Titel: Trick?! Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Silvester 2018/2019 Erstellt: 27.12.2018 Disclaimer: - Linus, Yann, Charlie und andere erscheinen in "Schutzengel" und "Powermann". - Hugh Hefner gab den "Playboy" heraus (Männermagazin). ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* ~~~@* Trick?! Kapitel 1 - Knalleffekt "Hab dich!" Tyson saß in der Falle. In unglaublicher Geschmeidigkeit wandte er sich herum und flitzte in die entgegengesetzte Richtung. Raimund, genannt Rai, schmunzelte. Etwa drei gekräuselte, ineinander verdrehte Schlauchmeter weiter würde Tyson gegen das zweite Hindernis stoßen. Gewissenhaft kam Raimund seinen Urlaubsvertretungsaufgaben nach, kontrollierte Futter und Wasser, die Grünpflanzen, den PH-Gehalt des kleinen Schwimmbads und natürlich akribisch die gesamte Konstruktion. "Bitte lächeln!", schoß er mit seinem Smartphone ein Belegporträt von Tyson, der den Rückwärtsgang einlegte, um die eigene Achse rotierte und unbeeindruckt von vorangegangenen Hindernissen einen Ausweg suchte. Tyson war Yanns Hausratte und eine gewitzte, einfallsreiche Herausforderung, robust, flink und ausgesprochen agil. Vielleicht mochten Kakerlaken an der Spitze der erfolgreichsten Spezies liegen, aber Ratten standen ihnen in wenig nach, selbst wenn sie wie Tyson Alleinunterhalter waren und Gefahren überleben lernten, die minderbegabte Angehörige ihrer Art dahinrafften. Raimund und Yann kannten sich aus frühester Kindheit, bevor er hatte wegziehen müssen und sein Leben für eine gewisse Phase etwas ungeregelter wurde, deshalb freute sich Raimund, dass nach dem Umzug zurück in die Nachbarschaft wenigstens ein bekanntes Gesicht ihm den Einstieg erleichterte, auch wenn bei Yann nicht alles gleichgeblieben war. Zunächst mal gab es da eine kleine Schwester, Charlotte (die NUR und AUSSCHLIESSLICH auf Charlie hörte) und, weil Yann lange genug den Geduldsfaden seiner Eltern bearbeitet hatte, ein Haustier. Ein Hund schied jedoch aus, denn der musste ausgeführt werden, beschäftigt, Gesellschaft haben. Da beide Eltern arbeiteten, Yann in der Schule und Charlie in Kindergarten und Hort untergebracht waren, konnte das nicht funktionieren. Gegen eine Katze brachte seine Mutter Einwände vor, die seien gar nicht so verschmust, tendenziell Einzelgänger und bei Wohnungshaltung häufig neurotisch. DA reichte Yann schon Charlie, herzlichen Dank! Modische Kleintierrassen wie Zwergkaninchen, Hamster, Rennmäuse oder Chinchillas fielen auch aus, alles, was ein riesiges Gehege benötigte oder die Nacht zum Tag machte, kam nicht in Frage! So blieb eine einzelne Ratte übrig. Kein Riesenviech! Geimpft, sauber, quasi handzahm. Und die wurden ja auch nicht so alt, nicht wahr? Yann durfte also eine Hausratte halten, unter der Bedingung, dass sie auf keinen Fall, nie niemals nicht, sein Zimmer verließ! Kein Problem! Sollte man meinen, allerdings zeichneten sich Ratten durch eine große Intelligenz aus, vom Spieltrieb ganz zu schweigen. Käfig mit Hamsterrad? Keine Chance! Weshalb seit Tysons Ankunft in Yanns Leben an Tysons Welt gebastelt wurde. Ratten verfügten eben über erstaunliche Fähigkeiten. Tyson konnte sich durch die kleinsten Lücken zwängen, durch Gitterstäbe quetschen, klettern wie kein anderer, zur Balance und Absicherung den Schwanz einsetzen! Deshalb gab es ein Terrarium mit Belüftung, einen Pool, eine gewundene Rennstrecke, Absperrungen, eigene Pflanzen, Kuschelecken, eine Kletterwand... Yann schmuste (zumindest im Beisein Dritter) nicht mit Tyson, vielmehr maßen sich hier zwei Geister gegenseitig und wuchsen mit der Herausforderung. Der örtliche Baumarkt freute sich über Umsätze, aber auch Flohmärkte und Sperrmüll-Depots wurden konsultiert. Raimund half gern. Er interessierte sich besonders für die Biologie von Pflanzen und beriet nach ausgiebiger Lektüre, was wohl ungefährlich für Grün sorgen konnte. Je mehr man konstruierte, kombinierte und aufbaute, umso akribischer musste der Gesamtbau kontrolliert werden, weshalb Raimund auch konzentriert und sorgsam die Prüfliste durchging, weil Tyson nun mal eine sehr schlaue Hausratte war. ~~~@* Raimund legte den Kopf in den Nacken und prüfte die Wetterqualität, kalt, aber noch trocken, nach einem dunstig-wässrigen, nebelschwangeren letzten Sonntag des alten Jahres gar nicht mal so übel. Er hielt sich zwar auf den Gehwegen auf, aber Schmutzstapfen in der Wohnung mussten nicht sein, denn zum ersten Mal verbrachte er den Jahreswechsel ganz allein daheim. Wenn man sich die Hausarbeiten nicht aufteilte, neigte man eben dazu, sie größtmöglich zu vermeiden, zum Beispiel durch umsichtiges, vorausschauendes Handeln! Seine Mutter hatte sich tatsächlich, trotz gewisser Skrupel, auf die Reise mit Kolleginnen und Kollegen gemacht, eine Woche raus, Erholungs- und Unterhaltungsprogramm an der Küste! Silvesterparty, Hafenrundfahrt, Musical-Besuch, Wellness-/Kur-Programm, Sehenswürdigkeiten, spätes Frühstück, keine Hektik! Nach der Jahresend-Rallye in ihrem Gemeinschaftsbüro für Innenausbau, Architektur und Haustechnik-Planung nur zu verständlich. Raimund ermutigte sie, denn ihm gefiel es sehr, wie gut sie sich eingelebt hatte, ihre Arbeit trotz der Herausforderungen liebte, noch immer aufblühte. Außerdem war er ein emanzipierter Sohn. Die Zeichen dafür hatten bei seiner Geburt vor fast 17 Jahren nicht so gut gestanden, da sollte einem tradierten Familienbild entsprochen werden. Gerade mal das Studium durfte abgeschlossen werden, dann stand Vater, Mutter, Kind auf dem Plan. Bloß. Seine brave, sanftmütige Mutter erkannte im ersten Jahr der Säuglingsbetreuung, dass sie im Begriff war, die Strukturtapete abzukauen! Wenn sie sich zum Spielkreis mit anderen Müttern traf, ihren extrem pflegeleichten Filius dabei, fühlte sie sich duckmäuserisch klein, unbedeutend und als Person geschrumpft. Sollte so ihr Leben aussehen? Sich dem Kind verschreiben? DAS war alles?! Da verlor man doch den Verstand! Sein Vater machte radikale Feministinnen unter den Müttern verantwortlich. Raimund bezweifelte diese Mutmaßung, schwieg jedoch wie üblich, denn das Verhältnis mit seinem Vater konnte man nur als schwierig beschreiben. Jedenfalls entschied seine Mutter, dass ein Jahr geistige Versumpfung im Erlebnishorizont eines Säuglings reichte und sie ganz sicher nicht das Heimchen am Herd sein wollte. All das, was man ihr als braver Tochter eingeimpft hatte, reduzierte sie auf ein Haushaltsaccessoire! Damit war Schluss und die Kampfhandlungen eröffnet, wovon Raimund selbstredend nicht allzu viel mitbekam. Er wurde in einer Kindertagesstätte vorgestellt, wo er sich rasch für einige Stunden des Tages einlebte, weil er von kleinauf so verständig war, wie man ihm immer versicherte. Im Kindergarten ging es so weiter, und er bemerkte gar nicht, dass seine Mutter hartnäckig ihren Berufswunsch verfolgte, sich weiterbildete, jobbte, was seinem Vater enorm gegen den Strich ging. SO hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt! Mit einer Frau, die von ihm verlangte, er solle sich zu gleichen Teilen am Haushalt beteiligen, für sie einen gerechten Anteil in die Rentenversicherung einzahlen, wenn er sie an einer eigenen Erwerbstätigkeit über den Tag abhielt! Das verleidete ihm ja alles! Hätte man das vorher gewusst! Über das, was sich danach ereignete, kursierten unterschiedliche Sichtweisen. Sein Vater behauptete, er sei vollkommen in die Enge getrieben worden, von den Kollegen und Nachbarn verlacht, die Entscheidung quasi schon gefallen, weshalb