SPÜREN, was die Welt im Innersten zusammenhält, frei nachm alten Willi!" "Tsk tsk", mischte sich der Angestellte hinter dem Tresen ein, spöttischer Tonfall zu flinker Zunge. "Und ich dachte immer, das wäre eine traurige Versammlung menschlicher Beileidskarten, die nihilistisch um sich selbst kreisten und ihr ach so grausames Schicksal beklagen. Wenn sie nicht gerade auf Friedhöfen den nächsten Kick suchen!" 'Black' fegte herum, hielt dann aber inne. Zögerte. Llywelyn war nicht überrascht, dass der Angestellte von der Standard-Aufforderung, "das Maul zu halten", verschont blieb. Etwas lag in der Luft, dicht und schwer, knisterte aufgeladen zwischen der herausfordernd-lässigen Körperhaltung des Jugendlichen hinter dem Tresen und des dürren, angespannten Gruftis davor. "Es is ne Lebenseinstellung, klar? Und n Musikstil!" Nun inspizierte 'Black' ihn erneut, aber längst nicht mehr so begeistert. Vielmehr feindselig. »Weil ich ein leichteres Ziel abgebe«, konstatierte Llywelyn. "Am Ende bist du so n blöder Visual Kei-Homo, wie? Hast die Fetzen teuer gekauft, was? So n reicher Pisser, der glaubt, Authentizität gibs für Schotter!" Ohne eine Vorstellung davon zu haben, was ein 'Visual Kei-Homo' war, schien es Llywelyn nicht besonders ratsam, sich diesen unbekannten Begriff erklären zu lassen. Überhaupt bereitete es ihm Mühe, die schnoddrig hervorgestoßenen Silben zu dechiffrieren, da er eine andere Diktion gewöhnt war. Er fühlte sich wie ein Marsianer auf der Erde, grundsätzlich befremdet von den Gebräuchen und ermüdet durch die ständigen, lästigen Missverständnisse. Alles, was ihm im Sinn gestanden hatte, war die Möglichkeit, sich unkompliziert für eine kurze Dauer Filme ausleihen zu können. Nun war er mit einheimischen Experten fremder Kulturgüter in eine überflüssige Unterhaltung verwickelt. "Wie interessant, dass ausgerechnet du von Authentizität sprichst", bemerkte der Angestellte süffisant. "Warst du nicht letztes Jahr noch ein Punk? Und davor ein HipHopper?" 'Blacks' Aufmerksamkeit wandte sich widerwillig an den gesprächigeren Gegner. "Orientierungsphasen!", returnierte er giftig. "Ah, und nun siehst du schwarz? Verstehe", schmunzelte sein Gegner in bösartigem Amüsement. "Das erinnert mich übrigens an Rock'n'Roller." Damit begann er, mit einer tragenden, schönen Stimme zu singen. "I see a red door and I want it painted black No colors anymore I want them to turn black I see the girls walk by dressed in their summer clothes I have to turn my head until my darkness goes I wanna see it painted, painted black Black as night, black as coal I wanna see the sun blotted out from the sky I wanna see it painted, painted, painted, painted black Yeah!" 'Black' wirkte auf Llywelyn, als hätte er liebend gern den Tresen überwunden und seine Kette als Garotte eingesetzt. Aber er fürchtete sich offenkundig vor dem anderen Jugendlichen, dessen dunkelblaue Augen funkelten. Er mochte lächeln, aber das täuschte nicht darüber hinweg, dass er keine Gefangenen machen würde. "Gib mir die hier!", knurrte 'Black' mit gefletschten Zähnen. "Mir stinkt's hier zu sehr nach Scheiße." "Ich bin sicher, die Luft wird gleich besser, wenn du uns verlassen hast, Ferdi", pflichtete ihm sein Gegenüber samtpfotig bei. "Mein Name is 'Black'!", detonierte der selbst ernannte Grufti grölend. "Tatsächlich?" Der Tonfall blieb liebenswürdig, zuvorkommend, ja, sogar heiter. "Du liebe Güte! Dann haben wir hier aber ein kleines Problemchen!" "Was für n Problem?!" 'Black' bog die Finger um den Tresen, bis die Knöchel weiß hervortraten. "Tja", schnurrte der Angestellte vorgeblich bedauernd, "die Karte hier ist auf Ferdinand Gressow ausgestellt. Und du heißt ja 'Black', oder nicht?" "Scheiße, du kannst mich mal!", feuerte 'Black' Münzen auf den Tresen. "Du weißt verdammt genau, wie ich heiße, Sol!" "Und du passt auf, was du hier sagst", zischte der mit Sol Adressierte leise, aber akzentuiert zurück, "verstanden?" In gezwungener Ruhe fand der Austausch Geld gegen gefüllte DVD-Hüllen statt, dann drehte sich 'Black' um, wollte zum Ausgang stürmen. Noch während er sich drehte, mit mörderischem Blick, warnte ihn, ganz liebenswürdig, sein Gegner. "Ach, pass auf deine Ellenbogen auf, Ferdi. Man bleibt so leicht hängen..." Llywelyn wusste, dass diese Ermahnung den Grufti um das Vergnügen brachte, ihn heftig anrempeln zu können. Dafür hatte er zu große Angst vor dem Jugendlichen, der Sol genannt wurde. »Ein Käfig voller Narren. Aggressiver Narren«, resümierte Llywelyn ermüdet. Er sollte kehrtmachen, einfach umdrehen, die Inliner überstreifen und laufen. Weg von hier. Sehr weit weg. "Und er is doch n bescheuerter Goth", stellte einer der Rotzlöffel gelassen fest. "Das verdammte Plastikzeug hatter vom Flohmarkt!" Dann richteten sich fünf Augenpaare wieder auf Llywelyn. Der marschierte zum Tresen. "Guten Tag. Ich möchte gern die Mitgliedschaft für diesen Verleih erwerben." *~*8*~* Er lächelte fasziniert in das verborgene Gesicht, konnte durch die Gläser der Sonnenbrille und ihren Rahmen jedoch nicht mal Augenfarbe oder Augenbrauen erkennen, lediglich eine sehr helle, milchweiße Gesichtsfarbe und einen geraden Nasenrücken. "Dann begrüße ich dich mit Vergnügen", schnurrte Isolder freundlich, zog aus einer Schublade einen Vordruck, zückte einen der schmierenden Kugelschreiber, die mit dem Logo der Videotheken-Gruppe warben. "Bist du bitte so nett, mir diesen Vordruck hier auszufüllen?" Seine Augen wichen nicht von dem maskierten Gesicht. "Frag mich, wenn dir etwas unklar ist, ja?" "Vielen Dank." Die Antwort war höflich, aber kühl. Nicht abweisend, jedoch... desinteressiert. »Hmmmm!«, konstatierte er herausgefordert. Normalerweise reagierten die Menschen auf ihn, doch für dieses ungewöhnliche Wesen schien er nicht mehr zu sein als ein Objekt. "Bist n Homo, oder?" Hardy und seine Spießgesellen rückten an, bauten sich rund um den leicht Vorgebeugten auf, der unbeeindruckt mit sorgfältig gesetzten Druckbuchstaben das Formular verzierte. "Hardy, mach dich auf den Heimweg!", knurrte Isolder mit drohenden Untertönen. Sein jüngerer Halbbruder warf ihm einen provozierenden Blick zu, warf den Kopf in den Nacken. "Das is hier n freies Land!" "Korrektur." Isolder setzte die geballten Fäuste auf den Knöcheln auf, funkelte die Bande Herumtreiber an. "Wir leben nach der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die erlaubt mir, als Erfüllungsgehilfe meines Arbeitgebers das Hausrecht auszuüben." Natürlich begriffen sie nicht eine Silbe. "Mit anderen Worten", aus dem Stand katapultierte er sich mit müheloser Leichtigkeit über die gesamte Breite des Tresens, landete federnd auf seinen Turnschuhsohlen, "wenn du nicht zackig bei Mom aufkreuzt, kannst du dich für einen Monat auf Lektüre in Buchform freuen. Verstanden?" Er hob die Stimme nur leicht an, aber die Drohung war seinem Halbbruder nun verständlich genug. Bücher übten auf seine beiden Halbbrüder Schrecken aus, die sich nur mit extensivem Fernseh- und Konsolenspielkonsum heilen ließen. Doch ER war der Herr über Konsole und Fernseher. "Scheiße, ich hab noch was zu erledign!", protestierte Hardy, ein lächerlicher Vorwand. "Deine Hausaufgaben, da bin ich sicher", wisperte Isolder liebenswürdig. "Dann mach dich auf den Weg." Unentschlossen, doch geschlagen zögerten sie noch einen langen Moment, um ihr Gesicht zu wahren, dann trottete die Truppe hinaus. Isolder umrundete gemächlich den Tresen, positionierte sich wieder dahinter. Es war ein undankbarer Job, aber irgendjemand musste ihn ja machen. Familienmanager sein. *~*8*~* Llywelyn hatte sorgsam das gesamte Formular studiert und ausgefüllt. Nun, hoch aufgerichtet, schob er es samt dem Kugelschreiber zurück in die neutrale Zone auf dem Tresen. Der Angestellte, der die Rotznasenbande verscheucht hatte, überflog die Eintragungen. Lächelte. "Wie spricht sich dein Vornamen aus?", erkundigte er sich, sah Llywelyn unverwandt an. Der unterdrückte den Impuls, nach der Relevanz zu fragen, nannte seinen Namen desinteressiert. "Schöner Klang, sehr melodisch", stellte sein Gegenüber fest. "Ich heiße Isolder Wagner." So konnte man es auch auf dem angeklemmten Namensschild auf dem Kittelhemd lesen, das offenkundig als Firmenuniform fungierte. Llywelyn nickte knapp, der Höflichkeit geschuldet. "Woher kommt dein Vorname?" Dieser Isolder gab nicht auf, wollte unbedingt eine Konversation betreiben. "Aus einem Buch über seltene Vornamen", antwortete Llywelyn aufrichtig. Für einen Augenblick schwieg Isolder, die dunkelblauen Augen leicht zusammengekniffen. Auf einer gewissen Ebene WAR sich Llywelyn durchaus bewusst, dass seine ehrliche Antwort als arrogant-überheblich verstanden werden konnte, dass ihm möglicherweise Konsequenzen drohten. Aber das kümmerte ihn nicht. Wenn man ihm die Mitgliedschaft verweigerte, nun gut, dann sollte es eben nicht sein. So eine große Bedeutung hatte es nicht. Sein Gegenüber grinste plötzlich, bleckte eine Reihe kräftiger Zähne. "Wirklich? Tja, mein Name stammt aus einem Science Fiction-Roman. Mein Namenspatron ist ein Prinz, der unter Schmugglern und Piraten lebt." Llywelyn studierte den 'Prinzen' eingehend, leicht aus dem Konzept gebracht. War der nicht wütend auf ihn? Isolder musste ungefähr 1,85m messen, schätzte Llywelyn, ihn also minimal überragen. Die ebenholzfarbenen, dicken und sehr glatten Strähnen waren am Hinterkopf zusammengefasst, boten einen ungehinderten Blick auf lange, schmale Koteletten. Eine glatte Stirn über getuschten Augenbrauen, mandelförmig geschnittene Augen über hohen Wangenknochen, eine lange, schmale Nase, darunter ein lockender Mund mit weichen Lippen. Das Kinn war ein wenig spitz geraten und wurde von einem exakt rasierten Bartschatten bekleidet, der in einer dünnen Linie zu den Koteletten entlang der Kieferpartie verlief. Für einen Anziehungspunkt sorgte ein Augenbrauenpiercing auf der linken Seite. Llywelyn konzentrierte sich, befand die Narbe, die die Braue teilte, als zu groß für dieses überflüssige Modeaccessoire. Obwohl der Hemdkittel jede Körperform vertuschte, vermutete Llywelyn, dass der 'Prinz' sehr sportlich war und über imponierende Muskelpakete verfügen musste. Die Körperbeherrschung, die beim Satz über den Tresen offenbart worden war, konnte nicht allein auf Übung gründen. Während er seine Betrachtung abschloss, bemerkte er gleichmütig, dass Isolder sich des eingehenden Studiums durchaus bewusst war. Und darüber amüsiert lächelte. Dann drehte er das Formular herum, dirigierte es wieder in die neutrale Zone. "Die Erziehungsberechtigten müssen noch abzeichnen", tippte Isolder auf eine freie Stelle. "Dann kannst du uns das Formular abgeben. Wir machen deinen Ausweis gleich fertig, und los geht's." Llywelyn lauschte konzentriert der warmen, freundlichen Stimme. "Wir haben von Zehn bis Zehn an sechs Tagen geöffnet. Mein Boss ist von Zehn bis Sechs da, dann löse ich ihn ab. Wenn du es nicht schaffst: wir haben einen großen Briefkasten am Eingang." Auf seine Geste hin wandte sich Llywelyn höflich herum, studierte den großen Kasten neben der Tür. "Also, dann", der Prinz reichte ihm den Vordruck. "Vielen Dank", antwortete Llywelyn höflich, faltete das Blatt exakt in der Mitte und verstaute es in einer Kartonmappe in seinem Rucksack. "Ich mag deinen Stil." Isolder ließ die Rechte in der Luft von oben nach unten wandern, als präsentiere er voller Stolz Llywelyns Erscheinungsbild. "...danke." Vorsichtig wich der vom Tresen zurück. Machte sich dieser Isolder über ihn lustig? Für welches Publikum? "Komm doch vorbei, wenn ich hier bin, ja?" Isolder lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf den Tresen, stützte das Kinn in den Händen auf. "Ich berate dich gern bei der Filmauswahl." "Das ist sehr aufmerksam", stellte Llywelyn steif fest. Eine gute Floskel, um nicht direkt Ablehnung zu formulieren. Er WOLLTE sich nicht damit befassen, welche Absichten diese merkwürdigen Leute hier verfolgten! "Auf Wiedersehen", grüßte er höflich und strebte dem Ausgang zu. "Das hoffe ich!", rief ihm Isolder nach. "Möglichst bald, ja?" Rasch nahm Llywelyn die Inliner ab, schlüpfte in sie, rastete die Schnellverschlüsse ein, sammelte seine Clogs auf und stürzte sich in den Großstadtdschungel. Er verabscheute sein neues Leben! *~*8*~* "Un der is n Homo!", beharrte Hardy, um sich nicht auf seine Hausaufgaben konzentrieren zu müssen. "Mach weiter!" Isolder räumte im Wohnzimmer auf, kontrollierte die Anzahl der Mentholzigaretten. "Schatz, noch eine, ja?" Seine Mutter schwenkte ihr Glas mit Gin Tonic. "Mom." Isolder ging neben ihrem abgenutzten Sessel in die Hocke, blickte sie zärtlich an. "Für heute sind es genug gewesen. Sonst tut dir morgen wieder alles weh." Behutsam strich er mit einer Hand über ihre Linke, die verkrümmt wie ein verkrüppelter Ast auf ihrem Schoß lag. "Weißt du, was wir tun werden? Wir lackieren dir die Nägel, einverstanden?" Wenn er sie ablenkte, würde sie nicht nur das Rauchen vergessen, sondern auch den Alkohol. Der Gin Tonic war zwar stark verdünnt, aber in ihrem Zustand sollte sie grundsätzlich Prozentiges meiden. "Homo!", wiederholte Hardy hartnäckig, beäugte Isolder und duckte sich dann eilig. Sie wussten beide, wer hier am längeren Hebel saß. Nachdem Isolder eine kleine Flasche günstigen Nagellacks aus dem Badezimmer geholt hatte, sank er vor seiner Mutter auf die Knie. Nagel für Nagel wurde sorgsam bestrichen. Dann holte er zu ihrer Begeisterung winzige Klebebildchen, die er mit einer Pinzette auf der frischen Farbe befestigte. Er lächelte liebevoll zu ihr hoch, doch seine Gedanken wanderten zurück zu dem verwirrend fremdartigen Wesen, dessen Namen wie eine Melodie über die Zunge tanzte. Definitiv musste er mehr über Llywelyn van Stratten erfahren! *~*8*~* Llywelyn näherte sich der Videothek mit gemischten Gefühlen. Eigentlich war ihm das Vergnügen bereits am Vorabend verleidet worden, als er höflich um das schriftliche Einverständnis zur Mitgliedschaft gebeten hatte. Er hatte es erhalten, und nicht nur das. Sein Vater hatte mit Grandezza den Jahresbeitrag hingeblättert plus einen "kleinen Bonus", damit er sich was Feines ausleihe. Sie könnten ja auch mal etwas gemeinsam anschauen, nicht wahr? Llywelyn, der sein bescheidenes Taschengeld bisher nur auf die Anschaffung von EDV-Artikeln oder Büchern verwendet hatte, fühlte sich bedrängt. Und genötigt. Ganz allein, still und bescheiden, hatte er sich etwas ansehen wollen. Nun wurde ihm dieses Vergnügen verleidet. Wäre er wirklich gezwungen, einen "Familienabend" zu absolvieren? Glücklicherweise erhielten seine Eltern recht oft Einladungen oder waren irgendwo engagiert, sodass er noch eine Gnadenfrist erwarten konnte. »Wäre bloß keine Unterschrift notwendig!« Er hielt auf der Schwelle inne, schnaubte durch den Stoff des Umschlagtuchs. Einen Rückzieher konnte er in diesem Stadium der Ereignisse nicht mehr schlüssig begründen, musste wohl die Mitgliedschaft erwerben. Auch wenn er am Liebsten kehrtgemacht hätte und die Idee verworfen hätte, sich etwas auf dem Laptop anschauen zu wollen. Pflichtbewusst und schicksalsergeben wechselte er von Inlinern zu Clogs, nahm den Rucksack in die Linke und betrat die Videothek. Dieses Mal stürzte ihm niemand entgegen, um unaufgefordert seine Bekleidung zu befingern, ihn zum Spektakel zu erklären. "Ah, Llywelyn, hallo!" Hinter dem Tresen lächelte ihm der Prinz zu. Innerlich stählte Llywelyn sein Rückgrat. "Guten Tag", grüßte er distanziert, entnahm der Mappe aus seinem Rucksack das gefaltete und abgezeichnete Formular, legte es auf den Tresen. Isolder studierte es, ohne es aufzunehmen. Llywelyn fing einen verwirrenden Blick auf, dann zuckten Isolders Mundwinkel spitzbübisch. "Entschuldige, aber so kannst du nicht Mitglied werden." *~*8*~* Kapitel 5 - Verzauberung Isolder konnte es kaum glauben. Hätte man gestern wirklich noch vermuten können, dass Llywelyn ein Modenarr war, der sich in die Friedhofsromantik verrannt hatte, so stellte sein heutiges Auftreten sämtliche Theorien wieder in Frage. Wie am Vortag verschwanden die Haare unter einem Kopftuch, das im Nacken geknotet worden war. Darüber saß ein Cowboyhut mit gerollter Krempe, jedoch keiner dieser Karnevalsutensilien mit Glitter, hohem Kranz und langen Zugbändern, nein, diese Ausgabe hier wirkte wie etwas, das sich australische Goldwäscher und Krokodilbändiger aufsetzen würden. Erneut war das Gesicht bis über den Nasenrücken mit einem enormen Tuch verhüllt, darunter jedoch trug Llywelyn einen Poncho. Außer in Spaghettiwestern hatte Isolder dieses Kleidungsstück noch nie in "freier Wildbahn" an einem Mann gesehen. Unter dem Poncho befand sich, den Ärmeln nach zu urteilen, eine abgewetzte Lederjacke mit Fransen. Die Beine steckten in abgeschnittenen Jeans, die in Höhe der Waden endeten. Die Kniestrümpfe hatten die gleiche Farbe wie das Tuch um den Hals. "...aha", antwortete ihm Llywelyn nun, die Augen wie am Vortag hinter einer Sonnenbrille versteckt. Isolder gewann plötzlich den Eindruck, dass Llywelyn sich umdrehen und ihn stehen lassen würde. Dass es ihm nichts mehr bedeutete, hier etwas ausleihen zu können. Rasch nahm er das Formular vom Tresen und feixte besonders breit, um die seltsame Nervosität zu überspielen, die ihn ergriffen hatte. "Wir haben hier ein Vermummungsverbot." Llywelyn reagierte nicht. "Wenn du kein Bankräuber oder Zorro bist, dann möchte ich dein Gesicht sehen", wurde Isolder deutlich. Llywelyn war ohne Zweifel sehr merkwürdig. Wie würde dieser Exot auf seine direkte Aufforderung reagieren? Sein Herz raste, er spürte, wie sich Feuchtigkeit in seinen Handflächen bildete. Llywelyn kannte seinen Ruf nicht, KONNTE nicht beeindruckt sein. Für ihn war er ein Fremder, ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ein Umstand, der in Isolders Augen sehr verlockend war. Gespannt wartete er ab, wie sich Llywelyn entscheiden würde. *~*8*~* Llywelyn war versucht, den einfachen Weg zu wählen. Wenn er jetzt ginge, konnte er mit gutem Recht erklären, man habe ihm die Mitgliedschaft verweigert. Andererseits würde das zweifellos elterliches Engagement auf den Plan rufen. Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch. Nein, ER hatte den Fehler begangen, sich zu offenbaren. Nun musste er auch die Konsequenzen ertragen. Langsam hob er die behandschuhten Hände an, nahm die Sonnenbrille ab, klappte nacheinander ihre Bügel ein und verstaute sie in einem Etui, das er seinem Rucksack anvertraute. Dann arrangierte er das große Umschlagtuch so, dass es nur noch seinen Hals einhüllte. Und wartete geduldig, dass man ihm einen Ausweis überreichte. *~*8*~* Isolder starrte. Er konnte nicht anders. Es war, als hätte ihm jemand einen akuten Einlauf mit flüssigem Stickstoff verpasst. Seine Fingerspitzen zitterten, in seinen Zehen war jedes Gefühl erfroren. Vage registrierte er, dass ihm seine Gesichtszüge entgleist sein mussten, seine Kinnlade zwischen den Kniekehlen residierte. Verflucht noch mal, war Llywelyn schön! Nicht nur diese milchweiße Haut, die ovale Gesichtsform, ein dezent aufgeworfener Mund mit kirschroten Lippen, nein, diese Attribute waren lediglich Akzente. Unter goldenen Augenbrauen blickten ihn ein Paar silbergrauer Augen konzentriert an. Sie waren perfekt, ohne Einschlüsse, Schatten oder Ähnliches. Wie Quecksilber. Für einen langen Augenblick bewegte er sich außerhalb der Realität. So ein Gesicht gehörte nicht auf die Straße, nicht in diesen Laden, sondern in ein Museum, wo man göttliche Statuen und Porträts ausstellte. Llywelyn war auf eine Art und Weise schön, die in den Bann schlug. Sein unbewegtes Gesicht verriet keinen Gedanken, die silbergrauen Augen blinzelten nicht. Isolder kam erst wieder zu sich, als das Telefon lärmend in seine Versunkenheit eindrang. *~*8*~* Llywelyn war es durchaus gewohnt, angestarrt zu werden. Zumindest, seitdem er hier lebte. Es lag vermutlich an den Haaren, zumindest hatte ihm sein Großvater dies nahegelegt. Blondinen waren ein aussterbender Zweig der Evolution. Merkwürdig nur, er war recht sicher, die Haare unter dem Kopftuch warm verborgen zu haben? Unterdessen telefonierte Isolder, tippte gleichzeitig auf der Tastatur, versprach eine Reservierung und schweißte synchron einen Ausweis in Visitenkartengröße ein. Llywelyn seinerseits entnahm den abgezählten Betrag aus seinem Portemonnaie, in der sicheren Erwartung, er habe den Aufnahmeritus unbeschadet überstanden. "Darf ich dir zeigen, wo alles steht? Welches Genre magst du denn gerne?" Der Prinz strahlte ihn wieder an, hatte sich offenkundig von dem Starrkrampf wieder erholt. "Danke schön", entgegnete Llywelyn distanziert. "Ich möchte mich selbst umsehen." Wie sollte man auch in aller Ruhe etwas entdecken, wenn man sich ständig beobachtet fühlte? *~*8*~* Isolder unterdrückte einen gequälten Seufzer. DAS war direkt ein Schlag auf die Neun! Trotzdem musste er geschäftig-freundlich antworten. "Natürlich, bitte sieh dich um. Ruf nach mir, wenn du Fragen hast, ja?" Llywelyn nickte bloß, bereits mit seinem Ausweis auf dem Rückzug. »Mist!«, dachte Isolder, der sich streng abgewöhnt hatte, unflätige Kraftausdrücke zu benutzen. Nicht mal in Gedanken. »Du hast es vergeigt. Vermurkst. Versaut. Verpatzt. Vermasselt. Verdorben. Verbockt...« Mental trat er auf die Bremse, ballte die Fäuste, schüttelte die Schultern aus und atmete tief durch. »Reiß dich mal zusammen, Mensch!«, nahm er sich selbst an die Kandare. »Gut, er ist ein bisschen maulfaul, aber das sollte uns doch nicht hindern, richtig?! Benutz deinen Grips!« Zunächst schnappte Isolder sich allerdings einen Notizzettel vom Klotz und angelte den Kugelschreiber heran. Üblicherweise hatte er überhaupt keine Schwierigkeiten, Gespräche zu führen, sich ganz normal zu unterhalten. Aber dieses ungewöhnliche Wesen mit einem Gesicht, das so überirdisch schön war, DAS konnte selbst ihn, den Meister der flinken Zunge, aus dem Gleichgewicht bringen. Deshalb musste er zu einer Geheimwaffe greifen: er notierte sich einige Stichworte auf dem Zettel, um ein Gespräch zu forcieren. Man konnte schließlich auf die gute Erziehung bauen, die es Llywelyn versagte, ihn unhöflich einfach zu ignorieren. »Und sieh bloß zu, dass du ihm keine Fragen stellst, die mit einer Silbe beantwortet werden können!«, instruierte er sich selbst. Irgendwie musste es ihm gelingen, eine Verbindung zu diesem Exoten aufzubauen! *~*8*~* Llywelyn schlenderte durch die Gänge, ließ den Blick über aufgestellte Hüllen gleiten, blieb dann stehen. Eigentlich hatte er seine Pläne ja schon verworfen, tief vergraben, um nicht wankelmütig in Versuchung geführt werden zu können. Hatte sich selbst eingeredet, dass es nicht notwendig war, eigentlich sogar überflüssig, sich diese Filme anzusehen. Das Leben ging schließlich auch ohne weiter, nicht wahr? Nun zögerte er. Er KONNTE sie haben. Mitnehmen und ansehen. Und WENN er die Chance bekäme, allein und ungestört diesem Luxus zu frönen, DANN sollte er sich die Filme aussuchen, die ihn am meisten interessierten! Er wusste ja nicht, wie lange sich diese Möglichkeit bieten würde! Llywelyn folgte den überkopf montierten Beschilderungen der Regale, strich bei den Klassikern und "Filmperlen" entlang. Die Auswahl war bescheiden, die Lücken nicht zu übersehen. Geduldig las er die Titel auf den Rücken der Kunststoffhüllen, verschaffte sich einen Überblick, bevor er dreimal zugriff. Konzentriert studierte er die spärlichen Informationen auf dem Einband, zuerst "The adventures of Robin Hood", dann "The Sea Hawk" und zuletzt "Captain Blood". Besonders der letzte Titel interessierte ihn, weil er bei seinen Streifzügen auf den gleichnamigen Roman von Rafael Sabatini gestoßen war. Die englischsprachige Fassung konnte man kostenlos im Projekt Gutenberg lesen. Außerdem verblüffte ihn die Tatsache, dass in gleich zwei Filmen die Hauptdarsteller sich als Feinde gegenüberstanden. Wer würde wohl im Vergleich besser abschneiden? Gerade, als er seine "Perlen" ordentlich bündelte, um sich dem Tresen zu nähern, hielt ihn ein schlampig gekleideter älterer Mann auf. Ein säuerlicher Geruch von zu wenig Hygiene und abgestandenem Rauch schlug ihm entgegen, sodass Llywelyn unwillkürlich zurückwich. "Sollteste mal die echte Version anguckn!", hielt ihm der ungepflegte Senior vor. "Nen richtig geilen Rammler! Der Kerl", ein schmutziger Fingernagel tippte auf das Konterfei des Hauptdarstellers, Errol Flynn, "der hatte zwar ornlich Tinte aufm Füller, aber n Pornobalken is nich alles!" Llywelyn verstand kein Wort, wollte den Alten einfach stehen lassen. Der konterte erstaunlich flink seine Ausweichbewegung aus. "Wussteste wohl nich, dass se damals die Mode kopiert habn, wie? Rhett Butler und so, als sie fürn Rotlichtmarkt Filmchen gedreht habn! So ne Popelbremse war EN VOGUE, jawoll! Hatte dann jeder Hengst, deswegen Pornobalken. Aber das is nix gegen n Original!" Mühsam und widerwillig konzentriert dechiffrierte Llywelyn die unterschwellige Botschaft in diesem kaum verständlichen Kauderwelsch. Offenkundig war der Aufhänger die Oberlippenzier von Errol Flynn, die eine andere Bezeichnung erhalten hatte. »Faszinierend«, parodierte Llywelyn den Vulkanier Spock und entschloss sich, einfach kehrt zu machen und einen Umweg zum Tresen zu wählen. Da grapschte der Alte seinen Poncho. "Na, willste ma, hä?", und lenkte Llywelyns zerstreute Aufmerksamkeit auf seinen Hosenschlitz. *~*8*~* "Oh Scheiße!" Dieses Mal funktionierten die selbstauferlegten Bremsen im Kopf nicht. Schon, als Isolder die näselnde Stimme hörte, schwante ihm Übles. Ein Blick auf die Überwachungsmonitore und er hatte den Gang identifiziert, in dem sich gerade eine Katastrophe biblischen Ausmaßes anbahnte! Blitzartig verriegelte Isolder geübt die Anlagen, hechtete über den Tresen und sprintete los. Er fegte den Gang entlang und schob sich schützend vor Llywelyn, der scheinbar unberührt den Hoseninhalt, der ihm so unvermutet präsentiert wurde, betrachtete. "Hör mal, Opa, ich hab dir schon mal gesagt, du sollst das lassen!" Isolder stellte die Schultern aus. "Pack ihn ein und zieh Leine. Sonst muss ich wieder die Streife holen." Er kannte den alten Kauz. Der war gewissermaßen harmlos, andererseits konnte Isolder kaum den Drang unterdrücken, dem Alten ein paar Watschen zu verpassen. Warum um alles in der Welt musste der alte Stinker ausgerechnet vor Llywelyn seine Show abziehen?! "Dann hol doch die Streife, Junior, is mir egal!", trällerte der Alte mit brüchiger Stimme, "ob Fisch oder Aal, scheißejal, scheißejal!" "Schluss mit dem Quatsch!" Resolut griff Isolder zu, packte den speckigen Kragen des abgewetzten Jacketts. "Abmarsch, Opa!" "Narrhalla-Marsch!", trompetete der näselnd, "ump-TA-TA! Ump-Ta-Ta uuund Tusch!" »Na herrlich! GANZ PRÄCHTIG!«, dachte Isolder, nachdem er den unerwünschten Blankzieher an die frische Luft gesetzt hatte. »Musste das jetzt sein?!« Eilig machte er kehrt, wischte sich unauffällig die Handfläche am Hosenbein ab, denn er wollte verhindern, dass Llywelyn entsetzt das Weite suchte. Der wartete jedoch völlig unbeeindruckt vor dem Tresen geduldig darauf, dass man ihm die Hüllen mit Inhalt füllte. "Entschuldigung!" Eilig umrundete Isolder den Tresen und entsperrte die Anlage wieder. "Der Alte ist harmlos, nur ein bisschen... überdreht." Llywelyn wartete höflich. Stumm. »Herrje! Mach mir es bloß nicht zu leicht, ja?!«, gärte es in Isolder. "Ah, du magst alte Abenteuerfilme? Die sind richtig gut", formulierte er laut und ermahnte sich innerlich, bloß nicht aus der Rolle zu fallen. "Ich kenne sie nicht", antwortete Llywelyn kurz angebunden. Seltsamerweise konnte sich Isolder nicht des Eindrucks erwehren, dass Llywelyn nicht abweisend oder arrogant sein wollte. Er schien lediglich... distanziert. »Oder eher desinteressiert!«, schnaubte seine innere Stimme verärgert, »schnöseliger Typ, da kann er aussehen wie Adonis!« Andererseits war Llywelyn wenigstens ehrlich. Wenn er nicht interessiert war. Isolder versuchte sich getreu seinem Notizzettel auf einer anderen Baustelle. "Du gehst auf die Privatschule, oder? Seit wann?" »Haha!«, frohlockte er, gleich zwei wertvolle Informationen, die er erfragen konnte! Er registrierte auch das kurze Zögern, bevor Llywelyn zurückgab. "Seit den Sommerferien." »Bingo! Privatschule! Und frisch zugezogen!« "Hast du dich schon richtig eingelebt? Wie gefällt es dir hier?" Perfide genug ließ er einfach nicht locker. Irgendwie musste es ja möglich sein, diesen Exoten zum Sprechen zu bringen! Wieder musste er erstaunlich lange warten, bis Llywelyn verbal reagierte. Auch seine Miene verriet nicht, ob Denkprozesse sehr langsam abliefen, oder sehr viele andere Erwägungen stattfanden, die schließlich dafür votierten, eine Antwort zu geben. "Nein und ganz...nett", lautete die ausführliche, geradezu ausschweifende Replik. "Aha!" Isolder verstaute die Leihgebühr in der Kasse, nicht willens, sich so einfach ins Bockshorn jagen zu lassen. "Sag mal, welche Sportkurse habt ihr denn so, in der Privatschule?" Nun bemerkte er eine winzige, kaum sichtbare Falte zwischen den goldenen Augenbrauen. Die ungewöhnlichen, silbergrauen Augen konzentrierten sich noch immer unverwandt auf ihn. Sehr bedächtig zählte Llywelyn auf. "Fußball. Tennis. Schwimmen. Basketball. Tischtennis. Moderne Akrobatik. Leichtathletik." "Eine ganz schöne Menge!", akklamierte Isolder beifällig. "Was machst du?" Erneut entstand eine Pause. Bis Llywelyn sich höflich erklärte. "Nichts." "Das wundert mich." Beinahe hastig reihte Isolder Silbe an Silbe, plauderte los. "Weil du doch immer auf den Inlinern unterwegs bist! Ich hatte angenommen, es gebe auch Hockey! Machst du denn diese akrobatischen Kunststücke?" Llywelyn zögerte, die winzige Falte vertiefte sich. "Ich laufe nur. Nichts weiter." "Zeigst du sie mir mal?" Isolder markierte ein begehrliches Schielen auf den Rucksack, als brenne er vor Neugierde auf die Fortbewegungsmittel. Wortlos hob Llywelyn seine Inlineskates an, ließ sie inspizieren. Isolder marterte sein mageres Wissen, um eine weitere Reaktion zu provozieren. "Ah, so gehen die auf? Sind das besondere Rollen? Kugellager, oder? Wie oft musst du die denn austauschen?" "Es sind ganz normale Inliner für den Freizeitsport." Nun musste Llywelyn doch mehr als einen Satz formulieren. "Die Rollen sind auch nichts Besonderes. Das Kugellager muss man regelmäßig pflegen. Die Rollen tausche ich jedes Jahr aus. Früher zumindest", ergänzte er leiser. Isolder merkte auf, denn er hatte sich erhofft, über die Fachsimpelei einen Zugang zu Llywelyn zu finden. Doch der schien kein begeisterter Anhänger zu sein, obwohl er sich doch ständig auf Rollen bewegte? "Meinst du, dass du hier nicht mehr so oft laufen kannst?", erkundigte er sich mitfühlend. "Wo hast du denn vorher gewohnt?" "Groothusen." Llywelyn spezifizierte auf Isolders ratlosen Blick. "Gehört zur Gemeinde Krummhörn. Landkreis Aurich. Bei Emden. Ostfriesland. Niedersachsen." "Flaches Land, oder?" Isolder kratzte eilig zusammen, was er sich anhand dieser Informationen vorzustellen hatte. Reisen gehörte nicht zu den Vorzügen, die er genossen hatte. Die Falte zwischen den goldenen Augenbrauen löste sich spurlos auf. "Eben und glatt. Keine Hindernisse." Klang die melodische Stimme sehnsüchtig? Melancholisch? "Das verstehe ich." Isolder lächelte mitfühlend. "Ist hier nicht gerade das beste Pflaster, um gut zu laufen. Die meisten fahren hier Fahrrad. Hast du auch eins?" »Oh weia!« Wieso hatte er sich nicht entblödet und ausgerechnet DIESE Frage gestellt?! Glücklicherweise schien Llywelyn nicht beleidigt zu sein. "Nein. Es wäre zu sperrig." "Zu sperrig?" Isolder reagierte spontan. "Wieso das denn?" "Zum Mitnehmen. Wenn man umzieht." Llywelyn verstaute die DVDs in seinem Rucksack. Unwillkürlich erschrak Isolder. "Ziehst du denn oft um? Bleibst du nicht hier?" "Ich weiß es nicht", Llywelyn antwortete gleichmütig, aber die verräterische Falte zeigte sich wieder. "Das war mein zehnter Umzug." "Du wirst doch sicher deinen Abschluss hier machen, oder? Dann wäre ein Umzug ziemlich... unpraktisch!" Isolder suchte nach einer Versicherung. "Ja." Llywelyn nickte langsam. "Es wäre unpraktisch." "Wenn du hier viele Freunde hast, lassen sich deine Eltern bestimmt überzeugen, nicht mehr umzuziehen!" Isolder fasste impulsiv über den Tresen nach Llywelyns Ärmel. Der zuckte reflexartig zurück. Er hob beide Hände an in einer Geste der Friedfertigkeit. "Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken!" "...ja", stellte Llywelyn fest, nahm die Inliner in die eine Hand, den Rucksack in die andere und wandte sich ab. "Auf Wiedersehen." "...auf Wiedersehen... und danke für deinen Besuch!" Isolder hob die Stimme an, damit er Llywelyn auch noch erreichte, der sich bereits am Ausgang befand. Über die Kamera verfolgte er, wie Llywelyn geschickt Inliner gegen Clogs tauschte, den Rucksack umhängte und lautlos wie eine geölte Maschine verschwand. »Irgendwas stimmt mit ihm nicht«, konstatierte er verwirrt. Und er wollte nun erst recht herausfinden, was das war. *~*8*~* Llywelyn versteckte die DVDs in Malefiz' geheimem 'Schlafzimmer' hinter den verschmähten Büchern. Was man nicht sah, konnte man auch nicht zum Thema machen. Wenn es kein Thema wurde, blieb ihm auch eine unschöne Diskussion um gemeinsame Fernsehabende erspart. Malefiz ließ sich auf dem Schaukelstuhl wiegen, beäugte ihn kritisch, aber Llywelyn wäre niemals so unverschämt, sie ohne Aufforderung zu streicheln. Der ließ sich auf der breiten Fensterbank nieder, vor sich den Laptop, zog die Beine vor den Leib unter seinen größten Lieblingspullover. Vorzugeben, dass er sehr viel nachzuholen und aufzuarbeiten hatte, verschaffte ihm einen gewissen Schutzschild, um allein mit sich sein zu können. Lesen, was man finden konnte. Aus der Wirklichkeit verschwinden. In fremde Welten, fremde Zeiten, fremde Persönlichkeiten schlüpfen. Das funktionierte allerdings nur, wenn man ungestört war. Wenn niemand rücksichtslos in das Zimmer platzte. Unerwünschte Vorschläge für die Freizeitgestaltung gab. Llywelyn hatte sich in den sechs Jahren bei den Großeltern angewöhnt, pflichtgemäß die ihm zugeteilten Aufgaben zu erledigen und danach seine freie Zeit vollkommen nach eigenem Gutdünken zu verbringen. Seine Großeltern hatten ihm dies nicht verwehrt, jeder lebte eben sein Leben. Hier jedoch musste er sich ständig auf Elternbesuch, -vorschläge, -empfehlungen und andere Unannehmlichkeiten gefasst machen. Das setzte ihm wirklich zu, ohne dass er sich wirkungsvoll wehren konnte. Deshalb musste er auch auf die Nacht warten, um sich auf dem Laptop die DVDs anzusehen. *~*8*~* Als Isolder nach Hause kam, herrschte das übliche Chaos. Seine Mutter war in heller Aufregung, denn irgendwie hatte sie eine Kontaktlinse verloren, die sie hatte reinigen wollen. Hardy war noch nicht im Bett, sondern ballerte auf Gegner, während Jermaine eine scheußlich aufgemachte, junge Frau befummelte. "Schätzchen!" Seine Mutter jammerte verzweifelt, vornübergebeugt, um über den gemusterten Teppich zu streichen. "Meine Kontaktlinse!" "Ist gut, Mom." Er streichelte ihr über die Schulter. "Setz dich hin, ja? Du tust dir noch weh." Rasch ging er in die Hocke, fischte geübt die Kontaktlinse hoch und legte sie in die Schale. "Mom." Er streichelte über ihre verkrümmten Hände. "Willst du nicht schlafen gehen? Ist schon spät." Er half ihr behutsam aus dem Sessel, stützte sie bis zum Badezimmer, wo sie sich reckte, ihm die Wange tätschelte. "Gute Nacht, Schatz", blinzelte sie ihn erschöpft an. "Gute Nacht, Mom", wünschte Isolder und nahm sich vor, auch den Rest der Familie ins Bett zu schicken. Zu diesem Zweck kehrte er ins Wohnzimmer zurück, schaltete die Spielkonsole ab und erstickte Hardys Proteste konsequent. "Ab in die Kiste, los! Du hast deine Spielzeit ohnehin überzogen", funkelte er ärgerlich. "Willst du, dass ich dir das abziehe?!" Maulend trollte sich Hardy, war aber klug beraten, Isolder nicht zu widersprechen. Der wandte sich seinem älteren Halbbruder zu. "Guten Abend, Jem. Willst du mir die Lady nicht vorstellen?" Wahrscheinlich hätte es in anderen Familien nun eine heftige Auseinandersetzung gegeben, aber die Verhältnisse waren zwischen ihnen geklärt. "...das is Josy", bekannte sich Jermaine widerwillig zu seiner Flamme in Kriegsbemalung. "Guten Abend, Josy", Isolder streckte forsch die Hand aus und ergriff eine mit lackierten Krallen versehene. "Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Wie wäre es, wenn Jem dich jetzt nach Hause bringt? Ist schon spät." Dabei zog er den unerwünschten Gast auf die Beine und lächelte frostig in das träge Grinsen. Nach seiner Diagnose hatte sie schon zu viel getrunken, um zu einer koordinierten Reaktion fähig zu sein. Jermaine grunzte, stemmte sich aber hoch und knurrte Unverständliches, bevor er Josy wie ein Stück Vieh hinter sich her zog. Isolder öffnete die Fenster, lüftete und versuchte, die größte Unordnung zu beseitigen. Er konnte nur hoffen, dass Jermaine nicht zu dämlich war, um an Verhütung zu denken, denn seine aktuelle Auserwählte schien auch nicht sonderlich gut möbliert im Oberstübchen zu sein. Außerdem beschäftigte ihn Llywelyn. Der war erst vor Kurzem auf diese Privatschule gekommen, aus einem Dorf hoch im Norden. Lief auf Inlinern, war aber kein Sportfreak. Schaute sich gern alte Abenteuerfilme an, kannte sie nicht, obwohl sie doch immer mal wieder in der Glotze wiederholt wurden? "Merkwürdig..." Und verlockend, hinter das Geheimnis zu blicken. *~*8*~* Llywelyn schlüpfte rasch in die Clogs, nahm Inliner und Rucksack in eine Hand. Er war spät dran. Andererseits unterstützte er damit die unwidersprochene Vermutung seiner Eltern, er halte sich gern länger in der Schule auf, um dort mit seinen neuen Freunden zusammen zu sein. Tatsächlich hatte er sich einfach eine Ecke gesucht, die letzte DVD in den Laptop eingelegt und mit Untertiteln, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, den Film betrachtet. Er musste jetzt allerdings darauf achten, dass nicht einer der so genannten Vertrauenspersonen ihn ans Problemfall einstufte. Nur nicht auffallen, so hieß das Motto, aber Llywelyn hatte das Gefühl, dass er diesem Grundsatz nicht gerecht werden konnte. Ob es an den Haaren lag? "Llywelyn, hallo!", begrüßte ihn Isolder bereits hocherfreut. "Wie geht's dir?" Llywelyn zögerte, von der Euphorie irritiert, zupfte langsam den dunkelblauen Schal tiefer. "Guten Tag." "Haben dir die Filme gefallen?" Isolder nahm die drei DVDs entgegen, lächelte ihn unvermindert an. "Wenn du magst, empfehle ich dir andere." "Ich bin nur gekommen, um sie abzugeben", brachte Llywelyn eilig hervor. Sofort verdüsterte sich Isolders Miene. "Ist es wegen dem Opa? Der ist nicht hier, und ich passe auf, dass so was nicht noch mal passiert!" Elastisch setzte er über den Tresen hinweg. "Komm, wir haben jede Menge schöner Filme! Sag mir einfach, was dir gefällt und ich wette, ich finde den passenden Film dazu!" Llywelyn wich vor ihm einen Schritt zurück. An diesem Tag eine Symphonie in Blau: ein hüftkurzer Trenchcoat mit breitem Gürtel, passende Hosen aus einem schimmernden Stoff. Eine große Schirmmütze dazu und natürlich ein überdimensionierter Schal mit eingestrickten Perlen. "...he..." Verzaubert hob Isolder den Arm, langsam, vorsichtig, wie bei einem scheuen Wildtier. Seine Fingerspitzen streiften hauchzart über Llywelyns Schulter, auf der sich eine weißblonde, kräftige Strähne niedergelassen hatte. "...ich komme wieder", murmelte Llywelyn im Rückzug, verschreckt durch Isolders Reaktion, der ihn so eindringlich ansah. "Warte!" Isolder streckte die Hand nach ihm aus, hütete sich aber, Llywelyn zu berühren. "Bitte! Können wir uns nicht ein bisschen unterhalten?" "...warum?" Llywelyn klang eher perplex als misstrauisch. Und wieder war da die winzige Falte, während er Isolders intensivem Blick standhielt. "Warum?!" Nun brach der Bann. Isolder blinzelte. Dann kräuselten sich seine Mundwinkel zu einem fröhlichen Lächeln. "Ich möchte dich kennenlernen. Freundschaft schließen." "Mit mir? Wieso?" Llywelyn entspannte sich. Ein wenig. Isolder studierte ihn ebenso gründlich wie umgekehrt. Würde er ihm antworten? "Ganz einfach!" Er schmunzelte. "Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen. Ich bin neugierig. Mir gefällt dein Stil." Llywelyn erwog diese Gründe, musterte Isolders Gesicht. "...ich weiß nicht", entgegnete er leise. "Wie soll das funktionieren?" "Nun", Isolder streckte ihm demonstrativ die Hand hin, "wir stellen uns vor, wir schütteln uns die Hand und dann unterhalten wir uns. Hallo, ich heiße Isolder. Die meisten sagen Sol zu mir. Freunde?" Zögernd streifte sich Llywelyn den Handschuh von der Rechten, ließ sie in Isolders ausgestreckte Rechte gleiten. "Ich heiße Llywelyn." "Freunde", soufflierte Isolder aufmunternd. "...Freunde", murmelte Llywelyn und erwiderte behutsam den leichten Händedruck, den Isolder ausübte. "Fein!" Isolder lächelte. "Also, möchtest du wirklich keinen Film ausleihen?" "...ich habe keine Zeit, um ihn anzusehen." Llywelyn zögerte. "Hmmm..." Isolder strich sich über das Kinn, spürte das vertraute Gefühl seines gepflegten Bartschattens, verstärkte sein Lächeln um mehrere Watt. "Dann nehmen wir doch einfach etwas Kürzeres. In mehreren Episoden!" Llywelyn zögerte noch immer, zupfte unwillkürlich den Schal wieder so hoch, dass er bis zur Nasenspitze verhüllt war. "Wie wäre es mit Humor? Magst du richtig alte Filme?" Unbeirrt, weil er tatsächlich mit Llywelyn eine Unterhaltung führte, preschte Isolder voran. "Komm, da gibt's ganz herrliche Komödien!" Einladend wies er mit einem Arm den Weg, verneigte sich in einer höfischen Kopie und funkelte in die silbergrauen Augen. Zögerlich setzte sich Llywelyn in Bewegung, ließ sich mit freundlichen Anweisungen durch das Labyrinth der Regalreihen lenken. "Hier, Stummfilmklassiker. Buster Keaton, Charlie Chaplin! Oder da, das sind auch Kurzfilme mit Oliver Hardy und Stan Laurel!" Geübt tippte Isolder auf die Hüllen, wählte eine DVD aus. "Schau, die dauern nicht lang. Da kannst du in Häppchen schauen." Überrascht bemerkte er, dass Llywelyn im Gegensatz zu seiner abwehrenden Reaktion auf direkten Körperkontakt keine Aversion zeigte, sich dicht neben ihn zu stellen, um den Text auf der Verpackung zu überfliegen. "Hör mal", tollkühn bis halsbrecherisch wagte sich Isolder in trügerische Gewässer, "wenn du zu Hause nicht in Ruhe schauen kannst, warum kommst du dann nicht hierher? Im Separee hinten stört dich keiner." Llywelyn blickte auf, wieder die kleine Falte zwischen den goldenen Augenbrauen, so konzentriert, als müsse er eine schwierige Aufgabe lösen. »Beinahe sezierend«, stellte Isolder fest, der spürte, wie ihm Farbe in die Wangen stieg, »aber nicht unangenehm.« Nein, er hatte eher den Eindruck, dass Llywelyn sich nicht sicher war, wie er mit ihm umgehen sollte. Lag das an Llywelyn, der in einem beschaulichen Dorf gelebt hatte? Oder war es sein eigener Status als Bewohner der Proleten-Burg?? "Überlege es dir einfach mal", zog er die Bremse, um nicht sofort das zerbrechliche Vertrauensverhältnis zu überstrapazieren. "Ich würde mich freuen, wenn du hier bist." "...wirklich?" Llywelyn wirkte nun ratlos. Ein anderer hätte eine schnippische Bemerkung vermutet, doch Isolder, der sich vollkommen auf Llywelyn fokussiert hatte, hörte in dessen melodischer Stimme vor allem profunde Verwirrung. Reflexartig wollte er den Arm heben, mit der Hand über die zarte, milchweiße Haut streichen, ihm versichern, dass er keine ungebührlichen Hintergedanken hegte. Gerade noch rechtzeitig wandelte er seine verräterische Reaktion um, indem er sich selbst über den Kopf strich. "Klar! Wir sind doch Freunde!" "...aha", murmelte Llywelyn, senkte den Blick wieder auf die DVD-Hülle, immer noch die kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Isolder unterdrückte ein Auflachen, weil ihm erneut bewusst wurde, wie ungewöhnlich dieser Exot doch war. Als hätte man einen Außerirdischen vor sich, der keine Ahnung von den Regeln menschlicher Interaktion mitbrachte. »Hoffentlich bleibt er und fliegt nicht wieder nach Hause!« Isolder reduzierte sein feistes Grinsen auf ein normales Lächeln. "Wo schaust du dir die Filme denn so an?", versuchte er sich an der Fortführung ihrer Konversation. Llywelyn beäugte ihn wieder auf diese suchende, prüfende Weise. "...auf dem Laptop?" "Wirklich? Wie praktisch, da ist man nicht an einen Ort gebunden", seufzte Isolder begehrlich, der gar nicht dazu kam, sich irgendetwas anzusehen. Auf ihrem Fernseher regierte die Spielkonsole, wenn er es zuließ. Sein in die Jahre gekommener Computer reichte gerade für die üblichen Schulanwendungen, hatte weder eine TV-Karte noch eine Bandbreite, die Filmgenuss über das Internet gestattete. Von einem schnellen DVD-Spieler ganz zu schweigen. "Ich habe keinen Fernseher", unerwartet ergänzte Llywelyn seine Auskunft, warf einen vorsichtigen Seitenblick auf Isolders Profil. "Na ja", wieder betont lässig und munter zuckte Isolder mit den Schultern, "ich komme auch kaum zum Fernsehen. Die längste Zeit verbringe ich hier vor den Überwachungsmonitoren oder am Computer, um Schäden zu begutachten." Mit dem Daumen wies er Richtung Tresen. Llywelyn lauschte höflich. »Los, Mann, rede weiter!«, trieb sich Isolder an, denn nun hatte er den so bedrängt wirkenden Llywelyn neben sich, sprach schon eine Weile mit ihm! Wann würde sich noch mal so eine Chance ergeben?! "Also, wenn du nicht gerade läufst oder in der Penne abhängst", schnurrte er deshalb neckend, "was machst du in deiner Freizeit?" Llywelyn setzte sich als Antwort in Marsch, dem Tresen zustrebend. »Ei verbibscht!«, fluchte Isolder. »Das war wohl wieder ein Volltreffer!« Wahrscheinlich stand er gerade bis unter die Ohrläppchen in einem Fettnäpfchen! "...lesen", hörte er Llywelyn wispern, "ich lese gerne." "Echt?" Isolder legte einen Zahn zu, setzte gewohnt mühelos über die gesamte Breite des Tresens. "Was liest du denn gern?" Die silbergrauen Augen blinzelten, die Falte vertiefte sich. Isolder beschloss, ein wenig nachzuhelfen. "Krimis? Thriller? Mystery? Oder eher Fantasy? Literatur?" Die goldenen Augenbrauen kräuselten sich. "...eigentlich alles, das es elektronisch gibt", flüsterte er so leise, dass Isolder die Worte nur ahnen konnte. Er verarbeitete dieses "Geständnis" eilig, plapperte weiter, um Llywelyn noch ein wenig länger bei sich zu halten. "Dann hast du immer den Laptop dabei? Oder wie?" Der zögerte wieder, schüttelte dann den Kopf. "Nein. Ich lese zu Hause." "Sollte ich wohl auch mal tun!" Isolder zog eine übertriebene Grimasse. "Ich komme bloß kaum dazu. Schaffe es gerade so, das Zeug für die Schule zu lesen." Llywelyn schwieg. Keine mitfühlende Replik, kein Scherz, kein Beipflichten in die Klage. Eigentlich ganz schön unverschämt. Überheblich. Doch Isolder konzentrierte sich auf Llywelyns Gesicht und bemerkte erneut, wie konzentriert der ihn studierte. Suchte Llywelyn nach Hinweisen, wie er reagieren sollte? »Na, den Smalltalk hast du nicht gerade erfunden!« Unerwartet erfüllte Isolder eine zärtliche Nachsicht mit dem hübschen Exoten. Llywelyn war definitiv anders. Das stellte nicht nur eine Herausforderung dar, sondern auch eine angenehme Abwechslung zu den anderen Leuten in seinem Bekanntenkreis. "Ich wünsche dir viel Spaß mit dem Film", lächelte er deshalb amüsiert in die silbergrauen Augen. "Komm bitte bald wieder. Es macht Spaß, sich mit dir zu unterhalten." Das war ebenso ehrlich gemeint, wie es formuliert und ausgesprochen wurde. Mit einem unübersehbaren Ausdruck der Hilflosigkeit erwiderte Llywelyn seinen Blick. "Tut es?" "Ja. Todsicher!", verkündete Isolder mit großen Nachdruck, unterdrückte dabei mannhaft ein aufgedrehtes Kichern. Llywelyn gefiel ihm immer besser! *~*8*~* Es regnete in Strömen, als Llywelyn seiner Arbeit nachging. Obwohl er in Versuchung war, die unverhoffte Freiheit durch die Abwesenheit seiner Eltern zu seinem persönlichen Vergnügen zu nutzen, erfüllte er zuerst seine Pflicht. Dazu hatte man ihn in Selbstverantwortung erzogen. Malefiz, die sich an der erhängten, kleinen Göttin beim Reinigen des 'Grünen Salons' bereits ausgetobt hatte, spazierte gelangweilt im Wohnzimmer herum. Sie hielten sich beide hier nur sehr selten auf. Llywelyn versagte sich tadelnde Gedanken über die überflüssige Unordnung seiner Eltern. Überall lag etwas herum, als seien sie gerade auf der Flucht! Bücher waren umgedreht, in Seiten Eselsohren als Lesezeichen geknickt, ungespülte Tee- und Kaffeetassen bildeten Biotope aus. Er hätte gern gelüftet, doch dann wären die nassen Regenschauer auch in das Zimmer geblasen worden, weshalb er sich auf eine andere Möglichkeit besinnen musste, um den stickigen Odeur zu vertreiben. Folglich tropfte er Aromaöl in die Duftlampe, besorgte ein neues Teelicht und zündete den Docht an. Warum wurden die benutzten, abgebrannten Streichhölzer nicht gleich in den Mülleimer entsorgt? Warum legte niemand ein frisches Teelicht nach? Wirklich, er hatte nicht angenommen, dass seine Eltern derartig schlampig waren! Auf dem kitschigen Couchtisch, eine geschmackfreie Kombination aus Glas und verchromtem Metallgestänge, das einen springenden Tümmler darstellen sollte, fand er neben leeren Walnussschalen auch noch rote Wachsflecken. Llywelyn ballte kurz die Fäuste. Wieso hatten sie nicht einfach einen flachen Teller unter die Kerze gestellt, wenn diese tropfte?! Er holte das Putzzeug und begab sich auf Knien daran, vorsichtig die Wachsflecken zu betupfen, um keine hässlichen Ränder zu hinterlassen. Anschließend sammelte er sämtliche, verstreut herumliegenden Bücher ein, tauschte Eselsohren gegen Lesezeichen aus und sortierte sie in Lücken in den Regalen. Unter einem der schweren Sessel fand er ein staubiges Buch, "Rote Lilien" von einer Autorin namens Nora Roberts. Nachdem er die klebrige Schmutzschicht entfernt hatte, entdeckte er, dass das gleiche Werk dreimal vorhanden war. Offenkundig irgendwo verloren oder vergessen, um dann simpel erneut gekauft zu werden. »Hoffentlich hat sich die Ausgabe wenigstens gelohnt!«, brummte er innerlich und erschrak über sich selbst. Was gingen ihn die Lektüre und die Finanzen seiner Eltern an?! »Gar nichts!«, versicherte er sich selbst beschämt. »Es ist nur die Unordnung.« Und eine heftig erstickte Verärgerung darüber, dass er den unerwarteten Glücksfall, allein zu Hause zu sein, nicht zum Vergnügen nutzen konnte, sondern sich durch die Nachlässigkeit anderer viel länger mit seinen Haushaltspflichten befassen musste. Als er endlich das Wohnzimmer in einen ordentlichen Zustand versetzt hatte, klebten ihm T-Shirt und Pullover nass auf dem Leib. Es half nichts, eine Dusche war dringend notwendig. Wenn er dann schon die Kleidung wechseln musste, wäre es auch keine besondere Mühe, die Waschmaschine in Betrieb zu nehmen, endlich den Trockner auszuräumen und die Wäsche zusammenzufalten. Über diese Willkür des Schicksals empört trotzte Llywelyn der Gefahr und ließ die Schwarzweiß-Komödie auf dem Laptop laufen, warm eingekuschelt in einen alten Wollpullover. Sollten sie ihn doch erwischen! *~*8*~* Von einem Hochgefühl erfüllt, der trügerisch lockenden Vorahnung eines ungewöhnlichen, fröhlichen Zusammentreffens in spe war Isolder auf Schusters Rappen beinahe am Schultor, als sein Mobiltelefon lärmend auf sich aufmerksam machte. "Ein Job?" Isolder fischte das untröstlich jammernde Gerät aus seinem Rucksack, erkannte jedoch anhand der eingeblendeten Nummer, dass ein häuslicher Notfall eingetreten sein musste. "Mom? Was ist denn los?" Er wandte sich ab, die Stirn gekräuselt. "Mom, bitte beruhige dich, ja? Sonst verstehe ich nicht, was du mir sagen willst." Nachdem es ihm gelungen war, seine Mutter zu besänftigen, zeigte sie sich auch, von gelegentlichem Schniefen unterbrochen, in der Lage, ihm einen Brief vorzulesen, den sie aus dem Briefkasten geborgen hatte. »Na herrlich!«, seufzte Isolder, der sich normalerweise um die Post kümmerte. »Einmal schafft sie es nach unten und dann so was!« "Mom!" Er hob die Stimme leicht an, um die zusammenhanglosen Klagen zu unterbrechen. "Mom, ich bringe das in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, ja? Bitte leg dich ein wenig hin. Wenn ich heute Abend da bin, dann erzähle ich dir alles. Ich kümmere mich schon darum!" Vor allem aber würde er sich um seinen dämlichen Halbbruder kümmern. *~*8*~* Isolder hasste Situationen wie diese. Man kam sich vor wie in einem kitschigen Hollywoodfilm über benachteiligte Jugendliche. Ärgerlicherweise saß er nicht zum ersten Mal hier. Ein unerfreuliches Deja vu. "Es wird nicht mehr vorkommen", versprach er gerade, bemühte sich um einen schmeichelnden, jedoch profund ernsthaften Tonfall. "Dafür werde ich sorgen. Aber bitte, unsere Mutter ist schwerkrank, sie kann nicht einfach vorbeikommen." Die Direktorin studierte ihn mit kritischem Blick über der Halbbrille. »Wie ein Habicht!«, dachte er grimmig. »Aber ich bin keine weiße Maus!« Man durfte sich nicht einschüchtern lassen, sondern musste verhandeln. Als er endlich das Direktorat verlassen konnte, war er sehr spät dran, musste telefonisch darum bitten, dass sein Boss einen Tick länger in der Videothek blieb. Andere hätte man sicher schon rausgeworfen, aber auch hier zeigte sich, dass Isolder nicht wegen seines "hübschen Gesichts" und seines guten Gedächtnisses eingestellt worden war. Sein Boss wusste nur zu gut, dass es notwendig war, im "Grenzgebiet" einen "Einheimischen" zu beschäftigen, der einen gewissen Ruf hatte. Trotzdem nahm Isolder die Beine in die Hand, denn eigentlich wollte er sich nicht auf seine Jugendsünden verlassen. Ja, er hatte sich zur Wehr gesetzt. Er konnte kämpfen, auch wenn er nun bloß trainierte. Aber die Erinnerung an seine 'wilde Zeit' war noch lebendig und arbeitete ihm zu. Gelegentlich. Andererseits sorgte sein vergangener Ruhm auch dafür, dass er nicht umhingekommen war, den Besuch einer Sozialarbeiterin zu akzeptieren. »Wenigstens muss Mom nicht zur Schule kommen!«, versuchte er sich selbst aufzumuntern. Was dagegen Hardy betraf... der sollte sich besser wappnen! Als er in der Videothek eintraf, nur fünf Minuten zu spät, bemerkte er anhand der DVDs, die aus dem Briefkasten geborgen worden waren und zum Einsortieren auf ihn warteten, dass sein Hochgefühl ihn betrogen hatte. In jeder Hinsicht. Llywelyn würde nicht mehr kommen. *~*8*~* Kapitel 6 - Kollisionskurs "Liebling, ich war nun wirklich sehr geduldig mit dir, nicht wahr?" Llywelyn spürte, wie seine Muskeln sich verspannten, sein ganzer Körper zu einer einzigen Verkrampfung wurde, von den Zehen bis zu den Haarspitzen. War er nicht vorsichtig genug gewesen? Nicht fleißig genug? Wie hatte er ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt?! Sie legte ihm den Arm um die Schulter, ein lächerlicher Versuch der Intimität, der schon daran scheiterte, dass er fast zwei Köpfe größer war. "Wirklich, Liebling, ich sorge mich um dich! Dein Vater auch", ergänzte sie, obwohl Llywelyn nicht zu Unrecht vermutete, dass sie die treibende Kraft war. "Weißt du, ich habe mit deinen Lehrern gesprochen", zwitscherte sie unbefangen dahin. "Alle loben dich. Deine Leistungen sind ausgezeichnet. Aber", sie tippte ihn tadelnd auf die Nasenspitze, "sie sind besorgt, weil du so distanziert bist. Du hast noch keine Freunde gefunden, Liebling! Magst du denn die anderen nicht? Mobben sie dich etwa?" Zu einer Beteiligung an dieser 'Strafaktion' gezwungen musste sich Llywelyn äußern. "Ich bin nicht sonderlich an ihnen interessiert", antwortete er ehrlich. "Was?!" Seine Mutter wich zurück. "Na hör mal! Liebling! Deine Kameraden sind bestimmt ganz nett! Und so hübsche Mädchen sind mir bei der Anmeldung aufgefallen! Bestimmt findest du da eine Freundin!" Bevor es aus Llywelyn herausplatzen konnte, dass er NICHT DEN GERINGSTEN WERT auf eine Freundin legte, plapperte seine Mutter einfach weiter. Er hätte genauso gut den Raum verlassen können. "Na, ich war schön erstaunt, als mir dein Lehrer das sagte! Ich habe sofort gekontert, denn MEIN Sohn ist doch nicht kontaktscheu! Du hast bloß ein bisschen zu zurückgezogen gelebt, bisher!" Sie tätschelte seinen Oberarm. "Du bist kreativ, das sieht man ja! Und intelligent! Aber dir fehlt das Amüsement, weil du es ja nicht kennst!" Llywelyn schwante Übles, und sein Gefühl trog ihn nicht. "Deshalb, Liebling", sie tätschelte ihm nun auf Zehenspitzen die Wange, was Llywelyn in Todesverachtung über sich ergehen ließ, indigniert von ihrer Frechheit, "wirst du mich heute begleiten. Einmal die Woche werden wir zusammen etwas unternehmen, Mutter und Sohn! Na, freust du dich?!" Llywelyn starrte unterkühlt in das vertraut-fremde Gesicht. Er verstand diese Frau nicht. Er konnte kaum begreifen, dass sie tatsächlich verwandt waren. "Worum handelt es sich?", brachte er schließlich über die Lippen, tonlos. Sie quälte ihn nicht nur mit ihren unverständlichen Aktionen, ihren körperlichen Attacken auf seine Selbstbestimmung, nein, sie wollte ihn ersticken! Beschnitt seine Freizeit! Ohne ihn zu fragen, sein Einverständnis abzuwarten! Als wäre er ein kleines Kind, das keinen Willen zu haben hatte! Ein lästiges Gepäckstück, das mal nützlich, hauptsächlich aber hinderlich war! "Schön, dass du fragst!" Sie bleckte die teuer überkronten Zähne. "Du weißt ja, dass wir eine Christenpflicht zu erfüllen haben! Und ich bin ehrenamtlich bei unserer Gemeinde tätig. Also werden wir uns um den Nachwuchs kümmern, im Junior-Club!" Llywelyn wurde so übel vor unterdrückter Wut, dass er sich entschuldigen und das Zimmer verlassen musste. *~*8*~* Sein Magen schmerzte noch immer, ebenso die Kehle, die es gar nicht schätzte, wenn die Nahrung halb verdaut den Rückweg antrat. Llywelyn fühlte sich grauenhaft und verbat sich, darüber nachzudenken, was er am Liebsten getan hätte. Es spielte keine Rolle, er musste HIER sein. Junior-Club. Vor ihm hockte ein Rudel Grundschüler, die sich lediglich optisch von der Görenbande abgrenzten, die ihn in der Videothek umringt hatten. Sie besaßen wenigstens die Höflichkeit, ihn zu ignorieren, solange er nicht offiziell vorgestellt worden war. Was um alles in der Welt sollte er hier bestellen?! Seine Mutter fegte herein, trällerte eine Begrüßung in Begleitung einer Gemeindeschwester, die in ihrem Habit wie ein Jungpinguin wirkte. Ebenso schockiert wie die Kinder erfuhr Llywelyn nun, dass seine Mutter gar nicht daran dachte, ihre Christenpflicht durch persönliche Teilnahme zu erfüllen, sondern ihn als Stellvertreter abstellte, damit dieser unruhige Haufen kleiner Nervensägen beschäftigt wurde. Und zum Schrecken der Senioren, deren Weihnachtszeit die kleinen Ungeheuer verschönern sollten. "Heute wollen wir für das Gemeindehaus eine hübsche Dekoration basteln", übernahm Schwester Hildegard das Kommando, in einem salbungsvoll singenden Tonfall. Llywelyn bemerkte, dass die verteilten Bastelscheren alle abgestumpfte Spitzen hatten, was die Wahrscheinlichkeit verringerte, seine Quälgeister würden sich gegenseitig exterminieren. "Wünschen wir uns nicht alle schöne, weiße Weihnachten?" Schwester Hildegard hatte einen Plan und liebte rhetorische Fragen. Die Horde jugendlicher Brüllaffen aus dem "richtigen" Viertel schwieg wachsam. Sie sollten Fensterbilder herstellen, die alle Schneekristalle darstellten. Schwester Hildegard führte demonstrativ vor, wie man das Papier zu behandeln hatte: falten, knicken, schneiden, kleben, aufspießen und an dünnen Fäden erhängen. Dann klopfte sie Llywelyn auf die Schulter, der für derlei Zierrat überhaupt nichts übrig hatte und sich fragte, wie er allein als Dompteur reüssieren konnte. "Nun, mein Lieber, dann lasse ich dich mal allein." Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, war Llywelyn das Zentrum aller Aufmerksamkeit. Er konnte sie nicht ignorieren, er durfte seinen Posten auch nicht verlassen. Was nun? Llywelyn studierte jedes Gesicht konzentriert, dann räusperte er sich höflich. "Ich frage mich, ob ihr die wahre Geschichte von Weihnachten kennt..." *~*8*~* "Früher, vor sehr langer Zeit, als die Menschen noch Jäger und Sammler waren, da gab es sehr viel mehr Schnee und Eis. Trockenes Holz war rar, deshalb musste man stets darauf achten, dass das Feuer nicht erlosch. Es wurde kaum hell im Winter. Jeder Tag wurde kürzer, es war eisig kalt und dunkel. Ganz so, als würde die Sonne niemals zurückkommen. Wen konnte man aber bitten, die Sonne zurückzugeben? Nur die Götter. Und von denen gab es eine Menge. Bei einer so wichtigen Sache wie der Sonne musste man sich natürlich an die mächtigsten Götter wenden. Die waren, ganz wie heute auch, nicht billig. Für eine Gunst musste man einen angemessenen Gegenwert entrichten. Wenn man also die mächtigsten Götter um die Rückgabe der Sonne anflehte, dann musste man ihnen etwas besonders Wertvolles opfern. Die Menschen überlegten, was wohl angemessen und besonders kostbar war. Sie entschieden, dass ein junger Jäger, kräftig und flink, den Göttern geopfert werden musste. Damit er auch etwas Besonderes war, würde er bis zum finstersten Tag, wenn die Sonne sich gar nicht mehr zeigte, ihr König sein. Man nominierte also verschiedene, junge Männer. Sie sollten Lose ziehen, um den König unter ihnen durch das Schicksal bestimmen zu lassen. Aber das Schicksal lenkten ja die Götter, deshalb konnten sie sich schon den Mann auswählen, der ihnen am Würdigsten erschien. Die Wahl fiel auf einen jungen Mann, der Adlerfeder gerufen wurde. Obwohl er wusste, dass sein Tod bevorstand, hielt er sich tapfer und bedankte sich bei den Göttern für die Ehre, die ihm erwiesen wurde. In den nächsten Tagen behandelten ihn alle sehr unterwürfig, überließen ihm die besten Speisen, die wärmsten Felle und den besten Schlafplatz, denn immerhin war er ja der König! Adlerfeder hatte einen Freund, seinen Blutsbruder Eisvogel. Eisvogel war nicht sonderlich beliebt, denn er blieb gern allein und sonderte sich ab. Wieso diese beiden so eng befreundet waren, das konnte niemand verstehen. Eisvogel verbrachte oft die Nächte im Freien, um den Himmel mit den Sternen zu studieren. Er sprach nicht darüber, was er am Firmament erblickte, aber er war nicht einverstanden damit, dass man seinen Freund Adlerfeder opferte. Aber was sollte er unternehmen? Adlerfeder würde sich bestimmt weigern, mit ihm zu fliehen! Dann käme die Sonne ja nicht wieder, weil die Götter zürnten und dann wären alle zu einem elenden Tod verurteilt! Eine List musste her, um Adlerfeder zu retten! Eisvogel ging also los, um sehr viel Holz zu sammeln. Er entzündete einen Stapel und band aus dem Rest einen leichten Schlitten zusammen. Dann wartete er geduldig, während rasch die Nacht hereinbrach und das Feuer hoch in den Himmel loderte. Bald schon sah er zwei Paar schwefliger Augen, die ihn beobachteten. Doch Eisvogel blieb ruhig, legte noch mehr Scheite auf sein gewaltiges Feuer. Da kamen die beiden Wölfe aus dem finsteren Wald, und Eisvogel erkannte, dass sie keine gewöhnlichen Wölfe waren. Es waren der Wolf der Dunkelheit und seine Gefährtin, die Wölfin des Untergangs. Sie knurrten und bleckten die Zähne, denn sie hassten das glühende, gleißende Licht des Feuers. Wie eine abgestürzte Sonne blendete es sie, versengte ihr Fell. Eisvogel blieb im Schutz des Feuers stehen und sprach den Wolf der Dunkelheit an. 'Wenn du die Finsternis erreichen willst, dann ist es sinnlos, einfache Menschen anzugreifen. Das hier ist nur ein kleines Feuer, doch das Feuer am Himmel, der gewaltige Glutball, den haben die Götter geschaffen.'Das begriff der Wolf der Dunkelheit.'Wenn du den großen Glutball vernichten willst, musst du die Götter erledigen. Ich kenne den geheimen Weg in ihre Himmelsfestung. Zieh meinen Schlitten, und ich weise dir den richtigen Weg!' Der Wolf zog sich in den finsteren Wald zu einer Beratung mit seiner Gefährtin, der Wölfin des Untergangs, zurück. Schon lange wollten sie die arroganten Götter vom Thron stürzen, denn das war ihre Bestimmung. Sie hatten jedoch wegen der gleißenden Sterne Schwierigkeiten, sich am Himmelszelt zu orientieren und waren deshalb nie bis zur Himmelsfestung der Götter gelangt. Die Wölfin des Untergangs knurrte Eisvogel schließlich an. 'Wir wollen deinen Schlitten anstelle der Schlittenhunde ziehen. Dafür bringst du uns in die Himmelsfestung.' Eisvogel erhob sich und schirrte die beiden Wölfe an. 'Vorher', erklärte er ihnen, 'müssen wir noch meinen Freund Adlerfeder abholen. Ohne ihn lassen uns die Götter nicht in die Himmelsfestung, denn er ist der Winterkönig.' So geschah es, dass just bei der zeremoniellen Opferung des Winterkönigs ein leichter Schlitten heranpreschte, den zwei gewaltige Wölfe statt der Schlittenhunde zogen. Kreischend liefen die Menschen auseinander. Nur Adlerfeder, den man prächtig geschmückt angebunden hatte, um ihm den Schädel einzuschlagen und sein Blut auf einem Opferstein für die Götter zu verteilen, blieb allein zurück. Eisvogel löste die Fesseln und zog den Freund mit sich, aber Adlerfeder wehrte ihn ab. 'Eisvogel!', flehte er, 'wenn ich jetzt nicht zu den Göttern gelange, dann stirbt unser ganzes Volk!' 'Keine Angst', Eisvogel nahm Adlerfeders Hand, 'ich verspreche dir, dass wir jetzt gemeinsam zu den Göttern gehen. Auf direktem Weg, denn dafür sind die beiden Wölfe bei uns!' Adlerfeder ließ sich überzeugen, denn Eisvogel sprach ja die Wahrheit. Eng umschlungen, da auf dem leichten Schlitten kaum Platz für zwei Männer war, hielten sie sich fest und der Schlitten jagte los. Eisvogel ermahnte die beiden Wölfe, sich zu beeilen, denn sie mussten in der Nacht ihr Ziel erreichen, bevor die Sterne verschwanden. Die Wölfe knurrten und fletschten die Zähne, weil das Sternenlicht sie schmerzte, doch dank Eisvogels Führung gelang es ihnen tatsächlich, die zwischen den Sternen versteckte Himmelsfestung zu erreichen. Sie war verschlossen, natürlich, doch die Götter erwarteten ja den Winterkönig. Adlerfeder rief deshalb zur Himmelsfestung hinauf. 'Ich bin der Winterkönig und gekommen, um die Götter anzuflehen. Im Austausch für mich mögen sie die Sonne zurückkehren lassen!' Da öffnete sich das große Tor der Himmelsfestung, die vollkommen aus Eiskristallen bestand. Kaum waren sie im Inneren, da rissen sich die beiden Wölfe vom Schlitten los. Das Sternenlicht hatte sie allerdings so geblendet, dass sie die Götter gar nicht erkennen konnten und deshalb wild drauflos stürmten. Eisvogel versteckte sich mit Adlerfeder unter dem umgedrehten Schlitten, während um sie herum die Wölfe mit den Göttern unerbittlich kämpften. Bald färbte sich der Schnee auf dem Boden der Himmelsfestung blutrot. Die kristallinen Wände der Himmelsfestung warfen das schreckliche Bild wie Spiegel zurück, sodass die Wölfe bald überall einen Abglanz des Glutballs sahen, den sie so sehr hassten. Sie wüteten, bis die Himmelsfestung in Trümmern lag, kein Gott sich mehr regte. Da hätte eigentlich die Dunkelheit überhand nehmen müssen, doch die Wölfe hatten die Rechnung ohne Eisvogels Beobachtung gemacht. Die Sonne nämlich kehrte wie gewöhnlich zurück, um den ersten längeren Tag zu beginnen. Ihre Strahlen fielen auf die unzähligen Splitter der Himmelsfestung! Da jagten die betrogenen Wölfe jaulend und kreischend davon, doch weil sie geblendet worden waren, konnten sie nur noch blind in der Finsternis herumirren. Seitdem fürchtete der Wolf den Menschen. Eisvogel und Adlerfeder aber genossen die Wärme der Sonne, die aufging. Sie war so nahe, dass man ihre tobenden Flammen erkennen konnte. 'Weil die Himmelsfestung in Trümmern liegt, steht nichts mehr der Sonne im Weg. Vielleicht verändert sie sogar ihren Lauf!' Eisvogel zeigte auf die Menschenwelt unter ihnen, wo sich die Dunkelheit zurückziehen musste. 'Wie kommen wir zurück?' Adlerfeder war ratlos. Eisvogel nahm eine der Ketten, mit denen die Himmelsfestung am Firmament verankert worden war. Er schleuderte den Haken und als der in die Sonne einschlug, befestigte er das andere Ende flink am Schlitten. 'Schnell, steig auf!', rief er Adlerfeder zu. So glitten sie im Gefolge der Sonne über den Himmel, und als die Sonne den tiefsten Punkt am Horizont erreichte, hakten sie den Schlitten los. Unter ihnen war viel Wasser und in der Nähe eine schöne Insel, die nach Blumen und reifen Früchten duftete. Sie warfen die Felle ab und sprangen ins Wasser, dann wateten sie an Land. Hier war es angenehm, ein richtiges Paradies, mitten im Meer. Adlerfeder und Eisvogel kehrten nie wieder zu ihrem Stamm zurück. Obwohl die Götter keine Gewalt über die Sonne hatten, wurde dort jedes Jahr wieder ein Winterkönig erwählt und getötet." *~*8*~* Llywelyn lehnte sich ruhig zurück, studierte die Mienen, die ihn skeptisch, aber aufmerksam musterten. "Moment mal!", meldete sich der erste Kritiker. "Woher wissen wir denn über diese Geschichte Bescheid, wenn die beiden Typen nie zurückgekommen sind?" "Sie haben ihre Geschichte in eine Stele gehauen", erklärte Llywelyn, sah sich mit Unkenntnis konfrontiert und ergänzte, "einen großen, freistehenden Stein." "So ne Himmelsfestung gibt's doch gar nich!", protestierte ein anderer Kritiker verächtlich. "Wie solln das auch funktionieren?!" "Sie ist ja zerstört worden." Llywelyn war die Ruhe selbst. "Und woher willst du wissen, dass Götter sich keine Festung am Himmel bauen können?" "Es gibt überhaupt keine Götter!", mischte sich der Nächste bestimmt ein. "Das ist alles Quark." "Stimmt, es gibt keine Götter, weil die Wölfe sie getötet haben." Llywelyn war um keine Antwort verlegen. "Ach ja? Und wo sind die Wölfe jetzt?!" Die Herausforderung musste angenommen werden. "Na, sie sind immer noch hier, auf der Erde. Sie hassen Menschen, deshalb verstecken sie sich. Erst wenn es dunkel ist, kommen sie hervor." Llywelyn beäugte die Basteleien. "Aber wir haben eine Menge Lichter. Wie ein Sternenhimmel, der heruntergefallen ist, deshalb sind die Wölfe verwirrt." "Und was haben die beiden Schwuletten mit Weihnachten zu tun?!" Der erste Kritiker hatte einen neuen Haken gefunden, an dem er Llywelyns Geschichte zum Spott preisgeben wollte. "Wieso glaubst du, dass sie schwul waren?" Llywelyn fokussierte seine Aufmerksamkeit auf den Jungen. "Na, weil die zwei Kerle allein abgehauen sind! Ist doch logisch!" Llywelyn neigte den Kopf nachdenklich. "Also, wenn du hier mit deinen Freunden nach Hause gehst, weil ihr denselben Weg habt, müsstet ihr auch schwul sein. Oder nicht?" "Nein! Wir sind doch nicht schwul!" Lautstarker Protest. "Aber du vielleicht, Karnevalsprinz!" Die Stirn runzelnd konterte Llywelyn. "Weil ich mit lauter Jungen allein in einem Zimmer bin? Wenn ihr doch nicht schwul seid, wie kann ich es dann sein?" DAS löste eine gewisse Konfusion aus. "Schwul oder nicht, egal, WAS hat diese dämliche Geschichte mit Weihnachten zu tun?!" Sicheres Terrain wurde gewählt. "Ah!" Llywelyn drehte ein Schalende um einen Finger. "Ist das nicht offensichtlich? In der größten Finsternis wurde ein Winterkönig gewählt, den man später tötete, damit das Licht, die Sonne der Hoffnung nicht untergeht. Lautet nicht so die Heilsgeschichte, dass ein Mann für alle sterben muss?" Er stützte das Kinn in eine Hand. "Obwohl es keine Götter gibt, niemand Gewalt über die Sonne hat, wird immer wieder ein Winterkönig gewählt. Er muss dann sterben, weil man glaubt, die Götter verlangten ein Opfer." Die ihn umgebenden Mienen zeigten nun einen gewissen Horror. Selbst wenn sie nicht wussten, was ein Ketzer war, so konnten solche Äußerungen in einem Gotteshaus nicht richtig sein! Llywelyn jedoch kreiste um seine eigene Theorie, kümmerte sich nicht um religiöses Feingefühl, war bereits abgetaucht in eine andere Welt. "Wenn man doch weiß, dass die Sonne pünktlich wiederkehrt, zumindest solange wir hier leben, dann muss man niemanden mehr opfern, nicht mehr an Götter glauben, wenn sie keinen Einfluss haben. Aber wie Eisvogel damals richtig erkannt hat: die Menschen machen sich ihre Götter, weil sie nicht allein für sich verantwortlich sein wollen. Sie wollen einfach nicht allein im Universum sein." Das Schweigen lastete lange. Dafür wurde angestrengt mit gesenktem Haupt gebastelt, bis Schwester Hildegard, misstrauisch ob der Ruhe, hereinkam und Dispens erteilte. So schnell waren die Gören lange nicht mehr verschwunden. *~*8*~* Als Isolder endlich nach Hause kam, war er müde und verärgert. Nicht nur seine Verspätung und der Wirbel um Hardy frustrierten ihn, sondern die Enttäuschung darüber, dass Llywelyn nicht gekommen war. Natürlich hatten sie sich nichts versprochen, keine Verabredung getroffen, doch Isolder hoffte, sein Glück werde ihn nicht im Stich lassen. »Offenkundig hat es eine Auszeit genommen!