er es als Notwehr empfand, sich nach einer Frau umzusehen, die mit ihm eine richtige Familie gründen wollte, und nicht nur eine WG ohne Wohlfühlfaktor! Seine Mutter kommentierte, sie habe über Umwege erfahren, dass sein Vater sich eine Zweitfrau angelacht habe, die bald schon ein Brot im Ofen hatte. Das habe ihr dann gereicht, nach all den anderen Zumutungen, seiner kindischen Nörgelei, dem ständigen Beleidigtsein. Weshalb die K(r)ampf-Emanze die Scheidung forcierte und ihn ausbluten ließ! Ein fairer Lasten- und Zukunftsausgleich geschaffen wurde, denn Familien- und Hausarbeit sei genauso aufwändig und anstrengend wie Berufstätigkeit auf anderen Gebieten! Die Grundschuljahre verbrachte Raimund bei seinen Großeltern mütterlicherseits, die ihre eigene Tochter kaum wiedererkannten, selbstbewusst im Auftreten, elegant, kämpferisch. Egoistisch, weil sie ihren armen, kleinen Sohn nicht an die erste Stelle in ihrem Leben stellte! Raimund erlebte eine Phase der Verwirrung. Er bewunderte seine Mutter, ihre energische Fröhlichkeit, ihr zupackendes Wesen, ihren Ehrgeiz. Wenn sie sich ihm erklärte, konnte er darin keine Brüche erkennen, außerdem war er nun mal verständig, ein ruhiger, pflegeleichter Sohn, der mit sichtlichem Stolz Aufgaben im Haushalt erledigte, was den Großeltern nicht unbedingt gefiel. Einen Enkel, der unter dem Pantoffel stand, DAS passte ganz und gar nicht in ihr Konzept! Eine Trennung wurde unvermeidbar. Auch die Begegnungen mit seinem Vater, meist in Schnellrestaurants, zeichneten sich nicht gerade positiv aus. Der HATTE jetzt genau seine gewünschte Familie mit zwei Töchtern. Mit der Erblast aus seinem gescheiterten Fehlversuch, der ihn nach eigener Wahrnehmung zum Gespött gemacht hatte, wollte er nicht viel zu tun haben. Ja, nun, der Junge konnte ja nichts für seine verrückte Emanzen-Mutter, aber er wollte auch SEINE Familie nicht vor den Kopf stoßen oder Raimunds Anwesenheit in heimischen Gefilden erklären müssen! Raimund nahm das hin, weil er Scheidungskind war, wie andere auch in seiner Grundschule. Nun, er hatte kein zweites Zimmer, nicht mal ein eigenes, auch keine doppelten Feiertage und Geschenke, aber es gab schließlich auch andere wie ihn. Oder Kinder, die mit ihren Müttern in speziellen Häusern leben mussten, weil sie geschlagen worden waren, bedroht, unterdrückt, schikaniert. Eigentlich ging es ihm doch gut und er fand es keineswegs ungerecht, dass seine Mutter das tun wollte, was sie liebte, was sie besonders gut konnte. Er durfte das ja auch, mit der großen Lupe am Stiel Pflanzen betrachten und alles nachschlagen und -lesen, was er noch nicht wusste. Wenn man sich zusammentat und die Arbeit gerecht aufteilte, dann war das richtig, in Ordnung. Und noch besser war es, bei den Großeltern auszuziehen, zurück, bevor er die weiterführende Schule besuchte, wo er Yann wiedertreffen konnte, ein kleines Zimmer hatte und mit der Verantwortung betraut wurde, in einem Zwei-Personen-Team eine wichtige Rolle zu spielen. Selbst nach der Rückkehr lernte er noch immer dazu, wie Raimund fand. Unterschiede zu machen, die sachlich nicht begründet waren, das störte ihn auch. Wenn einen das zu einem emanzipierten Menschen machte, dann nahm er dieses Etikett mit Selbstverständlichkeit an! Außerdem wäre es doch wirklich beschämend, wenn er nicht in der Lage wäre, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Das mochte anstrengend sein, gar kein Zweifel, aber ohne Fleiß keinen Preis! Aufgeben stand nicht zur Debatte. Darin ähnelte er seiner Mutter sehr. ~~~@* Raimund schob sich weder Kopfhörer auf den Schädel, noch dübelte er sich die Gehörgänge zu, obwohl er Musik schon recht gerne hörte. Aber er hatte sich so seine Gedanken gemacht über die Zukunft, über überdüngte Böden, die bald Wüsteneien ähnelten, über klimatische Veränderungen, die den Pflanzen zusetzten, über die eigene Verantwortung. Wenn alle sich etwas zurücknehmen würden, könnte man eine Menge bewegen. Beispielsweise Strom sparen. Wenn man - das Smartphone nur dann aktivierte, wenn man es brauchte, - Musik nur hörte, wenn man sie WIRKLICH hörte und nicht nur als Lärm abweisende Kulisse benutzte, - Wasser aufkochte und in einer guten Thermoskanne über den Tag nutzte, - zu Fuß ging oder ein Fahrrad benutzte, - nur dann Fernsehen guckte oder am Computer arbeitete, wenn man sich darauf konzentrierte, - eine Handtaschenlampe mit Kurbelbetrieb nutzte, anstatt alles taghell zu erleuchten, - auf den Aufzug verzichtete, - die Heizung nur nutzte, sobald es zu kalt wurde und Bauschäden drohten, - sich lieber feucht abrieb, als jeden Tag zu duschen oder ein Vollbad zu nehmen. Es gab eine Menge kleiner Dinge, die man tun konnte, die gar nicht wirklich schmerzten, sondern nur bedeuteten, dass man aus der Komfortzone eigener Bequemlichkeit herauskam. Natürlich gab es keine Garantie, dass dann alles besser werden würde, andererseits, wie sah die Alternative aus? Nichtstun? Raimund glaubte daran, dass jede Kleinigkeit zählte. Für ihn war es auch selbstverständlich, keine Böller zu erwerben oder zu zünden. Ja, so ein Feuerwerk mochte schön aussehen, aber ging es nicht auch ohne Umweltverschmutzung und Lärm? Mit seinem Vater war eine Verständigung diesbezüglich nicht möglich. Was sollten denn die Nachbarn denken, wenn man nicht mitballerte?! Dass man das Geld nicht hatte? Ein Querulant sei, der anderen ihr Vergnügen madig machte?! Raimund hielt es hingegen für ausgesprochen verschmerzbar, auf so ein schädliches "Vergnügen" zu verzichten. Warum sollte man nicht ein Feuerwerk für alle organisieren können? Ohne den Lärm, einfach nur Leuchtspuren am nächtlichen Himmel? Und auch nur dann, wenn man etwas sehen konnte, nicht bei Dunst, Nebel oder strömendem Regen oder Schneefall. Wenn man böse Geister vertreiben wollte (angeblich), dann erlitt man ohnehin Schiffbruch, die waren systemimmanent. Raimund seufzte leise und fragte sich, warum er seinen Vater einfach nicht begreifen konnte. Er konnte dessen Argumentation zwar nachvollziehen, doch sie erschien so-so kleingeistig, kurzsichtig, selbstzentriert. Ängstlich. Möglicherweise lag in ihren distanziert-höflichen Meinungsverschiedenheiten auch der Grund dafür, dass sie bald keine Beziehung mehr pflegen würden, dass die Kontakte lose wurden, sporadisch, nahezu einschliefen. Einerseits. Andererseits gab es ja noch die zweite Komponente. Raimund zog die Schultern automatisch ein wenig höher, nicht, dass diese Geste half. Man konnte natürlich auf ein spätpubertäres Wunder hoffen, aber Raimund bezweifelte die Erfolgsaussichten. Die jüngste Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts war ihm quasi druckfrisch an den Kopf geworfen worden, dass man jetzt endlich seine Geburtseintragung anpassen könnte, nämlich "divers"! Haha! Raimund war sich seiner schmalen Gestalt bewusst, der zarten, feinen Gesichtszüge, von der "Ausstattung" her mutmaßlich männlich, bezog man primäre Geschlechtsorgane ein. Aber sonst?! Androgyn. Oder feminin, wenn man das als Beleidigung nutzen wollte. Sein Vater fand ihn, wenn er sich nicht der Witterung geschuldet vollkommen verpuppte, peinlich. Yann hingegen schien vollkommen blind für sein äußeres Erscheinungsbild zu sein. Er war der Kindergarten-Kumpel, Punkt. Was andere dachten, interessierte Yann ohnehin nur, wenn er sie für satisfaktionsfähig hielt. Wenn's sich um Arschkrampen und Vollidioten handelte, konnten die demokratisch ne Meinung und n Arschloch haben, das bedeutete aber nicht, dass man sich drum scheren musste! Raimund empfand diese Bodenständigkeit als sehr beruhigend, denn eigentlich hatte er an sich selbst nicht viel auszusetzen, rein funktionell und ehrlich gesagt wusste er auch gar nicht, wie er denn sonst hätte aussehen wollen oder sollen. Dass man sich entscheiden musste, obwohl das nur in wenigen Interaktionen von Bedeutung war, kam ihm überflüssig vor. Er zupfte seine voluminöse Strickmütze etwas tiefer in die Stirn. Es gab viel wichtigere Dinge auf der Welt, richtig? Beispielsweise in das etwas fleckige Buch mit Pflanzenillustrationen zu blicken, das ihm seine Mutter aus einer Grabbelkiste mitgebracht hatte. Raimund schritt beschwingter aus. Im Moment hegte er ein besonderes Faible für heimische Kräuter. Man konnte eine Menge lernen und immer noch staunen! Während er in Vorfreude auf die Erweiterung seines persönlichen Horizontes schwelgte, drang wollegedämpft unmanierliches Gelächter an sein Ohr. Automatisch beschleunigte er. Besoffenen zu begegnen, am Vorabend zum Silvestertag, das musste nun wirklich nicht sein. Allerdings half es nicht mal etwas, die Straßenseite zu wechseln, wenn die drei Krawallmacher einen umstellen wollten! "Kapuze!", hörte Raimund, der auszuweichen versuchte, keine Gesichtszüge ausmachen konnte, weil man sich mit Schals maskiert hatte. Einer packte ihn am Ärmel. Raimund wollte sich herausdrehen, spürte einen heftigen Ruck im Nacken, dass seine Kapuze gepackt worden war. Dann kam er frei, vielmehr spritzte man unter grölendem Gelächter von ihm weg. Raimund registrierte, dass man einen Grillanzünder und Böller apportierte. ~~~@* Was tun?! Raimund wusste, auch wenn er das Zischen nicht hören konnte, dass sie ihm einen Böller in die Kapuze gesteckt hatten. Danach greifen?! Nein, Anorak aus, schnell, der würde durch die Polsterung brennen wie eine Lunte! Panisch zerrte er am sich verkeilenden Reißverschluss, der schon an guten Tagen wenig kompromissbereit war. Es stank angesengt. In seinen Ohren dröhnte das besoffene Gelächter. ~~~@* Raimund streichelte über das lange, etwas scheckige Fell. Langsam ließ das Zittern nach. Mit der anderen Hand umklammerte er die reflektierende Schutzdecke. Das blau-weiße Licht des Streifenwagens mischte sich mit der grellen Signalfarbe des Krankenwagens. Den Anorak konnte er jedenfalls vergessen. Wenigstens hatte die Wollmütze seinen Hinterkopf vor einer großen Beule bewahrt. Erschüttert war er trotzdem, stand unter Schock, saß auf der hölzernen Parkbank, auf dem linken Oberschenkel eine Hundeschnauze abgelegt. Raimund merkte erst auf, als zwei Paar Hosenbeine vor ihm die faszinierende Bodenlandschaft aus Kies und vertrockneten Grashalmen störten. "Geht's dir schon etwas besser? Die sagen zwar, dass du nicht angesengt bist, aber, oh! Manieren!", man ging vor Raimund in die Hocke. Zwei junge Männer oder eher Jugendliche. "Das ist Bella. Sie mag dich", wurde Raimund die Hündin vorgestellt, die er zu seiner eigenen Beruhigung kraulen durfte. Flinke Hände illustrierten jede Äußerung, "das hier ist mein Bruder Oktavian Martellus. Er hat gleich eine Streife alarmiert und hierher gelotst!" Vor Raimund hockte ein außergewöhnlich attraktiver junger Mann. Selbst in der fragwürdigen Beleuchtung des Tatorts konnte man strahlend blaue Augen erkennen, klassisch-schöne Gesichtszüge und ein aufmunterndes Lächeln. Nach diesem Vorbild fertigte man Statuen und mythische Helden! "Ich", gestikulierten die Hände eifrig, "bin Tiberius Sabinus. Tibo ist in Ordnung, aber bei Tippse werde ich einfallsreich und nachtragend." Der Bruder zeichnete sich durch eckigere Züge aus, hellere, fast durchscheinende Augen und eine fortwährende Bewegung. "Raimund. Rai", krächzte Raimund erstickt. Man sollte sich jetzt aber flugs bedanken, sich zusammenreißen! Sich erheben, nach den ausstehenden Formalitäten erkundigen und dann nach Hause gehen! Bloß war sich Raimund nicht mal sicher, dass er sich von der Parkbank lösen konnte. "Wir haben vorhin gehört, dass du allein zu Hause bist, dass die Polizei deine Mutter nicht anrufen soll. Willst du mit zu uns kommen? Nach dem Schreck?" Raimund wusste nicht, wie er antworten sollte, wie er eine Entscheidung treffen sollte. Er zuckte heftig zusammen, als in die Gruppe bei den Fahrzeugen Bewegung kam. Das Festsetzen der drei Angreifer hatte robuste Maßnahmen erfordert, weshalb die Krankenwagenbesatzung sich einer längeren Beschäftigung befleißigte. Aber wenn man nun aufbrechen würde, wäre die Decke zurückzugeben. Also- also... Tiberius federte hoch, schälte sich aus seiner Jacke. "Bella, komm, wir gehen heim", gab er das Kommando aus, zog Raimund mühelos an beiden schmalen Handgelenken auf die Beine. Sein Bruder nahm die Schutzdecke an sich, faltete sie geschickt, während Raimund in die fremde Jacke gewickelt wurde. "Aber...!", protestierte er hilflos, wacklig auf den Beinen. Oktavian drückte ihm aufmunternd eine knochige Schulter. "Keine Angst, wir beißen nicht! Bella sowieso nicht, das weißt du ja, und ansonsten sind wir gut im Futter", Tiberius schloss die Jacke, zwinkerte Raimund zu, "du kannst übrigens auch mit meinem Bruder reden. Er ist SUPER-WELTKLASSE im Lippenablesen! Und angucken mag ihn auch jeder!" Darin klang so viel brüderlicher Stolz, dass Raimund aus seiner Erstarrung erwachte. Bella hatte unterdessen den Griff ihrer Leine aufgesammelt, wieselte zu Oktavian herüber, der sich bückte und ihn entgegennahm. "Ist bestimmt besser, wenn du heute nicht allein bist. Magst du vielleicht Gesellschaftsspiele? Wir haben jede Menge!", ein bestimmender Arm legte sich um Raimunds Schulter, während Tiberius simultan einhändig für den Bruder die Unterhaltung gestisch umsetzte. Daumen hoch, das verstand auch Raimund. "Du bist vielleicht ein bisschen erschrocken wegen des Bodychecks, aber ich bin eigentlich recht harmlos. Oki ist sowieso über jeden Zweifel erhaben! Außerdem, wenn wir jetzt nicht langsam gehen, wird die Sanitäterin ihn weiter anflirten! Nicht, dass mich das stört, aber Oki könnte glatt nen Harem aufmachen, und so untereinander vertragen die sich nicht immer. Was heißt hier, du übertreibst?! Gar nicht wahr! Erinnere dich mal an diese Janine und ihre Cousine!" Raimund klingelten die Ohren vor munteren Silben. Wenigstens seine Beine erinnerten sich aber an ihre Aufgabe und trugen ihn mit wachsender Sicherheit. "Du fragst dich bestimmt auch, warum Oktavian Martellus und Tiberius Sabinus?! Also, unser Vater ist Historiker. Solltest du jemals eine Frage zum Römischen Imperium haben, ER hat die Antwort! Jedenfalls wollte er auf dem Spielplatz diese 'Kevin-Thomas-Ben"-Problematik vermeiden, also, wenn er ruft und gleich ein Rudel reagiert. Bloß bei Oki hätte er sich ja die Mühe sparen können und bei mir galt dann eben ausgleichende Gerechtigkeit bei Geschwistern. Wir wohnen übrigens nicht weit weg. Du gehst auf die große Gesamtschule, oder? Also, Oki und ich besuchen die Inklusive, Private. Sind aber anerkannte Abschlüsse! Na ja, Oki ist ja jetzt fertig. Wusstest du, dass man trotzdem jede Menge Papierkram bewältigen muss, wenn man eine normale Berufsausbildung machen will?! Weil man ja ne mündliche Prüfung ablegen muss, aber die alle nicht sicher sind, was Gebärdendolmetschen so ausmacht! Ehrlich, wieso ist das so mühsam?! Als ob es Sinn hätte, sich da zu verschwören! Und ob man einen Gehörschutz erstatten muss, wenn einer ohnehin nichts hört! Als gäbe es keine anderen Frequenzen!" Tiberius enragierte sich, ohne einen "Untertitel" für seinen Bruder