«, grollte er und verbannte eilig die Erinnerung daran, dass er sogar die DVD-Hülle zerlegt hatte, ob sich nicht eine Nachricht von Llywelyn an ihn darin verbarg. Er begrüßte seine Mutter und roch an ihrem Atem, dass sie schon wieder reichlich Gin Tonic intus hatte. Das bedeutete in der Regel, dass die Medikamente nicht mit ihren Schmerzen mithalten konnten und sie sich anderweitig Erleichterung verschaffen wollte. "Mom, ich habe das geregelt." Isolder ging vor ihr in die Hocke, nahm ihre verkrümmten Hände. "Das kommt alles in Ordnung. Sie werden uns aber mal wieder eine Sozialarbeiterin vorbeischicken." "Schon wieder?" Ihr Blick war ein wenig glasig, aber Isolder hörte an ihrer Stimme, dass sie nicht betrunken war. Noch nicht. "Ist schon wieder ein halbes Jahr her", beruhigte Isolder sie. "Keine große Sache. Ich werde am Samstag groß einkaufen gehen und ein bisschen aufräumen, dann gibt's auch keinen Ärger. Du sagst mir, was du gern haben möchtest, ja?" "Ja, das tue ich, Schätzchen." Sie tätschelte behutsam seinen Schopf. "Du bist so lieb zu mir." "Weil ich dich so lieb habe!", schnurrte Isolder, richtete sich auf und küsste sie auf die Stirn. "Sag mir, wenn du schlafen gehen möchtest, ja?" "Ja", echote sie so brav, dass man ein kleines Mädchen vermuten konnte, wenn man allein nach ihrer Stimme urteilte. "Fein!", lobte Isolder, nahm sich dann Hardy vor, der wie immer an der Spielkonsole herumfingerte, aber ungewohnt still war. Wortlos stellte Isolder den Fernseher ab, zog die Spielkonsole mit ihren Verkabelungen heraus aus dem TV-Möbel. "He!", muckte Hardy protestierend auf, aber Isolder ignorierte ihn. Er füllte das gesamte Zubehör in ein altes Versandhauspaket, klemmte es sich unter den Arm. Dann marschierte er in sein Zimmer, räumte die alte Truhe ab, löste die drei unterschiedlichen Schlösser, um den Deckel anheben zu können. In die finstere "Grube" fuhr nun das Versandhauspaket ein, wurde weggesperrt. "Was soll der Scheiß?!" Hardy stürzte sich auf ihn, wollte die Verriegelung verhindern, doch Isolder fegte ihn mit einem gezielten Stoß weg. Hardy flog rückwärts auf das ordentlich gemachte Bett, kreischte vor Schreck auf. "Sei still!", fauchte Isolder, funkelte ihn zornig an. "Mach noch mal dein Maul auf, und ich sperre DICH in die Truhe!" Er packte Hardy vorne am Sweatshirt und zerrte ihn grob auf die Beine. "Was soll die dämliche Schwänzerei?! Bist du total bescheuert?! Hast du nicht genug Ärger am Hals?!", zischte er seinen jüngeren Halbbruder in das erbleichende Gesicht. "Ich kenne deinen Notenschnitt! Willst du sitzen bleiben, ja?! In eine neue Klasse kommen, wo du der älteste Depp bist und alle dich auslachen?!" Hardy presste schmollend die Lippen aufeinander, ballte die Fäuste. "Was ist?!" Isolder knurrte. "Ist es so toll, irgendwo herumzuhängen und nichts zu tun?! Etwa mit diesen drei Idioten, mit denen du in der Videothek aufgekreuzt bist?!" "Das geht dich gar nix an! Du bist nich mein Vater!", brüllte Hardy wütend zurück. Doch nun legte Isolder erst richtig los. "Nein, was für ein Glück ich doch habe! Dein Vater ist nicht hier, hier gibt's überhaupt keinen Vater!", fauchte er bissig. "Nur unsere Mom, die schwerkrank ist! Die in die Schule bestellt wird, weil du zu dämlich bist, um zum Unterricht zu gehen!" Er zerrte Hardy auf die Zehenspitzen, brachte ihre Gesichter nahe zu einander. "Hast du bescheuerter Angeber mal darüber nachgedacht, was passiert, wenn sie die Aufregung nicht überlebt? Na, hast du?!" Nun flüsterte er beinahe. "Dann werden sie dich ins Heim stecken. Jem kann dich nicht versorgen, und ich bin noch nicht volljährig!" Hardy wehrte sich heftig, zappelte in dem unerbittlichen Griff. "Das warn bloß n paar Tage! Scheiße, wen juckt's schon?! Schule is eh scheiße!" Isolder schüttelte ihn so vehement durch, dass sich Hardy selbst auf die Lippe biss. "Ach ja? Schule ist scheiße?! Schule ist DEIN Job! Wenn du den vermasselst, dann wird's keine anderen mehr geben!", zischte er bösartig. "Willst du so wie Jem enden?! Frag ihn doch mal, wie toll das ist, nur von der Stütze zu leben! Kein Job, kein Geld, kein Auto, kein Urlaub, keine schicken Klamotten, keine tollen Clubs, kein nichts!" Er stieß Hardy grob von sich. "So wird's nämlich aussehen, wenn du so weiter machst. Dann kommst du nie aus diesem Loch raus." "Aber du, oder wie?!" Hardy wischte sich trotzig über den Mund, erwog für einen verführerischen Moment lang, vor Isolder auszuspucken. Doch in dessen Augen lag etwas, das ihn warnte. Isolder wurde sehr selten wütend, aber wenn der Fall eintrat, verschwand Jem stundenlang aus der Wohnung. "Genau", schnarrte Isolder zornig. "Ich gehe hier weg. Ich MUSS nämlich nicht hier bleiben, wie ein Verrückter lernen, mich in zwei Jobs gleichzeitig abrackern, um alle durchzuschleppen. Ich WERDE aus diesem Loch verschwinden." Hardy vergaß sein Image als "harter Kerl von der Straße", starrte seinen älteren Halbbruder ängstlich an. Isolder WAR der Boss. Und wenn der Boss ging und sie zurückließ, dann wäre er ganz allein! "Ab sofort", Isolder kehrte ihm den Rücken zu, arrangierte in dem kleinen Zimmer seine Habseligkeiten wieder auf der Truhe, "wirst du nicht mehr schwänzen. Keine einzige Stunde. Du wirst zur Nachhilfe gehen, die in der Schule angeboten wird. Wenn deine dämlichen Freunde auftauchen und dich zu irgendwelchem Mist überreden wollen, dann denk an Jem. Denk an Mom." Er drehte sich zu Hardy um. "Du weißt doch, wie es im Spiel so schön heißt: alle deine Entscheidungen haben Konsequenzen." Isolder streckte die Hand aus, deutete unmanierlich, aber demonstrativ auf Hardy mit der Fingerspitze. "Bloß im echten Leben kannst du nicht wieder zurückgehen und alles ungeschehen machen. Da sind die Leute wirklich tot." Hardy machte kehrt und flitzte in sein Zimmer, schlug die Tür fest hinter sich zu. Isolder verschloss wie gewohnt seine Zimmertür, marschierte ins Wohnzimmer zurück, wo seine Mutter im Sessel eingeschlafen war. Die Luft war verbraucht, alles wirkte unordentlich und auf unbestimmte Weise armselig. Er nahm eine verschlissene Decke vom Sofa, deckte seine Mutter zu, bevor er das Fenster öffnete, tief die nasse Novemberluft einatmete. Am Liebsten wäre er nach unten gefahren, hätte im trüben Schein der Laternen eine Übung nach der anderen absolviert. Aber es war schon spät, und er fühlte sich nun wirklich erschöpft. Nein, heute war wirklich kein besonders guter Tag gewesen. *~*8*~* Llywelyn schlüpfte aus den Clogs, klopfte sich auf Schal und Strickjacke. Obwohl es nicht regnete, lag ein schwerer Nebelschleier in der Luft. Solange es ihm möglich war, hatte er sich in der Schule aufgehalten, dort gelesen und ausgeharrt, um sich wenigstens ein bisschen schadlos zu halten. Leider hatte sein gestriger Auftritt im Junior Club nicht dafür gesorgt, dass seine Mutter ihn von dieser lästigen Verpflichtung befreite. Sie lobte sein Engagement und verabredete, ohne ihn überhaupt zu fragen, dass er gern wieder in der nächsten Woche zur Verfügung stehen würde. Allein schon die Erinnerung an diese demütigende Erfahrung in Gegenwart von Schwester Hildegard krampfte seinen Magen zusammen. Langsam atmete er tief durch, die Augen geschlossen. Es führte zu nichts, sich aufzuregen. Zumindest redete er sich das ein. Aber weil irgendwo in seinem Inneren ein Quäntchen Trotz rebellierte, stand er nun hier, um sich einen Film auszuleihen, den er ganz allein ansehen wollte. Und wenn es in der Schule war und er den lästigen Laptop mitschleppen musste! Als er, den Rucksack und die Inliner in der Linken, wachsam durch den Gang schlenderte, entdeckte ihn Isolder, der nicht hinter dem Tresen arbeitete, sondern sich um eine präsentierende Ausstellungsfläche kümmerte. "Llywelyn!", rief er begeistert, legte den Stapel DVD-Hüllen ab, um ihm entgegenzugehen. "Guten Tag", Llywelyn zögerte, "wie geht es dir?" Das klang so förmlich, als habe er einen Knigge-Nachfolger für den Ablauf einer Konversation studiert, dass Isolder laut herauslachte. "He, sei nicht so steif!", neckte er Llywelyn, "wir sind Freunde, schon vergessen? Und danke der Nachfrage", er deutete eine Verneigung an, "ich befinde mich wohl. Und selbst?" "Gut?", antwortete Llywelyn so vorsichtig, dass Isolder beinahe bedauerte, ihn aufgezogen zu haben. "Schön. Nun, womit kann ich dienen? Was möchtest du dir gern ansehen?", wechselte er auf ein neutrales Gebiet. Llywelyn zupfte an seinem langen Schaltuch, überlegte offenkundig. "Vielleicht einen Klassiker passend zur Saison?" Isolder füllte die Lücke, wies mit einer ausschweifenden Geste auf den Aufsteller. "Da stelle ich gerade ein bisschen was zusammen. Viele Klassiker, die immer in der Weihnachtszeit gezeigt werden. Sieh es dir einfach mal an." Wohlerzogen folgte Llywelyn Isolder, der geschickt Hüllen platzierte, mit bunten Klebezetteln Orientierungshilfen befestigte. "Hier, Märchen für Groß und Klein, dann haben wir Action, was nicht besonders andächtig ist, aber das Adrenalin abbaut. Hier gibt es Familienfilme und natürlich die Klassiker." Dem Blick nach zu urteilen, den Llywelyn auf das Angebot warf, konnte Isolder davon ausgehen, dass dessen Weihnachten höchst selten mit Filmgenuss verbunden gewesen war. "Sieh mal hier." Er präsentierte ihm eine DVD-Hülle. "Das wird häufig um Weihnachten herum gezeigt, obwohl es in den Tropen spielt." Er tippte auf das Einschlagbild. "Hier, Humphrey Bogart ist einer von drei Sträflingen, die sich in eine Familie einschleichen und ihr helfen, weil die böse Verwandtschaft sie tyrannisiert. Erinnert ein ganz klein wenig an die Heiligen Drei Könige oder die drei Geister der Weihnacht." "...nein, vielen Dank." Llywelyn wich ein wenig zurück. "Hmm, willst du lieber was Lustiges sehen? In Farbe?" Isolder wandte sich vom Stapel ab, um Llywelyn direkt ansehen zu können. Er lächelte unwillkürlich, weil Llywelyn stets so konzentriert blickte, so ernsthaft war. Es juckte ihn in den Fingern, über dessen Wange zu streichen und ihn zu necken, er möge doch mal lächeln. "Komm!" Er berührte Llywelyns Hand kurz. "Ich habe was im Sinn, das dir gefallen wird!" Damit schlängelte er sich in einen benachbarten Gang, überließ es Llywelyn, ihm zu folgen. Der baute sich artig neben ihm auf und ließ sich die ausgewählte DVD-Hülle präsentieren. "Hier, der ist wirklich klasse! 'Eine Leiche zum Dessert'!" Isolder strengte sich an, Llywelyn das Angebot schmackhaft zu machen. "Also, ein exzentrischer Millionär lädt fünf weltberühmte Detektive ein, die bei der Aufklärung eines Mordes zum Wettstreit antreten sollen. Du kennst doch sicher Hercule Poirot, Miss Marple, Charlie Chan, Nick und Nora Charles sowie Sam Spade mit seiner Sekretärin?", zählte er an den Fingern auf, strahlte ihn an. "Es ist natürlich eine Parodie, aber wirklich ganz toll gemacht! Du wirst dich schlapp lachen!" Zum ersten Mal zuckte ein Lächeln über Llywelyns Gesicht. Die silbergrauen Augen glitzerten interessiert. "Bitte, schau es dir an, ja?" Isolder plinkerte übertrieben mit den Wimpern und kopierte einen treuherzigen Hundeblick. Da klingelte es am Tresen, Kundschaft! "Bin gleich wieder bei dir!", schnurrte Isolder fröhlich und spurtete den Gang entlang. Llywelyn drehte die DVD-Hülle, bereits entschlossen, sich amüsieren zu lassen. Er hob den Blick und suchte den Tresen, wo Isolder einer älteren Frau behilflich war. Fetzen einer munteren Unterhaltung drangen an sein Ohr. Versonnen studierte er Isolder. Warum bemühte der sich so um ihn? Das war Llywelyn noch immer ein Mysterium. *~*8*~* Als Isolder sich endlich wieder seinem Vergnügen zuwenden konnte, zogen sich seine Augenbrauen gewittrig zusammen. Flink verriegelte er die Anlage, setzte schwungvoll über den Tresen und stürmte den Gang hinunter, wo drei Grazien Llywelyn umzingelt hatten. "Was soll das hier werden?!", fauchte Isolder eisig, stützte die Hände in den Hüften auf. "Ey, Sol!", schnurrte ihm ein Chor dissonant entgegen, aber Isolder war nicht in Stimmung, Nachsicht zu üben. "Sucht ihr was Bestimmtes?" Sein Tonfall indizierte, dass außer "das Weite" hier nichts im Angebot stand. "Wir schauen uns bloß mal um", säuselte LaVerne, die Wortführerin, blendete ihn förmlich mit dem Regenbogenspektrum ihres Lidschattens. "Und guck dir an, was wir hier finden: ne Tunte! Eine Fummeltrine!" "Ich sehe hier gleich drei Fummeltrinen", fauchte Isolder giftig. "Sonst noch was?!" "Was geht denn mit dir ab?" LaVerne stellte das Zwitschern ein, kopierte unwillkürlich Isolders herausfordernde Haltung. "Stehst du jetzt auf Transen?! Mach mich bloß nicht an, klar?!" "Würde mir im Traum nicht einfallen", konterte Isolder bissig. "Die Woche damals reicht für ein lebenslanges Trauma. Und jetzt zieht Leine." "Markier hier nich den Boss, du Sackgesicht!" Sie pirouettierte und riss mit ausgestrecktem Arm eine ganze Reihe DVD-Hüllen aus dem Regal. "Das reicht", stellte Isolder fest, packte sie am anderen Arm, verdrehte ihn ihr auf den Rücken und ignorierte ihre kreischenden Proteste, dirigierte sie zur Tür. Dort stieß er sie heftig von sich, sodass sie gegen eine Laterne taumelte. "Noch so ein dämlicher Scherz von dir", er fegte blitzartig heran, die Hände auf dem Rücken gefaltet, allein durch seine körperliche Präsenz aber einschüchternd, "und mir fällt ein, was dein Alter so treibt. Und mit wem du dich triffst." Sie fauchte wortlos, ein heftiges Atemeinziehen, als wolle sie ihn anspucken, doch Isolder war schneller, presste mit einer Hand ihre Kiefer zusammen. "Das würde ich an deiner Stelle unterlassen", flüsterte er zornig, "ich weiß nämlich, wo du wohnst. Und noch einige andere Dinge. Halt dich von ihm und mir fern, verstanden?" LaVerne funkelte ihn an, nun bereit, ihre Krallen zu erproben, doch noch schneller lag Isolders Hand an ihrer Kehle. "Tu das nicht", wisperte er eisig, "du weißt, dass ich zurückschlage. Fordere mich nicht heraus." Dann trat er zurück, wischte sich demonstrativ die Handfläche am Hosenbein ab. "Arschloch!", brüllte LaVerne schrill, trat dann mit ihren beiden Freundinnen den Rückzug an, von rüden Gesten in Isolders Richtung illustriert. Der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, obwohl sein Herz raste, sein Puls wie irrsinnig trommelte. Er machte schließlich kehrt, betrat die Videothek wieder, gesellte sich zu Llywelyn, der die Auseinandersetzung scheinbar unbeeindruckt verfolgt hatte. "Tut mir leid", entschuldigte sich Isolder. "Manchmal ist der Umsatz an Bekloppten höher als im Durchschnitt." "...ich verstehe", antwortete Llywelyn ihm bedächtig, betrachtete dann die DVD-Hülle nachdenklich. "Nimm sie!", bat Isolder leise. "Wirklich, es ist ein sehr lustiger Film. Und vergiss die blöden Tussis, ja? Du siehst wirklich gut aus!" Das meinte er ernst, auch wenn Llywelyns heutige Aufmachung in gewisser Weise gewöhnungsbedürftig war. Doch der schwarze Schlapphut mit vorn hochgesteckter, breiter Krempe, der lange, rosafarbene Tuchschal über der violetten, hüftlangen Strickjacke mit breitem Gürtel und die veilchenblauen Kniehosen zu violetten Kniestrümpfen, von lilafarbenen Handschuhen ergänzt boten ein unglaublich exzentrisches Farbenspiel. Das nur wenige Menschen tragen konnten, ohne lächerlich bleich oder rotgesichtig zu wirken. Llywelyn mit der milchweißen Haut und den weiß-goldenen Strähnen strahlte eine ätherische Schönheit aus, die einen beeindruckenden Gegensatz zu den starken Farben seiner Bekleidung bildete. "Danke schön", antwortete er ruhig ob des Kompliments, studierte Isolder aber ernst. Der fühlte sich zu einer Rechtfertigung genötigt, je länger die silbergrauen Augen auf ihm lagen. "Ich bin nicht immer so. Aber sie verstehen es nicht, wenn man es bloß im Guten versucht", bemühte er sich um eine Erklärung seines rüden Verhaltens, "das legen sie als Schwäche aus." Nicht ganz zu unrecht vermutete Isolder, dass Llywelyn mit dem Austausch von Handgreiflichkeiten nicht vertraut war und deshalb durchaus schockiert sein musste. "...ich verstehe", beschied ihm Llywelyn, wandte sich dann Richtung Tresen. »Na toll, die Unterhaltung ist wohl für heute beendet!«, registrierte Isolder enttäuscht. Doch er wusste sehr gut, dass er ebenfalls einen Anteil daran hatte. Was nicht hieß, dass er bereit war, einfach aufzustecken. "Kommst du morgen wieder? Du kannst mich auch einfach besuchen, für ein Schwätzchen unter Freunden!", lächelte er Llywelyn lockend zu, während er die DVD-Hülle mit Inhalt füllte. Der zögerte, bot Isolder den Anblick der kleinen Falte. "Ich weiß es nicht", antwortete er ihm schließlich. "Manchmal...kommt etwas dazwischen." »Ja, das kenne ich zur Genüge!« Isolder ermahnte sich, jetzt bloß keine schmollende Fratze zu ziehen. "Na, ich hoffe, du kannst es einrichten!", versetzte er in jovialem Tonfall. "Ich freue mich, wenn du vorbeikommst." Llywelyn verstaute die DVD in seinem Rucksack, betrachtete Isolder dann prüfend. "Warum?" "Warum was?" Isolder verlor den Faden. "Warum freust du dich?" Llywelyn klang nicht schnippisch oder spöttisch. Nein, das war wieder so eine Frage, die Isolder das Gefühl gab, es mit einem Außerirdischen zu tun zu haben. Jemandem, der die zwischenmenschliche Dynamik nicht verstand. Wie ein Forscher beobachtete, um zu begreifen, was sich da unsichtbar abspielte. "Ich freue mich, weil ich dich gern ansehe. Ich höre dir gern zu und erfahre gern neue Dinge über dich", erklärte er deshalb geduldig. Llywelyn runzelte die Stirn. "Wirklich? Aber wenn es nichts Neues mehr gibt?" Nun war es an Isolder zu zögern. "Nichts Neues? Aber es gibt immer etwas Neues. Wir können uns darüber unterhalten, was wir unternehmen, wenn wir nicht zusammen sind. Oder was wir gern noch tun würden", schlug er eilig vor. Langsam schwante ihm, dass eine 'richtige' Unterhaltung mit Llywelyn vielleicht gar nicht so einfach sein würde. Zumindest hätte sie ein anderes Niveau als der alltägliche Austausch von kurzweiligen Nichtigkeiten. "Würde dich das nicht langweilen?" Genau wie ein Forscher konnte Llywelyn nicht von diesem Rätsel lassen, das sich noch nicht aufgelöst hatte. "Und wäre jeder verpflichtet, dem anderen alles zu erzählen?" "Meine Güte!", platzte Isolder heraus, "ich wollte gar keine philosophische Diskussion führen!" Bevor Llywelyn seine Äußerung aber als Abfuhr missverstehen konnte, ergänzte er hastig, "und nein, es würde mich nicht langweilen, wenn du mir etwas erzählst. Was du mir erzählen magst. Jeder hat schließlich ein Recht auf ein paar Geheimnisse." "Ja, das denke ich auch!", pflichtete Llywelyn ihm ungewohnt energisch und spontan bei. Dann schien er sich wieder auf seine zurückgezogene Rolle zu besinnen und wich von Isolder zurück. "Ich werde pünktlich erwartet. Auf Wiedersehen." "Ja, komm gut heim!", wünschte Isolder, winkte ihm nach und blickte versonnen auf den Monitor, der ihm zeigte, wie Llywelyn geübt Clogs gegen Inliner tauschte. »Was für Geheimnisse hast du denn? Und wieso machst du dir so viele Gedanken?« In ausgesprochen nachdenklicher Stimmung verließ er den Tresen, um die herunter geworfenen DVD-Hüllen wieder einzuordnen und den Aufsteller endlich fertig zu bestücken. Konnte es sein, dass Llywelyn fürchtete, für ihn langweilig zu werden? Dass er hochgesteckte Erwartungen enttäuschte? »Was für Erwartungen habe ich eigentlich?« *~*8*~* Am nächsten Tag zeigte sich, dass Isolders Hoffnungen sich nicht erfüllten. Llywelyn erschien nicht, dafür versuchte Jermaine mal wieder vergeblich, sich einen Pornofilm für lau auszuleihen. Außerdem benötigte er Geld, doch Isolder wies ihn kühl ab. Morgen musste schließlich der Großeinkauf abgewickelt werden, das würde schon schwierig genug! Ärgerlich grunzend verabschiedete sich Jem, und Isolder WUSSTE, dass sein älterer Halbbruder ihm morgen nicht helfen würde. Eine kindische Trotzhaltung. *~*8*~* Samstags hatte Isolder immer einen besonders anstrengenden Tag, auch wenn er nicht die Schule besuchte. Morgens hieß es, für die Woche einzukaufen. Das bedeutete ein planmäßiges Vorgehen mit langem Notizzettel und abgesteckter Route, um kein Sonderangebot auszulassen. Isolder trainierte, ohne sich dessen bewusst zu sein, sein Gedächtnis damit, sich für alle Produkte ihres täglichen Bedarfs die Preise einzuprägen, um vergleichen zu können. Außerdem musste er darauf achten, dass genug Medikamente vorhanden waren, dazu Hygieneartikel und für seinen älteren Bruder ausreichend Kondome. Um 'Unfälle' zu verhindern, die in "ihrer Gegend" nur zu häufig vorkamen. Wenn er mit Hardy dann die "Beute" nach Hause geschleppt hatte, musste ein Mittagessen zubereitet werden. Dann räumte er normalerweise auf, kümmerte sich um die Wäsche und flitzte anschließend zur beinahe täglichen Schicht in der Videothek. Manchmal hatte er aber auch Glück, und Herr Fronauer schickte ihm eine Nachricht, dann half er für einige Stunden im Getränkegroßmarkt aus, spülte Kästen ab, arrangierte die Stapel, damit die Fahrer sie rasch einladen konnten, rollte Fässer und kümmerte sich um die Pfandflaschen, die zum Recycling mussten. Eine körperlich anstrengende, schmutzige Arbeit, aber er war froh, sie gefunden zu haben, denn sie bedeutete ein finanzielles Zubrot und gleichzeitig auch eine Gelegenheit, seine Muskeln zu trainieren, sich einmal richtig auszutoben. Für heute allerdings sah es nicht nach einem Anruf von Herrn Fronauer aus. Aber Isolder war dennoch gut gelaunt, denn vom Martinstag waren Reste übrig, die man zu herabgesetzten Preisen erwerben konnte. Er selbst hatte Mühe, deftige Gerichte richtig zuzubereiten, doch mit etwas Unterstützung würde er schon etwas Leckeres daraus machen können. Vielleicht könnte seine Mutter ihm assistieren? Hardy beklagte sich wie üblich über das Gewicht der Tüten und Taschen. Außerdem war es ihm peinlich, dass sie vollgepackt wie die Esel durch die Gegend laufen mussten, während andere lässig mit dem Auto vorfuhren, so viel Cola und Wasser kaufen konnten, wie sie lustig waren! Isolder entgegnete ihm knapp, "tja, das kommt eben davon, wenn man seinen Job nicht macht und keinen anderen mehr bekommt. Dann gibt es nur Kranenberger. Denk mal darüber nach." Daraufhin schwieg Hardy eingeschnappt. Isolder kümmerte sich nicht darum. In Gedanken stellte er schon die neuen Einträge im Haushaltsbuch auf und kalkulierte, wie viel Geld sie wohl für den Dezember zur Verfügung haben würden. Ob es noch zu Süßigkeiten, einer kleinen Bescherung reichen würde. Er seufzte. "Hardy!", wandte er sich seinem jüngeren Bruder zu, "es wäre eine gute Idee, wenn du schon mal einen Brief an den Weihnachtsmann aufsetzen würdest." "Weihnachtsmann? Scheiße, spinnst du?" Hardy blieb vor Empörung stehen. "Nicht den!", korrigierte Isolder grimmig, "du weißt schon, die Aktion von der städtischen Fürsorge. Für ein kleines Weihnachtsgeschenk." Hardy schnaubte abfällig. "Ich bin doch kein Kind mehr! Die Almosen will ich nicht." "Wie du meinst." Isolder zuckte gleichmütig mit den Schultern. "Aber beschwere dich nicht hinterher, dass ich dich nicht gefragt hätte." "Hrmpf!", kopierte Hardy die übliche Reaktion seines ältesten Halbbruders ärgerlich. Aber sein Gesicht verriet Isolder doch, dass Hardy nachdachte, ob sein Stolz wirklich groß genug war, um auf ein Weihnachtsgeschenk zu verzichten. Isolder lächelte nachsichtig. Irgendwie würde er schon etwas arrangieren können. *~*8*~* Es herrschte erstaunlich viel Betrieb, vielleicht, weil das Wetter so schlecht war. Nass, kalt und neblig. Wer wollte da nicht den Tag im Bett verbringen oder sich von der Glotze warmhalten lassen? Isolder hatte alle Hände voll zu tun: einräumen, aus den Regalen holen, zusammenstellen, Vorbestellungen aushändigen, kassieren, aufräumen, beraten. Er kam sich vor wie ein Kolibri, der zwischen verschiedenen Blüten hin und her flirrte. So hätte er Llywelyn auch gar nicht bemerkt, wenn er nicht das etwas vernehmlichere Gemurmel der anderen Kundschaft registriert hätte. Er blickte auf und lächelte hocherfreut, plötzlich entspannt. Llywelyn bewies erneut, dass er sich phantasievoll zu bekleiden bestand: ein nachtblaues Fledermauscape zu einer golden bestickten Weste über einem royalblauen Hemd, begleitet von wadenlangen, schmal geschnittenen Hosen in der gleichen Farbgebung. Ein gewaltiges, schwarzes Tuch verdeckte die Hälfte seines Gesichts, und unter dem Zylinder trug er ein dunkelblaues Piratentuch, um seine Haare zu verbergen. Es war ein opernreifer Aufzug! Der Auftritt selbst war lautlos und zurückhaltend. Isolder bestaunte ihn verzückt und fand, dass der Begriff 'hinreißend' niemals bessere Verwendung gefunden hatte. Ungeduldig bediente er die Kundschaft, bis endlich Llywelyn an der Reihe war. Der hatte den anderen Wartenden den Vortritt gelassen, durchaus eine Geste, die Isolder erfreute, denn das musste ja bedeuten, dass Llywelyn sich mit ihm unterhalten wollte! "Guten Abend!", begrüßte er ihn überschwänglich. "Du siehst umwerfend aus! Und der Zylinder, wirklich, das passt alles perfekt!" "Guten Abend." Die silbergrauen Augen wirkten jedoch gar nicht fröhlich oder aufmerksam, sondern seltsam galvanisiert. "Ich möchte bitte den Film zurückgeben." "Hat er dir gefallen?" Isolder suchte nach Hinweisen, was mit Llywelyn nicht stimmte. Wie er ihm entlocken konnte, wo der Schuh drückte. "...ich konnte ihn nicht ansehen." Llywelyn hielt den Kopf gesenkt. "Wieso nicht?!", platzte Isolder heraus, bevor er sich selbst die Zügel anlegen konnte. Llywelyn starrte auf den Tresen, blieb ihm die Antwort schuldig. "Ist die DVD kaputt?" Isolder ließ nicht locker. "Das musst du mir sagen. Sonst kann ich sie nicht ersetzen." "...ich habe sie nicht eingelegt." Llywelyns Stimme klang leise, aber beherrscht. Er schob die Hand in die Tasche des Fledermauscapes. "Ich möchte bitte einen dieser Filme ausleihen." Stirnrunzelnd nahm Isolder die Notiz entgegen, musterte Llywelyn, der noch immer auf den Tresen starrte. Ballte sich da die Linke nicht um den Rucksackträger und die Inliner? Er überflog die Liste, konnte kaum ein Schnauben unterdrücken. So eine Liste erhielt er meistens von Schulen, die eine Empfehlung für den Unterricht nutzten. Zum Vergnügen sah man sich diese Streifen bestimmt nicht an. Isolder überprüfte das Vorhandensein jedes Titels, schüttelte dann den Kopf und schob den Zettel genau auf die Mitte des Tresens. "Tut mir leid." Was nicht der Wahrheit entsprach. "Aber keiner der Titel ist im Augenblick verfügbar. Möchtest du sie reservieren lassen?" "Nein!" Llywelyn sah kurz auf, in den silbergrauen Augen blitzte etwas, das Isolder verwirrt als Befriedigung klassifizierte. Dann verhüllte sich Llywelyns Ausdruck wieder mit einer undurchdringlichen Maske. "Nein, danke schön. Das wird nicht nötig sein", ergänzte er höflich und wollte den Zettel wieder an sich nehmen. Isolder, der diese Geste erwartet hatte, schnellte vor und nahm Llywelyns Rechte in seine Hand. "He, was ist los? Für wen wolltest du diese Filme ausleihen, hm?" "...bitte lass mich los." Llywelyn klang nun nervös, wirkte angespannt. "Dann antworte bitte auf meine Frage." Isolder gab nicht nach. "Waren die Filme für deine Eltern bestimmt?" "...ja." Llywelyn versuchte, ihm seine Hand zu entwinden. "In Ordnung." Isolder gab ihn enttäuscht frei. "Kann ich dir denn etwas Anderes empfehlen?" "Nein, danke!" Llywelyn trat einen Schritt zurück. "Auf Wiedersehen." "Warte!" Ohne darüber nachzudenken hechtete Isolder über den Tresen, erwischte Llywelyn am Cape. "Bitte warte doch! Wenn du Stress hast, kannst du es mir erzählen! Wir sind doch Freunde! Ich helfe dir!", versicherte er eilfertig. Llywelyn verharrte, warf ihm dann einen Blick über die Schulter zu. "...du willst mir helfen?" "Na klar! Dafür sind Freunde doch da!", beteuerte Isolder im Brustton der Überzeugung, betete, dass sich jetzt bloß keine Kundschaft in die Videothek verirrte. "Komm, gib dir einen Ruck!" Er gab Llywelyns Cape frei, baute sich vor ihm auf. "Du kannst mir vertrauen. Ich helfe dir gern." Das schien die gewünschte Wirkung zu entfalten, denn Llywelyn sah Isolder unverwandt ins Gesicht. Erwog offenkundig gründlich, wie er das Angebot aufzufassen hatte. "...nein", entschied er dann kaum hörbar. "Nein, es geht nicht. Ich werde dich nicht ausnutzen. Bitte lass mich jetzt vorbei." "Wir sind Freunde!" Isolder versperrte ihm den Weg. "Da kann man sich nicht ausnutzen! Gib mir eine Chance, bitte!" Llywelyn studierte ihn einen Augenblick, dann wandte er sich um, in der Absicht, durch einen anderen Gang zur Tür zu gelangen, Isolder einfach zu umgehen. Der ballte die Fäuste, wütend, empört und gekränkt darüber, dass Llywelyn ihm einfach keine Möglichkeit gab, sich ihm zu beweisen. In just in diesem kritischen Moment marschierten weitere nasse Kundschaft hinein. Isolder hatte die Wahl: Llywelyn nachlaufen und eine Szene riskieren oder dessen Urteil zähneknirschend zu akzeptieren. Seine Kiefer malmten so stark, dass er zum Ladenschluss im Genick stechende Schmerzen hatte. *~*8*~* Llywelyn verließ die Videothek mit einem beschämenden Triumphgefühl. Er WOLLTE, ganz gleich wie ungezogen und undankbar diese Einstellung war, nicht mit seinen Eltern einen "lehrreichen" Filmabend verbringen. Er wollte auch nicht lügen. Doch die Vorstellung, sich mit ihnen zusammen die von Isolder empfohlene Kriminalkomödie anzusehen, hatte ihn derart aufgebracht, dass er fälschlich behauptet hatte, sie schon zu kennen. Wenigstens bestand nun die Möglichkeit, dass er den Abend in Ruhe mit sich allein verbringen konnte. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt aufgestellt. Seine Eltern kramten zahlreiche Gesellschaftsspiele hervor und verkündeten, sich ganz prächtig mit ihm amüsieren zu wollen. Llywelyn, der für Spiele grundsätzlich nicht viel übrig hatte und sich nicht lange für das Geschehen auf dem Brett interessierte, war gezwungen, bis Mitternacht zu würfeln, zu knobeln, irgendwelche Figuren zu bewegen. Er kümmerte sich nicht um Sieg oder Niederlage, geriet nicht in Euphorie oder Wut, bewies keinerlei Ehrgeiz oder Konkurrenzdenken. Nein, Llywelyn fühlte sich ohnmächtig ausgeliefert einem Schicksal, das jede kleine Aufsässigkeit unbarmherzig bestrafte. Wie viel schlimmer würde es noch kommen? *~*8*~* Kapitel 7 - Verliebt in einen Außerirdischen Isolder war sich bewusst, dass etwas nicht stimmte. Mit ihm. Warum war er bloß so furchtbar aus der Haut gefahren? Schließlich beklagte sich seine Mutter immer mal wieder darüber, dass Jem einfach verschwand und nicht mal beim Frühstück auftauchte. Oder jammerte darüber, dass ihr letzter Freund sie so schnöde verlassen hatte, obwohl der doch immer so gut zu ihnen gewesen war. Und Hardy wiederholte oft genug den Blödsinn, den ihm seine Freunde einflüsterten. Von wegen Stress mit LaVerne wegen des bescheuerten Goths, der eine Transe war! Die auch noch im Kinderclub schwachsinnige Storys erzählte! »Ich habe einfach rot gesehen.« Und nicht nur das. Er war vom Sofa aufgesprungen, wo sie an dem alten Couchtisch frühstückten, weil die Küche viel zu klein war, hatte alles herausgebrüllt, das er sonst runterschluckte, selbstsicher überging. Dass Jem ein egoistischer, fauler Idiot war, der sich einen feuchten Dreck um seine Familie kümmerte. Dass ihr letzter 'Freund' ein sadistisches Arschloch war, das nur bekommen hatte, was es sich reichlich verdient hatte. Dass LaVerne eine dämliche Kuh war, der er gewaltig in den Hintern treten würde, wenn sie noch EIN WORT über Llywelyn verlor. Dann war er zur Tür gestürmt, hatte seine Jacke vom Haken gerissen, den Rucksack aufgelesen und die Treppe gewählt. Vom 12. Stock ging es zahlreiche Stufen hinunter, aber Isolder brauchte diese Bewegung. Und wenn ihm unten die Knie weich wie Pudding waren, so hielt ihn das nicht auf. Er musste weg hier, an einen Ort, wo er sich wieder fassen konnte. Bevor er noch mehr Schaden anrichtete. *~*8*~* "Du bist viel zu verkrampft." Herr Yilderim klopfte Isolder auf die nasse Schulter. "Mach eine Pause." Isolder gehorchte, verneigte sich wie vorgeschrieben vor seinem Meister, verließ die Trainingshalle, um im Nebenraum den Kopf unter den Wasserhahn zu halten. Wenn er sonst trainierte, spürte er, wie sich ein bestimmter Tunnelblick einstellte, eine beruhigende, tiefe Konzentration auf sich selbst, damit er sich vollkommen kontrollieren konnte, präzise bewegen, Gefühl und Beherrschung bis zur äußersten Spitze. Alles um ihn herum verlor die Tiefenschärfe, bildete eine unwesentliche Kulisse, getrennt durch eine unsichtbare Blase der inneren Stille, die ihn umgab. Heute allerdings spürte er, wie Sand im Getriebe knirschte. Wie die Übungen, die er absolvierte, stockten, holperten, jede geschmeidige Leichtigkeit vermissen ließen. Herr Yilderim reichte ihm ein Handtuch. "Komm, Sol, setzen wir uns und reden." Isolder nickte, bedankte sich leise, denn ohne die freigiebige Gastfreundschaft von Herrn Yilderim hätte er nicht hier sein können, in dessen Dojo trainieren, barfuß, in Unterhosen, weil er ohne Trainingsbekleidung hinausgestürmt war. Auch wenn man einem sehr guten Schüler einige Privilegien gestattete, wusste Isolder doch, dass er großes Glück hatte. Herr Yilderim hatte ihm nicht nachgetragen, dass er nicht mehr zum Training kam, weil er einfach den erforderlichen Beitrag nicht mehr aufbringen konnte. Er durfte weiter sonntags, für ein oder zwei Stunden vor dem Mittagessen, mit ihm trainieren. Herr Yilderim schenkte Tee aus, der ein wenig bitter schmeckte, aber die durch den Schweiß verlorenen Mineralien ersetzte. "Ich sehe, dass dich etwas stark beschäftigt. Deshalb bist du nicht konzentriert und hast keine Ruhe im Herzen." Der sehnige Meister schlürfte den heißen Tee. "Ja." Gab Isolder ohne Umschweife zu. "Ich bin wütend. Auf den ganzen Stress.." Er atmete tief durch. "Und auf mich selbst. Ich habe die Beherrschung verloren." "Das kommt vor." Sein Meister blickte unverwandt hinaus auf einen neblig-trüben Tag, der jede Sonne vermissen ließ. "Ich sollte besser gründlich darüber nachdenken." Isolder kannte die Antworten schon, ohne die Fragen noch stellen zu müssen. Immerhin war es Herr Yilderim gewesen, der ihm einen Weg gewiesen hatte, mit der enormen, aufgestauten Wut umzugehen. "Warum bleibst du nicht zum Essen?" Herr Yilderim setzte seine Tasse ab. "Danke schön." Isolder lächelte. "Aber es ist wohl besser, wenn ich mich gleich entschuldige." Und dann wollte er einen langen Spaziergang machen, um den Kopf freizubekommen. *~*8*~* »Das kann nicht wahr sein!« Aber es gab kein Leugnen: er stand vor dem Haus, in dem Llywelyn wohnte, starrte hoch zu dem Erker, wo durchaus ein außergewöhnlicher Exot auf einer Fensterbank sitzen und müßig auf die Straße schauen konnte. Doch die Rollos waren heruntergezogen, obwohl es erst auf den späten Nachmittag zuging, sodass man keinen Blick auf einen eventuellen Bewohner werfen konnte. »Verdammt, ich benehme mich ja wie ein liebeskranker Voyeur!«, staunte er über sich selbst. Natürlich hatte er sich Llywelyns Adresse gemerkt, weil man ja doch gern wusste, auf welcher Seite der Demarkationslinie man eingeordnet wurde. Wenn er spazieren ging, um nachzudenken, dann tat er das lieber im vornehmen Viertel, denn da war weniger Betrieb und er stieß nicht ständig auf Bekannte, die darauf warteten, dass irgendwas 'ging'. Wenn man sich allerdings seit einer Viertelstunde auf der anderen Straßenseite trotz Nebelnässe die Beine in den Bauch stand, dann musste es einem zu denken geben, oder nicht? Isolder bemerkte, dass er sich bisher noch nie so stark um eine Freundschaft bemühen musste. Meistens kamen die anderen zu ihm, und entweder war man sich sympathisch oder eben nicht. »Andererseits hattest du noch nie einen Freund aus diesem Viertel!«, rief er sich ins Gedächtnis, denn die Jugendlichen, die hier wohnten, gingen nicht auf die Gesamtschule. Er wischte sich Kondenswasser von der Stirn. Konnte es wirklich wahr sein, dass er sich in Llywelyn verliebt hatte? »Wie wahrscheinlich ist das denn!?«, hielt er sich selbst vor. Freundinnen hatte er schon mal gehabt, aber das war einige Zeit her und konnte wohl kaum als Beziehung eingestuft werden. Was hatte ihn damals angetrieben? Tja, Neugierde, das Vergnügen, sich mit einer 'Trophäe' zu schmücken, das Gefühl, ganz beiläufig etwas Aufregendes zu tun. Die Aufregung darüber, das 'Tier mit den zwei Rücken' zu geben, wie es mittelalterlich so kurios bezeichnet wurde, hatte sich bald gelegt. Er hatte einfach keine Zeit, sich um die kapriziösen Anliegen seiner Freundinnen zu kümmern, die wie Prinzessinnen behandelt werden wollten, während er für seine Familie sorgen musste. So wichtig war ihm die amouröse Verbindung nie. Er ging einfach davon aus, dass sie sich ohnehin in kürzester Zeit wieder trennen würden. Eben eine Spielerei, eine Lernerfahrung, eine Fingerübung. Wobei natürlich mehr als ein Finger beteiligt war. »Aber das kann man doch nicht mit Llywelyn vergleichen!«, hielt er sich selbst vor. Er wollte sich mit ihm unterhalten, einfach dessen Gesellschaft genießen. Ihm vielleicht ein Lächeln entlocken... »...und...« Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. »Du würdest ihn gern küssen. Nachschauen, ob er überall goldene Haare hat. Herausfinden, ob seine Haut wirklich so weich ist, wie es den Anschein hat...« "Stopp!", wisperte er leise, um seinen Phantasien Einhalt zu gebieten. Llywelyn war doch kein Objekt, keine billige Zerstreuung, das ihn für kurze Zeit faszinierte, bevor er es vergaß, weil es seinen Glanz eingebüßt hatte! »Aber du bist verliebt genug, um dir jede Menge Ärger seinetwegen einzuhandeln«, erkannte er überrascht. Verblüfft blickte er zu dem Erker hoch. Hatte er sich wirklich in Llywelyn verliebt, ohne es überhaupt richtig zu bemerken? *~*8*~* Ungerechtigkeit. Schikane. Willkür. Tyrannei. Llywelyn fand genug Begriffe, die sein Empfinden in Worte gossen, aber er konnte die Wut, die Enttäuschung über den beiläufigen Verrat, über die Gedankenlosigkeit, mit der sein Leben und seine Wünsche negiert wurden, nicht aussprechen. Geschweige denn herausschreien. Nichts blieb ihm als ein Körper wie Stein, als geballte Fäuste, ineinander verkrallte Finger. Wie Säure zerfraß es ihn, wie ein Virus befiel es sein Selbstverständnis, legte sich wie Mehltau auf seine Seele. Noch wollte er nicht kampflos untergehen, bemühte sich, guten Willen zu zeigen. Er blieb höflich, formulierte Artigkeiten, hörte aufmerksam zu, nahm sich zurück bis zur Unsichtbarkeit. Es war jedoch nie genug, nicht wahr? Und es half ihm auch nicht zu verstehen. Er war ein Fremder in einer Welt, die nach unverständlichen Regeln funktionierte, ging man weg von physikalischen Gesetzen. Nichts war verlässlich, für die Ewigkeiten geschaffen. Nur eine Gaukelei der Eitelkeiten, ein Possenspiel ohne Publikum, als Selbstzweck inszeniert. Was sollte er anfangen mit den Kindern der Bekannten seiner Eltern? Wenn sie von ihren Interessen sprachen, untermalt durch die aufdringlichen Formate eines Musiksenders im Fernsehen, sah er sich Böhmischen Dörfern gegenüber. Wovon war die Rede? Wer waren diese Leute? Warum war es wichtig, was sie taten? Orientierungslos lauschte er dem Klatsch über VIPs, wurde über Mode belehrt, zu seiner Meinung über dieses und jenes interviewt, ohne die geringste Kenntnis darüber zu verfügen. Llywelyn wusste, dass er die beiden nahezu gleichaltrigen Mädchen langweilte. Für sie war er ein Unikum, ein komischer Kauz, mit dem man sich nur widerwillig auf Druck der Eltern befasste. DAS verband sie, er konnte diese Emotion nur zu gut nachfühlen. Es verhielt sich nicht dergestalt, dass er die beiden Mädchen ablehnte, sie unsympathisch fand, nein! Er hatte bloß kein Interesse an ihnen und ihrem Leben. Die Erde war groß genug, dass man ohne Reibungsverluste aneinander vorbeikam. Aber nun war er hier, seines Sonntags beraubt, konnte sich nicht in die neuen Lektürehäppchen aus dem Netz vertiefen, sondern seine Lebenszeit wurde fahrlässig durch die Willkür seiner Eltern verschwendet. Indem er hier herumsitzen und sich ennuyieren lassen musste! Für einen winzigen Augenblick fragte er sich, ob er dieses Martyrium hätte abwenden können, wenn er kaltschnäuzig die unerklärliche Freundlichkeit Isolders ausgenutzt hätte. Doch rasch erteilte er sich selbst eine Absage. SO tief war er nicht gesunken. Außerdem hätte ihn dessen Existenz wohl kaum vor der Einladung zu einem "geselligen Beisammensein" bewahrt. Llywelyn starrte auf einen Punkt ins Leere, bildete die kleine Falte zwischen den goldenen Augenbrauen. Wie weit sollte er ihnen noch entgegenkommen? Wann wäre endlich die Grenze erreicht? *~*8*~* Eine Woche war eine lange Zeit. Zumindest dann, wenn man sich im Ungewissen über eine Freundschaft befand. In Zweifel gestürzt wurde, ob man nun doch...oder auch nicht...?! Isolder spürte die wachsende Ungeduld wie einen würgenden, drohenden Schatten in seinem Genick. Wenn er Llywelyn nicht traf, nicht sah, dann konnte er sich einreden, dass er bloß neugierig war. Ein Freund sein wollte. Bis zu einem gewissen Grad glaubte er sich selbst. Dann musste er sich allerdings eingestehen, dass er viel zu viel Zeit damit verbrachte, sich um und über Llywelyn Gedanken zu machen. Befürchtungen zu wälzen. Sich Vorwürfe zu machen. Kaum hatte er den festen Entschluss gefasst, Llywelyn zu treffen, sich in die Höhle des Löwen zu wagen, zauderte er wieder. Wenn sein massives Eindringen in dessen Privatsphäre nun den gegenteiligen Effekt auslöste? Wenn Llywelyn ihn anschließend gar nicht mehr beachtete?! Etwas musste geschehen! Unternommen werden! »Wenn meine Angst so groß ist, dass er mich nicht mehr mögen sollte, dann MUSS ich ihn wohl ziemlich gern haben«, versuchte er sich an der eigenen Logik. »Und wenn ich ihn so gern habe, dann kann ich nicht einfach herumsitzen und wie ein Idiot mit mir selbst hadern!« Hieß es nicht so abgedroschen, dass der, der einen Schritt wagte, zwar scheitern konnte, aber der, der gar nicht erst loslief, schon gescheitert war? Ein Generalstabsplan musste her! Hier half ihm seine Erfahrung als Videothekar ungeheuer. *~*8*~* Malefiz sprang elegant von ihrem bequemen Nest auf dem Schaukelstuhl und tigerte graziös zur breiten Fensterbank im Erker. Mit einem Satz erreichte sie die Polsterschichten, ließ sich vor Llywelyn nieder, der dort in seinem übergroßen Wollpullover, die Knie vor den Leib gezogen, mit leerem Blick kauerte. Die Richtung stimmte zwar, doch es war fraglich, ob er den abnehmenden Mond überhaupt registrierte, der zum Fenster hineinblinzelte. Sie studierte den Menschen, mit dem sie das Zimmer teilte und fand, dass er elend aussah. Man konnte das latente Unglück förmlich riechen! Sie erhob sich und stupste auffordernd die verkrampften Finger, die sich ineinander verkrallt hatten, um die Beine einzukesseln. Als das keine Wirkung zeigte, musste sie sogar die Stimme erheben, seine zerstreute Aufmerksamkeit auf sich lenken! Llywelyn schreckte aus seiner Versunkenheit hoch, klappte die Knie herunter und gestattete Malefiz, sich auf seinem Schoß einzurichten. Sie erlaubte ihm ihrerseits großzügig, behutsam über ihr schönes Fell zu streicheln. Das beruhigte ihn ein wenig, obwohl man ihm nicht ansah, wie aufgewühlt er war. Wenn er sich nicht in der Schule aufhielt, dann wurde seine Freizeit gnadenlos verplant. Hausarbeiten, die er freiwillig übernommen hatte, befanden seine Eltern nicht für sonderlich wichtig, dafür aber, dass er beim großen Putz im Gemeindezentrum aushalf. Unbedingt mit seiner Mutter einen Basar für gebrauchte Bekleidung besuchte. Abends mit den Eltern essen ging. Oder zu einem Vortrag der polytechnischen Gesellschaft ausgeführt wurde. Er war nach einer Woche vollkommen erschöpft davon, sich immer anzupassen und seine besten Manieren zu zeigen. Keinen Augenblick für sich allein zu haben. In eine fremde Welt abzutauchen, um sich zu entspannen. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass sie sich verschworen hatten, ihn zu seinem 'Glück' zu zwingen. Er sollte unter Menschen kommen. Bei dem Gedanken zog sich Llywelyns Magen krampfhaft zusammen. Für ihn war es eine Tour de force, ein Gewaltakt. Er wurde in fremden Verpflichtungen eingesperrt, entmündigt und bevormundet. Ohne jede Chance auf Erholung. Nun war ein Punkt erreicht, an dem er beinahe jedem Vorschlag zugestimmt hätte, um der geballten Aufmerksamkeit seiner Eltern zu entfliehen. Wenn er bloß einen Moment ohne Kopfschmerzen fand, um sich auf einen Plan zu besinnen! *~*8*~* Isolder nutzte zwei freie Stunden bis zum Beginn seiner Schicht in der Videothek. Er hatte zwar in der Schule bereits Einiges zusammengetragen und säuberlich notiert, doch die Bibliothek bot nicht alles, das sein bedeutender Plan vorsah, weshalb er sich nun in die öffentliche Leihbücherei begab, um das nachzuschlagen, das ihm noch fehlte. Natürlich hätte er auch zu Hause am späten Abend mit dem Computer im Internet suchen können, doch aus erzieherischen Gründen hatte er den Computer abgebaut und wesentliche Einzelteile in seiner Truhe eingesperrt, damit niemand in Versuchung kam, auf unbekanntem Wege erworbene Spiele zu installieren, um sich vor den Hausaufgaben zu drücken! Isolder, der aus Zeitgründen seine Schulaufgaben grundsätzlich in der Schule erledigte, litt unter seiner Erziehungsmaßnahme nicht. Aber Hardy kam es hart an, vor allem, weil Isolder seinen cleveren Trick durchschaut hatte. In der Leihbücherei war nicht viel Betrieb. Kein Wunder, denn draußen ging ein Schneeregenschauer nieder. Die Flocken zerflossen sofort in schmierigen Modder, von frühwinterlicher Stimmung in der letzten Novemberwoche keine Spur. Isolder konsultierte seine Aufstellung und graste verschiedene Regale ab. Seine Jagd galt Bonmots, tiefsinnigen Aphorismen oder Volksweisheiten. Zu diesem Zweck wollte er beim Meister der intelligenten Gesellschaftskomödie des viktorianischen Zeitalters, bei Oscar Wilde, nachschlagen. Sicherlich gab es eine Zusammenfassung, eine Lernhilfe, die quergelesen etwas Amüsantes oder Nachdenkenswertes anbot! Die vorhandene Ausbeute (über einen Ausweis verfügte Isolder nicht, da er das Geld nicht aufbringen wollte) im Regal erwies sich als ausgesprochen dünn. Gerade, als Isolder das wenig befriedigende Studienheft zurückstellen wollte, um sich direkt mit der Übersetzung des bekanntesten Werks "Das Bildnis des Dorian Gray" zu befassen, bemerkte er enttäuscht, dass ein Hüne mit sandfarbener Mähne ihm zuvorkam. "Entschuldigung?" Isolder lenkte die Aufmerksamkeit auf sich, lächelte höflich in wasserklare, sehr hellblaue Augen. "Wäre es möglich, dass ich kurz in dem Roman etwas nachschlage? Es gibt kein anderes Exemplar, und ich habe keinen Leihausweis." Ein neugieriger, durchaus gelassener Blick wanderte an Isolder hinab, der auf die unvermeidliche Ablehnung wartete, die üblicherweise eintrat, wenn man feststellte, dass er auf die andere Seite der Demarkationslinie gehörte. Und hier nichts zu suchen hatte! "Das ist kein Problem", hörte er den Jugendlichen, den er etwa auf sein eigenes Alter schätzte, mit einer sonoren Stimme antworten. "Warum setzt du dich nicht so lange zu uns? Mein Name ist Gunnar, und da", er gestikulierte zu einem Tisch, wo sich alarmiert ein dunkelhaariger Jugendlicher erhob, "sitzt mein Freund Ernie." "Ich möchte euch nicht stören." Isolder erkannte an Ernies Reaktion, dass der im Gegensatz zu seinem Freund, der verdächtig nach Wikinger aussah, begriffen hatte, woher er kam. Der finstere Blick sprach Bände. "Du störst nicht", versicherte ihm Gunnar freundlich. "Lernst du für ein Schulprojekt?" "Nein, das nicht gerade." Betont gelassen setzte sich Isolder in Bewegung. Wenn Blicke töten konnten, hätte er schon den Industrieteppich beglückt, um dort die letzten Atemzüge zu röcheln. "Ich heiße Sol." Wenigstens wollte er sich neben seiner Herkunft nicht noch unzureichende Manieren nachsagen lassen. Als sie den Tisch erreichten, wo angespannt besagter Freund wartete, ging Isolder sogleich zum Angriff über. Er streckte demonstrativ die Hand aus und verkündete. "Hallo, du bist Ernie, richtig? Freut mich, mein Name ist Sol. Ich gehe auf die Gesamtschule, und Gunnar hier hat mir angeboten, kurz einen Blick in das Buch zu werfen." Beinahe belustigt registrierte er, wie Ernie aus dem Konzept gebracht einen hastigen Blick auf den Hünen abschoss. Dann, widerwillig, seine Hand ergriff und knapp schüttelte. "Hallo. Bitte, setz dich doch." Das ließ Isolder sich nicht zweimal sagen. Außerdem faszinierte ihn die nonverbale Kommunikation zwischen den beiden Jugendlichen. Es war zu verführerisch, um sich NICHT neugierig einzumischen! "Ernie, kommt das von Ernst? Ernest?", lockte er Ernie zu einer Konversation, der damit beschäftigt war, seine Schulunterlagen zusammenzuschieben, um wenigstens eine Demarkationslinie auf dem Tisch einzurichten. "Nein", knurrte der nun ärgerlich, "von Arminius. Und was ist Sol für ein Name?" Sie tauschten einen herausfordernden, feindseligen Blick aus. "Die Abkürzung von Isolder", flötete der betont leutselig, wandte sich dann Gunnar zu. "Lest ihr das Buch im Unterricht?" "Ich tue es", zischte Ernie aka Arminius ihn an. "Dann geht ihr gar nicht in eine Klasse?", stichelte Isolder vorgeblich verwirrt. "Oder sind das Wahlkurse?" Gunnar lächelte friedfertig. "Ein paar Fächer haben wir zusammen. Hier lässt es sich am Besten lernen, ruhig und ungestört." Das konnte Isolder durchaus nachvollziehen. "Ja, übervölkert ist es hier nicht gerade." "Schon erstaunlich, dass du dich hier einfindest!", fauchte ihn der dunkelhaarige Junge bösartig an. "Normalerweise trifft man Gesamtschüler nur als Rudel an!" "Ich bin mein eigenes Rudel", knurrte Isolder angriffslustig zurück. "Richtig erbaulich, wie zuvorkommend und freundlich man hier empfangen wird!" "Warum subtrahierst du dich nicht einfach, wenn du fertig bist?!" Arminius kam nun richtig in Fahrt. "Du störst!" "Was ist dein Problem, hm?!" Auch Isolder konnte seinen Ärger nicht mehr zügeln, legte seinen Tintenstift beiseite, erwiderte das feindselige Funkeln. "Ich würde auch gern verstehen, was hier los ist. Kennt ihr beiden euch?", mischte sich Gunnar ein. "DEN?! Nie im Leben!", protestierten Isolder und Arminius unisono, schnaubten sich ob der Synchronisation ärgerlich an. "Flausch, lass dich bloß nicht einwickeln!" Arminius fasste Gunnar am Arm, beinahe beschwörend. "Sieht doch jeder, dass hier etwas faul ist! Warum kommt der Typ extra hierher?! Hat nicht mal einen Leseausweis! Das ist bestimmt wieder so eine miese Machenschaft von den anderen! Wahrscheinlich liegt sogar das debile Duo irgendwo auf der Lauer!" Isolder, der trotz seiner Wut interessiert gelauscht hatte, notierte sich geistig einige bemerkenswerte Aspekte dieses Ausrufs. "Ich habe keine Ahnung, wer das debile Duo ist oder sind. Und ich würde nicht hierher kommen, wenn ich woanders das Buch hätte einsehen können", verteidigte er sich betont gelassen. "Immerhin brauche ich von hier eine halbe Stunde bis zur Arbeit. Du leidest wohl nicht zufällig an Verfolgungswahn?!" Eigentlich hätte nun der lautstarke Auftritt des Schachtelteufelchens erfolgen müssen, doch Gunnar legte einen kraftvollen Arm um die Hüfte seines Begleiters, staunte Isolder an. "Du arbeitest? Ein Nebenjob?" Verblüfft blinzelnd antwortete Isolder. "Sogar zwei. In der Videothek und im Getränkegroßmarkt." "Ehrlich?! Weißt du zufällig, wo man noch als Schüler arbeiten kann?", hakte der Hüne begehrlich nach, während Arminius ihn am Ohrläppchen zupfte und schimpfte. "Der verarscht dich bloß, Flausch! Hör nicht drauf!" "Warum setzt du dich nicht einfach, hältst einen Moment die Luft an und kühlst dich ab?", säuselte Isolder gehässig, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Der Griff um die Hüften verstärkte sich merklich, verhinderte, dass Arminius über den Tisch nach ihm langen konnte. "Ernie, ich passe schon auf", versicherte Gunnar sanft. "Mach dir keine Sorgen." "Ihr tut gerade so, als hätte ich schon das Besteck in der Tasche und würde mir überlegen, wie ich euch filetiere!", spottete Isolder, verbarg seine Faszination. Die beiden waren garantiert nicht bloß enge Freunde! "Na ja, wir hatten in der letzten Zeit immer mal Ärger", vertraute ihm der Wikinger an, allerdings derart gemütlich, dass man kaum die Aufregung nachvollziehen konnte, die seinen Freund antrieb. "Also, weißt du vielleicht, wo es noch einen Job für Schüler gibt?" Isolder zögerte. "Warum willst du arbeiten? Habt ihr nicht genug zu tun in eurer Schule? Das ist doch der Tempel der Seeligen! Und Reichen." Gunnar grinste, präsentierte ein imponierendes Gebiss. "Tja, da muss ich dich enttäuschen, ich bin nicht reich. Ich suche einen Job, damit wir leichter über die Runden kommen, meine Mutter und ich. Wir sind erst vor kurzer Zeit aus Schweden zurückgewandert." Nun unterzog Isolder ihn einer strengen Musterung. Tatsächlich wirkte Gunnar nicht wie einer, der mit Geld um sich warf. Seine Bekleidung war unspektakulär, ohne Markenname oder modische Extravaganz. Keine teure Armbanduhr, keine exklusiven Turnschuhe, kein Musikabspielgerät, kein nobles Mobiltelefon im Halfter. "Glotz nicht so, als wäre er eine traurige Gestalt!", fauchte Arminius, der unversehens auf einen Oberschenkel zum Sitzen geladen wurde. Definitiv mehr als Freunde! Konstatierte Isolder. "Wenn du mir nicht glaubst, warum sollte ich ihm glauben?" Unverblümt returnierte Isolder den Vorwurf. "Ich glaube dir", erklärte Gunnar gelassen. "Jemand, der sich für Oscar Wilde interessiert, gibt sich nicht mit dem debilen Duo ab." "Muss ich die beiden kennen? Sind die eine lokale Berühmtheit?" Isolder musste seine Neugierde befriedigen. "Berühmtheit? Nein, eher berüchtigt!", knurrte Arminius, ritt noch immer auf dem gastfreundlichen Schenkel. "Die lassen keine Gemeinheit aus, um uns zu tyrannisieren." "Da ich euch gar nicht kenne, habe ich auch kein Interesse daran, euch zu tyrannisieren", stellte Isolder klar. "Und ich glaube dir", er zwinkerte Gunnar herausfordernd zu, "dass du nicht reich bist." Zu seiner freudigen Überraschung lachte der Hüne frei heraus, studierte ihn wohlwollend mit den hellen, wasserklaren Augen. "Nun, da wir einander Glauben schenken", zwinkerte er Isolder zu, "kannst du mir helfen?" Isolder zupfte sich genüsslich am Kinn, kraulte seinen gepflegten Bartschatten. "Ja, warum sollte ich nicht?" Dabei nahm er den cholerischen Paranoiker namens Arminius scharf ins Visier. Der blitzte mit zusammengekniffenen Augen und malmenden Kiefern zurück. DIESEN Ausdruck konnte Isolder mühelos einordnen. »Hände weg und wehe, du versuchst irgendwas!« »Sieh an!«, schmunzelte er. Dann zeichnete sich eine Chance vor seinem inneren Auge ab, die lediglich ergriffen werden musste. "Na schön." Er lehnte sich vor. "Bist du dir für harte körperliche Arbeit, bei der man schmutzig wird und stinkt wie ein Spülstein, zu fein?" Gunnar feixte, die ungewöhnlich hellen Augen jedoch wirkten konzentriert und keinesfalls so naiv-vertrauensselig, wie er ihn glauben machen wollte. "Damit habe ich keine Probleme." "Wie du meinst." Konziliant faltete Isolder die Hände auf dem Tisch, Marke Fernsehprediger. "Herr Fronauer vom Getränkegroßmarkt sucht immer mal wieder Aushilfen. Auf Abruf. Gib mir deine Handynummer, und ich sage ihm Bescheid, dass du dich als Aushilfe vorstellen willst." "In Ordnung." Nach einem prüfenden Moment stimmte ihm Gunnar zu, wollte auf einen Zettel seine Nummer notieren, doch erneut schritt das zornige Teufelchen auf seinem Schoß ein. "Stopp! Vergiss es! Du gibst niemandem, den du nicht kennst, einfach deine Nummer!", verwahrte er sich kategorisch gegen diese Lösung. Isolder erwartete nun eine Auseinandersetzung zwischen den beiden, denn er hätte sich so eine Bevormundung sicher nicht gefallen lassen. Der Wikinger studierte seinen Freund jedoch aufmerksam, abwartend. Arminius fokussierte seine ärgerliche Aufmerksamkeit nun auf Isolder. "Warum geht ihr nicht zusammen zu diesem Herrn Fronauer? Wenn es nicht klappt, ist kein Austausch von Nummern notwendig." "Bist ganz schön argwöhnisch, hm?" Isolder musste wider den Stachel löcken. "Was glaubst du denn, dass ich mit seiner Nummer anstelle?" "Wer weiß?" Arminius lehnte sich über den Tisch, die Fäuste geballt. "Vielleicht stellst du sie ins Netz in einem Porno-Forum?" Die Augenbraue mit dem Piercing lupfend warf Isolder ihm einen skeptischen Blick zu. "Was für eine blühende Phantasie." Dann studierte er die beiden, einer so offen feindselig, der andere scheinbar seelenruhig und gelassen. "Kann's sein, dass das mit DEINER Nummer passiert ist?", schoss er ins Blaue. Um das Schwarze zu treffen, denn auch wenn er keine Bestätigung erhielt, so verriet sich das Blitzen in den großen, braunen Augen von selbst. Und die unwillkürliche Geste, wie sich der Arm enger um den Leib des Paranoikers spannte. »Der möglicherweise gar nicht unter Verfolgungswahn leidet.« Versöhnlich hob Isolder die Hände zu einer Geste der Friedfertigkeit. "Ich habe es vorhin schon gesagt: ich habe nichts gegen euch. Ich bin auch nicht Teil irgendeiner Verschwörung. Also, ich biete dir an, dass wir heute Abend noch zum Getränkegroßmarkt fahren. Ich stelle dich vor, und du kannst selbst mit Herrn Fronauer sprechen." "Klingt gut." Gunnar lächelte zuversichtlich. "Wo treffen wir uns wann?" "Also, ich arbeite bis zehn Uhr in der Videothek." Isolder klappte 'Das Bildnis des Dorian Gray' zu, schob es in die neutrale Zone auf dem Tisch. "Hol mich da ab, und wir ziehen gemeinsam los. Meistens ist der Chef bis 23 Uhr vor Ort, aber so weit haben wir es nicht." "Einverstanden." Unerwartet streckte ihm Gunnar die Hand entgegen. "Vielen Dank für deine Unterstützung." Schmunzelnd schüttelte Isolder die kräftige Rechte. "Und, hat dein Advocatus diaboli nichts anzumerken?" Arminius schnaubte bissig. "Ich würde dir ja den Arsch versohlen, wenn das ein mieser Trick ist, aber du bist größer als ich und vermutlich stärker. Also werde ich mich auf Voodoo-Puppen und Fußpilz verlassen!", verkündete er hoheitsvoll. Isolder konnte nicht anders als prusten. "Da habe ich ja wirklich Glück, dass ich keine 'miesen Tricks' versuche!", grinste er und erhob sich. "War nett, mit euch zu plauschen, ich muss allerdings jetzt los." Gunnar schob Arminius mühelos, aber sanft von seinem Oberschenkel, erhob sich ebenfalls höflich. "Danke für deine Hilfe. Ich werde pünktlich sein." "Davon gehe ich aus." Isolder tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe. "Bis dann!" Und legte einen Zahn zu, denn er wollte sich keinen unnötigen Ärger wegen einer vermeidbaren Verspätung einhandeln. *~*8*~* Arminius trödelte neben Gunnar her, der sein treues Stahlross schob. "Ernie, was ist los?" Gunnar hielt an, studierte seinen Freund nachdenklich. Es kam selten vor, dass er Arminius ungerecht oder von Vorurteilen gelenkt erlebte. Der schnaubte, hob die Arme und ließ sie wieder herunterklatschen, eine Geste wütender Hilflosigkeit. Kickte einen zufällig herumliegenden Kieselstein weg. "Ich glaube nicht, dass er mich hereinlegen will." Gunnar stocherte unerbittlich im Wespennest. "Woher sollte er wissen, dass ich Arbeit suche?" "Ich traue den Vögeln nicht!", platzte es agitiert aus Arminius heraus, der nun mit flammenden Augen in die hellen, wasserklaren Pendants blickte. "Was, wenn die dir zu mehreren auflauern?! Meistens treten die doch gleich im Rudel auf! Und dann?!" Gunnar streckte die freie Hand aus, streichelte über den zerrupften Schopf seines Freundes. "Ernie, ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein werde. Wenn mir etwas merkwürdig vorkommt, bin ich weg wie nix!", schwor er feierlich. Vor ihm kaute Arminius malmend auf etwas Unsichtbarem. Bevor er düster murmelte, "du kennst diese Typen nicht. Die haben keinen Anstand, keine Schamgrenze. Und WIR sind gerade die Beute, die man fertigmachen kann, ohne dass man sich rechtfertigen muss." Seine Stimme klang so verbittert, dass Gunnar sein gewohnt joviales Lächeln absetzte. Für eine lange Weile war nichts weiter zu hören als das dumpfe Dröhnen des Verkehrs und das gelegentliche Tropfen von kondensierendem Nebel auf die spärlichen Laubreste. "Ernie, bitte sei mir nicht böse, aber", Gunnar spannte sich einen Moment an, "ich brauche Arbeit. Es geht nicht anders." "Das WEISS ich!", explodierte Arminius ungewohnt hitzig, trotzig wie ein Kind. "Ich hab's kapiert! Aber du glaubst doch nicht, dass das heute Zufall war?!" "Genau!", bemerkte Gunnar ironisch. "Warum sollte ein Typ aus der Proletenburg mir helfen? Das ist beinahe so wahrscheinlich, wie ein Playboy-Macho ohne Föhnwelle, der sich in eine Leseratte verliebt." Er konnte an Arminius' betroffenem Gesichtsausdruck ablesen, dass seine bitter-böse Spitze gesessen hatte. Vor allem, weil es sie beide an ihre erste große Auseinandersetzung erinnerte, die heftig genug gewesen war, um jeden Gedanken an eine Freundschaft weit von sich zu weisen. "Fein", wisperte Arminius schließlich tonlos, aschgrau im Gesicht. "Mach, was du willst. Viel Erfolg beim Vorstellungsgespräch." Damit wandte er sich ab, marschierte los. Gunnar bereute seine impulsive Replik bereits, der verfahrenen Situation geschuldet. Es schmeichelte ihm zwar durchaus, welche Sorgen sich Arminius um ihn machte, aber allzu sehr verhätschelt wollte er auch nicht werden. Am Wichtigsten im Moment aber war, dass er sich nicht so von Arminius trennte. Es unmöglich konnte. Nicht im Streit, ohne sich ausgesprochen zu haben! Er fädelte auf seinem schweren Drahtesel ein, trat in die Pedalen. Hatte keine Mühe, Arminius einzuholen, der verkrampft die Träger seines Rucksacks hielt und stur den Blick auf das Trottoir heftete. "Ernie, es tut mir leid. Es war gemein, so etwas zu sagen." Gunnar scheute sich nicht, zuerst die Hand zur Versöhnung auszustrecken. "Iwo", stimmte Arminius bittere Flötentöne an. "Du hast ja recht. Was habe ich mir bloß gedacht?! Tsktsk, als Leseratte sollte ich wohl meine Grenzen besser kennen." Nun bahnte sich eine ernstzunehmende Krise an. Gunnar stellte sein Fahrrad quer, blockierte den Gehweg, damit Arminius nicht weitertraben konnte, weglaufen vor ihm. "Bitte, Ernie, es tut mir ehrlich leid! Ich habe dich sehr lieb, weißt du das denn nicht?" Gunnar bockte seine treue Rosinante auf die Doppelständer auf. "Wenn du es partout nicht willst, werde ich Sol nicht begleiten." "Ha!", lachte Arminius gallig auf, wich Gunnars Blick aus. "Denkst du wirklich, ich würde zustimmen? Ganz egoistisch deine Chance kaputtmachen?!" Die Hände auf Arminius' Oberarmen strengte sich Gunnar an, nicht in Panik zu verfallen bei dem Gedanken, Arminius würde ihn einfach abservieren. "Sag mir doch, was ich tun soll!", bat er eindringlich. "Bitte, Ernie, ich weiß nicht, was du möchtest, dass ich tue!" Arminius starrte auf Gunnars Regenjacke, müde und frustriert über die eigene Ratlosigkeit. Er schmiegte wie gewohnt die Wange eng an Gunnars Brustkorb, als der ihn ungestüm in eine Umarmung zog. Wieso hatte er sich zu diesem vollkommen überflüssigen und absolut fruchtlosen Streit hinreißen lassen? War es nicht absolut kindisch, darüber zu schmollen, dass er seinen Flausch nicht so oft wie möglich um sich haben konnte? Das war nun mal die Realität, da konnte man nicht von Luft und Liebe leben! Trotzdem saß ihm ein quälender Kloß in der Kehle. "...du musst dich unbedingt vorsehen!", murmelte er, drückte Gunnar enger an sich. "Ich will nicht, dass dir was passiert." Nicht mal sein schriller Personenalarm würde Gunnar helfen, wenn so ein Rudel ihn in die Mangel nahm. "Ich verspreche, ich bin vorsichtig!", wiederholte Gunnar beschwörend. "Bitte, Ernie, sei nicht wütend auf mich! Können wir uns nicht vertragen?" Arminius schnaubte leise, auf ganzer Linie geschlagen. "Als ob ich dir lange böse sein könnte!" Zerknirscht und beschämt suchte er Gunnars Blick, der entgegen seiner gewohnten Selbstsicherheit beunruhigt und ängstlich auf ihn heruntersah. "Ruf mich an, wenn du sicher zu Hause bist, ja? Egal, wie spät es ist", verlangte er, stieg auf die Zehenspitzen, um die Nasenspitze an Gunnars zu reiben. "Werde ich!", versprach der Hüne erleichtert, tauchte unter der Nasenspitze hindurch, um Arminius zu küssen. Und noch einmal, sehr viel länger und ausdauernder. Dann musste er kräftig in die Pedalen treten, Arminius auf dem Sozius, um zeitig zu Hause zu sein und seine Mutter in die Nachtschicht zu verabschieden. *~*8*~* Isolder hatte es nicht anders erwartet, obwohl der Funken Hoffnung nicht verglimmen wollte: auch an diesem Tag erschien Llywelyn nicht. »Wenigstens weicht er mir nicht aus!« Das bedeutete ihm durchaus eine Befriedigung, denn wie jeden Tag hatte er sich davon überzeugt, dass keine neue Bewegung auf dem Verleihkonto registriert war. »Hoffentlich geht es ihm gut!« Er erfüllte seine Aufgaben auf Autopilot, geübt durch die lange Erfahrung. Solange das trübe Wetter anhielt, würde der stetige Kundenstrom auch anhalten. Zumindest von "seiner Seite" der Demarkationslinie, denn hier waren weder die schnellen Internetanschlüsse verbreitet, noch gab es einen Briefkasten, in den man Leihfilme ganz problemlos einwerfen und garantiert zurückschicken konnte. Von der Postzustellung in die Kästen der Proletenburg ganz zu schweigen. Isolder kontrollierte die Gänge, leerte noch mal den Einwurfkasten, sortierte falsch eingestellte Hüllen in die korrekten Lücken, sammelte Papierfetzen auf, die sich unerklärlicher Weise jeden Tag einnisteten. Er reduzierte gerade die Beleuchtung, als er ein Geräusch hörte. Es stammte eindeutig vom Eingang und erwies sich als ein ziemlich nasser, aber noch unternehmungslustiger Wikinger. Mit einem wahrhaft gigantischen Fahrrad. "Hej, Sol!", winkte Gunnar aufgeräumt. "Komme ich zu spät?" "Nein, ich mache gerade zu." Isolder schmunzelte. "Wo ist dein Leibwächter?" Gunnar warf ihm einen erschreckend eindringlichen Blick zu, der das joviale Lächeln entschieden konterkarierte. Sehr gedehnt antwortete er. "Ernie wartet auf meinen Anruf, dass ich heil wieder nach Hause gekommen bin." "Oho!" Isolder überprüfte die Riegel, sämtliche Fenster, die elektronischen Systeme, schlüpfte dann aus seinem "Arbeitshemd" und sammelte seine Habseligkeiten ein. "Er traut mir keinen Millimeter, wie? Ist es denn in Ordnung, wenn ich dich artig nach Hause eskortiere? Oder würde mir das als Anschlag auf deine Tugend ausgelegt?" Der Hüne lachte leise, durchaus bedrohlich. "Du nimmst wohl gar kein Blatt vor den Mund, wie?" Isolder feixte breit, immerhin war er nicht viel kleiner als Gunnar geraten. "Etwas so Offenkundiges unerwähnt lassen? Keine Chance!" Um die unterschwellige Spannung verpuffen zu lassen, schlug er Gunnar kumpelhaft leicht auf den Oberarm. "Komm, ziehen wir los. Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest, deshalb habe ich nicht bei Herrn Fronauer angerufen." Gunnar ließ es sich kommentarlos gefallen, kettete seinen Drahtesel frei und marschierte neben Isolder entlang, der sich nicht scheute, im Gehen Rosinante zu studieren. "So ein Geschoss sieht man selten", plauderte er munter dahin, um übergangslos das Thema zu wechseln. "Wie lange seit ihr schon zusammen?" Den "alten Schweden" konnte er allerdings nicht so leicht überrumpeln. "Warum so interessiert?", schnurrte Gunnar guttural. "An wen hast du denn dein Herz verloren?" "Autsch!" Isolder griff sich theatralisch mit beiden Händen auf die linke Brustpartie, verdrehte tragisch die Augen. "Touchee!" Neben ihm grinste Gunnar spitzbübisch, aber nicht weniger wachsam als zuvor. "Na gut." Großzügig gab sich Isolder ertappt. "Was hat mich verraten?" Die hellen, wasserklaren Augen funkelten im nebelgetrübten Licht der Straßenlaternen. "Ernie hat mich gefragt, warum du uns helfen willst. Darüber habe ich nachgedacht." Seine kräftigen Zähne blitzten auf. "Jemand, der sich für Oscar Wilde begeistert und uns so neugierig gemustert hat, ohne angewidert zu sein, MUSS ein ganz bestimmtes Interesse verfolgen. Und das tust du doch, nicht wahr?" "Tja." Isolder zuckte mit den Schultern. "Du hast recht. Du hast ja gesehen, wie dein Freund auf mich reagiert hat, obwohl ich dich bloß höflich um einen kurzen Gefallen gebeten habe. Hätte ich meinen Stolz so hoch gehängt, dann wären wir beide jetzt nicht hier." Gunnar sah sich gefordert, für Arminius eine Bresche zu schlagen. "Ernie hat es nicht so gemeint. Wir hatten bloß eine Menge Ärger, und deshalb macht er sich Sorgen." "Und trotzdem traust du mir so weit?" Isolder löckte gegen den Stachel, denn die Dynamik zwischen den beiden verführte ihn dazu, noch viel mehr erfahren zu wollen. Neben ihm lachte Gunnar wieder leise. "Solange ich nützlich bin, schwebe ich in keiner großen Gefahr", behauptete er unerschrocken. "Hast ja eine schöne Meinung von mir!", brummte Isolder vorgeblich grimmig. "Wirke ich derartig abschreckend? Großer, böser Bursche aus der Proletenburg?" Erstaunlicherweise traf ihn ein nachdenklicher Blick. "Nein, gar nicht. Aber Ernie hat mich gebeten, mich vorzusehen. Und ich will ihm keinen Kummer bereiten." Isolder schwieg einige Meter konzentriert, dann bemerkte er leichthin. "Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du gelegentlich wie ein Buch klingst?" Gunnar schmunzelte wieder, kommentierte diese Äußerung aber nicht. Er hatte Geduld und würde abwarten, bis Isolder ihm selbst verriet, auf wen er ein Auge geworfen hatte. Zunächst war es wichtig, die gebotene Chance zu ergreifen. *~*8*~* Arminius wartete nervös an der Kreuzung, wo sie sich gewöhnlich trafen, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Auch wenn Gunnar ihn wie gebeten telefonisch beruhigt hatte, dass alles glattgegangen war und er sogar auf Beschäftigung beim Getränkegroßmarkt hoffen durfte, wollte er doch lieber die Details von ihm persönlich erfahren. Und sich darüber versichern, dass seine grobe Behandlung Gunnar nicht gekränkt hatte. Sehr erleichtert sah er Gunnars schweres Gefährt heranpreschen, mit der gewohnten Mühelosigkeit. "Hej, Ernie, guten Morgen!", schnurrte Gunnar aufgeräumt, rollte zielgenau aus, denn ab dieser Kreuzung nahm er seinen Freund als Sozius mit. "GutenMorgenistallesinOrdnung?", sprudelte Arminius hastig hervor, fasste reflexartig nach Gunnars Hand auf dem Lenkergriff. "Ist es", bestätigte der gutgelaunt. "Steig auf, dann düsen wir los!" "Ich traue dem Braten trotzdem nicht!", beharrte er grimmig, kletterte aber wie am jedem Schultag artig auf die extra für ihn gepolsterte Mitfahrgelegenheit, schlang die Arme um Gunnars Mitte. "Ich erzähle dir alles in der Pause", vertröste Gunnar ihn, den Kopf umgewandt. "Du musst dir wirklich deshalb keine Sorgen mehr machen." "Isttrotzdemverdächtig!", knurrte Arminius an seinem Rücken, bevor er sich anschmiegte. "DenkandasTrojanischePferd!" Gunnar lachte lauthals, ein sehr angenehmes Vibrieren an Arminius' Wange. »Hrmpf!«, konstatierte er defensiv, schwor sich, seinem Flausch in der Pause so viele Löcher in den Strumpf zu fragen, dass der mit einer Netzstrumpfhose nach Hause radeln würde! *~*8*~* Arminius nahm seine Hälfte der Banane, mümmelte verdrossen. "Wieso seit ihr auf einmal Freunde?! Der Kerl ist garantiert ein Heimtücker!" Gunnar grinste nachsichtig, zupfte ein Papiertaschentuch heraus und drückte es Arminius in die bananenklebrigen Hände. "Kein bisschen, Ernie." "Ich bin NICHT überzeugt!" Arminius verschränkte die Arme vor der Brust. "Sag schon, hinter was ist der halbseidene Schleimer her?" Amüsiert lachte Gunnar, weil sein Freund sich so herrlich echauffierte, wenn ihn die Eifersucht plagte. Natürlich bestand dazu kein Anlass, aber erheiternd war es doch. "Ich verrate dir seine finsteren Absichten", verkündete er großmütig, immerhin dauerte die Pause nicht mehr lange an. Er beugte sich zu Arminius hinunter, hauchte im Schutz seiner Mähne einen Kuss auf dessen Ohrläppchen, wisperte dann, "er wollte wissen, wie es bei uns funktioniert." Zu seiner Begeisterung färbten sich Arminius' Wangen blitzartig dunkelrot. Seine Lippen formten ein grandioses O und dann fauchte er unsortiert los. "...du...DU... hastdochnicht...hastdunicht...oder?!" Herzhaft prustete er heraus. "Ernie, technische Details wollte er nicht wissen." Das brachte ihm einen ebenso herzhaften Knuff in die Seite ein. "Gemein! Du bist fies! Ich hätte fast einen Infarkt erlitten!" Gänzlich gegen ihre Abmachung zum Verhalten in der Schule zog Gunnar Arminius in die Arme, knuddelte ihn liebevoll, flüsterte. "Ich würde nie mit anderen darüber reden, was wir im Bett tun. Oder unter der Dusche." Erneut lief Arminius rot an, klemmte Gunnars Nasenspitze zwischen Zeige- und Mittelfinger ein und drehte kräftig. "Audsch!", beklagte sich Gunnar, lächelte aber verliebt in die großen, braunen Augen, die ihn wundervoll warmherzig betrachteten. Wenn er es nicht gerade darauf anlegte, Arminius ein wenig zu triezen. "Wieso interessiert sich der Typ für so was?" Gerade wurden die schönen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. "Der wird doch nicht etwa...?!" Gunnar zwinkerte, eine mehr als ausreichende Replik. "Pfff!", schnaubte Arminius abwertend, raufte Gunnars sandfarbene Mähne. "Seine tollen Proleten-Freunde werden ihn schneller erledigt haben, als er sich umgucken kann. Schwachsinnig bis selbstmörderisch." Auf Gunnars Stirn schlugen winzige Linien leichte Wellen. "Ist es wirklich so unmöglich?" Arminius warf ihm einen prüfenden Blick zu. "Du hast erlebt, was MEINE so genannten Freunde aufgrund eines lächerlichen Vorfalls ausgeheckt haben, um mich kleinzukriegen. Was denkst du, was den Vollzeit-Neandertalern in der Proletenburg erst einfallen wird?" Angesichts Gunnars finsterer Miene drückte er im Schutz ihrer dicken Winterjacken dessen Hand. "Die glauben, sie befinden sich im Film und handeln auch oft so. Wenn dein merkwürdiger Kumpel Sol sich tatsächlich einbildet, in einen Jungen verliebt zu sein, sollte er sich fix eine neue Adresse suchen." »Am Besten in einer anderen Stadt. Weit weg.