auszulassen, "was meinst du? Ich rede zu viel? Gut, schon recht, ich war bloß gerade so im Thema. Bist du eher ein ruhiger Vertreter?" Raimund stolperte beinahe, weil ihm nun ein Beitrag zur Unterhaltung abgenötigt wurde. "...ich... rede nicht so viel", bekannte er nervös. Tiberius lachte auf, übersetzte die Äußerung seines lächelnden Bruders, "Oki meint, er auch nicht!" Das amüsierte ihn sichtlich. Stolz grinste er seinem Bruder zu, "dann werdet ihr beide euch ja blendend verstehen!" ~~~@* Raimund saß im Zimmer der beiden Brüder, unter einer Dusche aufgetaut, in fremde Kleider gehüllt und eine Decke, neben dem Korb von Bella, die sich weiterhin von ihm streicheln ließ. Die beiden Brüder organisierten eine Faltmatratze und Bettzeug zwischen ihren eigenen Betten. Tiberius wieselte dabei durch die Wohnung, schmutzige Kleider waschen (vom Bodycheck), warme Getränke besorgen, Eltern kurz in Kenntnis setzen, die gemeinsam Fachjournale im Wohn- und Arbeitszimmer studiert hatten, zurück in die kleine Küche, Schnittchen machen, Clementinen pellen, an der Garderobe für den nächsten Tag Schuhe und Jacken arrangieren, zurück in der Küche das Frühstück vorbereiten. Raimund kuschelte sich in die Decke, beäugte zurückhaltend die Ordnung im Zimmer und betrachtete Oktavian nervös. Tatsächlich, ohne kälteabwehrende Verpuppung, die täuschen konnte, konnte man Tiberius nur beipflichten: sein Bruder war ungeheuer attraktiv, dunkelblonde, kurze Locken, eine sehnig-athletische Gestalt, eine Ausstrahlung von gelassener Ruhe und freundlicher Zuwendung. Er nahm keinen Anstoß daran, von seinem Bruder beauftragt zu werden, mit Raimund Memory zu spielen, neben ihm, wie selbstverständlich, eine schlichte "Zaubertafel" mit Griffel, falls man sich nicht mit Händen und Füßen verständlich machen konnte. Nun gesellte sich auch Tiberius hinzu, geschäftig wie zuvor. Reichten die warmen Getränke? Herrje, sie mussten nun wirklich nicht auf ihn warten, um bei den Schnittchen zuzugreifen! Hmm, die Clementinen waren wirklich trocken! Ob man sie mal besser im Wasserbad anwärmen sollte? Wie wäre es mit "Spitz, pass auf!" als nächstes Spiel? Dabei sang er noch, immer gestisch begleitet, das Loblied auf seinen Bruder, immerhin hatte der heroisch Hilfe geholt und die drei Missetäter tollkühn verfolgt! Das hätte ja auch anders ausgehen können und manchmal, da müsse man sich nichts vormachen, verstünden auch die Behörden nicht, wenn sie Meldungen bekämen ohne Stimme! Als wäre Text weniger wert, wenn doch klar sei, dass der nicht automatisch generiert werde, zum Beispiel durch diese Hausnotrufdienste, da könne man ja auch nicht sprechen, wenn's einen aus den Pantinen gehauen hätte! Ob Rai eigentlich eine andere Winterjacke habe? Der Ärger mit der Kunstfaser sei ja, dass sie so gemeingefährlich brenne, wenn sie nicht entsprechend behandelt werde, aber, ganz ehrlich, was DAS für eine Umweltverschmutzung bedeute! Mikroplastik mindestens, aber auch bestimmte Chemikalien und Flammschutzmittel! Wobei er sich nicht sicher sei, ob das bei normalen Textilien noch zum Einsatz käme... Andererseits, Imprägnierung, da müsse man auch sehr akribisch beim Studieren der Inhaltsstoffe sein! Raimund schwirrte der Kopf. Er warf einen hilflosen Blick auf Oktavian, der lächelte, einige Gesten machte. Da Tiberius seinen Bruder grundsätzlich nicht aus dem Fokus ließ, schnaufte der sofort, "na schön, na schön! Ich könnte ja auch mal Luft holen, was essen oder trinken! Ist bestimmt das Adrenalin!" Dessen war sich Raimund gar nicht so sicher, weil er im Übrigen erfuhr, dass Oktavian 18 Jahre alt war, sein gleich großer Bruder jedoch erst 14! Dabei führte Tiberius ein Regiment, als sei ER der Ältere, nicht nur Dolmetscher, sondern auch Hansdampf in allen Gassen! Nun, offenbar hatte Tiberius auch die Adrenalinanteile der anderen erwischt, denn Raimund fielen beinahe die Augen zu. Glücklicherweise half Oktavian ihm auf die Faltmatratze und gestikulierte Tiberius, dass Zahnhygiene auch mal warten könne. "Oh, richtig! Mundwasser, Gästehandtuch, aber...!", schon schwirrte Tiberius auf Socken wieder hinaus, nicht, ohne umsichtig das Licht gedämpft zu haben, damit zumindest drei der vier Zimmerbewohner schon mal Schäfchen zählen konnten. ~~~@* Tiberius, "Tibo!", als Haustyrannen zu bezeichnen, wäre ihm sicherlich nicht gerecht geworden, aber er zeigte die verheerende Eigenschaft eines Brummkreisels gepaart mit zielgerichtetem Tatendrang. Wenn "Zucht und Ordnung" nicht gelebte, aber propagierte Ziele seines Vaters waren, befand Raimund, konnte man bei Tiberius die Ergebnisse bestaunen. Perfekt synchronisiert nutzten fünf Personen ein Badezimmer, sechs Lebewesen Küche und Wohnzimmer. Alles hatte einen angestammten Platz, jede Aufgabe wurde ohne Verzögerung angegangen. Die Mitglieder seiner Familie schienen jedenfalls nichts dabei zu finden, dass Tiberius wie ein Feldwebel dirigierte. Nicht delegierte. Einkaufsliste um Vorräte ergänzen, Mutter an Regenschirm erinnern, Vater "Unterwegs-Bohnenheißgetränk" ausgeben, Check! Mit Wäsche auf Dachboden flaggen, dabei Bella bei der alten Nachbarin abliefern, Check! Ersatzbekleidung für Raimund zusammenstellen, dabei Wurmkiste kontrollieren und rasch Geschirr spülen (von Hand!), Check! Oktavian lächelte bloß amüsiert, ließ seinen jüngeren Bruder wirbeln, der nebenher, im Autopilot, die recht einseitige Unterhaltung mit Raimund auch noch gestisch untertitelte. "Ach was, macht doch keine Mühe! Wir haben ja heute nicht viel zu tun! Erst mal musst du ja auch wieder heil nach Hause, richtig? Was hattest du denn für heute geplant?" Raimund sah sich zu einem eigenen Beitrag aufgefordert, "nun, ich wollte nach Tyson schauen..." "Aha? Ist das ein Freund?", Tiberius wienerte durch das Waschbecken im Badezimmer. Sollte ja bloß keine Gelegenheit bekommen, fleckig zu werden! Nun musste Raimund zu einer etwas längeren Erklärung ausholen, was nicht ausreichte, Tiberius' Wissbegierde auch nur im Ansatz zu befriedigen, "oh, einen Lauftunnel? Und ein Schwimmbad! Das ist ja toll! Was frisst er denn so? Und läuft das Glas nicht an? Gibt es eine Pumpe?" Oktavian stellte einen Ellenbogen aus, den jüngeren Bruder sanft zu bremsen. "Ich bin eben neugierig! Das ist genetisch vorprogrammiert!", behauptete Tiberius, nicht gekränkt über diesen Hinweis, "sag mal, Rai, dürfen wir mitkommen? Ich würde die Konstruktionen unheimlich gern sehen! Ich fasse auch nichts an!" Dass das Benehmen seines Bruders über jeden Tadel stand, musste er gar nicht mal erwähnen! Raimund nickte zögerlich. Nicht, dass er befürchtete, sich eine unbotmäßige Freiheit in anderer Leute Heim herauszunehmen, bloß... Bloß ertappte er sich verwirrt dabei, Oktavian fasziniert anzustarren. ~~~@* Nein, Tiberius kannte keine Untätigkeit. "Irgendwas ist immer!", das schien ihm Motto zu sein. Außerdem war er eifrig darauf bedacht, seinem älteren Bruder in jeder sich bietenden Gelegenheit beizuspringen, der Adressat maßloser Bewunderung war. Raimund konnte das nicht verdenken. Oktavian wohnte, vielleicht auch durch sein orales Schweigen, ein Zauber inne, ein Geheimnis, eine Anziehungskraft, man WOLLTE ihm nahe sein! Für Tiberius ganz selbstverständlich, aber wenn Heldenverehrung, dann gesittet und ordentlich! Was er gar nicht zu tolerieren gedachte, waren Hennen- bzw. Hahnenkämpfe! Raimund wurde mit allerlei Anekdoten zu diesem Thema vertraut gemacht, während Tiberius ihn unaufgefordert nach Hause eskortierte. Außerdem hegte Tiberius einen tief