« Die hellen, wasserklaren Augen blickten unfokussiert in die Ferne. "Er wollte wissen, wie man eine Liebesbeziehung aufrecht hält. Wie man einem anderen Jungen beweist, dass man es wirklich ernst meint", bemerkte Gunnar leise. Arminius registrierte deutlich, dass dieser Sol seinem Flausch sympathisch war. Obwohl dafür überhaupt kein Grund bestand! Eifersüchtig und verunsichert polterte er. "Und wenn es bloß eine Lüge war?! Nur, weil er zufällig in einen Jungen verknallt ist, muss er noch lange kein netter Typ sein!" Gunnar wandte ihm den Kopf zu, nachsichtig und ernst zugleich. "Ich habe ihm gesagt, dass man immer miteinander reden muss, damit es keine Missverständnisse gibt. Und dass man sich klar machen muss, dass jeder ohne den anderen leben kann. Es ist nicht selbstverständlich, Zeit miteinander zu verbringen und sich nahe zu sein." Arminius setzte zu einem sarkastischen Kommentar an, schwieg dann aber und musterte Gunnar eindringlich. Der erhob sich langsam von der Bank, streckte ihm die Hand hin, als höfliche Assistenz. "Ernie, DU bist mein Freund. Meine Zeit möchte ich mit dir verbringen." Das wirkte stärker als jeder Seitenhieb darauf, wie kindisch und besitzergreifend er sich aufgeführt hatte. Arminius errötete erneut, aber nun aus Verlegenheit über sich selbst. Mehr als einmal hatte ihn Gunnars Bereitschaft, persönliche, intime Angelegenheiten offen und direkt auszusprechen, zur Verzweiflung gebracht, weil es ihm auch vor Augen führte, wie kleinmütig er sich verhielt. Und leider auch zu genau seine Schwächen ausleuchtete. Er holte tief Luft, kam ebenfalls auf die Beine und drückte Gunnars kraftvolle, warme Hand fest. "Und DU bist mein Freund. Ich war eifersüchtig, und das tut mir leid", formulierte er mit der Gewissheit, jeder sonnengereiften Tomate den Rang abzulaufen, was eine gesunde Gesichtsfarbe betraf. Gunnar drückte ihn kurz an sich, küsste ihn rasch auf die Stirn, ignorierte das auffordernde Klingeln zum Ende der Pause. "Ich bin dir treu", raunte er eindringlich. "Du kannst auf mich vertrauen." Arminius legte den Kopf in den Nacken und lächelte kläglich in das attraktive Gesicht seines Freundes hoch. "Ich weiß", seufzte er beschämt. "Manchmal bin ich wirklich grundlos zickig." "Das würde ich nicht sagen, Ernie", schmeichelte ihm Gunnar, zog ihn zum Gebäude, um sich den Nachzüglern anzuschließen. "Aber ich glaube, dass ich mir eine Belohnung verdient habe." Subtil der Zaunpfahl, der hier winkte. Arminius brummelte Unverständliches, wusste aber, dass er geschlagen war, denn Gunnars Antwort gab ihm zu denken. Dass es ein großes Glück war, zusammen sein zu können. *~*8*~* Isolder räumte eilig das Wohnzimmer auf, sammelte in gedrückter Stimmung die zahlreichen Gin Tonic-Flaschen ein, scheuchte Hardy, JETZT ins Bad zu gehen, damit der am Morgen zum letzten Schultag der Woche pünktlich aus den Federn kriechen konnte. Er rettete eine erneut verlorene Kontaktlinse vor dem Staubsauger, beschloss, sich nicht mehr der Wäsche zu widmen, sondern eilig seinen persönlichen Feldzug im Zeichen der Liebe vorzubereiten. Dazu verriegelte er seine Zimmertür, kramte die letzten "Zutaten" zu seinem Rezept, um ein besonderes Herz zu erobern, aus seinem Rucksack, sortierte seine Habseligkeiten und die Schätze, die er seit Jahren in einem Versandhauspaket aufbewahrte. Es waren bloß Kleinigkeiten, Strandgut, das ihm in den Weg gespült worden war. Irgendwo ins Auge sprang und eingesteckt wurde. Sorgfältig trennte er die vorgestanzten Visitenkarten aus den Bögen heraus, stapelte sie und ihnen gegenüber Umschläge. Dann holte er den Kalligraphiefilzstift hervor, ebenfalls eine Neuerwerbung. Im Zeitalter des Computers schrieb man nur noch Einkaufszettel per Hand. Aber Isolder hielt es für eine romantische Geste, seine Botschaften manuell zu Papier bzw. verstärktem Karton zu bringen. Dafür musste man natürlich ein wenig üben und sich ordentlich konzentrieren, damit wenigstens die Leserlichkeit gewahrt wurde. Über die Ästhetik seiner Schreibschrift konnte er sich keine Illusionen leisten. Kärtchen für Kärtchen wurde sorgsam beschriftet, dann folgten die Umschläge, auf denen immer nur ein Name geschnörkelt wurde. Zum guten Schluss, beinahe eine Stunde hatte ihn diese Arbeit gekostet!, musste die konspirativ-verführerische Einladung aufgezeichnet werden. Nun füllte er den Versandhauskarton mit zahlreichen Umschlägen, die nicht nur eine Visitenkarte enthielten, sondern auch seine kleinen "Schätze". Weil seine Mutter Blumensträuße liebte, er aber nicht über die notwendigen Mittel verfügte, ihr Buketts zum Geschenk zu machen, hatte er sich einfach mit Vogelsand und dem begnügt, was in freier Wildbahn geboten wurde. Und auf diese Weise immer einen kleinen Vorrat an schmückender Flora, trocken konserviert. Außerdem fand sich hier so einiges, das sich als Geschenk eignete: - vierblättriger Weiß-Klee, den er mal in der Nähe des Sportplatzes auf einer Wildwiese entdeckt hatte; - gepresste Herbstblätter; - schöne Glasmurmeln; - glatt geschliffene Kieselsteine mit interessanter Marmorierung; - Basteleien aus Papier; - ein kompliziert geschlungener Knoten in einer Kordel; - Strohfiguren; - Lesezeichen; - ein kleines Puzzle und - ein Drahtgeschicklichkeitsspiel. Er war bereit, all seine Schätze zu opfern, um Llywelyns Herz zu gewinnen. Kaum hatte er seine selbst gestellte Aufgabe erfüllt, das Einladungskuvert zugeklebt, da polterte es an seiner Zimmertür. Seufzend erhob sich Isolder von seinem Bett, räumte sein Versandhauspaket in die Truhe und verschloss sie gewohnt umsichtig. Vor seiner Zimmertür tippelte Jermaine von einem Bein aufs andere. "Was ist denn los?" Isolder verbarg seine Erleichterung darüber, dass sein älterer Halbbruder tatsächlich zu Hause war, perfekt. Im Wohnzimmer war wieder die Unordnung eingekehrt, aber nicht nur sie. Josy lag auf der Couch wie ein gestrandeter Wal, schnarchte leise. "Was ist mit ihr passiert?!" Isolder, ganz Gentleman, beugte sich über den Gast und erschnupperte eine süßliche Alkoholwolke. Bevor er züchtig den allzu knappen und hässlich vernoppten Pullover tiefer zupfte, damit die pinkfarbene Unterwäsche nicht mehr zu sehen war. "Scharf, oder?" Mit Besitzerstolz lüftete Jermaine neben ihm den Wollstoff wieder. "War inner Dose. String. Und obenrum nix", verkündete er stolz. Nach Isolders Meinung wäre "obenrum" Stoff mit solider Stützwirkung vonnöten gewesen, um die optische Wirkung ein wenig zu verbessern. "Wie...spendabel von dir", bemerkte er misstrauisch. "Womit hat sie sich denn so zugeschüttet? Das ist doch kein Parfüm, oder?!" Möglich war schließlich alles, beim ausgesucht schlechten Geschmack seines Bruders! "Punsch", nuschelte Jermaine, nicht sonderlich an seiner derzeitigen Flamme interessiert. "Sol, sieh dir das an!" "Viel zu viel Punsch", brummte Isolder, öffnete ein Fenster, um den nächtlichen Nebel gegen den Dunst von billigem Gesöff auszutauschen. "Wieso trinkt sie jetzt Punsch?" Dann fiel sein Blick auf den merkwürdigen Kasten, den sein älterer Halbbruder mit Besitzerstolz präsentierte. "Was...genau... ist das?", erkundigte sich Isolder höflich, in lieblichem Tonfall. "Multifunktionsdrucker." Sichtlich gehobenen Mutes klopfte Jermaine auf das graue Gehäuse. Es knackte verdächtig. "Ein Multifunktionsdrucker", wiederholte Isolder langsam, eher resigniert als ungläubig. Was auch immer dieses Ding war: er hatte das sichere Gefühl, dass Jermaine eine hässliche Enttäuschung bevorstand. "Fein", bequemte er sich zu einer Nerven schonenden Erwiderung. "Woher hast du dieses Arbeitswunder?" "Von nem Freund." Jermaine klappte den Deckel hoch. "Hab ihm geholfn. Wagen laden, fürn Weihnachtsmarkt. Is Beschicker." Isolder lupfte die gepiercte Augenbraue überrascht, denn solche Fremdworte kamen höchst selten aus Jermaines Mund. "Beschicker auf dem Weihnachtsmarkt? Dem großen, hier auf dem Rathausplatz?" Jermaine schüttelte grunzend den Kopf. "Aufm Land." »Natürlich«, Isolder konzentrierte sich auf das ominöse Gerät, »und für deine Schwarzarbeit hat dich der komische Vogel mit seiner Bückware, die irgendwo vom Laster gefallen ist, entlohnt.« "Was bietet er denn so an?", plauderte Isolder leichthin, beugte sich über den so genannten Multifunktionsdrucker. "Strings in Dosen." Jermaine deutete lässig mit dem Daumen über die Schulter zum Sofa, wo Josy schnarchte. "So Tannenbäume zum Aufpusten. Und kleine Elektrogeräte, Mixer und so." »Herrlich!«, seufzte Isolder, »billiger Müll, nur noch Schrottwert.« "Na, dann zeig mir mal, was das Prachtstück so drauf hat", lud er seinen Bruder ein, selbst den Offenbarungseid zu leisten. "Kann scannen und kopieren." Jermaine tätschelte das Gehäuse. "Drucken auch." Lautstark ratternd und dezent stinkend produzierte das Gerät tatsächlich einen Ausdruck. Eine Art Testseite, von mangelhafter Qualität. "Aha", stellte Isolder mit einem Satz fest. "Kann man das auch noch kalibrieren? Ist ein wenig...verschwommen, das Druckbild." Jermaine hantierte mit der Virtuosität eines Vorschlaghammers auf den spärlichen Tasten, studierte ein fahles Anzeigefeld. Der zweite Versuch brachte ein weiteres Blatt Papier hervor, nun lediglich bis zur Mitte bedruckt, bevor das Gerät aufgesteckt hatte. "Wasndas?" Jermaine klopfte zartfühlend auf das Gehäuse. "Vielleicht keine Tinte mehr?" Isolder ging ihm zurückhaltend zur Hand, suchte nach den Tintentanks. Es gab genau zwei davon. Nur in dem schwarzen Tank hörte man noch das Geräusch des Schwappens, als Isolder das Gefäß behutsam schwang. "Sieht mir verdächtig nach einer neuen Geräteklasse aus", scherzte er bedauernd. "Ist wohl ein Multifunktionskurzzeitdrucker." »Druckt kurz, beschissen und auf zahlreiche Varianten gar nicht.« "Hast du schon mal das Kopieren oder Scannen getestet?" Wenigstens könnte das ominöse Gerät zu etwas anderem nützlich sein? Jermaine hob den Deckel an, legte ein Magazin ein, klappte den Deckel wieder herunter und drückte auf einen Knopf. Es tat sich nichts. "Wassollndas?", knurrte Jermaine ärgerlich. "Muss doch ne Kopie rauskommen?!" "Sollte man meinen." Isolder klappte das Gehäuse auf, nahm das Magazin heraus, drückte erneut auf den Knopf. Es tat sich nichts. "Ich würde sagen", Isolder beäugte das Gerät konzentriert, "das ist definitiv Schrott. Keine Belichtungseinheit im Scanner, drucken kann das Ding da auch nicht." Jermaine ballte die Fäuste. "Die Scheiße prügle ich aus ihm raus." "Oh nein." Isolder klopfte seinem älteren Halbbruder beruhigend auf den Rücken. "Solche Jugendsünden werden wir nicht wiederholen. Dazu bist du viel zu clever." Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, und er konnte den Augen seines Bruders ansehen, dass der auch gewisse Zweifel daran hegte, als "clever" eingeordnet zu werden, aber der Zweck heiligte unbestreitbar die Mittel. Eine Anzeige wegen Körperverletzung half ihnen schließlich gar nicht. Er wollte auch lieber nicht darüber nachdenken, wie ihre Mutter auf so ein Ereignis reagieren würde. "Wenn du den Typen triffst, erklärst du ihm, dass es da wohl ein Versehen gegeben hat, und dass er dir wohl das falsche Gerät überlassen hat." Jermaine glotzte verständnislos. Isolder holte also ein wenig aus. "Wenn er dir nicht helfen will, dann machst du ihn darauf aufmerksam, dass es nicht gut für seinen Ruf wäre, wenn es sich herumspräche, dass er seine Helfer um den Lohn prellt und Schrott verhökert." Nachdem er noch zwei weitere Male seinen Plan erklärt hatte, schien sich auch das Wesentliche in Jermaines Verstand verankert zu haben. Temporär zumindest. *~*8*~* Llywelyn starrte auf das Kuvert, das ihm seine Mutter triumphierend unter die Nase hielt. Er wollte sich wie jeden Morgen in der Woche möglichst ungesehen und ungestört auf den Schulweg machen, deshalb brachte ihn dieses unerwartete Zusammentreffen völlig aus dem Konzept. "Sieh mal, der klemmte in der Tür, Liebling! Hast du einen heimlichen Verehrer? Oder eher eine Verehrerin?", lachte sie schrill. Ihr Blick war eine einzige, diktatorische Aufforderung, jetzt sofort den Umschlag zu öffnen und sich mit dem Inhalt vertraut zu machen. "Entschuldigung." Llywelyn nahm das Kuvert mit den Handschuhen an sich, stopfte es in seinen Rucksack. "Ich bin bereits spät dran. Ich wünsche dir einen schönen Tag, Mutter." So höflich und distanziert es ihm möglich war, hielt er ihr ihren quälenden Mangel an Manieren ihm gegenüber vor. Sie schien jedoch den Wink nicht zu erfassen. "Ach Liebling, verrate mir doch, von wem der Brief ist! Es stand gar kein Absender drauf!" "Ich weiß es nicht." Llywelyn zog sich den Schal höher über die Nase, schlüpfte geübt in seine Inliner und zog behutsam die Tür hinter sich ins Schloss. Er fühlte sich wie ein Romanheld, dem man unversehens eine tickende Zeitbombe untergeschoben hatte. Freudige Erwartung erfüllte ihn jedenfalls überhaupt nicht. *~*8*~* Kapitel 8 - Des einen Happyend, des anderen Hölle "Dann hab viel Spaß!" Ryo umarmte Bikky, der sich das nur noch von ihm gefallen ließ, denn immerhin war das ja doch recht peinlich für einen harten Burschen wie ihn. "Und frohe Weihnachten." "Dir auch." Bikky konnte nicht widerstehen, Ryo die sorgfältige Scheitellinie zu verwüsten. "Halt dir den alten Schwerenöter vom Hals." Ryo lächelte, sparte sich aber eine Antwort. Er war froh darüber, dass Bikkys Freunde, Ray und Lacy, ihn und Carol eingeladen hatten, gemeinsam ein paar Weihnachtstage im mondänen Chalet der Familie zu verbringen. Rays älterer Bruder und dessen Freunde hatten einen guten Leumund, verfügten über bedeutende Verbindungen und ein ansehnliches Vermögen, sie waren aber auch herzlich und freundlich. Seine bescheidenen Mittel hätten es wohl nicht zugelassen, Bikky und Carol eine Ski-Freizeit zu ermöglichen. »Ganz zu schweigen von der mangelnden Zeit!« Er seufzte, kehrte in seine Wohnung zurück, um aus dem Fenster nach unten zu winken, wo eine Limousine Bikky aufnahm. Aber es half ja nichts zu klagen! Ryo rief sich energisch zur Ordnung, denn er hatte einen Eid geschworen, Recht und Gesetz zu wahren, seine Mitmenschen zu schützen und zu verteidigen. Da konnte man eben nicht erwarten, Weihnachten mit seinen Liebsten zu verbringen, solange sein Einsatz erforderlich war. Er seufzte erneut, schlüpfte dann in seine Wintersachen. Beschämend, wie schwer es ihm fiel, sich mit der gewohnten Energie auf die Arbeit zu stürzen. Doch seine gerade überstandene Grippe zehrte immer noch an seinen Kräften. »Ach Dee...wie gern würde ich dich sehen!« *~*8*~* Dee summte fröhlich vor sich hin, wirbelte in seinem Appartement auf und ab. Hier war noch eine Girlande zu befestigen, künstliches Grün mit hübschen, kleinen, roten Beeren und da musste noch dringend ein Mistelzweig platziert werden. Um Ryo von einer Kussgelegenheit zur nächsten zu dirigieren! Schließlich drehte er sich übermütig im Kreis herum, inspizierte den Gesamteindruck seiner Anstrengungen. "PER-FEKT!", lobte er sich selbst, rieb sich erwartungsfroh die Hände. Jetzt musste Ryo nur noch zu ihm kommen! *~*8*~* Ryo stolperte müde und von schmutzigen Schneeresten begleitet den letzten Treppenabsatz hoch. So sehr er es begrüßte, den Weihnachtsabend nicht allein in seiner Wohnung zu beschließen, so gern hätte er jetzt den Luxus eines funktionstüchtigen Aufzugs genossen. Als er schließlich tropfend und Pfützen kleckernd vor Dees Appartementtür stand, erwartete der ihn bereits, ignorierte die nasse Bescherung und zog Ryo über die Fußmatte hinein. "Warte, Dee!", warnte Ryo ihn hastig, stemmte die Fersen in den Boden. Doch auch Dee hatte die Zeichen der Zeit oder vielmehr des Geruches erkannt: ein definitiv unsäglicher Duft von Eau de Nile heftete an Ryo! "WaszumHenker?!" Dee vermied das Einatmen durch die Nase. "Nein, erzähl's mir später! Raus aus dem Zeug!" Schuldbewusst strippte Ryo bis auf die Unterwäsche, doch Dee war damit längst nicht zufrieden. "Runter damit und rein in die Wanne!" Verlegen entledigte sich Ryo des letzten Feigenblattes, huschte rasch in Dees Badezimmer, wo ihn zu seiner großen Freude bereits ein herrliche Schaumbad in der alten Badewanne erwartete. Dee fingerte einen Mopp aus seinem Putzschrank, spießte damit Ryos abgeworfene Kleider auf und beförderte sie rasch in seine Waschmaschine. Während die ersten Umdrehungen rotierten, verscheuchte er den letzte Rest des Abfallgestanks mit einem Luftverbesserer, sprühte damit auch großzügig Ryos Winterjacke ein. Die Mission erfolgreich abgeschlossen ließ er sich selbst zu Ryo in sein Badezimmer ein, schnappte sich das Shampoo und ignorierte dessen schwache Proteste, um sich mit hochgekrempelten Ärmeln ans Werk zu begeben. Ryo gab sich geschlagen, seufzte wohlig. "Dee, bitte entschuldige die Attacke auf deine Riechorgane!" Er blinzelte nach oben, lächelte in die grünen Augen, die sich so liebevoll auf ihn richteten. "Was hast du denn angestellt?" Dee beugte sich über Ryo, küsste ihn auf die Stirn. "War wohl eine sehr anrüchige Ermittlung, wie?" "Hmmmm!", schnurrte Ryo, ließ sich auch die Schultern massieren. "Also, das war der letzte Einsatz." Er schloss die Augen, als Dee ihn sanft zurückdirigierte, um ihm den Schaum vom Kopf zu spülen. "Da war ein Mann, vollgepumpt mit Crystal, turnte in Unterwäsche mit seiner Tochter, vier Monate alt, auf dem Dach von einer der alten Mietkasernen herum." Dee lauschte betroffen, strich Ryo zärtlich über die Schläfen. "Üble Sache." "Ja." Ryo richtete sich auf. "Wir konnten ihn gerade noch dazu bringen, das Kind abzulegen. Dann ist er allerdings vom Dach gesprungen, hat vermutlich geglaubt, er könne fliegen." Ryo zog eine Grimasse. "Glücklicherweise war der gesamte Hof mit Müll zugestopft und oben noch jede Menge Schnee. Außer ein paar Kratzern und einer Unterkühlung hat er das Abenteuer unbeschadet überstanden. Aber ich habe eine halbe Stunde gebraucht, bis ich ihn da rausgezogen hatte." Dee richtete sich auf, griff nach einem extra flauschigen Handtuch. "Sehr gut gemacht!" Die tiefschwarzen Augen seines geliebten Partners funkelten, wirkten weniger erschöpft als zuvor. Auch die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln verschwanden wieder. Sehr artig trocknete Dee Ryo ab, unternahm nicht die GERINGSTEN Anstalten, Annäherungsversuche zu starten. Das versetzte Ryo durchaus in Erstaunen, der sich gern in den weichen, frisch gewaschenen Bademantel helfen ließ. Dee nahm seine Hand, führte ihn in sein Wohn- und Schlafzimmer, wo zahlreiche Kerzen für eine feierlich-sinnliche Atmosphäre sorgten. "...wie schön...", lächelte Ryo hingerissen, bewunderte ausgiebig die hübsche Dekoration und das kleine Lager mit Kissen auf einer Decke, das verdächtig nach Picknick aussah. Picknick mit Champagner in einem Blecheimer und Hühnchenteilen, frittiert. "Oh, Dee!" Ryo drückte reflexartig Dees Hand. "Das ist ja wundervoll!" "Gefällt's dir?" Dee strahlte selbstzufrieden, verneigte sich dann leicht. "Darf ich dich zur Tafel bitten?" "Liebend gern!", übertönte Ryo eilig sein Magenknurren, nahm auf einem bequemen Kissen Platz und schlug die Beine unter. Wenn Dee etwas tat, dann gab er sich wirklich Mühe! Sie stießen mit dem Champagner an, zwar in Sektflöten, aber wenn kümmerte das schon? Ryo lobte das kreative Menü, eine Tour durch sämtliche Restaurantketten der Umgebung: frittierte Hühnchenteile zu chinesischen Nudeln, ein thailändischer Gemüsesalat, indisches Curry und Bällchen aus Krebsfleisch. Es schmeckte trotz der wilden Kombination herrlich, und mit jedem Kompliment an den Arrangeur steigerte sich die Wattzahl von Dees Grinsen. "Puh! Das war einfach gigantisch!" Ryo lächelte. "Vielen Dank, Dee!" "Noch ein wenig Geduld!", schnurrte Dee geheimnisvoll, flitzte zum Kühlschrank. Dort hatte er den Höhepunkt des Menüs untergestellt: eine Weihnachtstorte! Als er die kleine, weiße Torte mit den winzigen Erdbeeren vor Ryo abstellte, Triumph in den grünen Katzenaugen, staunte der ihn überrascht an. "Das ist eine hübsche Torte", fragend studierte er Dees Gesicht. "Nicht wahr?" Dee nickte stolz. "Ich war extra in einer japanischen Bäckerei! So feiert man doch in Japan Weihnachten, oder? Statt Keksen gibt es eine Torte fürs Christkind, zum Geburtstag." "Ach ja?" Ryo zögerte verlegen. "Das wusste ich gar nicht." Dee blinzelte verdutzt. "Aber... stimmt das denn nicht?" Ryo beruhigte ihn hastig. "Doch, bestimmt! Die Torte sieht sehr lecker aus!" Dann streckte er die Hand aus, um über Dees Wange zu streicheln. "Vielen Dank für alles." Dabei klemmte er verlegen die Unterlippe schräg ein, sandte unbewusst ein Signal aus, das Dee versöhnte. Der doch ein wenig enttäuscht war, dass seine so sorgfältig vorbereitete Überraschung einer japanischen Weihnachtsspezialität nicht ganz die Furore auslöste, die er sich erhofft hatte. Schelmisch stach er die Torte mit einem langen Löffel an, beugte sich dann über die improvisierte Festtagstafel, um Ryo zu füttern. Der ließ sich diese generöse Geste gern gefallen, denn dekadenter Müßiggang war seit dem Personalengpass auf dem Revier nur noch eine ferne, undeutliche Erinnerung. "UmHH!", bremste er Dee aus, der sie abwechselnd beide mit frischer Krem belieferte, kaute und schluckte hastig. "Wie spät ist es?" Dee kniff die Augen ein wenig zusammen, um nach seinem digitalen Wecker neben der üppigen Bettstatt zu schielen. "Kurz vor Zwei." "Hervorragend!", schnurrte Ryo, schraubte sich hoch und befingerte seine Winterjacke gründlich, bevor er mit einem verlegen-verschmitzten Lächeln zu Dee zurückkehrte, sich niederließ. "Du hast da Krem an der Backe", tippte er sich selbst auf die Wange. Die Augen verdrehend bemühte sich Dee, den "Schandfleck" zu entdecken, angelte dann mit der Zungenspitze nach der süßen Verunzierung. Ryo nutzte die Gelegenheit, um ein kleines Paket genau in die neutrale Zone zwischen ihnen zu platzieren. "Ist ja schon Weihnachten", erklärte er, und daher durchaus zulässig, das Geschenk zu entpacken. Die grünen Katzenaugen weiteten sich, doch Dee war zu sehr Bengel, um sich in stiller Zurückhaltung zu üben. "Für mich?! Heeeeyyyyyy!", purrte er begeistert, zupfte aber erstaunlich beherrscht an der kleinen Kartonage. Merklich stiller wurde er allerdings, als er die bescheidene Schmuckschatulle darunter freigelegt hatte. Ein langer, Luft einhaltender Blick traf Ryo. Dann senkte Dee das Haupt wieder, verbarg sich hinter den ungebärdigen, schwarzen Strähnen. Im Kerzenlicht warfen seine dichten, langen Wimpern Schatten auf die hohen Wangenknochen. Vorsichtig klappte er den Deckel hoch, hielt das Kästchen in beiden Händen. "...oh Ryo...", stieß er leise, wie einen Seufzer aus. Den überlief eine wohlige Gänsehaut, ein gewaltiger Schauer intensiver Lust. SO klang Dee eigentlich nur, wenn sie besonders intim waren. Rau, wild-zärtlich und zugleich andächtig-schüchtern. Um ihm die Verlegenheit zu verkürzen, streckte er seine Rechte über ihre Tafel hinweg. Sie zitterte, doch Ryo hätte sie niemals beschämt zurückgezogen. Endlich richteten sich die grünen Katzenaugen wieder auf ihn. Sanft nahm Dee seine Rechte, hob sie an und küsste den Handrücken, bevor er, ebenfalls gar nicht so sicher und gewandt wie üblich, einen der beiden schlichten Reifen über Ryos Ringfinger streifte. Ryo verlagerte sein Gewicht auf die Knie, um die Distanz zu überbrücken und Dee seinerseits mit einem Ring zu versehen. Unvermittelt hielten sie einander an den Händen, wie Kinder, lächelten erst verlegen, dann kicherten und prusteten sie. "Oh wow!" Dee zwinkerte kleine Tränchen aus seinen Augenwinkeln, schnappte nach Luft. "Woher wusstest du es?" Ihm gegenüber schmunzelte Ryo. "Ich hatte unlängst eine längere Unterhaltung mit JJ. Glaub es oder nicht, aber er hat mich sogar begleitet, um sie auszusuchen." "Dieser Lauser!", brummte Dee, der keinen Zweifel an dieser Geschichte hegte. Unter all dem vorgeschobenen Affentheater existierte eben doch ein ganz netter Kerl. Wenn er bloß sein libidinöses Interesse an jemand anderen heftete! Dee seufzte profund, drückte Ryos Rechte in seiner Linken. "Verflixt, ich würde mich jetzt SOOOOOO gern auf dich stürzen!" Er grinste angesichts Ryos tadelndem Blick. "Aber ich habe zu viel gegessen!" Ryo lachte, erwiderte den Händedruck. "Ich auch, Dee. Lass uns schlafen gehen, ja?" Nach und nach löschten sie die Kerzen, deckten die Reste ihres opulenten Mahls ab und krochen endlich unter die warmen Decken in Dees Bett. Bevor er die letzte Kerze ausblies, schob er rasch einen Umschlag in Ryos Hände. "Dein Geschenk." Er schluckte, wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, weil es keineswegs an das heranreichte, das ihm selbst zuteil geworden war. Aber Ryo schmiegte sich bereits an ihn. "Was ist es? Die Kerze ist zu wenig zum Lesen." "Nun ja", Dee räusperte sich, doch die Hand mit dem Ring, die begehrlich und vertraut zugleich unter sein Sweatshirt glitt, über seine Brust streichelte, verlieh ihm Courage, "es ist ein Buchgutschein. Für einen Städteführer." Ein wenig leiser ergänzte er, "von San Francisco. Und, na ja..." Er drehte sich auf den Rücken, nachdem er der Kerze ihr Licht ausgehaucht hatte. "Ein persönlicher Gutschein auf Lebenszeit." "Einzulösen bei dir?" Ryo küsste ihn auf die Lippen, wärmte ihn mit seinem Atem. "Wenn ich ihn einsetze, bekomme ich dich?" "...wenn du das willst." Tapfer tastete sich Dee an die entscheidende Frage heran. Ryo raunte an seinem Ohr. "Frag mich doch einfach." "Mich so zu necken ist gemein!", jammerte Dee kindlich. Dann schlang er aber die Arme um Ryo, hielt ihn fest. "Sag, willst du mich heiraten?" Für lange, ganz nervenzehrend-Herzinfarkt auslösend-Panik verbreitend ewige Atemzüge blieb es still. Dann hörte er Ryo mit belegter Stimme antworten. "Ja. Selbstverständlich JA! Und wie ich dich heiraten will!" Für Ryos Verhältnisse war das ein ungewöhnlich extremer Gefühlsausbruch, beinahe an Hysterie grenzend. Ein Begeisterungssturm, ein euphorischer Emotions-Orgasmus! Dee lachte erleichtert auf, kuschelte sich ebenso innig an Ryo wie der an ihn, tauschte sanfte, zärtliche Küsse aus. "Tschuldige", er stippte mit der Nasenspitze an Ryos, "dass ich so lange gebraucht habe." Ryo streichelte ihm über die Wange, durch die Haare, seufzte leise. "Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dir begegnet zu sein. Ich liebe dich, Dee." "Ja." Dee nickte, naseweis und gerührt zugleich. "Das habe ich sofort gemerkt, Partner! Praktisch, als du damals zur Tür reinkamst!" Er lachte, als Ryo ihm spielerisch in die Nase biss. "He!", raunte er sanft. "Gut, dass uns dieses Liebesvirus im selben Moment erwischt hat. Sonst müsste ich jetzt gestehen, dass es mich zuerst infiziert hat." Als Ryo leise lachte, den Kopf vertraut auf seine Schulter legte, hoffte Dee, dass irgendwo da draußen ein großer Stern am Himmel prangte, der Wünsche erfüllen konnte, denn er wollte bis ans Ende seines Lebens so mit Ryo zusammen sein. *~*8*~* Malefiz verpasste einem Plastikball mit Stacheln einen Stüber, und ebenso automatisch klappte Llywelyn eilig den Laptop zu. Im selben Augenblick klopfte es neckend an der Zimmertür, das Entree seiner Mutter, die grundsätzlich keine Aufforderung zum Eintreten abwartete. "Liebling!", flötete sie, zückte eine Digitalkamera. "Würdest du mir wohl einen Gefallen tun, ja? Wir waren doch mit Schusters aus, du erinnerst dich, und sie hat mich gebeten, ihr ein Bild von deinem Kostüm zu schicken. Als Inspiration!" Llywelyn, der steif stand, dazu erzogen, sich zu erheben, wenn ältere Personen und Frauen den Raum betraten, studierte seine Mutter konzentriert. Er pflegte seine Bekleidung zwar nicht als Kostüm zu klassifizieren, aber die Botschaft konnte er dechiffrieren. »Lediglich...« "Selbstverständlich. Wenn du bitte einen Moment warten möchtest, dann ziehe ich mich um", antwortete er höflich. "Aber sicher, danke, Liebling", erwiderte seine Mutter und ließ sich auf seinem akkurat gemachten Bett nieder. Llywelyn starrte sie an, bis er verstand, dass sie nicht die Absicht hatte, sein Zimmer zu verlassen. Innerlich aufgewühlt über die Verletzung seiner Intim- und Privatsphäre kehrte er ihr den Rücken zu, wandte sich zu den Raumteilern, die seine offene Garderobe verbargen. Vorsichtig schob Llywelyn die einzelnen Stoffbahnen zur Seite, stellte das Ensemble zusammen, von dem eine Aufnahme gewünscht wurde. Er entkleidete sich zwangsläufig bis auf die Unterwäsche, streifte dann die auffälligen Kleidungsstücke über und trat wieder in die Raummitte. Malefiz' Schwanz schwang angespannt in der Luft, ein Signal, dass etwas nicht stimmte. "Ich schlage vor, dass wir nach unten gehen", formulierte Llywelyn kühl einen Vorschlag. "Das Licht ist dort besser." "Ja. Wie du meinst, Liebling." Irgendwie wirkte das Lächeln seiner Mutter seltsam, flackerte unruhig wie eine defekte Neonröhre. Wohlerzogen trat Llywelyn an die Tür, hielt sie für seine Mutter offen. Kurz bevor er sie hinter sich schließen konnte, spazierte Malefiz auf der Fensterbank herum und ließ sich auf dem Laptop nieder. Wie praktisch, dass ihr die Abwärme und das minimale Geräusch der Lüfter gefielen! *~*8*~* Als Llywelyn endlich wieder in sein Zimmer zurückkehren konnte, war er durchaus davon überzeugt, die enervierend betriebenen Aufnahmen als Vorwand zu entlarven. Vorgeschützt, um herauszufinden, welche Botschaft das geheimnisvolle Kuvert enthielt. »Ja«, stellte er innerlich grimmig, äußerlich jedoch unbewegt fest, überprüfte die Lage seiner Habseligkeiten in Reichweite, »sie HAT nach etwas gesucht!« Und trotz eines gewissen Geschicks nicht alles punktgenau auf den angestammten Platz zurückgelegt. Malefiz gähnte majestätisch und verließ ihren Logenplatz auf dem geschlossenen Laptop wieder. Ohne die geringste Hast sprang sie von der gepolsterten Fensterbank herunter, schlenderte gelangweilt durch das Zimmer, um ihren geheimen Schlafplatz im Regal hinter der Reihe verschmähter Bücher aufzusuchen. Unerwartet beförderte sie vorgeblich gleichgültig ein leicht angenagtes Kuvert auf den Boden. Llywelyn lächelte, ging in die Hocke, um durch die Lücken in der Buchreihe das Paar Bernsteinaugen einzufangen. Malefiz zwinkerte, grinste dann breit und gähnte souverän. Er hob den Umschlag auf und kehrte wieder zu seinem Platz auf der Fensterbank zurück. Sein aktuelles Gewand ließ es nicht zu, dass er wie gewohnt die Knie vor den Leib zog, vorzugsweise unter einen warmen, handgestrickten, überdimensionierten Wollpullover. Llywelyn klappte den Laptop auf, löste die passwortgeschützte Sperre und löschte die aktuelle Geschichte um die New Yorker Cops. »Hoffentlich«, dachte er und fuhr die Maschine herab, »hoffentlich haben die beiden es noch geschafft!« Seltsam, auch wenn es sich um fiktive Charaktere in einer ersonnenen Geschichte handelte, praktisch einer kreativen Lügenmär a la Baron Münchhausen, so wünschte er doch, dass es ihnen noch rechtzeitig gelungen war, ihren Ehebund zu schließen. Was geschah wohl mit den Ehen, die man in San Francisco geschlossen hatte, wenn nun per Bürgerentscheid der entsprechende Paragraph nicht mehr in Kraft war? Galten diese Ehen noch? Wenn ja, wie wäre die Ungleichheit zu anderen Paaren zu rechtfertigen? Llywelyn bremste sich, bevor er zu tief in ein Gebiet einstieg, bei dem es ihm an relevanten Informationen mangelte. Das amerikanische Rechtssystem bedurfte zweifelsohne einer intensiven Betrachtung, und dafür war gerade keine Zeit. Er legte das geschlossene Kuvert auf den abgeschalteten Laptop. Müßig studierte er die sorgsamen Schriftzüge, die seinen Namen bildeten. Die Botschaft selbst hatte sich in sein Gedächtnis eingeprägt, brachte ihn jedoch einer Entscheidung keineswegs näher. [Mit größtem Respekt und zärtlicher Ehrerbietung ersuche ich um die Gunst einer persönlichen Unterredung von immenser Bedeutung am Samstag, den 29.11. gegen 22:30 Uhr auf der Seufzerbrücke. In innigster Verehrung, I.] Was tun? Überhaupt etwas tun? Für Llywelyn stellte diese Nachricht, eine Einladung, kein Rätsel dar, ihm war schließlich auch der Absender bekannt. Doch warum? Was bezweckte Isolder damit? Weshalb konnte er es nicht bewenden lassen mit ihrer letzten Begegnung in der Videothek? Warum dieses Interesse an ihm? Llywelyn funkelte das Kuvert an, als könne es ihm Rechenschaft ablegen über den Verfasser dieser Zeilen. Vage war er sich bewusst, dass es eine andere Welt da draußen gab, die bedrohlich darauf lauerte, ihn in Beschlag zu nehmen. Einzufangen und festzuhalten. Teenager in schmutzigen Poster-Höhlen, umgeben von lauter, Nerven zerreißender Geräuschkulisse, die bis spät in die Nacht unterwegs waren, sich herumtrieben und zudröhnten, mit dem Abgrund in ihrem bedeutungslosen Leben kokettierten. Llywelyn verstand sie nicht. Das alles war ihm fremd. Er wollte auf gar keinen Fall in diese Welt geraten. Auch wenn es seinem Sinn für gute Manieren widersprach: versetzte er Isolder, so wäre dies ihm sicherlich Antwort genug. *~*8*~* "Liebling?" Llywelyn begann diesen zwitschernd-schrillen Ausruf zu fürchten. Er zuckte zusammen, sprang auf die Beine, löste sich eilig von der fremden Welt, in die er gerade vor wenigen Minuten Eingang gefunden hatte. Malefiz huschte an ihm vorbei und platzierte sich konspirativ-fürsorglich auf seinem zugeklappten Laptop. Sie beherrschte die Kunst des gelangweilt-lässigen Herumfläzens perfekt, ohne jemals etwas von ihrer Grazie zu verlieren. "Ah, Liebling!", trillerte seine Mutter begeistert, stieß die Zimmertür auf. "Ich habe doch glatt vergessen, kannst du dir das vorstellen?!, dass wir zum Mittagessen eingeladen sind? Eine gemeindenahe Veranstaltung von Sponsoren und Ehrenamtlichen, alle zusammen! Es wird dir gefallen, denn alle bringen auch ihre Kinder und Enkel mit!" Llywelyn, der sich auf einen trügerisch freien Samstag gefreut hatte, sicher geschützt durch diverse Hausarbeiten (die er zwar bereits erledigt hatte, aber ungeniert als Vorwand anführen wollte), erstarrte. "Ah, in einer Viertelstunde gehen wir los! Nun, bitte zieh dich um, ja?" Damit verschwand sie, ließ wie stets die Zimmertür offenstehen. Llywelyn zählte automatisch langsam bis Zehn, doch erstaunlicherweise kehrte sie nicht um, "versorgte" ihn nicht schelmisch in letzter Minute mit irgendwelchen unwesentlichen Details. Er schloss seine Zimmertür, trat in den Erker, öffnete eines der Fenster und atmete die schwere, nasse Novemberluft ein. Es regnete unaufhörlich, die kahlen Bäume trugen bauchige Tropfen wie Tränen statt mageren Blätterschmuck. Die Fäuste geballt bemühte er sich angestrengt, den kindlichen Trotz herunterzuwürgen, der in seinem Inneren randalierte. Er WOLLTE nicht mitgehen! Sondern seinen Frieden haben, ganz allein, hier oben, still und artig! Malefiz strich unter seinen geballten Fäusten hindurch, touchierte sie mit ihrem Schwanz. Llywelyn schluckte heftig, wischte sich über die Augen. "Ich habe keine Wahl", krächzte er gepresst, tonlos. Es gab kein Zurück für ihn. Zu keiner Zeit. *~*8*~* Er fühlte sich elend. Unerträgliche Kopfschmerzen peinigten ihn. In seinen Ohren dröhnte eine betäubende Kakophonie unterschiedlichster Geräusche und sein Magen verweigerte sich jeder Nahrung. Ein anderer hätte zweifellos um Schmerzmittel nachgefragt, ganz selbstverständlich, doch Llywelyn wusste nicht, wie. Medikamente, Kopfschmerztabletten, sie waren bei den Großeltern verpönt gewesen. Eine Tasse Kaffee, ein Spaziergang an der frischen Luft und ordentlich Arbeit, schon gäbe sich die Malässe! Llywelyn war durchaus versucht, sich einfach zu erheben, seinen Mantel einzusammeln und zu gehen. Ganz gleich, wohin. Die Umstände jedoch hinderten ihn sehr gründlich daran, dieser Versuchung nachzugeben. Zuerst war er mit unzähligen Personen bekanntgemacht worden, die ihn teils bestaunten wie ein exotisches Tier, abwartend-skeptisch oder ungebührlich neugierig. Kaum hatte er sich von dieser Strapaze erholt, wurden alle zur Tafel geführt. Zähe, endlose Stunden musste er nun sitzen, Konversation betreiben, Interesse heucheln, das er nicht im Geringsten verspürte. Wer waren all diese Leute, und warum sollte er sich mit ihnen unterhalten?! Die Jugendlichen in seinem Alter, die nicht gerade dazu verdonnert worden waren, Hüter ihrer jüngeren Geschwister zu sein, beäugten ihn wie ihre Eltern. Da sich schon bald erwies, dass er aufmerksam zuhörte, aber selbst wenig sprach, scharten sich in kürzester Zeit Selbstdarsteller, professionelle Jammerer, Beweihräucherer und Emotionsschmarotzer um ihn, deckten ihn unerbittlich mit ihren privaten Eigentümlichkeiten ein. Llywelyn spürte, wie eine gewisse, stets unterdrückte Aggression sich meldete. Aufkochen und hochkommen wollte, um in einem einzigen Rundumschlag die gesamte Mischpoke mit ihren unsäglichen Tiraden zu vertreiben. Er kämpfte dagegen an. Schließlich war es üblich, sich dafür zu interessieren, was andere über ihre Mitmenschen dachten, klatschten, verbreiteten. Oder wie sie die Probleme der Welt im Handstreich lösen wollten. Llywelyn dagegen konnte dem "Üblichen" noch immer nichts abgewinnen. Er wollte sich die Freiheit bewahren, nicht zu allem und jedem eine Meinung haben zu müssen. Seine Gedanken auszusprechen. Vor allem aber wollte er nicht hier sein, in dieser Vorhölle, die "geselliges Beisammensein" hieß! Und immer wieder stieß seine Mutter wie ein Raubvogel dazu, um sich zu erkundigen, mit wem er schon Freundschaft geschlossen hatte. Zu welcher Weihnachtsfeier man ihn einladen werde. Mit wem er Zeit verbringen wolle, ganz unter sich. Llywelyn floh zur Toilette, doch auch hier fand er keineswegs Ruhe und innere Einkehr. Lautsprecher untermalten das "private Geschäft" mit Weihnachtsliedern, selbst eingesungen vom Gemeindechor. Die Hände auf die Ohren gepresst, da er es verabscheute, Gesang in seiner unmittelbaren Nähe anhören zu müssen, kauerte Llywelyn auf der Toilette und wiegte sich gequält vor und zurück. Eines war gewiss: sein Leben würde zu dieser Hölle werden, wenn er nicht einen Ausweg fand, um die Bemühungen seiner Eltern zu unterbinden, ihn zu einem "normalen Teenager" zu formen! *~*8*~* Isolder warf sich rasch einen kontrollierenden Blick im Spiegel zu, bleckte die Zähne, damit sich dort nicht unerhörter Weise Grünzeug verbergen konnte, um ihn zu blamieren. Dann atmete er tief durch. Lächelte sich betont gewinnend an. Und spürte, wie ihm verlegene Röte in die Wangen stieg angesichts dieser Vorstellung. "Gaaaaanz locker!", beruhigte er sich selbst. "Alles easy!" Das traf zwar nur partiell zu, aber es gelang ihm, seine Fassung zu bewahren. Am Morgen hatte er noch mal die Koteletten exakt rasiert, den Bartschatten gestutzt, seine Haare gewaschen, sich ordentlich eingecremt, die Fingernägel überprüft, heimlich Zahnpasta und -bürste eingesteckt, um bloß den richtigen Eindruck zu machen. »Komisch«, stellte er erneut fest, »früher habe ich mir nie solche Mühe gegeben.« Was sich darin gründen konnte, dass ER zum ersten Mal um jemanden warb, von dem man wirklich nicht behaupten könne, dass der ihm eindeutig zugeneigt war. "Wird schon!", munterte er sich selbst auf, schlüpfte in seinen warmen Wollmantel. Die Hosen, das einzige Paar aus dickem Wollstoff mit Bügelfalte, waren noch flecken- und knitterfrei, der Rollkragenpullover betonte seine gute Figur. Die schwarzen Turnschuhe gingen beinahe als angemessene Fußbekleidung für einen Gentleman durch. "Jetzt aber los!" Er schmeckte noch die Zahnpasta auf der Zunge, als er eilends die Videothek verriegelte und sich zur Brücke aufmachte. Die Atmosphäre zumindest war sehr stimmungsvoll: dichter Nebel verschluckte jedes Geräusch, selbst die starken Straßenlaternen hatten Mühe, ihr Licht bis zum Boden zu verbreiten. Eine gedämpfte, weich gefilterte, undurchdringliche Welt tat sich auf, mysteriös und geheimnisvoll wie der Beginn eines Abenteuers außerhalb des Alltagstrotts. Isolder erreichte zuerst die Brücke, vom Volksmund "Seufzerbrücke" genannt. Da sie eine der Verbindungen zwischen dem Prekariatsviertel mit den Proletenburgen und dem alten Stadtviertel mit den Bürgerhäusern sowie dem traditionellen Ortskern darstellte. Um diese Uhrzeit und bei der vorherrschenden Witterung nahm es nicht weiter Wunder, dass sich keine Flanierenden verirrten. Langsam schritt er bis zum höchsten Punkt der Brücke, konnte durch die dichten Nebelschwaden, die sich wie eine Wand zusammenballten, kaum bis zu den Brückenenden sehen. Angespannt mit klopfendem Herzen richtete er seinen Blick auf die Seite, aus der Llywelyn kommen musste. Kommen würde. Hoffentlich. Der Nebel verschluckte die beiden Glockenschläge der Turmuhr, also behalf sich Isolder mit der Anzeige seiner Armbanduhr. Plötzlich überfielen ihn Zweifel wie Wegelagerer: hatte Llywelyn die Botschaft überhaupt verstanden? Den Absender erkannt? Was, wenn der nun verhindert wäre? Wie hätte er ihm absagen können? Oder wenn seine Eltern ihn um diese Uhrzeit nicht mehr vor die Tür ließen? Sein Herz raste, kalter Schweiß überzog seine Haut. Hatte er sich vielleicht zu sehr in seine Idee verrannt, in diese verrückte Liebe zu einem ganz ungewöhnlichen, mysteriösen Jungen und dabei übersehen, dass es mehr als eine Spielerei war? Zu viel gespielt in seiner egoistischen Wunschwelt und zu wenig die Härte der Realität einbezogen? Da registrierte er eine hochgewachsene Gestalt, die langsam, vorsichtig heranschwebte. Ohne jedes Geräusch. Wie ein Schemen. Ein Geist. Unter dem Licht der Straßenlaternen schimmerte sie vollkommen weiß, mit einer glitzernden Korona aus kondensierenden Tropfen. Kein Heiligenschein umgab sie, eher zwei...kleine Hörnchen? Mit Puscheln? Llywelyn erreichte den Scheitelpunkt der Brücke. Isolder öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut heraus. Hätte er sich nicht mit der Linken an das Geländer geklammert, einen Anker zur Gegenwart gehabt, so wäre er durch akute Atemnot in Ohnmacht gesunken. *~*8*~* Llywelyn war nicht überrascht, Isolder zu sehen. Nach dessen Gesichtsausdruck zu urteilen schien der jedoch aus unerfindlichen Gründen, immerhin hatte der ihn ja eingeladen!, vollkommen verblüfft, dass er gekommen war. Die dunkelblauen Augen glichen großen Seen, der Mund war leicht geöffnet und Llywelyn glaubte sogar, eine Ahnung von Pfefferminz zu riechen. "...guten Abend", wünschte er höflich, wenn auch irritiert. Erwies es sich nun als Fehler, hierher gekommen zu sein? Setzte er sich gänzlich umsonst der neugierigen Inquisition seiner Eltern aus, denen sein Aufbruch keineswegs entgangen war? Llywelyn fühlte sich erschöpft und geschlagen. Wie dumm von ihm, sich hier einen Ausweg zu erwarten! Er setzte den linken Fuß zur Seite, um den Heimweg anzutreten, als er unerwartet kräftig um die Oberarme gefasst wurde. *~*8*~* "Bitte geh nicht!", sprudelte es hastig aus Isolder heraus, der endlich registrierte, dass seine Anbetung a la Fisch auf dem Trockenen mit Luft schnappenden Kiefern nicht sonderlich hilfreich war. Andererseits gab es wohl niemanden auf der Welt, der seine unmittelbare Reaktion nicht nachvollziehen konnte! Immerhin war Llywelyn vollkommen in Weiß gekleidet, hatte sogar Stulpen über die Inliner drapiert, die das lautlose Herangleiten des "Geistes" erklärten. Über einen leicht gesteppten Mantel und seidig schimmernde Kniehosen hatte er einen kilometerlangen Tuchschal gewunden, dessen lose Enden trotz mehrfacher Umschlingung von Hals und Kiefern in Kniehöhe sanft dahinwehten. Auf dem Kopf saß ein niedliches Mützchen mit zwei hochgebundenen Enden, die mit Puscheln geschmückt wurden. Die wärmenden Ohrenschützer des Mützchens hingen bis auf die Schultern herunter, endeten in kleinen Bommeln. Ein anderer hätte einer aufgedunsenen Wasserleiche in diesem Aufzug geähnelt, doch Llywelyns vornehme Mondscheinblässe kombiniert mit vorwitzigen Strähnen weißblonden Haars und den goldenen Augenbrauen über den silbergrauen Augen wirkte wie eine Phantasiegestalt aus einer anderen Welt. Nun blickten ihn diese ungewöhnlichen, bezaubernden Augen gewohnt eindringlich an, angestrengt eine Botschaft dechiffrierend. Isolder bemerkte auch die Andeutung dunkler Schatten, eine gewisse Müdigkeit. Er holte tief Luft, vergaß all die vorbereiteten Reden und brachte einfach hervor, was er unbedingt mitteilen musste und wollte. "Danke, dass du gekommen bist! Puhh, ich bin wirklich froh..." Er lächelte verlegen-aufgekratzt. "Wirst du mir zuhören, wenn ich dich loslasse?" Llywelyn zögerte, nickte dann knapp. Langsam, vorsichtig zog Isolder seine Hände zurück, ließ die Arme an den Seiten hängen. Was sollte er auch tun? Sie in die Tasche zu stopfen wäre denkbar unhöflich gewesen! "Also", er räusperte sich, "ich habe mir Sorgen gemacht. Um dich. Weil du nicht mehr in die Videothek gekommen bist." Ärgerlich runzelte er die Stirn, rieb sich unbewusst über das Kinn, den frisch gestutzten Bartschatten. "Na ja, das ist noch nicht alles." Nervös leckte er sich die Lippen, konzentrierte sich auf das Silbergrau von Llywelyns Augen. "Ich möchte mit dir zusammen sein." Ufff.... da war es heraus! Die Ankündigung, die ihm solche Aufregung bereitet hatte, löste allerdings bei ihrem Adressaten keine merkliche Reaktion aus. Eher ein...höfliches Abwarten, ob noch weitere Äußerungen folgen würden. Üblicherweise hätte Isolder so ein Verhalten extrem verärgert, ihn zu beißendem Spott herausgefordert, doch bei Llywelyn spürte er diese Neigung rätselhafter Weise gar nicht, denn der hörte ihm offenkundig durchaus aufmerksam zu. Aber als der Außerirdische, der er war, Isolder lächelte unwillkürlich, fehlte ihm wohl das Verständnis. »Kein Beinbruch, schwatzen kann ich ja!« "Ich bitte dich um eine Chance." Spontan fasste er eine warm in weiße Handschuhe verpackte Hand. "Gib mir die Gelegenheit, dich kennenzulernen und verbringe Zeit mit mir." Llywelyn spannte sich an, das spürte Isolder, wollte wohl seine Hand wieder zurückziehen, in Sicherheit bringen. Er verstärkte den Druck minimal, damit sie ihm nicht entschlüpfen konnte. "Einen Monat!", drängte er, "31 Tage, den ganzen Dezember. Diese Zeit erbitte ich von dir. Lerne mich kennen und entscheide dann, ob du mit mir gehen möchtest." In aufsteigender Panik, mit heftig klopfendem Herz wartete er auf Llywelyns Antwort. Hatte der ihn verstanden? Fühlte er sich vielleicht beleidigt? Durch das Anersuchen abgestoßen? Fahndete er jetzt nach einer höflichen Formulierung für seine Ablehnung? Wahre Ewigkeiten schienen zu verstreichen, während er das attraktive, blasse Gesicht betrachtete, in den silbergrauen Augen zu lesen versuchte. Verunsichert das Erscheinen der kleinen Falte zur Kenntnis nahm. "...also gut", hörte er Llywelyn zu seiner Erleichterung flüstern, ließ sogar dessen Hand entgleiten. "Wirklich?!" Isolder jubelte, strahlte euphorisch, diese Hürde gemeistert zu haben und verdrängte das vage Unbehagen darüber, dass Llywelyn ihm nicht in die Augen sah, sich abwandte. "Bitte, noch einen Augenblick!", erbat er sich, verstellte Llywelyn den Weg, der so einfach nach Hause zurückkehren wollte! Nun blickten ihn die silbergrauen Augen wieder an, doch Llywelyn wirkte weniger distanziert als hilflos. Isolder postierte sich direkt vor ihn, durchaus angetan von der Feststellung, dass sie exakt gleichgroß gewachsen waren, wenn Llywelyn auf Inlinern stand. "Darf ich dich küssen?", schnurrte er sanft, durchaus gewahr, dass er sein Glück möglicherweise überstrapazierte. Llywelyn blinzelte. Zum ersten Mal konnte Isolder feststellen, dass der schöne Außerirdische Angst offenbarte. Am Liebsten weggelaufen wäre. Doch ihn festzuhalten, das war gar nicht notwendig. Mit einem minimalen Ruck rief sich Llywelyn selbst zur Ordnung. "Nur einen Kuss", versuchte Isolder ihn zu beruhigen, von dieser Reaktion ernüchtert. Er konnte zwar nicht auf ebensolche Liebe hoffen, zumindest nicht sofort, aber ein wenig mehr Begeisterung hätte er sich schon gewünscht. "Darf ich?", warb er mit sanftem Nachdruck um die Erlaubnis, rückte näher heran, bemerkte die minimale Ausweichbewegung, doch Llywelyn befand sich mit dem Rücken zur Brückenbrüstung. "Ich werde dir nichts tun", raunte er besänftigend, hob eine Hand, um hauchzart über Llywelyns kühle Wange zu streicheln. "Hab keine Angst, ja?" Schließlich senkten sich schicksalsergeben die hellen Lider über die silbergrauen Augen, verwandelten Llywelyns Gesicht in das einer Marmorstatue. Oder eines Friedhofsengels. Isolder schwor sich bei diesem Anblick betroffen, dass er ALLE GEDULD DER WELT aufbringen würde, um Llywelyn von sich zu überzeugen. Es ging hier nicht um Sex oder Lust oder einen kurzweiligen Zeitvertreib! Nein, er wollte diesen merkwürdigen, rätselhaften Jungen vor sich mit aller Kraft und jeder Faser seines Herzens lieben. Deshalb küsste er Llywelyn so sanft und zärtlich auf die leicht geöffneten Lippen, als streiche er über eine voll erblühte Rose und wolle kein einziges Blütenblatt mit seiner Zuneigung verletzen. *~*8*~* Kapitel 9 - Lug und Trug? Llywelyn schämte sich. Diese Scham, Ausdruck seines Schuldbewusstseins, veranlasste ihn auch, am folgenden Morgen, dem ersten Advent und letzten Tag im November, ohne jeden Protest den Weisungen seiner Eltern gehorsam Folge zu leisten. Schwester Hildegard hatte freiwillige Helfer für die Vorbereitung des "Alten-Adventskaffees" geworben, und Llywelyn war selbstverständlich von seinen Eltern angemeldet worden. Ihn um sein Einverständnis zu bitten war ihnen wohl überflüssig erschienen. Schweigend, da Schwester Hildegard in einem fort Monologe absonderte, um die anderen Helfer bei Laune zu halten, arbeitete Llywelyn in der gemeindeeigenen Küche. Sorgfältig wog er die Zutaten ab, füllte sie in Schüsseln: Eier, Butter, Milch, Mehl, Backpulver, Vanillezucker, Kardamom und Zimt, Gewürznelken und Orangeat. Er knetete den Teig, rührte und portionierte, fettete Formen ein und kontrollierte die Fuhren im Ofen, systematisch und gelassen. Wenn er in der Küche arbeitete, dann bevorzugte Llywelyn die Ruhe. Er wollte sich vollkommen auf die anstehenden Aufgaben und ihre Abfolge konzentrieren, nicht durch müßige Unterhaltungen abgelenkt werden. Schwester Hildegard beaufsichtigte unterdessen die Plätzchenbrigade, nach dem Kindergottesdienst abgestellte Grundschulkinder, die bemehlt und bezuckert das Ausstechen übernehmen sollten. Immer wieder mussten Rivalitäten bei den Stechförmchen aufgeklärt werden. Dann hieß es rechnen: wenn man elf Weihnachtsbäume, noch ohne Glasur und Zuckerkugeln, in eine Reihe auf dem Backblech legen konnte und drei Reihen möglich waren, wie viele Plätzchen würden gebacken? Und wenn man alle Gitterroste nutzte, dann ergäben sich pro Backgang 99 Tannenbäume statt der üblichen 66, oder? Und nicht nur Tannenbäume, sondern auch Engel und Weihnachtsmänner und Geschenkkartons und Schlitten und Sterne! Llywelyn, der ein gewisses Gespür und durchaus Erfahrung mit Backwerk hatte, verhinderte einen hohen Prozentsatz an verbrannten Plätzchen, setzte gleichzeitig Teig für Gewürzkuchen an und bereitete einen großen Stollen vor. Wenn er körperlich beschäftigt war, konnten seine Gedanken die ungewohnte Freiheit genießen, unbehelligt in seinem Kopf zu kreisen, durcheinanderzuwirbeln und ihre eigene Realität zu schaffen. Niemand, der ihm etwas Anderes aufzwang! »Trotzdem...« Llywelyn hielt einen Moment inne, starrte auf ein beschlagenes Fenster, vor dem erneut dichter Nebel dräute. »Es ist nicht richtig.« Ja, das war ihm durchaus bewusst. Umso schlimmer, dass er trotz dieser Erkenntnis nicht von seinem Vorhaben abwich. Und dennoch konnte es sein, dass er unbeschadet davonkam. Deshalb war Llywelyn bereit, sich auf das zweifelhafte Abenteuer einzulassen, ein beinahe "normaler" Jugendlicher zu werden. *~*8*~* Die Küche war zu klein und der Rollstuhl, auf den seine Mutter zeitweise angewiesen war, wenn ihr ihre verschiedenen chronischen Krankheiten besonders zusetzten, konnte nicht darin manövrieren. Deshalb hatte er seine Adventsaktivitäten ins Wohnzimmer verlegt, auf den Couchtisch. Da konnten sich alle beteiligen, wobei "alle" aus seiner Mutter und seinem jüngeren Halbbruder bestanden. Eigentlich hatte Isolder selten Gelegenheit, sich mit dem Backen auseinanderzusetzen. Für Geburtstage strengte er sich schon mal mit einer Fertigmischung an. Das ging fix und die Zutaten waren noch frisch, standen nicht bereits ein halbes Jahr im Küchenschrank geöffnet herum. Dass er nun für die Adventszeit backte, zwar nicht gerade typische Plätzchen, lag in einer "milden Gabe" seines älteren Halbbruders Jermaine begründet. Der hatte, aus irgendwelchen nicht näher eruierbaren Quellen, zwei Flaschen so genannten "Weihnachtsbrand", einen Weinbrand dubioser Herkunft, beigesteuert. Die nicht erklärte, aber indizierte Absicht bestand, diesen Weihnachtsbrand für einen ebensolchen Weihnachtspunsch zu nutzen (anstelle von Rum). Isolder, der eine sehr lebhafte Erinnerung an den gestrandeten, schnarchenden Wal alias Josy hatte und auch noch genau wusste, welche Mühe es ihn gekostet hatte, Jems unerfreuliche Freunde in unterschiedlichen Stadien der Volltrunkenheit loszuwerden, als es das letzte Mal "Punsch" gab, sah sich genötigt, einen cleveren, alternativen Verwendungszweck für den Weinbrand zu finden. Es gab durchaus erfreuliche Möglichkeiten: Pflaumen und Trockenobst eine Nacht lang einlegen (praktischerweise war Jem ja am vorigen Abend nicht aufgetaucht). So war zumindest der Weinbrand nicht länger flüssig vorhanden, sodass man zum nächsten Schritt schreiten konnte. Lebkuchengewürz und Zutaten für simple Muffins gemischt, das fröhlich aufgequollene Ex-Trockenobst behutsam darunter gehoben. Alles rein in die Röhre, so viel Platz auf dem Blech und im Backofen vorhanden war und FERTIG! Seine Mutter strahlte, konnte sie doch sitzend die Förmchen und Bleche mit Teig bestücken, während Hardy, der sein Image irgendwo verlegt haben musste, mit großer Begeisterung Teig rührte. Unterdessen nutzte Isolder einen ruhigen Moment in der Backorgie, um auf den Schrank zu klettern und den Weihnachtsschmuck in alten Schuhkartons und Plastiktüten zu bergen. Die Kunststoffzweige und der Adventskranz wurden kurz mit Spülmittel eingerieben und abgeduscht, dann trocknete das Gebläse des Föhns die restlichen Spuren. Lametta um die Lampe, in sicherer Entfernung zu den Glühbirnen, den Adventskranz mit frischen Stumpenkerzen auf den Couchtisch und die Zweige aufgehängt, dann noch einige ausgestanzte Fensterbilder. Isolder war mit sich zufrieden, trat entspannt zurück. Dann holte er einen Eimer und füllte ihn mit Wasser. Hardy quengelte, die Kerzenbeleuchtung wirkte für ihn ärmlich. Warum nicht wie die Nachbarn überall elektrische Ketten oder Bilder? Grinsende Weihnachtsmänner und neckische Engel, die in der Dunkelheit sichtbar leuchteten? Nachdem Isolder seiner Mutter bis zum Badezimmer geholfen hatte, zog er seinen missgelaunten Bruder beiseite, der das kategorische Verbot, Lichterketten aufzuhängen, nicht auf sich bewenden lassen wollte. "Hör mal!", zischte Isolder ärgerlich, "hast du vielleicht vergessen, was vor zwei Jahren los war? Oder letztes Jahr? Willst du das wiederholen? Passt du rund um die Uhr auf, ja?!" Hardy schob trotzig die Unterlippe vor, doch Isolder packte ihn kräftig unter dem Kinn, wehrte dessen fuchtelnde Hände geübt ab. "Mom kommt kaum noch aus dem Rollstuhl", fauchte er leise, "was machst du, wenn ich nicht da bin? Was tust du dann?!" "Schon gut!", knurrte sein jüngerer Halbbruder ärgerlich, wischte die kraftvolle Hand weg. "Ich hab's kapiert!" "Es ist zu gefährlich." Isolder klopfte ihm nachsichtig auf die Schulter. "Ich finde es auch schade, aber wir haben keine Wahl. Wenn wir so viel Strom verbrauchen für unnützes Zeug, ist es Essig mit Computer oder Klassenfahrt im Februar. Erinnere dich mal an die letzte Nachzahlung." Hardy schwieg, denn diese Gründe waren nicht von der Hand zu weisen. Ohne Geld keine Klassenfahrt, was entsetzlich peinlich, ja geradezu tödlich war! Nur mit Mühe und einem nicht verzinsten Darlehen des Sozialamtes hatten sie damals die Nachzahlung bewältigen können, was auch ihm sehr unangenehm gewesen war. Isolder dagegen schauderte bei der Erinnerung an die letzten beiden Weihnachtsfeste. Das erste Mal hatte es zwei Etagen höher auf der linken Seite gebrannt, eine umgekippte Weihnachtskerze. Die Wohnung war komplett ausgebrannt, die beiden anliegenden Appartements tagelang nicht bewohnbar wegen des unsäglichen Brandgeruches. Und die Wohnung direkt darunter hatte durch die Löscharbeiten stark gelitten. Einen Weihnachtsbrand gab es pro Jahr mindestens in den Türmen der Proletenburg. Nicht immer in den Wohnungen, oft auch in den offenen Kellerverschlägen oder bei den Mülltonnen, die nun in Stahlkäfigen mit Schlössern eingekerkert worden waren. Der Weihnachtsbrand im letzten Jahr allerdings stach in seiner Erinnerung heraus, machte ihm noch immer Angst. Für das Publikum der Gazetten und des Lokalfernsehens brachte er vermutlich nur einen weiteren Beweis für die unmöglichen Zustände in diesem "grässlichen Viertel", für einen Tag Schlagzeile bzw. Thema, dann abgehakt und vergessen. Isolder dagegen hatte noch zwei lange Monate später schlecht geschlafen und war immer wieder schnuppernd aufgeschreckt. Ein Nachbar auf der anderen Seite ihrer Etage hatte seinen Balkon mit Lichterketten geschmückt, von denen eine durch einen technischen Defekt alles andere, was auf dem Balkon lagerte, entzündet hatte. Stinkender, beißender Qualm, angefacht durch die starken Winde in der Höhe, dilettantische Löschversuche, die den Funkenflug in das Wohnzimmer trugen und bald brannte die gesamte Wohnung. Der Lärm und Gestank hatte sie aufgeschreckt, mitten in der Nacht. Isolder hatte seinen Bruder geweckt, ihn angebrüllt, sich anzuziehen und sich ein tropfnasses Handtuch vor das Gesicht zu halten. Dann hatte er seine Mutter so warm eingewickelt, wie es nur ging, mit einem nassen Schal um den Mund. Er selbst hatte Geld, Bankkarten, Ausweise und das Stammbuch eingesteckt. Alles andere musste zurückbleiben. Im Flur funktionierte die Notbeleuchtung zwar noch, aber der Gestank hüllte sie komplett ein. Die schlechte Sicht durch die Rauchentwicklung und das Gedränge panischer Menschen potenzierten das Chaos noch. Isolder scheuchte seinen Bruder, bei allen Nachbarn die Klingeln zu drücken, damit niemand zurückblieb. Dann lud er sich seine Mutter huckepack. Ohne Aufzug und nur mit den Krücken hätte sie im Treppenhaus, das man mit schweren Türen gesichert hatte, um den gefürchteten Kamineffekt zu verhindern, keine Chance gehabt.Langsam hatten sie sich gemeinsam nach unten gearbeitet, zwölf Stockwerke tief. Unten hatte er schweißgebadet seinen aufgelösten Bruder beruhigen müssen, der sich wie ein Verräter vorkam, weil er sie beide nicht hatte begleiten dürfen. Und seine Mutter, die vor Hilflosigkeit geweint hatte, weil ihnen vielleicht nicht mehr als die Kleidung auf der Haut blieb, wenn das Feuer nicht eingedämmt werden konnte. Isolder hatte die Ruhe bewahrt, weil er es musste. Weil alle anderen verängstigt waren und sich darauf verließen, dass er genau wusste, was zu tun war. Erst als die Spannung sehr viel später von ihm abfiel, gestand er sich selbst ein, dass er an eine Grenze gestoßen war. Dass seine Kraft gerade noch so gereicht hatte, ihn und die schwerbehinderte Mutter in Sicherheit zu bringen. Aus diesem Grund gab es keine unnötigen Lichterketten oder andere gemeingefährliche Spielereien, die ihr Leben gefährden konnten. Was wäre geschehen, hätte der Brand begonnen, als er noch in der Videothek gearbeitet hatte?! Hardy war zu klein, um ihrer Mutter zu helfen und auf Jermaines Anwesenheit verließ man sich besser nicht. Isolder hörte seine Mutter im Flur und half ihr wieder zurück in den abgenutzten Sessel. Der war groß genug, dass er wärmende Kissen und Decken um sie drapieren konnte. "Das ist lieb, mein Schatz", lächelte sie ihn an, wirkte ein wenig angestrengt. Isolder machte für sie alle drei Tee mit frischen Apfelstücken darin, lud dann beim Anzünden der ersten Kerze zum Schmaus einiger Lebkuchenmuffins ein. *~*8*~* Llywelyn starrte auf die kleine Tüte, die an der Haustür gehangen hatte. Stolz hatte sie ihm seine Mutter überreicht, als sie die Zeitung aus dem Briefkasten an der Pforte gezogen hatte. "Du hast eine unbekannte Verehrerin, nicht wahr? Oder ist es ein unbekannter Gönner?", neckte sie ihn. Um ungeniert den Inhalt, einen zugeklebten Umschlag mit seinem Namen und eine Rose aus blauem Seidenpapier zu präsentieren. "Ist das eine Art Adventskalender?", erkundigte sie sich wissbegierig, drehte die blaue Rose an einem Stängel aus grün umwickelten Blumendraht spielerisch zwischen den Fingern. "Wer hat sie dir geschenkt?" Llywelyn nahm ihr die Rose aus der Hand, beförderte sie in die Tüte zurück und schlüpfte in seine Inliner. "Es kann durchaus sein, dass jeden Tag so etwas abgelegt wird", äußerte er verhalten, von ihrer Aufdringlichkeit abgestoßen. Wie konnte sie so ungeniert einfach das ihm zugedachte Geschenk an sich nehmen? "Was?! Wirklich?! 31 Briefe mit Geschenken?" Sie fasste ihn einfach an der Kapuze seines Capes. So kräftig, dass er husten musste, weil ihm unvermutet die Luft abgedrückt wurde. "Nun sag schon, von wem kommen sie?" Llywelyn richtete sich auf, umklammerte die Tüte und funkelte in ihr aufgeregtes Gesicht. Sie wirkte in diesem Augenblick auf ihn wie eine speichelnde Hyäne, die ein Opfer erspäht hatte, fiebrig darauf brannte, sich auf es zu stürzen, die Hauer in das Fleisch zu schlagen und sich den Bauch vollzuschlagen. Hier ging es nicht um ihn. Alles, was zählte, war die Sensation, die man brühwarm verbreiten konnte, nachdem man sie erfahren hatte. Es widerte ihn bis zum körperlichen Ekel an. "Verzeihung, aber ich bin spät dran. Bis heute Abend, Mutter." Mit diesem frostigen Gruß stieß sich Llywelyn kräftig ab, ließ die Rollen über Kopfsteinpflaster und Gehwegplatten schnurren. So schnell, dass der eisige Wind des ersten Dezembermorgens ihre Rufe wegriss. *~*8*~* Llywelyn hatte die blaue Rose, nur leicht zerdrückt, in seinem Schulschließfach hinterlegt. Nun, mit sich allein in einem der kleinen Arbeitsräume, vor einem Computerarbeitsplatz, zog er das Kuvert hervor, trennte die klebrigen Papierstreifen von einander, entnahm eine Visitenkarte, die mit sorgsam gesetzten Schriftzeichen vollkommen bedeckt war. [Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.] Unter diesem romantischen, verwunschenen Text stand klein der Name des Autors zu lesen: Novalis. Llywelyn dachte an die schöne, zerbrechliche Papierblume, an die Unmöglichkeit, der Natur eine blaue Rose abzutrotzen. Sie war unerreichbar, ein Mythos. Mit dem Zeigefinger fuhr er hauchzart über die Visitenkarte, folgte jeder Zeile. Was hatte das zu bedeuten? Wieso widmete Isolder ihm diese Zeilen? Und die Blume dazu? Sollte ER diese beschriebene blaue Blume sein? Das Gesicht im Blumenmeer? »Unlogisch«, räsonierte er versonnen. »Wenn ich eine unerreichbare, blaue Blume wäre, welchen Sinn hätte es dann, sich um mich zu bemühen?« Das erschien ihm paradox. Andererseits gab es genug Besessene, die noch immer versuchten, Mutter Natur wider allen Erkenntnissen eine blaue Rose abzuschmeicheln. Wollte Isolder ihm das sagen? Dass er einer war, der einfach nicht aufgab, ganz gleich, wie unerreichbar das Ziel schien? »Ja...aber warum?« Was fing man mit einer blauen Blume an? Man konnte sie trocknen, in einem Buch pressen, präparieren und ausstellen. Dann wäre sie allerdings tot. Nun, sterben würde sie ohnehin, Blumen lebten ja nicht ewig, selbstverständlich. Was wollte Isolder dann mit ihm anfangen, gesetzt, er finge ihn ein? Llywelyn runzelte die Stirn, produzierte die kleine Falte zwischen den goldenen Augenbrauen. Vernünftig gesprochen gab es durchaus den einen oder anderen Verwendungszweck, den Isolder ihm zubilligen konnte. Zog man ins Kalkül, welche Gedanken Jugendliche seines Alters bewegten (er hatte sich über das Internet durch eine weitverbreitete Jugendpostille informiert), so stand zu erwarten, dass ein Austausch von Körperflüssigkeiten das Ziel war. Warum dieser umständliche Weg? Llywelyn konstatierte, dass ihm der Zeitgewinn durchaus sympathisch war, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, es würde ihm keineswegs leicht fallen, sich als "normaler Teenager" zu gebärden. Geschweige denn körperliche Zugeständnisse zu machen. Auch wenn es verwerflich und abstoßend war, wollte er Isolder als einen Schutzschild nutzen, um sich den fortwährenden Nachstellungen seiner Eltern so lange wie möglich zu erwehren. Käme es dann zur drohenden Konsequenz, nämlich Sex, beabsichtigte Llywelyn, wie in den Ratgebern erwähnt die Reißleine zu ziehen. Undankbar und ungerecht gegenüber Isolder, ohne Zweifel, doch der würde sich bestimmt nicht lange darüber ärgern. Gemäß den Maßstäben, die in der Jugendpostille verbreitet wurden, ordnete Llywelyn ihn als attraktiv und kontaktfreudig ein. Da würde sich ganz sicher bald ein neues Ziel bieten und über den temporären Rückschlag hinwegtrösten! *~*8*~* Isolder hoffte insgeheim, dass Llywelyn ihn nun jeden Tag wenigstens kurz in der Videothek besuchte, um seinen Part des Versprechens einzuhalten. Am Montag sah er sich enttäuscht, aber zu Llywelyns Gunsten nahm er an, dass der seinen Eltern möglicherweise zu erklären hatte, wer da anonym Tüten an ihre Haustür hängte. Ob sie sich wohl auf die Lauer legen würden, um ihn zu ertappen? Oder hatte Llywelyn ihnen schon verraten, wer der Absender war? Isolder wünschte sich, es möge kein aufgebrachtes Pärchen warten, die den einzigen Sohn vor der Schande eines Verehrers bewahren wollten. Moment, war Llywelyn überhaupt das einzige Kind? »Verflixt!«, dachte Isolder grimmig. Viel zu wenig war ihm im Augenblick vom Objekt seiner Sehnsucht und Hingabe bekannt! Der einfachste Weg, mehr zu erfahren, bestand logischerweise darin, Llywelyn zu fragen. Wenn man ihn denn zu Gesicht bekäme. »Hrmpf!«, stellte Isolder fest und ermahnte sich streng, dass er versprochen hatte, Llywelyn mit aller notwendigen Geduld zu begegnen. Glücklicherweise zeigte sich, dass dieser eiserne Vorsatz nicht allzu gefährlich gefordert wurde, denn am nächsten Tag erschien Llywelyn. Wie bei ihrer ersten Begegnung trug er Gehrock, Dreispitz, Kopftuch und Rüschenhemd unter einer Weste, darunter eine im Punkstil karierte Hose, auf mittlerer Höhe der Waden fransig abgetrennt. "Llywelyn!" Ohne sich um anwesende, wenn auch spärliche Kundschaft zu sorgen, verriegelte Isolder blitzartig die Anlage und setzte mühelos über den Tresen hinweg, ging ihm entgegen. Er bemerkte zwar, dass Llywelyn innehielt, vielleicht erschrocken über den Überschwang, mit dem er begrüßt wurde, doch Isolder war entschlossen, dies zu ignorieren. "Wie geht es dir?", erkundigte er sich hocherfreut, streifte mit den Händen vorsichtig über Llywelyns Oberarme. "Guten Abend." Llywelyn klang ein wenig heiser. "Danke der Nachfrage. Und wie geht es dir?" Isolder konnte nicht anders als lachen. "Wirklich, du bist immer so höflich! Das ist absolut ungewöhnlich!" Die silbergrauen Augen fokussierten sich geduldig auf ihn, sahen von einem Kommentar ab. "Möchtest du einen Film ausleihen?" Isolder schmunzelte. "Dich unterhalten?" Llywelyn zögerte, präsentierte die kleine Falte. Isolder fragte sich, noch immer beschwingt, was wohl notwendig war, um diesen Außerirdischen zum Lachen zu bringen. *~*8*~* Llywelyn zögerte und wusste, dass dies eine eingebaute Bremse seines Gewissens war. Trotzig ignorierte er sie, denn er trug nicht allein die Verantwortung für die folgende Entwicklung! Hatte nicht Isolder selbst ihm gleich am zweiten Tag derart aufrührerische Zeilen zusammen mit einem kleinen Kieselstein geschickt? [Ziel des Lebens ist Selbstverwirklichung. Das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen, das ist unsere Bestimmung.] Für Llywelyn war diese Aussage wahr und ohne Einschränkungen zutreffend. SO wollte er seine Lebenszeit fristen. Doch die Umstände, besonders im Augenblick!, hinderten ihn in so unerträglicher Weise daran, dass er sich gezwungen sah, zu kriegerischen und radikalen Mitteln zu greifen. Wenn ihm die Schule keine Zuflucht bot, er zu Hause belauert und für karitative Zwecke eingespannt wurde, dann benötigte er einen Unterschlupf, wo man seiner nicht so schnell habhaft werden konnte. Eine offene Heimlichkeit, die seinen Eltern suggerierte, dass er sich auf den Weg begeben hatte, ein "normaler Teenager" zu werden! "Was kann ich denn für dich tun?" Isolders leise, sanfte Stimme gepaart mit dem nachsichtigen Lächeln erinnerte Llywelyn nachdrücklich daran, dass er sich ihm anvertrauen musste. Bis zu einem gewissen Grad. Er ließ die Hand, die über seine Wange streichelte, gewähren, konzentrierte sich auf die dunkelblauen Augen. "Wenn es keine Umstände bereitet, würde ich gern ein bisschen bleiben." "Aber überhaupt nicht!" Isolder rückte noch näher. "Willst du dich umsehen? Oder hinter dem Tresen im Nebenraum sitzen? Wenn du magst, kann ich dir auch einen Film einlegen!" Voller Eifer überschlug sich der dunkelhaarige Jugendliche förmlich, ihm behilflich zu sein. Obwohl die Versuchung groß war, zögerte Llywelyn. "Ist das denn zulässig? Werden dir keine Schwierigkeiten entstehen, wenn ich mich dort hinsetze?" Isolder lachte, legte ihm ungeniert vertraulich den Arm um die Schultern, dirigierte ihn zum Tresen, wo eine Klappe den zivilisierten Zugang ermöglichte. "Aber keine Spur. Komm, mach es dir bequem!" Llywelyn empfand die Selbstverständlichkeit, mit der Isolder ihn berührte, als bedrückend. »Das gehört nun mal dazu!«, ermahnte er sich streng. »Und es ist ja nicht für lange! Für die Vorteile muss man nun mal Nachteile und Einschränkungen in Kauf nehmen!« Artig ließ er sich also in den Nebenraum bugsieren, durfte auf einem Bürodrehstuhl Platz nehmen, vor einem Pult, mit dem die Verleihmedien auf Schäden überprüft wurden. Er konnte wenig Unterschiede zu einem Computerarbeitsplatz entdecken. "Möchtest du etwas anschauen? Ich hole dir den Film gern", bot sich Isolder an, lächelte auf ihn herunter. "Auf was hast du Lust?" Llywelyn antwortete rasch. "Vielen Dank für die Offerte. Wäre es unangemessen, wenn ich einfach nur hier sitzen würde?" Isolder runzelte die Stirn, lupfte die gepiercte Augenbraue, reduzierte sein Grinsen ein wenig. "Nein, natürlich kannst du hier sitzen." Er legte unaufgefordert die Hand auf Llywelyns Schulter. "Ruf einfach nach mir, wenn du etwas auf dem Herzen hast, ja?" "Das werde ich", versprach Llywelyn artig und bedankte sich erneut, erleichtert, dass Isolder ihn tatsächlich allein ließ, die Tür hinter sich zuzog. Llywelyn verharrte gehorsam wie angeklebt auf dem ihm zugewiesenen Sitzplatz, studierte mit den Augen aber eingehend seine Umgebung. Wenn er sich mit dem Laptop belastete, könnte er hier auch lesen! Für den Notfall sogar Strom abzweigen! Langsam verabschiedete sich seine Anspannung. Er streifte sich den Gehrock von den Schultern, löste einige Umdrehungen des Schals um seinen Hals und stopfte die Handschuhe in seinen Rucksack. Er schlüpfte aus seinen Clogs, setzte die Füße auf die Sitzfläche und umarmte seine Knie, verwandelte sich in ein kompaktes Paket. Dann senkte er die Lider und zog sich ganz tief in sich selbst zurück. *~*8*~* "So geht das nicht weiter", stellte Isolder grimmig fest und stemmte beide Fäuste fest auf den Tresen, spannte nacheinander alle Muskeln an. Seit einer Woche hofierte und umwarb er Llywelyn, doch der wich ihm so geschickt aus, dass er seinem Ziel, diesen schönen Fremdling aus einer anderen Welt kennenzulernen, nicht einen einzigen Millimeter nähergekommen war. Llywelyn erschien zwar jeden Abend in der Videothek und kauerte sich auf den Bürodrehstuhl, klappte die Lider herunter und tauchte ab, doch kurz vor Ladenschluss war er wieder auf den Beinen, verabschiedete sich mit ausgesucht höflichen Worten und verschwand, bevor Isolder überhaupt die Chance hatte, ihn nach Hause zu begleiten. Außerdem wollte Llywelyn keine Filme ansehen, hatte keinen Bedarf an Unterhaltung. Nahm nicht mal den teuren Laptop, der aus dem Rucksack lugte, heraus, um damit zu arbeiten! »Na toll!«, stellte Isolder ungewohnt säuerlich fest. »Alles, was du für ihn bedeutest, ist ein trockener Sitzplatz im Warmen!« Als wäre diese Erkenntnis allein nicht schon schmerzlich genug, hatte er ebenfalls registrieren müssen, dass Llywelyn jedes Mal, wenn er ihn berührte, regelrecht zur Salzsäule erstarrte. »Warum hat er dann zugestimmt, wenn ich ihm so widerwärtig bin, dass er nicht mal simplen, züchtigen Hautkontakt ertragen kann?!« Vielleicht lag seine Wut auch darin begründet, dass er es nur mit knapper Not pünktlich zum Arbeitsbeginn geschafft hatte, weil ausgerechnet kurz vor Sechs auch der gesamte Rest der Welt einkaufen musste!! »Komm wieder runter!«, ermahnte er sich selbst. »Ganz so übel ist der Tag doch gar nicht!« Denn er hatte durch geschicktes Haushalten für seine Mutter und die beiden Brüder zum morgigen Nikolaustag nicht nur Vitamin C in Form von saftigen Mandarinen ergattert, sondern auch je eine Tüte Wal- und Erdnüsse, dazu für seinen Bruder Nikoläuse aus Schokolade am Stiel, für seine Mutter eine Sonderanfertigung als Verneigung vor dem Feminismus (oder dem Konsum): eine Schokoladenweihnachtsfrau. Oder wie auch immer man sie nennen sollte. Denn das kirchlich-historische Vorbild durfte zweifelsohne nicht verheiratet sein, sodass Frau Nikolaus oder Nikoläusin als Bezeichnung ausschieden. »Nun, Hauptsache, die Schokolade schmeckt!« Er war davon überzeugt, dass seine Mutter diesen Scherz mögen würde. Für ihn selbst bestand die Bescherung am Nikolaustag darin, dass Herr Fronauer ihn gebeten hatte, vor seiner Arbeit in der Videothek gleich nach dem Frühstück im Getränkegroßhandel auszuhelfen. Mehrere große Lieferungen wurden erwartet, dazu stapelte sich bereits das Leergut, sodass er für mindestens drei Stunden Arbeit zu vergeben hatte. Pro Aushilfe. Dringend benötigtes Geld, das Isolder gern verdienen wollte. Als Llywelyn erschien, eine knappe halbe Stunde vor Ladenschluss, bis zur Unkenntlichkeit eingemummelt in Rot- und Violettfarbtöne, nahm Isolder ihn ohne Wimpernzucken an der Hand, führte ihn zwischen zwei Regalreihen. Er spürte, dass Llywelyn seine forsche Aktion beunruhigte, der sich schon gedanklich darauf eingerichtet hatte, erneut seine Zeit hier in meditativer Versenkung zu verbringen. "Llywelyn, was hast du am Sonntag vor? Ich möchte mich mit dir verabreden", schoss Isolder sich auf sein Ziel ein. Wenn er mit Nachsicht keinen Erfolg hatte, wollte er eben drängeln und schieben! Die silbergrauen Augen flackerten für eine Sekunde, verrieten aufkommende Nervosität. "Pardon?" Isolder lupfte die gepiercte Augenbraue, so, als habe er eine Äußerung Llywelyns nicht gehört. Zupfte ihm dabei den Schal von Nasenspitze, Lippen und Kinn. "Entschuldige, aber ich möchte dich schon ansehen können, wenn wir uns unterhalten." Noch immer blickten ihn die silbergrauen Augen starr an, ratlos und überrumpelt. "Warum gehen wir nicht ins Museum?" Isolder legte nach. "Am ersten Sonntag im Monat ist der Eintritt gratis. Sie haben eine nette Wanderausstellung da, über Gewänder aus dem 18. und 19. Jahrhundert." Noch immer reagierte Llywelyn gar nicht, aber die Temperatur in seiner Hand, die Isolder fest im Griff behielt, schien rapide zu sinken. "Na fein!" Als habe er die Zustimmung bereits erhalten, rückte Isolder näher. "Dann hole ich dich nach dem Mittagessen zu Hause ab! Wir können im Museumscafé auch eine heiße Schokolade trinken", lockte er, wischte mit der freien Hand das Kopftuch nach hinten und küsste Llywelyn auf die Stirn. "Prima, dann wäre das ja abgemacht!", triumphierte er strahlend. "Also gegen Eins bin ich bei dir! Ich freue mich schon!" Ohne eine Antwort abzuwarten führte er Llywelyn in das Nebenzimmer, überließ ihn dort lächelnd der gewohnten Beschäftigung. »Ein wenig grob ist das schon!«, bemerkte sein Gewissen für das Protokoll, aber Isolder fühlte sich im Recht. Wie sollte er Llywelyn denn sonst kennenlernen, wenn sie nichts gemeinsam unternahmen?! *~*8*~* Llywelyn hockte nach vorn gebeugt auf dem Bürodrehstuhl und umarmte sich selbst. Hätte er das kommen sehen müssen? Es irgendwie verhindern können? »So schlimm ist es nicht«, beruhigte er sich selbst nach dieser erschreckenden Erfahrung. »Es ist bloß ein Ausflug in ein Museum. Du warst hier noch nicht im Museum. Es ist vielleicht ganz interessant.« Außerdem konnte er ohne Mühe einen Museumsbesuch hinter sich bringen und heiße Schokolade trinken. Das war kein Kunststück. Und er könnte Isolder als Freund vorstellen, mit dem er etwas unternahm! Das würde ihm Luft verschaffen, Freiheit von fremdbestimmter Freizeitgestaltung. Llywelyn verschwendete keinen Gedanken darauf, ob seinen Eltern ein Freund aus der Gesamtschule, wohnhaft in der Proletenburg, genehm sein konnte oder nicht. Wenn es ihm gelang, die Distanz zu wahren und an jedem Tag Zeit für sich selbst herauszuschinden, dann wollte er diesen Weg mutig weiter beschreiten! *~*8*~* Kapitel 10 - Von Fröschen und Hasen-Ballons "Hej!" Gunnar winkte munter trotz strömenden Regens, als er Isolder vor dem Hintereingang des Getränkegroßhandels traf. "Hallo." Isolder schüttelte sich, nieste und grinste frech. "Was macht die Liebe?" Gunnar kettete sein schweres Fahrrad an, wischte sich durch die sandfarbene Mähne, die trotz der Nässe nicht weniger ungebärdig vom Kopf abstand und ihn wie einen Löwenzahn wirken ließ. "Blüht und gedeiht", antwortete er bedächtig. "Und selbst? Schon Erfolg gehabt?" Isolder seufzte geplagt. "Das ist viel schwerer, als ich erwartet habe." Neben ihm nickte der Wikinger weise. "Und es wird niemals leicht sein. Das macht es kostbar und einzigartig." "Sprücheklopfer!", brummte Isolder gespielt abschätzig. "Hast du neben Smorrebrod auch noch chinesische Glückskekse verdrückt?" "Das stammt aus Dänemark", berichtigte Gunnar ihn gelassen. "Hast du Knäckebrot gemeint?" "Touchee!" Isolder hob die Hände, lachte. "Ich ergebe mich!" Er zeigte Gunnar, wo ihre Arbeitskleidung auf sie wartete, vertraute ihm beim Umziehen an, dass es wenigstens gelungen war, eine Verabredung zu treffen. Gunnar klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Dann wünsche ich dir viel Erfolg." "Den kann ich wirklich brauchen!", nickte Isolder vorgeblich vom Schicksal gebeutelt. "Und, hast du auch noch eine Verabredung?" Verschmitzt grinsend begab sich Gunnar zu seinem Stapel, wandte sich dann doch über die Schulter Isolder zu. "Ich hab sogar einen Übernachtungsgast!" Was blieb da mehr, als ihm Grimassen zu schneiden?! *~*8*~* Gunnar kettete gerade sein treues Stahlross los, trotz der schweißtreibenden Arbeit, die sie geleistet hatten, munter und beweglich, als sein Blick auf den Hof fiel, wo sich eine einsame, durchgeweichte Gestalt näherte. "Ernie!", winkte er fröhlich, grinste Isolder breit an, der neben ihm noch für ein kurzweiliges Geplänkel stehen geblieben war. "Schon gut, schon gut!" Isolder hob in gespielter Resignation die Hände abwehrend hoch. "Du hast gewonnen! Aber du hast ja einen Vorsprung gehabt!" Lachend fokussierte Gunnar seine Aufmerksamkeit auf Arminius. Der wie eine getaufte Ratte aussah: klatschnass und trübsinnig. An diesem äußerst unerfreulichen Umstand störte sich Gunnar keineswegs: er zog Arminius mitsamt einer kleinen Umhängetasche in seine Arme und knuddelte ihn aufgedreht. "He, he!" Arminius protestierte, funkelte Isolder an, der maßgeblich diesen Gefühlsausbruch verschuldet haben musste. Bemühte sich, mehr als die Zehen auf den gepflasterten Boden setzen zu können. "Oje, frisch verliebt!", spottete Isolder, klopfte Gunnar kräftig auf die Schulter. "Zerquetsch ihn nicht! Dann viel Spaß, ihr beiden! Tüdelüüüü!" "Zieh bloß Leine, du Schleimer!", brüllte Arminius hochrot hinter ihm her und wand sich aus Gunnars bäriger Umarmung. "Was hat der Blödmann mit dir gemacht, Flausch?! Du bist ja total abgedreht!" "Ach, ich freue mich bloß!", trällerte Gunnar, nicht um ein Pfund aus dem Gleichgewicht gebracht. "Ich habe hart gearbeitet, Geld verdient, bin total durchgeschwitzt und du kommst, um mich abzuholen! Wenn das kein Grund zum Jubel ist?!" Arminius beäugte ihn misstrauisch, umrundete ihn zu Gunnars Belustigung sogar. Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und knurrte. "Es regnet wie Sau, es ist schweinekalt, und das Schwonster hat den ganzen Tag GESUNGEN wie ne schlecht gestimmte Kreissäge! Soll ich mich da GUT fühlen?!" Gunnar biss sich auf die Lippen. Doch lange konnte er das aus der Tiefe hochsteigende, dunkle Lachen nicht unterdrücken: er schlang die Arme um den eigenen Leib und krümmte sich vor Vergnügen. Arminius als Rumpelstilzchen, rot vor indigniertem Ärger, empört über die perfide Ungerechtigkeit der Welt und äußerst beleidigt durch die belästigenden Umstände seines Daseins war unbestritten eine Schau! Das Objekt seiner Begeisterung nahm den gebückten Heiterkeitsausbruch jedoch nicht als Kotau vor einer begnadeten Darstellung einer Beleidigten Leberwurst, sondern schimpfte nach der ersten Überraschung weiter wie ein Rohrspatz. Als ihm endlich die Klagen ausgingen, genauso wie die Puste, da er ständig niesen und sich nasse Strähnen aus dem Gesicht wischen musste, fing sich Gunnar langsam wieder, deutlich errötet und mit schmerzendem Zwerchfell. "Das ist ÜBER-HAUPT nicht komisch!", behauptete Arminius verärgert und schniefte empört. Klug auf einen Widerspruch verzichtend legte Gunnar den Arm um ihn, beugte sich herunter und wisperte heiser. "Ernie, ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich sehr." DAS brachte Arminius derart aus dem Konzept, dass er den gesamten Weg zu Gunnars Wohnhaus auf dem Sozius schwieg. *~*8*~* "Aa-HHmmmhhh!" Arminius presste die Lippen zusammen, zog den Kopf ein und rollte sich zusammen, brachte das glühende Gesicht näher an die auf den Kacheln aufgestützten Unterarme. Sein Herz raste, ihn schwindelte, weil er hastig durch den Mund atmen wollte, aber reflexartig den Mund schloss, um nicht so guttural-lüstern zu stöhnen. Nicht mal das laufende Wasser der Dusche konnte solche Geräusche übertönen! Heiß siegelte Gunnar seine Schläfe mit Küssen, raunte immer wieder Silbenfetzen in sein Ohr. Wie sehr er ihn liebte. Hätte er einen klaren Gedanken fassen können, so wäre Arminius durchaus imstande gewesen zu erwidern, dass das ABSOLUT auf Gegenseitigkeit basierte. Denn sonst hätte er niemals zugelassen, dass Gunnar DAS mit ihm tat! Der ihm mit der Linken zusetzte, jede Ausweichbewegung konterte, immer fordernder seine Erektion bearbeitete, während die eigene heftig über Arminius' Hüfte strich. Die Augen zugekniffen, sodass ihm Tränen über die Wangen perlten, zitterte Arminius am ganzen Leib. Schauer über Schauer durchwanderten ihn in immer kürzeren Abständen, steigerten sich in der Intensität. Während er Sterne sah, den Kopf in den Nacken legte, um trotz der perlenden Dusche kehlig stöhnend nach Luft zu haschen, bewegten sich Gunnars Finger in seinem Inneren. Das hatte langsam angefangen, harmlos-verspielt. Eine Neckerei unter der Dusche, schlüpfrig-geschmeidig mit Duschgel, getarnt mit intensiven, leidenschaftlichen Küssen. Er hatte es sich gefallen lassen, keinen Protest erhoben. Nun gut, es hatte sich ungewohnt angefühlt, nicht besonders verlockend, doch immerhin war es sein Flausch gewesen, der ihn hier berührte. Nicht den geringsten Ekel zeigte, einen tabuisierten Körperbereich für sich zu erobern. Jetzt, geübter, konnte sich Arminius mit eisernem Willen entspannen. Gunnar schien herausgefunden zu haben, dass er mit demselben Rhythmus in beiden Händen unwahrscheinlich schnell ein Ergebnis erzielen konnte: ihn unter der Dusche zu einem heftigen Erguss zu bringen. Und er wurde immer besser! Oder war es seine eigene Vorfreude, diese prickelnde, atemraubende Erwartung, wie es sein würde? Arminius stieß einen erstickten Laut aus, bevor ihn die Schockwellen davonspülten. *~*8*~* Langsam streichelte Gunnar über Arminius' Gesicht, pflückte behutsam noch feuchte Strähnen ab. Ein schiefes Lächeln lungerte auf dessen Lippen herum. Nicht zu vergleichen mit dem Ausdruck, den Gunnar fiebrig vor Lust "erbeutet" hatte, als er Arminius unter der Dusche festgehalten hatte. Niemand außer ihm kannte diesen Gesichtsausdruck, das wusste er. Weil er der Einzige war, der Arminius so nahe kam, mit ihm schlafen durfte. "Ich habe dich unendlich lieb!", flüsterte er rau, fädelte die Arme unter dessen Achseln hindurch und rollte ihn auf sich. In seinen Augen war Arminius nicht nur begehrenswert attraktiv, warmherzig, klug und amüsant, sondern auch sehr mutig. Bewies ein großes Herz, weil er sich ihm vollkommen anvertraute. Deshalb wollte Gunnar seinem Arminius noch näher kommen. So nah, dass sie verschmolzen. Keine Lücke mehr, kein Zwischenraum. Wenn die leere Stelle in seinem Inneren schmerzte. Wenn der Blinde Fleck ihn daran erinnerte, dass er die einsame Hälfte eines verlorenen Duos war, dann konnte er es kaum ertragen, sich normal verhalten zu müssen. Nicht herauszuschreien, wie furchtbar einsam er sich fühlte, wie verlassen und betrogen. Arminius' Finger kraulten durch seine wilde, sandfarbene Mähne. "Alles in Ordnung?", erkundigte er sich mitfühlend. "Hast du Muskelkater?" Gunnar lächelte zärtlich, drückte einen flinken Kuss auf Arminius' Lippen. "Nein, ich fühle mich gut. Grandios. Prächtig." "Pscht!", kommandierte Arminius mit siegelndem Finger streng. "Danke, die Botschaft ist angekommen." Trotzdem blickte er noch immer besorgt auf Gunnar hinab. "Der Kerl hat dich doch nicht genervt, oder?" "Keine Spur." Gunnar ließ die Handflächen über Arminius' Hinterteil kreisen. "Wir sind quasi Schicksalsgenossen." Ärgerlich stemmte Arminius daraufhin die Ellen auf seinen Brustkorb, ging auf Distanz. "Und was für eine Art Schicksal wäre das?", ätzte er bissig. Die massierenden Streicheleinheiten fortsetzend, mit gesteigertem Druck, raunte Gunnar sanft, "wir sind beide in außergewöhnliche Jungs verliebt." Errötend schnaubte Arminius. "Der Kerl ist eine neurotische Plage! Schlepp den bloß nicht an!" Damit bettete er sein Haupt demonstrativ auf Gunnars Schulter. "Sonst vergesse ich ganz schnell, wo ich deinen Schoko-Nikolaus versteckt habe!" *~*8*~* Arminius hockte mit untergeschlagenen Beinen, eine Decke über den nackten Schultern, auf Gunnars Hochbett, verfolgte, wie der fachmännisch dem Nikolaus auf den Mantel rückte. Zwei gezielte Schläge genügten, und nicht nur die Königin in Alice im Wunderland hätte erfreut gerufen "runter mit dem Kopf!" Säuberlich in mundgerechte Stücke zerteilt blätterte der Hohlkörper aus Zartbitterschokolade von der Verpackung ab. Gunnar pickte ein besonders großes Bruchstück heraus und schob es Arminius zwischen die Zähne, der vollmundig kaute und dann schokoladenbraun grinste. Sein Gegenüber strahlte über den Effekt und mümmelte seinerseits vom Ex-Nikolaus. "Du sagst mir auch bestimmt, wenn dir kalt wird?", erkundigte sich Gunnar beflissen, denn ihn störte es nicht, gänzlich ohne Feigenblatt im Adamskostüm auf der Matratze zu präsidieren. Arminius, an ein Kissen gegen die Wand gelehnt und in eine Decke gewickelt, nickte stumm, der Schlucktätigkeit hingegeben. Bei Schokolade vertraute er ausschließlich der inneren Anwendung. Um die Atmosphäre ein wenig zu unterstützen, fischte Gunnar in einem Beutel herum, der an der Reling des Hochbettes befestigt war. Er fingerte eine Streichholzschachtel heraus, krabbelte dann nahe am Abgrund der Reling herum, um Teelichter zu entzünden, die in kleinen, farbigen Behältern saßen. Diese wiederum waren durch Haken und Drahtbügel mit der Reling verbunden worden, sodass sich ein fröhliches Lichtgemisch hoch über den Fußboden ausbreitete. "Sehr schön", lobte Arminius aufmerksam. Er konnte Lichterketten aus Prinzip nicht ausstehen. Sie brannten grundsätzlich genau in der Mitte durch oder schmorten etwas an und ihm oblag dann die ehrenvolle Aufgabe, den "ganzen Mist irgendwie in Ordnung zu bringen". Kerzen waren ihm sympathisch: sie brannten ab, aber nicht durch. "Ernie?" Gunnar knüllte die ehemalige Nikolaus-Hülle zu einem kompakten Ball zusammen und vertraute ihn seiner aufgehängten Mülltüte an. "Darf ich?" Die Intention war unmissverständlich, eine vertraute Zwiesprache und doch errötete Arminius noch immer jedes Mal, sehr zu Gunnars Freude. Er fand es schlichtweg hinreißend, wie unverstellt und offen Arminius sich ihm gegenüber zeigte. Einladend streckte er die Hand aus und wartete geduldig darauf, dass Arminius seine Rechte hineinlegte, näher an ihn heranrückte. Es galt nun, nichts zu überstürzen, keine Hast aufkommen zu lassen. Jeder hatte schließlich sein eigenes Tempo, in dem nach und nach sämtliche Scheuklappen, Siegelbänder und eisernen Schlösser gelöst wurden. Gunnar wiegte Arminius auf seinen muskulösen Oberschenkeln, streichelte ihn am ganzen Leib, bedeckte ihn mit warmen Küssen. Erst wenn er spürte, wie Arminius sich entspannte, die Finger aus seiner wilden Mähne zog, um ihn zu liebkosen und seine Lippen abfing, um leidenschaftliche Küsse zu tauschen, rollte er sich mit ihm auf die Matratze. Die Glieder ineinander verschlungen, ein zärtlicher Ringkampf, das baute die erste Spannung auf. Es war seine Aufgabe, selbst gewählt und nie umstritten, die Kondome überzustreifen, während sie beide heiße Atemstöße austauschten, ein nervöses Lächeln auf den Lippen. Seine wortlose Offerte, Arminius oral zu verwöhnen, war bereits im Ansatz gehindert worden, denn diese Art von Service behagte seinem Liebsten nicht. Arminius wollte nicht, dass er sich ihm unterwarf, zwischen seinen Beinen kauerte. Ganz gleich, ob ihm das vielleicht gefallen könnte oder ob Gunnar ihm diesen Liebesbeweis freiwillig und selbstlos zugedachte. Gunnar lächelte hitzig in die großen, so warmherzig blickenden Augen. Spürte einmal mehr, dass dieser Kontakt für Arminius bedeutender war als alles andere. Dann schmiegte er sich an Arminius' Rücken, halb über ihn, den linken Arm unter dessen Taille geschmuggelt, um mit sengender Handfläche seine Liebkosung fortzuführen, während er mit der Rechten über dessen Pobacken strich. Den Oberkörper auf der Matratze, den Unterleib leicht verdreht und die Beine gespreizt kam ihm Arminius entgegen, keuchte schwer, die Wangen attraktiv errötet. Seine Hände glitten fiebrig über Gunnars breiten Brustkorb und dessen Schulter, suchten Halt. Tief über ihn gebeugt tauschte Gunnar mit ihm einen langen, kräftezehrenden Kuss aus, dann angelte er nach der offenen Dose Vaseline. Arminius stöhnte leise, schloss die Augen und hakte seinen Fuß seitlich in Gunnars Kniekehle ein, um nicht instinktiv die Beine zuzuklappen. Das hätte ihm ohnehin nicht wohl getan, da seine Erektion nicht nur in kundiger Hand verwöhnt wurde, sondern gewaltig pochte. Obwohl er die Lippen zusammenpresste, konnte er den verräterischen Laut nie ersticken, der stets entwich, wenn Gunnars Finger zum ersten Mal seinen Leib eroberte. Das war weniger Schmerz als ein Startschuss an seinen gesamten Körper. Er drehte sich ganz auf die Seite, das obere Bein angewinkelt aufgedreht, grub die Finger in das Bettlaken, ließ sich ablenkend auf die Wange, die Schläfe, Hals und Schlüsselbein küssen, von glühend heißen Atemzügen bestreichen. Gunnar hielt sich nie mit seinen Lustäußerungen zurück, er hörte sie nicht einmal, wusste nicht, was ihm entschlüpfte. Er konnte nur daran denken, wie vulkanisch brodelnd sich Arminius in seinen Händen anfühlte. Und dass er mehr davon wollte. In dieser unglaublichen Hitze verglühen wollte. Mit ihm verschmelzen. Vor ihm winselte Arminius atemlos, die Augen aufgerissen, doch blicklos, von Tränen verschmiert, die sich ohne einen Schmerzreiz sammelten. Er hatte gewusst, natürlich!, dass Gunnar irgendwann nicht mehr mit den Fingern zufrieden sein würde. Dass es mehr sein musste, tiefer gehen. Dieser Augenblick war nun gekommen, er spürte ihn wie dessen flammende Erektion, die mit der Spitze an einer sehr sensiblen Stelle sein gesamtes Empfinden ausfüllte. Plötzlich ergriffen ihn Panik, Überforderung und der enorme Druck, der sich in seiner eigenen Erektion aufgestaut hatte. Arminius stöhnte und schluchzte gleichzeitig, rammte die Fingernägel in die Matratze. Wollte sich von Gunnar wegziehen, fortkriechen, endlich wieder Luft bekommen! Seine unmittelbare Reaktion, die Muskeln angespannt, hektisches Herumzappeln, verhinderte ebenso wirkungsvoll, dass Gunnar ihm den Gefallen erweisen und sich zurückziehen konnte. Er steckte simpel fest in diesem Muskelring und desgleichen mit einer sehr empfindsamen Körperpartie, die auch nicht so konnte, wie sie wollte. Unverständliche Laute hervorstoßend stemmte sich Gunnar auf die Knie, hielt dabei mit beiden kraftvollen Händen Arminius' Hüften, der ihm zwangsläufig folgen musste. Archaische Instinkte sprangen ein, bevor sich ein Chaos entwickeln konnte. Arminius kniete breitbeinig, im Hohlkreuz, schluchzte und rang nach Luft, während Gunnars Linke dessen Hüfte verließ und mehr als heftig bei der Erektion Hand anlegte. Seine Rechte strich ebenfalls zwischen Arminius' Beinen neuralgische Punkte, bis dessen Muskelring sich entspannte. Ohne Zweifel von der glühenden Hitze bereits verkohlt und schmerzhaft eingeklemmt entwickelte Gunnars Erektion ein Eigenleben, schwungvoll von seinem vernachlässigten Unterleib unterstützt. Noch während Arminius mit einem kehligen Ächzen zitternd und bebend zum Orgasmus kam, stieß er wieder und wieder heftig in dessen Leib, als könne er auf diese Weise das Innerste erreichen. *~*8*~* »Oje«, fuhr es Arminius schwerfällig durch seinen mühsam in Tritt kommenden Verstand. Kein Wunder, denn nach heftigem Blinzeln und Wimpernklimpern bot sich ein bestürzendes Bild: im gedämpften Kerzenschein kniete Gunnar neben ihm und heulte Rotz und Wasser. Obwohl er unablässig mit Handrücken, Fingern und Unterarmen wischte, die Nase hochzog und zum Steinerweichen schniefte, verbesserte sich der verheerende Gesamteindruck nicht. Gunnar weinte wie ein kleines Kind. Laut, ungehemmt. Ächzend gelang es Arminius, sich auf die Ellenbogen zu hieven. Er konnte die unartikulierten Laute nicht verstehen, begriff nicht, warum Gunnar hier Feuchtgebiete ansiedelte. Sein eigener Körper fühlte sich bleischwer und kraftlos an, als hätte er überall Muskelkater nach einem sehr anstrengenden Krafttraining. Oder nach einer heftigen Grippeattacke. Atemlos keuchend rollte er mit mühsam angezogenen Knien auf die Seite und saß endlich aufrecht. "...herrje!", murmelte er eingeschüchtert, tastete nach dem Papiertaschentuchspender und begann, Gunnars Arme wegzuziehen, um ihm das Gesicht zu trocknen. Die aktive Salzbesprengung stellte sich allerdings dadurch noch nicht ein. "Was ist denn los?" Seine eigene Stimme klang schrill und kläglich, mit einer Tendenz zum Zänkischen. Die ganze Situation überforderte ihn, und Gunnars kindliches Aufschluchzen half ihm gar nicht. Immer hektischer kämpfte er mit Zellstofflagen gegen die Tränenfluten, ließ schnäuzen, doch der Erfolg blieb aus. "Hör jetzt auf, verdammt!", brüllte Arminius schließlich frustriert und ratlos, schüttelte Gunnar rücksichtslos, bis dessen Zähne aufeinander schlugen. Sein Geschrei und die rüde Behandlung lösten einen Schluckauf aus, der wiederum von den Tränen ablenkte. Der verstörte Ausdruck auf dem sonst so heiter-jovialen Gesicht seines Quasi-Wikingers tat ihm sofort leid. Sein Mitgefühl war geweckt und kommandierte, er möge blitzartig reagieren, den armen Flausch in die Arme nehmen! Was Arminius auch tat, Gunnar festhielt und dem aufsässigen Frosch auch noch die Luftzufuhr abdrehte. Er wiegte ihn lange, bis kein Schluchzen, kein Schniefen oder Ächzen mehr zu hören war. "Ist ja alles gut!", summte er heiser. "Alles ist gut. Nicht mehr weinen, ich bin doch da." Dann dirigierte er Gunnar wieder in eine sitzende Position, studierte dessen erheblich gezeichnete Miene kritisch. Und tat etwas, was Mütter zu tun pflegen: er spuckte in ein Taschentuch und begann, sehr energisch über Gunnars Gesicht zu reiben. Nichts konnte radikaler sein als die Realität. "So ist's besser", stellte er fest. "Zumindest ein wenig." Er stemmte sich von den Fersen hoch, legte beide Hände kraftvoll auf Gunnars Schultern, hielt dessen ängstlich-verunsichertem Blick stand und drückte ihn rücklings auf die Matratze. Bevor Protest aufkommen konnte, knurrte er autoritär. "Unten bleiben. Und kein Gezappel!" Denn zum ersten Mal war es an ihm, die Kunststoffhüllen abzupellen, zu verknoten und eilig zu entsorgen. "...Ernie..." "Schnabel halten!" Arminius klemmte die Zungenspitze in einen Mundwinkel. "Muss mich konzentrieren." War ja auch gar nicht so einfach, runterrollen, aber den Inhalt nicht versehentlich doch auf die Bettwäsche verteilen, dann ohne Glitsch und Glibber Knoten drehen und überhaupt! Bei sich selbst ging er weniger vorsichtig zu Werke, fischte dann noch mehr Papiertaschentücher, um letzte Spuren abzureiben. Außerdem war da ja noch... "Wie ich das hasse", knurrte er selbstvergessen, denn die Vaseline musste ja schließlich auch noch entfernt werden! Dafür waren Verrenkungen vonnöten, gerade jetzt, wo er das Gefühl hatte, in einem Taucheranzug bei erhöhter Schwerkraft agieren zu müssen! "...Ernie..." "Sekunde noch!", keuchte Arminius, rollte sich wieder auseinander, Schweißperlen auf der Stirn. "Ich schwöre dir, wenn meine Mutter das nächste Mal davon fabuliert, dass ich ohne Fußballtraining fett und unsportlich werde, dann beschreibe ich ihr mal, wie anstrengend DAS HIER ist!" Neben ihm schniefte es verhalten. Arminius beugte sich eilig über Gunnar. "So habe ich das nicht gemeint!", versicherte er hastig, zupfte ihn an der Nasenspitze. "Flausch, wenn du wieder zu heulen anfängst, dann haue ich dir so lange dieses Kissen auf den Kopf, bis du aufhörst!" Keine besonders eindrucksvolle Drohung, aber Gunnar erstarrte trotzdem, atmete prompt falsch und produzierte den nächsten Schluckauf. "Also, ich weiß ja nicht!", knurrte Arminius. "Wie stellst du das bloß an?!" Er krabbelte brummelnd und grummelnd zur Leiter, kletterte ungelenk herunter und wickelte sich in der Dämmerung am Fuß des Hochbettes in Gunnars Bademantel. "Ich hole was zu trinken. Hält man ja nicht aus, das Gequake!" Ein wenig hüftsteif und schwerfällig schleppte er sich in die winzige Küche, fand eine Tüte Orangensaft. In einer leeren Isolierkanne mischte er den Saft mit Leitungswasser, schraubte den Deckel zu und hängte sich zwei Plastiktassen an den Henkeln in die Finger, bevor er zu Gunnar zurückkehrte. Dessen Frosch lärmte noch immer, weshalb sich Arminius rasch des Bademantels entledigte, bewaffnet mit Schluckaufbekämpfungsmaterial den Aufstieg in Angriff nahm. Gunnar lag noch immer auf dem Rücken, einen Arm quer über die Augen gelegt, die andere Hand auf dem trainierten Bauch. "Setz dich mal auf, ja?" Arminius füllte eine Tasse bis zur Hälfte. "Dem Frosch werde ich es zeigen!" Mit der freien Hand zuppelte er ein Kissen zurecht, damit sich Gunnar anlehnen konnte, drückte ihm dann den Plastikbecher in die Hand. Der wartete eine Pause zwischen dem Froschkonzert ab, um den verdünnten Orangensaft zu schlucken. Dabei zog er eine kindliche Grimasse, aber die Anti-Froschkur zeitigte Wirkung: das Quaken blieb aus. "Besser, oder?" Zum Lohn für die Tapferkeit kraulte Arminius Gunnar die zerwühlte Mähne. Der nickte kläglich und hielt sich wieder den Bauch. "Tut's weh?" Arminius fühlte sich, als müsse er mit einem Kind umgehen. Aber aus Erfahrung konnte er behaupten, dass Gunnar sich nicht absichtlich so gebärdete. Immer, wenn sein Freund durcheinander war, emotional gestresst, reagierte er wie ein Kind, direkt, unverfälscht und im Vertrauen darauf, dass Arminius ihm beistehen würde. Ein merkwürdiger Kontrast zur äußeren Erscheinung, dem Wikinger mit den hellen, wasserklaren Augen, der athletischen Schwimmerfigur und der imponierenden Kraft in den attraktiv geformten Muskeln. Kurzentschlossen hauchte sich Arminius kräftig auf die Handflächen, rieb sie emsig aneinander und legte sie dann auf Gunnars Bauch. In kreisrunden Bewegungen strich er behutsam über die Seiten, büchste nach oben und unten aus. "Schon besser?", erkundigte er sich, studierte die geröteten Augen eindringlich. "Vielleicht solltest du dich hinlegen?" Vertrauensvoll streckte sich Gunnar artig aus, ließ sich von ihm die Bauchmuskeln mit den Fingerknöcheln kneten, bis die gemeine Froschattacke ausgestanden war. Kaum hatte sich Arminius selbst mit Orangensaft gestärkt und neben Gunnar gelegt, da rollte der sich schon auf die Seite, schmiegte sich an ihn und hielt ihn fest genug, um ernsthaft Erstickungsgefahr auszulösen. "Flausch!", protestierte Arminius deshalb auch ächzend. "Ich krieg keine Luft mehr!" Widerwillig lockerte sich das kraftvolle Band um seinen Brustkorb wieder, aber die Tuchfühlung reduzierte sich nicht um einen Millimeter. Beruhigend streichelte Arminius über den breiten Rücken, verwirrte seine Finger in der ungebärdigen Mähne. "Alles in Ordnung mit dir?", fragte er leise, schielte an sich herunter, denn Gunnar hatte den Kopf auf seine Brust gebettet. "Hmmhmm", brummte es kleinlaut an seinem Brustbein. "Fein." Arminius kraulte den kräftigen Nacken unter dem Strähnen-Dschungel. "Was ist vorhin los gewesen, Flausch? Warum hast du geweint?" Auf ihm verkrampfte sich der athletische Körper sofort, aber Arminius war nicht gewillt, diese Angelegenheit unter den nicht vorhandenen Teppich zu kehren. "Wenn du's mir nicht sagst, kann ich's nicht wissen", setzte er geduldig nach. "...ichhabdasnichtgewollt!", sprudelte ihm ungewohnt hell entgegen, dann schielte Gunnar hoch, so bange, als erwarte er eine Strafe. "Tutmirleid, tutmirfurchtbarleid!" "Hä?", formulierte Arminius perplex und sehr eloquent. Dann schwoll ihm metaphorisch sein Kamm an. "Was soll das heißen, hm? Du hast mich doch gefragt, oder?! Wieso hast du es dann nicht gewollt?!" Gunnar zog tatsächlich den Kopf zwischen die Schultern ein! »So haben wir aber nicht gewettet!«, schnaubte Arminius, der durchaus wusste, dass Gunnar ihm gewisse Erfahrungen voraus hatte. Sich deshalb jedoch diskriminieren zu lassen, bloß weil er vorher noch nie...! NEIN, das würde er nicht akzeptieren! Mit einem energischen Stoß beförderte er Gunnar von sich, hockte sich dem Überraschten auf die Oberschenkel und pinnte dessen Schultern in Höhe des Bizeps auf die Matratze. Fuchtig vor Wut zischte er, "ich gebe mir wirklich Mühe, ja?! Wenn's dann nicht so hinhaut, kannst du mir doch nicht allein die Rote Karte zeigen! Ich kann doch nichts dafür, dass..." Dunkelrot anlaufend verstummte er. Dass ein gewisser Körperteil in voller Durchblutung vielleicht ein wenig ZU groß geraten und ein bestimmter anderer Körperteil nicht unbedingt darauf konditioniert war, sich in umgekehrter Richtung benutzen zu lassen, also, DAS wollte er dann doch nicht aussprechen. Nicht mal laut denken! Unter ihm kämpfte Gunnar mit Tränen, wie ein gescholtenes Kind. Arminius seufzte und sackte in sich zusammen. "He, nicht heulen, ja?" Er beugte sich herunter, streichelte Gunnar über die Wangen, rieb die Nasenspitze an seiner. "Ich hätte nicht brüllen sollen, entschuldige." Ein wenig verlegener ergänzte er dann leise. "Und wenn ich dir weh getan habe, dann tut's mir leid. Es war keine Absicht." Gunnar schniefte unter ihm, löste mühelos seine Arme und schlang sie um Arminius' Nacken, zog ihn fest auf sich herunter. Kläglich druckste er an dessen Ohr. "Ich war's doch...ich hab dir weh getan... konnte einfach nicht... bist nicht aufgewacht..." Nun dämmerte Arminius, was geschehen sein musste: er war ohnmächtig geworden! Und das, was er für einen kleinen Aussetzer gehalten hatte (nach seinem Gefühl hatte er ja nicht viel verpasst), konnte unter Umständen sehr viel länger angedauert haben, als ihm bewusst war! "Oh", stellte er treffend fest, drückte sich unter großer Anstrengung von Gunnar hoch, der noch immer mit unzusammenhängenden Worten sein Bedauern bekannte. "Stopp", versiegelte er die gestotterten Äußerungen mit einem diktatorischen Finger, runzelte konzentriert die Stirn. "Wir reden hier nicht zufällig darüber, dass ich irgendwie", er seufzte gepeinigt, "na ja, k.o. gegangen bin?" Das KLANG wenigstens nicht ganz so peinlich! Unter ihm blinzelte Gunnar mit entzündeten Augen ebenso verwirrt. "Mann-O-Mann", stellte Arminius fest, grinste schief. "Ich dachte schon, es wäre so mies gewesen, dass du nicht mehr mit mir...ähem!", kürzte er seinen Satz ab. Studierte seinen Freund nachdenklich, streichelte ihm sanft über die struppige Mähne, die markanten Züge, bedächtig und liebevoll. "Flausch", murmelte er, den Blick unter sich gerichtet, "ich hab das gar nicht mitbekommen. War ich lange ohnmächtig?" Gunnar kaperte Arminius' Hände und umklammerte sie. Er würgte hervor, "hast dich nicht mehr gerührt!" Arminius leckte sich über die Lippen, von der schrillen Anklage getroffen. Sein Freund konnte unbekümmert vom 10m-Sprungbrett hopsen, ohne mit der Wimper zu zucken, deshalb bedurfte es schon einiger Anstrengung, ihm solche Angst zu machen. "Ich hab's nicht gemerkt", wiederholte er beklommen, kauerte sich über Gunnar, bedeckte dessen blasses Gesicht mit Küssen. "Aber mir geht's gut. Alles in Ordnung. Du musst keine Angst mehr haben." Er rutschte neben Gunnar auf die Matratze, setzte seine Liebkosungen fort. "Alles okay, siehst du? Nichts passiert!" Der vergrub schließlich das Gesicht in Arminius' Halsbeuge. Zunächst undeutlich, dann gefasster entledigte er sich seines Schreckens, indem er Arminius anvertraute, was ihn bis ins Mark erschüttert hatte. "...ich wollte aufhören...aber es ging einfach nicht! Ging nicht! Wollte dir doch nicht wehtun! Und dann... dann bin ich auf dir gelandet...und du hast dich nicht mehr gerührt! Gar nichts mehr! Und ich hab Angst gehabt...weil du ganz still warst... so weit weg... und ich dachte... weil ich doch nicht aufhören konnte... es hat mir so leid getan! So leid!" "Flausch!" Arminius wickelte die Finger um sandfarbene Strähnen, lupfte Gunnars Kopf an, damit der ihm auch wirklich einen Blick gönnen musste. "Schau mich mal an, ja? Wenn ich dir sage, dass es mir gut geht, glaubst du mir?" Gunnar nickte zögerlich. "Du hast nichts falsch gemacht", versicherte ihm Arminius nachdrücklich, legte ihre Stirn aneinander. "ICH hab's vermasselt. Hast du mich trotzdem noch lieb?" Unter ihm keuchte Gunnar, wisperte dann erstickt. "Hab dich lieb! Sehr lieb!" Hob die Arme, streichelte seinerseits durch Arminius' Schopf. Arminius lupfte kritisch eine Augenbraue. "Sag mal, Flausch, kannst du ein Geheimnis bewahren?! So richtig bis zum Grab, und so weiter?!" Verwirrt nickte Gunnar, atmete tief durch. Langsam löste sich die quälende Verspannung in seinen Muskeln. "Ich mein's ernst!" Arminius kniff ihn in die Nase, funkelte mit finsterster Miene drohend auf ihn herab. "Du musst es mir versprechen! Und wenn du das verrätst, dann fallen dir sofort alle Haare aus!", kündigte er theatralisch an. Das zauberte ein minimales Grinsen auf Gunnars noch immer fleckige Gesichtszüge. "Ich verspreche es", formulierte er artig. "Naaaa gut!" Arminius bemühte sich um einen düsteren Blick. "Ich verlass mich darauf!" Nun hatte er Gunnars gespannte Aufmerksamkeit...und tanzte da nicht ein winziges, amüsiertes Lächeln in dessen Mundwinkeln? "Also", holte er großspurig aus, "ich war mal klein. kleiner als jetzt!" Präzisierte er in dem ausschweifenden Stil, der seinem Freund GARANTIERT ein Grinsen entlocken würde. "Da war ich übel erkältet. Nase zu, Hirn zu, Ohren zu, total matschig. Meine Großeltern kamen zu Besuch und brachten tolle Ballons mit. Mit Hasenohren und Gesichtern. Aber unaufgepustet." Er verdrehte dramatisch die Augen, vom Schicksal gestraft. "Das blöde Schwonster nervte damals schon unerträglich. Ohne Erkältung hatte sie natürlich ihren Ballon schon aufgeblasen! Ich durfte aber nicht, wegen der doofen Erkältung." Arminius lehnte sich tiefer zu Gunnar, blickte sich verschwörerisch um, bevor er ihm zuraunte. "Das konnte ich selbstverständlich nicht auf mir sitzen lassen! Also hab ich doch meinen Ballon aufgepustet." Seufzend nickte er weise. "Und, du ahnst es schon, kurz vor Schluss hatte ich einen Kopf wie ne Gasuhr, keine Luft mehr und bin prompt zu Teppich gegangen. Sehr unschön", stellte er mit verletzter Würde fest. Gunnars Augen betrachteten ihn geweitet, voller Spannung. "Na ja." Arminius lächelte besänftigend, zauste die ungebärdige Mähne. "Meine Mutter hat den Braten gerochen, kam in mein Zimmer und sah mich umkippen. Dann hat sie mich mit einem Zahnputzbecher voll Wasser getauft und zack! War ich wieder da." Er zupfte an Gunnars Nasenspitze. "Und, was lernen wir daraus?" "Bei Erkältung keine Ballons aufpusten?", hasardierte Gunnar vorsichtig vergnügt. "Neee, du Held!", schnaubte Arminius, grinste dann aber. "Das nächste Mal kippst du mir einfach Wasser über oder schüttelst mich mal kräftig. In Ordnung?" "In Ordnung", antwortete Gunnar mit einem schüchternen Lächeln, streichelte ihm dann behutsam über die Schläfen. "Tut dir wirklich nichts weh?", erkundigte er sich bange. Arminius seufzte übertrieben, streckte sich bäuchlings auf Gunnar aus, die Ellen auf dessen Brustkorb gelegt. "Willst du wissen, wie ich mich fühle? Total gerädert. Fertig. Ausgelutscht. Erledigt." Er schmiegte die Wange auf Gunnars Schulter, erwiderte dessen Umarmung. "Beim nächsten Mal wird's besser. Mit ein bisschen Übung..." Er räusperte sich, die Wangen glühend rot vor Verlegenheit. "...danke schön", flüsterte Gunnar leise. Schmunzelnd schob sich Arminius nach oben, drückte einen Kuss auf dessen Lippen, zwinkerte. "Da nich für." Gunnar drehte sich ganz auf die Seite, ihm zugewandt, blinzelte erschöpft. Trotzdem sah er Arminius unverwandt an, als könne der sich auflösen, wenn er ihn nicht ununterbrochen im Auge behielt. "Ich liebe dich", flüsterte er kehlig. "Ich liebe dich, Ernie." Arminius erwiderte den Blick einen langen Moment, dann setzte er sich auf, um die Kerzen nacheinander auszublasen. Er kuschelte sich bei Gunnar ein, schob vertraut eine Hand in die wirren Strähnen. Es beruhigte ihn, sie zu striegeln. Ganz leise, kaum hörbar, raunte er in das darunter befindliche Ohr. "Ich liebe dich auch, Flausch." Gerade, als er einschlafen wollte, murmelte Gunnar müde an seiner Seite. "Was ist mit dem Ballon passiert?" Schnüffelnd verlagerte Arminius seine Glieder in eine bequeme Lage und brummte. "Mein Vater hat ihn aufgeblasen. Dabei ist er geplatzt." Und bevor Gunnar mit breitem Grinsen trotz Morpheus' ungeduldiger Aufwartung den Mund zur Nachfrage öffnen konnte, legte er ihm die Hand drauf und knurrte. "Der BALLON, Flausch. Der Ballon!" *~*8*~* Isolder schwante Übles, als Llywelyn nicht wie gewohnt in der Videothek eintraf. Mühsam bezähmte er seine Ungeduld, konzentrierte sich auf die letzten Kunden, spähte immer wieder auf den Monitor, der den Eingang überwachte. War etwas passiert? Oder hatte Llywelyn keine Lust zu kommen? Er malmte kriegerisch mit den Kiefern, verwünschte sich selbst für diese ungewohnte Fixierung auf eine Person. Wo sollte das bloß hinführen?! Komplett unvernünftig! Zehn Minuten vor Ladenschluss rollte Llywelyn dann heran. Er trug ein knielanges Regencape, darunter ein Tuch, um bis zur Nasenspitze das Gesicht zu verbergen. Keinen Schal, keinen extravaganten Hut, keine gekürzten Hosen! In Jeans mit Bügelfalten über den Clogs näherte er sich Isolder, der nicht wusste, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Die milchweißen Hände ohne die gewohnten Handschuhe waren gerötet von der nasskalten Witterung, umklammerten nervös die Trageriemen des Rucksacks. "Guten Abend." Selbst seine Stimme klang verändert, flach und fade. "Guten Abend, Llywelyn", antwortete Isolder angespannt, blieb zum ersten Mal hinter dem Tresen stehen. Llywelyn sah in diesem Aufzug nicht wie er selbst aus. "Ich-ich kann unsere Verabredung morgen nicht einhalten", brachte er hastig hervor, die silbergrauen Augen unfokussiert. Isolder atmete tief durch, zählte zähneknirschend bis Zehn. "Warum nicht?", erkundigte er sich dann in beherrschtem Tonfall. Die eleganten Hände umklammerten die Rucksackriemen nun so verkrampft, dass die Knöchel spitz unter der Haut hervorstanden. "Es ist...", Llywelyn holte scharf Luft, "es ist etwas dazwischengekommen." "Dann bitte ich dich höflich, mir das zu erklären." Isolder überraschte sich selbst mit der frostig-beharrlichen Replik. Bis jetzt hatte Llywelyn ihm nicht einmal wie üblich konzentriert und aufmerksam ins Gesicht gesehen. Deutete das auf eine Notlüge hin? Unverändert starrte der mit flackerndem Blick auf den Tresen. "Meine Eltern haben eine andere Verabredung für mich getroffen. Ohne mein Wissen." Isolder merkte auf. Für jemanden, der sonst ausgesucht neutral und gefasst sprach, klang diese Äußerung verdächtig bitter und erregt. "Bevor oder nachdem sie von unserer Verabredung erfahren haben?", drehte er den Dolch in der Wunde. Immerhin war es nicht ausgeschlossen, dass allein seine Herkunft für eine ablehnende Haltung sorgen konnte. Llywelyns goldene Augenbrauen umgaben die kleine Falte, seine silbergrauen Augen ruhten plötzlich in Isolders dunkelblauen. Die sonst kirschroten, dezent aufgeworfenen Lippen wurden zu blutleeren Strichen zusammengepresst. »Aha«, schlussfolgerte Isolder angesichts der Körpersprache. »Gleich bekomme ich wohl eine Tirade zu hören!« Angespannt und sehr aufrecht antwortete ihm Llywelyn nach einem sehr langen Moment. "Sie haben diese Verabredung getroffen, als ich gestern nicht zu Hause war. Weil ich sie nicht sofort davon in Kenntnis gesetzt habe, dass ich anderweitige Pläne für morgen habe, sind sie der Auffassung, dass ich unmöglich absagen kann." "Aber mir kannst du absagen, wie?!", platzte Isolder empört heraus. Llywelyn stand starr und steif vor ihm, wich seinem wütenden Blick nicht aus. "Es ist mir sehr unangenehm, aber ich muss unsere Verabredung absagen. Die Unannehmlichkeiten bitte ich höflich zu entschuldigen." "Nein!", knurrte Isolder grimmig. "Ich entschuldige NICHT! Was ist so wichtig, dass du da unbedingt hin musst?!" Unwillkürlich wich Llywelyn vor ihm einen Schritt zurück, zog den Rucksack hoch, als könne der ihm Schutz bieten. "Also? Was ist das für eine bedeutende Veranstaltung?" Isolder ließ nicht locker, beugte sich bedrohlich über den Tresen. Er MUSSTE erfahren, wieso er hier den Kürzeren zog! "Ein Benefiz-Brunch. Geschlossene Gesellschaft", teilte Llywelyn ihm leise mit, machte dann auf dem Absatz kehrt und flog förmlich zum Ausgang. "Warte! Llywelyn, warte doch!" Isolder verriegelte die Anlage, hechtete über den Tresen und nahm die Verfolgung auf. Doch Llywelyn erwischte ihm um Haaresbreite in die nasskalte, verregnete Nacht. "Verdammt! VERDAMMT!", brüllte Isolder sich die Frustration von der Seele. Das war doch einfach nicht fair! *~*8*~* "Ummmhhhh...wowarschduu?" Arminius gähnte, rieb sich die Augen, kratzte sich den Schopf und streckte räkelnd seine Glieder. Über ihm hörte er, sehr willkommen, Gunnars dunkles, sonores Auflachen. "Guten Morgen, Ernie." Ein Kuss landete warm und zielgenau auf seiner Stirn. "Hast du gut geschlafen?" "HmmHmm", brummte Arminius, klappte vollends die Lider hoch und schielte über sich. "Du bist geradezu ekelhaft wach", stellte er grimmig fest, begleitet von einer düsteren Grimasse. Unbeeindruckt von diesem vernichtenden Urteil lächelte Gunnar liebevoll auf ihn herunter, streichelte ihm mit einem Handrücken über die vom Schlaf leicht geröteten Wangen. "Hrmpf!", konstatierte Arminius resigniert, hievte sich theatralisch ächzend in eine sitzende Position. "Magst du jetzt frühstücken?", erkundigte sich Gunnar eifrig, strahlte ihn an. »Kein Vergleich zu gestern!« Arminius spürte eine heftige Woge der Erleichterung. "Wenn ich schon aufstehen muss", knurrte er gespielt grantig, "kann ich auch was essen. Hab schließlich schwer geschuftet!" Unerwartet wurde er in eine heftige Umarmung gezogen. "Ernie, es tut mir so leid!", murmelte Gunnar gequält. "Bitte sei mir nicht böse!" "Wer ist hier böse?!", schnaubte Arminius, fischte verirrte Strähnen aus seinem Mund. "Pfuibah, Attacke der Riesenzotteln!" Er stemmte sich gegen Gunnars breite Brust. "Nun merk mal sorgsam auf, wertester Flausch!", funkelte er in die hellen Augen. "Ich bin NICHT böse! Das ist alles Quatsch mit Soße, verstanden?!" Trotz dieser harschen Aufforderung ähnelte Gunnar leider noch immer einem gepeinigten Welpen mit Trauer umflorten Augenaufschlag. "Herrjemine!", stöhnte Arminius entsprechend auf, raufte Gunnars sandfarbene Mähne nachdrücklich. "Gut, wir waren beide gestern nicht besonders cool! ABER", er reckte Achtung gebietend einen Zeigefinger, "wir haben beide was gelernt! Ich mag's nicht, wenn du heulst, und du magst's nicht, wenn ich umkippe! Also sind wir heute Morgen schon klüger als gestern Mittag!" Lautete sein triumphierender Epilog. Gunnar grinste zögerlich, seufzte dann laut und legte den Kopf auf die Seite. "Ich hab dich wirklich sehr lieb, Ernie!", flüsterte er errötend. "Sehr, sehr, sehr lieb!" Arminius zauste ihm den Schopf. "Wie gut, dass ich mich auch lieb habe", neckte er. "Na ja, und ein bisschen mag ich dich auch." Das Gefühl passte zwischen Zeigefinger und Daumen. "Das ist nicht nett", stellte Gunnar fest. Dann schlich sich ein ausgesprochen spitzbübischer Ausdruck in seine markanten Züge. Flink stippte er mit den Fingern in Arminius' Seiten, treffsicher bei jedem Fleck, der verdächtig kitzlig schien. Kreischend und quietschend versuchte Arminius, sich in Sicherheit zu bringen, doch Gunnar war ihm überlegen und nutzte die Gelegenheit weidlich aus. Keuchend und prustend rollten sie nebeneinander auf das verwüstete Bett. Sofort fasste Gunnar nach Arminius' Hand, verflocht ihre Finger miteinander. "Ich war unterwegs, hab die Zeitungen mitausgetragen", verriet er gelöst. "Dafür habe ich zwei Taubeneier bekommen. Können wir frühstücken." Er drehte den Kopf zu Arminius, um dessen Zustimmung zu erheischen. "Klingt gut", nickte der nachgiebig. "Ich glaube, ich sollte aber zuerst unter die Dusche springen. Wann kommt deine Mutter denn von der Nachtschicht?" "Dauert noch ein bisschen", beruhigte ihn Gunnar, zwinkerte ihm zu. "Magst du mit mir duschen?" "Oh nein!", lehnte Arminius heftig ab, denn das freudig-erregte Funkeln in den wasserklaren Augen war ihm nicht entgangen. "Ich will bloß fix nass werden und dann SOFORT was essen! Du machst Frühstück, klar?!" "Ich seife dich auch ein!", bot Gunnar selbstlos an, grinste dabei aber verräterisch. "Nix da!" Kategorisch wehrte Arminius weitere unmoralische, aber eindeutige Offerten ab, setzte sich auf. "Hoch mit dir und ab ins Kitchen! Erstens wird mir kalt, und zweitens hängt mir der Magen in den Kniekehlen!" Gunnar lachte, erhob sich aber ebenfalls. "Man MUSS Prioritäten setzen!", belehrte ihn Arminius betont wichtigtuerisch, während er schon die Leiter herabkletterte. "Außerdem hält so ein Schoko-Nikolaus ja nicht ewig vor!" Das war nun wirklich ein wahres Wort! *~*8*~* Arminius aß gern bei Gunnar. Der konnte gut genug kochen, um sich allein zu versorgen, und vor allem: er durfte es auch! Seine eigenen Fertigkeiten beschränkten sich auf kuriose Mixgetränke und den virtuosen Gebrauch der Mikrowelle. Alles Übrige hätte potentiell die Küche verwüsten können. Und wehe, wenn seiner Mutter so etwas untergekommen wäre! Gott mochte vergeben und verzeihen- seine Mutter nicht! Er baumelte mit den Beinen, stippte in dem Tauben-Spiegelei mit Ketchup-Grinsen darauf und schlürfte genießerisch den heißen Tee. Aufgebackene Brötchen mit Orangenmarmelade oder Honig: da ging's ihm schon gleich wieder gut! Gunnar langte über den kleinen Tisch, wischte Arminius einen süßen Krümel von der Wange und leckte sich selbst über den Finger. Arminius zog ihm eine breite Grimasse und kaute mit vollen Hamsterbacken vergnügt weiter. In der Wohnungstür hörten sie das leise Kratzen eines Schlüssels, dann stampfte jemand fest auf die ausgelegten, alten Handtücher. "Brrrr! So ein Mistwetter!", schimpfte Gunnars Mutter, entledigte sich den Geräuschen nach zu urteilen ihrer nassen Kleider. "Guten Morgen, Mama!" Gunnar rutschte elegant von seinem Stuhl, strich im Vorbeigehen Arminius über den Schopf. "Wie war dein Dienst?" Arminius verstand nicht, was genau die beiden im Flur besprachen, er hörte lediglich die Melodie ihrer Stimmen. Er kannte Gunnars Mutter nicht besonders gut, da sie als Krankenschwester oft Nachtschicht arbeitete, um genug Geld zu verdienen. Aber wenn er ihr begegnete, unterschied sie sich gewaltig von seiner eigenen Mutter. Sie hatte etwas undefinierbar Nordisches an sich, freundlich, unverkrampft und zupackend. Zum Beispiel bestand sie darauf, dass er sie duzte und mit ihrem Vornamen adressierte, was sich seine eigene Mutter unter Garantie verbeten hätte. Außer von potentiellen Schwiegersöhnen oder -töchtern. In hundert Jahren. Vielleicht. Außerdem hegte er den unwidersprochenen Verdacht, dass SIE zumindest genau wusste, dass ihr Sohn nicht bloß einen "Kumpel" mit nach Hause brachte. Ob ihr das zusagte oder eher nicht gefiel, konnte Arminius an ihrem Verhalten nicht ablesen. Kurz darauf betraten Mutter und Sohn gemeinsam die kleine Küche, die sofort überfüllt wirkte. "Hallo, Ernie!" Sie verwuschelte Arminius' Schopf. "Seid ihr schon mit Frühstücken fertig? Bleibst du bis zum Kaffee?" Bedauernd schüttelte Arminius den Kopf. "Nein, das geht leider nicht. Ich muss zum Mittagessen pünktlich zu Hause sein. Und danach fahren wir zu meinen Großeltern. Schade", zuckte er mit den Schultern. "Dann ein Andermal!" Henrike nahm seine Absage nicht tragisch. "Ich werde mich jetzt unter die Dusche und dann in die Koje verziehen. Grüß deine Familie von mir, ja?" Artig nickte Arminius und wünschte angenehme Ruhe. Rasch spülten sie gemeinsam und leise das Geschirr ab, räumten ein wenig auf. "Für einen Spaziergang ist doch noch Zeit, oder?" Gunnar blieb nicht gern allein zurück. "Na klar!" Arminius zog eine Grimasse. "Die Aussicht auf Züricher Geschnetzeltes ist nicht gerade erhebend." "Warum?" Gunnar wickelte ihm fürsorglich den Schal um den Hals, nahm ebenso selbstverständlich Arminius' kleine Reisetasche. "Buärks!" Arminius ließ die Zunge aus dem Hals hängen. "Das sieht doch aus wie schon mal verdaut und dann ausgekotzt! Zumindest bei meiner Mutter", relativierte er generös. Neben ihm schmunzelte Gunnar. "Also brauche ich mir diese Fertigkeiten nicht zuzulegen." Arminius warf ihm einen scheelen Seitenblick zu. "Du versuchst nicht gerade, mir einen Antrag abzuluchsen, oder?" Lachend nahm Gunnar seine Hand, versenkte beide in seiner warmen Jackentasche. "Ich hätte nichts dagegen, wenn du mich fragen würdest!" "GRMPF!", kommentierte Arminius. "Flausch, übertreib's nicht!" Hoheitsvoll ergänzte er. "Ich beabsichtige nämlich erst Fangeisen auf mich zu nehmen, wenn ich ein gemachter Mann bin!" "Gemachter Mann?", echote Gunnar amüsiert den altertümlichen Begriff. "In welcher Hinsicht 'gemacht', Ernie?" "Tja!", schnurrte Arminius ganz gegen die Erwartung seines Freundes verschmitzt, "DAS musst du schon selbst herausfinden, Flausch!" *~*8*~* Kapitel 11 - Der Piraten-Prinz Gestärkt mit einem ordentlichen Frühstück nach einem aufbauenden Training machte sich Isolder auf den Weg. Beinahe fühlte er sich wie in einer leicht modifizierten Neuauflage der "Reifeprüfung". Zugegeben, er war definitiv größer (und sah auch besser aus) als Dustin Hoffman, es stand keine Hochzeit bevor, und er hatte weder mit einer Mutter noch einer Tochter eine Affäre. Aber er war fest entschlossen, sich auf dem Kirchengelände in eine geschlossene Gesellschaft einzuschleichen, um seinen Liebsten zu entführen. Einfach aufzustecken, sich hinten anzustellen, DAS kam nicht in Frage! Es war ihm nicht besonders schwergefallen herauszufinden, wo am zweiten Advent ein Brunch als Benefizveranstaltung stattfand. Wozu gab es schließlich entsprechende Kalender? »Jetzt brauche ich nur noch ein Quäntchen Glück«, spornte er sich selbst an. Um diesem auf die Sprünge zu helfen, hatte er sich so konservativ und fein wie möglich angekleidet, den Parka ausgeklopft, seinen Schal elegant geknotet und die Haare mit einem Tupfen Gel bearbeitet, damit sie auch glatt glänzten. "Siehst wie n schwuler Schikolo aus!", stellte Hardy missmutig fest, der sich lieber mit seinen Freunden herumgetrieben hätte, doch Isolder hatte ihm kategorisch verboten, einfach abzuhauen. Jemand musste ihrer Mutter Gesellschaft leisten, und Hardy war mit seinen Hausaufgaben und häuslichen Pflichten ohnehin im Hintertreffen! Isolder konsultierte seine Armbanduhr und marschierte flotten Schritts los. Einmal umrundete er das weitläufige Gelände der Gemeinde, die Gastgeber der geschlossenen Gesellschaft war. Dann hatte er sich schon für die günstigste Einstiegsstelle entschieden: an einem mannshohen Pfahl konnte er sich mit Schwung hochziehen und so den Zaun überwinden. Auf dem Gelände kontrollierte er seine Bekleidung, ob er sich nicht irgendwo beschmutzt hatte. Anschließend hielt er forsch auf das Haus zu. Praktisch, da fand sich sogar ein geöffnetes Toilettenfenster! Geschickt kletterte er über ein Geländer, spähte vorsichtig ins Innere und erkannte, dass Madame Fortuna ihm wirklich hold sein musste: es handelte sich um das Herren-WC. Gerade nicht frequentiert. Geübt und unerschrocken schwang sich Isolder auf das Fensterbrett, ging in die Hocke und beugte sich unter dem Oberlicht hindurch, ließ sich dann auf den gefliesten Boden hinab. Rasch schlüpfte er aus seinem Parka, strich über den Rollkragenpullover und die Faltenhose, konsultierte einen Spiegel und grinste sich selbst siegessicher an. Lässig, so, als gehöre er wirklich zu der Veranstaltung, verließ er mit unbekümmerter Miene das Etablissement, orientierte sich. Die strenge Sitzordnung an den runden Tischen hatte sich bereits aufgelöst, immerhin saß man ja schon über zwei Stunden zu Tisch. Auch das Büfett wirkte dezent abgegrast, dafür hatten sich überall kleine Gruppen zusammengefunden, die angeregt schwatzten. Andere Gäste flanierten in den Gängen oder sammelten sich als Ausgestoßene in einem kleinen Hinterhof, wo sie hastig ihrer Sucht frönten, jeden Austausch frischer Luft vermieden. Isolder schlenderte am Rand des großen Gemeindesaals entlang, bis er Llywelyn entdeckte. Der hockte zusammengesunken in einer Gruppe, den Blick auf das Tischtuch gerichtet. Leicht gebeugt, als wolle er sich gern zusammenrollen, sei aber daran gehindert. »Nun!«, Isolder studierte die Gesichter der Erwachsenen, »wer sind die Eltern?« Kurzentschlossen schlängelte er sich zwischen den Tischen hindurch, pirschte sich an Llywelyn heran, legte ihm die Hände vertraulich auf die Schultern und gab sich erstaunt. "Hallo, Llywelyn! Na, ist das nicht eine Überraschung, dass wir uns hier treffen?" Zugegeben, das WAR gemein, um nicht zu sagen perfid. Andererseits kam man bei Llywelyn mit samtpfotiger Rücksicht nicht unbedingt weiter! Tatsächlich zuckte Llywelyn so heftig zusammen, dass Isolder unwillkürlich fester zufasste. Als müsse er ihn stützen. "Ah, ein Freund von dir?" Sofort wandte sich die zierliche Frau neben Llywelyn herum, fixierte Isolder mit einem neugierigen Lächeln. "Guten Tag", wünschte Isolder höflich, ließ gewinnend seine Zähne aufblitzen. "Ich möchte Sie nicht stören. Aber ich konnte doch unmöglich vorbeigehen und Llywelyn nicht begrüßen, nicht wahr?" Sie kicherte affektiert, stieß einen dürren, etwas verwittert wirkenden Mann in die Seite. "Oho, warum hast du uns nicht erzählt, dass auch ein Freund von dir hier ist, Liebling?" »Autsch!« Isolder unterdrückte eine Grimasse. »Das ist sogar mir peinlich! Also wirklich, 'Liebling'?! Gruselig!« Nach außen zog er alle Register seines einnehmenden Wesens, streckte charmierend die Hand aus. "Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau van Stratten! Herr van Stratten, ein Vergnügen! Meine Name ist Isolder Wagner." Llywelyns Mutter umklammerte seine Hand mit knochiger Kälte, wollte sie gar nicht mehr loslassen, strahlte ihn wie eine ausgehungerte Hyäne an. "Sagen Sie..." "Isolder", half er nachsichtig aus. "Isolder, ein schöner Name!, sagen Sie, treiben Sie viel Sport?" Ihr Blick vermaß förmlich seinen Körper. Glücklicherweise war Isolder anzügliches (oder vielmehr auszügliches) Verhalten durchaus gewöhnt, zuckte nicht mal mit der Wimper. »Meine Güte, was für eine miese Vorstellung! Ganz schlechtes Theater!« Laut antwortete er aufrührerisch, "bewundern Sie athletische Sportarten, Frau van Stratten?" Sie kicherte erneut albern, rammte noch mal ihren spitzen Ellenbogen in die Flanke ihres Ehegatten. "Bewundern wir nicht alle einen gesunden Geist in einem gesunden Körper? Das ist doch ganz prächtig anzuschauen, nicht?" »Igitt!« Isolder ließ seine Zähne strahlen, entwickelte innerlich jedoch eine erhebliche Abneigung gegen diese merkwürdige Frau. Was an ihr war überhaupt echt, authentisch? Bevor er Mitleid mit Llywelyns Vater empfinden konnte, mischte der sich auch in die Unterhaltung ein. "Stellen Sie sich vor: unser Liebling hat eine heimliche Verehrerin! Hat er Ihnen davon erzählt? Jeden Tag schickt sie ihm etwas! Ihnen hat er nicht verraten, wer es ist, oder?" »So«, Isolder legte die Hände auf Llywelyns starre Schultern, »eine Verehrerin?!« "Davon höre ich zum ersten Mal", versicherte er aufrichtig. "Das musst du mir unbedingt erzählen, Llywelyn!" Entschlossen klopfte er ihm auf die Schultern. "Erlauben Sie, dass ich Llywelyn auf einen kurzen Spaziergang an die frische Luft entführe? Das regt den Appetit für einen Nachschlag an." Übertrieben jovial dröhnend oder zwitschernd erhielt er die Erlaubnis, konnte Llywelyn auf die Beine ziehen, der ungelenk und matt wirkte. Unverfroren und betont weltmännisch legte sich Isolder Llywelyns Hand auf den eigenen Unterarm, die männliche Variante des weiblichen Unterhakens, plauderte in Hörweite der Eltern auf ihn ein. "Was für ein Zufall, dich hier zu finden! Und du hast wirklich eine Verehrerin? Wie spannend!" Kaum hatte er die geöffneten Flügeltüren erreicht, gab er Llywelyns Hand frei, die wie ein toter Fisch auf seinem Arm gelegen hatte, fasste die eisig kalte Hand entschlossen. "Okay, wo ist die Garderobe? Nichts wie raus aus diesem Gruselbunker!" Ohne auf Widerstand zu stoßen marschierte er voran, löste Llywelyns Mantel aus. Ein unsägliches Ding, gerade geschnitten und modisch-unerträglich mit einem schwarzweißen Fischgrätmuster. Eine Mahnung, dass vorangegangene Moden nicht immer augenfreundlich waren! Als er Llywelyn in das Ungetüm half, ihm den eigenen Schal um den Hals wickelte, bemerkte er, dass der totenbleich war und entsetzlich elend aussah. "Komm!", murmelte er beherrscht, fing die eiskalte Hand ein und stopfte sie in die eigene Parkatasche. "Wir müssen nicht lange laufen." Es war zwar kalt, die Luft trug bereits die frostige Ahnung eines bevorstehenden Wintereinbruchs, aber damit ging ein wolkenlos blauer Himmel ohne Regen einher. Mit anderen Worten: es ließ sich gut promenieren. Immer wieder riskierte Isolder Seitenblicke, registrierte befriedigt, wie sich langsam die Wangen ein wenig röteten, die silbergrauen Augen aufpoliert glänzten, Llywelyn sich zu entspannen schien. Es gab viele Fragen und durchaus wütende Anmerkungen, die Isolder auf der Zunge lagen, doch er schluckte sie energisch wieder herunter. Wenn ihn sein Eindruck nicht trog, dann half er Llywelyn im Augenblick am Besten, indem er schwieg. *~*8*~* Llywelyn verspürte keine Überraschung, als Isolder vor dem Museum innehielt. Dahin hatte er ihn schließlich ausführen wollen, nicht wahr? Dank des Spaziergangs an der frischen Luft konnte er auch endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. Die unerträglichen Kopfschmerzen, die bedrückende Übelkeit, seine gesamten Beschwerden hatten sich zurückgezogen. Tatsächlich wurde an diesem Tag kein Eintritt verlangt, wie Llywelyn erleichtert feststellte, denn er hatte weder Geld noch den Haustürschlüssel bei sich. Wer hätte auch mit einer Entführung rechnen können? Isolder half ihm aus dem schweren, abscheulichen Mantel, überließ ihm aber seinen Schal, was Llywelyn mit einer unerwarteten Wärme erfüllte. Er mochte die oktroyierte Jeans nicht, darüber dieser kratzige Pullover mit grünen und rosafarbenen Rauten: scheußlich! Es herrschte nicht viel Betrieb in den drei Etagen, die das Museum bildeten, sodass sie sich Zeit lassen konnten. Llywelyn studierte die in Glaskästen präsentierten Kostüme, alles Leihgaben privater Sammlungen, eingehend, von allen Seiten. Konzentriert blendete er seine Umgebung aus, die ablenkte, prägte sich Details ein, verglich seine bisherigen Erkenntnisse mit den Ausstellungsstücken. Erstaunt stellte er nach dem letzten Glaskasten fest, dass Isolder in einiger Entfernung an einer Säule lehnte, ihn lächelnd betrachtete. Nicht gegangen war, gelangweilt und enerviert, weil er zu viel Zeit benötigte, um sich alles einzuverleiben. "Wollen wir jetzt zur Entspannung unsere heiße Schokolade trinken?" Schwungvoll stieß Isolder sich von der Säule ab. "Komm mit, ich lade dich ein." Llywelyn zögerte, ermahnte sich dann aber, dass es ein Klacks war, heiße Schokolade zu trinken! Bloß das angegliederte Café, in dem sich zahlreiche Menschen tummelten, laut schwatzten, mit Geschirr klapperten, DAS war ihm ein Gräuel! Isolder blieb neben ihm stehen, warf einen raschen Blick auf das blasse Gesicht neben sich und dann auf das Gewimmel, das eine beträchtliche Kakophonie erzeugte. "Auf der Terrasse ist Platz", schlug er vor. "Wenn es dir nicht zu kalt ist?" Unter der milchweißen Haut zuckten Sehnen, als könnte die Geräuschkulisse Llywelyn körperliche Schmerzen bereiten. "Geh schon mal vor, ja?", verpasste Isolder ihm einen sanften verbalen Anstoß. "Ich komme mit der Schokolade nach." Tatsächlich fühlte sich Llywelyn gleich besser, als der kalte Wind um seine Nase strich, in seine Haare fuhr. Ohne Kopfbedeckung kam er sich zwar nackt vor, aber hier draußen, wo kaum jemand die bleiche, kraftlose Dezembersonne genießen wollte, da sie schon im Begriff war unterzugehen, konnte ihn der aufreibende Krawall menschlicher Stimmen nicht erreichen. Isolder balancierte zwei große, hohe Becher, lächelte ihm entgegen, während er sich einen Weg durch vereinsamte Tische bahnte. "Da wären wir auch schon. Ich habe die Servietten in der Tasche, auch noch Zuckertüten und Löffel, falls es dir nicht süß genug ist." Nachdem er die Becher abgestellt hatte, grub er die Schätze wirklich aus seiner Parkatasche aus und klemmte sie fest, damit nichts davongeweht werden konnte. Llywelyn wartete wohlerzogen, bis er den Becher ebenfalls angehoben hatte, bevor er den ersten, vorsichtigen Schluck nahm. "Gut?", erkundigte sich Isolder zwinkernd. Sein Gast nickte stumm, räusperte sich dann und bedankte sich höflich für die Einladung. "Ist mir ein Vergnügen!", antwortete Isolder galant, schmunzelte amüsiert. So eine erste Verabredung hatte er noch nie erlebt: Museumsbesuch und gepflegte Konversation, alles ganz gesittet und artig! Llywelyn blickte auf das Panorama, nippte an seiner Schokolade und wirkte ungewohnt gelöst. Zeigte sich da nicht sogar der Anflug eines Lächelns? »Ein Stein in seinem Brett sollte mir jetzt aber sicher sein!«, hoffte Isolder und erwog die Chancen, mit einem Gespräch alle Erfolge zunichte zu machen. Andererseits würde er Llywelyn nie kennenlernen können, wenn er nichts wagte! "Wieso hast du deinen Eltern nicht verraten, dass die Briefe von mir sind?" Einer Herausforderung ging Isolder nicht aus dem Weg! Unverwandt studierte Llywelyn die Landschaft vor ihnen, Gebäude mit Fensterfronten, in denen sich andere Gebäude spiegelten, ein verrückter Scherenschnitt. Geduldig wartete Isolder, auch wenn er innerlich Nägel kaute und Wände hochlief. Welche Antwort wäre ihm genehm? Das wusste er nicht zu sagen. Verständlich wäre es schon, wenn Llywelyn niemandem auf die Nase binden wollte, dass er von einem anderen Jungen mit Aufmerksamkeiten bedacht wurde. Da durfte man nicht zu viel erwarten, die Hoffnungen zu hoch schrauben! "...es geht sie nichts an", hörte er Llywelyn wispern. Das Gesicht war unbewegt, doch seiner Stimme hörte man den grimmigen Widerstand an, der hier geleistet wurde. "Wirst du Ärger bekommen, weil ich dich einfach hierher geschleppt habe?" Die Gelegenheit, eine Unterhaltung zu führen, wollte Isolder nicht ungenutzt verstreichen lassen. Llywelyn überlegte, das zeigte der konzentrierte Ausdruck in den silbergrauen Augen. "Ich glaube nicht", gab er nach einer Bedenkzeit ernsthaft zurück. "Das ist gut!", bekannte Isolder erleichtert. "Ich möchte nicht, dass du meinetwegen Streit mit deinen Eltern bekommst." Da wandte Llywelyn sich vom Panorama ab, sah ihn direkt an. "Sie vermuten, dass wir befreundet sind", erklärte er schlicht. "Deshalb werden sie nicht streiten." Isolder lupfte reichlich verwirrt die gepiercte Augenbraue. "Sind wir denn keine Freunde?", hakte er scharf nach. "Ich weiß es nicht." Llywelyn klang höflich, distanziert, kehrte ihm das Profil zu. »Also macht es dir nichts aus, wenn wir uns nicht sehen können?! Ist dir egal, was ich tue?!« Isolder war gekränkt. "Hast du eigentlich Geschwister?" Nun wollte er keine Rücksicht mehr nehmen! "Nein." Gleichmütig leerte Llywelyn in eleganter Geschicklichkeit seine Schokolade, tupfte sich manierlich die Mundwinkel ab. »Na fein!«, grollte Isolder, »jetzt, wo wir beide wissen, dass du die Zähne auseinander kriegen kannst, ist die Schonzeit abgelaufen!« "Welche ist deine Lieblingsfarbe?", schoss er sich ein. Fragebögen oder Poesiealben: persönliche Vorlieben ermöglichten einen Blick hinter die "Kulissen", selbst wenn gelogen wurde. Llywelyn runzelte die Stirn, überlegte. Endlich entschied er sich. "Ich mag alle kräftigen Farben." "Und deine Lieblingsspeise?" Isolder wippte auf seinem Stuhl angeregt vor und zurück. Jeden Wurm musste man ihm einzeln aus der Nase ziehen, aber wenigstens kam er voran! "Labskaus", Llywelyn zögerte, "mit Bratkartoffeln, Spiegelei, Essiggurken und roter Bete." "Labskaus?", wiederholte Isolder ratlos. "Was ist das denn? Habe ich noch nie gehört." Llywelyn senkte den Blick auf die eigenen Oberschenkel, verdeckt von dem grässlichen Mantel. "Ein norddeutsches Gericht. Corned Beef mit Kartoffeln und Zwiebeln." "Kannst du das kochen?" Für Isolder klang es nicht unbedingt nach einer Delikatesse, aber Hausmannskost konnte jeden überraschen. Er jedenfalls wollte mehr als willig sein, etwas zu probieren, das Llywelyn gern aß. Der zögerte, grübelte eine Weile, bis er sich zu einer Antwort entschloss. "Ich würde den Labskaus aus der Dose nehmen. Der schmeckt beinahe so gut wie die Variante meiner Großmutter." "Na gut!" Aufgeräumt klatschte Isolder in die Hände. "Dann merken wir uns das vor und kochen es mal gemeinsam!" Diese Äußerung trug ihm einen völlig fassungslosen Blick aus geweiteten Silberaugen ein. Isolder feixte recht unfein, zeigte sich aber nicht geneigt, jetzt einen Iota zu weichen. Er ersparte sich die üblichen Fragen nach Lieblingsautor, -film, -buch, -maler, -bild, -auto, -schauspieler, -kleidungs- oder möbelstück, sondern wurde gleich persönlich. "Wie hast du gelernt, deine Kleider so zu bearbeiten?" Wieder zögerte Llywelyn, bevor er bedächtig ausführte. "Bei meiner Großmutter lagerten noch alte Hefte mit Schnittmustern. Sie hat mir dann gezeigt, wie man mit einer Nähmaschine umgeht." "Das bewundere ich!", bekannte Isolder ehrlich. "Ich kann gerade mal einen Knopf annähen, aber schon, wenn ich einen Socken stopfen soll, wird's abenteuerlich. Das endet dann in einer riesigen Wollbeule!", skizzierte er einen Buckel in die Luft. Da geschah es! Llywelyn lächelte. Isolder verschlug es prompt die Sprache und auch sämtliche inquisitorischen Fragen zerstoben in seinem Kopf. *~*8*~* Die Dämmerung verwandelte sich rasch in Dunkelheit, der frostige Wind frischte zu stürmischen Böen auf. Isolder empfand es als selbstverständlich, Llywelyn nach Hause zu begleiten. Dabei konnte er dessen Hand auch noch schön lange als Pfand in der eigenen Parkatasche verwahren! Außerdem gab es ihm die Gelegenheit, über seine Taktik nachzudenken. Llywelyn war die einzige Person in Isolders Bekanntenkreis, die nicht darauf brannte, über sich selbst zu sprechen. Vielleicht, weil niemand ihm zuhörte? Oder hatte man ihn mal verspottet? »Schwierig«, stellte Isolder fest. Nicht alles und jedes ließ sich allein durch Beobachtung in Erfahrung bringen. Deshalb war es seiner Erfahrung nach notwendig, sich zu äußern. Für sich selbst eine Bresche zu schlagen. »Na, wer täte es denn auch sonst?!« Ein mögliches Einfallstor, um Llywelyn öfter zu sehen, sich mit ihm zu verabreden, konnte dessen unterdrückte Wut auf die Eltern darstellen. Unmoralisch, zweischneidig, ABER: es versprach durchaus Erfolg! Wenn er sich nur oft genug etwas einfallen ließ, wie man ihnen ein Schnippchen schlagen konnte, dann wäre es sicherlich auch möglich, Llywelyn dafür zu gewinnen. Dann konnte man sich vielleicht auch endlich mal über wesentliche Dinge in Ruhe unterhalten. Zum Beispiel hätte Isolder gern gewusst, wie seine kurzen Zitate und kleinen Geschenke bei Llywelyn ankamen. Ob sie ihn nachdenklich stimmten, ihn erfreuten. Warf er sie gleich weg oder bewahrte er sie auf? An der Pforte, die er zur Genüge kannte, weil er in aller Herrgottsfrühe dort seine Liebesbeweise ablieferte, blieb er stehen. Würde Llywelyn ihn hineinbitten? In dieses mondäne Haus? "Vielen Dank für die Einladung. Und die heiße Schokolade." Llywelyn war erneut höflich, befreite seine Hand aus Isolders Parkatasche. "Ich hatte heute sehr viel Spaß." Dann erinnerte er sich des Schals, der leihweise seinen Hals wärmte. Wollte ihn dem Eigentümer zurückerstatten, doch Isolder hinderte ihn daran. "Nein, nimm ihn! Du kannst ihn mir morgen zurückgeben, wenn du zu mir in die Videothek kommst." Llywelyn beäugte ihn konzentriert, und einmal mehr spürte Isolder, dass der Außerirdische vor ihm stand. Der, der nicht wusste, was er nun tun sollte, wie man reagierte, was erwartet wurde. Er lächelte gerührt, fasste die hässlichen Revers des scheußlichen Mantels und küsste Llywelyn hauchzart auf die kirschroten, dezent geschürzten Lippen. "Einen schönen Abend noch und danke, dass du mich heute begleitet hast", raunte er sanft. Perplex starrte Llywelyn ihn an, erwiderte den Gruß nicht, auch wenn er den Mund öffnete. Hinter ihnen, beim Haus, ertönte ein Geräusch. Llywelyn erstarrte, stieß die Pforte auf, warf einen hastigen Blick auf Isolder, eilte dann zum Haus. »Entweder«, langsam wandte sich Isolder ab und schlenderte weiter, »findest du Küsse von Jungs abstoßend, oder aber...« Der schöne Außerirdische konnte überhaupt nichts mit körperlicher Nähe anfangen. *~*8*~* Eigentlich war der Ausflug mit Isolder ganz nett gewesen. Auch wenn der die unerfreuliche Angewohnheit hatte, seine Hand festzuhalten, als gehöre sie ihm. Und ihn darüber hinaus schon wieder geküsst hatte! Llywelyn rieb sich die schmerzenden Schläfen mit Pfefferminzöl ein, blinzelte Tränen weg, die der beißende Geruch hervorrief. Das gute Gefühl der kalten, frischen Luft war längst verflogen. Spätestens in dem Moment, als er in das Wohnzimmer zitiert worden war, um Rede und Antwort zu stehen. Llywelyn konnte kaum etwas sagen über Isolder. Diese Tatsache, durch zahlreiche Fragen mehr als belegt, verärgerte seine Eltern, die ihm mangelndes Interesse an den wenigen Freunden, die er hatte, vorwarfen und ihn explizit aufforderten, gefälligst geselliger zu sein! Um solche Dinge hatte sich Llywelyn nie gesorgt. War es für den Augenblick wichtig, wo jemand wohnte, welche Vergangenheit er hatte, wie seine Eltern waren? Diese Sichtweise wurde von SEINEN Eltern vehement abgelehnt. Die einzige Auskunft, die Llywelyn ihnen hätte erteilen können, nämlich, wo genau er Isolder kennengelernt hatte, verschwieg er geistesgegenwärtig. Wenn sie über die Videothek Bescheid wussten, wäre seine Zuflucht verloren. Er sollte auf Veranlassung seiner Eltern Isolder einladen, denn der musste ja ein guter Bekannter sein, wenn er doch bei der Benefizveranstaltung zugegen gewesen war! Llywelyn hegte nach kurzem Sinnieren den Verdacht, dass sich Isolder selbst eingeladen, auf irgendeine Weise Zutritt verschafft hatte. Bloß: das hatte ihn schlichtweg nicht gekümmert. Malefiz kletterte neben ihm auf die breite Fensterbank, räkelte sich und rollte sich im Abluftstrom des Laptop zusammen. Ihre Bernsteinaugen funkelten im trägen Flammenschein der Kerzen. Tief seufzend machte sich Llywelyn an die ungeliebte Arbeit. *~*8*~* Isolders Gesicht erstrahlte, als er Llywelyn kommen sah. In einer seiner gewohnten Aufmachungen, knielange, enge Stoffhosen unter einem grün karierten Kilt, darüber ein schwerer Pullunder mit Ajourmuster. Ein Hemd mit Peter Pan-Kragen, kanariengelb wie die Karostreifen auf dem Kilt und das Fledermauscape komplettierten den Auftritt. Den weißblonden, stark gestuften Schopf verbargen ein langer Wollschal und eine Ballonmütze im Kiltmuster. "Holla die Waldfee!", stieß Isolder begeistert aus, hechtete geübt über den Tresen. "DIE Aufmachung macht wirklich was her!" Llywelyn warf ihm einen langen Blick zu, äugte dann kritisch an sich selbst hinab, schien aber den Anlass für die Euphorie nicht erkennen zu können. "Wie geht's dir?" Isolder klappte einladend den Tresen hoch. "Mach's dir bequem!" "Danke-danke und selbst?" Llywelyn zögerte auf der Türschwelle zum Nebenraum. "Alles in Ordnung?" Besorgt rückte Isolder an ihn heran. "Stimmt was nicht?" Die kleine Falte zwischen den goldenen Augenbrauen drückte sich durch, begleitet von Zahnabdrücken auf der kirschroten Unterlippe. "Sag mir bitte, was nicht stimmt", raunte Isolder alarmiert, hob automatisch die Hand, um über Llywelyns Wange zu streicheln. Der schreckte zurück und signalisierte Isolder damit, dass der Außerirdische sich bedroht fühlte. Von ihm. Seufzend zog Isolder die Hand zurück, verschränkte sie hinter dem Rücken, damit ihm der Fehler nicht gleich wieder unterlief. "Was ist los? Ich möchte dir helfen, Llywelyn." Nach einem langen Blick kramte Llywelyn endlich einen Bogen Papier aus seinem Rucksack hervor, der mal wieder als Schutzschild gedient hatte. Isolder nahm das Blatt entgegen, überflog es mit gefurchter Stirn. Ein Grinsen schlich sich in seine Züge und wollte nicht weichen. "Soll ich das ausfüllen?", schnurrte er amüsiert. Llywelyn nickte knapp, biss sich wieder auf die Unterlippe. »Ist ihm wohl peinlich«, folgerte Isolder. "Na gut", versicherte er aufgeräumt. "Aber dafür musst DU MIR dieselben Fragen beantworten! Wir tauschen dann morgen die Zettel aus", lächelte er diebisch vergnügt. "Wenn du mich wieder besuchen kommst." Llywelyn verzichtete auf jeden Protest, sondern sackte einfach auf dem Bürodrehstuhl in sich zusammen, als habe man ihm sämtliche Fäden durchgeschnitten. »Fragebögen sind doch ganz nützlich...