sitzenden, tatkräftigen Groll gegen Vollpfosten, die aus sämtlich niedrigen Beweggründen gegen seinen Bruder stänkerten! Da hörte der Spaß aber auf! Oki zeigte sich da einfach zu nachsichtig, weil Dummheit an sich ja schon eine Strafe ist, meist lebenslänglich. Trotzdem! ER wählte dann den alttestamentarischen Weg, indem er seinem Gegenüber im Detail auseinandersetzte, welche Defizite aufgewiesen wurden. Wenn sie ihre Minderwertigkeitskomplexe schon an anderen austoben wollten, dann sollten sie aber bis in den letzten Winkel über ihre Unzulänglichkeiten unterrichtet sein! Raimund bat Tiberius hinein, durchaus eingeschüchtert. Mein lieber Herr Gesangverein, DER kannte offenkundig keine Bremse! Nein, wirklich nicht. Erst beriet er ernsthaft mit Raimund, welche Kombinationen den gefütterten Anorak ersetzen konnten, dann schlug er vor, dass der sich umzog, er könne die Leihkleidung gleich mitnehmen, waschen sei nicht nötig, hier, mit nur einer Person zur Zeit. Raimund nickte brav, oder eher überrumpelt, zögerte dann. "Oh, soll ich mich umdrehen? Draußen warten? Kein Problem! Ich bin halt eine Männergemeinschaft mit meinen Bruder gewohnt", Tiberius marschierte schon auf den Flur und lehnte die Zimmertür an, "ganz schön viele Pflanzen hier! Kümmerst du dich um sie? Ich hab von Biologie nur gerade die Ahnung aus dem Schulunterricht. Wir sollten wegen der vielen Bücher im Wohnzimmer auch mal welche aussetzen, aber ich fürchte, den meisten ist es zu dunkel. Platz brauchen sie ja auch, und du hast ja gesehen, die Papierlawine gewinnt die Überhand." Raimund, der sich eilig umzog, erwog, ob es sehr unhöflich wäre, nicht darauf einzugehen, aber Tiberius wartete auch keine größeren Einlassungen ab, "ich lüfte häufig, damit wenigstens etwas Feuchtigkeit reinkommt, sonst trocknen einem ja die Schleimhäute aus. Glücklicherweise haben wir keines dieser neuen, automatischen Systeme. Die mögen zwar bequem sein, aber den Strom kann ich ja auch sparen. Wenn mir die Nase trocken juckt, dann Fenster auf, Durchzug, bis 30 zählen und wieder alles dicht! Funktioniert prächtig. Deine Mutter ist Innenarchitektin, ja? Da hat sie bestimmt viel zu tun gehabt!" Die geliehenen Kleidungsstücke sorgsam gefaltet trat Raimund an seine Zimmertür. "Oh, schon fertig? Prima! Oki ist auch immer flott, da kann ich nicht meckern! Und ordentlich!", Tiberius zupfte eine gerollte Stofftasche aus seiner hinteren Hosentasche, entfaltete sie zu beeindruckender Größe und verpackte die Textilien, "du findest Oki auch toll, richtig? Hab ich gleich bemerkt! Aber er sieht ja nicht nur phantastisch aus, nein! Die Verpackung passt definitiv zum Inhalt! Mein Wort drauf!", strahlte er stolz Raimund an, der spürte, wie Hitze in seinem Gesicht explodierte. ~~~@* Kapitel 2 - Komplex?! Raimund wusste, dass er auf den Hinterkopf und nicht auf den Mund gefallen war, trotzdem brachte er kein Wort heraus, von schierem Entsetzen gebeutelt. "Mach dir nichts draus, versteh ich völlig! Ich muss dich aber warnen: ich bin unparteiisch. Fair geht vor", Tiberius nickte bekräftigend, "ist auch kein Geheimnis, dass Oki überall sehr gefragt ist! Er hatte auch schon mal Freundinnen, Susann ohne E und Kylie. Ich darf das sagen, ist ja mein Bruder, aber er ist wirklich Sonderklasse! Erste Wahl! Einwandfrei in Optik und Charakter." Raimund vermutete, gleich würde sich unter ihm der Boden auftun und ihn verschlucken. Er hätte es nicht krumm genommen. Glaubte Tiberius, er sei verliebt?! Schlimmer noch, stimmte das etwa?! "Wollen wir jetzt los? Die Ratte besuchen? Heller wird's wohl heute auch nicht mehr. Ich begleite dich auch zurück, keine Frage! Von Knallerei und Knallköppen hast du bestimmt auf Jahre hinaus genug", plauderte Tiberius auf ihn ein, die Hände mal nicht in ständiger Bewegung, "ich klingle Oki gleich an, dann treffen wir uns vor dem Haus deines Freundes." Schon an der Garderobe schlüpfte er wieder in seine Schuhe, tippte gleichzeitig die Nachricht und reichte Raimund die Wollmütze, "Vorsicht vor Gefrierbrand." Raimund blinzelte bloß hilflos in das Zwinkern. ~~~@* Oktavian stellte eine sehr viel entspannendere Gesellschaft als sein jüngerer Bruder dar, auch wenn Raimund das Gefühl hatte, man konnte ihm seine verhängnisvolle Faszination mühelos vom Gesicht ablesen. Dabei... dabei...! Ja, schon richtig, er WAR hingerissen, verzaubert, beeindruckt, hätte Oktavian stundenlang anstarren mögen, auf ein Zwinkern, ein besonders inniges Lächeln warten. Aber... also...?! Tiberius hingegen neigte zwar zur Heldenverehrung, blieb jedoch standfest, um nicht zu sagen bodennah, beäugte äußerst interessiert die gesamte Konstruktion, erläuterte Raimunds nervöse Erklärungen gestisch für seinen Bruder, lobte die Sauberkeit und Ordnung und bestaunte Tyson, der erst ein veritables Hamsterrad zwecks Training operierte, dann durch den eigenen Pool kraulte, "na so was! Kapitaler Bursche! Hält sich fit, beinahe wie ein Ausbrecherkönig, oder? Vielleicht sollte er lieber Clint heißen. Wie Clint Eastwood, Flucht von Alcatraz, der alte Spielfilm. Historisches Vorbild übrigens." Oktavian touchierte absichtlich Raimunds verkrampfte Hand und signalisierte mit der anderen einen Dauerplapperer oder Quakfrosch. "Oki! Das hab ich gesehen! Ich zeige bloß meine Anerkennung für das Gesamtwerk hier!", tadelte Tiberius, dem wirklich GAR NICHTS zu entschlüpfen schien, "weißt du was? Warum bringst du Rai nicht heim, dann eskortiere ich die Wäsche! Außerdem sollte ich nach dem Abendessen sehen, bevor Papa wieder auf die gemeingefährliche Idee mit Käsefondue und römischer Gewürzpaste kommt!" Ein breiteres Grinsen signalisierte offenbar schallendes Gelächter bei Oktavian. Überhaupt hatte Raimund noch gar keinen Laut von ihm vernommen, nicht mal Andeutungen. Scheute der sich vielleicht davor, weil er sich selbst nicht hören konnte und möglicherweise für andere Ohren unangenehm klang? Oder verfügte Oktavian nicht über die Möglichkeiten, Laute von sich zu geben? Fragen, die er natürlich NIEMALS stellen würde. Tiberius unterdessen scheuchte sie schon Richtung Wohnungstür, "du kannst dich ruhig bei Oki beklagen, dass ich zu viel schwatze. Nur keine Scheu, er kennt das schon. Ah, Mütze, Rai!" Raimund topfte sie gehorsam und eilig auf. Verlegen zockelte er neben Oktavian her, zwang sich, bloß nicht stur auf seine Füße und den Gehweg zu starren. Oktavian bemühte Gesten, ihn aufzumuntern. Darin zeichnete er sich wirklich aus, keine Frage! Scharade würde mit ihm als Partner mühelos gelingen. Jedenfalls, das las Raimund aufmerksam mit, hatten sich alle an Tiberius' Tatendrang längst gewöhnt, auch an seinen geradezu kindlichen Stolz auf den älteren Bruder. Zudem zählte eine gewisse Unerschrockenheit zu seinen Stärken. Etwa, sich im vollen Spurt auf einen anderen zu stürzen, damit die qualmende Kapuze durch Bodenkontakt erstickt wurde, zumindest so lange, wie es bedurfte, den Besitzer aus der textilen Gefahrenquelle zu pellen und dann so energisch zu trampeln, dass selbst der Böller aufgab. Da konnte einem schon mal angst und bange werden vor so viel Zuversicht! Raimund nickte baff und erinnerte sich daran, dass er sich besser noch mal bedanken sollte. Oktavian zwinkerte, lächelte und weil sie schon vor Raimunds Haus standen, umarmte er ihn herzlich, damit der Start ins neue Jahr gelang! ~~~@* Raimund konnte nicht sagen, wie er es trotz wackliger Knie hoch in die Wohnung geschafft hatte. Auch jetzt hockte er, ein einzelnes Teelicht in einer Windlaterne entzündet, in seinem