« *~*8*~* Es amüsierte Isolder durchaus, dass sie beide auf die gleiche Idee gekommen waren. Möglicherweise hatte er Llywelyn vorher falsch eingeschätzt und der war einfach nur schüchtern? Und kein Außerirdischer, der sich für Menschen nicht interessierte? Er füllte den Zettel sorgfältig aus, faltete ihn ordentlich und schob ihn in seinen Rucksack. Solche Überraschungen waren ihm wirklich die liebsten! *~*8*~* Llywelyn rannte, blind für die zahlreichen Pfützen oder die neugierigen Blicke der Passanten. In den Clogs war er nicht sonderlich schnell, aber das spielte keine Rolle. Auch nicht, dass der stetige Regen ihn vollkommen durchnässte, seinen Wollpullover tränkte. Zweimal hatte er innehalten müssen, um sich in eine Hecke zu übergeben. Der beißende Geschmack von Galle und die rebellierenden Schmerzen in seinem Leib peinigten ihn beinahe so stark wie die Kälte. Irgendwo musste er sicher sein, musste ein Ort sein, wo er sich verstecken konnte! *~*8*~* "Sol, Alter, lass uns rein!", drängelte einer der Sackhosenträger, dekoriert mit einem Mercedes-Stern an einer langen Halskette. Isolder konnte sich seinen Namen nicht merken, zu viele Alis, Achmeds, Hassans, die er durcheinander warf. Dass sie stets in Gruppen auftraten, machte es nicht einfacher. "Vergiss es", verschränkte er die Arme vor der Brust. "Erotikfilme erst ab 18. Und damit ist das Alter gemeint, klar?!" "WassollnderStress?", nuschelte einer von hinten, der Isolder gerade bis an die Brust reichte. "Habnwirehschonallesmalgemacht!" "Einmal? Hundertmal! Tausendmal!", übertraf sich der Begleitchor. »Sicher doch!«, Isolder hoffte für die Fortentwicklung der Menschheit, dass hier nur Wunschdenken zum Ausdruck kam. "Tja, wenn ihr schon alles wisst, weiß ich wirklich nicht, warum ihr euch die Streifen dann noch ansehen wollt", verkündete er ungerührt. Sie hatten offenkundig Langeweile, und es regnete, weshalb sie diesen albernen Versuch, schon wieder!, unternahmen, bei ihm Pornofilme ausleihen zu dürfen. "Warum sucht ihr euch nicht was Nettes aus? Wir haben Spongebob, Wrestling, Power Rangers, die Simpsons", zählte er feixend auf. "Oder wie wär's mit Highschool Musical? Na?" DAS war förmlich der entscheidende Dolchstoß, denn sofort umgab ihn ein heftiges Gezeter. Grinsend hielt sich Isolder als Fels in der Brandung des Zwergenaufstands, der etwas von Bürgerrechten quakte, gegen verfickteScheißKonsumkonzerne protestierte, schwule Schleimer betraf und irgendwie darin mündete, dass sie sich bei der Geschäftsführung beschweren wollten. Beinahe lustig, aber Isolder wusste, dass dieser Disput deshalb nicht in Handgreiflichkeiten ausartete, weil er einen legendären Ruf hatte. Sie wussten schlichtweg, dass er ihnen Prügel verabreichen würde, wenn sie hier ausflippten. In diesem Moment hörte er ein Geräusch, wandte sich zum Eingang um, wo jemand vermutlich gestolpert war und jetzt auf dem Industrieteppich kniete. »Aber...!« "Llywelyn?!" Diese weißblonde Mähne war unverwechselbar, denn trotz der Nässe ragten noch einige gestutzte Strähnen wie eine Korona nach oben. Doch bevor sich Isolder durch die Kinder schieben konnte, hatte Llywelyn sich wieder aufgerafft, umgedreht und das Weite gesucht. "Was zur Hölle?!" Isolder konnte ihm nicht nachlaufen, denn er war ja allein in der Videothek. Konnte von Glück sagen, dass dieser Auftritt interessant genug war, um hinter seinem Rücken Schabernack zu verhindern. Hastig schnappte er sich Llywelyns Rucksack mit den Inlinern, bevor der Beine bekommen konnte (und einen neuen Besitzer), überlegte fieberhaft, wie seine Optionen aussahen. Aber alles Grübeln half nicht: bis zum Ladenschluss musste er abwarten, bevor er herausfinden konnte, was mit Llywelyn geschehen war. *~*8*~* Llywelyn hetzte weiter, stolpernd, taumelnd, ohne Pause. Er warf sich gegen die Pforte, riss ungelenk an der schweren Klinke, bis sie nachgab, sich senkte und ihm den Zutritt gestattete. Sein Schwung warf ihn erneut zu Boden, die Handflächen schmutzig und aufgeschürft, doch er spürte durch die eisige Kälte den Schmerz gar nicht. Vor ihm ragte drohend die Eingangstür, ein Bollwerk, das er nur mit dem Schlüssel bezwingen konnte. Fahrig fahndete er in den Taschen der Original-Britischen Knickerbocker, zerrte den Bund heraus, klapperte und klimperte mit den angehängten Metallstücken, bis er mühsam den Schlüsselbart mit den Schloss vertraut gemacht hatte. Seine glitschigen Handflächen rutschten ab, doch dann gelang ihm die notwendige Umdrehung. Er hängte sich an die Tür, stürzte in den Eingang, verlor einen Clog. Eilig kehrte er sich um, gehetzt, auf den Knien, die ohne den dicken Tweed der Hosen längst aufgekratzt gewesen wären. Er fischte mit ausgestrecktem Arm nach dem abtrünnigen Clog, stellte beide in den offenen Schuhschrank und zog sich an der Kommode auf die Beine. Nachdem er so oft den Schlüssel von innen umgedreht hatte, dass keine weitere Möglichkeit bestand, schleppte er sich zitternd und bebend, die Arme eng um den Leib geschlungen, zur Waschküche. Was kümmerten ihn die sichtbaren Abdrücke, die seine nassen Socken hinterließen? Auch die Kniestrümpfe, die er darunter trug, um der Kälte zu trotzen, waren vom Pfützen-Parcours aufgeweicht worden. Keuchend vor Widerwillen und Ekel riss sich Llywelyn Socken, Strümpfe und Kniebundhosen vom Leib, quälte sich ächzend aus dem tropfnassen Wollpullover und dem T-Shirt, das ihm am Leib klebte. Mit einer ekelhaft klammen Schicht überzogen, frierend und von aufstoßenden Wellen der Übelkeit durchmessen hangelte er sich hoch, kroch zuletzt auf allen Vieren in sein Zimmer. Ächzend lehnte er sich gegen seine Zimmertür, schmutzig, verletzt und vollkommen verstört. Über alle anderen Emotionen hinaus aber brodelte er innerlich vor Wut. Das war keine simple Empörung mehr, keine hausbackene Verärgerung. Nein, in ihm tobte eine mörderische Raserei, ein Ur-Zorn, ein rauschhafter Hass. Und diese Erkenntnis rief zwiespältige Gefühle hervor. Zum einen Teil Befriedigung darüber, dass er endlich Widerstand leistete, sich nicht kampflos auslieferte und aufgab, zum anderen Teil Angst. Die beklemmende Furcht davor, die strenge Kontrolle gründlich zu verlieren, etwas zu tun, das er niemals in nüchternem Zustand in Erwägung gezogen hätte. Das Ergebnis dieser wilden, aufbrausenden Mischung war großes Elend. Llywelyn hatte keine Möglichkeit, seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen, es gab kein Ventil, das Druckabbau zuließ. Völlig erschöpft, sich selbst entfremdet und entsetzlich einsam robbte er mühsam zu seinem Bett, zog sich am Rahmen hoch und verkroch sich unter der Bettdecke, ein zusammengerolltes, fötales Häuflein Elend. Malefiz, die diesem Auftritt einigermaßen konsterniert ob des Mangels an Haltung verfolgt hatte, verließ ihren Beobachtungs- und Schlafposten auf der breiten Fensterbank, sprang graziös auf den Boden und enterte Llywelyns Bett. Auf seinem Kopfkissen, neben dem vollkommen versteckten Hügel, ließ sie sich mit der alerten Eleganz eines Sphinx nieder. Sie war entschlossen, ihren unbedarften Zimmergenossen zu bewachen, bis er sich wieder von seinem Anfall erholt hatte. *~*8*~* Isolder stierte finster auf die große Uhr, doch dadurch beschleunigte sich die Umdrehung des roten Zeigers keineswegs. Geschweige denn die übertrieben lahme Rotation der beiden schwarzen Pendants! Irgendetwas war geschehen, so viel musste man ins Kalkül ziehen nach diesem Auftritt, und Llywelyn hatte bei ihm Zuflucht, Hilfe suchen wollen. »Und du blöder Hund hast ihn verscheucht!«, warf sich Isolder selbst geknickt vor. Auch wenn er sich gerechterweise zugestand, nicht absichtlich versagt zu haben. Aber...was war geschehen? Und wo war Llywelyn jetzt? Ging es ihm gut? Er seufzte laut und widerstand nicht länger der Versuchung, die zu seinen Füßen lauerte. Isolder bückte sich, immerhin musste er noch eine HALBE Stunde totschlagen, hob den Rucksack auf den Tresen. Die Inliner waren sorgsam am Tragegurt vertäut, was ihn vermuten ließ, dass zumindest zum Zeitpunkt des Wechsels noch alles in Ordnung gewesen war. »Folglich«, kombinierte er, »war Llywelyn irgendwo in einem Gebäude. Und dann?« Das führte zu nichts, weshalb er kurz entschlossen und nur mit einem Anflug von Scham angesichts seiner Neugierde den Rucksack öffnete, um sich einen Überblick über dessen Eingeweide zu verschaffen. Neben dem üblichen Ballast von Taschentüchern, Bonbons, Schreibutensilien und einem eintragungsfreien Kalender fand er das Portmonee, ein sorgsam verwahrtes Mobiltelefon und einen unscheinbaren USB-Stick. Hing der nicht üblicherweise an Llywelyns Hosen? "Hmmmm", konstatierte Isolder laut, platzierte einen altmodischen Taschenkamm zur übrigen Ausbeute, ordnete eine Packung Pflaster daneben und schlug eine Mappe aus verstärktem Karton auf. Ein einzelnes Blatt fand sich: ihre "Lieblings-Listen". Isolder räumte alles wieder ordentlich in den Rucksack, stellte ihn wieder auf den Boden und studierte Llywelyns Antworten. Sie waren nicht spektakulär, nichts deutete darauf hin, dass ein Außerirdischer sich hier offenbart hatte. Fakten, momentane Vorlieben, kleine Eckpfeiler einer Persönlichkeit, die man doch nur richtig kennenlernen konnte, wenn man die leeren Räume zwischen diesen Eckfähnchen füllte. Quasi ein weißer Kontinent, unerforscht, den es zu kartographieren galt. Isolder seufzte wieder nach einem giftigen Blick auf das Zifferblatt, absolvierte dann einen Kontrollgang. Er wollte Schlag Zehn hier verschwinden, um Llywelyn aufzusuchen! *~*8*~* "Guten Abend Herr van Stratten." Isolder lächelte gewinnend an der Pforte. "Bitte entschuldigen Sie die späte Störung!" Demonstrativ lupfte er Llywelyns Rucksack mit den Inlinern an. "Llywelyn hat ihn bei mir gelassen und dann vergessen. Darf ich wohl einen Moment hineinkommen?" Isolder durfte, etwas anderes hätte ihn auch stark verwundert. "So was! Ich weiß nicht, wo unser Liebling heute seinen Kopf hat!", trällerte Llywelyns Mutter, die noch immer in vollem Kriegsornat stand. "Was für eine nette Überraschung! Er bekommt sooo wenig Besuch!" Isolder beließ es bei einem zähnestarrenden Lächeln. "Ich werde es selbstverständlich kurz machen. Sicher wollen Sie bald zu Bett gehen." "Nicht doch!", zwitscherte Llywelyns Mutter, tätschelte ihn am Arm. "Wir sind echte Nachteulen! Nur unser Liebling schlägt aus der Art." »Was hat der für ein Glück!«, brummte es sarkastisch in Isolders Kopf, aber er verbat sich selbst streng, seine Meinung nach außen zu transportieren. "Heute ist er total zerstreut!" Llywelyns Mutter war noch nicht zufrieden damit, ihm auf den Leib zu rücken. "Bei meiner Freundin Viola hat er glatt seine Jacke und den Schal vergessen!" Sie kicherte überdreht, während bei Isolder die Alarmglocken lärmend läuteten. Llywelyn und seinen Schal vergessen?! NIEMALS!! Zu deutlich erinnerte er sich an ihren Museumsbesuch vor zwei Tagen. An den erleichterten Ausdruck auf dem milchweißen Gesicht, als er ihm seinen eigenen Schal umgewickelt hatte. »Eine Rüstung«, begriff Isolder plötzlich, »Mützen, Schals, Handschuhe, die Kostüme: alles Rüstungen!« Vor was musste sich Llywelyn aber schützen? »Und was hat diese Viola getan, dass er Hals über Kopf davonläuft?!« Von grimmiger Wut über die unbekannte Frau erfüllt knirschte er durch die Zähne. "Darf ich Llywelyn kurz sprechen?" "Natürlich, mein Lieber, einfach die Treppe hinauf, das Zimmer zur Straße hin!" Llywelyns Vater gestikulierte ausschweifend. Isolder bedankte sich steif, erklomm dann die Treppe. Also gehörte Llywelyn tatsächlich das Zimmer mit dem Erker! Er klopfte an der Tür und lauschte auf eine Reaktion. Als sie ausblieb, räusperte er sich und kündigte sein Eintreten an. "Llywelyn? Hier ist Isolder. Ich habe deinen Rucksack und die Inliner dabei. Ich werde jetzt reinkommen." Isolder öffnete die Zimmertür und orientierte sich, denn abgesehen von den bis zur Hälfte mit Rollos abgedunkelten Fenstern gab es keine Lichtquelle. Er tastete neben dem Türrahmen herum, bis er einen Schalter spürte. Eine Deckenlampe, mit Tüchern gedämpft, flammte auf. Nun wenigstens in der Lage, seinen Weg zu erkennen, schloss Isolder hinter sich die Tür. Ihm gefiel das Zimmer spontan: der einladenden Erker, der schöne Schaukelstuhl, das große Bett und das Regal voller Buchrücken. »Wenn er sich nicht zwischen die Klamotten gehängt hat«, Isolder stellte den Rucksack neben den Schaukelstuhl ab, »dann muss er wohl der Piz Palü auf dem Bett sein!« "Llywelyn? Keine Angst, ich bleibe nicht lange", versicherte er leise, näherte sich der hügeligen Erhebung. "Du bist wohl nicht bereit, mal eben aufzutauchen?" Zögerlich blieb er neben dem Bett stehen. Durfte er sich setzen? Oder würde er Llywelyn damit in die Flucht schlagen? "Ich weiß", er entschied sich dafür, neben dem Bett in die Hocke zu gehen, "dass etwas passiert ist. Bei dieser Frau, Viola, nicht wahr? Was auch immer passiert ist", er stützte sich mit einer Hand auf der Matratze ab, "ich helfe dir. Es ist blöd, dass ich arbeiten musste, aber jetzt bin ich da." Der Hügel rührte sich nicht, und Isolder konnte nicht einmal behaupten, dass er davon überzeugt war, Gehör zu finden. "Es war richtig, zu mir zu kommen", strengte er sich an. "Wirklich, du kannst mir vertrauen! Ich lasse dich nicht hängen!" Isolder warb eindringlich um eine Reaktion. "Und zum Beweis dafür werde ich dich begleiten, wenn du deine Kleider von dieser Frau abholen musst." Etwas zuckte, aber das war nicht der Hügel. "Nanu?" Isolder ließ sich abgelenkt auf der äußersten Bettkante nieder. "Du hast ja eine hübsche Freundin!" Malefiz spazierte majestätisch heran, beäugte Isolder kritisch. Der lächelte, besaß genug Verstand, sie nicht unaufgefordert anzufassen. "Sieh mal an", raunte er samtig. "Und was für eine Schönheit! Augen wie flüssiger Honig! Nun, meine Dame, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen! Sie werden sicherlich gut Acht geben auf meinen Freund hier!" Malefiz' Schnurrbarthaare zuckten. Dann gestattete sie hoheitsvoll, dass Isolder sie ein wenig streichelte, ihr glattes, perfektes Fell bewunderte. "Llywelyn?" Die dezent schnurrende Katze auf dem Schoß adressierte er den stummen Hügel erneut. "Ich lege dir meinen Zettel hin. Unsere Listen. Da steht auch meine Handynummer drauf. Sag mir Bescheid, wann du zu dieser Tussi musst und ich komme mit." Widerstrebend erhob er sich, setzte Malefiz ab. "Leider muss ich jetzt los. Es ist spät, und ich möchte nicht, dass meine Mom sich Sorgen macht." Wagemutig legte er die Fingerspitzen auf den gepolsterten Hügel. "Wenn du mich brauchst, ruf mich an, Llywelyn. Was immer es ist: ich helfe dir. Ich bin dein Freund, du kannst mir vertrauen." Dann legte er seine gefaltete Liste neben dem Kopfkissen ab, drehte sich herum und verließ auf Zehenspitzen Llywelyns Zimmer. Nachdem er sich höflich von dessen Eltern verabschiedet hatte, machte er sich gedankenverloren auf den Heimweg. Würde Llywelyn den Mut haben, sich ihm anzuvertrauen? *~*8*~* "Isnichwahr", murmelte Isolder verdutzt und beglückt zugleich, als sich sein Mobiltelefon mit einer Kurznachricht bemerkbar machte. Eigentlich hätte er noch die Stunde bis zum Arbeitsbeginn in der Videothek mit Schularbeiten überbrücken können, doch nun raffte er hastig seine Habseligkeiten zusammen, wappnete sich gegen den eisigen Sturmwind, der heulend durch die Straßen unter einem bleigrauen Himmel fegte. Llywelyn wartete auf ihn! Als er nach einem kleinen Spurt zehn Minuten später am Treffpunkt eintraf, traf er zumindest ein Etwas in Llywelyns Größe an. Ein schwarzer Mantel mit plüschigem Fellbesatz an den Borten, hautenge, schwarze Hosen, unter der Kapuze ein Kopftuch mit Totenkopfmuster, darunter ein aufgeplusterter, feuerroter Schal, der nur noch den schmalen Streifen von den goldenen Augenbrauen bis zu den Wangenknochen unter den silbergrauen Augen freigab. "He!", begrüßte Isolder ihn leise, "wie geht's dir heute denn?" Völlig vermummt bewies nur ein Blitzen in den Augen, dass Llywelyn irgendwo unter diesen Stoff- und Wollbahnen existierte und ihn gehört hatte. "Na, dann gehen wir mal los, hm?", entschied er sich, nicht in Llywelyn zu dringen, eine Erklärung einzufordern. Die Aufmachung, nun, da er sie zu deuten vermochte, verriet allzu deutlich, dass sich der schöne Außerirdische tief in seinen Panzer zurückgezogen hatte. "Hier lang?", versicherte er sich, passte sich dann Llywelyns Inlinern an. Sie benötigten nicht lange, dann erreichten sie eine geschmückte Einbuchtung des Gehwegs vor der gewaltigen Ausfahrt eines großen Hauses. Das zweigeteilte Tor stand sperrangelweit dem Zutritt offen, aber Llywelyn wurzelte neben ihm auf dem Gehwegpflaster an. Isolder beugte sich vor, um unter der Kapuze hindurch einen Blick auf Llywelyns erkennbare Gesichtspartie zu werfen. "Ich übernehme das, einverstanden?", offerierte er sanft. "Überlass alles mir." Damit marschierte er hocherhobenen Hauptes auf den Eingang der Villa zu, die sich hinter den hohen Mauern verborgen hatte. »Bisschen protzig!«, konstatierte er und ignorierte die Tatsache, dass weder am Briefkasten am Tor, noch am Klingelschild mehr als Initialen zu lesen waren. »Geht schon!«, feuerte er sich selbst an. »Denk dran, diese Viola hat Llywelyn erschreckt!« Und das reichte für ihn aus, um schwere Geschütze aufzufahren! Ungeniert presste er den vergoldeten Knopf tief in das Gemäuer, verleitete den alten Big Ben-Alarm zu hysterischen Überschlägen, ein schurkisches Grinsen auf seinen Zügen eingefroren. Eine ältere Dame in einem grauen Kleid öffnete, der strenge Blick indigniert ob des unmanierlichen Spektakels mit der Türglocke. Isolder legte wie aufgezogen los. "Guten Tag! Ich bitte höflich, die Störung zu entschuldigen! Meine Name ist Isolder Wagner, ich begleite meinen Freund Llywelyn van Stratten. Wir möchten seine Jacke abholen, die er gestern hier vergessen hat." Die Hausdame starrte ihn durchdringend an, dann seinen schweren Arbeitsstiefel, der rücksichtslos die Türschwelle blockierte und verhinderte, dass man seinem Besitzer einfach die Pforte ins Gesicht schlug. "Guten Tag", erwiderte sie schließlich frostig, weil Isolder sich nicht einschüchtern ließ. "Ich werde Sie melden. Bitte warten Sie doch im Salon." "Ach, das tut mir aber leid!", schnurrte Isolder verlogen (und sehr vergnügt). "Können wir auch hier warten? Mein Freund ist auf Rollen unterwegs, und wir möchten doch nicht die Auslegeware strapazieren!" "...wie Sie wünschen!", schnaubte die Hausdame (Freizeit-Drachen und Zerberus) giftig, legte eine punktgenaue 180°-Drehung hin und marschierte steif wie ein Spielzeugsoldat durch die Eingangshalle auf eine der abzweigenden Türen zu. "Ganz nett." Isolder vermutete, dass die verborgenen Aufzeichnungseinheiten von Kameras auf sie gerichtet waren, schnalzte dann arrogant mit der Zunge, ein wenig abschätzig. "Aber irgendwie altbacken, findest du nicht? Diese Fliesen, das erinnert doch sehr an Schlachthof, möchte man meinen." Llywelyn schwieg, selbstverständlich, aber Isolder spürte, dass die Silberaugen auf ihn gerichtet waren. »So weit, so gut!« Diese Gelegenheit, vor Llywelyn zu glänzen, wollte Isolder auf gar keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen. Er paradierte, die Hände auf dem Rücken gefaltet, in lässigen Schritten im Eingang auf und ab, sah sich wie ein Tourist in einer nicht so geschätzten Basilika um, verströmte die ekelhafte Nachsicht eingebildeter Laffen mit der Unpünktlichkeit ihrer Mitmenschen. Das änderte sich auch nicht, als die Dame des Hauses erschien. Zu einem glühend roten Lockenschopf trug sie ein lilafarbenes, auf Figur geschnittenes Kostüm, das 'DESIGNER' brüllte, schwang die straffen Hüften auf hohen Absätzen. »Sex and the city«, kategorisierte Isolder mit finsterem Blick, noch immer sein öliges Lächeln präsentierend. "Aaaaah! Welch ein Anblick! Darf ich mich vorstellen? Isolder Wagner!" DAS klang so schmierig-operettenhaft, dass Isolder sich selbst am Liebsten SOFORT eine Dusche verordnet hätte. Aber die Dame strahlte ihn in voller Kriegsbemalung und umgeben von einem betäubenden Blumenduft an, als habe er ihr gerade das Prädikat der ewigen Jugend verliehen. Formvollendet schüttelte Isolder nicht etwa die sorgfältig konservierte, weiße Hand mit den langen, passend zum Kostüm lackierten Krallen, sondern beugte sich über sie und deutete einen Handkuss an. "Es ist mir ein außerordentliches Vergnügen!", behauptete er in balzendem Tonfall verlogen. "Isolder? Wie extraordinär!" Sie warf ihm einen Schlafzimmerblick zu, die Stimme dunkel und rau genug, um sich drei Schachteln Zigaretten täglich vorzustellen. "Bitte, nenn mich doch Viola." »Ich nenne dich abgetakelte Spinatwachtel, du Schreckschraube!«, grollte Isolder innerlich, der ein recht detailliertes Bild davon hatte, warum Llywelyn Hals über Kopf ausgerückt war. "Ah, und da ist auch mein lieber Llywelyn!", gurrte sie heiser, streckte ihm nun die Hand hin, aber Isolder stellte sich resolut in den Weg, konterte mit einem Zähne starrenden Grinsen ihre Verwirrung aus. "Bitte vielmals um Entschuldigung, Viola!", schnurrte er, um ebenso schmelzend anzufügen, "Llywelyn fühlt sich leider unpässlich." Er verdrehte die Augen, seufzte theatralisch. "Eine Erkältung!", schlug die Hände ineinander. "Der Arme bringt keinen Pieps mehr raus! Furchtbar tragisch, wo er doch so gern plaudert!" "...wirklich?", antwortete Viola gedehnt. "Nun, das ist sehr bedauerlich. Gute Besserung, mein Lieber", richtete sie an Llywelyn über Isolders Schulter hinweg. "Tja, nun!", Isolder ging zum Angriff über, "wir würden ja gern bleiben, liebe Viola (»blöde Zicke«) und ein wenig plauschen, haha!", affektiert genug, um auf jeder Provinzbühne den Schürzenjäger und Mitgifträuber zu geben, "leider, LEIDER sind wir verhindert. Wenn ich nun also um Llywelyns Garderobe bitten dürfte?" "Das ist zu schade!" Viola rückte näher an ihn heran, aber Isolder ließ sich nicht beeindrucken. "Ich werde gleich danach schicken." Dafür schnippte sie allerdings mit den Fingern, und irgendwo setzte sich wohl ein anderer dienstbarer Geist in Bewegung. "Isolder, mein Lieber", ungefragt öffnete sie seine Winterjacke, hauchte jede Silbe, was wohl erotisch sein sollte, aber schwer nach Dampfrohrblasen vom Holzkohleofen klang, "du trainierst wohl viel, hmm?" Lackierte Krallen, die über seinen Rollkragenpullover streiften, um die darunterliegende Brust zu kartographieren, konnte Isolder grundsätzlich nicht ausstehen. Ganz zu schweigen davon, dass diese aufgetakelte Schabracke ihm an die Wäsche gehen wollte. Er lächelte auf den roten Besen herunter und gurrte ebenso verschleppt zurück. "Oh ja! Schließlich weiß man ja, dass mit Mitte Zwanzig der Verfall einsetzt, rein körperlich. Wer möchte schon frühzeitig zu einem verrottenden Kadaver werden?! Nicht wahr, hihi?!" Die Krallen zogen sich mit ihrer Besitzerin von ihm zurück, eindeutig beleidigt. »Genau!« Isolder funkelte kriegerisch. »Ich halte dich für eine überreife, abstoßende Tante, die glaubt, sie müsste sich an alles ranwerfen, was Hosen trägt, weil sie das in der Glotze gesehen hat. Nerv doch deinen Friseur!« "Ah!" Mit tänzerischer Anmut entfernte er sich einen Schritt. "Das ist aber ganz reizend! Sogar gefaltet und in einer dekorativen Tüte!" Er schnappte sich die Papptüte mit dem aufschneiderischen Aufdruck einer Nobelmarke, vollführte einen eleganten Kratzfuß, der ihm jeden Körperkontakt mit der verachteten Viola ersparte, wünschte mit säuselnd-süffisantem Tonfall noch einen angenehmen Nachmittag! Was für ein unsägliches Vergnügen, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben! Dann marschierte er lässig, Llywelyn neben sich auf den Inlinern, die Einfahrt hinunter. "Unsäglich!", knurrte er bissig, "absolut unsäglich! Hat dich das alte Miststück angegrapscht?! Für wen hält die sich?! Frankensteins Mutter?!" Entschieden verschloss er seine Jacke wieder, legte etwas Tempo zu. "Ehrlich, ist DAS eine Freundin deiner Familie?! Da kommt man sich vor wie in einer Seifenoper! Reich und blöd oder berühmt und geschmacklos!", veredelte er den deutschen Titel einer US-amerikanischen Serie. Vor sich hin schimpfend marschierte er weiter, schwang dabei die Tüte mit Llywelyns Kleidungsstücken. "Ich unterstütze die Gleichberechtigung, keine Frage, aber bedeutet das denn, dass die Unarten nun vom anderen Geschlecht auch noch übernommen werden müssen?! Widerlich!" IHM machte es ja nichts aus, so eine aufgeblasene Fregatte abzubürsten, aber was war mit so sensiblen Männern wie Llywelyn?! Der bekam doch den Schock seines Lebens!! Von gerechter Empörung angefeuert stampfte er grimmig durchs Gelände, konnte sich lebhaft ausmalen, wie diese Harpyie sich auf den armen, unschuldigen Außerirdischen gestürzt hatte, dem nichts weiter blieb als die kopflose Flucht! "Überhaupt!", fauchte er giftig, "was bildet die sich ein?! Aufgerüscht wie ein Pfingstochse und dann noch dieser Gestank?! Wenn DAS mal Blumen waren, dann sind die schon vor JAHRHUNDERTEN elend eingegangen!" Ein ungewohntes Geräusch ließ ihn abrupt innehalten. Llywelyn kicherte. Gedämpft von den Schalunmassen, die er um den Kopf geschlungen hatte, aber eindeutig: das war ein amüsiertes Auflachen! Perplex staunte Isolder in die silbergrauen Augen, die unerwartet lebendig wirkten, ohne den fiebrigen Glanz, der ihn erschreckt hatte. "Jaaaa..." Verlegen rieb er sich das Kinn. "War ich n bisschen zu vorlaut?" Dabei grinste er ungeniert, denn von ihm REUE zu verlangen, das wäre doch zu viel erwartet! Llywelyn zwinkerte. Isolder ächzte hingerissen. Selbst diesen winzigen Ausschnitt zu sehen berührte sein Herz. »Verflixt!«, ermahnte er seinen galoppierenden Herzschlag, »benimm dich! Randalieren verboten, klar?!« "Sag mal", lächelte er Llywelyn an, "willst du nicht mit mir gehen? Ich meine", verbesserte er sich notgedrungen, "in die Videothek? Noch einen Film anschauen? Bevor du heimgehst?" Denn jetzt wollte er sich nicht so schnöde von ihm verabschieden müssen, nach diesem gemeinsamen Abenteuer! Anstelle einer Antwort rollte Llywelyn an ihm vorbei, einige Meter voraus, bevor er sich in einer eleganten Pirouette drehte und nach ihm umwandte. Grinsend wie ein Honigkuchenpferd setzte sich Isolder wieder schwungvoll in Bewegung. *~*8*~* Kapitel 12 - Meteoriten Auf den gewohnten Platz zusammengekauert verfolgte Llywelyn gebannt die Handlung. Isolder riskierte immer mal wieder einen heimlichen Blick in das Nebenzimmer, um sich davon zu überzeugen, dass es seinem Gast an nichts fehlte. Außerdem war es wirklich eine Sensation: er hatte noch nie erlebt, dass jemand die beste Komödie aller Zeiten, "Manche mögen's heiß", verfolgte, ohne immer wieder in schallendes Gelächter auszubrechen. Llywelyn lächelte zwar leicht, aber seine Konzentration schien es nicht zuzulassen, dass er durch Gefühlsausbrüche etwas versäumte. »Trotzdem«, stellte Isolder fest und schloss lautlos die Tür wieder. Obwohl gute Laune vorherrschte, machte er sich Sorgen. Zugegeben, Llywelyn hatte nie besonders viel Farbe in den Wangen, aber wirkte er nicht doch ausgemergelt und bedrückend schmal im Gesicht? Waren da nicht Schatten? Auch wenn er noch nie Labskaus (was für ein Name!) zubereitet hatte, in diesem Augenblick wäre Isolder bereit gewesen, die Ärmel hochzukrempeln und sein Bestes zu geben, wenn er Llywelyn damit hätte versorgen können. Leider stand das nicht zur Debatte, und er konnte auch nicht kurz verschwinden, um etwas Essbares zu besorgen. Das erinnerte ihn allerdings daran, dass er 'offiziell' noch nichts über Llywelyn wusste, weil der ihm seine Liste noch nicht übergeben hatte. »Die muss her!«, stimmte er sich selbst entschlossen ein. »Und dann wird das nächste strategische Ziel angepeilt!« *~*8*~* Llywelyn merkte auf, als Isolder neben ihn trat, lächelnd. "Es ist jetzt Zehn", stellte der mit sanftem Nachdruck fest. "Zeit, diese heiligen Hallen der konservierten Unterhaltung zu verlassen." Hastig stellte Llywelyn die Füße auf den Boden, schlüpfte in seine Clogs. Zweimal hatte er sich den amüsanten Film angesehen, einmal in der synchronisierten Fassung und danach noch mal im Original. "Hat dir gefallen, hm?" Isolder räumte auf, löschte nacheinander Lichter und deaktivierte Maschinen. Eilends sammelte Llywelyn seine Siebensachen ein, hüllte sich in diverse Schutzschichten. Tatsächlich war der Nachmittag wirklich sehr angenehm gewesen! Und eigentlich war dieser Isolder sehr umgänglich. Was sich als eine recht bemerkenswerte Feststellung ausnahm, denn Llywelyn staunte über sich selbst. Seine unmanierliche Absicht, Isolders Interesse auszunutzen, um sich eine Zuflucht vor der unerträglichen Tyrannei seiner Eltern zu verschaffen, erwies sich nun als unerwartet fruchtbar. Ungelogen konnte er behaupten, dass Isolder sein Freund war. Würde man ihn erneut einem Kreuzverhör unterziehen, so könnte er auch detailliert dessen Vorlieben aufzählen! Zumindest solche, die auf der Liste verzeichnet waren. Das erinnerte ihn daran, dass er seinem 'Freund' die gleiche Höflichkeit zu erweisen hatte. Folglich zupfte er aus seinem treuen Rucksack seine Liste, drückte sie Isolder wortlos in die Hand. "Danke schön!" Wieder strahlte ihn Isolder an und veranlasste ihn dazu, dessen Ausdruck eingehend zu studieren. »Warum?« Diese Frage verlangte immer noch nach neuen Antworten. Deshalb MUSSTE er genau beobachten, zuhören, analysieren. Warum wollte Isolder seine Zeit mit ihm verbringen? Welche Vorteile konnte der daraus ziehen? Das war Llywelyn noch immer ein Rätsel. Aber er hatte das Gefühl, dass Isolder nicht zu IHNEN gehörte, deshalb wollte er sich entgegenkommend verhalten. Soweit es ihm möglich war. *~*8*~* Isolder übernahm wieder ganz selbstverständlich, nun, wohl eher selbstherrlich, die Papptüte mit der gefalteten Bekleidung, spazierte neben Llywelyn zu dessen Heimathafen. Er hätte gern gefragt, nach dem schönen Zimmer, den Möbeln, der schwarzen Katze und noch hunderterlei anderen Dingen, aber er wollte den friedlichen Zauber ihres Einverständnisses nicht brechen. Llywelyn zumindest schien erstaunlich guter Dinge, der Schal verdeckte nur das spitze Kinn. Um den kirschroten Mund tänzelte tatsächlich ein scheues Lächeln. Das nicht ihm galt, so viel war Isolder durchaus bewusst. Nein, der schöne Außerirdische an seiner Seite fühlte sich gerade sehr wohl in seiner Haut und ließ deshalb einige Schutzschilder sinken, lockerte den Panzer ein wenig. »Versau's bloß nicht!«, ermahnte er sich selbst, weil er spürte, wie schwer es ihm fiel, sich zurückzuhalten. Zu gern hätte er die Hand ausgestreckt, mit der Fingerspitze die Linien dieses verlockenden Mundes nachgezogen. Seinen Atem auf die Lippen gehaucht, um sie beschlagen zu sehen. »HALT! Verdammmichnocheins!« Bevor sein Herz davonstolperte und eine Hitzewelle besonders die südlichen Regionen in Brand steckte, bremste er sich selbst harsch aus. Mit offenen Augen eindeutig träumend neben Llywelyn her zu dölmern wie ein besoffener Maikäfer, das konnte nur schiefgehen! »Denk lieber nach!«, drängte sich sein Verstand in die Auseinandersetzung zwischen Anstand und Libido. »Wie sieht der nächste Schritt aus?! Herrje, in zwei Tagen ist Wochenende! Wenn du ihn am Sonntag für dich haben willst, dann komm jetzt ENDLICH aus der Hüfte!« Nun ja, selbstredend nicht auf eine ganz gewisse Weise! Leider. *~*8*~* Llywelyn atmete tief durch. Die Luft war knackig kalt, prickelte auf seinem Gesicht und roch frisch. Wenn er dahinrollte, ohne die ständigen, überaus lästigen Hindernisse, dann fühlte er sich wie früher. Zumindest annähernd. Jetzt müsste man laufen können, ohne Pause, ohne Zeitdruck, ohne Ziel! Das wäre zu herrlich! Bedauerlicherweise war es das auch. Er konnte nicht mehr laufen. Das war endgültig vorbei. Eine Rückkehr ausgeschlossen. Llywelyn blinzelte, sein Brustkorb schmerzte vertraut. Er hatte sich an die Wehmut und an die unerfreuliche Realität gewöhnt. Es gab nur noch kleine Fluchten, winzige Schlupflöcher, und es wurden immer weniger. »Eines Tages...« Er kniff die Augen zusammen, biss die Zähne fest aufeinander, ballte die Fäuste. Eines Tages würde er sein wie SIE. *~*8*~* »Also?!« In Isolders Kopf arbeitete es hektisch und fieberhaft. Für den Freitagabend hatte er bereits einen Plan, aber Sonntag?! Es musste ein Ort sein, wo sie recht ungestört sein konnten, wenige Menschen und kein Lärm. Sonst wäre Llywelyn nicht dafür zu gewinnen. »Vielleicht geht er ja Eislaufen?«, optionierte sein Verstand. »Rollen oder Kufen, das nimmt sich ja nicht viel.« Bloß stand zu erwarten, dass die künstlichen Eisbahnen, die sich ohnehin nicht gerade durch einen niedrigen Eintritt auszeichneten, wahrscheinlich übervölkert sein würden. »Kino? Hallenbad? Fußballspiel anschauen?« Hastig ging Isolder das Programm der Möglichkeiten durch. Kein Vorschlag erschien ihm die Qualifikation aufzuweisen, um Llywelyn zu überzeugen. »Und wenn...« Rädchen griff in Rädchen. »Und wenn du einfach mit ihm spazieren gehst? Bloß laufen und danach vielleicht wieder eine heiße Schokolade?« Hätte er gegenüber einer früheren Freundin oder Altersgenossen so einen Vorschlag für eine Verabredung vorgebracht, wäre er wohl für absolut bescheuert erklärt worden. »Am Besten noch aufn Friefhof, wie? Bist n Goth geworden, Alder?!« »Kein bescheuerter Goth!«, antwortete Isolder sich selbst, nach einem Seitenblick auf Llywelyn, der nun gar nicht mehr so gelöst geradeaus sah, »aber rettungslos verliebt in einen Außerirdischen, der sich am Liebsten auf Rollen bewegt und eigentlich nicht viel für Menschen übrig hat.« Wenn es Llywelyn gefiel, sich einfach nur durch die Gegend zu bewegen, DANN konnte er das aushalten! Man war ja schließlich an der frischen Luft, trainierte ein paar Muskeln und konnte mit ein bisschen Glück auch mal eine Unterhaltung führen! Gerade, als er seinen Entschluss nun in die Tat umsetzen und Llywelyn einen gemeinsamen Spaziergang am Sonntagnachmittag antragen wollte, erreichten sie die Pforte. Hätte er nicht die Papptüte apportiert, wäre Llywelyn vermutlich mit einem kurzen Nicken zum Abschied einfach verschwunden. Nicht aus Unhöflichkeit, nein, gerade WEIL sie einander doch relativ gut verstanden! Dem musste Einhalt geboten werden! Folgerichtig streckte Isolder erst die Tüte hin und schnappte sich dann gezielt Llywelyns Handgelenk in Reichweite. "Einen Gute Nacht-Kuss", raunte er kehlig. "Ja? Von mir für dich." Er wollte sein Glück ja nicht überstrapazieren. Die silbergrauen Augen studierten ihn eindringlich, suchten wieder nach der Antwort auf eine Frage, die Llywelyn ihm nicht stellte. "Darf ich?" Entschlossen rückte Isolder heran. Nur ein minimales Nicken genügte, um sein Herz in Raserei zu versetzen. Behutsam hauchte er einen Kuss auf Llywelyns Wange, zog sich dann langsam von ihm zurück. "Schlaf gut", wünschte er mit tapferem Lächeln, ignorierte das Aufheulen seiner Libido standhaft. "Und bitte gib mir Nachricht, wenn du morgen nicht kommen kannst. Ich mache mir sonst Sorgen." Llywelyn runzelte die Stirn, die goldenen Augenbrauen zogen sich zusammen, doch schließlich nickte er wieder knapp. Dann verschwand er wirklich hinter der Pforte. Isolder seufzte laut, obwohl er nur hatte durchatmen wollen. "Wusste gar nicht, WIE anständig ich sein kann!", bemerkte er gequält zu sich selbst. Und lobenswert fühlte sich das nicht an. *~*8*~* Llywelyn begann, eine ernstzunehmende Aversion gegen die Gedankenlosigkeit seiner Mutter zu entwickeln. Beinahe hatte er schon den Umstand akzeptiert, dass sie ständig als ehrenamtliche Wohltäterin ihre Umgebung zwangsbeglückte, dafür auch ohne Zögern seine Freizeit erheblich beschnitt. Aber ihn dann auch noch in einer derart unerträglichen Situation sitzen zu lassen, in der unbekümmerten Erwartung, er werde das "Problemchen" schon irgendwie bewältigen, DAS gärte in ihm. Deshalb brodelte sein Magen schon wieder, den er eigentlich besänftigt geglaubt hatte. Schulspeisung und ständiger Stress sorgten allerdings nicht gerade für ein gesundes Wohlbefinden. "Ach, du musst gar nichts machen!" Ein larmoyant säuselnder Jung-Pfarrer adressierte ihn mit Basset-Blick. Lies einfach vor." Mit anderen Worten: die tobende Bande der "Schauspieler" würde ohnehin nicht zuhören. Llywelyn ersparte sich eine Antwort, klappte das schmale Band auf. Eigentlich sollte er nun eine zweisprachige Ausgabe von Charles Dickens' Weihnachtsgeschichte, einem Klassiker der Weltliteratur, in den Händen halten. Doch aus unerfindlichen Gründen, vielleicht durch die gewohnte Schludrigkeit, die auch die gesamte Haushaltsführung seiner Eltern auszeichnete, hatte ihm seine Mutter die Originalausgabe überreicht. Es stand erheblich zu bezweifeln, dass die Horde aufgedrehter Zehn- bis Zwölfjähriger der altertümlichen Formulierung in englischer Sprache gewachsen war. Sie sollten nämlich eine Version auf die kleine Bühne bringen, statt des alljährlichen Krippenspiels. Dickens war schließlich ein Mahner wider die herrschenden Verhältnisse! Nach Llywelyns Auffassung war diese Version der Weihnachtsgeschichte, abgesehen von der Kritik an den gesellschaftlichen Umständen zu Dickens' Zeit, hauptsächlich eine irreführende Erpressung, die ein Individuum zum Konformismus zwang und mit einem unglaubwürdigen Happyend köderte. Wieso zum Beispiel griffen die Geister erst so spät ein? Und warum sollte sich ein Mann wie Scrooge, als misanthropischer Geizhals und Ausbeuter verschrien, so einfach ändern? Wie lange würde so ein Gesinnungswandel überhaupt anhalten? Außerdem erschien es doch recht abgeschmackt, dass alle anderen lebenden Charaktere nett und nicht nachtragend waren. Dazu noch als moralische Keule ein schwerkrankes Kind! Wie sollte Llywelyn aber seiner Wut Ausdruck verleihen? Seine Mutter hatte sich längst verabschiedet, ihn ignorierend. Der Jung-Pfarrer agierte hilflos in der Horde aufgedrehter Nachwuchs-Vandalen und die waren eher von den Action-Sequenzen angetan. Sich nämlich als Geister mit Scrooge herumprügeln zu können. Frustriert ballte Llywelyn die Fäuste. Er hatte sich diese Aufgabe NICHT ausgesucht! Das gehörte NICHT zu den Pflichten, die er klaglos und selbstverständlich erledigte! Außerdem konnte er sich nicht für eine kurze Dauer in die Videothek flüchten, einfach sitzen und er selbst sein. Er kehrte dem Tohuwabohu den Rücken zu, suchte nach dem bis dato kaum genutzten Mobiltelefon. Mühsam, da er mit den winzigen Tasten und ihren Mehrfachfunktionen noch nicht sonderlich vertraut war, tippte er eine Kurznachricht, denn er hatte ja auch versprochen, Isolder zu informieren. Dass der sich um ihn sorgte, konnte Llywelyn nicht ignorieren, da er sich zu deutlich noch an seinen Auftritt vom Wochenanfang erinnerte. Von irgendwo näherte sich eine resolute Dame mittleren Alters, die angesichts der quasi kriegerischen Zustände eine Trillerpfeife zum Einsatz brachte und deshalb auch sämtliche Mini-Barbaren zur Räson. "Da, der Junge mit den weißen Haaren, lies den Text!", kommandierte sie, mit missbilligendem Blick. Llywelyns goldene Augenbrauen zogen sich merklich zusammen. Dann folgte er ihrer Aufforderung. *~*8*~* »Na, das ist ja mal ne Show!«, stellte Isolder belustigt fest, nachdem er sich ungeniert in den großen Gemeindesaal eingelassen hatte. Llywelyns angenehm modulierte, warme Stimme schwang über dem turbulenten Durcheinander der Kinder, die vermutlich stumm agieren sollten, aber zu viele Folgen einschlägiger Sendungen konsumiert hatten, um sich an das Skript zu halten. Dickens hätte sich wohl nie träumen lassen, dass seine Gespenster angehende Wrestler waren und Scrooge für sein Alter erstaunlich fit bei der Gegenwehr. Isolder lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme mit der Winterjacke übergehängt vor der Brust und lauschte Llywelyn. »...wow...«, konstatierte er überflüssigerweise, denn das unerhörte Prickeln in seinem Leib und die Gänsehaut illustrierten bereits unzweideutig, was er fühlte. Der Text spielte keine Rolle, er hörte die Worte gar nicht, nein, es war allein diese Stimme. Die Stimme dieses schönen Außerirdischen mit den weißblonden, stufig gestutzten Haaren, der vollkommen ungerührt wie ein Fels in der Brandung unbeirrt vortrug. Als ginge ihn die Welt nichts an. »Ich werde nie genug davon bekommen«, stellte Isolder fest, ein wenig erschrocken. Aber deshalb nicht weniger wahrhaftig: Llywelyn zuzuhören würde er niemals müde werden. Das bedeutete zweifelsohne, dass er nicht bloß ein wenig verliebt war, sondern ernsthaft und bis zum Innersten seiner Selbst den schönen Außerirdischen liebte. Selbst wenn er nicht auf eine Erwiderung hoffen konnte. *~*8*~* Llywelyn klappte entschlossen das Buch zu. Es musste wohl jeden mittlerweile einsichtig sein, dass eine solche Aufführung in dieser Konstellation nicht den Beifall des Publikums finden würde. Außerdem war er nicht bereit, dieses seltsame Experiment noch einmal durchzuexerzieren! Irgend jemand klatschte. Applaudierte?! Überrascht registrierte er, wie Isolder sich von der Wand löste, die Winterjacke auf dem Arm, amüsiert grinsend. Der Jung-Pfarrer blickte ebenso entgeistert wie die Horde juveniler Plagegeister. "Wirklich unterhaltend!", feixte Isolder unverfroren, "besonders der Kampf zwischen Scrooge und dem Geist der Zukunft! Also, wenn das kein zünftiger Bodycheck war, dann weiß ich auch nicht!" "Was tun Sie hier?!", verschaffte sich die Dompteuse mit der Trillerpfeife Gehör. "Das ist eine Probe, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt." "Darauf wette ich!" Isolder gab sich nicht beeindruckt. "Ich bin hier, um meinen Freund abzuholen. Vor dem Haupteingang scheint mir auch eine Meute Eltern zu warten, die nicht gerade gut gelaunt ist." Er zwinkerte. "Es regnet nämlich heftig." Ohne sich um die entsetzten Mienen der beiden einzigen offiziell Erwachsenen zu kümmern, streckte er einladend die Hand nach Llywelyn aus. "Wollen wir?" Galant wie die Aufforderung zum Tanz. Llywelyn sammelte seine Schutzschichten ein, die er gezwungenermaßen hatte abstreifen müssen und folgte Isolder zum Hinterausgang. »Manchmal«, richtete er seinen Blick auf den gebändigten, ebenholzfarbenen Schopf, »tritt er wirklich wie ein Prinz auf.« Und das war durchaus positiv zu werten. *~*8*~* Isolder störte sich nicht am Regen, eine Dusche war ohnehin angezeigt, wenn er endlich zu Hause eintraf. Llywelyn neben ihm, gewohnt auf den Inlinern, verschwand förmlich unter der riesigen Kapuze. "Llywelyn?" Isolder beugte sich vor, um unter den Rand des Sichthindernisses zu spähen. "Darf ich dich morgen nach Arbeitsende für ein Stündchen entführen? Zu einem Spaziergang?" Neben ihm wurde die Kapuze gerafft, damit die Silberaugen ihn inspizieren konnten. "Die Wettervorhersage ist gut, bloß kalt." Isolder legte sich ins Zeug, lächelte teuflisch charmant. "Wir drehen nur eine Runde im Viertel. Nun, darf ich?" Jemand, der noch nie in seinem Leben für einen Freitagabend besondere Pläne getroffen hatte und sich deshalb dem erheblichen Druck ausgesetzt sah, von anderen beplant zu werden, konnte mühelos nachvollziehen, warum Llywelyn unerwartet rasch nickte. "Super! Klasse! Feinfeinfein!" Euphorisch rieb sich Isolder die Hände. "Dann kommst du am Besten vorher schon in die Videothek, ja? Ich bringe etwas zu trinken mit, damit dir die Warterei nicht zu lange wird!" Die Kapuze wurde entlassen und verbarg ihren Besitzer wieder, aber solange Isolder keinen Widerspruch vernahm, ging er von konkludentem Schweigen aus. "Du hast übrigens eine sehr schöne Stimme", komplimentierte er Llywelyn betont beiläufig, "so angenehm und melodisch. Ich habe dir wirklich gern zugehört." Erst zehn Meter später erhielt er eine Reaktion von Llywelyn. "Ich werde es nicht wieder tun. Wollte ich nie. Diese Weihnachtsgeschichte gefällt mir nicht." »Aaaaah jaaaa!« Isolder zog die gepiercte Augenbraue hoch. Sollte er tollkühn nachfragen, wieso Llywelyn sich an diesem experimentellen Theaterstück beteiligt hatte, wenn es ihm zuwider war? Oder würde er damit den stillschweigenden Burgfrieden unnötig gefährden? Die Abwägung dauerte noch an, als Llywelyn ihn unerwartet erlöste. "Meine Mutter hat das arrangiert. Und die falsche Ausgabe mitgebracht." Das KONNTE eine neutrale Schilderung von Fakten sein, aber es KLANG nach bitterem Zorn. "Wie ärgerlich", murmelte Isolder in mitfühlendem Tonfall, weil er sich genötigt sah, irgendwie diese Enthüllung zu kommentieren. Gar nicht so einfach, mit Llywelyn ein Gespräch zu führen, wenn man sich nicht sicher war, wie die Reaktion aussehen konnte. Inzwischen hatten sie die Pforte erreicht, es nässte noch immer untröstlich vom Himmel. Isolder konzentrierte sich lieber auf seine Vorfreude, die hielt warm! Zu seiner Verblüffung schob Llywelyn sich nun die Kapuze ganz vom Kopf in den Nacken, studierte ihn eindringlich. Zum wiederholten Mal fragte sich Isolder, was der schöne Außerirdische in seinem Gesicht zu entdecken hoffte. Welche Antwort gesucht wurde. "...gute Nacht?", äußerte Llywelyn zögernd, vorsichtig. Endlich erreichte der mentale Tritt in den Hintern auch Isolders Verstand. Er beugte sich vor, hauchte einen zärtlichen Kuss auf Llywelyns Wange und lächelte mehr als begeistert über diese Initiative. "Dir auch eine gute Nacht. Träume etwas Schönes." Llywelyn nickte knapp, eine winzige Falte zwischen den goldenen Augenbrauen. Dann rollte er durch die Pforte, die kontrapunktisch laut scheppernd ins Schloss fiel. »Gibt's doch gar nich!«, stellte Isolder fest, der schon hier im Stehen träumte. Konnte es sein, dass Llywelyn ihm auf kleinen Schritten entgegenkam?! *~*8*~* [Mondnacht Es war, als hätt der Himmel Die Erde still geküsst, Sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müsst. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.] Llywelyn schob die kleine Visitenkarte mit dem Gedicht wieder in den Umschlag zurück und strich mit der Fingerspitze über den sehr flachen, runden Stein. Seine Musterung erinnerte ein wenig an die Kraterschatten des Mondes. »Deshalb also der Spaziergang!«, resümierte er erfreut. Er rollte sanft aus, legte den Kopf in den Nacken und studierte den schwarzen Himmel über sich. Kurz vor Zehn waren schon einige Sterne versammelt, und der Vollmond lugte ungestört auf die kahle Erde im Winter hinab. Lächelnd blies Llywelyn verspielte Atemwolken zu ihm hoch. Er mochte das Gedicht. Und auch die Aussicht, unter diesem prachtvollen Mond durch die kalte Nacht zu spazieren. *~*8*~* Isolder strahlte ebenso beglückt, als Llywelyn im Eingang erschien. Das nervöse, erwartungsvolle Kribbeln zerstob in einer Explosion der erleichterten Freude. "Llywelyn! Hallo! Ich bin gleich fertig!", sprudelte er hervor, winkte dann aufgeregt. "Ach, das hätte ich jetzt glatt...! Komm rein, ich habe dir doch etwas zu trinken mitgebracht!" Artig wechselte Llywelyn die Fußbekleidung, auch wenn es ihn lockte, sich wieder ins Freie zu begeben. Er marschierte zu Isolder, der ihn ansah wie das achte Weltwunder. "...toll...", raunte Isolder tatsächlich. "Das steht dir einfach...grandios!" Llywelyn kräuselte die goldenen Augenbrauen, blickte dann zögerlich an sich hinab. IHM selbst kam seine Bekleidung gar nicht so bemerkenswert vor, aber sie musste es wohl doch sein...? Und das war sie auch. Ursprünglich hatte das Ensemble aus einem weit schwingenden, knielangen Regenmantel und einem entsprechenden Hut mit breiter Krempe bestanden. Damals, als gewisse Damen sich noch mit fremdem Fell (und sei es auf Gummi) schmückten. Die Leopardenfellmusterung war mit orangefarbenen Kringeln geziert. Insgesamt eher auf- als unauffällig, zumindest wenn man sich auf der Pirsch befand. Nun ja, ein Großstadtdschungel meldete andere Ansprüche an die Bekleidung an. Hier musste man zum gezielten Balzen die Aufmerksamkeit explizit auf sich lenken. Die Zeiten der Fellmusterung waren vorbei, das Ensemble abgelegt und Llywelyn hatte sich daran zu schaffen gemacht, als es ihm unvermutet über den Weg lief, vielmehr ihre Wege sich kreuzten. Ein kuscheliger Besatz aus Teddyplüsch im gleichen Orangeton veredelte Hut und Mantel, hier noch den Zuschnitt angepasst, dazu einen breiten Gürtel und voila! In Kombination mit einem schwarzen Zweiteiler (Sweatshirt und Kniebundhosen) sowie einer violetten Boa aus weichen Kunstfedern (extra lang) und den gleichfarbigen Handschuhen bot er ein aufsehenerregendes Bild. Wer wagte schon, sich derart extravagant zu präsentieren?! Isolder stellte das Stottern ein, denn ihm gefiel es. Nicht nur, weil Llywelyn diesen Aufzug präsentierte, nein, es war die ganze verrückte Kombination! Auf herausfordernde, exzentrische Weise harmonierten die unterschiedlichen Fabrikate und Farben perfekt miteinander. Getragen von einem schönen Außerirdischen, der nonchalant agierte, ohne arrogant zu wirken. "Das hast du selbst gemacht, nicht wahr?" Wagemutig glitt er mit den Fingerspitzen über den Teddyplüsch an einem Ärmelbund. "Einfach klasse. So etwas könnte ich nie bewerkstelligen." Llywelyn bildete die bedenkliche Falte zwischen den goldenen Augenbrauen aus. "Es ist nicht schwer mit einem Muster." »Na klar!«, dachte Isolder, keineswegs beleidigt, »du glaubst, weil du es kannst, bekommt es jeder hin, wenn er sich bloß Mühe gibt.« Was natürlich nicht zutraf, denn hier ging es nicht nur um den Umgang mit der richtigen Technik, sondern um den Blick für das Wesentliche. Für das Potential der Einzelteile. Isolder wusste, dass er in modischer Hinsicht gut beraten war, klassische Farben und Schnitte zu bevorzugen, um sich nicht zu blamieren. Deshalb entlockte ihm Llywelyns Geschmack und sein unprätentiöses Auftreten Bewunderung. "Marschverpflegung!", erinnerte er sich hastig laut, bevor er in Versuchung geriet, noch mehr an Llywelyn herumzuzupfen. "Komm mit, ich stelle es gleich in die Mikrowelle!" Artig folgte ihm Llywelyn, ließ sich dann eine aufgewärmte Mischung vom Bäcker reichen, die Isolder wie den Heiligen Gral nach der Schule transportiert hatte. Er grinste, als er Llywelyns Mienenspiel neugierig verfolgte. "Verrückt, hm?", schnurrte er frech. "Schmeckt's dir trotzdem?" Llywelyn schnupperte, blies noch mal auf die heiße Oberfläche und testete sehr gründlich bis zum Boden des Pappbechers. "Flüssiger Bratapfel", erläuterte Isolder aufklärend. Die besondere Mischung schmeckte tatsächlich nach Bratapfel mit Rosinen, Mandeln und darüber Vanillesoße. Sie war bloß flüssig, wie der Name bereits verriet. "Danke schön." Llywelyn leckte sich über die Lippen, eine ganz selbstverständliche Geste, die gar nichts mit den vulgären Herausforderungen anderer Personen gemein hatte. "..jaaa", murmelte Isolder, riss seinen gebannten Blick von dem kirschroten Mund los, schoss wie eine Kugel im Flipperautomat in der Videothek umher, denn gleich endete seine Arbeit. Wenige Augenblicke später verließen sie gemeinsam das flache Gebäude. "Darf ich?" Kühn genug durch Llywelyns erstaunliche Mitteilsamkeit zuvor streckte Isolder ihm die bloße Hand entgegen. "Nur leihweise", ergänzte er schmunzelnd, als ihm bewusst wurde, dass Llywelyn die Bitte nicht dechiffrieren konnte. Zögerlich trennte der sich dann doch von einem Handschuh, schlüpfte ebenso vorsichtig in Isolders Hand. "Schön warm!", schnurrte der sanft, verzichtete darauf, ihre Finger ineinander zu flechten. So ging es ja auch, nicht wahr?! Bloß nicht zu gierig werden und alles verderben! Sie schlenderten los, ohne rechtes Ziel, einfach geradeaus und an jeder Weggabelung nach Laune. Trotzdem achtete Isolder darauf, dass sie im "richtigen" Viertel blieben, denn an einem Freitagabend wollte er nicht hinter der Demarkationslinie flanieren und auf gelangweilte Krawallbrüder und -schwestern stoßen. DAS kannte er zur Genüge. Llywelyn lächelte versonnen vor sich hin, legte immer wieder den Kopf in den Nacken und studierte den Vollmond. Isolder erinnerte sich des Gedichts, das er extra für diesen Tag ausgewählt hatte. Er befand, dass besonders die letzte Strophe widerspiegelte, was Llywelyn in seinen Augen auszeichnete: eine frei fliegende Seele, in sich selbst ruhend. Llywelyn schien nicht auf die Bestätigung anderer angewiesen zu sein, solange er mit sich selbst im Reinen war. Unwillkürlich begann er, mit dem Daumen über den milchweißen Handrücken zu streicheln. Auf einem kleinen Platz hielten sie erneut inne, die Köpfe weit in den Nacken gelegt, ganz auf das Sternen prangende Firmament ausgerichtet. "Da!", deutete Isolder mit der freien Hand aufgeregt. "Schau mal! Eine Sternschnuppe!" "Meteorit", murmelte Llywelyn versonnen, dehnte die Silben wie eine kleine Melodie. "Dann wünsch dir schnell etwas!" Isolders Blick klebte nun auf Llywelyns Profil. »Verflixt und zugenäht!«, fluchte er verzweifelt. »Krieg dich ein!« Aber das war leichter gesagt als getan, denn er WOLLTE Llywelyn so gerne küssen! Ihn in den Armen halten und tief in diese silbergrauen Augen sehen, wenn möglich bis in alle Ewigkeit. Glücklicherweise war Llywelyn nicht ein schönes Objekt der Begierde, sondern vor allem ein Außerirdischer. "Dann wünsche ich mir, dass der Meteorit mich nicht erschlägt", stellte der nämlich gerade sehr nüchtern fest. "Obwohl die meisten in der Atmosphäre verdampfen", erwähnte er sachlich. Isolder platzte lachend heraus. Nur Llywelyn war fähig, in einem solchen Moment derart vernünftige Gedanken zu äußern! "Tja!", schniefte er kichernd, wischte sich mit der freien Hand die Augenwinkel. "So ein Wunsch geht aber nur in Erfüllung, wenn du ihn nicht aussprichst." Llywelyn kräuselte die goldenen Augenbrauen. "Das ist unpraktisch. Wenn niemand etwas von dem Wunsch weiß, wie kann man dann glauben, er würde sich erfüllen? Objektiv kann das doch gar nicht bewiesen werden." Hingerissen ließ sich Isolder zu einer ebensolchen Freiheit verleiten, streichelte mit der freien Hand über Llywelyns dezent von der Kälte gerötete Wange. "Du hast vollkommen recht", raunte er sanft. "Wenn man nicht ausspricht, was man sich wünscht, kann es gar nicht in Erfüllung gehen." "Ausgenommen die Wünsche, bei denen man es selbst in der Hand hat." Llywelyn bemühte sich offenkundig um Gerechtigkeit. "Aber dann wäre es ja weniger ein Wunsch als ein angestrebtes Ziel." "Stimmt", pflichtete ihm Isolder bei, der auch die Behauptung unterstützt hätte, die Sonne kreise um die Erde, wenn Llywelyn sie just in diesem Moment formulierte. Llywelyn studierte wieder den Nachthimmel. "Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man von einem Meteoriten getroffen wird", dozierte er leise. "Der Mond und die Erdatmosphäre, so dünn und flüchtig sie auch ist, beschützen uns." Isolder folgte seinem Beispiel und spähte ebenfalls wieder in die Höhe, zu fernen Galaxien, Sternhaufen, Weißen Zwergen, roten Sonnen und Schwarzen Löchern. "Wenn mich ein Meteorit erschlagen würde", formulierte er bedächtig, "dann sollte er mich nachts erwischen, wenn ich schlafe. Dann bin ich nämlich eingeschlafen mit guten Gedanken." »Und voller Liebe und Hoffnung.« "Und ich bemerke nicht mehr, wenn ich getroffen werde." Überrascht von sich selbst biss er sich auf die Lippen. Von Sternschnuppen-Wünschen zum Tod in ein paar Augenblicken?! Wenn DAS keine erfolgreiche Gesprächsführung in Sachen Herzensbildung war! »Du Vollidiot«, stellte er sich deshalb resignierend ein Armutszeugnis aus. Llywelyn neben ihm schwieg. Grübelte er etwa? Tatsächlich lohnte sich Isolders angespanntes Warten, denn bedächtig äußerte der Außerirdische seine Auffassung zum Thema. "Ich bin nicht sicher, aber ein Meteorit, der die Atmosphäre durchschlagen würde, wäre wahrscheinlich ziemlich laut und enorm schnell. Heutzutage könnte man vielleicht den Einschlagort genau genug lokalisieren, um alle Menschen dort zu evakuieren." Die silbergrauen Augen wandten sich Isolder zu. "Ausgesprochen unwahrscheinlich, dass du durch einen Meteorit im Schlaf erschlagen wirst." Seine Stimme klang fast tröstend, als müsse er eine schlechte Nachricht übermitteln. Isolder grinste schief. "Nun, dann bin ich ja beruhigt. Sternschnuppen erfüllen also keine Wünsche, aber sie rammen mir auch nicht den Schädel ein. Klingt doch fair." "Vermutlich würde man berühmt, wenn man als Meteoriten-Opfer identifiziert werden könnte", überlegte Llywelyn halblaut und vollkommen ernsthaft. "Allerdings hätte man von diesem Ruhm nichts." "Wenn man nicht zufällig zu einem Geist verdampft wird!" Isolder konnte nicht widerstehen, Llywelyn ein wenig zu necken. "Keinem Weihnachtsgeist, sondern einem Sternschnuppengeist." Eine goldene Augenbraue hob sich kritisch, die silbergrauen Augen funkelten. "Ich glaube nicht an Geister", versetzte Llywelyn frostig. "Vor allem nicht an solche, deren Existenz für gewisse Zeitgenossen allzu günstig ist." Lächelnd streckte Isolder die Waffen. "Ich halte Geister auch für Humbug, mal ausgenommen die Weingeister!" Er zwinkerte. "Heilige Geister sind auch höchst verdächtig", grollte Llywelyn grimmig, die Augen schmal, die Lippen ausgebleicht. "Erstaunlicherweise treten sie immer dann auf, wenn der Verstand aussetzt. Nichts als Werkzeuge der Manipulation und Ausbeutung!" "Der geistig Armen", beendete Isolder flink den Satz, grinste. "Du bist da zweifellos nicht gefährdet", komplimentierte er Llywelyn schmeichelnd. Der funkelte ihn an, erkannte die Herausforderung selbstredend. "Und du redest mit Engelszungen und Honigsüße, um mich einzuwickeln!" "Nicht geschickt genug, wie?!", seufzte Isolder dramatisch. "Nun ja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt!" Llywelyn ließ ihn allerdings nicht so einfach vom Haken, nun, da er sich in mitteilsamer Laune befand. "Was willst du damit bezwecken? Warum soll ich über dich getäuscht werden?" Uff! DAS war ein Tiefschlag, und folgerichtig blätterte Isolders amüsiertes Grinsen rapide von seinen entgleisten Gesichtszügen. Er schnappte nach Luft, nun gar nicht mehr 'geistreich' und leichtfüßig auf schwierigem Gelände. Der inquisitorische Blick ruhte auf ihm, geduldig, aber eisern. Unnachgiebig. Mit der Gemütsruhe eines Gletschers, der seit Jahrmillionen zum Wasser wanderte, unergründlich, unaufhaltsam und unbestechlich. "Ich habe überhaupt nicht die Absicht, dich zu täuschen!", protestierte Isolder beklommen. "Ich verstelle mich nicht!" Er sog tief die eisig kalte Winterluft ein. "Außerdem HABE ich dir gesagt, was ich 'bezwecke'! Ich möchte mit dir zusammen sein! Mit dir gehen!" War er wirklich rot geworden oder standen bloß seine Wangen in Flammen?! Verbrannt roch es jedenfalls nicht. "Daran erinnere ich mich." Llywelyn gab nicht einen Iota nach, blinzelte weder, noch atmete er schneller aus Verärgerung. "Aber das erklärt noch gar nichts." "Gar nichts?!", echote Isolder verblüfft. "Es erklärt gar nichts?! Was für eine Erklärung fehlt dir denn, wenn ich mit dir gehen möchte?" Das platzte ein wenig heftiger heraus als beabsichtigt, doch Llywelyn reagierte nicht beleidigt. Oder beeindruckt. "Der Grund", antwortete er sachlich. "Das Warum." "Na, weil ich dich liebe! Aus Liebe!", schnaubte Isolder heftig. Nun musste er aber krebsrot sein, von den Haarwurzeln bis zum kleinen Zeh! Nicht nur aufgrund des wiederholten Geständnisses, sondern auch, weil es in der stillen Nachtluft ausreichend laut durch die Gassen und Straßen geschallt hatte. "Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Liebe gibt." Llywelyn sprach vollkommen unbewegt, mit nüchterner Stimme. "Es erscheint mir eine flüchtige Rechtfertigung für allerlei eigennützige Absichten." Isolder hätte einen Schlag in den ungeschützten Solarplexus weitaus besser weggesteckt als diese Feststellung. Er hielt zwar kitschige Liebesbekenntnisse mit allerlei Zuckerwerk für übertrieben. Aber daran zu zweifeln, dass es eine tiefe emotionale Beziehung zu einem anderen Menschen gab, das konnte er sich nicht gestatten. Das wäre ja so, als würde man alle Hoffnung fahren lassen, sein Leben mit einem anderen Menschen zu teilen! Schlichtweg: wenn man nicht an die Liebe glaubte, dann gab es keine Hoffnung. Sein Gesichtsausdruck musste derart entsetzt und erschüttert gewesen sein, dass selbst Llywelyn nicht unbeeindruckt blieb. In dessen Mienenspiel zeichnete sich nämlich eine gewisse Unruhe ab, die silbergrauen Augen wanderten nervös über sein Gesicht. Heftig schluckend räusperte sich Isolder, dann krächzte er mit belegter Stimme. "Wenn du aber nicht an die Liebe glaubst, was ist deiner Meinung nach der Sinn des Lebens? Das ultimative Warum?" Deutlich erleichtert, dass Isolder wieder zu "funktionieren" schien, löste sich die Spannung in dem milchweißen Gesicht. "Nun, ich glaube nicht, dass es einen Sinn des Lebens gibt. Jeder setzt seine Prioritäten für sich selbst. Erfüllt er seine eigenen Erwartungen, dann würde ich von einem sinnvollen Leben sprechen." »Ich unterhalte mich mit einem Roboter!«, jaulte es bösartig in Isolders Innerem. »Das klingt so theoretisch, so KLINISCH, so...so...so kalt!« Bitter studierte er den schönen Außerirdischen und gestand sich gequält ein, dass er sich selbst getäuscht hatte. Llywelyn war kein bezaubernder, missverstandener Engel aus einer anderen Dimension, der erlöst werden wollte, sondern ein eigenständiger, sehr unabhängiger Geist, der seine eigenen Regeln, seine eigene Logik hatte, der sich nicht konventionellen Vorstellungen beugte. Zog man in Betracht, wie er sich bewegte, reagierte, dann KLANGEN seine Ansichten und Auffassungen logisch und konsequent. Das rief ihm mahnend die Worte des Wikingers ins Gedächtnis: sie lebten beide ihr eigenes Leben. Sie brauchten einander gar nicht. Es war NICHT hilfreich, die eigenen, enttäuschten Erwartungen Llywelyn anzuheften, der keinen Hehl daraus gemacht hatte, dass er anderer Auffassung war. »Da habe ich mir selbst ans Bein gepisst!«, stellte Isolder vulgär, aber treffend fest. Er hob ihre verbundenen Hände, so warm und real!, und hauchte einen Kuss auf Llywelyns Handrücken. "Weißt du", murmelte er sehr bedächtig, "ich vertraue auf meine Gefühle und glaube an mich. Eine meiner Prioritäten ist es, mit dir zusammen zu sein. Dich zu lieben. DAS ist für mich sinnvoll." Auf Llywelyns Gesicht zeichnete sich nun unverkennbar Bestürzung ab. Und Nervosität. Isolder spürte den Druck in seiner Hand, als erwäge Llywelyn, sich ihm zu entziehen. Aber es war ja nicht seine Absicht, ihm Angst zu machen, deshalb setzte er sich einfach wieder in Bewegung. Aus Erfahrung wusste er, dass es Llywelyn ganz gut tat, wenn der laufen konnte, frische Luft schnappte und nicht mit Worten eingekesselt wurde. Sie marschierten in flottem Tempo eine ganze Weile, schweigend. Llywelyns Hand blieb weiter in Isolders Griff. Schließlich, als sie langsam wieder in einen Schlenderschritt übergingen, wagte Isolder, sich erneut an Llywelyn zu wenden. "Bist du mir böse? Weil ich so etwas zu dir gesagt habe?" Er klang eindeutig (und leicht beschämend) kleinlauter und kläglicher, als er intendiert hatte. Neben ihm surrten die Rollen der Inliner träge, einmal nicht von den häufigen Unebenheiten und Stolperfallen unterbrochen. "Nein", antwortete Llywelyn ruhig. "Ich glaube, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Ich bin dir nicht böse." "Guuut!", schnaufte Isolder erleichtert, schüttelte die Beklemmung aus den breiten Schultern. "Ich hatte Angst, du würdest es mir übelnehmen." "Ich muss darüber nachdenken", erklärte ihm Llywelyn konzentriert. »Oha! Ende der Debatte!«, begriff Isolder. Forcieren würde ihm keine Pluspunkte einbringen. In der Nähe schlug die alte Kirchturmuhr. Seufzend musste er akzeptieren, dass der Spaziergang im Mondschein langsam zu Ende ging. Ohne besondere Vereinbarung begleitete er Llywelyn zu dessen Elternhaus, hielt dessen Hand allerdings noch einen Augenblick länger. "Darf ich dich morgen auch erwarten? Wenn das Wetter anhält?", wagte er, sein Glück herauszufordern. "Ja." Llywelyn nickte. Isolder lächelte ihn an, diesen schönen Außerirdischen, der ihm so viele Rätsel aufgab und Anstrengungen abverlangte, beugte sich dann vor und küsste ihn sanft auf die Lippen. "Danke schön", raunte er zärtlich. "Schlaf gut." Llywelyn entzog ihm vorsichtig seine Hand, blickte ihn eindringlich an. "Keine Gefahr durch Meteoriten", wisperte er. "Weder tagsüber noch nachts. Keine Angst vorm Einschlafen." Erstaunt blinzelte Isolder, strich dann über eine sanft erglühte Wange. "Danke." Und das kam aus tiefstem Herzensgrund. *~*8*~* Kapitel 13 - Zuflucht "Also wirklich, Liebling! So ein Geheimniskrämer!" Llywelyn zuckte zusammen, als seine Mutter ihn unvermittelt in die Seite knuffte. "Geht sie in deine Klasse? Ist sie hübsch?" Llywelyn steuerte den Einkaufswagen beherrscht und bemühte sich angestrengt, seine Contenance zu wahren. Es war ihm überaus unangenehm, dass seine Mutter in einem großen Supermarkt nicht davon Abstand nehmen konnte, ihm persönliche Fragen in einer Lautstärke zu stellen, die sämtliche Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Dabei wäre sie besser beraten gewesen, sich auf die Einkäufe für die am morgigen Sonntag drohende Veranstaltung zu konzentrieren! "Och, sag schon!", bettelte sie quengelnd wie ein Kleinkind, absolvierte eine lächerliche Parodie auf Schmierenkomödien. Llywelyn schwieg eisig. Selbst wenn sie sich nicht derart geschmacklos und aufdringlich aufgeführt hätte, wären seine Lippen versiegelt gewesen. Es ging sie schlichtweg nichts an, und sie hatte kein Recht, sich Auskunft zu erdrängeln! Wieder einmal musste er sich ermahnen, nicht zurückzudenken. An vorher. Früher. Doch der vertraute Schmerz ließ ihn nicht im Stich, engte seinen Brustkorb ein und konspirierte mit seinem rebellischen Magen, der schon in schlimmer Erwartung der Festivität rumorte. "Vielleicht sollte ich mich morgens mal auf die Lauer legen?", köderte sie ihn unermüdlich. "Das wäre sicher eine Überraschung." »Zweifellos«, pflichtete Llywelyn ihr innerlich bei. »Glücklicherweise wissen wir beide, dass du niemals rechtzeitig so früh aus dem Bett kämst!« Noch vor einigen Monaten hätte ihn ein derartiger Gedanke erschreckt, doch jetzt fühlte er sich durchaus dazu gerechtfertigt. Kampflos wollte er sich nicht einreihen, in eine Gussform gepresst werden! Zu einem von IHNEN degenerieren! "Wir benötigen noch drei Gläser der Cocktail-Würstchen", stellte er knapp fest, kontrollierte die Einkaufsliste. Manchmal WOLLTE er gar nicht wissen, wie Menschen wirklich funktionierten! *~*8*~* Isolder, der einen arbeitsreichen Tag hinter sich und ein wenig neidvoll dem kurzen Bericht von Gunnar gelauscht hatte, der von einem sehr schönen, ereignisreichen, zweiten Advent sprach, grinste unwillkürlich, als sich Llywelyn eine Stunde vor Ladenschluss in der Videothek einfand. Ganz anders und doch ebenso herrlich aufrührerisch war er an diesem Samstag in eine Art Punk-Outfit gekleidet: über gestreiften Strümpfen eine rotkarierte Hose, mehrere Gürtel und Ketten. Ein zerfetztes T-Shirt über dem anderen, dazu ein knöchellanger, giftgrüner Mantel ohne Ärmel und unter dem flachen Dreispitz das Piratenkopftuch. "Guten Abend, Llywelyn." Isolder zwinkerte. "Was darf's sein?" Llywelyn zögerte, noch immer die berüchtigte Falte zwischen den goldenen Augenbrauen. Er schien nicht gerade bester Laune zu sein und war vermutlich von Zuhause geflüchtet. "Ich weiß etwas!" Einladend lupfte er die Tresenklappe. "Mach's dir gemütlich, ich bin gleich da!" Er flitzte eilig los, um seinen Favoriten auszuwählen. *~*8*~* Lächelnd schob sich Isolder in den abgedunkelten Nebenraum. Er hatte die Videothek schon abgeschlossen, aber der Film, den er für Llywelyn ausgesucht hatte, lief noch einige Minuten. "Mon oncle", der dritte Film des herausragenden Jacques Tati, war ein prämierter Klassiker und besonders geeignet, einen Außerirdischen wie Llywelyn mit den Tücken des Alltags zu versöhnen. Dass er mit dieser Einschätzung nicht falsch lag, bewies die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Llywelyn die Handlung auf dem Bildschirm verfolgte. Isolder dagegen betrachtete das allein vom Widerschein des Monitors beleuchtete Gesicht seines Freundes. Zunächst wirkte dessen Mienenspiel immer ein wenig starr, kühl, distanziert, doch wenn man sich die Mühe gab und genau hinsah, bemerkte man, wie nuanciert sich Emotionen und Gedanken abzeichneten. »Ich frage mich«, Isolder rieb sich unbewusst über den Bartschatten, »was mit dir geschehen ist. Wie bist du der geworden, der hier bei mir ist?« Um dies zu ergründen, musste er allerdings in Vorleistung gehen. *~*8*~* Isolder gab Llywelyns Hand gerade so lange frei, wie sie beide benötigten, um sich in den Schlaufenschaukeln niederzulassen. Über ihnen huschten vereinzelte Wolken über den Himmel, verdeckten kurzzeitig den Vollmond und die Sterne. Spielerisch bliesen sie Atemstreifen in die eisige Luft, schwangen langsam vor und zurück. Isolder fischte einige Halsbonbons aus seiner Parkatasche und verrenkte sich, sie Llywelyn anzubieten. Um keinen Preis wollte er unnötig dessen Hand loslassen! "Danke schön", antwortete der ihm höflich, nachdem er aus dem Angebot ein Bonbon herausgepickt hatte, zupfte mit den Zähnen die Hülle herunter und stopfte sie ordentlich in die ausladenden Manteltaschen. Grinsend tat Isolder es ihm gleich. Heute, so schien es ihm, hatte Llywelyns Gebaren etwas entschieden Trotziges an sich. »Ob er wohl so gegen seine Eltern protestiert?« Der Gedanke amüsierte ihn. Lutschend und Beine baumelnd trieben sie dahin, hingen ihren eigenen Gedanken nach, bis Isolder sanft die Stille brach. "Ich möchte dir gern von meiner Familie erzählen." Er schielte zu Llywelyn hinüber, ob das Sujet genehm war. Nichts langweilte schließlich mehr, als die faden Erzählungen anderer zur eigenen Verwandtschaft! Llywelyn dirigierte die Bonbonbeule in die andere Backe zum Ausbuchten, blickte ihn aufmerksam an. "Es ist wie ein Märchen, und gestorben sind sie noch nicht", holte Isolder ermutigt aus. "Es war einmal ein schönes Mädchen, das in einer mittelgroßen Stadt aufwuchs. Schon ihre Eltern liebten die Verheißung der Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten, die das Land jenseits der Ozeane versprach. Weil sie hauptsächlich durch die zahlreichen Filme von diesem gelobten Land Kenntnis hatten, tauften sie ihre Tochter Scarlett. Scarlett verfügte nicht über ein vornehmes Elternhaus mit zahlreichen Ländereien und einem großen Vermögen, also blieben ihr nur ihre Träume und die Hoffnung, dass sich ihr Glück schon einfinden möge. In der Stadt, in der sie lebte, war das Glück allerdings wirklich viel näher als das Land über die Ozeane hinweg. Hier waren nämlich GIs stationiert, nette, junge Männer, die häufig zum ersten Mal außerhalb der Staaten lebten und ebenfalls ihr Glück machen wollten. Hier erwarteten sie keine Kriege, sondern ein kleines Land mit neugierigen, dankbaren Bewohnern. Scarlett nutzte also ihre Chance, denn sie wusste, dass sie für ihr Glück arbeiten musste. Sie lernte die Sprache des gelobten Landes rasch und fand nach dem Schulabschluss Arbeit als Kassiererin in einem PX. So hießen damals die Supermärkte auf dem Gelände der Kasernen. Für die GIs, die kaum außerhalb unterwegs waren, eine gute Gelegenheit, sich mit der örtlichen Jugend anzufreunden. Sie hatten ja auch viel gemeinsam, Musik und Mode, Filme und Besuche in den Diskotheken. Aus Scarlett war eine schöne, junge Frau geworden, die Augen dunkelblau wie Kornblumen, die Haare ebenholzschwarz und so kräftig, dass sie kaum eine Spange zu bändigen vermochte. Da sie die Sondererlaubnis hatte, ebenfalls im PX einkaufen zu dürfen, kleidete sie sich auch modern und bemühte sich, ihrem Ideal zu entsprechen. Es gab da einen jungen Mann, einen GI, der sich besonders um sie bemühte. Er führte sie zum Tanzen aus und machte ihr kleine Geschenke. Scarlett war begeistert darüber, dass er sogar in einer Amateurband spielte und als Amateur-Ringer ein Renommee hatte. Eine Verlobung schien nur noch eine Frage der Zeit, wen kümmerte es da schon, dass sie schwanger war? Nun, einen kümmerte das schon, nämlich einen Cousin ihres Liebsten, der die Familie in den Staaten über die erstaunliche Entwicklung auf dem Laufenden hielt. Die Familie hatte ganz andere Vorstellungen über die Zukunft als das junge Glück. Kaum, dass der Stammhalter geboren war, der den Vornamen eines Großvaters väterlicherseits erhielt, da wurde der GI eiligst nach Hause gerufen, ein Notfall in der Familie. Er flog gehorsam nach Hause und ließ Scarlett mit dem kleinen Sohn Jermaine zurück. Scarlett plante zuversichtlich eine Hochzeit im kleinen Kreis, denn nun lebte sie ja ganz auf Kosten ihrer Eltern in deren kleiner Wohnung! Aber wenn erst ihr Liebster zurückkäme, um sie zu holen, ja dann! Doch die Zeit verstrich, die Briefe wurden kürzer und eines Tages begriff Scarlett, dass ihr Liebster sie nicht abholen kommen würde. Das war ein herber Rückschlag, aber Scarlett war noch jung und unverdrossen. Sie hatte die Eltern, die sich so lange um Jermaine kümmerten, bis der alt genug war, um in den Kindergarten zu gehen, sodass sie selbst wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehrte. Zudem gab es durchaus Leidensgenossinnen, die auch vergeblich gehofft hatten. Dann wurde der Standort aufgegeben, und Scarlett, die ihrem Traum nicht Adieu gesagt hatte, packte ihre Habseligkeiten und den kleinen Jermaine, um in die große Stadt überzusiedeln. Auch dort gab es noch einen GI-Standort mit großen Supermärkten, und sie konnte die kleine, finanzielle Unterstützung abholen, die ihr verflossener Liebster für den gemeinsamen Sohn sandte. In einer fremden Stadt, noch ohne Freunde und Bekannte, blieb es nicht aus, dass die schöne Scarlett erneut Verehrer hatte. Viele der GIs kamen aus kinderreichen Familien, die störten sich nicht daran, wenn manchmal ein kleiner Junge mitgenommen werden musste! Ein Soldat hatte es ihr besonders angetan, mit blitzblauen Augen, schwarzen Haaren und irischen Vorfahren. Er sang gern und ständig, liebte das Amüsement und war immer gut gelaunt. Vom Ernst des Lebens wollte er nichts wissen, der Augenblick war ihm heilig. So viel Charme und dazu der Mittelpunkt jeder Kneipe, da konnte sie nicht widerstehen! Wenn er nur eine gute Frau hätte, dachte sie sich, dann würde er auch häuslicher werden. Wenn er eine eigene Familie hätte, dann müsste er nicht ständig herumziehen in der ganzen Welt. Leider war er auch ein rauflustiger Geselle und landete mehr als einmal zur Ausnüchterung bei der Militärpolizei in einer Zelle. Scarlett glaubte jedoch unbeirrt an ihn, drängte ihn, aus ihrem Bund einen ehelichen zu machen. Das hätte wohl auch den Vorgesetzten gefallen, um das heiße Mütchen ein wenig abzukühlen, doch der irischstämmige GI ließ sich nicht einfangen. Ein ganzes Jahr war er schon hier, die Welt änderte sich, es gab anderenorts Kriege auszufechten. Die innere Unruhe trieb ihn an, er wollte fort. Als letzten, verzweifelten Versuch, ihn vor einer schwerwiegenden Entscheidung zu bewahren, teilte Scarlett ihm mit, sie erwarte ein Kind. Erfreut feierte ihr umtriebiger Gefährte das bevorstehende Ereignis feuchtfröhlich, nannte es ein Zeichen seines günstigen Schicksals und ließ sich prompt versetzen. Scarlett blieb erneut allein zurück, aber sie vertraute darauf, dass das Glück ihr hold war, der verrückte Kämpfer zu ihr kommen würde, um seinen Sohn kennenzulernen. Doch dazu kam es nicht, denn Madame Fortuna ist launenhaft. Der, der das Gefecht suchte, einen Krieg in einem fernen Land unter glühend heißer Sonne führen wollte, starb an einer heftigen Abwehrreaktion bei der Impfung, und ihr zweiter Sohn, den sie nach einem tapferen Prinzen nannte, der unter Piraten gelebt hatte, lernte den Vater nie kennen. Was tun? Zwei Kinder brauchten sie, noch immer war das gelobte Land weit weg und ihre Möglichkeiten beschränkt. Die Welt drehte sich schneller, immer rascher verschwand das, was ihre Jugend so unbeirrbar ausgemacht hatte. Sechs weitere Jahre strichen ins Land, und Scarlett arbeitete nun in der Kantine einer der letzten Standorte. Hin und wieder traf sie einen Mann, der ihr gefiel, doch keiner war bereit, eine Frau mit zwei Söhnen anzunehmen. Es gab wohl keine Prinzen mehr. Da fand sich einer, der ein Aschenputtel erkannte, wenn er es sah. Er war nicht groß, nicht schön, nicht wacker. Eher stämmig, ein gutmütiger Mann mit bürgerlichen Ansichten. Kein Soldat, oh nein, ein ziviler Mitarbeiter der Verwaltung, auch nicht mehr so jung, aber Scarlett freute sich, wie anständig er ihr den Hof machte und sogleich die Ehe antrug! Zum ersten Mal gab es wirklich Papiere, die beschafft werden mussten, Übersetzungen und Anerkennungen der Rechtstitel! Ja, selbst die beiden Söhne wollte der großmütige Mann adoptieren! Weil sie nicht mehr ganz gesund war und auch nicht mehr so jung wie einst, wollte Scarlett ihrerseits einen Beweis ihres Vertrauens abgeben. Was wäre mehr Beleg für eine innige Liebe und Verbundenheit als ein gemeinsames Kind? Das Kind, es kam, der Vater freute sich, und immer noch dauerte es, alle Papiere zu beschaffen. Kaum war der dritte Sohn geboren, bodenständig wie der Vater Hardy getauft, da musste der rasch verreisen, in die Hauptstadt, um dort Rede und Antwort zu stehen, denn es stellte sich heraus, dass in den Staaten bereits eine Ehefrau nebst Nachwuchs auf ihn warteten! Beinahe wäre er zum Bigamisten geworden, doch die eigenen Behörden erkannten den Betrug. Auch diverse andere Unterlassungssünden wurden aufgedeckt, und der gutmütige Mann kehrte allein in das gelobte Land zurück, um seine Strafe anzutreten. Scarlett aber erlitt einen so furchtbaren Schock über diesen erneuten Rückschlag ihrer Hoffnungen, dass sie zusammenbrach und heftig erkrankte. Ohne soziale Absicherung war sie nun mit ihrer kleinen Familie auf staatliche Fürsorge angewiesen. Mühsam, doch tapfer, weil sie eine wahre Heldin war, rappelte sie sich wieder auf. Sie suchte sich Arbeit, blieb ihren Söhnen ein Vorbild und stellte die Träume vom gelobten Land hintan. Immer mal wieder kreuzten Männer ihren Pfad, doch die Söhne bedeuteten ihr mehr. Auch wenn sie Krankheiten zeichneten, ihren Mut hat sie nie verloren. So leben sie noch heute, Scarlett und ihre drei Söhne. Nicht im gelobten Land." Isolder räusperte sich und warf einen hastigen Seitenblick auf Llywelyn, der ihm schweigend gelauscht hatte. Einige Lücken hatte die Erzählung natürlich, aber es war eine Version der Ereignisse, die ihm selbst zusagte. Die auf Hoffnung setzte, auf den unerschrockenen Willen, sich nicht aufzugeben. "Wenn das ein Märchen ist", Llywelyns Stirn verunzierten winzige Falten, "dann müsstest du als Prinz doch nach einer Prinzessin Ausschau halten." Perplex stellte Isolder das sanfte Schaukeln ein, hieb die Fersen in die Gummimatten unter sich und starrte Llywelyn an. "Vielleicht bin ich ja kein richtiger Prinz?!", stellte er schließlich heraus. "Ich bin bloß nach einem fiktiven Prinzen genannt worden." Llywelyn löste sich aus der Schaukel, ein wenig wacklig, da er ja auf Inlinern balancieren musste, schlotterte zum Aufwärmen mit den Beinen, immer noch an Isolders Hand gebunden. "Fragst du dich auch manchmal, warum es bei Märchen nie weitergeht?" Unbeirrt trotz Isolders konsternierter Replik verfolgte Llywelyn seine eigenen Gedanken. "Man erfährt nie, ob so eine Beziehung im Alltag überhaupt funktioniert. Es sind eigentlich bloße Verhaltensbeispiele bis zu einem bestimmten Punkt. Und dann ist einfach Schluss." "Nun ja." Isolder kam ebenfalls auf die Beine, löste ihre Hände, um die Ketten der Schaukeln loszuwerden, bevor er eilig erneut nach Llywelyns Hand haschte. "Für die Zeit danach taugen sie wohl wirklich nicht. Eine Garantie aufs ewige Glück existiert nicht." "Außerdem ist es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass Mord und Totschlag, Verrat und Untreue einfach so unter den Tisch fallen." Llywelyn zog Isolder vom Spielplatz zur Straße. Er benötigte offenkundig Bewegung. "Schätze, dir hat das Märchen nicht gefallen?", lockte ihn Isolder enttäuscht und ein wenig giftig zu einer Äußerung. "Das kann ich nicht sagen." Llywelyn studierte den Nachthimmel, rollte weiter, darauf vertrauend, dass Isolder ihn schon vor einer schmerzhaften Kollision mit einem stationären Hindernis bewahren würde. "Das kann man doch erst feststellen, wenn man das Ende kennt, oder?" Dabei wandte er den Kopf zu Isolder herum, zwinkerte mit einem winzigen Lächeln um die Mundwinkel. "Na warte!", schnaubte Isolder versöhnt. "Noch ist nichts zu Ende!" Llywelyn lachte leise und legte Tempo vor, doch Isolder hatte nicht die Absicht, sich einfach abhängen zu lassen! Er flitzte hinter Llywelyn her, haschte mehr als einmal die giftgrünen Mantelschöße und scheuchte den strahlenden Außerirdischen um diverse Laternenpfähle und zwei Litfaßsäulen. »Bekloppt!«, raste ihm belustigt durch den Kopf, »hätte ich gleich Haschmich mit ihm gespielt, wären wir schon dicke Freunde!« Llywelyn quietschte nämlich zwar nicht vor Vergnügen, aber sein gesamtes Gesicht glühte vor Begeisterung. Isolder wurde ganz schön gefordert, denn Llywelyn war nicht nur durch die Rollen im Vorteil, sondern auch trainiert. Vielleicht nicht mehr ganz so gut wie zuvor, aber immer noch mit fixem Antritt und enormem Durchhaltevermögen. Außer Atem und keuchend wie ein Dampfross mit entsprechenden Kondenswolken langte Isolder schließlich auch an der Pforte an, vor der Llywelyn schmunzelnd auf ihn wartete. "Das...das nächste..Mal!", reckte Isolder ächzend einen drohenden Zeigefinger. "Das nächste Mal erwisch ich dich!" Lässig angelehnt kicherte Llywelyn fröhlich. "Das darfst du gern versuchen." "Frechdachs!", begnügte sich Isolder mit der mildesten Zeihung, die ihm in den Sinn kam, zupfte nachdrücklich am giftgrünen Mantelrevers. "Ich gebe nicht auf!" Llywelyn grinste ihn tatsächlich an! »Na warte!« Herausgefordert und in überschwänglich guter Laune, möglicherweise durch die akute Sauerstoffunterversorgung verschuldet, schnellte Isolder vor, landete punktgenau auf den kirschroten Lippen. Dieses Mal blieb es nicht bei einem sanftem Hauch, einem behutsamen Druck, nein, seine Zungenspitze markierte fremde Gefilde, verteilte eigenen Speichel besitzergreifend. Ebenso hastig zog sich Llywelyn erschrocken von ihm zurück, die silbergrauen Augen geweitet. "Gehnicht!", sprudelte Isolder panisch heraus. "Tutmirleid,bittelaufnichweg!" Er WOLLTE Llywelyn ja nicht am Mantel festhalten, aber ihn flüchten lassen, das ging auch nicht! Den Kopf von ihm abgewandt stand der stocksteif da, die Hände zu Fäusten geballt. Isolder umklammerte das Kunstleder so fest, dass es hörbar knirschte. "Entschuldige!", murmelte er bedrückt. "Ich weiß, du magst das nicht. Ich war bloß ein bisschen zu ausgelassen. Worte sind einfach nicht genug, um dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe." »Schmalzig, Herrjemine, aber nichtsdestotrotz wahr.« Isolder hoffte auf Nachsicht. Eine Antwort blieb aus, doch er spürte, wie es in Llywelyn arbeitete. "...Llywelyn?", fragte er schließlich kläglich nach. Der rang nun hörbar um Atem, hauptsächlich aber um Beherrschung. Ohne ihm das Gesicht wieder zuzuwenden zischte er leise. "Ich bin kein Ding, das man besitzen kann. Mit dem man einfach tun kann, was einem gerade einfällt." Er drehte sich zu Isolder herum, die silbergrauen Augen funkelnd vor brodelndem Zorn, das Gesicht in einer Maske der eiskalten Verachtung verzerrt. "Du hast kein Recht, mich so zu behandeln. Du kannst mich nicht fangen und einsperren. Ich will nicht wie SIE sein!" Perplex und erschrocken von dem kaum verhohlenen Hass, der ihm entgegenschlug, taumelte Isolder zurück, gab den malträtierten Mantel frei. Was redete Llywelyn da?! Um welche "sie" ging es?! "...ich hab nich vor, dich einzusperren!", stotterte er verwirrt, zog die Augenbrauen zusammen. "Hör mal, es tut mir leid, dass ich dich ungefragt geküsst habe, wirklich, aber deshalb behandle ich dich doch nicht wie ein Ding!" Der Vorwurf zumindest schien ihm ungerechtfertigt. Llywelyn knurrte kehlig seine Antwort, vollkommen verändert, als fechte er in sich einen Kampf darüber aus, ob er sich in ein mordlustiges Ungeheuer verwandeln oder als Eiskönig mit frostiger Verachtung reagieren sollte. "Doch. Du zwingst mir deinen Willen auf. Aber ich WILL nicht!" Damit ließ er Isolder stehen, schlug ihm unmissverständlich die Pforte vor der entgeisterten Nase zu. *~*8*~* Isolder erwachte und fühlte sich wie gerädert. Die ganze Nacht hatte er sich hin und her gewälzt, weil Llywelyn und ihr heftiger Streit in seinem Kopf herumspukten. "Ohhhh Mann!", stöhnte er und hielt sich die Schläfen. Er hatte zwar noch nie einen Kater gehabt, aber große Unterschiede konnten zwischen seinem augenblicklichen Zustand und den Nachwirkungen übermäßigen Alkoholgenusses auch nicht bestehen! Unerfreulicherweise musste er sich außerdem eingestehen, dass Llywelyn nicht ganz unrecht hatte: man sollte wirklich niemanden küssen, der das nicht auch im gleichen Moment gern wollte! »Bloß, wann will der überhaupt mal?!«, begehrte sein Stolz auf. Was zu der wesentlich wichtigeren Frage führte: und jetzt?! Stöhnend stemmte er sich hoch und rieb sich mit beiden Händen kräftig über das Gesicht, dann öffnete er das Fenster, um eisige Luft in sein kleines Zimmer einzulassen. Geschehen war geschehen, da gab es nichts zu deuteln. Er würde eben zu Kreuze kriechen, denn hier ging es nicht darum, recht zu haben oder zu behalten, sondern um sehr intensive Gefühle. Er gab sich selbst ja nicht auf, weil er Llywelyn liebte! Nein, hier ging es darum, einen Kompromiss zu schließen, damit sie beide zusammen bleiben konnten. Bloß, wie sollte so ein Kompromiss aussehen? "Erst mal muss ich ihn wohl dazu bringen, mit mir wieder zu reden", stellte Isolder ernüchtert fest. Plötzlich war er wieder auf dem Startpunkt angelangt, nur, weil er sich mal wieder nicht hatte bremsen können! Das erinnerte ihn an seine morgendliche Tour als heimlicher Gönner/Verehrer, weshalb ihn ja auch der Wecker schrill aus den Federn geholt hatte. Wie lautete die Aufschrift der kleinen Visitenkarte für das heutige Datum, den dritten Advent? [Heutzutage hat jeder vor sich selbst Angst.] Zeitlos und treffend. *~*8*~* Als Isolder von seinem morgendlichen Ausflug zurückkehrte, war er überrascht, seine Mutter bereits auf den Beinen zu finden. "Guten Morgen, Mom." Er drückte einen Kuss auf ihre Wange. "Du bist schon auf?" "Ach ja, Schätzchen!", tätschelte sie seine Wange. "Ich konnte nicht mehr richtig schlafen, da dachte ich, 'steh auf, altes Mädchen und bügle die Wäsche!'" Isolder studierte sie besorgt, denn sie stützte sich stark auf das alte Brett, konnte das Bügeleisen kaum über die Länge der Hosenbeine führen. "Du hast doch noch gar nichts gegessen", tadelte er sanft. "Mom, lass uns erst mal frühstücken, ja? Dann machen wir den Rest gemeinsam, okay?" "Okay, Sir!", neckte sie ihn zwinkernd, schob sich langsam, mit schlurfenden Schritten zur Küche. Rasch entstöpselte Isolder das Bügeleisen, stellte es auf einen ungefährlichen Platz, räumte die Wäsche samt Brett beiseite. Er klopfte bei Hardy an die Tür und grollte. "Frühstück, Langschläfer, hoch mit der Kiste!" Bei Jermaine ersparte er sich die Höflichkeiten. Der Bruder war nicht zugegen, dafür stank das kleine Zimmer eindeutig nach Marihuana. »Na warte, du Vollidiot, komm du mir heim!«, dachte Isolder zornig, riss das Fenster auf, damit es unter der Tür hindurch auch gleich bei Hardy ordentlich durchzog. In der Küche half er seiner Mutter rasch. Wenn sie nicht schlafen konnte, bedeutete das meistens, dass sie Schmerzen hatte, nicht mehr fähig war zu liegen trotz der zahlreichen Medikamente gegen das Rheuma. Um sie abzulenken, suchte er einen Radiosender mit Oldies, stimmte den Refrain an. Sie versicherte ihm dann immer, dass er wie sein Vater klang, mit einer schönen, volltönenden Stimme, die jedem irischen Pub zur Ehre gereicht hätte. Isolder wusste kaum etwas von seinem Vater, hatte ihn niemals kennengelernt. Er war sein eigener Herr, nicht der Sohn von irgendeinem Mann! »Nein!«, dachte er mit grimmigem, versteinerten Gesicht, »vor ALLEM nicht der Sohn irgendeines Mannes!« *~*8*~* Hardy gähnte unablässig, die Haare vollkommen verzottelt, mümmelte elend lange an seinem aufgebackenen Brötchen. Isolder übernahm es wie gewohnt, seiner Mutter assistierend zur Hand zu gehen, da sie kaum fähig war, das Brot in mundgerechte Teile zu schneiden oder eine Tasse anzuheben, die mehr als zur Hälfte gefüllt war. Er tat das beiläufig, plauderte über etwas Anderes, erkundigte sich nach den Plänen für den Tag. Sie sollte sich nicht als Last fühlen. Es war schon schwer genug zu spüren, wie der eigene Körper nachließ, die Kräfte versiegten. Einen aussichtslosen Kampf auszufechten und dabei nicht den Mut zu verlieren. Unwillkürlich blickte er hoch an die Wand, wo nicht nur gestanzte Blechschilder an amerikanische Staaten erinnerten, sondern auch kleine Tafeln mit Sinnsprüchen montiert waren. "Why suffer in silence when I can moan, whimper and complain?" Sie hatten beide gegrinst, als sie es befestigt hatten, kurz nach dem Einzug hier vor sechs Jahren. Eine kleine Ermahnung, dass Herumgejammer und -gezeter niemandem half, sondern peinlich war. Das schloss allerdings nicht aus, dass er manchmal in sein Kopfkissen brüllte, wenn er allein war. »Aber ich habe gelernt, was mich wirklich befreit.« Isolder knirschte unwillkürlich mit den Zähnen. Er würde nie wieder stumm leiden und darauf hoffen, dass ihm Wehklagen halfen. DIE Lektion hatte er vor Jahren erteilt bekommen. *~*8*~* "...also, diese Einspielung ist wirklich wunderbar! Flöte, Oboe, Fagott, Streicher und Basso continuo! Nur so kann man Vivaldis "la tempesta di mare" wirklich genießen! Diese anderen Aufnahmen..." "...ICH habe ja immer von diesen Zertifikaten abgeraten! Hannes, habe ich gesagt, Hannes, die taugen nichts! Das habe ich im Urin!..." "...sagenhaft! Und supergünstig! Alles inklusive! Ich schreibe dir gleich mal die Adresse auf, ja? Wellness ist heute absolut ein MUSS!" "...und dann sagt sie doch glatt, sie hätte nie was gemacht! Dabei hängt sie jedem ihre Ballontitten ins Gesicht! Und ihre Lippen! Wie Fahrradschläuche, fürchterlich!" "...hmm, ist er nicht schnucklig? Den würde ich gern vernaschen..." "...kaum Kalorien! Greif ruhig zu! Ist noch genug da..." "...sehr guter Jahrgang, vollmundig und weich im Abgang. Habe gleich zwanzig Flaschen geordert, kennst mich ja..." "...lila als Modefarbe? Bei ihrem Teint?! Guter Gott, hoffentlich bekomme ich keinen Lachkrampf, wenn ich sie sehe..." Llywelyn dröhnte der Schädel. Gesprächsfetzen umschwirrten ihn, die achtlosen Gäste seiner Eltern ließen überall rücksichtslos benutztes Geschirr stehen, hinterließen Flecken und rauchten ungeniert, während ihm die Augen tränten. Eigentlich waren auch einige Sprösslinge in seinem Alter geladen, doch kein Kind hatte sich dann willens gezeigt, die Eltern/Erziehungsberechtigten/Lebensabschnittsgefährten zu begleiten. Nicht, dass Llywelyn dieser Umstand etwas bedeutete. Einmal war er bereits durch seine Mutter bloßgestellt worden, die unbedingt verbreiten musste, dass er von einer Unbekannten jeden Morgen ein Geschenk bekam! Dann war auch noch diese Viola erschienen, um sich darüber zu beklagen, wie vorlaut und ungefällig Isolder gewesen sei, woraufhin sich die weibliche Meute auf Llywelyn stürzte und zu erfahren suchte, woher dieser Bursche überhaupt kam?! Unter einigen Anstrengungen war es Llywelyn gelungen, sich NICHT zu den Fakten zu äußern, sondern die Spekulationen ins Kraut schießen zu lassen. Er fühlte sich elend und war kurz davor, schreiend um sich zu schlagen. Ständig sollte er mit irgendwem reden! Dann wechselte die Musik auch, erst irgendein klassisches Stück, das einen Sturm auf See darstellen sollte, dann grölten irgendwelche Mönche durchdringend vor sich hin! Llywelyn wurde das zu viel, er mochte menschliche Stimmen ab einer gewissen Lautstärke nicht, und je lauter die Musik spielte, desto lauter schwatzten auch die Gäste. Unruhig lief er auf und ab, die einzige Ablenkung, die ihm vergönnt war. Er bemühte sich, den Schaden in Grenzen zu halten, räumte hinterher, kümmerte sich um den flüssigen und festen Nachschub, rettete Möbel vor Brand- und Schmutzflecken. Allzu häufig vergeblich. »Eingekreist!«, dachte er nervös, »SIE haben mich vollkommen eingekreist!« SO wollte er nicht enden, aber sprang es nicht schon über? Infizierte es ihn? Wie sollte man sich wehren?! Seine Hände gehörten ihm nicht mehr, die Wangen waren auch bald fremdes Herrschaftsgebiet. Dazu ständig bohrende Fragen, die seine Gedanken usurpieren, ihn entblößen wollten! Seine Seele herausreißen, öffentlich ausstellen, so lange besudeln, bis er einer von IHNEN war! Ein Ding, ein Automat, eine Puppe, ohne Tiefe, ohne Wahrhaftigkeit, ohne Seele! Llywelyn ballte die Fäuste, wischte sich immer wieder klammen Schweiß von der Stirn, lief auf und ab. Raus, er wollte raus hier! Zurück, weg aus diesem Haus, aus diesem falschen Leben! Aber es gab ja kein Zurück mehr, keine Heimat, keine Rettung! In seiner Hosentasche knisterte die Visitenkarte, die er versteckt hatte, damit seine Mutter sie nicht fand, wenn sie wie sonst sein Zimmer durchstöberte. Er hatte keine Angst vor sich selbst. Nein, er hatte Angst davor, wie er werden konnte. Wie er werden musste. Dass er es noch spüren würde, diese unerträgliche, quälende Mutation, dieses elende Verenden, bis er wie SIE war! *~*8*~* "Liebling! Liebling, nun hör doch mal auf mit dieser Lauferei, ja?" Llywelyn hätte am Liebsten die Hand weggeschlagen, die ihn am Ärmel packte, grub die Zähne tief in die Lippen. Stocksteif, von Übelkeit geplagt und unfähig, seine nervöse Frustration, die unerträgliche Wut auszudrücken, konnte er bloß verbissen schweigen, einfrieren. Sich damit abfinden, dass einzelne Glieder seines Körpers zu Freiwild wurden, von jedem betatscht werden durften. Enteignet und besudelt. "Liebling, Peter hier bewundert deine Kreativität! Ich habe ihm erzählt, dass du noch mehr Kleider selbst geschneidert hast!" Sie zwickte ihn doch tatsächlich in den Hintern! Llywelyn bebte vor Ekel und Hass. "Zeig ihm doch mal die anderen Sachen, ja?" Nun schlug sie ihn auch noch mit der flachen Hand auf die Kehrseite! Totenbleich marschierte Llywelyn wie aufgezogen die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Unfähig, sich zu weigern und einmal mehr verbittert darüber, dass er keinen eigenen Platz hatte. Hier war keine Heimat, kein Rückzugsort, keine Zuflucht! Jeder konnte, ganz nach Belieben, in seinen Sachen stöbern, in seinem Zimmer paradieren, sich umsehen und alles ausspähen! Wortlos ließ er den Mann ein, irgendeinen 'Kreativen', mit randloser Brille, polierter Glatze und Dreitagebart, der ihn ständig anstarrte. Um der unerwünschten Nähe auszuweichen, zerrte Llywelyn ruckartig die Schiebevorhänge zur Seite, wich an die Zimmertür zurück, damit die verhasste Inspektion seiner Bekleidung stattfinden konnte. Doch Peter hatte Zeit, schlenderte durch sein Zimmer, stieß den Schaukelstuhl an, pflanzte sich sogar auf Llywelyns sorgfältig gemachtes Bett! "Warum setzt du dich nicht ein wenig zu mir?" Auffordernd klopfte Peter neben sich auf die Tagesdecke. "Unten ist es viel zu laut, um sich zu unterhalten, findest du nicht?" Llywelyn konnte den Mund nicht öffnen, seine Zähne schienen gewachsen zu sein zu wahren Hauern, die sich ineinander verhakt hatten. Er wollte gern fauchen, dass seine Kleider nicht auf dem Bett waren, sondern an der Wand entlang, also, warum diese Vertraulichkeit, doch der verspannte Kiefer bewegte sich nicht. Aus irgendeinem Llywelyn nicht verständlichen Grund schien Peter seine Haltung als Einladung zu verstehen, erhob sich grinsend und baute sich vor ihm auf. "Verdammt hübsch bist du." Schon glitt eine feuchte Hand über Llywelyns Wange, zupfte an seinen Haaren. "Ich wette, dass dich Gleichaltrige total langweilen." Llywelyn atmete zischend, bekam kaum noch Luft, konnte sich nicht rühren, weil sein Körper vollkommen erstarrt war, obwohl er nach Flucht gierte. Er war gefangen in sich selbst, ohne Ausweg und wurde panisch. Peter dagegen bemerkte nichts von den Alarmzeichen, schob den stocksteifen, widerstrebenden Llywelyn zum Bett, stieß ihn auf die Matratze. "Spielst gern den Koketten, wie? Aber ich mag das!" Damit drehte er Llywelyn auf den Rücken und zerrte an dessen Gürtel, schob ihm einfach den schwarzen Wollpullover hoch. Ein leises, gequältes Winseln entfuhr Llywelyn, der so gern gebrüllt hätte, dass die Scheiben zersprangen, unfähig, diese Gewalttaten zu verhindern, die ihn seines Selbstbestimmungsrechtes beraubten. »Bewegdichbewegdichbewegdichbewegdichbewegdichbewegdichbewegdichbewegdich!«, forderte er hysterisch seinen Körper auf, der sich aufzugeben schien. Doch als sich Peter rittlings auf ihm einrichtete, herunterbeugte, um mit heraushängender Zunge Llywelyns Gesicht zu entweihen, kam ihm ein schwarzer Schatten zur Hilfe. Brüllend und fauchend wie tausend heulende Höllenhunde stürzte sich Malefiz auf den Glatzkopf. Ihre Krallen waren zwar sorgsam von Llywelyn gestutzt worden, aber das hinderte sie nicht an einer furiosen Attacke. Peter brüllte überrascht, Llywelyn erhielt einen Kniestoß in die Leisten und Malefiz überschlug sich in einer artistischen Rolle, bevor sie erneut zum Angriff überging. Der stechende Schmerz löste endlich den Zündfunken aus, der gefehlt hatte, um die Explosion in Llywelyn in Gang zu setzen. Wahrhaftig schäumend vor Speichel und Zorn stieß er seinen Belästiger heftig von sich, rappelte sich auf und stürzte zur Tür. Der Glatzkopf wollte ihm folgen, sich nun wohl bewusst, dass mindestens eine Szene, wahrscheinlich aber ein Skandal bevorstand, grapschte nach Llywelyns Hüften. Der bekam seinen Rucksack zu fassen und schleuderte ihn herum, kratzte mit den Reißverschlüssen das Gesicht auf. Jaulend riss Peter die Hände vor den Kopf, taumelte zurück. Llywelyn dagegen folgte seinem Instinkt, rasend vor Ekel und Hass auf SIE, die ihn erwischen wollten! Er öffnete die Tür, ließ seine konspirative Retterin Malefiz hinaus, die sich die Treppe hinabstürzte, sprang ebenso heftig hinter ihr her, stieß müßig herumstehende Gäste beiseite, um zu seinen Inlinern zu gelangen, hineinzuschlüpfen und ohne auf das protestierende Geschrei zu achten aus der Tür zu fliehen. Dort trennten sich die beiden. Malefiz suchte sich einen warmen, trockenen Unterschlupf im Garten, während Llywelyn das tat, was er seit dem erzwungenen Umzug hatte unternehmen wollen. Er lief. Ohne Ziel und ohne Heimat. *~*8*~* Langsam ging ihm die Puste aus. Obwohl die Kälte längst seine Glieder gefroren hatte, er das schmerzhafte Ziehen und Zerren in seinen Muskeln nicht mehr spürte, wusste Llywelyn, dass er am Ende war. Es wurde rasch dunkel, regnete dünn, aber unaufhörlich. Die Magenkrämpfe gesellten sich zum Seitenstechen, doch mehr als Übergeben konnte er sich nicht gestatten, denn er musste weiterlaufen, durfte nicht innehalten. Wenn er stehen blieb, wirklich anhielt, dann war alles aus. Dann hatte er verloren. SIE warteten doch nur darauf! Dass er endlich einsah, wie fruchtlos seine Versuche waren, sich nicht anstecken zu lassen! »Es gibt keinen Ausweg.« Llywelyn wischte sich über das Gesicht, Tränen, Rotz und Speichel. Der eisige Wind tat weh, auch seine zugeschnürte Kehle. Ihm war so elend wie nie zuvor. Er WOLLTE DAS nicht! Wollte sich nicht ausliefern, einfach aufgeben, sondern zur Wehr setzen, solange es nur ging! Irgendwann, das wusste er ja, wäre es vorbei. Dann hätten sie ihn auch verschlungen und als Zombie wieder ausgespuckt. Aber jetzt noch nicht! Nicht, solange er es noch spürte! Solange seine Seele noch existierte, solange es noch ein ICH gab! Doch mit der Kraft hatte ihn auch sein Hass, sein Mut verlassen. Und er konnte sich nicht irgendwo verkriechen und regenerieren, bis er wieder bereit war, sich selbst zu verteidigen. Llywelyn rollte stolpernd und holpernd weiter, blind für seine Umgebung, irrte im Kreis umher. *~*8*~* "Schei...och menno, wieso läuftn son Schei...Mist?" Hardy langweilte sich und quengelte herum. Aber eingedenk der Kopfnuss beim Mittagessen bemühte er sich darum, nicht den Unwillen seines älteren Halbbruders auf sich zu ziehen, der ihm schmerzhaft bedeutet hatte, dass hier nicht in Fäkalsprache geflucht wurde. Nicht in Gegenwart ihrer Mutter. "Ich kann nicht erkennen, was da steht, Schätzchen?" Isolders Mutter lag warm eingepackt in ihrem Sessel. Er hatte ihr zwei Mentholzigaretten und ein kleines Gläschen 'Weihnachtsbrand' aus Jermaines nicht so ganz gelungenem Versteck zugestanden, damit sie den Anfall tapfer wegsteckte. "Ich lese es dir vor." Isolder, der nach den Hausaufgaben nun Hausarbeiten absolvierte, warf einen kurzen Blick auf den Fernseher. "Sie teilen mit, dass es in der Werbepause ein Gewinnspiel geben wird", informierte er seine Mutter freundlich. "Könn die nich was anderes zeign?" Hardy zappelte auf dem Sofa herum. "Eiskunstlauf statt Eishockey, das ist doch Sch...Schrott!" Isolder warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Man glaubte gar nicht, wie eine einzige Kopfnuss doch verschüttetes Vokabular zum Vorschein bringen konnte! "Du musst ja nicht hinsehen", versetzte er knapp. "Mom gefällt's jedenfalls." Diese Aussage genügte, um Hardy eindeutig zu signalisieren, dass weiterer Protest aussichtslos war. Grummelnd verzog der sich ans Fenster, um in die Tiefe zu spähen. Vor und zwischen den Proletenburgen wurde immer Straßentheater geboten, Unterhaltung war also gesichert. "He, da jagen sie einen!", stellte er begeistert fest. "Sch...scharf!" "Wer jagt wen?" Isolder trat ebenfalls ans Fenster, stellte das Bügeleisen ab. "Haben die Typen nie was anderes zu t..." Er erstarrte, schob Hardy grob zur Seite und öffnete den Fensterflügel hastig. Dann wich er zurück, packte seinen jüngeren Bruder hart am Oberarm. "Hör mir zu, du machst NIEMANDEM die Tür auf, verstanden?! Pass auf Mom auf, ich bin gleich wieder da!" "Was isn los?" Hardy folgte Isolder, der eilig in seine Arbeitsstiefel schlüpfte, sich ein Drahtwerkzeug in die Tasche stopfte und seinen eigenen Schlüsselbund. "Ich habe keine Zeit für Diskussionen, tu's einfach!", zischte er Hardy zu. "Das ist WICHTIG!" Damit schlüpfte er auf den Gang hinaus, verschloss die Wohnungstür hinter sich. Mit dem Aufzug war er schneller unten, als wenn er das Treppenhaus gewählt hätte, aber trotzdem verbrachte er gefühlte Ewigkeiten in dem stählernen Käfig. Dann preschte Isolder nach draußen. Er kannte sich hier aus, auch in der Dunkelheit, bei wenig Licht. Er hörte gut, und er war allein. SIE waren eine zu laute Truppe, die darüber hinaus nicht wusste, dass er die Fährte aufgenommen hatte. Jetzt kam es allein auf seine Instinkte an. *~*8*~* Irgendwann hatte Llywelyn bemerkt, dass er verfolgt wurde, dass man ihm den Weg versperrte, ihn am Ausweichen hindern wollte. Nun hetzten sie ihn. Llywelyn war das nicht gewöhnt, außerdem kannte er sich nicht aus. Ganz zu schweigen davon, dass er keine Kraft mehr hatte, nicht mal das Adrenalin ausreichte, sich wieder in das andere Viertel über die Seufzerbrücke zu retten. Er war das Opfer im Kolosseum, hörte, dass sie sich amüsierten, darüber lachten, weil er sinnlos hin und her floh. »Wohin?! Wohin?!« Er blinzelte, sah sich um. Immer in Bewegung, nicht stecken bleiben in Ritzen oder Erde, aufmerksam sein, ausweichen! Irgendjemand warf sich grölend auf ihn, dann kamen andere, während er zappelte, entschlüpfen wollte. Ein herrenloser Einkaufswagen stürzte sich ebenfalls ins Getümmel, ermöglichte es Llywelyn, sich loszureißen und wegzurennen, so schnell die Rollen ihn trugen. Seine Lungen schmerzten, der Hals war rau und er selbst in Tränen aufgelöst. Immer enger zog sich die Schlinge zusammen, die sie um ihn legten, das merkte er doch! »Hilfe!«, formulierte er einen letzten Plan. »Klingeln und um Hilfe bitten!« Irgendjemand in den Häusern würde doch sicher die Polizei rufen! Oder ihn hineinschlüpfen lassen, nur einen Augenblick! Er hetzte keuchend über unebene Platten zwischen den Burgen hindurch, die in der Dunkelheit feindlich wirkten, Betonriesen, die auf Zwerge herabsahen. Gerade, als er um eine völlig zugewachsene Containergarage aus Beton biegen wollte, stellte ihm jemand ein Bein. Llywelyn stürzte der Länge nach hin, zu geschwächt, um sich abzufangen. Bevor ihn der triumphierende Jäger jedoch verraten konnte, hörte Llywelyn ein ersticktes Ächzen, als entweiche Luft aus einem Ballon, dann wurde er auf die Beine gerissen. Hysterisch vor Angst und Schmerzen schlug er um sich, die Zähne verkeilt. Seine Gegenwehr war fruchtlos. Heftig schmetterte ihn der Angreifer gegen die Mauer, trieb ihm den Atem aus. "Wag es nicht, mich zu schlagen!", fauchte eine Stimme kehlig, konsonantisch. "Ich lass mich von niemandem schlagen!" Llywelyn zappelte, seine Handgelenke eingefangen und aufgepinnt wie die Flügel eines Schmetterlings im Setzkasten, warf den Kopf heftig von rechts nach links und zurück. Eine Hand löste sich, packte ihn an der Stirn und richtete seinen Kopf auf. "Llywelyn, hör auf!" *~*8*~* Kapitel 14 - Eine schwere Prüfung Isolder biss sich selbst auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Beinahe hätte er Llywelyn geschlagen! Weil niemand ihn schlagen durfte, niemals wieder! Weil er genug Prügel kassiert hatte, dass es bis zu seinem Lebensende reichte! "Verdammt!", wisperte er gequält. "Komm zu dir! Sieh mich an, ich bin's!" Obwohl es hier keine Beleuchtung gab, zumindest keine, die noch intakt war, konnte Isolder erkennen, dass Llywelyn blutete. Schmutzig war. Wie ein gefangenes Tier keuchte und winselte, sich sinnlos wehrte, gegen Freund und Feind. Rasch wirbelte er ihn herum, bevor Llywelyn ihm entwischen konnte, verdrehte ihm einen Arm auf den Rücken und presste ihm die freie Hand auf den Mund. Er verschloss die Ohren vor dem wimmernden Protest, drängte Llywelyn weiter, von den Mülltonnen-Batterien weg. Bei den Luftschächten zur Tiefgarage hielt er inne, orientierte sich. Ob sie wohl schon bemerkt hatten, dass jemand ihrem Opfer half? Zum Haus musste er kommen, und das möglichst schnell, bevor sie Posten aufstellten! Isolder zerrte den stolpernden Llywelyn weiter, verdrängte die Sorgen um dessen Zustand. Mehr als einmal blieb er abrupt stehen, nutzte Schattenwürfe und Vorsprünge, dann konnte er mit Llywelyn in den Hauseingang schlüpfen. Absichtlich drückte er den Lichtschalter, setzte einen Aufzug in Bewegung zum Dach, bevor er den auf dem Boden zusammengesunkenen Llywelyn energisch auf die Beine zerrte und ins Treppenhaus dirigierte. Dort schob er ihn einfach unter einen Absatz im Keller und machte kehrt. Er musste nicht lange warten. Der plötzlich erleuchtete Eingang, der Aufzug: das genügte, um die blutdürstige Meute in Gang zu setzen! Sie steuerten die beiden übrigen Aufzüge an, wollten ihr Opfer nicht entwischen lassen. Für das Treppenhaus hatten sie keinen Blick übrig, denn so viele Stufen stieg niemand freiwillig! Isolder wartete, bis sich die Aufzugtüren geschlossen hatten, dann preschte er blitzartig hervor, hebelte die Abdeckung ab und blockierte bei beiden Aufzügen die Weiterfahrt zwischen zwei Stockwerken. Solche Ausfälle kamen häufig vor, die Technik litt unter der Beanspruchung, sodass niemand vermuten würde, hier sei von außen geschickt nachgeholfen worden. Aber Isolder kannte sich aus, eine andere 'Jugendsünde', die er hinter sich lassen wollte. Doch in diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel. Wenn er Llywelyn in der Wohnung in Sicherheit bringen wollte, benötigten sie ausreichend Vorsprung. »Außerdem geschieht es dem verfluchten Idioten-Pack recht!«, grollte er verbittert. Als er ins Treppenhaus eintrat, hörte er die Inliner. Irgendwie hatte sich Llywelyn wieder auf die Beine gezogen und schob sich nun an der Wand entlang auf der Suche nach einem Ausgang. "Schnell!" Isolder wollte seine Hand ergreifen, aber Llywelyn wehrte sich, tobte ziellos herum, dem Zusammenbruch nahe. "Entschuldige!", presste Isolder nach kurzem Abwägen hervor, versetzte Llywelyn einen gezielten Schlag in die Seite. Das genügte. Er fing ihn auf, zog ihn eng an sich und schleppte ihn zum letzten Aufzug, der heruntertrödelte, um sie aufzunehmen. *~*8*~* Isolder fasste Llywelyn um die Taille, legte sich einen Arm über die Schultern, dankbar dafür, dass sie beinahe gleichgroß gewachsen waren. Und dafür, dass Llywelyn sich nicht mehr wehrte. »Ich hätte das nicht tun dürfen!«, hielt er sich vor, während der Aufzug gemächlich nach oben zuckelte. »Es hätte einen anderen Weg geben müssen!« Doch wenn es einen gab, dann hatte er ihn nicht rechtzeitig gefunden. "Es tut mir leid!", raunte er in die weißblonden, nassen Strähnen. "Ich habe das nicht gewollt. Llywelyn, bitte entschuldige, ich wollte dir nicht wehtun!" Aber helfen würde das nicht, das wusste er. Als der Aufzug endlich hielt, stellte er Llywelyn mit einem Ruck auf die Rollen, schob und zog ihn wie ein besoffener Eintänzer aus dem Stahlkäfig. Das Licht aktivierte er nicht, denn er wollte niemanden darauf aufmerksam machen, was genau hier gerade vorging. An der Türschwelle, zu der er sich geübt vorgetastet hatte, ließ er Llywelyn auf den Fußabtreter sinken, schloss die Tür auf. Durchaus besorgt musterte ihn Hardy. "Sol, wassolln der Sch..?!" "Geh beiseite und sei still!", zischte Isolder, sammelte Llywelyn aus der eingesunkenen Position wieder auf. "Sag Mom, ich habe einen Freund getroffen, der gestürzt ist. Los doch!" Widerwillig zog sich Hardy zurück, aber Isolder konnte jetzt nicht auch noch auf die zarteren Gefühle seines jüngeren Halbbruders Rücksicht nehmen. Ihm steckte nämlich durchaus der Schreck in den Knochen. Allein hätte es ihm ja nicht viel bedeutet, wenn die lose Bande an dämlichen Verlierern bemerkt hätte, wer ihnen da genau einen Streich spielte, doch er WAR nicht allein. Sein Bruder und seine Mutter konnten zu Zielscheiben werden, und DAS nagte an seiner Zuversicht. Wortlos, weil er ja wusste, dass Llywelyn nicht gern zugeplaudert wurde, hievte er seinen nun asthmatisch keuchenden Gast ins Badezimmer. Keinen Moment zu früh, denn Llywelyn würgte plötzlich und konnte gerade noch zur Toilettenschüssel dirigiert werden, bevor er Galle und Blut spuckte. Für einen langen, entsetzlichen Augenblick fürchtete Isolder, sich fatal verschätzt zu haben, dass sein Schlag weder wohldosiert noch exakt gezielt gewesen war. Zu inneren Verletzungen geführt hatte. "Ohbittenicht!", stöhnte er angstvoll, zog Llywelyn zu sich herum und studierte das gezeichnete Gesicht verzweifelt. Dabei registrierte er, dass sich Llywelyn die Stirn an einer Seite blutig aufgeschürft hatte, in einer hässlichen Wunde. Sie tropfte munter vor sich hin, tränkte den Pullover und verschmierte das Gesicht zu einer gruseligen Fratze. "Was ist bloß passiert?!", murmelte Isolder erschrocken, hörte von der Tür her das abschätzige Schnauben seines Bruders. "Hardy", ohne sich umzublicken kommandierte er mit fester Stimme, "schau nach, ob Blut auf dem Boden ist. Dann bring mir etwas von meiner frischen Wäsche aus dem Wohnzimmer. Wenn Mom fragt, sag ihr, ich mache das Abendessen, wenn ich meinen Freund verarztet habe." Er lauschte auf das Schlurfen der Schritte, dann grummelte Hardy, "is kein Blut da. Sol, was solln das? Wenn die rauskriegen..." Isolder drehte sich in der Hocke zu Hardy um, funkelte ihn an. "Ja, WENN sie das rausfinden, haben sie bestimmt Lust, jemand anderem aufzulauern." Er musste nicht aussprechen, was in Hardys schwarzen Augen aufblitzte. "Also zu niemandem ein Wort, verstanden?" Isolder wandte sich wieder Llywelyn zu, überlegte fieberhaft, wie er vorgehen sollte. "Bin kein Idiot!", fauchte Hardy und zog die Badezimmertür von außen zu. »Hier können wir jedenfalls nicht hocken bleiben!«, stellte Isolder fest, fasste Llywelyn von vorne unter beide Achseln, hievte ihn in die Höhe und beförderte ihn auf den Rand der alten Badewanne. Nun, bei künstlichem Tageslicht, konnte er das Ausmaß der Katastrophe erkennen: das Gesicht war lädiert, schmutzig, blutig und kaum zu erkennen, beide Handflächen aufgeschürft, der schwarze Pullover mit der aparten Drachenapplikation völlig durchweicht, die Hose an den Knien zerfetzt, die Strümpfe vollkommen verdreckt. Außerdem zitterte Llywelyn nicht nur aufgrund des Schreckens, sein Körper war gefährlich ausgekühlt. Hastig löste Isolder zunächst die Inliner, schob sie zur Seite. Putzen musste er ohnehin später, da kam es auf schlammige Spuren nicht mehr an. Dann setzte er Llywelyns steife Beine nacheinander in die Wanne, hob ihn unter den Achseln an und platzierte ihn gänzlich hinein. "Hör mal!" Er ging neben der Badewanne in die Hocke, legte die Hände auf die zuckenden Schultern. "Llywelyn, ich weiß, dass du nicht angefasst werden willst. Das hier ist aber ein Notfall, verstehst du? Ich muss dich anfassen, um dir zu helfen, deshalb musst DU eine Weile aushalten, in Ordnung?" Llywelyn hörte ihn wohl, verstand aber nichts. Daran konnte Isolder jetzt nichts ändern, und es brachte auch nichts, sich zu wünschen, dass nicht ausgerechnet er Llywelyn so malträtieren musste. Schwungvoll aus der Hocke gleitend sammelte Isolder einige unterschiedlich große Handtücher aus dem schmalen Regal. Er atmete tief durch, dann setzte er sich auf den Wannenrand und wappnete sich für die groben Gesten, mit denen er Llywelyn zu Leibe rücken würde. Blitzartig, mit dickem Kloß in der Kehle, packte er dessen Kinn, zwang ihn, die Kiefer zu trennen und stopfte ein kleines Handtuch zwischen die Zähne. Llywelyn gurgelte erstickt, schrill und außer sich, wollte sich gegen diesen Gewaltakt wehren, doch Isolder fasste ihn im Nacken und drückte ihm den Oberkörper tiefer. Mit der freien Hand rollte er drei Lagen Handtücher aus, gerade in Reichweite. Erstickt brüllend, schluchzend und hysterisch trommelte Llywelyn auf die so gepolsterte Wanne. Er kam nicht an Isolder heran, der heftig schluckte, sich ermahnte, nicht nachzugeben. Seinen Freund zu quälen, das beabsichtigte er nun wirklich nicht, aber der Druck MUSSTE endlich raus. Die Wut, die aufgestaute Angst, die entsetzliche Hilflosigkeit. Bald ließen Llywelyns Kräfte nach, er schlug nicht mehr um sich, sondern umklammerte die eigenen Beine und weinte gedämpft, von heftigen Atemstößen begleitet, herzzerreißend und untröstlich, ein letzter Protest, ein fruchtloses Aufbegehren. Isolder hätte ihm am Liebsten Gesellschaft geleistet. Wenn das hier vorbei war, würde Llywelyn ihm jemals verzeihen? Oder ihn so anschauen wie am Tag zuvor, abgestoßen und angewidert? Er beugte sich vor, um sanft über den weißblonden Schopf zu streicheln, immer wieder und wieder. "...ist ja gut", murmelte er einen leisen Singsang, "alles ist gut. Wird alles wieder gut. Alles ist gut..." *~*8*~* Um sich selbst vorzubereiten, zu stählen für den nächsten notwendigen Schritt, holte Isolder erst mal Verbandszeug und Desinfektionsmittel herbei. Er reihte die Artikel neben sich auf, suchte dann Llywelyns Augen. Der starrte jedoch, leise winselnd aufgrund des Handtuchs, blicklos ins Leere. »Mach mir hier bloß nicht schlapp!«, flehte Isolder stumm, »ich fühl mich auch echt beschissen!« "Llywelyn?", versuchte er es behutsam, streckte eine Hand aus und legte sie vorsichtig auf die erreichbare, noch immer arhythmisch zuckende Schulter. "Llywelyn, du musst raus aus den nassen Sachen. Und wir müssen die Wunden versorgen." Diese Aufklärung zeigte ebenfalls keine Wirkung. Wo auch immer sein schöner Außerirdischer sich gerade befand, er hatte lediglich seinen Körper zurückgelassen. »Es hilft ja alles nichts!« Wütend und selbst mitgenommen nahm Isolder seine Aufgabe in Angriff. Durch die Erkrankung seiner Mutter verfügte er über Erfahrung im Umgang mit körperlich eingeschränkten Personen, wusste, wie man sie entkleidete, ohne sie über Gebühr in Verlegenheit zu bringen. Behutsam nahm er einen zitternden Arm am Handgelenk, knickte ihn sanft ein, um den Ärmel abzustreifen, lehnte sich über die Badewanne und wiederholte auf der anderen Seite dieselbe Aktion. Dann raffte er den Pullover am Bund und bemühte sich, nicht die nackte Haut darunter zu touchieren. Mit angehaltenem Atem gelang es ihm, den Pullover über Llywelyns Kopf zu fädeln, dann mit erleichtertem Seufzer abzulegen. "Bist du nur in den Sachen herumgelaufen?", erkundigte er sich fassungslos. Wollpullover hin oder her, das war ja sträflicher Leichtsinn! Llywelyn antwortete ihm nicht, umklammerte aber eilends wieder seine Beine und wiegte sich winselnd. "Nein", gebot Isolder laut, schnappte sich die Handgelenke, "nein! Die Hosen und die Strümpfe müssen noch weg, Llywelyn. Ich will dir nicht wehtun, aber wenn du mir nicht hilfst, wird sich das nicht vermeiden lassen!" Der schnaubte, schüttelte manisch den Kopf, ein Wirbel aus fliegenden Strähnen. "Bitte!" Isolder hing halb in der Wanne. "Bitte, Llywelyn! Mach's mir nicht so schwer! Du musst doch nur aufstehen! Bloß ganz kurz!" Isolder holte tief Luft, erschreckt von dem hysterischen Unterton in seiner eigenen Stimme. "Komm schon, bitte!", flehte er eindringlich. "Hilf mir, Llywelyn!" Der gab schließlich nach, eher resignierend als überzeugt, doch für Isolder spielte der ausschlaggebende Grund keine primäre Rolle. So gut es ging, löste er die Hosen, streifte sie herunter auf den Badewannenboden, bevor er die Strümpfe ebenfalls hinabrollte. Aus eigener Kraft stapfte Llywelyn schwankend zur Seite, nun bloß noch in seine Unterhose gehüllt. "Der Plan lautet wie folgt", Isolder fischte die versehrten Kleidungsstücke heraus, "du setzt dich wieder auf den Rand, und ich lasse warmes Wasser über deine Beine laufen. Mit einem Waschlappen reibe ich dir den Rücken ab, und du kümmerst dich selbst um deine Arme. In Ordnung?" Von Llywelyn war keine Antwort zu erwarten, aber wenigstens das besorgniserregende Winseln war verstummt. Isolder angelte sich den Duschkopf heran, prüfte die Wassertemperatur, bevor er sanft, von den Füßen beginnend, Llyewlyns Beine auftaute. Der beugte sich selbst nach vorne, um mit den Armen unter den Wasserstrahl zu gelangen. "Das machst du gut!", lobte Isolder leise, aufmunternd. "Genau richtig! Nur noch einen Moment, dann können wir uns die Wunden anschauen." Nachdem er die Dusche eingehakt hatte, sodass sie Llywelyn entsprechend niedrig bewässerte, widmete er sich dessen gekrümmten Rücken, rubbelte, das schockierte Erstarren tapfer ignorierend, energisch über die milchweiße Haut, bis er etwas Temperatur erzeugt hatte. Er zog sich anschließend einen Moment zurück, um Llywelyn durchatmen zu lassen. Vor der Badezimmertür waren tatsächlich einige Kleidungsstücke, die Isolder gerade erst zusammengefaltet hatte, abgelegt worden. Hardy hatte sich zur Zusammenarbeit bequemt. Überrascht erkannte Isolder auch, dass gerade mal eine Viertelstunde verstrichen war. Ihm kam die Badezimmer-Episode schon wie wahre Ewigkeiten vor! Er schloss die Tür wieder, wandte sich Llywelyn zu, der die Hände zitternd unter den warmen Wasserstrahl hielt, sich immer wieder über das Gesicht wischte. Das förderte natürlich das Blut zutage, das inzwischen eingetrocknet war und sich widerwillig löste. "Nicht!" Behutsam hinderte Isolder ihn an weiteren Reinigungsaktionen. "Lass mich das gleich machen. Erstmal müssen wir dich wieder aufheizen." Als nächsten Schritt allerdings entfernte er den Knebel, kniete sich vor Llywelyn hin und schwenkte dessen Beine auf die andere Seite der Wanne. Schnell abgetupft, dann sprühte er etwas Desinfektionsmittel auf die Schürfwunden und wickelte einen luftdurchlässigen Verband um die Knie. Er fädelte selbst jeden Fuß in gleich zwei Paar Socken, schob dann sanft die Jogginghose bis zu den Oberschenkeln. "Stütz dich auf meine Schultern, bitte", dirigierte er Llywelyn, der sich zittrig vorbeugte, justierte die Hose dann ordnungsgemäß. Er legte Llywelyn ein sauberes, trockenes Handtuch um die Schultern, tupfte dann vorsichtig dessen Gesicht ab. Bis aller Schmutz, das angetrocknete Blut und die übrigen Spuren seines Kummers abgewischt waren. "Ist gar nicht so schlimm", diagnostizierte er, eher zur eigenen Beruhigung, da die silbergrauen Augen noch immer leer und trübe blickten. "Das verheilt alles wieder, wirst sehen!" Über die hässliche Schürfwunde an der Stirn kam ein Pflaster, die wunde Nasenspitze wurde eingesalbt und die von der Kälte aufgeraute Haut sanft eingecremt. Anschließend streifte Isolder Llywelyn ein ausgebleichtes T-Shirt und einen Kapuzenpullover über, bevor er sich dessen Handflächen widmete. Auch hier desinfizierte er gründlich, suchte nach kleinen Fremdkörpern in den Wunden, bevor er zwei lose Verbände anlegte. "Llywelyn?", überprüfte er die Aufnahmefähigkeit seines Freundes, doch der schien noch immer abwesend, im Universum verzogen. "Llywelyn!", versetzte er in betont strengem Tonfall, hielt dessen Fingerspitzen in seinen eigenen fest. "Ich stelle dir jetzt meine Mom vor, hörst du? Sie ist krank und hat's ziemlich schwer, sei also bitte nett zu ihr, ja?" Er wartete keine Reaktion ab, sondern fasste Llywelyn unter dem Ellenbogen und zog ihn auf die Beine. "Los geht's!", kommandierte er beherrscht, dirigierte Llywelyn aus dem Badezimmer hinaus durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer. Hardy warf ihm einen giftigen Blick zu, da er für Fronarbeiten herangezogen worden war, ohne eine Erklärung erhalten zu haben. Isolder verschob die Aussprache auf später, dirigierte Llywelyn vor sich her zum Sessel seiner Mutter. "Mom, das ist Llywelyn van Stratten, mein Freund. Llywelyn, das ist meine Mom, Scarlett Wagner." Damit drückte er Llywelyn aufs Sofa. "Mom, Llywelyn hat sich beim Sturz verletzt. Kann er sich hier ausruhen und mit uns zu Abend essen?" "Aber sicher doch, Schätzchen!" Seine Mutter betrachtete Llywelyn bereits mitfühlend. "Ach herrje, hast du dir die Hände aufgeschürft? Das tut sicher sehr weh!" "Ich bringe gleich Tee, ich glaube, er hat sich den Hals verkühlt!", ergänzte Isolder hastig, der hoffte, dass Llywelyns Schweigen seine Mutter nicht kränkte. Oder er mit einer heftigen Geste vor den verkrümmten Händen Reißaus nahm, die sanft über seine Handrücken mit den Verbänden streichelten. Hardy folgte ihm in die Küche, sichtlich unzufrieden mit der Entwicklung. "Wasnjetzt? Holn seine Alten ihn ab? Wieso treibt sich so n Geldsack bei uns rum?" "Ich weiß es nicht", murmelte Isolder, der gleichzeitig Wasser aufsetzte, die Teekanne aufstellte, Geschirr zusammensuchte, ein Tablett bestückte und aus dem Vorratsschrank Brot holte. "Jedenfalls bleibt er so lange hier, bis es ihm besser geht." "Bringt bloß Ärger!", knurrte Hardy unzufrieden, starrte missmutig auf die zerstückelten Brotscheiben. "Echt abgefuckt!" "Ich habe deine Meinung zur Kenntnis genommen", beschied Isolder ihm frostig. "Aber das ändert nichts an der Situation. Er ist mein Freund, und er bleibt so lange hier, bis es ihm besser geht. Jetzt bring schon mal das Geschirr raus!" Betont schlurfend leistete Hardy seiner Aufforderung Folge, sodass Isolder die Küche einen Moment lang für sich allein hatte. Er zerschnippelte alles zu mundgerechten Stücken, Partyhäppchen sozusagen, damit die beiden manuell Eingeschränkten nicht unnötig Anstrengungen unterworfen wurden. Der Tee zog noch an den Beuteln, also eilte er ins Badezimmer, wischte rasch die Spuren weg, sammelte die benutzten Handtücher und die Kleidungsstücke auf, um sie auf der Waschmaschine zu stapeln. Die Handtücher erhielten den Zuschlag für die erste Waschrunde, sie waren zahlenmäßig stärker vertreten. Llywelyns Inliner rieb er mit etwas Altpapier von Wurfsendungen ab, stellte sie dann neben die Garderobe. Pünktlich zum Lichten der Teebeutel kehrte er in die kleine Küche zurück, platzierte alles auf das Tablett und transportierte es ins Wohnzimmer. Zu seiner Verblüffung blätterte seine Mutter in einem großen Album, in dem sie Fotos und andere Souvenirs sammelte, erzählte Llywelyn etwas zu den Bildern. Der schien ihr tatsächlich zu lauschen! "Essen wir erst mal", mischte Isolder sich aufgeräumt ein. "Mom, lass mich das Album rasch beiseite legen." Hardy kauerte sich in größtmöglichem Abstand neben Llywelyn auf das Sofa, enthielt sich aber eines Kommentars. Isolder füllte die Teetassen für seine Mutter und für Llywelyn nur bis zur Hälfte, damit beide sie noch anheben konnten. Außerdem versetzte er Llywelyns Tee mit so viel Zucker, dass der Löffel von allein stand. Seine Mom schien sich nicht an Llywelyns stiller Anwesenheit zu stören. Sie aß bedächtig die Schnittchen und plauderte darüber, wie lästig es wäre, wenn man nicht mehr so beweglich wie früher sei und wie nett, dass Sol auch mal einen Freund mitbringe! Sonst seien es immer nur die Freunde seiner Brüder, die zu Besuch kämen. Aber man habe es ja heute nicht leicht, Schule und Arbeit und all diese Dinge! Llywelyn kaute gründlich, zu Isolders Erleichterung, und langte tüchtig zu. Kein Wunder, die überstandenen Schrecken hatten ihn bestimmt genug Kraft gekostet! Nach dem Abendessen räumte Isolder das Geschirr zusammen und verkündete, er werde noch eine frische Kanne Tee aufsetzen. Hardy möge ihm in der Küche beim Abtrocknen helfen. Gänzlich erwartet erschien sein jüngerer Halbbruder tatsächlich ohne Proteste, denn die Aussicht, mit Babyfotos aus dem Album konfrontiert zu werden, DAS genügte üblicherweise, um Arbeitseifer zu wecken! "Kann ich den Film guckn?", erkundigte er sich. "Nach Acht?" "Ob du das kannst, weiß ich nicht", tadelte Isolder beiläufig, "aber du DARFST ihn dir ansehen, wenn kurz nach Zehn Schluss ist, sonst kommst du morgen Früh wieder nicht aus dem Bett." "Schon gut!", grummelte Hardy, stellte aber das Schlurfen ein, bog beschwingt um die Ecke. Isolder folgte ihm mit der Teekanne ins Wohnzimmer zurück. Er schenkte eine neue Runde aus, beugte sich dann zu seiner Mutter hinunter, die in ihrem Album blätterte und Llywelyn mit Geplauder unterhielt. "Mom, ich glaube, Llywelyn sollte sich ein bisschen hinlegen. Ich bringe ihn in mein Zimmer, ja? Wenn du noch etwas brauchst, sag es mir bitte." "Ach, Schätzchen, du hast ja recht!" Seine Mutter lächelte zu ihm hoch. "Das ist nicht besonders aufmerksam von mir, nicht wahr? Natürlich, bring deinen Freund in dein Zimmer. Er hat mir die ganze Zeit so nett zugehört, da habe ich mich doch glatt verplaudert!" "Ich bringe ihn bestimmt noch mal mit", flüsterte Isolder ihr zwinkernd zu, fasste dann nach Llywelyns Ellenbogen, um ihn zu stützen. Der gehorchte ihm lammfromm, mutmaßlich zu erschöpft, um Gegenwehr zu leisten. "Herzlich willkommen in meinem kleinen Reich!", murmelte Isolder, als er die Tür zu seinem schmalen Zimmer öffnete. Llywelyn antwortete ihm nicht, setzte sich aber artig auf das Bett, wie Isolder es ihm gestisch bedeutete. "Hör mal", Isolder ließ sich auf seiner Truhe nieder, "wch weiß, du willst nicht reden. Aber ein paar Dinge muss ich schon wissen, damit ich dir helfen kann. Also, machen wir es doch so: ich stelle Fragen, du nickst. Oder schüttelst den Kopf. In Ordnung?" Angespannt wartete er auf Llywelyns Entscheidung, der schließlich mit halb gesenkten Lidern müde nickte. "Fein." Isolder lächelte bemüht. "Dann legen wir los. Wissen deine Eltern, wo du bist?" Kopfschütteln. "Willst du mit ihnen sprechen?" Heftiges Kopfschütteln. »Aha, daher weht also der Wind!« Isolder fischte seinen Rucksack heran. "Willst du ihnen eine kurze Nachricht schicken?" Llywelyn drehte den Kopf weg. "Möchtest du hier bleiben?" Ein minimales Nicken, noch immer abgewandt. "Du kannst auch hier übernachten." Isolder drehte sein Mobiltelefon in den Händen hin und her. "Willst du?" Llywelyn wollte. »Notgedrungen«, vermutete Isolder nüchtern, verwies seine Enttäuschung streng auf die hinteren Plätze. "Dann musst du ihnen eine kurze Nachricht schicken, Llywelyn. Sonst lassen sie dich noch suchen. Bitte!" Damit streckte er ihm sein Mobiltelefon hin. Es dauerte lange Augenblicke, bis Llywelyn widerstrebend das Telefon entgegennahm, langsam auf den winzigen Tasten herumtippte. Isolder nutzte die Gelegenheit, ihre Teetassen aus dem Wohnzimmer zu holen, frisch gefüllt. Dort saßen Mutter und jüngster Sohn einträchtig vor einem Blockbuster, kicherten über computergenerierte Tiere auf einer Odyssee. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, lag sein Mobiltelefon auf der Truhe und sein Gast ausgestreckt auf seinem Bett, eine verbundene Hand auf der Seite, den Kopf zur Wand gedreht. Die gepressten Atemzüge verrieten ihm, dass Llywelyn wieder weinte. Er stellte die Tassen auf der Truhe ab, nahm ein Taschentuch und setzte sich auf die Bettkante. "Es tut weh, da, wo ich dich geschlagen habe", stellte er gequält fest. "Ich hole eine Wundsalbe, Llywelyn und... es tut mir wirklich leid." Damit ließ er das Taschentuch sanft heruntersegeln, erhob sich, um im Badezimmer die Salbe zu holen. Er seufzte, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht und warf sich einen strengen Blick zu. »Reiß dich bloß zusammen!«, ermahnte er sich grimmig. »Vermurks es nicht!« In seinem Zimmer erwartete ihn Llywelyn mit bleichem Gesicht, die Tränen getrocknet, noch immer ausgestreckt. Isolder nahm seinen Platz ein, legte die Salbentube ab und die Hände in den Schoß. »Bring's hinter dich!«, verpasste er sich einen mentalen Tritt in den Allerwertesten. "Ich möchte es dir erklären." Er holte tief Luft, um nicht ganz so piepsig fortzufahren. "Warum ich dich geschlagen habe." Er zog eine Grimasse. "Ich hatte Schiss, dass sie uns doch erwischen und wollte ganz schnell in der Wohnung sein. Meine Mom kann kaum das Haus verlassen, sie ist zu krank und Hardy hat bloß eine große Klappe, ist aber erst Zehn." Er zupfte an der Bettdecke. "Mir ist nichts anderes eingefallen, und es tut mir leid! Wirklich sehr leid!" "...ist nicht schlimm", krächzte Llywelyn zu seiner Verblüffung. "Ich habe dich auch geschlagen. Wir sind quitt." Isolder entfuhr ein ersticktes Auflachen. "Du redest wieder mit mir? Ich meine..." Er räusperte sich. "Entschuldige! Ich dachte, du kannst mich nicht mehr leiden!" Llywelyn starrte ihn an, erschöpft, unglücklich. Damit gab er Isolder das Gefühl, es gäbe eine ganze Menge an Dingen, die besprochen werden mussten, für die er nun eine Erklärung erhalten könnte. Aber damit würde er Llywelyn jetzt unnötig aufregen. Um das Thema zu wechseln, wies er mit dem Kinn auf dessen Mitte. "Lass mich das verarzten, ja? Um es ein bisschen wiedergutzumachen." Llywelyn zischte deutlich durch die zusammengebissenen Zähne, als Isolder Kapuzenpullover und T-Shirt lupfte. Dabei ging es weniger um Schmerzen, als um einen erneuten, unerwünschten Körperkontakt. "..das ist merkwürdig", stellte Isolder schließlich trocken fest. "Du hast einen blauen Fleck an der Leiste. Da habe ich dich aber nicht erwischt!" Die Finger gruben sich tief in Isolders Matratze, Llywelyn drehte den Kopf von ihm weg. "...ist jetzt nicht so wichtig." Mit grimmiger Miene stellte Isolder die Aufklärung hinten an. "Nicht die Luft anhalten, ja? Ich beeile mich auch." Damit bedeckte er den Treffer kreisend mit der Salbe, zupfte den Stoff wieder über die nackte Haut. "Bin gleich wieder da", entschuldigte er sich, verließ sein Zimmer, um die Salbe zurück ins Badezimmer zu bringen, sich die Finger zu waschen und sich zu fragen, wie viel Zeit verstreichen musste, damit sich ein Bluterguss abzeichnete. Als Karateka hatte er durchaus persönliche Erfahrungen und deshalb musste er annehmen, dass der Treffer nicht von den Rangeleien stammte. »Das wird noch geklärt!«, nahm er sich aufgebracht vor. »Aber nicht jetzt!« Wenn er zu sehr in Llywelyn drang, ihm alles zu erzählen, würde der einschnappen wie eine Auster. Das wäre gar nicht förderlich für die Versetzung von der Strafbank! Er stellte eine neue Zahnbürste in den Sammelbecher, legte ein zusätzliches Handtuch aus und sah sich um, ob noch etwas vorzubereiten war für einen Übernachtungsgast. Als Isolder wieder sein Zimmer betrat, bemerkte er gleich, dass Llywelyn eingeschlafen war. Nachsichtig huschte er auf Zehenspitzen hinein, schlug die Bettdecke um, damit Llywelyn nicht fror und löschte beim Verlassen das Licht. Im Wohnzimmer gesellte er sich zu Mutter und Bruder, verfolgte geistesabwesend den Spielfilm, dann scheuchte er Hardy ins Bad und anschließend ins Bett. "Mom, Llywelyn bleibt über Nacht", berichtete er seiner Mutter, während er die nassen Handtücher aus der Waschmaschine aufhängte. "Ich bringe ihn dann morgen zur Schule." Seine Mutter wartete geduldig darauf, dass er ihr aus dem Sessel half. "So ein hübscher Junge! Er hat sich bestimmt erschreckt bei dem Sturz. Es ist lieb, dass du dich um ihn kümmerst, Schätzchen." "Dafür sind Freunde ja da", murmelte Isolder verlegen, denn er beschönigte zwar des Öfteren die Wahrheit, wollte seine Mutter aber nicht zu häufig belügen. Nachdem sie auch das Bad verlassen und sich in ihr kleines Schlafzimmer zurückgezogen hatte, beschäftigte sich Isolder noch mit dem Aufräumen, erledigte eilig den liegengebliebenen Rest der Hausarbeiten. Dann erst kehrte er in sein Zimmer zurück, hockte sich neben Llywelyn auf die Bettkante und streichelte ihm hauchzart über die Wange, um ihn aufzuwecken. "Llywelyn?", raunte er leise. "Wach auf, ja? Zähneputzen und Schlafanzug", formulierte er, als müsse er seinen jüngeren Halbbruder erinnern. "Dann kannst du weiterschlafen." Llywelyn blinzelte, stemmte sich dann schwerfällig auf die Ellenbogen und bemühte sich um Orientierung. Geduldig half Isolder ihm beim Aufstehen, führte ihn ins Badezimmer und machte ihn mit der Zahnbürste, dem Handtuch und dem Schlafanzug bekannt, den er für die Nacht entbehrte. Da Llywelyn den Eindruck erweckte, ausreichend bei Sinnen zu sein, um die avisierten Aufgaben ohne seine Unterstützung zu bewältigen, kehrte er in sein Zimmer zurück, schlug das Bett ordentlich auf und überlegte, was er noch für den nächsten Tag vorbereiten konnte. Llywelyn benötigte Kleider für die Schule. Vielleicht etwas zu essen? Geld? »Und ich brauche DRINGEND ein paar Antworten!«, grummelte er. Aber an diesem Abend erhielt er sie nicht mehr, denn als er selbst aus dem Badezimmer in sein Zimmer zurückkehrte, schlief Llywelyn bereits tief und fest. *~*8*~* Der Wecker alarmierte Isolder, wurde mit einem Handkantenschlag ruhiggestellt und tickte beleidigt vor sich hin. Isolder, ganz auf Autopilot, schwenkte die Beine über die Bettkante, rollte hinaus, marschierte aufgezogen zur Tür, betätigte den Lichtschalter und machte kehrt, um den Rollladen hochzuziehen und das Fenster aufzureißen. Da hörte er ein leises Stöhnen. "...oh...", entfuhr ihm langsam. Richtig, da war noch was! Llywelyn setzte sich auf, versuchte, Strähnen aus den Augen zu wischen, verhedderte sich aber mit den Verbänden und murmelte Unverständliches. "Guten Morgen." Isolder verzichtete auf die Belüftung, hockte sich zu ihm aufs Bett. "Geht's dir besser?" Der starrte auf seine verbundenen Hände und die Bettdecke. Tollkühn streckte Isolder die Hand aus, kämmte weißblonde Strähnen hinter das Ohr, damit er wenigstens Llywelyns Profil betrachten konnte. "Ich gebe dir ein paar Sachen von mir und bring dich auch zur Schule, aber ein bisschen was musst du mir schon erzählen. Zum Beispiel, was du frühstückst!", bemühte er sich um einen kleinen Anstoß. Llywelyn zog die Knie vor die Brust, umklammerte sie. »Wir können auch anders!«, grummelte Isolder, wechselte von der Bettkante direkt vor die Bein-Barrikade, spähte grimmig in die silbergrauen Augen. "Was ist gestern bei dir zu Hause passiert?", hakte er unbarmherzig nach. Llywelyn legte das Gesicht auf die Knie. Isolder seufzte vernehmlich, begann dann, über den weißblonden Schopf zu streicheln. "Weißt du, die Vogel Strauß-Taktik ist selten erfolgreich. Ich möchte dir wirklich gern helfen, aber dazu muss ich wissen, wie ich das am Besten anstellen kann." Als er keine Antwort bekam, beugte er sich vor, um einen Kuss auf Llywelyns Schopf zu platzieren, ziemlich unverschämt. "Hör mal, denk darüber nach, ja? Ich verschwinde im Bad, dann schaue ich wieder nach dir." Damit verließ er sein Zimmer. *~*8*~* Llywelyn zuckte mit den Zehen, um seiner Unruhe Ausdruck zu verleihen. Jetzt, wo es ihm ein wenig besser ging, sein Magen sich beruhigt hatte und die Schrecken sich abgemildert hatten durch ein wenig Distanz, konnte er sich verteidigen. Gegen SIE und ihre Versuche, ihn zu infizieren! Ihn in einen Zombie zu verwandeln! Er MUSSTE Isolder eigentlich nichts erklären. Der kurze Augenblick stolzer, trotziger Selbstbehauptung verflog rasch. Llywelyn war zur Nüchternheit erzogen worden, dazu angehalten, sich um sich selbst zu kümmern. Nicht zurückzuschauen. Denn hinter ihm gab es nichts. »Mach dir nichts vor!«, hielt er steif Zwiesprache mit sich selbst. »Du musst zurück zu ihnen. Gewisse Konzessionen werden sich nicht vermeiden lassen.« »Aber wie viele?! Wo ist die Grenze?!«, protestierte die streng unterdrückte Wut aufbegehrend. Gestern hatte er zweimal kurz vor der Selbstaufgabe gestanden. Llywelyn wollte die Hoffnung jedoch nicht aufgeben, dass er widerstehen konnte. In der Welt der Zombies leben, ohne einer der ihren zu werden. Das MUSSTE möglich sein! »Und deshalb«, argumentierte sein Verstand geduldig, »musst du durchhalten. Dich arrangieren. Bis du unabhängig bist.« Vor allem war es notwendig, zukünftig klüger zu reagieren. Fallstricke und unerquickliche Situationen zu vermeiden. »Du siehst ja, was dabei herauskommt!«, versetzte er sich selbst einen Hieb. Er gab seine Beine frei, schwang sie über die Bettkante und stellte sich aufrecht hin, absolvierte einige Kniebeugen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen und die Schadensmeldungen seines Körpers zu analysieren. Erstaunlicherweise, sah man von den lästigen Wunden ab, fühlte er sich besser als am gestrigen Morgen vor der verwünschten Festivität. »Der Kniff mit dem Handtuch...« Er drehte sich langsam im Kreis, um das kleine Zimmer eingehend zu betrachten. »Den sollte ich mir merken.« Denn er hatte sich selbst bewiesen, dass er schreien konnte. Schlagen konnte. Sich gegen die Erstarrung zur Wehr setzen. »Neue Waffen«, dachte er konzentriert. »Ich benötige neue Mittel und Wege, um stärker zu werden. Mich zu verteidigen.« Es fiel ihm noch immer schwer zu begreifen, warum sich seine Eltern, diese Viola und der widerwärtige Peter ihm gegenüber derart gebärdeten. Ihm selbst wäre es niemals eingefallen, sich einem anderen derartig aufzudrängen, es für selbstverständlich zu halten, dass Kontakt jedweder Art erfreut aufgenommen wurde. »Ich bin wohl doch anders«, konstatierte er versonnen. »Obwohl es sich richtig anfühlt.« Das verwunderte ihn noch immer. Auch lange Jahre nach dem vernichtenden Urteil, wie irregulär seine Einstellung, sein Verhalten, ja, sein gesamtes Wesen war. Probeweise ballte er die Fäuste, drehte die Hände, stieg auf die Zehenspitzen. »Ich werde nicht nachgeben«, stimmte er ein neues Credo an. »Ich werde klüger und stärker sein. Sie werden mich NICHT kriegen.« Als Isolder kurz den Kopf zur Tür reinst reckte, um Llywelyn mitzuteilen, dass das Bad frei sei, stellte er überrascht fest, dass der am geöffneten Fenster stand und ruhig die eisige Luft einatmete. "Danke schön", beschied Llywelyn dem verdutzten Isolder höflich und machte sich bereit, dem neuen Schultag in geliehenen Kleidern entgegenzugehen. *~*8*~* "Brauchst du Stullen? Einen Block? Stifte? Taschentücher?" Isolder spulte das übliche Programm ab, allerdings dazu gedacht, Hardy zu kontrollieren. Llywelyn, der in seinen Jeans und dem Pullover aus Militärbeständen sehr ungewohnt wirkte, studierte ihn geduldig, bevor er antworte. "Vielen Dank, aber das ist nicht nötig." "Nicht nötig, oder willst du es bloß nicht von mir annehmen?!", fauchte Isolder heftig, stellte das benutzte Geschirr fester als erforderlich in der Spüle ab. Llywelyn den Rücken zugekehrt atmete er tief durch. War es die Frustration darüber, dass Llywelyn ihm nichts erklärte, sich dafür so distanziert wie früher verhielt? Oder die uneingestandene Angst davor, abserviert zu werden, weil er ihn in einem Moment der Schwäche gesehen hatte? Hinter ihm zog Llywelyn mit einem surrenden Geräusch den Reißverschluss der geborgten Regenjacke hoch. "Wir bekommen ein Mittagessen", erklärte er ruhig. "Meine Hausaufgaben erledige ich in der Schule. Oder schicke sie elektronisch zum Schulrechner. Ich benötige wirklich nichts weiter, aber ich danke dir, dass du mir großzügig aushilfst." »Toll!«, schnaubte Isolder und senkte die Lider für einen langen Moment. »Hast du ja prima hinbekommen! Er ist viel zu höflich, um süffisant zu klingen, aber die Gelbe Karte war das mindestens! Willst du wirklich mit ihm streiten?!« Nein, das wollte Isolder natürlich nicht, trotzdem... stand er kurz davor, ihn an den Schultern zu packen und kräftig durchzuschütteln. »Weil ich einfach nicht begreife, wie du tickst! Wieso lässt du mich im Regen stehen, bittest mich nicht um Hilfe?!« Im selben Augenblick erschrak er über sich selbst. Mehr als einmal hatten seine Brüder ihm vorgeworfen, dass er sich wie ein Pascha aufführte, der Herr im Hause, der große Diktator, der sich immer um alle sorgte und selbstverständlich erwartete, dass man ihn immer und ausnahmslos um Rat fragte, seine Meinung einholte, sich nach ihm richtete. »Und jetzt regt es mich auf, dass Llywelyn mich nicht braucht! Dass er sich nicht auf mich verlassen will!«, stellte er bestürzt fest. Hatte ihm Llywelyn nicht auch deshalb so imponiert, weil der unbeeindruckt von der Meinung anderer blieb? Weil der Unabhängigkeit, Selbstbestimmung ausstrahlte? Er drehte sich langsam um, sah Llywelyn an, der geduldig darauf wartete, dass sie aufbrachen. Ein ungebrochener Charakter, eine freie, unbezähmbare Seele. Isolder öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Plötzlich fühlte er sich ganz winzig und schäbig. Ein mieser Kleingeist, der die wilde Schönheit eines ungebundenen Wesens nicht ertragen konnte. Das brachte ihm bitter ein Sprichwort in Erinnerung: 'alle Menschen werden als Original geboren, die meisten sterben als Kopie'. Llywelyn durfte auf keinen Fall zu einer Kopie werden! Dieses drängende Gefühl überkam ihn mit solcher Gewalt, dass er sich an der Spüle abstützen musste. »Deshalb ist nicht ER es, der über seinen Schatten springen muss, sondern DU selbst!«, hielt ihm sein kritisches Über-Ich mitleidlos vor. "Entschuldige." Er räusperte sich verlegen. "Mir ist wohl das Kommandieren zu Kopf gestiegen. Also, wenn du etwas brauchen solltest, bitte frag mich. Ich möchte dir gern helfen." Die silbergrauen Augen fixierten ihn, die Ahnung der Falte zwischen den goldenen Augenbrauen vertiefte sich ein wenig. "Das werde ich", versicherte Llywelyn ernsthaft. "Na fein!" Isolder atmete noch mal durch. "Dann machen wir uns jetzt besser auf die Socken. Ich schmeiße eben noch Hardy aus den Federn!" Nachdem er unnachgiebig dafür gesorgt hatte, dass alle anderen Familienangehörigen auch wach waren, zog er mit Llywelyn los. *~*8*~* Die nasse Dunkelheit am Morgen, ohne Schneeregen eisig kalt, trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung zu heben. Llywelyn jedoch rollte unberührt von den winterlichen Wetterverhältnissen dahin. Solange der Schnee nicht fest verharschte und zu hoch lag, kam er auf seinen Inlinern noch gut voran. Es störte ihn keineswegs, dass Isolder es für nötig befand, ihn bei seiner Privatschule abzuliefern. Vielmehr diente es wohl zu ihrer beider Beruhigung, dass kein Hinterhalt drohte. Unvermittelt brach Isolder das Schweigen, nahm die Hände aus den Parkataschen, rieb sie kräftig, äußerte betont beiläufig, "ich bin früher ständig verprügelt worden." Llywelyn warf ihm einen aufmerksamen Blick zu, von dem Thema durchaus überrascht. Bedrückte es Isolder etwa immer noch, dass der ihm einen Schlag versetzt hatte? Der blies ablenkend auf seine Hände, stapfte weiter, die dunkelblauen Augen strikt geradeaus gerichtet. "Einem Freund meiner Mutter machte es Spaß, mich zu verdreschen. Einfach so, ohne Grund. Fand er lustig. Hat Jem auch angestiftet, mich zu schlagen." Nun wurden die Hände so heftig gerieben, dass beinahe Funken stieben konnten. "Irgendwann bin ich ausgerastet. Einfach die Sicherung durchgebrannt. Hab zurückgeschlagen. Mich gewehrt wie ein Irrer." Isolder zog eine grimmige Grimasse, zuckte mit den Schultern, um die Spannung zu mildern, warf Llywelyn einen verlegen-trotzigen Blick zu. "Ich hab mir geschworen, dass niemand mich mehr schlagen wird. Niemand hat das Recht, mir wehzutun", wiederholte er mit der zutiefst empfundenen Empörung eines Kindes. "Nun ja", relativierte er selbstironisch, "ich habe gelernt, mich zu beherrschen. Wenn man nicht geschlagen werden will, sollte man andere auch nicht schlagen, richtig? Aber manchmal ist es einfach..." Er zögerte. "Einfach schwer, die Kontrolle zu behalten." Llywelyn rollte eine Weile schweigend neben ihm her, gedankenverloren. "Ich verstecke sie in der Schule", bekannte er leise. Isolder strengte sich an, mit ihm Schritt zu halten, das attraktive Profil zu studieren, um den ihm verborgenen Sinn dieser Äußerung zu dechiffrieren. Die Mühe wurde ihm abgenommen, denn Llywelyn kehrte ihm das Gesicht zu. "Deine Geschenke. Sie schnüffeln in meinen Sachen herum, weil ich sie ihnen nicht zeigen will. Nicht sage, wer mir Geschenke macht." Grimmiger Zorn kräuselte die goldenen Augenbrauen, deutlich zeichnete sich die Falte dazwischen ab. Die silbergrauen Augen blitzten, der kirschrote Mund war schmal. "Deine Worte sind für mich bestimmt. Sie sind privat!", zischte er bitterböse. "Sie haben KEIN RECHT, alles zu durchwühlen, um ihre primitive Neugierde zu befriedigen!" Isolder starrte Llywelyn fasziniert an. Hitziger, glühender Zorn drückte sich bei ihm mit einer geradezu arktischen Kälte aus, formte sich nicht zum Gebrüll, sondern zu scharfen, konsonantischen Anklagen. "Ich freue mich, dass du sie wenigstens nicht gleich wegwirfst", entgegnete er mit trockenem Humor. Sollte er Hoffnung aus dem Gedanken schöpfen, dass Llywelyn ihre einseitige Konversation mit Sinnsprüchen und kleinen Gaben für sich allein behalten, mit niemandem teilen wollte? Er blieb stehen, ließ den Rucksack von den Schultern rutschen und kramte das Geschenk dieses Tages heraus, überreichte es Llywelyn. "Wie gut, dass du mich daran erinnerst!", zwinkerte er. "Da muss ich es ja nicht an der Pforte aufhängen." "Wenn ich es nicht morgens schnell holen würde, hätten sie bestimmt schon versucht, die Umschläge mit Wasserdampf zu öffnen!", knirschte Llywelyn, noch immer auf eine introvertierte Weise aufgebracht. "Da wären sie sicher enttäuscht, bloß ein paar Worte, ein bisschen Kleinkram", grinste Isolder bei der Vorstellung, wie Llywelyns Eltern versuchten, hinter das "große Geheimnis der unbekannten Verehrerin" zu kommen. "Keine schwülstigen Liebesschwüre, keine perversen Anspielungen..." Llywelyn rammte abrupt die Rollen in eine Spalte, funkelte ihn an. "Ja, du hast vermutlich recht!", fauchte er abschätzig. "Sie wären enttäuscht. Als sei es nicht intim genug, über Aphorismen und Gedichte eigene Vorlieben und Gedanken zu offenbaren!" Isolder nahm den vor unterdrücktem Zorn stocksteifen Llywelyn in sich auf wie ein unerwartetes Geschenk, eine besondere Gnade. Diese Äußerung verriet ihm, dass Llywelyn sich Gedanken machte, über ihn! Seine Anstrengungen und das Opfer seiner "Schätze" würdigte. Kraftvoll stieß sich Llywelyn ab, rollte vor ihm her, offenkundig noch aufgebracht. Isolder heftete sich an seine Fersen und studierte den weißblonden Schopf mit dem stacheligen Stufenschnitt. »Ich frage mich, was bei dir zu Hause vorgeht!