Zimmer, eingemummelt, als habe er Schüttelfrost, obwohl ihm aus anderen Gründen die Glieder förmlich schlotterten. Als hätte ein Blitz eingeschlagen! Dabei-dabei war es nur eine Umarmung, eine freundliche Geste! Raimund umklammerte seine angezogenen Beine, stützte das Kinn auf die spitzen Knie. Er war noch nie verliebt gewesen! Und dafür recht dankbar, denn verlockend erschien ihm so eine Gemütsverfassung ganz und gar nicht zu sein. Man verhielt sich für Außenstehende zumindest merkwürdig bis psychotisch, hatte keine Kontrolle über sich selbst mehr. War der Zauber mal vorbei, dann konnte man sich Jahre lang in Grund und Boden schämen für all die Katastrophen! Er jedenfalls wusste Aufregung kein bisschen zu schätzen. Wenn er jetzt aber verliebt sein sollte, oh Graus! Nicht mal um seinetwillen, sondern weil es ganz unmöglich wäre, Oktavian jemals wieder unter die Augen...! Oh. Oh. Raimund zog die Schultern höher. Klar, das hatte er ja ganz vergessen. Bis zu einer möglichen Verhandlung wegen der versuchten Körperverletzung und vollendeten Sachbeschädigung (Anorak) hätte er ja keinen Kontakt mehr zu den Brüdern. Wie auch? Oktavian befand sich bereits in Ausbildung, Tiberius besuchte eine private Schule. Die hatten mutmaßlich genauso viel oder wenig Freizeit wie er selbst. Tyson als Trumpf war schon ausgespielt. Was blieb da übrig? Nicht mal als Pflanzen-Enthusiast konnte er sich andienen, denn die gab es schlichtweg im trauten Heim der römischen Brüder nicht, somit liefen seine überraschenden, fast gewalttätigen Gefühle ins Leere. Nun ja. Realistisch gesehen gab es ohnehin keine Chance. Was wollte er auch bestellen? Als Anbeter konnte er Tiberius nicht schlagen, Unterhalten konnte man sich mit ihm auch nicht. Raimund seufzte unglücklich. Tja, da blieb ihm wohl nichts anderes übrig als verständig zu sein. So, wie immer. ~~~@* "Hast du die Ballerei gut überstanden? Wenigstens hat es danach ordentlich geschüttet, da werden heute Morgen kaum Nachzügler unterwegs sein!", Tiberius überrumpelte Raimund völlig, der noch im Schlafanzug mit zweitem Pullover und dicken Socken keineswegs am Neujahrsmorgen Besuch erwartete. "Ich dachte mir, dass du nach einem Abstecher an die frische Luft gern was Warmes speisen würdest! Also, ich habe einen Gemüseeintopf aufgesetzt, richtig deftig, dazu Topfbrot aus dem Ofen. Mein Vater hat sogar ein Blumenlotto aufgetan, keine Ahnung, woher! Wir können uns also auch prächtig unterhalten. Oki und Bella warten unten, übrigens, dann hast du auch Gelegenheit, Zeit mit ihnen zu verbringen!", wobei unzweideutig Oktavian an erster Stelle stehen würde, wie Tiberius mitschwingen ließ. Raimund ächzte überfordert, "aber... also... ich glaube nicht..." "Wissen ist immer besser als Glauben. Finde es selbst heraus! Ich häng schon mal deine Jacke ab, während du dich umziehst!", damit marschierte Tiberius in den Flur, tatendurstig. Raimund winselte hilflos, klatschte die Hände auf die Oberschenkel. Wie sollte er dieser Naturgewalt Einhalt gebieten?! ~~~@* Während Tiberius mit Bella ausgelassen auf einer eigens ausgezeichneten Wiese tobte, einmal die Beaufsichtigung seines Bruders aussetzte, saßen sie nebeneinander, auf einer steinernen Bank ohne Lehnen, Raimund quasi auf der vordersten Ecke, nervös und unglücklich. Oktavian tippte ihn sanft an, [ich weiß, dass du mich magst] Ein mitfühlendes Lächeln prägte seine äußerst attraktiven Züge. Raimund hätte gerne weggeschaut, schämte sich für sich selbst, aber er konnte auch den Blick nicht abwenden. "Entschuldigung", murmelte er hilflos. Oktavian schüttelte leicht den Kopf, [ich mag dich. Aber Tibo ist der, der es dir angetan hat] Raimund starrte ungläubig. Übersetzte er das etwa richtig? Nein, nein, er musste einfach die Gesten missverstanden haben. Oktavian zwinkerte, wiederholte sie schlicht, [du magst Tibo noch mehr] Aber das konnte doch nicht sein! Den drei Jahre jüngeren Brummkreisel von einem Jungen?! Der so energisch und beherrschend und fast schon naseweis-altklug auftrat? [Denk in Ruhe darüber nach], empfahl Oktavian ihm, beugte sich vor, küsste Raimund federleicht auf die Lippen und erhob sich, um Tiberius bei Bella abzulösen. ~~~@* "Oh, durchgefallen? Schade. Aber mit Oki kann man auch prima befreundet sein!", Tiberius ließ sich neben Raimund nieder. Dem prickelten die Lippen bitter-süß, noch immer. Der erste Kuss gleich ein Abschied, eine Absage. Wie sollte er Oktavian jetzt begegnen? Beim Essen, danach bei der Familie? Das ging doch gar nicht! "Ich kenne mich da nicht aus, zugegeben, aber sich ablenken hilft häufig, was um die Hand haben, weißt du? Dann ist der große Druck nach einer Weile nicht mehr so schlimm und man kommt wieder klar. Wenn ich mich mal ärgere, gehe ich mit Bella ums Haus. Frische Luft, Fellpflege, Bewegung, das lüftet das Oberstübchen durch. Da merke ich dann, dass es ne Menge Dinge im Leben gibt, die gut laufen. Rückt die Perspektive zurecht." Raimund nickte abgehackt, starrte auf seine Füße. "Komm!", wurde er auf die Beine gezogen, konnte vor Schreck nicht mal japsen, "spiel auch mit Bella, ja?! Das bringt dich auf andere Gedanken! Danach essen wir was Warmes!", Widerspruch zwecklos, denn Tiberius beschleunigte ihn schon energisch auf die Wiese. ~~~@* Man konnte Tiberius zumindest eine Prognose nicht absprechen: es beruhigte, Bella das Fell sanft zu striegeln, und Raimund störte sich auch nicht an ihrer Hundeschnauze auf seinem Oberschenkel. Tiberius führte wie gewohnt die Unterhaltung, obwohl Raimund wohl der Einzige war, der Verständnishilfe benötigte. Alle anderen beherrschten schließlich die Gebärdensprache und kannten sich gut genug, um selbst auf diese zu verzichten. Nach dem üppigen Essen fühlte Raimund sich nicht disponiert, sein Unglück bis zur Neige zu ergründen. Es genügte ja wohl, hier zu sitzen, Bella zu streicheln und still vor sich hin zu existieren, oder? Wenn er nicht gerade von Tiberius einer Befragung unterzogen wurde, "ich kenne ein paar Leute von deiner Schule, glaube ich. Gehörst du auch zum Hockeyteam? Die waren ziemlich gut, oder? Also, mir wäre so eine riesige Schule ja nicht genehm, so viele Leute auf einem Haufen! Habt ihr eigentlich immer noch diese Container-Bauten? Wird da jemals was Richtiges gebaut?" Raimund blinzelte träge, denn er wusste gar nicht, ob und wie er antworten sollte. In den kurzen Atempausen? "Ja, ich bin nun mal neugierig! Du doch auch, Oki! Wir haben übrigens kein Hockeyteam an der Schule", ungerührt prallte jeder dezente Tadel an Tiberius' Taten- und Unterhaltungsdrang ab. "Also, Yann ist im Hockeyteam", wagte Raimund einen Ausfall in den steten Monolog. "Dann siehst du dir die Spiele an, oder? Machst du auch mit? Oder lieber einen anderen Sport?", Tiberius ließ nicht locker, auch nicht auf dem Spielfeld, wo sein Kegel gerade die Führung übernahm. "Manchmal schaue ich schon zu, bei den Heimspielen. Aber ich bin nicht so der sportliche Typ", bekannte Raimund vorsichtig. Oktavian erläuterte ihm gestisch, dass er gern Rad fuhr und...jonglierte? "Oh ja! Oki, zeig Rai mal was! Kurze Spielpause!" Während Oktavian Utensilien holte, flohen die Eltern offenbar in die Küche und zur Toilette. Eine günstige Gelegenheit musste man nutzen! Tiberius beugte sich unterdessen vertraulich zu Raimund hinüber, "ich mache ja Aikido. Eine Art Kampfsport, weißt du? Schon eine ganze Weile. Wegen einer dusseligen Lehrerin. Die hat glatt behauptet, ich hätte einen Bruder-Komplex! Ausgerechnet! Ich müsste mal was Eigenes machen! Ich