«, sinnierte er schweigend. »Das Verhältnis zu deinen Eltern kommt mir irgendwie...merkwürdig vor.« Doch er verschob Erkundigungen in dieser Richtung auf einen günstigeren Zeitpunkt. Im Augenblick musste es ihm genügen, dass Llywelyn sich um Verständigung bemühte. Ihm aus freien Stücken Persönliches mitteilte. »Und da gärt es gewaltig, in meinem schönen Außerirdischen!«, stellte Isolder interessiert fest. *~*8*~* Sie erreichten gemeinsam die hohe Einfriedung der Privatschule, wie ein Bollwerk gegen den gewöhnlichen Alltag ringsherum. Isolder zögerte, fühlte sich plötzlich unsicher. Wenn er Hardy früher in der Grundschule abgeliefert hatte, war ihm das vollkommen normal erschienen. Ein, zwei Ermahnungen, ein strenger Blick und ab durch die Mitte. Hier kam er sich deplatziert vor, ohne Rechtfertigung für seine Anwesenheit. Um dieses unerfreuliche Gefühl der Beklommenheit zu vertreiben, wechselte er unbewusst in seinen "großer Bruder"-Modus. "Und du brauchst wirklich nichts?", erkundigte er sich bei Llywelyn, der ihn mit einem etwas argwöhnischen Gesichtsausdruck musterte. "Soll ich dich später abholen? Oder treffen wir uns vor der Videothek? Willst du gleich nach Hause? Oder erst später?" Llywelyn schwieg, die silbergrauen Augen unverwandt auf Isolder gerichtet, dem der Schweiß ausbrach. »Verdammt, benehme ich mich eigentlich immer so? Pappa ante portas?!«, rekapitulierte er peinlich berührt seine Vorstellung. Schließlich erlöste Llywelyn ihn, bevor er sich um Kopf und Kragen plappern konnte, in Entschuldigungen verlor oder in Rechtfertigungen ausbrach. "Du musst dir keine Sorgen machen. Es geht mir wieder gut. Ich komme zurecht." »Ja«, dachte Isolder ernüchtert, »schon bin ich abgeschrieben, wie? Lästig und enervierend!« "Du kannst mich ja anrufen!", verschaffte er sich Spielraum. "Wenn du dich entschieden hast, meine ich." Llywelyn studierte ihn erneut lange, konzentriert. Mit diesem skalpellscharfen Blick, der nach einer Antwort forschte, obwohl Isolder noch nicht mal die Frage gestellt worden war! "Ich verstehe nicht, warum du das alles für mich tust", eröffnete er ihm endlich gelassen. "Aber ich respektiere deine Entscheidung." Er rollte nahe an Isolder heran, dem der Atem stockte. "Ich weiß deine Gesellschaft zu schätzen." Llywelyn blickte ohne Blinzeln unverwandt in seine Augen. "Deshalb sage ich dir offen, dass ich es nicht ertrage, wenn man sich mir aufdrängt. Ich entscheide immer für mich selbst." Isolder keuchte, stotterte überrumpelt. "Schon verstanden, wirklich! Ich bemühe mich, ehrlich!" Mit einer Grimasse ergänzte er, "du könntest mich wohl nicht einfach vors Schienbein treten, wenn ich mal wieder zu impulsiv bin? Als kleinen Denkanstoß?" Llywelyn legte den Kopf schief, hob dann eine Hand, um mit dem Zeigefinger hauchzart über den Stecker in Isolders linker Augenbraue zu streichen. "Niemand darf dich schlagen, aber ich soll dich treten?", erkundigte er sich leise, pointiert. "Lieber das", Isolder konnte nicht glauben, dass Llywelyn ihm freiwillig so nah kam, eine so vertrauliche Geste initiierte, "als dass ich dich in meinem Überschwang wieder vertreibe wie am Samstag." "Nein." Entschieden erteilte Llywelyn ihm eine Absage, zog sich von ihm zurück. "Du wirst eine andere Lösung finden müssen. Ich werde dich nicht treten." "Gutichlassmirwaseinfallen!", versicherte Isolder eilig. "Also, darf ich dich abholen? Hier, nach der Schule?" Llywelyn drehte eine grazile Pirouette vor dem Tor. "Ich werde auf dich warten." Damit glitt er mühelos davon, gab eine selbstsichere Figur auf den Inlinern ab, die über den Boden schwebte. Isolder schüttelte ungläubig den Kopf. »Wieso, verflixt noch mal, ging das jetzt so einfach?!« *~*8*~* Kapitel 15 - Anti-Zombie-Pakt Llywelyn schlüpfte aus den politisch korrekten Fußbettsandalen in seine Inliner, verriegelte sein Schließfach und stieß sich schwungvoll ab. Hinter ihm hörte er nur zu deutlich das bemüht freundlich-aufdringliche Rufen des Vertrauenslehrers. »Er könnte sich wirklich um mehr Verständnis bemühen«, dachte Llywelyn unbeeindruckt, ignorierte die schmeichlerische Bitte, doch mal eben stehen zu bleiben. Ständig wurde er mit der unbegründeten Annahme dieses Lehrkörpers konfrontiert, er müsse sich doch bestimmt mal aussprechen. Llywelyn konnte sich nicht entsinnen, jemals dieses Bedürfnis ihm gegenüber gehegt zu haben. Die Wahrscheinlichkeit für eine Änderung seiner Entscheidung diesbezüglich lag in nicht existenten Bereichen. Er verachtete diesen Mann, weil der sich genauso wie seine Eltern verhielt. Nachsichtig wäre er gewesen, hätte er gespürt, dass der Lehrer nur seine Pflicht erfüllte, doch hier nahm er den widerlichen Gestank des Gesinnungsterroristen wahr, gepaart mit der unerträglichen, kriecherischen Beflissenheit eines Seelen-Aasgeiers. Niemals, das stand für Llywelyn fest, würde er mit diesem Mann über mehr sprechen als belanglose Nichtigkeiten, die der Höflichkeit geschuldet waren. Was eine Kanaille seines Kalibers ihm empfahl, das konnte nach Llywelyns Auffassung nur falsch, manipulativ und hinterlistig sein. In der gegenwärtigen Situation fühlte er sich deshalb nicht mal dazu bemüßigt, sich umzudrehen, herauszufinden, welcher lächerliche Vorwand vorgebracht wurde, um ihn erneut auszuhorchen zu versuchen. Die Schulzeit war vorüber, und abweichend von seinen Gewohnheiten beabsichtigte er, direkt nach Isolder Ausschau zu halten. Der wartete tatsächlich vor dem Schultor auf ihn, allerdings nicht allein. Ein anderer Lehrer nahm ihn bereits mit Beschlag, die Arme in die Hüften gestützt. Llywelyns Mundwinkel zuckten amüsiert, als er die gespannte Haltung kombiniert mit der hochgezogenen, gepiercten Augenbraue goutierte. Er hatte Isolder eingehend genug studiert, um zu wissen, dass der gerade vordergründig höflich innerlich zur Attacke ausholte. *~*8*~* Isolder spürte, wie die kleinen Adern in seinen Schläfen heftig zu pochen begannen. Gelegentlich passierte ihm so etwas wie diese Aktion hier, obwohl er sich nun wirklich nicht gerade als Angehöriger der Prekariats auswies. "Erstaunlich", bemerkte er süffisant, aber tadellos höflich. "Ich nahm an, das Trottoir stehe im Besitz der Allgemeinheit! Weshalb ich mich auch berechtigt sehe, hier zu warten, ohne deshalb behelligt zu werden." Der vierkantige Mann blähte die Backen auf, streckte die Brust raus, optische Betonung seiner bedeutenden Stellung in der Gesellschaft im Allgemeinen und als Zerberus im Besonderen. "Und ich sage dir, du hast hier nichts zu suchen, verstanden?!" "Das müssen Sie mir gar nicht erst sagen, obwohl das sehr aufmerksam von Ihnen ist", säuselte Isolder geschmeidig. "Ich habe nicht die Absicht, etwas zu suchen. Ich verstehe mich viel besser auf das Finden." Er lächelte über die Schulter des importanten Lehrkörpers hinweg zu Llywelyn, dem ebenfalls ein Scholastiker auf den Fersen war. Mit rotem Kopf und wehendem Sakko. "Tja." Isolder grinste abschätzig. "Leider kann ich meine Zeit nicht mehr länger mit Ihnen verschwenden, meine Verabredung ist eingetroffen. Es war mir kein Vergnügen, dennoch einen schönen Tag!" Mit einer eleganten Verbeugung wandte er sich ab, streckte impulsiv die Hand nach Llywelyn aus und rief vernehmlich. "Na, was wirft man dir vor? Ich werde hier als Terrorist auf offener Straße belästigt!" »Und wahrscheinlich gleich auch noch als sittliche Gefahr für ein wertvolles Mitglied UNSERER Gesellschaft!«, ergänzte er amüsiert angesichts der finsteren Mienen, die sie musterten. Llywelyn nahm seine Hand im Schwung, zog ihn im Laufschritt mit sich. "Gesinnungsschnüffler und Emotionsparasiten, einfach widerwärtig!" Isolder lachte und hielt das Tempo gut mit. SO gefiel ihm Llywelyn noch besser: der frostige Eishauch inwendiger Vulkanausbrüche mähte Schneisen in aufgeblasene Wichtigtuer, die Bücher nur nach ihrem Einband beurteilen konnten! *~*8*~* Llywelyn reduzierte das Tempo, als sie außerhalb der Sichtweite waren, entzog Isolder seine Hand. Der seufzte laut, bestand aber nicht auf der Geste. "Und, wohin jetzt? Zu dir oder zu mir?" Ohne auf den scherzhaften Ton einzugehen erwog Llywelyn die Optionen, balancierte auf den Inlinern. "In die Videothek", entschied er schließlich. Isolder war uneingestanden dankbar für den Aufschub. Nach der enervierenden Szene eben wollte er nicht gleich wieder in irgendwelche fruchtlosen Auseinandersetzungen gezogen werden. "In Ordnung", bestätigte er Llywelyns Entscheidung. "Dann kann ich auch noch ein Brot kaufen." Was er auch tat, während Llywelyn geduldig vor der Bäckerei wartete, sich immer wieder die weißblonden Strähnen aus dem Gesicht wischte, weil ein eisiger Wind in Böen auffrischte. "Sehen wir zu, dass wir ins Warme kommen!", lautete Isolders Urteil nach einem Blick Richtung Himmel. Er verstaute den Laib Brot in seinem Rucksack, marschierte zügig neben Llywelyn her, zunächst schweigend. "Wirst du Ärger bekommen, weil ich vor dem Tor gewartet habe?", ergriff er nach einer Weile das Wort. Llywelyn wandte ihm kurz den Kopf zu, betrachtete seinen ernsten Ausdruck, um wieder nach vorne zu blicken. "Wahrscheinlich werden sie gleich an meine Eltern weitertratschen, dass ein potentieller Delinquent auf mich gewartet hat", vermutete er abschätzig. "Delinquent? Ich?" Isolder schnaubte. "Na, herzlichen Dank! Es mag verblüffend sein, aber ich habe tatsächlich eine blütenweiße Weste und nicht die geringste Intention, das zu ändern." "Es spielt ohnehin keine Rolle", bemerkte Llywelyn gelassen. "Ich glaube nicht, dass dein schlechter Einfluss auf mich gegen meine Verhaltensstörung eine Chance hat." Isolder kräuselte die getuschten Augenbrauen kritisch. "Ich will dich überhaupt nicht beeinflussen, nur fürs Protokoll. Was soll der Quatsch mit der Verhaltensstörung?" "Ist dir das noch nicht aufgefallen?" Llywelyn reduzierte sein Tempo, zwinkerte Isolder zu, der glaubte, ihn habe der Schlag getroffen. Der Blitzschlag. Denn er stand urplötzlich ganzkörperlich unter Strom, die Haare aufgestellt, statisch so aufgeladen, dass er förmlich knisterte. Llywelyn bemerkte von diesem Aufruhr nichts, er konzentrierte sich auf Hindernisse bei den zersprungenen Platten des Gehwegs. "Tatsächlich hat man das schon öfter von mir behauptet. Wobei unter Verhaltensstörung jede Aktion summiert wird, die damit zusammenhängt, sich nicht dem Gruppenzwang unterzuordnen, sich von den anderen abzusondern." "Kann nicht sehen, wieso das unvernünftig wäre, wenn da nur so Typen wie die beiden Nussknacker rumkrauchen!", versetzte Isolder grimmig. "Nun", Llywelyn schien erstaunlich mitteilsamer Stimmung zu sein, "ich mag es auch nicht zu singen. Oder irgendwelche Basteleien anzufertigen, die dann den Eltern auszuhändigen sind." Seine Aussprache verschärfte sich, verpasste jeder Silbe einen Überzug aus Raureif. "Bäche aufzustauen und die Natur zu sezieren, die mir nichts getan hat. Auf Bäumen herumzusteigen ohne Rücksicht auf die dort hausenden Insekten und die angesiedelte Flora." Isolder schwieg einige Meter nach diesem Quasi-Ausbruch. "Klingt für mich eher danach, als wärst du für diese Bande zu intelligent. Macht ihnen wahrscheinlich Angst, und deshalb versuchen sie, dich kleinzukriegen." "Genau!" Llywelyn absolvierte eine abrupte Bremsung, wandte sich Isolder zu, die silbergrauen Augen agitiert funkelnd. "Sie versuchen, mich kleinzukriegen! Gleichzuschalten auf ihrem Niveau! Zu infizieren und in einen Zombie zu verwandeln!" Überrumpelt sackte Isolder das Kinn zwischen die Knie. "Zombie?", echote er verwirrt. "Ja!" Llywelyn nickte finster, die Hände zu Fäusten geballt ungeachtet der Verbände, angespannt, als wäre er wirklich zum Kampf bereit. "Zu einem seelenlosen Automaten, der allein dem Zeitgeist huldigt, weder über ein Rückgrat verfügt, noch für sich selbst einsteht. Der nichts Wahrhaftiges mehr erkennt, jede Tiefe vermeidet!" »Oookaaaayyyy!« Isolder zog zweifelnd BEIDE Augenbrauen hoch, aber er konnte sich der Intensität der silbergrauen Augen nicht entziehen. Llywelyn bot ihm das Profil, die Falte tief zwischen seinen goldenen Augenbrauen in die Stirn gegraben, die kirschroten Lippen schmal. "Irgendwann werde ich auch als Zombie enden", flüsterte er bitter. "Vielleicht habe ich Glück und merke es nicht mehr. Aber", er funkelte Isolder entschlossen an, "bis DAHIN kämpfe ich dagegen an!" Dann wandte er sich ab, setzte sich wieder gleitend in Bewegung. Isolder spürte, dass das Thema Llywelyns Herzensanliegen war, von immenser Bedeutung für ihn. Deshalb musste er jetzt so viel wie möglich darüber herausfinden, um zu begreifen, wie der schöne Außerirdische tickte! "Llywelyn!", rief er ihm nach, galoppierte. "Hältst du mich auch für einen Zombie?" Llywelyn rollte unbeirrt vor ihm weiter. Isolder jedoch war klug genug, nicht zu drängen, auf eine schnelle Antwort zu bestehen, immerhin gehörte Llywelyn wirklich nicht zu den Typen, die leichtfertig urteilten. "...ich weiß es nicht", bekam er dann nach längerem Nachdenken eine vernichtende Auskunft. "Autsch!", brummte Isolder nach dem ersten Schreckmoment, lenkte sich damit ab, die Schuhsohlen besonders gründlich vor der Videothek abzutreten. "Also habe ich kein Rückgrat und bin ein seelenloser Automat? War das nicht die Beschreibung?" Auf den Socken über den Strümpfen stand Llywelyn vor ihm, die Inliner in einer Hand, ungewohnt unentschlossen. "Vielleicht..." Er nagte an seiner Oberlippe, den Blick konzentriert in die Ferne gerichtet. "Vielleicht liegt es daran, dass du mir nachläufst. Unbedingt mit mir gehen willst." "Was ist bitte daran zombiehaft?!" Erbost fasste Isolder Llywelyn am Parka, wollte diese Frage nicht ausgerechnet vor seinem Arbeitgeber klären. "Dass es nicht wahrhaftig ist." Llywelyn blickte ihn unverwandt an, ernst und ein wenig traurig. "Eine flüchtige Laune." Damit löste er sich und betrat die Videothek, bevor Isolder eine Erwiderung formulieren konnte. *~*8*~* Schweigend kam Isolder seiner Arbeit nach, wusste Llywelyn im Nebenraum. In ihm gärte es bitterlich. »Flüchtige Laune?! Nicht wahrhaftig?!« Am Liebsten hätte er Llywelyn diese Worte ins Gesicht geschleudert, sich wütend verbeten, dass seine Gefühle so leichtfertig negiert wurden, sein eigenes Urteil gering geschätzt, beiseite gewischt wie eine unbedeutende Marginalie! Leider konnte er bei Llywelyn keine Bosheit spüren, die Absicht, ihn vor den Kopf zu stoßen. Llywelyn glaubte es tatsächlich. Hatte so eine deprimierende Meinung von ihm. »Es hilft gar nicht, wenn ich nicht wieder auf ihn zugehe, mit ihm spreche!«, stellte er erbost fest. Weil es Llywelyn nichts ausmachte, wenn man nicht mit ihm sprach, sich nicht mit ihm beschäftigte. Er selbst hätte sich zumindest unbehaglich gefühlt, würde unablässig darüber nachdenken, was er hätte sagen sollen oder müssen und wie es nun weiterging. Isolder seufzte. »Toll!«, schüttelte er innerlich den Kopf über sich selbst. »Du musstest dich ja in einen Außerirdischen verlieben, der locker ohne dich klarkommt! Der dich gar nicht braucht!« Was erneut die Frage aufwarf, wie er Llywelyn davon überzeugte, dass sie zusammen gehörten. »Wenn der nicht an Liebe glaubt, mit welchen Pfunden willst du dann wuchern?!« Da keine Kundschaft seiner Aufmerksamkeit bedurfte, öffnete er die Tür zum Nebenraum, fand Llywelyn gewohnt zusammengekauert auf dem Bürodrehstuhl, grübelnd. "Wieso glaubst du, dass ich dich bloß kurz liebe und dann alles vorbei ist?! Woher willst du das wissen?", legte Isolder energisch los. "Weil es zu nichts führt, mich zu lieben", antwortete Llywelyn ihm prompt, aber nicht unfreundlich, stellte die besockten Füße auf den Boden. "Sieh mal", erklärte er ruhig, "für mich steckt hinter dieser ganzen Liebes-Lüge nichts anderes als die Befriedigung egoistischer Bedürfnisse. Die projiziert man auf den anderen, doch eigentlich tut man das alles für sich selbst." Er bemerkte Isolders verständnislosen Blick und nahm einen weiteren Anlauf. "Es ist wie ein Echo. Du wünschst dir Anerkennung, also suchst du jemanden, der für dein Lob besonders empfänglich ist. Durch seine positive Reaktion erfährst du das, was du eigentlich wolltest, nämlich Anerkennung." Llywelyn erhob sich, führte seinen Vortrag fort. "Schlimmer noch ist dieser Besitzdrang. Angeblich ist es ein Zeichen besonders inniger Verbundenheit, wenn man den anderen völlig für sich vereinnahmt. Dabei geht es doch nur darum, ihn zu lenken, zu beherrschen, sich mit ihm zu schmücken. Wenn er sich dagegen verwahrt, dann schwenkt man die emotionale Erpressungskeule, wirft ihm mangelnde Liebe vor. Fehdehandschuh im Ring, wer liebt wen mehr?!" Isolder spannte die Muskeln, stellte die Schultern aus, eine unwillkürliche Reaktion. "Wie sollen deiner Meinung nach Beziehungen dann aussehen?" JETZT wollte er doch mal sehen, wie sich der Professor da herauslavierte! "Das ist schwierig." Llywelyn kämmte sich einige Strähnen hinter die Ohren, noch immer hochkonzentriert, als gelte es, ein schwieriges, mathematisches Problem zu lösen. "Ich glaube, es gibt keinen zwingenden Grund, zusammen zu sein, wenn man nicht übereinstimmende, egoistische Motive verfolgt." "Die da wären?" Isolder fand diese Vorstellung gruselig. Das klang nach Zirkelmaß und bilateralen Verhandlungen, nicht nach überwältigenden Gefühlen und Optimismus! "Kinderwunsch oder Unternehmensgründung, wenn die Voraussetzungen es erforderlich machen." Llywelyn war nicht um eine Antwort verlegen. "Dazu noch ähnliche Ansichten über die Strategie und die gleichen Prioritäten." "Ja!", kommentierte Isolder sarkastisch, "das hört sich doch recht simpel an! Warum nicht gleich einen Lebensplan vom Reißbrett? Dann gesellt sich gleich zu gleich, und alle sind glücklich!" Nun bedachte Llywelyn ihn WIRKLICH mit einem mitleidigen Blick. "Das klingt für dich kalkulierend und abstoßend, aber deshalb ist es noch nicht falsch. Du sagst, dass du mich liebst und mit mir zusammen sein willst, aber du weißt gar nichts über meine Prioritäten, meine Ziele, meine Vorstellungen vom Leben. Wenn wir nicht an dieselben Dinge glauben, welche Hoffnung gibt es dann für uns?" *~*8*~* Für jemanden, der Körperkontakt vermied, war Llywelyn AUSGESPROCHEN GUT darin, einen K.O.-Schlag zu setzen. Konstatierte Isolder, der nach diesem Vortrag erst mal Luft schnappen ging und zwar mit einem Haufen geleerter Hüllen zwischen den Regalen. Er MUSSTE Llywelyn auskontern, so viel stand fest, sonst wäre der nicht dazu zu bewegen, ihn NICHT als einen kleinen Träumer mit Zombie-Potential einzuschätzen. An die Wand musste er ihn argumentieren, genau! Dessen persönliche Erfahrungen in Frage stellen, Generalisierungen zurückweisen, einen Versuch herauskitzeln! »Zumindest ein Gutes hat die Sache ja!«, munterte er sich selbst auf, »Llywelyn glaubt auch daran, dass man Hoffnung nötig hat. Und er unterhält sich mit mir. Wir können reden. DAS ist schon mehr als manches Ehepaar nach zig Jahren!« Darauf konnte man aufbauen! Die letzte Hülle in die verbleibende Lücke gestopft atmete Isolder mehrmals tief durch, spannte und entspannte seine Muskeln, absolvierte einige Konzentrationsübungen, dann kehrte er zum Tresen zurück. Feuer frei aus allen Rohren! Geübt setzte er über das Hindernis hinweg, baute sich dann vor Llywelyn auf, der ihn ruhig studierte. "Ich möchte auf unsere Unterhaltung zurückkommen", eröffnete Isolder den von ihm erwarteten Schlagabtausch. "Du hast gesagt, dass ich nichts über deine Prioritäten, deine Ziele weiß, keine Ahnung über deine Lebensvorstellungen habe. Dass du nicht an die Liebe glaubst, aber dafür annimmst, dass ich für dich bloß eine gewisse Vorliebe habe, die vorbeigehen wird." Isolder holte tief Luft. "Es stimmt. Du hast recht. Ich WEISS noch nichts über deine Ziele, wie du zu welchen Aspekten stehst, was du dir erhoffst und vorstellst. Das liegt aber auch daran, dass wir uns seit knapp fünf Wochen kennen. Wir wissen BEIDE noch nicht sehr viel über den anderen. Deshalb finde ich es ziemlich unfair, dass du von mir annimmst, ich würde mich in meinen Gefühlen für dich täuschen!" Nun war er richtig in Fahrt geraten und nutzte den Vorteil, dass Llywelyn ihm aufmerksam lauschte, ohne in die Unart zu verfallen, ihn zu unterbrechen. "Ich HABE auch Fehler gemacht, weil ich nicht gewusst habe, wie du zu bestimmten Dingen stehst. Da habe ich einfach von mir auf dich geschlossen und geglaubt, es wird schon passen. JETZT weiß ich es schon ein wenig besser, weil wir uns darüber unterhalten, weil ich dich jeden Tag ein bisschen näher kennenlerne. Das ändert aber nichts an meinen Gefühlen." Er lächelte schief. "Ich gebe dir darin recht, dass es sehr schwierig wird, wenn zwei nicht dieselben Ziele haben, ähnlich denken. ABER", er hob den Zeigefinger, "noch stehen uns alle Chancen offen, weil wir ja gar nicht wissen, ob wir beide wirklich so unterschiedlich eingestellt sind! Noch geht alles!", reckte er optimistisch die Faust, "also gebe ich nicht einfach auf!" "Wenn wir uns noch besser kennen", Llywelyn stellte seine ungewöhnliche Gemütsruhe erneut unter Beweis, "dann ändert das aber nichts an der Tatsache, dass ich nicht an Liebe glaube." "Schön!", stellte Isolder stürmisch fest, "aber wenn sonst alles passt, wo liegt dann das Problem?! Ich glaube an die Liebe, du nicht, aber ob ich dich liebe oder nicht, das ist doch allein MEINE Sache! Du bist nicht verantwortlich für meine Gefühle!" Llywelyn kräuselte die goldenen Augenbrauen. "Du würdest es nicht als quälend empfinden, wenn ich dich nicht liebe? Obwohl wir potentiell zusammen sein könnten?" Nun schnaubte Isolder. "Nun mach mal nen Punkt!" Weniger schnodderig fuhr er fort. "Ich finde es viel schlimmer, wenn du mich bloß aus Gründen der Gerechtigkeit mit Brosamen von Zuneigung abspeisen würdest, weil du dich verpflichtet fühlst!" Ein verwirrter Blick aus den Silberaugen erstaunte ihn, sodass er ungläubig nachfragte. "Du nimmst doch nicht etwa an, dass du aus Höflichkeit gezwungen wärst, meine Gefühle zu erwidern, oder?!" DAS würde erklären, warum Llywelyn lieber den Anfängen wehrte, etwas Wahrhaftiges suchte in einer Welt, bei der wirklich ALLES ein Ablaufdatum trug! "Eine Garantie für die Ewigkeit gibt es nicht." Isolder zuckte mit den Schultern. "Ausgenommen den Tod. Ich bin kein Hellseher, aber ich verspreche dir auch nichts Unmögliches." "...ich weiß nicht." Llywelyns Zögern verriet ihn, die merkliche Falte zwischen den goldenen Augenbrauen unterstrich den Gemütszustand. "So lautet mein Angebot." Isolder streckte ihm die Hand hin. "Warum etwas überstürzen? Wir verbringen weiter Zeit miteinander, unterhalten uns, finden heraus, wie wir über was denken. Und irgendwann setzen wir uns zusammen und machen eine Liste. Dann sehen wir ja, ob es nicht doch mit uns klappt. Vergiss alles, was bei anderen läuft, wie die Statistiken aussehen, oder was andere tun! Hier geht es nur um uns beide und unseren eigenen Weg." Llywelyn nagte an seiner Unterlippe, die silbergrauen Augen zuckten zwischen der angebotenen Hand und dem ernsthaften, dunkelblauen Blick hin und her. Mit einem sichtlichen Ruck zur Entschlossenheit schob er die Finger mit dem abgenutzten Verband in Isolders Hand, drückte dann zu. "Abgemacht?" Isolder konnte ein erfreutes Grinsen nicht verbergen. "Abgemacht", nickte Llywelyn und löste seine Hand wieder. "Nun würde ich gern erfahren, was du mit mir anfangen willst." Diese unerwartete Frage, direkt abgefeuert ohne Vorgeplänkel, brachte Isolder prompt aus dem Konzept. "Anfangen? Was denn anfangen? Wie meinst du das?", stotterte er verwirrt. Geduldig ließ sich Llywelyn wieder auf den Bürodrehstuhl sinken, erklärte die Zielrichtung seiner Erkundigung. "Nun, du möchtest doch Zeit mit mir verbringen, nicht wahr? Zusammen sein? Ich würde gern wissen, was du mit mir anfangen willst in dieser Zeit." "Nun ja!" Automatisch rieb sich Isolder über den Bartschatten unter seinem Kinn. "Mehr oder weniger das, was wir derzeit tun. Also reden, spazieren gehen, mal eine heiße Schokolade trinken." Er kramte hastig in seiner Erinnerung. "Wir können auch mal zusammen einen Film gucken. Oder ins Kino gehen. Schwimmen. Alles, was du magst!", flüchtete er eilends in eine globale Option. Llywelyn zog die Beine vor den Leib, umarmte sie und stützte das Kinn auf den Knien ab. "Das ist doch aber nicht alles, oder?", hakte er gründlich nach. Isolder blinzelte, spürte dann, wie ihm Hitze ins Gesicht schoss. Mutmaßlich konnte man das verspätet einsetzende Erkennen in seinen Augen deutlich lesen. "...ah so", murmelte er, "DAS meinst du." Ein Sphinx hätte Llywelyn nichts mehr beizubringen verstanden, so rätselhaft und ungerührt fixierte er Isolder. "Na ja." Verzweifelt hoffte der auf einen Kunden, irgendeine Ablenkung, um sich wieder zu fangen, denn SO lächerlich verlegen hatte er sich nicht mal bei der gemischten Premiere in horizontal-rhythmischer Bewegungstechnik aufgeführt! Aber keine Rettung nahte, die Ausflüchte zerstoben vor diesem undurchdringlichen, silbergrauen Blick. Seufzend stützte er sich schwer auf den Tresen auf, stierte auf die Resopalplatte, bevor er tapfer den Kopf drehte, um das Unvermeidliche hinter sich zu bringen. "Ich gestehe." Er lächelte zerknirscht. "Ich würde dir gerne auf DIESE Weise nahe treten. Unter deine Haut gehen." Um sich ein wenig schadlos zu halten angesichts der Emotionen, die wie Ameisenheere seinen Körper invahierten, ihn von innen nach außen krempelten, ohne Vorwarnung in seinem Magen randalierten, die Klimaanlage manipulierten, ihn heiß-kalt aufmischten, vollkommen aus der Bahn warfen! Llywelyn schwieg, aber Isolder konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nun eine gewisse, angespannte Wachsamkeit ausstrahlte. Deshalb ging er vor ihm in die Hocke, legte die Hände abstützend auf die schmalen Streifen Polsterung, die Llywelyn nicht okkupierte. "Hör mal, mittlerweile weiß ich, dass du es nicht magst, wenn man dich uneingeladen anfasst." Er plädierte in die silbergrauen Augen. "Ich werde es, Notfälle ausgenommen, nicht mehr tun. Ich frage dich und wenn du ablehnst, dann werde ich das akzeptieren. Ich will dich nicht beherrschen." »Ich werde es wie ein Mann wegstecken und darauf hoffen, dass sich gewisse Dinge mit zunehmendem Alter auswachsen!«, ergänzte er innerlich selbstironisch. Trotzdem hatte er Llywelyn noch nicht überzeugt, wie dessen nunmehr kritische Miene offenbarte. Allerdings zögerte der schöne Außerirdische, suchte wohl nach dem richtigen Anlauf. Für Isolder ein weiteres Argument dafür, ihn zu lieben, weil es immer eine Überraschung gab. "...ich verstehe nicht..." Llywelyn leckte sich unzufrieden über die kirschroten Lippen. "Ich kann einfach nicht begreifen..." Er bohrte sich förmlich in Isolders dunkelblaue Augen. "Warum? Warum willst du mich anfassen?" Spontan sprudelte Isolder heraus, "weil es sich gut anfühlt!" Bevor Llywelyn ihm vorhalten konnte, dass es sich mal wieder um eine egoistische Anwandelung handelte, die man als Bedürfnis auf den anderen projizierte, um sich selbst einen Wunsch zu erfüllen, hob er hastig die Hand, gebot jedem möglichen Einwand Einhalt. "Stopp! Ich meine damit nicht, dass es sich nur mich gut anfühlt. Es soll für beide ein schönes Gefühl sein." Dann kam ihm ein Geistesblitz, der unbedingt erprobt werden musste. Eifrig schoss er aus der Hocke hoch, gestikulierte halb über Llywelyn gebeugt. "Du kennst doch Handauflegen? Oder Shiatsu? Massagetechniken?" Beflissen und überzeugt von der Möglichkeit, in die winzige Bresche des Zweifels bei Llywelyn eine breite Schneise zu schlagen, baute er eilig seine Argumentation auf. "Sieh mal, die Haut ist unser größtes Organ. Darunter liegen die ganzen Nerven, die von elektrischen Impulsen gesteuert werden. Das ist eine ganz bestimmte Form von Energie." Auffordernd streckte er Llywelyn die Hand hin. "Wenn ich dir die Hand gebe, dann tauschen wir Energien aus." Unbeirrt von dessen abwartender, skeptischer Haltung preschte er weiter in die Erfolg versprechende Richtung. "Es muss dir nicht schlecht gehen, damit dir das Handauflegen helfen kann! Ein positiver Austausch ist noch viel besser! Ein Beispiel zu Demonstrationszwecken!", forderte er Llywelyn auf, "bitte stell dich doch mal einen Moment aufrecht hin, ja?" Abwartend löste Llywelyn tatsächlich die verknotenden Verrenkungen, platzierte die besockten Füße auf dem Industrieteppich und klappte nach oben auf. Isolder rieb unterdessen energisch die eigenen Handflächen aneinander, bis er förmlich die statische Aufladung bis in die Haarspitzen spürte. "Jetzt strecke mir deine Hände entgegen, so, dass die Handflächen zu mir weisen", bat er Llywelyn, der ihn misstrauisch inspizierte, dann aber artig mitspielte. Inzwischen glühten Isolders Handflächen, prickelten bis zu den Ellenbogen, mehr als bereit, die erzeugte kinetische Energie umzuwandeln und abzugeben. Flink presste er nun seine Handflächen auf Llywelyns, hakte seine Finger ein und verband ihre Hände fest miteinander. "Das spürst du doch, oder?" Unnachgiebig wollte er den Beweis führen. Llywelyn wurde merklich unruhig, trat von einem Bein auf das andere. Unbarmherzig dozierte Isolder weiter. "Du weißt ja, wie es heißt: ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Aber was ist ein Bild, das nur auf die Sehreize wirkt, gegen einen Reiz, der auf unser größtes Organ trifft?" Damit beugte er sich vor zu Llywelyn, dessen silbergraue Augen sich weiteten. Doch Isolder beachtete die schmale Grenzlinie genau, die Llywelyn ihm gezogen hatte, hauchte auf dessen Lippen. "Wenn ich dir sage, dass ich dich liebe", wisperte er guttural, im Bass schnurrend, "dann sind Worte nicht annähernd genug, um dir zu vermitteln, WIE ich fühle. Ein Kuss dagegen..." Er musste den Satz nicht beenden, denn Llywelyn riss sich heftig von ihm los, stolperte beinahe über den Bürodrehstuhl. Seine Wangen waren merklich gerötet, der Atem flog hastig dahin. Isolder zog sich zum Tresen zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. "Richtig gute Gefühle löst nur der passende Kontakt aus", ergänzte er leise. "Keine Ahnung, wie das bei den Zombies so läuft, aber ich glaube, das HIER ist auch wahrhaftig." »Und selbst wenn du nicht an Liebe glaubst und nur anatomisch gesehen über ein Herz verfügen solltest: DIESEN Beweis zu widerlegen, das gelingt dir nicht so einfach!« Llywelyn zupfte aufgewühlt an den Verbänden um seine aufgeschürften Handflächen, lief wie ein eingesperrter Tiger im Käfig auf und ab. Dabei schoss er immer wieder nervöse Seitenblicke zu Isolder, der sich strikt in Geduld übte. "Ich bin das nicht gewöhnt!" Llywelyn klang sogar ein wenig schrill. "Ich will nicht gezwungen sein, das immer auszuprobieren!" "Auszuprobieren?!" Bei Isolder klingelten die Alarmglocken hysterisch. "Wieso immer auszuprobieren?!" Doch Llywelyn ging nicht auf seine Frage ein, marschierte immer schneller auf und nieder. "Man stumpft ab, oder? Enteignet sich selbst? Man bildet sich ein, dass es gut ist, richtig? Spielt keine Rolle, bei wem, nicht wahr?" Erklärungsversuche, keine bitteren Anklagen. Plötzlich ging bei Isolder ein ganzer Kronleuchter in Flammen auf, detonierte förmlich in gleißender Helligkeit. "Moment mal!", versetzte er bedächtig, aber nur mühsam gebändigt vor argwöhnischem Groll. "Ist es das, was passiert ist? Hat dich gestern bei deinen Eltern jemand angegrapscht? Stammt daher der blaue Fleck?!" "Sie sind alle so, diese Zombies!" Llywelyn fauchte eisig, die Hände zu Fäusten geballt, stand nun stocksteif und still wie angewachsen. "Ich habe nichts getan, um ihn herauszufordern! Aber sie-SIE benehmen sich alle so! Tun's mit dem oder dem, spielt ja keine Rolle, ist ja MODERN!" In seiner herausgespienen Empörung hörte Isolder auch Verzweiflung. »Oje!« Mitgefühl reduzierte seine Wut. Ein wenig. "Was ist gestern passiert?", hakte er beharrlich nach. Llywelyn bebte, wieder gefangen in der Ausdruckslosigkeit seiner Gefühle. "So eine dumme Party!" Unerwartet heftig sprudelten die Worte aus ihm heraus, zwischen ohnmächtigem Zorn und aufgewühlter Verachtung. "Nur Zombies! Haben überall Dreck gemacht, geraucht, alles war so laut! Und dann wollte dieser...dieser..." Er würgte sichtbar. "... diese PERSON meine Kleider sehen! In meinem Zimmer!" Die silbergrauen Augen galvanisierten vor Tränen der Wut. "Ich wollte nicht! Ich WOLLTE das nicht! Hat mich angefasst! Einfach aufs Bett geschmissen!" "SO EINE POTTSAU!", entfloh Isolder donnernd, bevor er sich an seine Manieren erinnern konnte. Wie konnte jemand Llywelyns Sensibilität, sein Feingefühl so niederträchtig und gnadenlos ausnutzen?! Sein Ausruf hatte Llywelyn aus dem Konzept gebracht, der ihn verunsichert ansah. Verlegen grinsend, aber noch immer kochend versetzte Isolder betont leichthin, "spricht irgendwas dagegen, dass ich ihm die Fresse poliere?" Ein verzerrtes Lächeln irrlichterte wie ein Phantom über Llywelyns bleiche Züge. "Malefiz hat ihn verjagt." "Malefiz?" Isolder musste die Hände auf dem Rücken ineinander vergraben, um nicht der Versuchung zu erliegen, Llywelyn an sich zu ziehen, den Kummer aus dessen Gesicht zu küssen. "Die Katze, die mit mir im Haus wohnt", erläuterte Llywelyn, mit einem ungewohnten Lächeln. "Ich nenne sie Malefiz." "Erinnere mich daran, ihr eine Dose Katzenfutter zu spendieren!", flüchtete sich Isolder in Humor und registrierte beiläufig, dass es typisch für Llywelyn war, nicht von "seiner" Katze zu sprechen, die Malefiz "heiße". Sie gehörte sich vermutlich ebenso selbst wie ihr Zimmergenosse. "Ich konnte mich nicht rühren", flüsterte Llywelyn, den Blick auf den Teppich geheftet, deutlich von sich selbst enttäuscht. "Ich verstehe nicht, warum er mich einfach so angegriffen hat!" »Ich schon!« Isolder biss sich auf die Lippen. »Du bist ein Preis, mit dem sich jeder schmücken will. Es kümmert dich nicht, was andere von dir halten, wie du auf sie wirkst. Deshalb verstehst du es nicht.« "Llywelyn?", raunte er sanft, lenkte dessen Aufmerksamkeit auf sich. "Tut es weh? Hier?" Damit tippte er sich selbst auf das Herz. Llywelyn starrte ihn unbeweglich an. "Und hier?" Er berührte seine eigene Kehle. "Ist es auch unangenehm, nicht wahr? Das Atmen schmerzt. Die Augen brennen." Llywelyn zuckte nicht mit der Wimper. "Darf ich es lindern?" Sanft hob er eine Hand an. "Darf ich dir helfen?" Die Entscheidung wurde erst nach längerem Abwägen getroffen. Ein Widerstreit, der sich nur durch die tiefe Falte zwischen den goldenen Augenbrauen offenbarte. Dann nickte Llywelyn minimal. Geduldig hielt Isolder einen artigen Abstand, legte seine flache Hand einfach auf Llywelyns Herz, ließ Wärme und einen leichten Druck wirken, den Blick unverwandt in die silbergrauen Augen gerichtet. Er konnte erkennen, dass er auf dem richtigen Weg war, Erfolg hatte. "Erlaubst du mir, dich in die Arme zu nehmen?" Wie oft hatte er sich diese Regung verkniffen? Zu seiner Begeisterung ergriff Llywelyn die Initiative, überwand steif die Distanz zwischen ihnen. Isolder schmiegte sich förmlich in die angespannte Gestalt, hielt sie unerschütterlich und warm. Bevor Llywelyn unruhig werden konnte, sich eingesperrt fühlte, gab er ihn langsam frei. "Ist es etwas besser geworden?" Den Kopf abgewandt nickte Llywelyn stumm. Ein vereinsamter Kunde betrat die Videothek, zog Isolders widerwillige Aufmerksamkeit auf sich. Er wurde um Unterstützung gebeten, musste Llywelyn allein hinter dem Tresen zurücklassen, um in den Regalen zu assistieren, bis das abendliche Vergnügen auch wirklich garantiert war. Endlich waren sie wieder allein. Llywelyn kauerte wieder in der gewohnten Päckchen-Haltung auf dem Bürodrehstuhl, in Gedanken versunken, den Blick in die Ferne abschweifend. "Ich nehme an", Isolder räusperte sich, "dass du in den kleinen Ort da, von dem du erzählt hast, nicht belästigt worden bist, oder?" Stumm schüttelte Llywelyn den Kopf. "Haben deine Eltern auch da gewohnt?", konnte er sich nicht verkneifen nachzufragen. Das erschien ihm angesichts des Zombie-Status und der verräterischen Bemerkung, man tue es mit diesem oder jenem, unvorstellbar. Llywelyn holte keuchend tief Luft. Und noch einmal. Seufzte dann leise. So gefasst und traurig zugleich, dass Isolder selbst gern eine Hand-aufs-Herz-Heilung in Anspruch genommen hätte. »Llywelyn wirkt deshalb so unabhängig, weil er vermutlich immer alles mit sich allein hat ausmachen müssen!« Damit kannte er sich selbst zur Genüge aus. "Warte einen Moment, bitte!" Isolder ging in den Nebenraum, kramte in seinem Rucksack herum. Irgendwo musste noch einer der reduzierten Halloween-Riegel sein! Er fand ihn endlich, beäugte kritisch die zerknitterte Packung. Aber die paar Krümel würden schon nicht ins Gewicht fallen! Auf dem Tresen öffnete er die Verpackung, bot die Bruchstücke Llywelyn an. Der pickte sich einen Brocken heraus, lutschte Vollmilchschokolade ab. Nachdem sie schweigend die Zwischenmahlzeit beendet hatten, klappte Llywelyn die Bein-Palisade herunter, legte die Hände in den Schoß. Isolder hockte sich auf den Tresen, ihm gegenüber. "Früher", Llywelyn zupfte an seinen Fingern, eine unruhige Ablenkung, "haben wir im Ausland gelebt. Ich bin in Brüssel in den Kindergarten gegangen. Als ich dann zur Schule gehen sollte, sind wir nach Deutschland zurückgekehrt." Ein leeres Lächeln zuckte über seine kirschroten Lippen. "Dreimal sind wir umgezogen, von Osten nach Westen nach Süden. Als ich in die fünfte Klasse kam, eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern. Dieses Mal ging es nicht um neue Jobs woanders, sie wollten sich trennen. Oder auch nicht." Er seufzte abschätzig. "Das Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel lief damals schon. In den Sommerferien haben sie mich in eine Jugendfreizeit gesteckt. Sie wollten mir nicht sagen, dass sie das Haus gekündigt hatten, aber so dumm war ich nicht. Ich wusste schon, dass es keinen Ort mehr gab, an den ich zurückkehren konnte nach dem Ferienlager." Zum ersten Mal hob er den Blick zu Isolder auf, der mit wachsender Bestürzung und hitzigem Groll zuhörte. "Sie haben mich abgeholt, mit meiner Reisetasche voller schmutziger Wäsche, noch einen Koffer und zwei Umzugskisten dazu gestellt. Dann sind wir zu meinen Großeltern gefahren, die ich gar nicht kannte. Da haben sie mich abgekippt und sind für die nächsten sechs Jahre abgetaucht." Impulsiv streckte Isolder die Hand aus, zögerte dann, ob er sie nicht wieder zurückziehen sollte. Unerwartet schob Llywelyn seine Hand hinein, hielt einen leichten Druck aufrecht. "Ich habe bei meinen Großeltern auf dem Land gewohnt. Wir sind gut miteinander ausgekommen. Wenn ich meine Arbeit erledigt hatte, durfte ich immer tun, was ich wollte." Llywelyn blickte an Isolder vorbei. "Man konnte gut laufen. Keine Hindernisse, eben und glatt. Nicht so viele Menschen." Mit einem sichtlichen Ruck löste er sich aus der Erinnerung, kehrte zu Isolder zurück. "Kurz vor den Sommerferien sind sie dann gekommen. Ich sollte packen und mit ihnen in ihrem Haus leben. Wie eine richtige Familie." Gedankenverloren studierte er Isolders Hand in seiner eigenen. "Ich kann nicht mehr zurück. Das alte Haus ist verkauft, meine Großeltern sind in ein Altenheim übergesiedelt. Ohne mich wurde es ihnen zu beschwerlich. Es ist nichts mehr übrig. Schon wieder nicht." "Das ist wirklich übel", murmelte Isolder mitfühlend. Angesichts der Dinge, die er bisher über Llywelyns "neue Heimat" erfahren hatte, konnte er sich nicht vorstellen, wie der jemals heimisch werden sollte. Llywelyn hob den Kopf, lächelte verhalten. "Ich weiß." "Du kannst jederzeit zu mir kommen." Isolder rutschte vom Tresen, legte seine andere Hand um Llywelyns. "Wenn du genug hast vom Zombie-Palast! Wäre doch gelacht, wenn wir ein paar blöde Zombies nicht auf Abstand halten können!" Kämpferisch funkelte er auf Llywelyn herunter. "Aus dir wird nie, absolut NIEMALS ein Zombie! Du bist viel zu intelligent und aufrichtig!" Llywelyn erhob sich langsam, lächelte resigniert. "Aber irgendwann geht auch mir die Kraft aus", stellte er fest. "Irgendwann habe ich gar kein Gefühl mehr, weil sie alles enteignet haben." "Kommt nicht in die Tüte!", protestierte Isolder heftig. "Du kannst dir alles zurückerobern!" Er konzentrierte die silbergrauen Augen auf sich, appellierte flammend an Llywelyns Freiheitswillen. "Du MUSST dich nicht anfassen lassen! Du musst niemanden in dein Zimmer lassen! Du musst dich nicht an ihren Maßstäben messen! Dein Leben gehört dir, du bestimmst! Es gibt keinen Grund, ihnen gegenüber fair zu sein, wenn sie dich bloß runterziehen wollen in ihren Sumpf!" Ein Schmunzeln tanzte auf Llywelyns Zügen, weckte Erinnerungen in Isolder, an einen herrlichen Ausflug, bei dem Llywelyn sogar gelacht hatte. »Viel öfter!«, schwor er sich, »will ich dich fröhlich sehen! Du brauchst bloß ein bisschen Aufmunterung, dann zeigst du ihnen, was ne Harke ist! Oder ne Kettensäge!« Immerhin war Isolder weitläufig gebildet und kannte die einschlägigen Anti-Zombie-Waffen! "Ich mag es wirklich", lächelte Llywelyn, "mich mit dir zu unterhalten. Du bist sehr interessant. Ich möchte noch mehr über dich und von dir erfahren." Das war eine Offenbarung, die Isolders Gesichtszüge entgleisen, ihn vor Freude und Überraschung heftig erröten ließ. "Das lässt sich einrichten!", antwortete er gedehnt, aber er wusste, dass ein geradezu unanständig breites Grinsen in seinem Gesicht einbetoniert war. *~*8*~* Nach dem sehr aufschlussreichen, aber kaum betriebsamen Arbeitseinsatz begleitete Isolder Llywelyn ganz selbstverständlich zu dessen Wohnhaus. Sie schwiegen einvernehmlich, bereiteten sich beide auf eine mögliche Konfrontation mit Llywelyns Eltern vor. "Möchtest du, dass ich mit hineinkomme?" Isolder warf einen Blick auf die abweisende, unbeleuchtete Front des hochherrschaftlichen Baus. Da wickelte sich ein kleiner, schwarzer Schatten behaglich um seine Beine. "Nanu? Guten Abend, meine schöne Dame!" Lächelnd ging er in die Hocke, nahm Malefiz auf die Arme, die sich großmütig Streicheleinheiten gefallen ließ. Llywelyn betrachtete die Bernsteinaugen besorgt. "Haben sie dich auch gefüttert? Bist du ins Haus gekommen?" Malefiz malte mit dem Schwanz kleine, ruhige Figuren in die eiskalte Nacht. Um sie musste man sich wirklich keine Sorgen machen, sie kannte sich aus! Isolder lachte leise. "Ich glaube, deine Freundin weiß sich schon zu helfen." Dann sah er wieder hoch zu Llywelyn. "Nun, was meinst du? Mache ich alles noch schlimmer als potentieller Delinquent, wenn ich dir zur Seite stehe?" Nachdenklich studierte Llywelyn die dunkle Gebäudefront, übernahm dann Malefiz, die gnädig gegen diese Freiheit nichts einwand. "Danke schön." Er blickte Isolder ernst an. "Ich möchte nicht, dass sie wissen, wer mir hilft. Es geht sie nichts an, dass du mein Freund bist", stellte er eisern fest. "Tja." Ein wenig schuldbewusst, weil er durchaus Erleichterung verspürte, nicht mit Llywelyns merkwürdigen Eltern zusammentreffen zu müssen, zog Isolder eine Grimasse. "Sehen wir uns dann morgen? Kommst du zu mir?" "Das werde ich", versicherte Llywelyn. "Versprochen." "Dann...halt die Ohren steif..." Isolder zögerte. "Und...ruf mich an, wenn etwas ist, ja? Ich bin auf deiner Seite, komme, was da wolle." "Ist gut." Llywelyn lächelte nachsichtig, räusperte sich dann höflich, als Isolder sich halb abgewandt hatte, im Aufbruch begriffen. "Hast du nicht etwas vergessen?", erinnerte er ihn sanft, "den Gute Nacht-Kuss?" In einer Überschallgeschwindigkeitsdrehung kreiselte Isolder, bremste abgezirkelt, holte sich ein winziges Nicken als Einverständnis ein, bevor er Llywelyn zärtlich auf die Lippen küsste. "Gute Nacht und schöne Träume!", wünschte er überschwänglich, von dieser Gunst überwältigt. Llywelyn studierte ihn einen Moment, dann beugte er sich selbst vor, um Isolders Kuss zu kopieren. "Kein Meteorit wird dich erwischen, darum wirst du gut schlafen!", neckte er ihn sanft. "Ja...dann... bis morgen..." Widerwillig setzte sich Isolder in Marsch, drehte sich aber immer wieder um, winkte Llywelyn, der mit Malefiz auf dem Arm vor der Pforte stand, ihm nachsah. »Wie gut!«, seufzte er stumm, »dass ich nicht auf Sternschnuppen angewiesen bin!« *~*8*~* Llywelyn schob sich durch die Pforte, setzte Malefiz dann vor der Eingangstür ab, um aus dem geliehenen Parka seinen Schlüssel zu fischen. Leise ließ er sich selbst hinein, lauschte einen Moment konzentriert auf Geräusche. Diese drangen gedämpft aus dem hinteren Bereich des Hauses. Befriedigt folgte er Malefiz die Treppen hinauf zu seinem eigenen Zimmer. Es befand sich in der gleichen Unordnung, die bei seiner Flucht entstanden war. Malefiz miaute vernehmlich, ihr Äquivalent zu "so ein Saustall!" Llywelyn kicherte, als ihm Isolders Ausruf von der 'Pottsau' durch den Kopf schoss. Er schlüpfte aus dem Parka, öffnete seinen Rucksack, der unter ein niedriges Bauteil der offenen Garderobe gerutscht war und stellte erleichtert fest, dass niemand darin gewühlt hatte. »So weit, so gut!« Entschlossen sah er sich um. Fortan würde er die Dinge, die ihm sehr wichtig waren, bei sich tragen müssen! Als er zu seiner Zufriedenheit gepackt hatte, stellte er den Rucksack wieder ab, versetzte dem Schaukelstuhl auf Malefiz' Anordnung einen Stoß und wandte sich seinem Bett zu. Ohne viel Federlesens zog er das Bett komplett ab, wechselte die Bettwäsche. Erst danach kam es ihm nicht mehr besudelt und entweiht vor. Er duschte, schlüpfte in seinen Schlafanzug und blockierte die Zimmertür mit einem alten Stuhl, dessen Lehne er unter die Klinke schob. Dann kroch er ins Bett, wünschte Malefiz zufrieden eine gute Nacht. *~*8*~* Llywelyn bereitete sich auf die morgendliche Routine vor, verstaute Isolders Leihgaben in einer Tüte. Natürlich hätte er sie geziemender Höflichkeit entsprechend gern frisch gereinigt zurückerstattet, aber er wollte nicht, dass seine Eltern auf Ideen kamen. »Obwohl sie sich nur in Notfällen in die Waschküche verirren«, versetzte er spöttisch, befreit von dem selbst auferlegten Zwang, nachsichtig und tolerant zu sein. Malefiz spazierte auf der breiten Fensterbank herum, als Llywelyn sich eilig anzog. Fortan wäre es wohl klüger, sich ein Frühstück zum Mitnehmen einzupacken, denn umso früher und unbehelligter konnte er das Haus verlassen. Er steckte auch den ungeliebten Laptop ein, um später bei Isolder arbeiten zu können. Wenn seine Vermutung zutraf, würde man ihm nämlich in der Schule zusetzen. Gerade, als er mit einem eilig zusammengesuchten Frühstück, dem vollgepackten Rucksack und der aufgeblähten Tüte das Haus verlassen wollte, erwischte er seine Mutter, die Anstalten unternahm, den Inhalt der ungekennzeichneten Tüte, in der ihm Isolder seit dem ersten Dezember Geschenke und Gedanken verehrte, zu inspizieren. "Sie gehört mir!", stellte Llywelyn frostig fest, stellte seine Kleidertüte ab und streckte gebieterisch die Hand aus. "Also, Liebling!" Nur für einen Moment ertappt tadelte ihn seine Mutter mit erhobenem Finger. "So geht das wirklich nicht weiter! Erst zerkratzt deine Katze einem Gast den Kopf, und dann läufst du einfach so weg! Da hat jemand einen ganz schlechten Einfluss auf dich! Sogar dein Vertrauenslehrer meint das!" "Gib mir bitte die Tüte", wiederholte Llywelyn zischend. "Sie ist für mich bestimmt." "Du bekommst sie, wenn du mir verrätst, von wem diese Geschenke kommen!" Seine Mutter versteckte die Tüte in einem lächerlichen Versuch, ihn zu necken, hinter ihrem Rücken. "Außerdem finde ich, ich meine wir, dein Vater natürlich auch!, es nicht in Ordnung, dass du bei einem fremden Jungen übernachtest. Viola sagt..." Llywelyn riss nun endgültig der Geduldsfaden, nicht nur, weil er diesen schrillen, unsäglich albernen Tonfall nicht mehr ertragen konnte. Er stieß sich mit aller Kraft ab und preschte los. Seine Mutter kreischte, wich aus, ließ die Tüte fallen, die Llywelyn abfischte, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. In einer eleganten Pirouette nahm er auch die Kleidertüte wieder auf, funkelte die Frau an, die sich für seine Mutter hielt. Sie hatte ihn zur Welt gebracht, das stritt Llywelyn selbstredend nicht ab, aber danach erschöpfte sich ihre Mütterlichkeit in diesen egoistischen Zombie-Auftritten, erpresserisch und parasitär! Warum sollte er ihr gegenüber ständig Nachsicht walten lassen, sie mit Rücksicht behandeln, wenn sie ihm nicht im gleichen Maße begegnete?! "Wer mir was schenkt, geht dich überhaupt nichts an", hielt er ihr knapp und eisig vor, "und deine unsägliche Freundin hat sich wie eine läufige Hündin aufgeführt. Was diesen...diesen Kerl betrifft, darfst du ihm gern ausrichten, dass ich ihn wegen versuchter Vergewaltigung und sexueller Nötigung eines Minderjährigen anzeigen werde, wenn er mir noch EINMAL unter die Augen kommt." Damit zupfte er den Schal über die Nasenspitze, raste zur Schule. Er musste den Zombies und ihren Verbündeten zuvorkommen, bevor sie eine Razzia in seinem Schließfach durchführten, um an Isolders Geschenke zu gelangen! *~*8*~* Llywelyn entsorgte mit abweisendem Blick die abgenutzten Verbände in einem Mülleimer, ignorierte seine Klassenkameraden, die ihn mit scheelen Blicken musterten. Seit sich der Vertrauenslehrer seinetwegen ständig überschlug, war er nicht mehr ein bloßer Zähl-Schüler, sondern ein Objekt des Interesses. Und der Verärgerung. Llywelyn jedoch hatte genug andere Dinge zu erledigen, um sich derlei Befindlichkeiten anzunehmen. Sein Mobiltelefon, üblicherweise nur ein lästiges Gewicht im Rucksack, hatte ihm beim Versuch, Isolder mitzuteilen, er werde ihn früher treffen in der Videothek, die Textnachricht ausgespuckt, dass seine werten Eltern eine Familientherapiesitzung für den kommenden Donnerstag vereinbart hatten. Bei einem persönlichen Freund, der für sie seinen Terminplan umstellte! »Fix bei der Hand mit Nebelkerzen, die eine Eigenverantwortung verbergen«, urteilte Llywelyn nicht sonderlich überrascht. Er hatte ja das zweifelhafte Vergnügen gehabt, den zahlreichen Freunden und Bekannten seiner Eltern vorgestellt zu werden. Für ihn bedeutete diese Ankündigung allerdings, dass er selbst keine Zeit zu verlieren hatte. Rasch leerte er den Inhalt seines Schulschließfachs aus, pickte heraus, was er nicht länger hier aufbewahren konnte. "Ah, Llywelyn! Wir müssen miteinander reden!" Schon wieder näherte sich ihm der Vertrauenslehrer. "Wirklich, wir sind sehr besorgt um dein Wohlergehen." "Nein." Llywelyn schulterte seine zahlreichen Lasten, fixierte den Lehrer ausdruckslos. "Sie sind nicht besorgt, und es geht Ihnen auch nicht um mich. Sie wollen sich bloß von Ihren eigenen Problemen ablenken, indem Sie sich in das Leben anderer Leute einmischen. Aber ich bin nicht bereit, Ihr Ego aufzupolieren. Helfen Sie sich lieber selbst!" Mit diesem knappen, unverbrämten Ratschlag verließ er seine Schule. Unbedingt wollte er Isolder treffen, mit ihm reden! *~*8*~* "Ach... du meine Güte", murmelte Isolder, als Llywelyn beinahe in der Eingangstür steckenblieb, umständlich Tüten abstellte, damit er aus den Inlinern schlüpfen konnte. Er verriegelte rasch die neuralgischen Objekte, hechtete elastisch über den Tresen und kam seinem Freund zu Hilfe. "Hallo Llywelyn!" Unwillkürlich musste er grinsen. "Wow! Endlich siehst du wieder wie du selbst aus!" Damit komplimentierte er erfreut die halbe Punk-Aufmachung, die mit einem Ballonhut und dem weißen, extragroßen Tuchschal abgewandelt worden war. Llywelyn warf ihm einen überraschten Blick zu, sah an sich herunter und heftete die silbergrauen Augen wieder fragend auf Isolder. Der schüttelte bloß lächelnd den Kopf, sammelte die größte Tüte ein. "Ah, meine Sachen?", erkundigte er sich nach einem Blick hinein. "Hast du jetzt etwas Zeit? Können wir etwas Wichtiges besprechen?" Llywelyn pickte seine Habseligkeiten vom Industrieteppich. "Natürlich, bitte!" Isolder verneigte sich großspurig, in den dunkelblauen Augen Schalk blitzend. "Sei mein Gast!" "Nicht ich", korrigierte Llywelyn sachlich, "sondern Malefiz." *~*8*~* Kapitel 16 - Komplikationen Einigermaßen konsterniert lauschte Isolder mit vor der Brust gekreuzten Armen Llywelyns Schilderung von der Auseinandersetzung am Morgen und den Ereignissen danach in der Schule. "Deshalb", tippte der gerade bezeichnend auf seine Mitbringsel in Jumbo-Qualität, "darfst du mir keine Geschenke mehr an die Pforte hängen. Und ich muss die anderen Geschenke irgendwo unterbringen." Dabei sah er Isolder forschend an, der sofort vorschlug, sie bei sich zu verstauen, bis ihnen eine andere Lösung eingefallen war. "Ich weiß nicht, was sie vorhaben." Llywelyn erhob sich vom Bürodrehstuhl, tigerte wieder auf und ab, konzentriert, entschlossen. "Aber die Erfahrungen der Vergangenheit einkalkulierend würde ich nicht ausschließen, dass sie versuchen, mich irgendwie loszuwerden." Er blieb stehen, ballte die Fäuste. "Damit könnte ich mich arrangieren, keine Frage, aber was wird aus Malefiz?!" Seine silbergrauen Augen nahmen Isolder ins Visier. Er kaute nervös an seiner kirschroten Unterlippe. "Sie haben keine Vorstellung davon, wie man ein Haustier betreuen muss. Weil ich für Malefiz verantwortlich bin, fürchte ich, dass sie sie einfach an irgendwen verschenken könnten." Isolder überwand die Distanz, legte behutsam und nur hauchzart die Hand um Llywelyns Oberarm. "Das ist kein Problem. Wenn sie es bei uns aushält, nehme ich Malefiz zu mir. Mach dir darüber keine Gedanken." Leichter gesagt als getan, denn Llywelyn grübelte unentwegt, wollte alle Optionen erwogen haben, vorbereitet sein. "Ich könnte wohl beim Jugendamt um Unterstützung bitten, oder?", sinnierte er halblaut. "Würde man mich bei meinem Alter noch in ein Heim stecken? Für den Abschluss müsste ich wahrscheinlich die Schule wechseln." "Halt mal!", gebot Isolder, durchaus bestürzt, "so weit sind wir noch gar nicht! Glaubst du nicht, dass deine Eltern versuchen werden, sich irgendwie mit dir zu arrangieren, um den Skandal zu vermeiden?" Llywelyn studierte den Industrieteppich, dann sackten seine Schultern herab. "Ich weiß es nicht." Er hob den Blick, antwortete Isolder ernst. "Es fällt mir schwer, ihr Verhalten vorauszusagen." Grimmig straffte er seine hochgewachsene Gestalt. "Deshalb möchte ich auf alle Eventualitäten vorbereitet sein." "Nun ja", Isolder schüttelte die Beklemmung ab, "ich bin jedenfalls auf deiner Seite. Egal, was kommt, du kannst auf mich bauen." "Ich danke dir." Llywelyn lächelte so aufrichtig, dass es Isolder erst recht einen Stich versetzte, denn er war sich nur zu bewusst, dass Llywelyn auch allein diese Krise bewältigen könnte. "Sag mal", um das emotionale Unwohlsein abzuschütteln, rückte er etwas näher an Llywelyn heran, "darf ich den Bären machen?" Der runzelte perplex die Stirn, zog die Nase kraus. "Ich verstehe nicht? Den Bären machen?" "Ich zeige es dir", bot Isolder großmütig an, "aber bitte nicht böse sein, ja?" Abwartend verfolgte Llywelyn, wie er sich ihm näherte, die Arme behutsam um ihn legte, um ihn dann mit tiefem Grollen fest an sich zu drücken, unterzufassen, so hoch zu stemmen, dass nicht mal die Zehen mehr Kontakt zum Teppichboden hatten! Mal ließ er rechts, mal links eine Touchierung zu, brummte donnernd. Hoppelte mit Llywelyn im Kreis, der ermutigend geduldig die wilden Gunstbezeugungen tolerierte. Endlich stellte Isolder Llywelyn wieder auf die Füße, zog sich einen Schritt von ihm zurück, damit er nicht allzu großen Druck auf Llywelyns persönliche Sphäre ausübte und ihn verschreckte. "JETZT fühle ich mich ein bisschen besser!", feixte er herausfordernd. "Was ist mit dir?" Llywelyn lächelte. "Es war ein wenig...ungestüm. Aber mir geht es gut." Dann zeichnete sich plötzlich die Falte zwischen seinen goldenen Augenbrauen ab. "Oh! Willst du damit andeuten, dass du meinetwegen in Schwierigkeiten bist? Hat man dich bedroht?" Unerwartet verdüsterte sich seine Miene, spannte sich der Körper kämpferisch an. "Nein, keine Sorge!" Isolder lächelte becirct, weil sich Llywelyn für ihn aufputschte. "Ich habe bloß ständig daran gedacht, was für eine Szene dir deine Eltern machen könnten. War doch ein bisschen feige, gestern." Verlegen rieb er sich unterm spitzen Kinn. "Ich hätte darauf bestehen müssen, bei dir zu bleiben." "Oh, du warst dabei", versicherte ihm Llywelyn schelmisch, versetzte Isolders Kreislauf in Turbulenzen. "Ich habe an dich gedacht. Besonders deine Bezeichnung für diesen Grapscher hat mich angefeuert!" Dazu wollte sich Isolder lieber nicht äußern. "Und nun?", erkundigte er sich, strich betont beiläufig eine weißblonde Strähne von Llywelyns Schulter. "Was fangen wir jetzt an?" "Wenn es dich nicht inkommodiert, würde ich gerne meine Hausarbeiten erledigen." Llywelyn präsentierte den Laptop. "Derzeit ist das ja in der Schule nicht möglich." "Dann mach's dir gemütlich!", offerierte Isolder den Nebenraum. "Wenn du genug davon hast, sag mir Bescheid." "Das werde ich." Llywelyn streckte ihm eine Hand entgegen. Zunächst warf ihm Isolder einen verwirrten Blick zu, ergriff sie aber und drückte sie leicht. "Energieaustausch", flüsterte Llywelyn ihm schüchtern zu. »Waaaahuuuuuuuuuu!«, jodelte Isolder triumphierend, als er sich kurz darauf allein hinter dem Tresen befand. »Mein süßer, verrückter, absolut hinreißender Außerirdischer, du magst zwar nicht an die Liebe glauben, aber, verflixt-Potzblitz-Himmel noch mal!, die Liebe glaubt verdammt intensiv an dich!« *~*8*~* Llywelyn erledigte zügig die Arbeiten, die er sich selbst auferlegt hatte, saß dann einen Moment lang still und dachte sehr konzentriert nach. Obwohl es einen anderen Anschein nach außen hatte, plante er üblicherweise nicht besonders weit in die Zukunft. Man konnte ja nicht voraussehen, was sich noch alles ereignen würde! Diese Praxis würde er nun wohl oder übel ändern müssen. Kühl kalkulierte er die möglichen Perspektiven. »Wenn sie mich nicht gleich heraussetzen, dann aber zweifellos direkt nach dem Abschluss. Was soll ich danach tun? Es wäre wohl besser, sich vorausschauend nach einer Tätigkeit umzusehen, die während der Ausbildungsphase ein Entgelt entrichtet, von dem man sich über Wasser halten kann. Demnach fällt ein Studium flach. Möglicherweise könnte ich ein Diplom oder einen Bachelorgrad erreichen? Wie viel Geld wäre dafür wohl notwendig?« Unbehaglich kam er zu dem Schluss, dass er trotz seiner bereits erheblichen Lebenszeit von 16 Jahren gar keinen Stand in der Gesellschaft hatte, deshalb auf Almosen und Vertrauensvorschuss angewiesen war. Selbst wenn er auf alles Überflüssige verzichtete, würde er doch ein stetes Einkommen benötigen, um sich und auch Malefiz irgendwie über Wasser halten zu können! Unruhig erhob er sich, lief in dem kleinen Nebenraum auf und ab, doch das änderte nichts daran, dass die Fakten blieben, wie sie waren. Auch mit langem Nachdenken gab es nichts zu deuteln: er müsste sich beugen, um Hilfe zum Überleben zu erhalten. Autarkie und Freiheit würden dann wohl für eine Weile nur Wunschträume bleiben. Als er gerade einen Anflug abgrundtiefer Verzweiflung in dieser wenig aussichtsreichen Lage ausleben wollte, streckte Isolder kurz den Kopf hinein, um nachzuschauen, wie es ihm ging. "Stimmt was nicht?" Sofort trat er ein, als er Llywelyns Körpersprache entschlüsselte. "Fehlt dir was?" "Nichts weiter", winkte Llywelyn fahrig ab, starrte ins Leere, während seine Finger sich hektisch kneteten. "Wenn du so weitermachst, hast du sie bald durch", bemerkte Isolder gespielt spöttisch, doch die Pose verriet sich selbst durch seinen besorgten Blick. Die Hände, die gebändigt in halber Höhe innehielten, weil sie spontan Halt anbieten wollten. "Das wird schon wieder!", besänftigte Isolder ihn aufmunternd. "Warte erst mal das Gespräch in zwei Tagen ab. Kann doch sein, dass der Seelenklempner ihnen einen Einlauf verpasst, dass sie nicht mehr wissen, wo ihnen die hohle Rübe steht!" Llywelyn schenkte ihm einen zweifelnden Blick, doch da verlangte Kundschaft nach Isolders fachkundigem Rat, sodass sie die Unterhaltung vertagen mussten. Einen Erfolg hatte Isolder bereits erzielt: Llywelyn pflichtete ihm bei, dass es nicht weiterführte, wenn er sich jetzt den Kopf über die Dinge zerbrach, die noch unklar waren. Er ließ sich wieder auf dem Bürodrehstuhl nieder und erlegte sich Entspannung auf. Als er die Hände in die Taschen schieben wollte, entsann er sich seines vernachlässigten USB-Sticks, der auch als Langzeitgedächtnis fungierte. Wenn er möglicherweise den Laptop zurückgeben musste, wäre der USB-Stick seine einzige Chance, liebgewonnene Reisen in fremde Literatur aufzubewahren. Kurzentschlossen stöpselte er, um den Inhalt zu überprüfen. Was durfte er auf gar keinen Fall verlieren, weil er es immer wieder las? Was war einfach zu ersetzen, grundsätzlich immer verfügbar? Und was konnte, in einem Notfall, geopfert werden? Als er schweren Herzens diese Kategorien gebildet hatte, um sich für den Ernstfall gewappnet zu zeigen, verlockte ihn die Versuchung, sich aus der Realität zu verabschieden, einfach abzutauchen und zu schmökern. *~*8*~* Isolder nutzte eine kurze Pause, als die Kundschaft nicht gerade geballt im Dutzend hereinschneite und sich mit äußerst vagen Beschreibungen von gewünschten Filmen bei ihm unbeliebt machte, lunzte in den Nebenraum. Llywelyn klebte mit der ihm eigenen gebannten Konzentration am luxuriös großen Bildschirm des Laptop, versunken in eine andere Welt. Wieder einmal traf es Isolder überraschend, dass Llywelyn wirklich auf ungewöhnliche Weise schön war. Und ganz allein, mit sich selbst, glücklich. Er schluckte das bitter-süße Gefühl herunter, lehnte die Tür wieder an, wollte seinen Freund nicht stören. »Also eine kleine Leseratte«, stellte er versonnen fest. »Möchte wissen, was er wohl gern liest!« Llywelyns erste Antwort bei ihrem Kennenlernen war doch ein wenig zu global gewesen, um zu überzeugen. Die Frage beantwortete sich ihm, als er nach Dienstschluss in den Nebenraum trat, keineswegs irritiert durch Llywelyns ununterbrochene Lektüre. "Wir schließen jetzt!", trällerte er jovial, zwinkerte Llywelyn zu. "Glaubst du, dass du dich von was auch immer losreißen kannst?" "Ja", antwortete Llywelyn ihm ernsthaft. "Ich kenne ja das Ende bereits." "Was ist das überhaupt?" Neugierig näherte sich Isolder, entsann sich dann seiner guten Manieren. "Darf ich einen Blick darauf werfen?" Llywelyn zögerte einen Augenblick, nickte dann und drehte den Laptop zu ihm. "'Der nächste Cop-eine Fake-Fan Fiction'", las er halblaut. "Um was geht es denn da?" Böhmische Dörfer, mutmaßlich. "Erzählungen." Llywelyn sammelte seine Habseligkeiten ein, bevor er den USB-Stick abnabelte. "Zu Originalen. Deshalb Fan Fiction." Seine Schultern zuckten anmutig. "Hobbyautoren stellen ihre Werke ins Netz zur freien Verfügung." "Aha." Isolders gepiercte Augenbraue zuckte. "Und bei der Geschichte geht es um Polizisten? Ein Krimi?" Zu seiner Begeisterung färbten sich Llywelyns Wangen dezent ein. "...nicht direkt. Tendenziell...eher..." "Ja?" Hellhörig und sehr amüsiert pirschte sich Isolder heran, baute sich frech vor Llywelyn auf, um in die silbergrauen Augen zu starren. "Eher wie?" "Nun ja, es geht um zwischenmenschliche Beziehungen", wich Llywelyn ihm aus, verstaute den Laptop hastig. "Aha." Isolder wiederholte sich in einem dumpfen Kommentar, bevor er feist grinsend zuschlug. "Also Liebesgeschichten? Die du liest?!" "Warum nicht?!" Llywelyn funkelte ihn an, räusperte sich dann, um seine Aufregung zu kaschieren. "Ich kann mich darüber informieren und mir dann selbst ein Urteil erlauben! Außerdem geht es um die Wahrnehmung, die ja ganz unterschiedlich ist, so von Mensch zu Mensch." Isolder schmunzelte und hob entwaffnend die Hände an. "Ich necke dich nur ein bisschen! Also liest du tatsächlich gerne?" Llywelyn nickte entschieden. Es gab ja keinen Anlass, diese favorisierte Freizeitbeschäftigung zu kaschieren! "Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich das auch gern machen, aber meistens reicht es bloß für den Schulstoff und den üblichen Schriftverkehr." Isolder strengte sich an, Llywelyn versöhnlich zu stimmen. "Ich erinnere mich, dass in deinem Zimmer viele Bücher standen." "Die gehören mir nicht." Llywelyn rüstete sich zum Aufbruch. "Sie waren bereits im Zimmer oder sind mir später aufgenötigt worden." "Also beschaffst du dir elektronischen Nachschub, hm?" Um Schadensbegrenzung bemüht, weil er schon wieder ein Fettnäpfchen voll getroffen hatte, hielt er ihm die Tür auf, apportierte selbst die große Tüte mit seiner Kleidung. Llywelyn marschierte voran, drehte sich dann aber vor dem Eingang zu ihm um, immer noch in den gewohnten Clogs. "Kennst du den Spruch, dass man den Leuten nur bis zur Stirn sehen kann, aber nicht in den Kopf?" "Hmm", nickte Isolder Zustimmung. "Mit Büchern", Llywelyn glitt aus den Clogs und schlüpfte in seine Inliner, "kannst du zwar nicht IN ihre Köpfe schauen, aber AUS ihnen heraus." *~*8*~* Es hatte angefangen, in feuchten Flocken zu regnen. Kein richtiges Schneien, eher das traurige Vorgeplänkel zu unangenehmen Schneeregen, der sich rasch in knatschig-patschigen Matsch verwandeln würde. Schweigend marschierten sie zu Llywelyns Elternhaus, beide in ihre eigenen Gedanken versunken. Isolder fragte sich, ob ihn vielleicht ein Empfangskommando erwartete, das nur darauf lauerte, den lästerlichen Einfluss eines mutmaßlichen Delinquenten ein für alle Mal zu unterbinden. Llywelyn dachte an Malefiz und die Möglichkeit, dass seine Eltern vielleicht einmal ganz normal und vernünftig gewesen sein konnten. Was hatte sie in Zombies verwandelt und wichtiger noch, wenn er gefährdet war, auch diesem Schicksal anheim zu fallen, konnte man es irgendwie verhindern? Wie gewohnt brannte die Fensterfront nicht, sodass das große Haus trotz der unangenehmen, nasskalten Witterung nicht einladend wirkte. "Möchtest du, dass ich dich begleite? Die Schuld auf mich nehme?" Isolder studierte Llywelyn besorgt, so vollgepackt mit Rucksack und Tüten, als müsse er bald ohne Obdach mit dem auskommen, was er tragen konnte. "Du trägst an gar nichts die Schuld", versetzte Llywelyn streng, warf ihm aus den silbergrauen Augen einen tadelnden Blick zu. "Es gibt also keinen Grund, sich ihren lächerlichen Vorwürfen auszusetzen." Er wandte den Kopf zum Haus, betrachtete es kritisch. "Ich werde ihnen bis Donnerstag möglichst aus dem Weg gehen, als Übung für die Zeit danach." Impulsiv strich Isolder über eine glänzende, weiß-goldene Strähne, die auf der Schulter ruhte. "Das kriegen wir schon hin! Wird alles gut!" Llywelyn kehrte sich zu ihm um, die goldenen Augenbrauen mokierend gelupft. Ein ungewohnt lebendiges Mienenspiel im Vergleich mit der ausdruckslosen Maske, die er sonst präsentierte. "Spreche ich etwa mit Papa Schlumpf?" "Nein! SO war das nicht...!" Beschämt und ertappt lief Isolder rot an. "Ich wollte dich bloß aufheitern, nichts weiter!" Nun, wenigstens hatte er Llywelyn ein Schmunzeln entlockt! Dafür konnte man sich auch schon mal blamieren. Zumindest gelegentlich. "Du machst dir Sorgen", stellte Llywelyn leise, bedächtig fest. "Meinetwegen." Das konnte Isolder leider nicht von sich weisen. Wie sollte man auch stillhalten, wenn jemand, den man so sehr mochte, in ernsthaften Schwierigkeiten steckte?! Selbst wenn Llywelyn durchaus fähig war, den Baron Münchhausen-Trick zu vollführen und sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zog! Der streifte sich nun aber einen Handschuh ab, berührte mit der Fingerspitze eines milchweißen Zeigefingers Isolders vernarbte, gepiercte Augenbraue, glitt dann mit allen Fingerspitzen schmetterlingsgleich, nur eine Ahnung von Kontakt, über dessen Schläfe hinunter zur Wange. Isolder fasste zu, legte die eigene warme Hand über Llywelyns, schmiegte sich an ihre elegante Fläche. Dann schob er die eigenen Finger zwischen Llywelyns, pflückte dessen Hand sanft ab, um einen Kuss in die Fläche zu brennen. Dabei konnte er die Augen nicht von Llywelyns heben, verlor sich im Silbergrau, dem großen Kontrast zur hellen, bleichen Haut. Er beugte sich vor, ein wenig benommen vom Trommeln in seiner Schläfe, dem Puls geschuldet. Er murmelte, "...gute ... Nacht?", fixierte sich auf die kirschroten Lippen, die allein Llywelyn perfekt zu Gesicht standen, eine liebreizende Versuchung darstellten, sie zu kosten. Als Llywelyn ihm nicht auswich, schöpfte er Mut, sich willkommen zu fühlen, küsste ihn sanft, mit leichtem Druck, spürte die ebenso zurückhaltende Antwort. »Mehr!«, winselte seine Libido, verpasste seinem Anstandsgefühl einen heftigen Tritt vors Schienbein, wollte unbedingt Beachtung finden. »Bloß ein bisschen Knabbern! Und hier mal anstupsen, ganz vorsichtig!« Isolder konnte nicht widerstehen, wollte die Grenzen seiner Freiheit ausloten. Behutsam glitt er mit der Zungenspitze über die weiche Haut, veränderte den Winkel seines Kopfes unauffällig, fing zärtlich Llywelyns Unterlippe ein. Der verpasste ihm keine körperlichen "Denkanstöße" oder stieß ihn angewidert von sich. Stattdessen grub sich die freie Hand Halt suchend in dem Stoff seiner Jacke. Sie wiederholten einige Sequenzen, bis Llywelyn sich energisch von ihm abstieß, wegrollte, nach Atem rang. Isolder selbst musste blinzeln, fassungslos angesichts der Entwicklung. Ein paar lumpige Küsschen und ihm ging die Pumpe, als könne er gleich Radieschen von unten begucken! "Alles in Ordnung?", fragte er rau, schüttelte die Verwirrung ab. Llywelyn warf ihm einen sphinxenhaften Blick über die Schulter zu, studierte ihn so eingehend, dass Isolder hilflos die Augenbrauen anhob. »Oh oh...« Dräute da schon wieder Ungemach?! Hatte er den Bogen überspannt?! "...bist du sicher?" Llywelyn bewaffnete sich mit seinen Habseligkeiten, die er achtlos abgestellt hatte. "Dass ich es kann? Mir es wieder abgewöhnen?" Ratlos rieb sich Isolder den Bartschatten, bis der imaginäre Groschen fiel. "Klar!", verkündete er großspurig, traurigerweise ehrlich, aber deshalb keineswegs ohne Zuversicht. "Sicher geht das! Wenn du es willst." DAS war ein Köder, eine Angel nach Zusagen und Komplimenten. Aber niemand zupfte daran, noch wollte der Fisch nicht Beute werden! Also legte Isolder nach. "Willst du denn?" Llywelyn grübelte kurz, schüttelte den Kopf. "Nein. Noch nicht." »Mann, DA habe ich aber noch mal Glück gehabt!«, übte sich Isolder in Zynismus. Ein nachsichtiges Lächeln machte ihn darauf aufmerksam, dass Llywelyn ein guter Beobachter war, vermutlich die verräterischen Gedanken aufgefangen hatte. "Das ist gut. Meine ich. Sehr gut sogar!", behauptete Isolder steif, gab dann die Pose der zu Unrecht verdächtigten Unschuld auf. "Na schön, du hast mich erwischt. Ich finde den Gedanken absolut grässlich, dass du dich wieder 'entwöhnen' könntest!" Amüsiert zwinkerte ihm Llywelyn zu. "Und ich finde es beruhigend, dass die Chancen auf einen Meteoritenhagel, der uns tödlich treffen könnte, ausgesprochen gering sind. So haben wir doch beide etwas, an dem wir uns orientieren können." "Scherzkeks!", grummelte Isolder mit düsterer Miene, schüttelte den Kopf. "Du willst mich wohl triezen, wie?" Llywelyn kicherte. "Es ist eben sehr anregend, wenn du dich echauffierst." DAS war ein Kompliment, wie es Isolder noch nie gehört hatte. Er staunte noch, als Llywelyn ihn mit einem sanften Schubs Richtung Heimat verabschiedete. *~*8*~* Seine Umsicht war vergebens, denn kaum hat sich Llywelyn ins Haus eingelassen, flammte grell die Beleuchtung auf und seine Eltern standen Spalier. Hatten sie vielleicht auch noch mit Nachtsichtgeräten auf der Lauer gelegen?! "Guten Abend", wünschte er frostig und hatte den unerfreulichen Verdacht, dass SEIN Abend nicht mehr diese Qualität haben würde. "Was hast du so lange gemacht?!" Forsch baute sich sein Vater vor ihm auf. Llywelyn überragte ihn allerdings und war durch derlei Possen nicht einzuschüchtern. "Hausaufgaben erledigt und gelesen", antwortete Llywelyn gleichmütig, streifte Schal, Ballonhut und Handschuhe ab, wickelte sich aus seinem ärmellosen Ledermantel. "Aber NICHT in der Schule!", triumphierte sein Vater. Was Llywelyn gleichsam bedeutete, dass seine werten Erzeuger sich mit dem Vertrauenslehrer kurzgeschlossen haben mussten. "Nein", pflichtete Llywelyn höflich bei, nicht willens, weitere Auskünfte zu erteilen. "Du darfst uns nichts verheimlichen!", mischte sich seine Mutter schrill ein. "Wir haben nachgefragt! Du bist noch minderjährig und deshalb geht uns alles etwas an! Wenn du in schlechte Gesellschaft gerätst, dann müssen wir intervenieren! Das gehört zur Aufsichtspflicht." »Und hört sich an wie auswendig gelernt«, schlenderte ein maliziöser Gedanken unbeschwert und unbeleckt von Manieren und schuldigem Respekt durch seinen Kopf. "Schlechte Gesellschaft?", wiederholte Llywelyn höflich, die silbergrauen Augen jedoch blitzten zornig. "Die Schule hat uns informiert, dass dich gestern ein zwielichtiger Typ abgeholt hat", begehrte sein Vater gegen die kühle Haltung auf. "Du nimmst doch nicht etwa Drogen?!" »Eine lächerliche Vorstellung«, kommentierte Llywelyn stumm, der zwar nicht über die Preise derartiger Transaktionen informiert war, aber stark bezweifelte, dass man sich mit 20 Euro Taschengeld im Monat solche Extravaganzen leisten konnte. "Also bist du doch in schlechter Gesellschaft!", folgerte seine Mutter aus seinem Schweigen unverdrossen. "Und wer schickt dir diese Briefe?! Was ist da drin, hmm?" "Das geht dich nichts an, da die Briefe nicht an dich gerichtet sind", gab Llywelyn gleichmütig zurück, entschlossen, sich nicht in Rage versetzen zu lassen. Diese lächerliche Inszenierung von elterlicher Fürsorge stieß ihm zwar sauer auf, war aber auch zu erbärmlich, um solcher Aufregung wert zu sein. "Wir werden andere Saiten aufziehen!", drohte ihm sein Vater. "Du wirst nicht mehr in solcher Gesellschaft durch die Gegend ziehen!" "Ah nein?", schnurrte Llywelyn, die Fäuste geballt, ein gefährliches Lächeln auf den kirschroten Lippen. "In welcher Gesellschaft werde ich mich dann befinden? In der, die ihr mir aufnötigt? Wo sich eure so genannten Freunde nicht scheuen, mich sexuell zu belästigen? Diese Art von Gesellschaft?" Für einen langen Moment erstarrten sie zu einem Stillleben, wie vom Blitzschlag gebannt, bevor der Donnerschlag sie wieder rühren konnte. Dieser Donnerschlag jedoch war ein hastiges Plappern. "So ein Unsinn! Peter hat gesagt, dass du da was missverstanden hast!" Llywelyn wandte sich ab. Ihn begann diese Unterhaltung zu langweilen. Wirklich schlechtes Theater! "Dann will ich hoffen", wandte er sich über die Schulter an seine Mutter, "dass ER meine Botschaft verstanden hat. Sonst wird sie ihm zweifellos sein Anwalt erklären." "Wir sind noch nicht fertig!", trompetete sein Vater, als Llywelyn die Treppe hinaufstieg. "Oh, lasst euch von mir nicht aufhalten", bemerkte der süffisant. "Ich werde nicht weiter stören. Gute Nacht allerseits!" Angesichts dieser vollkommen unbekannten Frechheit blieb er für den kurzen Rest des Abends tatsächlich unbehelligt. *~*8*~* Während der Unterricht, in Aussicht auf die bevorstehenden Weihnachtsferien, nur noch mit halber Kraft dahinplätscherte und lediglich durch Klassenarbeiten eine Abwechslung erlebte, schweiften Llywelyns Gedanken ab. Schon einmal hatte er sich in einer kritischen Situation befunden, damals, in dem verhassten Jugendlager. Abgeworfen wie lästiger Ballast, ohne Heimat und ohne eine Person, von der er sich Unterstützung erhoffen konnte. Stattdessen forderte man von ihm, sich mit Lächerlichkeiten zu beschäftigen, die Gesellschaft von Personen zu ertragen, die ihm vollkommen gleichgültig waren und deren Bekanntschaft er nicht machen wollte. Als ohnehin distanzierter, abwartender Charakter war es ihm nicht schwergefallen, sich zu panzern, eine Rüstung anzulegen, die mit unnachgiebiger Härte alles abprallen ließ, das ihn zu verletzen drohte. Er hatte sich gewappnet mit Höflichkeit, Schweigen und Ausdruckslosigkeit hinzugefügt und sich mit Selbstisolation unangreifbar gemacht. Wurde für alle zum Fremden, aus freier Entscheidung, willentlich. Lange, fast drei Jahre hatte es gedauert, bis sich eine gewisse Vertrautheit zu den fremden Großeltern einstellte, man sich nicht nur aneinander gewöhnte, sondern Wohlwollen entwickelte. »Ja, als ich wirklich sicher war, dass sie mich nicht wieder abholen, rausreißen und irgendwohin verpflanzen!«, grollte er innerlich. Aber jetzt war er kein Kind mehr, das vor Schreck erstarrte und verstummte. »Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.« Dieses Mal würde er sich wehren! »Und Isolder ist ja auch noch da.« Dieser Gedanke schmiegte sich wie eine warme, flauschig-kuschelige Decke in das Tohuwabohu in seinem Kopf. Obwohl er es sich eigentlich untersagte, zeichnete sich doch ein Lächeln auf seinen Lippen ab, und er verbarg sie rasch hinter einer aufgestützten Hand. Ihm konnte man vertrauen, er war zähe und unerschrocken. Da nahm es sich gar nicht mehr so schlimm wie zu Beginn aus, dass Isolder in ihn verliebt war. *~*8*~* "Hallo, Llywelyn!" Isolder strahlte, als er Llywelyn in dessen flammendem Ensemble am Eingang bemerkte. Mit müheloser Leichtigkeit hechtete er über den Tresen und durchquerte in fröhlichem Laufschritt den Gang, um ihm sehnsüchtig-forsch die Hand hinzustrecken. "Hallo, Isolder", grüßte Llywelyn ihn lächelnd, ergriff seine Rechte jedoch nicht wie zum Gruß, sondern schob die Linke hinein. Überdeutlich grinsend, beinahe die Ohren erreichend zuckelte Isolder nun beschwingt und händchenhaltend mit ihm zum Tresen zurück. "Wie war dein Tag, Schatz?", erkundigte er sich neckend, ignorierte die neugierigen Blicke zweier Mädchen. Llywelyn lachte leise. "Du wirst es nicht glauben, aber meine hochgeschätzten Lehrer haben doch versucht, mich in der Schule zu behalten! Ich musste aus einem Fenster im ersten Stock auf das Vordach klettern, um ihnen zu entwischen!" "Du hast WAS getan?!" Erschrocken kreiselte Isolder abrupt herum, starrte ihn an und suchte, natürlich!, sofort nach irgendwelchen Verletzungen. Llywelyn schmunzelte. "Papa Schlumpf, es geht mir gut. Ein wenig Geschick darfst du mir auch zutrauen." Prompt lief Isolder rot an. "Also wirklich! Man wird sich ja wohl noch sorgen dürfen!" Eine milchweiße Hand strich ihm hauchzart über die Wange. "Das darfst du selbstverständlich, und ich bedanke mich." Isolder ging die heiße Luft der Empörung aus wie einem geplatzten Luftballon. Er schrumpfte förmlich in sich zusammen, besiegt von einem kecken Zwinkern und einer sanftmütigen Replik. Er musterte Llywelyn streng, der noch immer vertraut seine Hand hielt. "Bevor ich dir ein heutiges Geschenk überreiche", grummelte er bissig, "sag mir doch bitte: wie groß sind diese Meteoriten üblicherweise? Ich habe nämlich verdächtig das Gefühl, als hätte mich doch so eine verdammte Sternschnuppe vor ein paar Wochen heftig am Schädel erwischt!" Llywelyn grinste spitzbübisch, prustete dann in größtem Vergnügen heraus. MEHR wollte Isolder gar nicht erreichen. Für den Moment. *~*8*~* Nachdem Isolder Llywelyn von der Lektüre einiger Kurzgeschichten "entwöhnt" hatte mit Hilfe von Cary Grant und Katherine Hepburn in gleich zwei Screwball-Comedies, waren sie beide, obwohl nur einer von ihnen das Vergnügen hatte, die Streifen auch anzusehen, sehr gut gelaunt, um nicht zu sagen aufgekratzt. Vielleicht auch, weil sie sich am nächsten Tag nicht würden sehen können. Isolder erinnerte sich schmerzlich daran, als er seinen Rucksack packte und zufällig sein heutiges Geschenk in die Hände nahm, das er wie alle anderen auch für Llywelyn bei sich verwahrte. "Glaubst du, ich könnte es Malefiz als Botin anvertrauen?", scherzte er melancholisch. "Immerhin kann ich es dir ja nicht bringen." "Freitag", wisperte Llywelyn, fasste ihn unerwartet kräftig am Arm. "Am Freitag komme ich. Ganz bestimmt." Sein nervöser Tonfall, die erstaunliche Geste, das bestürzte Isolder. Hatte er einfach zu unbedarft angenommen, dass Llywelyn ihn grundsätzlich nicht vermisste? "Natürlich. Ich freue mich!", besänftigte er ihn eilig, glitt wieder in Papa Schlumpf-Modus, eine reflexartige Reaktion. Leicht beklommen löschte er die Beleuchtung bis auf das Reklame- und Verkehrssicherungslicht über der Eingangstür. Llywelyn setzte seinen schweren Rucksack und die Inliner ab, starrte hinaus in den einsetzenden Schneefall, der im grellen Neonlicht in stürmischem Flockenreigen tanzte. "...liebst du mich immer noch?", fragte er Isolder, bot ihm sein sanft angestrahltes Profil. "Auch wenn ich nicht an die Liebe glaube?" Isolder lächelte zärtlich, -wie hätte er auch nicht?-, und antwortete sanft. "Ich liebe dich immer noch." "Wie sehr?" Die Frage kam drängend, mit schwankender Stimme. Die Stirn runzelnd antwortete Isolder ehrlich, mit glühenden Wangen. "Sehr. Bis zum Verrücktwerden." Nun kehrte ihm Llywelyn das Gesicht zu, die Züge beschattet. Sein Körper kündete von großer Anspannung, von einem inneren Aufruhr, der nur auf ein Ventil wartete. "Dann tut es dir weh, wenn wir uns morgen nicht sehen?" Beinahe lächerlich, diese Fragestunde, doch Isolder hütete sich, ein abschätziges Urteil abzugeben. »Das ist Llywelyns Logik.« Und er hatte schon eine Vermutung, wohin sie diese Argumentationskette führen würde. "Es tut immer weh, wenn ich dich nicht sehe", verallgemeinerte er gespannt, um mit einem Anflug von Bosheit hinzuzufügen, "da ist ja noch dieser Meteorit, der mich ganz furchtbar heftig getroffen hat! Ich glühe immer noch, merkst du das?" Damit legte er ganz ungeniert Llywelyns unverblümt einkassierte Hand auf seine Wange. "Feuer und Flamme!", raunte er, bestaunte die geteilten, verlockenden kirschroten Lippen. "Ich brenne für dich." War es ein erstickter Schrei oder ein erschöpfter Seufzer? Wesentlich jedoch die Entwicklung nach dem Ausruf: Llywelyn warf die Arme um Isolders Nacken, der von der Attacke überrascht gegen die Wand taumelte, dann beseelt die Lider senkte und sich küssen ließ. Llywelyn, obwohl nicht geübt in derlei Austausch, küsste ihn mit einer Verzweiflung, die an drohendes Unheil glauben ließ. Leidenschaftlich, ohne abstoßende Gier, intensiv ohne naturkundlerischen Forschungsdrang, unerschrocken und bange zugleich. Isolder ließ sich nicht lumpen, sprang ein, wenn Llywelyn nachließ. Wie bei einem Tanz mit wechselseitiger Führung, Herausforderung und Erwiderung liebkosten sie sich, als wäre es die einzige Nahrungsquelle und ein entsetzlicher Hungertod stünde bevor. Schließlich spürte Isolder, wie Llywelyn schwankte, pfeifend nach Atem rang. Hastig umklammerte er ihn, presste ihn stützend eng an sich und murmelte kehlig. "Halt dich an mir fest, ja? Gleich geht's wieder, nur keine Angst." Dabei strich er wagemutig mit einer Hand über Llywelyns Rücken, dann den weißblonden Schopf, kreisrund und beharrlich. »Mein lieber Herr Gesangsverein!«, kopierte er alte Meister, »das ist ja Wahnsinn!« Denn ihm schlotterten selbst die Knie, und zwar gewaltig! Mochte es auch in anderer Hinsicht Zweifel geben: im biochemischem Bereich passten sie außerordentlich gut zueinander! Das war nicht bloße Kompatibilität, nein, hier reihten sich bei Kontakt Explosionen aneinander, die bisher ohne Vergleich waren! "Geht's besser?", erkundigte er sich leise, erneut bestätigt, dass er sich nicht in sich selbst getäuscht hatte: der schöne Außerirdische war's, musste es sein! Llywelyn legte die Stirn an seine, atmete noch immer in fliehenden Stößen, löste die Finger, die sich in Isolders Ärmel gekrallt hatten, barg dessen Wangen in seinen Händen. "...nur Pheromone, nicht wahr? Chemische... Kettenreaktion...?", keuchte er heiser. "Ja", besänftigte ihn Isolder lächelnd. "Und zur Not auch rückstandsfrei abzugewöhnen." "Nicht jetzt!", hechelte Llywelyn in entschiedenem Tonfall. "Bestimmt nicht!", grinste Isolder amüsiert von dem eigensinnigen Blick, der ihn aus silbergrauen Augen aufspießte. "Wollen wir gehen?" Ein bisschen Abstand und Schneetreiben würden zumindest einige sehr empfindsame Regionen auf den Normalzustand herunterkühlen. Was bitter nötig war. *~*8*~* »Es ist ein ganz normales, natürliches Phänomen«, dozierte Llywelyn vor sich selbst. Daran war nichts Bestürzendes oder Besorgniserregendes. »Trotzdem.« Ein moralisches Dilemma tat sich auf. Wie bereits zuvor, als Isolder ihn entgeistert gefragt hatte, ob er wirklich aus Gründen der Fairness und Gleichbehandlung eine gewisse Verpflichtung verspürte, Aufmerksamkeiten des Gegenüber zu erwidern. Frappierender Weise, auch wenn sich Llywelyn selbst als freien Geist betrachtete, wusste er doch, dass er auch Gefangener seines Ehrgefühls war. Der Anstand gebot nun mal, dass man aufrichtige Wertschätzung entsprechend beantwortete! Aber das war nicht zu vergleichen mit dem initiierenden Gefühl der anderen Partei, weshalb er nun vor einem veritablen Problem stand, das er liebend gern und ausschließlich mit Isolder besprochen hätte. Unglücklicherweise war es Donnerstag, kurz nach Sechs und er saß in einem ungemütlich gepolsterten Sessel, flankiert von seinen nervös und zu laut schwatzenden Eltern. Familientherapie. Da er in dieser Hinsicht nicht über einschlägige Erfahrungen verfügte, wusste Llywelyn nicht, wie er sich einstellen sollte. Auf eine schleimig-einschmeichelnde Überredungstaktik? Auf verklausulierte Drohungen? Oder auf Unterstützung? Der Therapeut betrat seinen 'Besprechungsraum' (Behandlungszimmer gab es nicht, weil ja niemand krank war), schüttelte reihum die Hand und erklärte gelassen die Regeln für das Gespräch. Ausreden lassen, von sich selbst sprechen, keine gegenseitigen Vorwürfe und Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Standpunkten. Llywelyn bezweifelte, dass das Experiment einen glücklichen Ausgang nehmen würde, wenn er sich das übliche Verhalten seiner Eltern vor Augen führte. Dann mussten sie tatsächlich Lose ziehen, damit die Reihenfolge für die erste Gesprächsrunde festgelegt war! Llywelyn zog die höchste Zahl und musste deshalb erst den Ausführungen seiner Eltern lauschen. Zunächst bezogen sich die Elegien, bei denen sie einander ins Wort fielen, nur auf ihre Enttäuschung bezüglich seines abweisenden, ungeselligen Verhaltens und der Heimlichtuereien. Dann kamen die Vorwürfe gegen ihre langjährigen Freunde zur Sprache und als Sahnehäubchen noch die Beobachtungen der Lehrer. Nun war Llywelyn gefordert, um über seine Empfindungen in dieser Angelegenheit zu sprechen. Da er aufmerksam gelauscht hatte, nahm er sich nun die Zeit, seine Antwort zu überlegen. Doch konnte man hier die Wahrheit sagen und damit die Gefühle der Anwesenden verletzen? Wäre es nicht höflicher, sich in Allgemeinplätze oder Schweigen zu flüchten? Noch so ein Dilemma! Er blickte von seiner Mutter zu seinem Vater und wieder zurück. Dann antwortete er schlicht. "Ich bin nicht der Sohn, den ihr euch gewünscht habt und ihr seid nicht die Eltern, die ich vor sechs Jahren noch gebraucht hätte. Wir sind Fremde füreinander, und wären wir nicht blutsverwandt, so würden wir einander nicht über den Weg laufen." Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können, und ihr Aufprall wäre wie Donnerhall von den Wänden geschmettert worden. "Ich schlage daher vor, dass wir die Konditionen des Zusammenlebens verhandeln und in einem Vertrag festschreiben." Davon war er auch nach einer Stunde heftiger Auseinandersetzung und Emotionsausbrüche nicht abzubringen. *~*8*~* Isolder wartete in unruhiger, besorgter Stimmung auf Llywelyns Eintreffen. Beinahe wäre er der Versuchung erlegen, ihn vor der Schule abzupassen, doch er erinnerte sich mit Verärgerung an die Szene vom Montag. Zudem hatte Llywelyn ihm eine Textnachricht auf das Mobiltelefon zukommen lassen, dass er sich keine Sorgen machen möge, alles sei in bester Ordnung. Diese Aussage war zumindest für Isolder überraschend, der insgeheim fürchtete, dass genug gehässiger Druck Llywelyn dazu bewegen würde, sich von ihm fernzuhalten. Aus reiner Höflichkeit und Rücksicht. Und nun erschien auch noch Hardy! In Begleitung einer kleinen Gruppe juveniler Herumtreiber. "Warst du schon einkaufen?", erkundigte sich Isolder streng, denn er hatte seinen jüngeren Halbbruder dazu verdonnert, freitags kleine Besorgungen zu erledigen. Schließlich sollte Hardy auch einen Teil der Verantwortung für die Familie tragen! "Sch-- schon längst!", verbesserte sich Hardy eilig. "War doch nach der Dritten schon Schluss." "Gut. Häng nicht zu lange mit den Typen da rum", ordnete Isolder an. "Mom macht sich sonst Sorgen." "Hatse schon", verkündete Hardy lässig, die dunklen Augen blitzten triumphierend. "Aus welchem Grund?!" Ruckartig sah Isolder von seinen Arbeiten auf, fixierte Hardy grimmig. "Was ist passiert?" Ihm war ganz und gar nicht nach Spaßen zumute. Hardy fing seine gewittrige Stimmung auf und wich vom Tresen zurück. "Ey, ich hab doch nix gemacht!" "Wer dann?" Isolder beugte sich über den Tresen. "Und jetzt Klartext: wer hat was angestellt?" "Jem!", platzte Hardy heraus, bevor er die Stimme senkte, "der hat das schnarchende Walross angebumst." Isolder starrte auf ihn herunter, stumm und bleich vor Zorn. "Ich bring ihn um", wisperte er tonlos. "Ich prügle ihn windelweich, diesen verfluchten Idioten." Sein jüngerer Halbbruder beobachtete ihn sichtlich nervös, trippelte unruhig. "Warn Versehen, sachter." »So wie das Marihuana in seinem Zimmer. So wie den Rauswurf bei der Lehrstelle.« Und hatte er ihn nicht oft genug ermahnt, die verdammten Gummis zu benutzen?! Sie für ihn gekauft?! Musste das sein?! "Was sagt Mom?", erkundigte er sich angespannt. "Bisschen unterm Wetter", wiederholte Hardy, den Kopf einziehend. Er konnte damit nicht viel anfangen, aber Isolder verstand diesen Ausspruch nur zu gut: es ging ihr schlecht, aber sie war zu gut erzogen, um angesichts dieser desaströsen Neuigkeiten damit hausieren zu gehen. "Hardy", Isolder fokussierte seinen jüngeren Halbbruder streng, "geh gleich zu Mom und achte darauf, dass sie ihre Medikamente einnimmt. Ruf mich an, wenn's ihr nicht gut geht, verstanden?! Und richte ihr aus, dass ich mich um alles kümmern werde. Sie soll sich keine Sorgen machen, in Ordnung?" Hardy war im Begriff, sich maulend darüber zu beklagen, dass er nicht mit seinen Freunden noch ein wenig herumlaufen konnte, doch angesichts der Miene seines älteren Halbbruders verzichtete er auf Aufsässigkeiten. Wenn Sol wütend wurde, das wusste ja jeder, ging man besser verdammt fix stiften! Es half da auch gar nicht, dass einer der Jungs dumm genug war, um eine Hülle für ein Konsolenspiel bereichert die Videothek verlassen zu wollen. Isolder hatte ihn bereits nach dem Alarm und fünf Metern erwischt, trotz Zentralverriegelung und Sprung über den Tresen. Unerbittlich schleifte er den Dieb zurück, wehrte mühelos Attacken ab und brüllte angesichts der Schimpftiraden seinen Fang derartig ungehemmt an, dass sämtliche Kumpane dieser blödsinnigen Mutprobe hastig das Weite suchten. So kam es, dass Isolder übelster Laune war, als Llywelyn endlich in der Videothek eintraf. *~*8*~* Llywelyn beobachtete Isolder, der wie ein Roboter in steifen Bewegungen Regale füllte, das Gesicht erstarrt in einer bitter-ergrimmten Miene. Lautlos sockte er in den Clogs über den Industrieteppich, hielt neben ihm inne und legte ihm extrem wachsam leicht die Hand auf den Arm. Isolder, der in Gedanken sehr weit weg und zig Etagen höher gegen einen verantwortungslosen Bruder tobte, fegte herum und ballte reflexartig die Fäuste. Erschrecken und Bedauern zeigten sich in seinem Gesicht, als er Llywelyn erkannte, doch der hatte vorausschauend genug den Sicherheitsabstand einkalkuliert, der vonnöten gewesen war. Schweigend, mit angehaltenem Atem sahen sie einander an, forschten nach der Stimmung. Mutig streckte Llywelyn die Hand aus, wartete geduldig, bis Isolder sich einen Ruck gab, sie ergriff. Schweigend marschierten sie zum Tresen, hinter dem Llywelyn sich seiner Winterbekleidung und des üblichen Gepäcks entledigte. Er ließ Isolder die mechanische Arbeit verrichten, Kundschaft bedienen oder beraten, harrte dem Augenblick, wenn sie allein sein würden und Isolder von sich aus darauf zu sprechen kam, was ihm die Petersilie verhagelt hatte. Llywelyn glitt auf den Tresen und beobachtete Isolder, der Rückgaben einspeiste, die Hüllen von ihrem Inhalt trennte und zum Einsortieren in die Regale beiseite legte. "Hardy war vorhin hier", begann der schließlich mit gedämpfter Stimme, den Blick auf seine Arbeit gesenkt. "Hat mir erzählt, dass Jem, mein älterer Bruder, seine derzeitige Flamme 'versehentlich' geschwängert hat. Dieser Vollidiot." Er zischte Atem durch die Zähne. "Meiner Mom geht's nicht gut, und zur Krönung schnappt sich einer dieser kleinen Mistkerle auch noch eine Spielkonsolenverpackung und will damit abhauen." Isolder wandte den Kopf zu Llywelyn, der ihm aufmerksam zuhörte. Nach einer Kehrtwendung überwand er mit zwei großen Schritten die Distanz zwischen ihnen, baute sich vor Llywelyn auf. "Kannst du mich bitte knuddeln?", erkundigte er sich frustriert. "Ich könnte ein wenig positive Energie verdammt gut brauchen!" Ernsthaft, der Situation angemessen, nickte Llywelyn gravitätisch, hob die Arme, um Isolder an sich zu ziehen und festzuhalten. Der seufzte wohlig und entspannte sich in der freundlich gespendeten Wärme, schloss die Augen und beamte sich in eine andere Dimension, wo er mit diesem schönen Außerirdischen ungestört sein konnte, um die Rückschläge zu verdauen. Sanft löste er sich schließlich wieder, ließ die Hände in Llywelyns gleiten, der sie zupackend empfing. "Entschuldige, dass ich meinen privaten Mist so vor dir auskotze", versetzte er bedauernd. "Das hatte ich eigentlich nicht so geplant." "Es besteht kein Anlass für Entschuldigungen", beruhigte ihn Llywelyn nachdrücklich. "Ich höre dir gern zu. Sonst kann ich dich ja nicht näher kennenlernen, und das hatten wir doch vereinbart, nicht wahr?" "Stimmt." Isolder lächelte schief. "Das hatten wir. Wortbrüchig zu werden, das fehlt mir heute gerade noch!" Ermutigt durch Llywelyns gelassenes Verständnis holte er tief Luft, um seinem Ärger ein Ventil zu verschaffen, knurrte dann enttäuscht. "Weißt du, die trübe Tasse hatte gerade im neuen Jahr wieder einen Kurs in Aussicht. Zwei Lehren hat er schon geschmissen, der Blödmann und jetzt das! Seine Tussi ist auch nicht gerade ne Leuchte. Wie wollen ausgerechnet die zwei Pflaumen ein Kind versorgen?! Wir kommen schon so gerade über die Runden, soll ich für zwei weitere Esser auch noch mitschuften?!" In Rage sprudelten nun seine Probleme ungehemmt hinaus. "Ich schaffe es gerade, mit zwei Jobs die Schule zu kombinieren, und er kümmert sich um nichts! Stattdessen muss der Flachkopf noch Gras rauchen, während ich mit Nikotinpflastern darum kämpfe, dass Hardy vom Rauchen wegkommt! Mom ist krank, sie braucht Betreuung, irgendwann kommt auch noch zu allem Überfluss vom Sozialamt jemand, weil Hardy die Schule geschwänzt hat und jetzt so was!" Den Tränen der Wut nahe lachte er bitter auf. "Und weißt du, was die Krönung von dem ganzen Scheiß ist?! ICH kaufe die verdammten Kondome, stopfe sie ihm in die Klamotten, in die Brieftasche, zu seinem Handy! Damit der Dämlack es nicht verpfuschen kann, wenn er schon keinen Verstand hat! Er bringt's trotzdem, das Walross VERSEHENTLICH anzubumsen!" Mit wachsender Erregung veränderte sich seine Sprache, wie Llywelyn nicht entging, der nun einen ungeschminkten Eindruck davon erhielt, mit was sich Isolder noch herumplagte. Abgesehen vom dem Ärger, den er sich durch ihn auflastete. "Das tut mir leid", bekannte Llywelyn aufrichtig. "Wenn ich dir irgendwie von Nutzen sein kann, sag es mir bitte!" Isolder lächelte gequält, schniefte kurz, beugte sich dann vor, um Llywelyn auf die Stirn zu küssen, dessen Hände er immer noch hielt. "Das ist süß von dir", murmelte er geschlagen. "Ich bin ziemlich sicher, dass ich dein Angebot AUSNUTZEN werde." Um die trübe Stimmung zu heben, wechselte er eilig das Thema. "Aber nun sag mal, wie lief die Sitzung bei dem Therapeuten gestern?" Llywelyn warf ihm einen langen, prüfenden Blick zu, dann berichtete er von dem Verhandlungsergebnis. Jetzt musste er zwar seinen Aufenthaltsort mitteilen, dafür war es seinen Eltern strikt untersagt worden, in seiner Post zu schnüffeln, ständig sein Zimmer zu durchsuchen und von ihm über seine intimen Freundschaften Aufklärung zu verlangen. "Das heißt, dass du erst mal nicht ausziehen musst, oder?", fasste Isolder erleichtert zusammen. Llywelyn nickte. "Deshalb kann ich auch Malefiz bei mir behalten. Sie haben sich bereit erklären müssen, sämtliche Kosten zu übernehmen, bis ich genug eigene Mittel aufbringen kann." "Das sind wirklich gute Nachrichten!" Behutsam löste Isolder seine Hände aus Llywelyns. "Komm, ich gebe dir deine Päckchen. Vorhin habe ich dir auch einen klasse Film rausgesucht, der nicht lange dauert." Der dezente Wink mit dem Zaunpfahl erreichte Llywelyn, der dechiffrierte, dass sich Isolder eine Auszeit erbat. Ein wenig mit sich selbst ins Gericht gehen wollte. Deshalb vertagte Llywelyn sein Anliegen auch auf einen späteren Zeitpunkt und begab sich artig in den Nebenraum. *~*8*~* Hand in Hand schaukelten sie träge, gönnten sich den kleinen Abstecher vom Heimweg. Isolder wollte nicht allzu zeitig zu Hause sein, dafür war er noch zu aufgebracht über die Sorglosigkeit seines älteren Halbbruders. Dass der sich manchmal durch ihn ver- und an die Wand gedrängt fühlte, begriff er durchaus, doch ihm erschien es ein unerhörter Luxus, persönliche Befindlichkeiten den bestehenden Nöten überzuordnen. Llywelyn spürte Isolders gedrückte Stimmung und schämte sich für sich selbst, weil er seine Moral zurückstellte und dessen Zuneigung ausnutzen wollte. "Isolder?", erkundigte er sich sondierend. "Hast du am Sonntag schon etwas vor?" "Nicht, dass ich wüsste." Mühsam kehrte Isolder in die Gegenwart zurück. "Möchtest du etwas mit mir unternehmen?" Tadelnd beugte sich Llywelyn zu ihm herüber, um ihn mit der freien Hand in die Nase zu kneifen. "Ich vermisse hier erheblich deine Begeisterung für meine Gesellschaft!" Schief grinsend steckte Isolder den Rüffel weg. "So war das nicht gemeint, mein allerliebster Freund, ich bin bloß verblüfft, dass du auch so viel Leidenschaft für meine Gesellschaft zeigst." "Ist dir das nicht recht?", stieß Llywelyn ertappt aus, an seine Moral ermahnt. "Wie? Doch, natürlich, mir ist das sogar sehr recht!", beeilte sich Isolder verwirrt zu versichern. "So sollte es nicht klingen, wirklich nicht! Ich freue mich sehr, wenn du Zeit mit mir verbringst!" "Das heißt", schnöde verdrängte Llywelyn seine klagende Moral, "du würdest mich auch auf ein Weihnachtskonzert begleiten? Ja?" "Natürlich!", sagte Isolder sofort zu. "Wann, wo und wie viel?" Llywelyn zuppelte als Antwort zunächst in seiner Tasche herum, bis er zwei Eintrittskarten präsentierte. Isolder nahm ein Billett in Augenschein, prägte sich Ort und Zeit ein. "Leider hat die ganze Sache einen Haken", näherte sich Llywelyn tapfer dem Sujet der potentiellen Empörung. "Meine Eltern werden auch da sein." "Ach", kommentierte Isolder, nicht sonderlich beeindruckt. "Nun ja, gewissermaßen bin ich ihnen ja schon bekannt, seit dieser Benefiz-Geschichte da. Ich werde mich einfach anständig benehmen, dann klappt das schon." "Vielen Dank!" Llywelyn lächelte, nagte dennoch an seiner kirschroten Unterlippe und warf prüfende Seitenblicke zu Isolder, der dieses Gebaren mit wachsender Belustigung registrierte. Endlich erlöste er Llywelyn. "Na los, frag mich schon das, was dir im Kopf herumspukt! Du weißt ja, Sternschnuppen taugen nichts, und Gedankenlesen kann ich auch nicht." Ungewohnt ausdrucksschwach druckste Llywelyn vor sich hin, befeuchtete sich nervös die Lippen, scharrte mit den Inlinern über die Schutzmatten unter der Schaukel. "Wenn ich etwas tun wollte", begann er zögerlich, "etwas sehr Egoistisches, aus Neugierde, dann wäre das doch unehrenhaft, nicht wahr?" Isolder war bei rein hypothetischen, streng theoretischen Problemen, die weniger abstrakt als konkret von IHM die Entscheidung verlangten, die der Fragesteller nicht treffen wollte, grundsätzlich gewarnt und entsprechend vorsichtig. "Das kommt auf die Situation an", wich er elegant aus. "Warum verrätst du mir nicht, worum genau es geht?" Unentschlossen nagte Llywelyn an seiner Unterlippe, nestelte an seinem aufgeplusterten Schal herum. "Ich möchte dir den Tag nicht noch mehr verderben." Daraufhin studierte Isolder eingehend das Zifferblatt seiner Uhr. "Da besteht kein Grund zur Sorge. Der Tag ist in einer knappen Stunde ohnehin Geschichte. So lange kann ich es dann auch noch aushalten." Erwartungsvoll richtete er sich neben Llywelyn auf, ganz Aufmerksamkeit. Der seufzte, atmete tief durch, räusperte sich, ein immenser Anlauf!, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. "Wenn ich mehr von dir möchte, aus diesen rein egoistischen Gründen, dann ist das doch zutiefst verwerflich, nicht wahr?" Überrascht blinzelte Isolder, dann lächelte er nachsichtig. DAS also war das Problem? "Nein", antwortete er trotzdem recht barsch. "Es ist nicht verwerflich. Du kannst davon ausgehen, dass ich auch mehr von dir will. Weißt du, wie man zwei Egoisten mit ähnlichen Zielen nennt? Ein Ehepaar!" Diese Definition war Llywelyn unbekannt. Nicht aber der kräftige Arm, der nach seiner Schaukel griff, sie zusammenbrachte, damit er geküsst werden konnte. Weil sich die Klammerei auf die Dauer als zu enervierend erwies, stieg Llywelyn schließlich kurzerhand rittlings auf Isolders Oberschenkel, verschränkte die Arme hinter dessen Nacken und übte ausgiebig aus egoistischen Motiven (er glaubte ja noch immer nicht an die Liebe!) das Küssen. Wenn sie nicht die Turmuhr aufgeschreckt hätte mit ihren knappen Schlägen, dann hätten sie glatt dort übernachten können! *~*8*~* Kapitel 17 - Sternschnuppen-Volltreffer Isolder erwachte gewohnt früh, um seinem zweiten Job nachzugehen. Zwei Stunden lang, also beinahe rechtzeitig, um zum Frühstück wieder hier zu sein, würde er im Getränkegroßhandel aushelfen, so lautete zumindest der Plan. Doch als er sein Zimmer verließ, um eilig für das Frühstück zu decken, fand er zu seiner Überraschung seine Mutter in ihrem Sessel vor. Sie schlief nicht, sondern kauerte dort regungslos, warf ihm dann ein fahles Lächeln zu. "Mom! Was tust du schon hier?!" Erschrocken ging Isolder vor ihr in die Hocke, fasste in Gewohnheit behutsam nach ihren Händen. Sie waren eisig kalt. "Seit wann sitzt du hier?!" Alarmiert stand er auf, sah auf sie herunter. "Mom, was ist los?!" "Konnte nicht schlafen, Schätzchen", krächzte sie mühsam, aber Isolder, der nun hellwach war und genau hinsah, erstarrte. "Warum hast du mich nicht gerufen?!", entfuhr ihm, bevor er sich bremsen konnte, denn sie saß hier, weil sie nicht mehr aus dem Sessel gekommen war, schon wer weiß wie lange! "Ach, ich dachte, es geht gleich wieder..." Dann liefen ihr Tränen über das Gesicht. "Es tut mir so leid..." "Nicht doch, Mom!" Beschämt umarmte sie Isolder, registrierte dann, was genau ihr solchen Kummer bereitete. Neben den immensen Schmerzen: sie war nicht mehr rechtzeitig zur Toilette gekommen. "Das macht nichts, Mom", tröstete er leise. "Nur keine Sorge. Wir kriegen das hin, wir zwei." Vorsichtig legte er sich ihre Arme um den Nacken, war sich bewusst, dass sie keine Kraft hatte, sich festzuklammern, ging dann tiefer, um die Arme unter ihre Kniekehlen und um die Schulterblätter zu biegen. Sie war nicht leicht, das wusste er, von den Medikamenten aufgeschwemmt und dazu noch im unbarmherzigen Griff der Erkrankung, die ihren Körper in Geiselhaft nahm. Achtungsvoll bugsierte er sie keuchend ins Badezimmer, setzte sie erst auf dem Rand der Badewanne ab, hängte dann den kleinen Sitz ein und schloss die Tür hinter sich. Ein kritischer Moment kam nun, denn er konnte sie nicht einfach nüchtern entkleiden. Schließlich handelte es sich um seine Mutter und nicht irgendeine fremde Person! Also kordelte er den dicken, abgewetzten Bademantel erst auf, stellte sich dann hinter sie, um ihr behutsam den Stoff abzustreifen. Das Nachthemd wickelte er von den Füßen ebenfalls hoch, musste zupfen unter der Sitzfläche, bis er es endlich über den Kopf heben konnte. Sie weinte noch immer, die bewegungslosen Arme wie lädierte Flügel angehoben, unfähig, mit den Händen ihr Gesicht zu bedecken. "Nicht weinen, Mom", würgte Isolder unglücklich, denn ihm brach ihr Kummer das Herz. "Gleich ist alles wieder gut!" Den Schlüpfer ließ er zunächst an Ort und Stelle verbleiben, denn jetzt musste er sie erst mal ein wenig aufwärmen. Manchmal konnte sie sich dann ein wenig besser bewegen. Isolder legte sich wieder ihre Arme um den Nacken, umschlang ihre Schultern unter den Achseln hindurch, damit er sie über die kurze Distanz in den Badesitz dirigieren konnte, nachdem er ihre Beine über den Wannenrand gehoben hatte. Sie waren beide außer Atem nach dieser Anstrengung, Isolder hauptsächlich deshalb, weil er Angst hatte, ihr unabsichtlich noch größere Pein zu verursachen. Er drehte den Brausestrahl nur wenig auf, kontrollierte die Temperatur umsichtig, bevor er bei den Füßen begann. Eine druckvolle Dusche verbot sich ebenso wie eine kraftvolle Berührung. Es gelang ihm, mit Geduld und Übersicht, die erschreckende Kälte zurückzudrängen. Anschließend wickelte er sie vorsichtig in Lagen von Handtüchern, entfernte den Schlüpfer ganz beiläufig. "Mom?" Er kniete neben ihr auf den Fliesen, streichelte hauchzart über die aufgequollene Hand. "Mom, ich hole dir jetzt etwas zum Anziehen." Er schluckte beklommen. "Sag mir das, bitte: ist es ein neuer Schub? Wirken die Medikamente nicht?" »Natürlich!«, dachte Isolder entmutigt, »warum frage ich auch noch?« Langsam erhob er sich. "Bitte warte einen Moment, ich bin gleich wieder da." Während er im kleinen Zimmer seiner Mutter Bekleidung heraussuchte, wusste er, dass dieser Samstag nicht wie geplant verlaufen würde. *~*8*~* Gerade noch rechtzeitig erreichte Isolder die Videothek, um seinen Chef abzulösen, der sich pünktlich vor dem vierten Advent noch einmal mit der Familie ins Gewühle der Einkaufswilligen stürzen wollte. Isolder knurrte der Magen und besonders kräftig fühlte er sich auch nicht. Das Frühstück war lange her, hatte aus Automatenkaffee und einem eingeschweißten Brötchen in der Klinikkantine bestanden, während er telefonisch Hardy auf Trab brachte, stumm Jem verfluchte und Herrn Fronauer um Aufschub bat. Der erklärte sich glücklicherweise bereit, für ihn zwei Stunden Arbeit aufzuheben, weshalb er nun erschöpft hier saß und sich um Zuversicht bemühte. Sie hatten alle Angst vor weiteren Krankheitsschüben. Je stärker sich die Gelenke entzündeten, umso drohender wurde die Gefahr, dass über operative Eingriffe nachgedacht werden musste. Isolder kannte langwierige Verhandlungen mit der Krankenkasse, Streit um die Finanzierung, abgelehnte Behandlungen und Termine im nächsten Jahrtausend. Würden sie dieses Mal ohne elende Diskussionen wenigstens die Taxikosten ersetzen? Welche Anträge müsste er einreichen, damit die Aufwendungen für die Kühlkammer übernommen wurden? Sie war mithin das einzige probate Mittel, wenn ein Schub kam. Die Wirkung hielt auch eine Weile vor, aber das änderte nichts an der Situation: eine Besserung stand nicht im Bereich des Möglichen. Den Kopf voller Sorgen lächelte er deshalb auch nur verhalten, als Llywelyn wie erwartet hereinrollte, sich die Inliner flink von den Füßen streifte und eilig zu ihm lief. Er bemerkte natürlich sofort, Isolder konnte es in den silbergrauen Augen lesen, dass etwas vorgefallen war. Unerwartet, aber vollendet elegant schwang er sich über den Tresen, stellte seinen Rucksack mit den Inlinern ab und streckte Isolder auffordernd die Arme entgegen. Der nahm das Angebot erleichtert an, ließ sich umarmen und vergrub das Gesicht in Llywelyns Halsbeuge, drängte sich zwischen weißgoldene Strähnen und einen wolligen Schal. Tief durchatmend genoss er die Entspannung, den vertrauten Duft nach Vanille, der Llywelyn anzuhaften schien. Dann löste er sich widerstrebend und berichtete Llywelyn, der noch immer seine Hände hielt, von den Ereignissen des Tages. "Das tut mir herzlich leid", bekundete der schöne Außerirdische aufrichtiges Mitgefühl. "Kann ich dir helfen?" "Hast du schon", lächelte Isolder aufgewärmt. "Ich bin froh, dass du jetzt hier bist." Er wollte dazu übergehen, Llywelyn die Gabe des heutigen Tages herauszusuchen, die in seinem Rucksack irgendwo verstaut war. "Darf ich hier bei dir bleiben?" Llywelyn hinderte ihn, gab schlichtweg seine Hände nicht frei. "Würde es dich stören?" "Aber nein!", zwinkerte Isolder. "Ich werde zwar total unkonzentriert sein, weil ich dich ununterbrochen anhimmle, aber darauf kommt's ja nicht an, oder?" "Aus dir spricht wieder dieser gemeine Meteoritentreffer", konterte Llywelyn vorwitzig. "Das Anhimmeln solltest du lieber sein lassen, wenn dir schon der Himmel selbst auf den Kopf gefallen ist!" Isolder grinste, zog dann ruckartig an ihren verbundenen Händen und fing Llywelyn mit seinen freudig geteilten Lippen auf. Von Liebe besoffen zu sein war definitiv zu viel Punsch vorzuziehen! *~*8*~* Es regnete eisig in die traurigen Schneetrümmer des Vortags, als sie sich auf den Weg machten. Dem Wetter zum Trotz hatte Llywelyn es nicht sonderlich eilig, zuckelte hinter Isolder her. Der vermutete, dass sein Freund etwas auf dem Herzen hatte. Wieder etwas Unmoralisches, bei dem er ihm mehr als willig assistieren konnte? "Denkst du, dass du morgen doch kommen kannst? Zum Weihnachtskonzert?", erkundigte Llywelyn sich zögerlich. "Ganz bestimmt", versicherte Isolder ihm, lächelte in die silbergrauen Augen, die ihn unruhig fokussierten. "Meine Mom braucht nur Ruhe. Hardy ist bei ihr, die können sich beide die zwei Filme anschauen, die ich eingesteckt habe, also sollte das kein Problem sein." Er verzog das Gesicht zu einem bissigen Grinsen. "Außerdem kann ich mir doch unmöglich eine Begegnung mit deinen werten Eltern entgehen lassen!" Llywelyn nickte knapp, starrte aufs Trottoir, aber Isolder gewann den Eindruck, dass die Frage beantwortet, das eigentliche Thema aber noch nicht zur Sprache gekommen war. Wäre es allerdings gescheit, Llywelyn zu drängen, bevor der mit sich im Reinen war? "Kannst du einen Moment warten?", bat Llywelyn schließlich heiser. "Sicher." Isolder wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht, verteilte den Regen gleichmäßig. Er erwartete jedoch nicht, mit einem unnachgiebigen Ruck in einen überdachten Hauseingang gezogen zu werden, wo ihm Llywelyn einen Augenblick der Besinnung zugestand, um ihn dann leidenschaftlich zu küssen. Für jemanden, der jahrelang ohne engen Kontakt ausgekommen war, eine unvermutet hitzige, ja, er offenbarte eine geradezu fiebrige Begeisterung, setzte Isolder bis zum Schwindel zu und hatte immer noch nicht genug. Nicht, dass der sich hätte beklagen wollen, oh nein! Dieser Austausch von Energie, die kraftvollen Arme, die energisch zupackten und festhielten, das Wechselspiel von künstlicher Straßenbeleuchtung und tanzenden Schatten: sie lechzten beide danach. Es war wie ein befriedigender, langer Lauf auf Rollen oder ein schweißtreibendes, erfolgreiches Karate-Training. Nur tausendmal besser. *~*8*~* Llywelyn sah dem Vorabend mit Unruhe entgegen. Isolder hatte ihm anvertraut, dass er sonntags bei seinem ehemaligen Meister zu trainieren pflegte, sich dann um die Hausarbeiten kümmerte und den Rest seiner Familie bei Laune hielt, also eingespannt und abgelenkt war. Er selbst hatte nach dem gemeinsamen, gewohnt unbehaglich verlaufenden Frühstück sein Zimmer gesäubert und aufgeräumt, war mit Malefiz kurz ums Haus gestreift, um verharschte Schneereste zusammenzuschieben, hatte am Laptop etwas gelesen und den Boden abgetreten, weil er auf und nieder gelaufen war. "Das habe ich gewaltig unterschätzt", stellte er sich selbst ein vernichtendes Zeugnis aus. Allerdings ohne jedes Bedauern. Natürlich war er fähig, für sich selbst zu leben und konnte sich auch alles abgewöhnen, was nicht existentiell bedeutend war. Selbstredend glaubte er ebenso wenig an Gott wie an die Liebe, ein Schmu, der knechten und beherrschen wollte. Er WUSSTE, dass Zombies mitten unter ihnen waren und sich nur mit äußerster Härte davon abbringen ließen, ihren eigenen Stumpfsinn anderen aufzuzwingen. Momentan jedoch, das war ebenso unbestreitbar, wollte er Isolder hier haben, bei sich! Aus niedrigen, egoistischen, unehrenhaften und definitiv unkeuschen Absichten. Simpel deshalb, weil er ihn mochte. Weil er mochte, was sie miteinander unternehmen konnten. Weil er noch längst nicht genug hatte, weil es noch mehr gab, das ihn lockte. Llywelyn ordnete sich selbst nicht als überzogen neugierig ein, doch wenn ihn etwas interessierte, dann entwickelte er Qualitäten eines Bluthundes: er blieb dran, bis er alles herausgefunden hatte. Das war ein sehr unfeiner Zug, und seine Moral schämte sich erbärmlich und wutschäumend zugleich für sein Gebaren. Andererseits konnte sein Verstand, üblicherweise ein loyaler Verbündeter der Moral, nicht eingreifen, denn Isolders Argumentation erwies sich als stichhaltig und folgerichtig: wenn zwei dasselbe wollten und es gemeinsam erreichen konnten, dann mochte das individuell egoistisch sein, aber generell auf eine innige Beziehung hinweisen. Und WEIL es logisch, verlockend, geradezu notwendig und darüber hinaus auch körperlich von Vorteil war, hätte er sogar temporärer an eine Sternschnuppe geglaubt, wenn sie ihm Isolder herbeamen könnte! *~*8*~* Isolder marschierte in großen Schritten zur alten Kirche, die mit ihrem gewaltigen Schiff als Veranstaltungsort diente. Trotz des leichten Schneetreibens standen die geladenen Gäste schwatzend in kleinen Gruppen auf dem Vorplatz, stimmten sich auf den zu erwartenden Genuss ein. Suchend blickte er sich um, hielt nach Llywelyn Ausschau. Er wollte sich nur ungern an den Gruppen vorbei drängeln, sich als Außenseiter entblößen, denn immerhin gehörte er weder zur Gemeinde noch zu den Kunstsinnigen, die dieses Weihnachtskonzert zugunsten einer Wohltätigkeitsorganisation veranstaltet hatten. »Oder zu diesem aufgeblasenen Volk da!« Leicht amüsiert beobachtete er die gehobene Gesellschaft, aufgemacht wie zum Opernball, überdreht palavernd, damit ihr Auftritt auch niemandem entging. Jemand berührte sanft seinen Arm, und Isolder fegte gewohnt prompt herum, erstrahlte dann aber wie ein Christbaum unter Strom, als er sich Llywelyn gegenüber fand. "Llywelyn! Hallo, wie geht's dir?" Überschwänglich drückte er die behandschuhten Hände, versagte sich streng eine Umarmung. Bloß ein paar Stunden hatten sie sich nicht gesehen und schon kam es ihm wie Ewigkeiten vor! "Isolder, endlich! Ich dachte schon, du kommst nicht!", sprudelte Llywelyn heraus, rückte nahe an ihn heran, sanft gerötet von der Vorfreude. "Ich würde dich doch nicht einfach versetzen!", protestierte Isolder, konnte sich aber diesem Lächeln nicht entziehen, das von innen heraus glühte, geradezu einlud, sich zu überzeugen, ob die Abwärme auf den Lippen ihn bei einem Kuss versengen konnte! Bevor sie ihre Zeit anhalten konnten, einander betrachtend, stillvergnügt in der einzig bedeutenden Gesellschaft, schoben sich hinter Llywelyn dessen Eltern in eine Lücke. Artig deutete Isolder eine knappe Verneigung an, begrüßte sie förmlich, mit einem Anflug diabolischen Charmes. Der potentielle Delinquent, von dem ihr Sohn nicht die Finger lassen konnte! Unterdessen registrierte Llywelyn mit Missfallen, dass seine Eltern auch keinen Versuch unternahmen, Isolder zum Gruß die Hand zu reichen. Dass sie ihn ablehnten, aber ihren belästigenden Grapscher-Freund verteidigten, DAS würde er ihnen nie nachsehen! Isolder störte sich nicht an der Missbilligung, daran gewöhnte man sich im Laufe der Jahre. Solange Llywelyn ihn akzeptierte, wie er war, gab es schlichtweg kein Problem. Unter Verzicht auf gezwungenen Smalltalk bewegten sie sich nun langsam zum großen Portal, wo man Eintrittskarten kontrollierte und dann den Zutritt zu dem bestuhlten, von zahlreichen Kerzen aufgeheizten Kirchenschiff gestattete. Isolder schlüpfte rasch aus seinem Parka, half Llywelyn dann aus dessen Mantel, einem knöchellangen, schwarzen Ungetüm aus schwerem Wollstoff. Darunter kam ein unglaubliches Ensemble ans Licht, das Isolder unwillkürlich an vornehme Abendgesellschaften der vorletzten Jahrhundertwende erinnerte. Ein Gehrock mit Schwalbenschwanz, der gerade die Rippen bedeckte, darunter zu einem weißen Hemd mit gebundener Fliege und gefälteter Brust eine taubengraue, figurbetonte Weste zu nachtschwarzen Stoffhosen mit hohem Bund. Aber nicht nur ihm fiel auf, dass Llywelyn der schönste Mann im gesamten Gebäude war, nein, er hörte auch Getuschel und Gemurmel um sie herum aufbranden, als er ihm den gefalteten Wollmantel reichte. "Du siehst umwerfend aus!", flüsterte er ihm bewundernd zu. Wie gewöhnlich und unspektakulär wirkte er dagegen, schwarze Jeans zu schwarzem Pullover mit Rollkragen und einem schwarzen Sakko! "Ich wollte dir gefallen", entgegnete ihm Llywelyn ungekünstelt. "Immerhin habe ich dir diese Verabredung aufgenötigt." "Stimmt ja gar nicht!", protestierte Isolder mit kindlichem Quengelton, fasste im Schutz ihrer komprimierten Mäntel nach Llywelyns Hand und bugsierte sie bequem auf seinem Oberschenkel. Nicht willens, sie allzu bald aus seinem Griff zu entlassen. "Ich bin höchst freiwillig hier!" Llywelyn lachte leise an seiner Seite, lehnte sich ein wenig an. "Ich habe dich vermisst." "Du hast mir auch gefehlt", wisperte Isolder in sein Ohr. Um das allgemeine Getöse zu überbrücken, warf der Projektor, der üblicherweise die Strophen des Gesangbuchs über die Kanzel strahlte, das Programm auf die alten Säulenbögen. Etwa nach einer Dreiviertelstunde war eine Pause angesetzt, zuvor würden ein Chor und ein Barock-Ensemble festliche Stimmung mit ihren Vorträgen verbreiten. Widerwillig musste Llywelyn sich von Isolder seiner Mutter zuwenden, die in ihrer schrillen, ein wenig atemlos klingenden Stimme zu verkünden wusste, dass die Dame mit der Querflöte eine bekannte Musikerin sei, die in der Philharmonie spielte. Und eine echte Böhm-Querflöte besaß, ein Original eines berühmten Instrumentenbauers, das man anders behandeln musste als die modernen Querflöten! Llywelyn versetzte aufsässig, dass man aus dieser Entfernung wohl kaum den Unterschied bemerken würde können. Zudem waren alte Instrumente jeglicher Art in seiner Wertschätzung im Moment nachgeordnet. Er hätte sehr viel lieber mit dem Virtuosen an seiner Seite Interpretationen zum Thema einstudiert! Isolder zwinkerte, drückte seine Hand verschwörerisch. Gerade eben, angesichts der unverhohlenen Sehnsucht, die ihm Llywelyn offenbart hatte, musste noch ein Meteorit seinen Schädel erwischt haben, denn der elektrische Blitz beim Einschlag löste eine zündende Idee aus. *~*8*~* Nach einem aufrichtigen Applaus folgte das gewohnte Schlurfen, Rascheln und aufbrandende Schwatzen zur Pause. Man wollte sich bewegen, die Stühle erwiesen sich, für die Dauer, als recht unbequem. Außerdem war frische Luft oder Lunge teeren immer eine lohnenswerte Abwechslung. Isolder half Llywelyn galant in den Mantel, schnappte sich dann dessen Arm, um ihn zur Pforte zu geleiten. Das war offenkundig ein Akt der Höflichkeit, für alle Zuschauer, entsprang jedoch dem ganz und gar selbstsüchtigen Wunsch, Llywelyn nicht versehentlich im Gedränge zu verlieren. Und damit verbunden auch kostbare Zeit. Draußen flockte es stet, aber sanft vor sich hin. "Fix!", zischte Isolder Llywelyn aus dem Mundwinkel zu, denn er sah dessen Eltern argwöhnisch anrücken. Geschmeidig kraulte er sich durch die Brandung der müßig Herumstehenden, hielt Llywelyn nun an der Hand, der ihm widerstandslos folgte. An den Rand vorgedrungen schlug sich Isolder sprichwörtlich in die Büsche, um eilig Sichthindernisse zwischen sie und die Konzertbesuchenden zu bringen. "Was hast du vor?" Llywelyn galoppierte neben ihm, stieß kleine Atemwölkchen aus. "Wir gehen zur dir", verkündete Isolder aufgeräumt. "Sturmfreie Bude für die nächste Stunde." Llywelyn neben ihm lachte, zog ihn an der Hand zu sich und küsste ihn amüsiert auf die Wange. "Eine feine Entführung ist das!", schmunzelte er fröhlich. »Wird sich noch rausstellen!«, unkte Isolder innerlich, durchaus ein wenig nervös, denn er war sich nicht ganz sicher, dass er die Situation richtig eingeschätzt hatte. *~*8*~* Llywelyn zog die Rollos herunter, entzündete einige Kerzen und stupste für Malefiz den Schaukelstuhl an. Unterdessen sah sich Isolder um, nicht aufdringlich, aber interessiert. Welche dieser Dinge gehörten Llywelyn wirklich? Hieß es nicht, dass ein Zimmer oder eine Wohnung Ausdruck der eigenen Persönlichkeit waren? »Warum kippt er jetzt den Stuhl und klemmt ihn unter die Türklinke?«, informierte ihn sein Verstand nachdenklich. "Hast du Angst, ich laufe dir weg?", hakte er verblüfft ob des Arrangements nach. "So ein Stuhl würde dich bestimmt nicht aufhalten", zwinkerte Llywelyn, löste die gebundene Fliege um seinen Hals, funkelte absichtsvoll in Isolders dunkelblaue Augen. "Ich möchte einfach nicht gestört werden." Isolder schluckte, mit urplötzlich trockenem Mund. Aber in diesem Bannblick blieb er Gefangener, verzaubertes Opfer, hingerissener Mitspieler. »Das ist Wahnsinn!«, stöhnte sein Verstand. Seine Libido wischte sich gerührt Tränen der Freude aus den Augenwinkeln. "Für den Fall, dass sich doch ein gefährlicher Meteorit nähert", Llywelyn zwinkerte, aber das Flackern der silbergrauen Augen verriet ihn, "sollten wir keine Zeit verschwenden. Wir haben doch dasselbe Ziel, nicht wahr?" Da er seiner Stimme nicht mehr traute, nickte Isolder bloß. "Fein", hauchte Llywelyn, legte ihm die Arme um den Nacken. "Dann zeig mir, wie man unter die Haut geht." *~*8*~* Wenn Isolder in verschämten Träumen über Sex mit Llywelyn phantasiert hatte, war das eher eine ehrfürchtige Veranstaltung gewesen, das Zelebrieren etwas ganz Besonderem, Erhabenem. Die Realität entpuppte sich als erstaunlich anders: zwinkern, kichern, lachen. Feststecken in Ärmeln oder Hosenbeinen, überlange Socken, komplizierte Knöpfe und eine detonierte Haarspange sorgten für eine beinahe kindliche Balgerei. Perplex, aber auch erleichtert amüsierte sich Isolder mit Llywelyn, der seine Haare auffächerte (herrje, sie reichten schon über die Schulterblätter! Mussten dringend wieder gestutzt werden!) und ihn geduldig anwies, wie man sämtliche Feigenblätter abpflückte. Wann war Llywelyn zum letzten Mal so ausgelassen, ja, überdreht gewesen? Er konnte sich nicht entsinnen. Vielleicht musste man es auch einer gewissen Nervosität zuschreiben, doch welche Rolle spielte das? Der Kleider ledig studierten sie einander, auf der Seite warm zugedeckt liegend, in Llywelyns Bett. Der lächelte begehrlich, kletterte plötzlich flink auf Isolders Oberschenkel und stützte die Hände auf dessen Oberarme. Im Kerzenlicht schimmerte seine Gestalt wie Gold und Alabaster. Isolder seufzte leise, selig. Er hatte überhaupt nichts dagegen, dass Llywelyn engagiert Feldforschung betrieb! *~*8*~* »Hmmmmmhhhnnnmmmmm!«, schoss Isolder durch den Kopf und verdrängte die meisten anderen kohärenten Gedanken. Llywelyn lag auf ihm, ein Bein angewinkelt, das Knie in die Matratze gestemmt, um ihn von seinem Gewicht zu entlasten. Die Ellenbogen halfen nur gelegentlich aus, wenn Llywelyn nicht seinen Kopf einfing, ihm durch die langen Haare strich, während sie sich küssten. Isolders aufgestelltes Bein in Llywelyns Schritt wurde erneut zur Arbeit herangezogen, denn mit minimaler Muskelkraft konnte er seine Hüften und seinen berauschenden Beckenschwung einsetzen. Er spürte die sengende Hitze ihrer Erektionen, die aneinander und an ihren Bauchdecken rieben, kreiselte mit den Händen über Llywelyns geschmeidiges Rückgrat und massierte mit lustvoller Kraft dessen trainierte Hinterbacken. Eigentlich wollte er noch andere Territorien erforschen, doch für das erste Mal war er mehr als willig, Llywelyn die Zügel zu überlassen, der sich vollkommen ohne Scheuklappen über ihm ausstreckte, keine weichen, warmen Rundungen bot, sondern einen muskulösen, harten Körper. Zu Isolders Verwunderung störte es ihn nicht im Mindesten. Außerdem blieben nicht genug Gehirnwindungen übrig, die sich mit Analysen beschäftigen konnten, simpel, weil sein Verstand zugunsten seines Unterleibs generös die Blutzufuhr umlenkte. Er rieb ihre Becken erneut aneinander, entlockte Llywelyn ein gutturales Stöhnen und leckte begehrlich über dessen Kehle, als der sich reflexartig hochbog. Aber ganz unbehelligt konnte Isolder nicht in ihrem Liebesakt schwelgen, da war Papa Schlumpf vor! Der trat ihm gerade vehement ins imaginäre Kreuz und skandierte energisch! "Gummis! Hol Überzieher, sonst saust du das Bett ein!" Leider hatte der Spielverderber recht, und Isolder wusste zu genau, dass keine Zeit mehr zu verlieren war. Mit einer eleganten Rolle beförderte er sich auf Llywelyn, der überrascht aufstöhnte, ihn mit flammenden Wangen und fiebrigem Blick aus halb gesenkten Lidern ansah, keuchend und mehr als erregt. Isolder schluckte, brachte kein Wort hervor und rappelte sich taumelnd auf, um in seiner abgeworfenen Hose ungeduldig nach den Kondomen zu fischen. Verflixt, wieso hielt die verdammte Verpackung bloß seinen Anstrengungen, sie einfach aufzureißen, störrisch stand?! Seine Grimasse animierte Llywelyn im flackernden Kerzenschein zu einem heiseren Kichern, dann setzte er sich auf, breitbeinig mangels anderer Möglichkeiten. Isolder hätte sich gern für diese TOTAL ABTÖRNENDE Unterbrechung entschuldigt, aber Llywelyns Anblick verschlug ihm ständig die Sprache. 'Sexy' war zu kraftlos, um dessen Erscheinung und die Wirkung zu beschreiben. Endlich hatte sein Gewaltakt Erfolg, die Latexhüllen waren befreit. Er atmete keuchend wie ein Dampfross und zwang sich, nicht ständig zu Llywelyn zu starren, um nicht blitzartig vollkommen zu vergessen, was er eigentlich vorgehabt hatte. Llywelyn beugte sich nach vorne, kam auf alle Viere, um die Distanz zu ihm zu überwinden. »Oooooooooooooooooooohhhhhhhhhhhhhh!«, stöhnte Isolders verzweifelt ankämpfender Rest Verstand im Rückzugsgefecht, aber zu spät. Seinen hastig operierenden Fingern entglitten die Kondome, fielen zwischen seine situationsbedingt getrennten Oberschenkel, weil Llywelyn auf ihn zukroch, auf allen Vieren, schlank genug in der Brustpartie, dass man zwischen den Armen hindurch am Bauch entlang seine deutliche Erektion sehen konnte. Andernorts hätte man dieses Panorama mit einer nasal gespritzten Blutfontäne illustriert. Isolder wäre hintenüber gekippt, doch Llywelyns Rechte, die sich hitzig auf seine Wange legte, hieß ihn in Habachtstellung verharren. Dann schlängelte sich Llywelyns Zunge in seinen Mund. Genießerisch und hingebungsvoll beteiligte er sich an ihrem leidenschaftlichen Kuss, drehte sich ganz zu Llywelyn um und hob die Beine wieder von der Kante in das Bett. Ohne bewusstes Zutun half er ihm, sich auf seinem Schoß einzurichten, schlang die Arme um dessen Rücken und bedeckte ihn von einem Ohrläppchen zum anderen mit zärtlich-ruhelosen Aufmerksamkeiten. Llywelyn tastete unterdessen zwischen ihren Beinen nach den Überziehern, touchierte absichtlich-zufällig Isolders imponierende Erektion. Der gab einen kehligen Laut von sich, der ihm vor lustvoller Erregung die Haare am ganzen Leib aufstellte. Llywelyn hätte es nicht für möglich gehalten, dass er für derart animalische Vergnügungen Begeisterung, sogar Hingabe, empfinden konnte. Aber nun sah er sich ganz ohne Bedauern eines Besseren belehrt. Isolders Hände fingen seine eigenen ein, bevor ein Schaden entstehen konnte, der mit Kondom zu verhindern gewesen wäre. Wie lautete nun die Etikette? Versorgte man sich selbst zuerst, oder hatte der Partner den Vortritt? Jeder für sich und Amor für uns alle? Oder wie? Bis zu diesen denkwürdigen Ereignis hatte Isolder dieses Problem noch nie zu erörtern gehabt, und JETZT war er gelinde gesagt indisponiert, sich in aller Tiefe dem Sujet zu widmen. Vor allem eins musste verhindert werden: wenn Llywelyn ihn noch einmal DORT berührte, würde ohne Zeitverzug eine Fontäne abgefeuert, die wahrscheinlich nur an der Zimmerdecke ihr natürliches Ende fände! "Hngmbl!", ächzte er unverständlich und verstaute seinen Raketenwerfer hastig in einem weihnachtlich grüngefärbten Kondom. Das erleichterte. Momentan. Llywelyn wollte seinerseits ebenfalls nicht untätig seinem rasenden Puls lauschen und fasziniert die winzigen Perlen beobachten, die über Isolders Haut tiefer glitten, doch ihm fehlte das Geschick. Saß das Ding überhaupt richtig herum?! Verflixter Schattenwurf! Ein rascher Kuss lenkte ihn ab, dann spürte er Isolders Finger zur Hilfe eilen, schlang eilends die Arme um dessen Nacken, vertiefte ihren Austausch von Zärtlichkeiten und stöhnte gedämpft in dessen Mund. Isolder ließ ihn langsam auf den Rücken gleiten, gönnte sich für einen gefährlichen, Gehirnzellen en gros verdampfenden Augenblick den berauschenden Anblick seines Freundes: nackt, mit gespreizten Beinen und wackerer Standarte ausgestreckt, um Atem ringend und keineswegs leise, wenn ihn die Lust in ihrem Griff hatte. Ein stummes Dankgebet (zweisilbig, in einem Wort) entfloh an den unbekannten Meteoriten, der wie eine Sternschnuppe gehandelt, ihn getroffen und damit einen nicht mal bekannten Wunsch erfüllte hatte. Dann beugte er sich geschmeidig über Llywelyn, leckte begehrlich über dessen rosige Brustwarzen. Sie waren süße Knospen, reiften in seinem Mund zu lockenden Knöpfen, die man wie Türknäufe aus Messing bis zur Bewusstlosigkeit polieren konnte. Immer wieder anhauchte, abschmirgelte, rieb und bestrich. Llywelyn bäumte sich unter ihm auf, wickelte die Finger in Isolders lange Haare, stieß eine heisere Melodie unartikulierter Laute aus, wand sich, hin und her gerissen zwischen Flucht und Hingabe. Endlich wanderte Isolder ein wenig tiefer, leckte und küsste eine Spur entlang des Brustbeins, bis er weit unten den zuckenden, bebenden Bauch erreichte. Den Nabel dieser herrlichen, unvergleichlichen, verzückenden, liebreizenden Welt! Auch hier konnte er nicht an sich halten, ihn zu necken, mit seiner gezielten Aufmerksamkeit zu bedenken. Llywelyns Knie pressten nun gegen seine Seiten. Er schluchzte unter der Anstrengung, sich nicht das Vergnügen zu verderben, jetzt schon zu kommen, bevor der mutmaßliche Höhepunkt der gegenseitigen Liebeswerbungen erreicht war. Isolder streckte das Rückgrat durch, senkte sich über Llywelyn und küsste ihm sanft die Tränen von den Wangen, ließ sich einfangen und verführen. Dann schob er, fast schon verstohlen, die Arme unter Llywelyns Rücken hindurch, spannte alle Muskeln an und hob ihn sich wieder auf den Schoß, nutzte ihrer beider Gelenkigkeit aus, die Beine weit genug spreizen zu können, dass sie sich beinahe in der Mitte berührten. Llywelyn schnappte erstickt nach Luft, als Isolder ihre Erektionen in einer Hand barg, den bangen Moment abwartete, verschleiert in silbergrauen Augen versinkend, ob diese Freiheit genehm war. Nicht nur das. Auch Llywelyn legte Hand an, schlang den freien Arm um Isolders Nacken, unter dessen offenen Haaren hindurch. Während sie gemeinschaftlich eine private Disziplin des Fingerhakelns erprobten, küsste er Isolder atemlos. Dann stiegen jede Menge Raketen auf und Sternhagel explodierten. *~*8*~* Isolder lag neben Llywelyn ausgestreckt, hielt dessen Hand und blinzelte müde an die Zimmerdecke. Da wähnte man sich doch glatt als einen kräftigen Typen, ausdauernd und zähe, der eine Menge wegsteckte und nun DAS! In der ersten Runde k.o.! Ausgezählt! Matschig in der Birne und schlapp wie ein alter Waschlappen! Nun, um die Bilanz auf der anderen Seite vorzustellen, er fühlte sich grundsätzlich gerade VERDAMMT NOCH MAL GROSSARTIG! Bloß bis zum nächsten Gong, da könnte er ein gewisses Päuschen benötigen. "...wolltest du nicht weitermachen?" Llywelyns Stimme drang aufgeraut an sein Ohr. Kein Wunder, so leidenschaftlich, wie der ihre Liebeswerbungen kommentiert hatte! "...weitermachen?", echote Isolder begriffsstutzig, drehte den Kopf auf die Seite. Selbst diese Aktion erforderte konzentrierte Anstrengungen, verflixt noch eins! Die silbergrauen Augen wirkten glasig, das schöne Gesicht sanft errötet, aber auch müde. "Hinten?", gab er Isolder einen verschämten Fingerzeig. "...oh...", murmelte Isolder, der gerade eine kalte Dusche 'erlitten' hatte. "...also...", druckste er, vermied aber die erneute Anstrengung, den Kopf zu drehen, um Llywelyns Blick auszuweichen. "Ehrlich... ich steh da nich drauf." Im Gegenteil, allein die Vorstellung, irgendwo anal anzudocken...oder schlimmer noch, selbst aufgespießt zu werden... BRRRRRRRRRRRRRRRRRRR! Dann trat ihn sein Verstand, wieder mal verzweifelt, ins Gesäß. Wollte er wirklich gerade jetzt ALLES verpfuschen?! "...oh...", antwortete er seinem Verstand hilflos. "Nun ja...", adressierte er seinen Bettgenossen aufopferungsvoll. "Wenn du magst, dann könnte ich..." Llywelyn drehte sich auf die Seite, rutschte an ihn heran und studierte sein Gesicht, einen Arm über Isolders Bauch gelegt. "Ich habe mir Sorgen gemacht", krächzte er lächelnd. "Dass du meinetwegen zu kurz kommst. Das wäre nämlich.." "..unfair", fiel ihm Isolder ins Wort und zog eine Grimasse. "Nöööö! Ich muss DAS nich habn, wirklich nich!" "Bin ich froh!" Llywelyn streichelte ihm über das Gesicht, zwinkerte. "Ich finde die Vorstellung schon gruselig. Zumindest für mich." Andere konnten tun, wie ihnen beliebte. Jeder nach seiner Fasson, um den Alten Fritz zu zitieren. Ihm selbst fiel es schon schwer zu begreifen, wie Frauen es tolerieren konnten, als 'unterlegener' Partner das Eindringen zu gestatten, ohne sich genötigt und vergewaltigt zu fühlen, ausgeliefert und der Freiheit beraubt. Nun folgte Isolder seinem Beispiel, rollte sich ebenfalls auf die Seite. "Soll ich mich verziehn? Bevor deine Eltern anrückn?", nuschelte er müde. "Nein." Llywelyn grinste ob der Schläfrigkeit seines eigentlich unermüdlichen Freundes. "Bitte bleib hier. Ich hole dir auch einen Schlafanzug." Er setzte sich auf, bemerkte dann die grüne Verpackung, die man vernachlässigt hatte und warf Isolder einen komisch-herausfordernden Blick zu. "Du könntest mir aber verraten, wie ich uns davon befreie, ohne die Betttücher in Mitleidenschaft zu ziehen." Isolder grinste breit. DAS war sein Außerirdischer, wie er leibte, lebte und sprach! *~*8*~* Natürlich wurde die Schläfrigkeit aus dem Feld geschlagen, wenn man erst der körperlichen Hygiene Vorschub leisten sollte, dann mit dem Badezimmer bekanntgemacht wurde, wo geduscht und die Beißerchen geschrubbt werden mussten. Als Isolder endlich, in einen royalblauen, weichen Pyjama gehüllt und vorsorglich mit Wollsocken ausgestattet in Llywelyns gastfreundliches Bett kroch, war er wieder wach. Zumindest wach genug, um eine Textnachricht nach Hause abzusetzen, dass er erst am frühen Morgen wieder eintrudeln würde. Llywelyn, frisch geduscht, den wunden Hals gesund gegurgelt und in einen vornehmen, bordeauxfarbenen Pyjama aus Seidenstoff gehüllt, schob sich zu ihm unter die Decke. "Möchtest du, dass ich den Wecker stelle?", erkundigte er sich, nun ein wenig scheu, denn zum ersten Mal hatte er einen Übernachtungsgast. "Iwo, danke." Isolder lächelte. "Ich werde von alleine wach und schleiche mich dann wie ein Verführer und notorischer Delinquent aus dem Haus. Bei Nacht und Nebel." Zwischen den goldenen Augenbrauen bildete sich die gefürchtete Falte. "Du bist kein Delinquent", versetzte Llywelyn verletzt. "Bitte setz dich nicht mal im Spaß herab! Und..." Er zögerte, leckte sich über die kirschroten Lippen. "Geh nicht ohne Abschied, bitte." Getroffen, weil er Llywelyn in eine so trübe Stimmung versetzt hatte, zog Isolder ihn in den Arm, flüsterte geknickt. "Entschuldige! Natürlich verschwinde ich nicht einfach! Wird mir sogar schwerfallen, nicht für immer an dir zu kleben!", neckte er versöhnlich. Llywelyn lachte leise, schmiegte sich an ihn, erwiderte die Umarmung mit nicht zu unterschätzender Kraft. "Erstaunlich!", murmelte er versonnen, "ich mag es wirklich sehr, wenn wir uns berühren." "Trifft sich doch gut!", grinste Isolder übermütig. "Geht mir nämlich genauso! Das erspart uns doch locker das Auftauchen eines Meteoriten!" Denn hier wurden ja bereits Wünsche am laufenden Band erfüllt! Malefiz maunzte vernehmlich. "Ich glaube", wisperte Llywelyn Isolder unterdrückt zu, "wir sollten jetzt das Licht löschen. Hier wird streng auf Schlafenszeiten geachtet." "Weia!", brummte Isolder. "Bin ich wohl in einen Konvent eingebrochen?! Da lohnt sich das Sündigen so richtig." Malefiz, die noch keine Bewegung registrierte, die das störende Licht reduzierte, sprang auf das Bett, stieg über die darunter befindlichen Glieder hinweg und funkelte streng aus großen Bernsteinaugen auf die beiden ungezogenen Mitbewohner herunter. "OhOh!", kommentierte Isolder, drückte unter der Decke Llywelyns Hand. "Deine Adoptivmutter wird gleich böse auf mich!" "Du stehst eben doch unter dem Pantoffel, Papa Schlumpf!", erwiderte Llywelyn trügerisch mitfühlend. Dann lachten sie beide so sehr, dass sie Mühe hatten, die Kerzen auszupusten. *~*8*~* Der Ruf der Natur war verlässlich und trieb Isolder aus dem Bett. Er orientierte sich kurz, schwang die Beine über die Bettkante und rollte sich hinaus in das feindliche, nach Kerzenaroma duftende Leben. Nachdem er den tief schlafenden Llywelyn wieder ordentlich zugedeckt hatte, erprobte er seine Künste im Zurechtfinden in der vorherrschenden Dunkelheit. Malefiz strich an seinen Beinen vorbei zur Tür. Isolder tastete sich zum Stuhl vor, hob die Blockade auf und ließ sich mit seiner Begleiterin aus Llywelyns Zimmer. Als er einige Minuten später auf Zehenspitzen und unterstützt durch schalldämpfende Wollsocken zurückkehrte, brannte ein kleines Leselicht. Llywelyn war wach. "Oh, entschuldige, habe ich dich geweckt?", flüsterte Isolder. "Das wollte ich nicht. Es ist noch ziemlich früh." "Ich weiß." Llywelyn schlug die Bettdecke zurück, klopfte auffordernd auf die Matratze. "Kannst du nicht noch ein wenig bleiben? Ich mache dir auch ein gutes Frühstück!" Isolder lächelte, setzte sich neben ihn auf die Matratze und streichelte ihm zärtlich über eine vom Schlaf rosig gerötete Wange. "Bestechung ist nicht notwendig. So zeitig muss ich noch nicht los." Llywelyn studierte ihn konzentriert, nagte unbewusst an seiner Unterlippe. Es amüsierte Isolder, diesen inneren Kampf zu verfolgen, sodass er geduldig abwartete, bis die entscheidende Frage an ihn gerichtet wurde. "Darf ich dich ansehen?" Perplex lupfte Isolder die Augenbrauen. "Tust du das nicht gerade?" Ihm wurden nachdenklich Strähnen hinters Ohr gekämmt. "Ich meine vollständig. Ich möchte dich gern überall ansehen." "Ah..oh..." Isolder errötete zu seiner eigenen Verärgerung. Liebe Güte, was sollte das jetzt?! Sie hatten schon miteinander geschlafen, wieso schlug das Tomaten-Gen immer noch zu?! "Darf ich bitte?", wiederholte Llywelyn sanft, aber hartnäckig seine Frage. "...ja...sicher." Einigermaßen verlegen erhob sich Isolder, um eilig aus dem Pyjama und den Wollsocken zu schlüpfen. Er wurde aufs Bett dirigiert, zugedeckt, damit er nicht fror, dann wickelte ihn Llywelyn entsprechend dem Fortschritt seiner Studien langsam aus. Eine starke Leuchte wurde ausgerichtet, immer wieder korrigiert und trotz dieser eher ungewöhnlichen Umstände raste Isolders Herz. Llywelyn berührte ihn nur ab und an hauchzart mit den Fingerspitzen, kauerte ansonsten aber wie ein Feldforscher über ihm. Schließlich winselte Isolder leise, "Llywelyn, bitte, ich MUSS mich umdrehen!" Sonst klemmte er die Blutzufuhr eines nicht unwesentlichen Körperglieds schmerzhaft ab! "Du darfst", gestattete ihm Llywelyn konzentriert die Kehrtwende, arbeitete sich nun von den Zehen langsam nach oben. "... viele Narben", murmelte er leise. Isolder grimassierte, die Fäuste geballt, um gegen die unerträgliche Erregung anzukämpfen. "Und die meisten davon sind unsichtbar." Versöhnlich küsste ihn Llywelyn auf die Kniescheiben, streifte ihn mit den seidig weichen Strähnen seines gestuft gestutzten Schopfes. Die Zehen einrollend, die Zähne zusammengebissen imaginierte sich Isolder eilig kalte Duschen, Gefriertruhen, saure Gurken und das schnarchende Walross mit dem rosa Stringtanga, doch nichts half wirklich. "Llywelyn!", plädierte er verzweifelt. "Ich muss mal raus!" "Hast du keine Kondome mehr?" Llywelyn streifte sich das Pyjama-Oberteil über den Kopf, ringelte sich aus der Hose. Forschung machte ungemein hungrig! "...nein!", verdammte sich Isolder selbst, der natürlich persönliche Betreuung einem deprimierenden Aufenthalt im Badezimmer vorzog. "Macht nichts", stellte Llywelyn vergnügt fest, lächelte wie ein Raubtier aus halb gesenkten Lidern auf Isolder hinab. "Das ist nicht wichtig." Taschentücher waren da und wenn's doch ein Malheur gab, musste die Waschmaschine herhalten! Er schmiegte sich auf Isolder, der ächzend nach Luft rang, die schmirgelnden Bewegungen Llywelyns aber durchaus goutierte. Kuss an Kuss, hin und her gerollt, dann endlich hatten sie sich so einander verheddert und verschlungen, dass es nur noch in eine Richtung gehen konnte. Zu den Sternen, jeder Schuss ein Treffer! *~*8*~* Geduscht und vollständig angekleidet schlürfte Isolder selig in der Küche einen kräftig gesüßten Milchkaffee und kaute ein eigens für ihn aufgebackenes Croissant. Dazu gab es mageren Bacon aus der Pfanne, ein Spiegelei und etwas eingelegten Krautsalat vom Vortag. Himmlisch! Beinahe fühlte er sich dekadent in dem Luxus, den er hier ganz ungeniert genoss. Llywelyn saß ihm gegenüber, nippte an seiner Schokolade und lächelte fröhlich. "So sollte es immer sein!", seufzte Isolder tollkühn, streckte die Hand aus, um den Schokobart zu verwischen. Schmunzelnd knabberte Llywelyn an einem Stück Croissant. "Das erinnert mich daran, dass ich dir noch etwas sagen muss." »Oh oh...« "Moment!", wedelte Isolder hastig mit einer Hand, "wenn darin Schwangerschaft, Gras oder eine Wii vorkommt, möchte ich es bitte NICHT hören!" Llywelyn blinzelte verdutzt, kicherte dann aber. "Zu deiner Beruhigung darf ich dir versichern, dass ich nicht schwanger bin, keine Drogen konsumiere und mit einer Wii nichts anzufangen weiß." "Jetzt hast du es doch gesagt!", stöhnte Isolder und stibitzte zur Vergeltung ein Stück Croissant, frisch mit Honig bestrichen, von Llywelyns Teller. "Keine Aufregung, Papa Schlumpf!", neckte ihn Llywelyn großmütig. "Ich wollte dir eigentlich nur mitteilen, dass meine Eltern gestern beschlossen haben, ab dem ersten Weihnachtstag zu Bekannten zu reisen. Ich bin also ab Donnerstag alleine hier." Isolder merkte auf. Seine dunkelblauen Augen nahmen ein eigentümliches Funkeln an. "Was das für ungeahnte Möglichkeiten eröffnet...", schnurrte er gedehnt. "Das dachte ich mir auch", zwinkerte Llywelyn ihm warm zu. "Ich könnte dich und deine Familie besuchen. Du könntest ab und zu bei mir und Malefiz übernachten." "...un-be-dingt!", murmelte Isolder, der sich bereits vorstellte, wie sehr sich seine Mutter über Llywelyns Besuch freuen würde. Wie einfach es ab Donnerstag sein würde, Llywelyn seine Geschenke zu überreichen und Zeit mit ihm zu verbringen. "Dann bist du interessiert?" Llywelyn drehte eine spielerische Locke in eine weißblonde Strähne. "Kackt ein Huhn Eier?!", antwortete ihm Isolder übermütig. "Du wirst mich nie mehr loswerden!" "Das sagst du jetzt", neckte ihn Llywelyn fröhlich, "aber warte ab, bis du mein Chili probierst!" *~*8*~* Hand in Hand marschierten sie über den jungfräulichen Schnee zur Pforte. Isolder wollte nicht wirklich gehen, aber das Vergnügen lebte auch davon, dass es nicht unendlich war. Seine Familie war auf ihn angewiesen, da durfte man nicht zu selbstsüchtig sein. Llywelyns Daumen streichelte über seine Handfläche, so vertraut, dass er sich gar nicht vorzustellen vermochte, es möge jemals anders sein. Egal, was alle anderen glaubten und auch, wenn Llywelyn nicht daran glaubte: für ihn war es Liebe. "Tja, Schatz!", seufzte er grimassierend, "dann nehme ich mal die Keule und wage mich in die gefährliche Welt hinaus." "Aber bevor du gehst", Llywelyn küsste ihn sanft auf die Nasenspitze, "habe ich noch etwas für dich." "Ach ja?" Isolder wurde von akuter Taubheit befallen. Konzentriert auf die kirschroten Lippen starrend wünschte er sich brennend einen dieser anderen Küsse. Von gestern Abend und heute Morgen. Nachsichtig registrierte Llywelyn den glasigen Blick, schlang die Arme um Isolders Nacken, erfüllte ihm ausgiebigst seinen Wunsch, bis sie lachend taumelten und schwankten, atemlos und aufgekratzt. "Öffne die Hand!" Llywelyn trat von Isolder zurück, nahm dann die dargebotene und legte etwas Kaltes, Hartes hinein, bevor er behutsam Isolders Finger darum bog. "Was ist das?" Isolder strahlte Llywelyn neugierig an. "Na, was denkst du denn?" Spitzbübisch zwinkerte ihm Llywelyn zu. "Der Meteorit natürlich, den ich dir damals an den Kopf geworfen habe!" Damit flitzte er kichernd zum Hauseingang zurück, während Isolder rasch den kleinen Stein mit einer ungewöhnlichen Farbgebung verstaute und Schneebälle nach ihm schleuderte. "Und ich liebe dich trotzdem! Immer noch! Bääätsch!", rief Isolder fröhlich. Llywelyn drehte ihm eine Nase, wich aber nicht ins Haus, bis er außer Sichtweite verschwunden war. "Tatsächlich!", vertraute er Malefiz an, die um seine Beine strich und sich kraulen ließ. "Die Physik ist doch erstaunlich! Eine bestimmte Materie zieht sich an, gleich und gleich gesellt sich!" Er hob Malefiz auf den Arm, die wohlig schnurrte. "War gut, dass ich damals den Stein an mich genommen habe, nicht wahr?" Fazit: Jugendlager waren keine totale Verschwendung. Wenn man Sternschnuppen fand und sie goldrichtig einsetzte! *~*8*~* ENDE *~*8*~* Vielen Dank fürs Lesen! kimera