dachte, Leute hätten Komplexe, weil sie Probleme haben! Na, der Trulla habe ich es aber gezeigt! Ich bin gleich rüber, wo ein Dojo eingezogen ist, habe mich eingeschrieben. Als sie dann süßlich gefragt hat, ob ich mich von meiner Fixierung auf Oki gelöst hätte, habe ich ihr was zu denken gegeben, im Rahmen ihrer eingeschränkten Möglichkeiten! Hab ihr gesagt, dass ich jetzt lerne, wie ich den Vollidioten professionell einen auf den Rüssel geben kann. Ha! Hat mir eine Woche Schulbefreiung eingebracht, aber die Dusseltrine hat mich NIE WIEDER angequatscht! Fixierung, pah! Und Komplex, noch größerer Unsinn!" Die Arme vor der Brust gekreuzt funkelte Tiberius grimmig, "manche Leute haben einfach keine Ahnung, sag ich dir! Die sind bloß neidisch. Na, sollen mir vom Pelz bleiben, sonst fliegen sie! Ah, deshalb bist du auch ziemlich heil geblieben, als ich dich von den Füßen geholt habe! Ich hab Übung, auch wenn ich normalerweise die Kraft meiner Gegner nutze." Raimund riskierte einen Seitenblick. Oktavians Diagnose kam ihm in den Sinn. Sollte er wirklich Tiberius vorziehen? Wieso glaubte Oktavian das? Optisch erkannte man durchaus die verwandtschaftlichen Vorzüge, auch stand der jüngere dem älteren Bruder in Gestalt kaum nach. Aber von der Wesensart.?! Tiberius war erschreckend patent, beängstigend mitteilsam und furchtbar energisch. Raimund konnte sich einfach keinen Reim auf ihn machen! Der schien so ein Typ zu sein, der alle unter die Fittiche nahm, aufbürstete und dann in die Freiheit entließ, sich ständig kümmerte, bis man selbst alles auf die Reihe gebracht hatte, ein "Ordnungsliebhaber" im Sinne der Weltrettung auf kleinem Niveau, der alles wieder ins richtige Lot schubste. Oktavian schien hingegen voller Geheimnisse zu stecken, forderte heraus, sich verzaubern, vollkommen einvernehmen zu lassen! Wenn man die Wahl hatte, also, dann...! Immerhin konnte Raimund nicht außer Acht lassen, wie heftig er körperlich reagiert hatte! Genau! Allerdings glaubte er nicht wirklich an schicksalhafte Fügungen, sondern neigte zur Annahme, dass man sich damit selbst Streiche spielte. Und Oktavian teilte seine Gefühle nicht, deshalb gab es gar keine Wahl. Der ältere Bruder jonglierte geschickt mit glitzernden Bällen zur verzaubernden Unterhaltung. Der jüngere Bruder besorgte Nachschub aus der Küche, ergänzte die Einkaufsliste und applaudierte laut. Raimund fand sich zwischen diesen beiden Extremen nicht wieder. Wenigstens Bella verlangte ihm keine intellektuellen Anstrengungen ab! ~~~@* Raimund hätte sich durchaus gern abgelenkt, wäre damit Tiberius' Empfehlung gefolgt, bloß konnte er sich einfach auf nichts richtig konzentrieren! Alle Pflanzen hatte er bereits aufmerksam überprüft, jeden Topf, jedes Gefäß einzelnen begutachtet, die kleine Wohnung glänzte vor Sauberkeit, nichts lag herum, sodass er dem Gedankenkarussell ausgeliefert war. Oktavian. Der Zauberer, die friedliebende Sirene aus klassischer Überlieferung, charismatisch und ungeheuer anziehend. Man MUSSTE hingerissen sein! Vor allem, weil Oktavian seine Wirkung kannte, aber nicht instrumentalisierte. Raimund schämte sich, mal wieder. Gut, mit seinen Gefühlen schien er durchaus zu einer größeren Gruppe zu gehören, aber, das hatte er vorher nicht bedacht, wie unangenehm musste das wohl für Oktavian sein? Nicht, dass man ihn mochte, anhimmelte, anstarrte, sondern der Umstand, regelmäßig rücksichtsvoll Absagen erteilen zu müssen. Das konnte man bestimmt nicht so einfach wegstecken! Raimund seufzte, aber trotz seiner gewohnten "Verständigkeit" konnte er kein Pokerface für sich reklamieren. Anständig wäre es gewesen, Oktavian die Umstände zu ersparen, bloß... sein Gesicht fungierte nun mal als offenes Buch! Peinlich! Tiberius hingegen, der würde sich wohl ganz sachlich der Angelegenheit annehmen und nebenher noch bügeln, staubsaugen und Fenster putzen! Den schien gar nichts aus dem Konzept bringen zu können. Beängstigend. Ein Ein-Personen-Rollkommando. Wie kam Oktavian bloß darauf, er möge Tiberius mehr? Das ging Raimund nicht aus dem Kopf. Beide Brüder waren, auf sehr unterschiedliche Art, "larger than life", überlebensgroß. Natürlich musste man Tiberius bewundern, keine Frage, aber er schüchterte eben auch ein. Nicht mal Minderwertigkeitskomplexe konnten mit seinem Tempo Schritt halten! Außerdem agierte er ja auch entwaffnend ehrlich und direkt. Raimund entschloss sich, um mehr als zivile Zuneigung einen GROSSEN BOGEN zu machen. Genau! Er hatte das einfach nicht drauf! ~~~@* "Eine gute Gelegenheit, das Gehirn auszulüften!", behauptete Tiberius hartnäckig, während er den gewaltigen Marschrucksack ausbalancierte. Raimund musste sitzen, damit Bella einen ordentlichen Ablageplatz für ihre Schnauze hatte. Der halbe Wagon der Landesbahn, die einen sehr ausgedünnten Fahrplan bediente, hatte das rekonstruierte Römerkastell zum Ziel, zunächst Vereinsmitglieder und interessierte Zuhörende der kurzen Vorträge, "Workshop"-Betreibende, Oktavians Freunde und Fans.. Und Raimund, der von Tiberius ohne Gelegenheit zum Widerspruch zur Teilnahme verpflichtet worden war. Das würde ganz prima werden, das Wetter sehe sogar eine leichte Wintersonne vor! Raimund erinnerte sich, dass er schon mal einen Ausflug mit seiner Schulklasse zu diesem Ort unternommen hatte. Von der Bahnstation aus folgte man einer "alten" Römerstraße, tatsächlich einer Nachbildung nach antiken Vorbildern. Im Kastell selbst konnte man dann nicht nur theoretisch lernen, sondern auch vieles praktisch ausprobieren, über nahezu alle Lebensbereiche (bis auf die Original-Latrinen). Bekleidung, Ausrüstung, Alltagsgegenstände, Ernährung, Anbaumethoden, technische Errungenschaften. Da machte es besonders Laune, Fachvorträge in der passenden Kulisse zu hören! Raimund kraulte Bella das Fell und beäugte durchaus beeindruckt den "Harem". Oktavian WAR extrem beliebt. Tiberius hingegen hielt ein wachsames, beinahe diktatorisches Auge darauf, dass sich die Verehrenden "anständig aufführten". Eifersüchteleien unterband er sofort und gnadenlos mit scharfem Blick, spitzer Zunge und dynamischer Gestik. Überrascht erkannte Raimund, dass ER die einzige Person war, die nicht zum "Harem" zählte, sondern als Tiberius' "Freund" mitfuhr. Merkwürdig. Hatte Tiberius keine "eigenen" Freunde? Dass der ihn eingeladen (oder eher verpflichtet) hatte, rührte nach Raimunds Vermutung daher, ihn aufmuntern zu wollen, aus einer "unparteiischen" Fürsorge für die Abgesagten seines verehrten Bruders. Wie ein Dompteur scheuchte er auch die Passagiere aus den Abteilen, kontrollierte Habseligkeiten, gab den Marschbefehl, nicht herrisch, aber extrem aufmerksam gegenüber jedem Detail. Raimund durfte Bella an der Leine führen, besser gesagt, sie begleiten, denn er verspürte nicht die geringste Selbstsicherheit, die Hündin lenken zu können. Es schien ihm eher wie "Betreutes Menschen-Ausführen". Natürlich kannte sich Tiberius auch im Kastell aus. Er wies die Wege, schickte die einzelnen Gruppen los, damit niemand sich verirrte, den Anschluss verlor, den Auftakt verpasste... Raimund fand sich sofort eingefangen, "kannst du mir helfen? Ich habe mich für die Küche gemeldet, da ist viel zu tun, weil wir ja für alle das Essen vorbereiten! Quasi Gulaschkanone, bloß für Hobby-Römer! Allerdings, keine Angst, die Rezepte sind angepasst! Als mein Vater mal eine original römische Fischpaste an uns testete, meine Güte, da habe ich mir fast das Leckbrett abgebeizt! Ah, Bella darf mit rein, keine Angst!" Raimund trottete gehorsam hinter dem wandelnden Marschrucksack her. "Oh, Kräuter haben wir auch, aber wie du siehst, im Moment ist da nicht viel los! Es gibt aber eine Menge Erläuterungen zur Selbstversorgung. Ich kann dir das nach dem Essen zeigen! Und natürlich die Technik! Kräne, Flaschenzüge, Fußbodenheizung, Entwässerung. Über die Pontonbrücken gibt es ein ganzes Kapitel! Wäre das nicht auch was für Tyson? Im Pool?" Man konnte wirklich nur darüber staunen, wie Tiberius die Last auf seinem Rücken mühelos transportierte und trotzdem noch allein die Unterhaltung bestritt! "Danke, ist schon eine Weile her, dass ich hier war", leistete Raimund endlich einen Beitrag. "Du wirst es prima finden! Wir machen das öfter, meine Eltern haben ja den Verein mitbegründet. Außerdem ist das Wetter toll, alle haben gute Laune, kein Stress, dafür bald was Feines zwischen die Kiemen! Wenn wir uns richtig reinhängen, vorausgesetzt!" Für Raimund das Stichwort, aufzuschließen und so verständig wie gewohnt in der großen Küche zu werkeln. ~~~@* "Das ist keine gute Idee", murmelte Raimund hilf- und hoffnungslos. Er hätte durchaus goutiert, wenn sich Oktavian in eine römische Legionärsuniform gekleidet hätte, aber so ein Schmillefickes wie er?! "Im Gegenteil! Du bist nicht zu groß, die einzelnen Komponenten werden perfekt sitzen!", widersprach Tiberius, assistierte bei der Verpuppung, "außerdem", er beugte sich vertraulich herüber, "für Damen taugt die Aufmachung oben herum nicht. Für manche Burschen aus demselben Grund", dabei blies er mächtig die Backen auf, "um die Hüften dasselbe Argument. Keine Wampe vorn, kein ausladendes Heck. Stretch gab es damals noch nicht." Raimund fühlte sich trotzdem elend. Ja, zugegeben, ihm passten die Bestandteile der Uniform durchaus, und wenn es nicht entsprechend regelmäßig behandelt wurde, war Leder steif und hart! Trotzdem... Oktavian, der seinen "Harem" geschickt zerstreut hatte, damit man viele "Fotomotive" zur Auswahl hatte, gesellte sich zu ihnen, fasste Raimunds eiskalte Hände. Das tröstete sofort. Wie das aufmunternde Lächeln, das freundliche Zwinkern. "Oki findet auch, dass du ganz prächtig aussiehst! Wenn wir mit dir ein Bild vor der Hebeanlage machen, da wird deine Mutter staunen!" Daran zweifelte Raimund keinen Augenblick, vor allem, wenn er beichten musste, wie es zu dieser seltsamen Entwicklung gekommen war. "Ah, die Haare! Praktisch, so ein wüster Schopf! Sonst müssen wir immer Lappen umbinden, der Helm scheuert nämlich!", Tiberius justierte lederne Einlagen, die bei der Passform helfen sollten, "was meinst du damit?! Natürlich war das nicht als Kritik gemeint! Mit Mütze auf sieht niemand gekämmt aus..na, du ausgenommen, klar! Ich wollte Rai ganz und gar nicht tadeln! Dachbegrünung ist ja wohl Privatsache, da misch ich mich nicht ein!" Oktavian zwinkerte Raimund zu, der Tiberius' Verteidigungsrede eingeschüchtert lauschte. Nun, zugegeben, eine Frisur konnte man das nicht nennen, die schlappen, dunklen Strähnen, die um sein Gesicht herum hingen, aber er wusste einfach nicht, was er mit ihnen anfangen sollte! Sie tarnten ja auch recht gut, schirmten von Feindseligkeiten oder bloß dämlichen Seitenblicken ab! Eine Fibel wurde angesteckt, damit der Mantel hielt. Dann die Ausrüstung... Raimund fiel das Balancieren schwer. Der Helm verfügte über ein enormes Eigengewicht, vom schmückenden Beiwerk ganz zu schweigen. Dazu noch erst Standarte, dann Speer, prächtiger (großer) Schild. Man beriet sich, ob man ihn auch mit Gladius abbilden sollte, Schwert, Kurzschwert oder anderen Ausrüstungsgegenständen des Berufssoldaten. Ein ganzer Tross marschierte hinter ihm her, um möglichst viele Aufnahmen machen zu können. "Sag ich ja! Perfektes Motiv! Sehr lebensecht!", Tiberius führte selbstredend die Truppe an, wechselte die Accessoires, zupfte hier und da, beriet sich mit den Experten. Es sollte schon stimmig sein, ja, das war hier ja nicht Karneval oder Halloween! Raimund war es nicht gewöhnt, derart im Mittelpunkt zu stehen, auch wenn er lediglich eine passende Garderobenstange für historisch nachgefertigte Requisiten vorangegangener Epochen und Gesellschaften darstellte. Tiberius reichte ihm Tee an, damit er nicht zu sehr fror, bröckelte dann Stückchen eines Riegels ab. Selbstgebacken, na klar! Die er Raimund einfach in den Mund stopfte, schließlich benötigte Rai ja Energie, in der Kälte posieren und dann noch mit der Ausrüstung! Ausgesprochen dankbar kraulte Raimund auf der Heimfahrt Bellas Fell, weil er wieder mehrere Schichten seiner eigenen Kleider tragen durfte, einfach bloß saß und gleichzeitig befördert wurde und niemand ihn fortgesetzt anstarrte. Nein, Oktavian hatte es ganz sicher nicht leicht! ~~~@* Es half alles nichts. Nachdem Raimund seiner Mutter den Rollkoffer hoch getragen und die Schmutzwäsche der Waschmaschine anvertraut hatte, beichtete er, die Sache mit dem Böller, dem ruinierten Anorak, seinen Rettern, die Fremdübernachtung, die Einladungen, den Ausflug, seine "Kurz-Karriere" als römisches Fotomodell. "Und ich war bloß EINE Woche weg!" Raimund nickte verständig. Diese eine Woche war auch IHM wie eine sehr viel längere Zeitspanne vorgekommen. Anhand der Bilder, die Tiberius ihm auf einem USB-Stick übergeben hatte (mal wieder verbunden mit einer Einladung zu Spaziergang und Essen), stellte er seiner Mutter seine Bekanntschaft vor. "Huiii...na, das ist ja mal ein Bild von einem Burschen!" Klar, Oktavian erregte auch ihr Interesse. Bei Tiberius hingegen runzelte sie die Stirn, "merkwürdig. Ich habe das Gefühl, als hätte ich ihn schon mal gesehen..." Raimund grübelte. Ohne Oktavian konnte man Tiberius wohl selten vorfinden, und wo die beiden auftraten, erinnerte man sich GARANTIERT an Oktavian! "Vielleicht beim Einkaufen? Tibo ist ziemlich rührig." "Oh, Marke Haustyrann?" "Nein, gar nicht! Bloß", Raimund zögerte, "na, ziemlich umtriebig. Kompetent und fleißig und..." "Mischt sich überall ein, treibt die ganze Bande an, kann keinen Augenblick unbeschäftigt sein?" Das klang nicht unbedingt schmeichelhaft, "so schlimm ist er nicht. Er kümmert sich einfach. Redet nicht nur, sondern tut auch was. Er ist in Ordnung." Ein sehr prüfender Blick traf ihn, "du lässt dich aber bitte nicht unterbuttern, ja, Rai? Zieh die Bremse, wenn's dir zu viel wird." Gehorsam nickte Raimund. Klar, hin und wieder brauchte er etwas Distanz, um sich zu sortieren. Tiberius hingegen schien bereits so sortiert, dass der solche Auszeiten nicht benötigte. Nachdem sie sich darauf verständigt hatten, dass bei jeglicher Art von behördlichen Kalamitäten zukünftig eine Mitteilung erfolgen würde, verabschiedete sich seine Mutter unter eine Wohlfühl-Dusche. Raimund suchte erst eine klassische Screwball-Komödie heraus, dann schüttelte er rasch zugeschnittenes Gemüse im Wok schwindlig und mischte Glasnudeln unter. Lieblings-Schnell-Futter! Er taufte Minzblätter mit Wasser und wartete darauf, dass der gemütliche Teil des Abends beginnen konnte. ~~~@* Tiberius konnte nicht einfach abgeschüttelt werden. Ob er wohl ein waidwundes Herz vermutete und deshalb geradezu aufsässig Ablenkung forcierte? Raimund hatte längst akzeptiert, dass seine unerwarteten, verblüffenden Gefühle für Oktavian kein gegengleiches Echo fanden. Das war einerseits natürlich traurig, aber andererseits nun mal nicht zu ändern, wobei er sich ja ohnehin kaum Chancen ausgerechnet hatte. Wie sollte er nun aber Tiberius überzeugen, dass er nicht mit Liebeskummer darbte? Dann, quasi über diese kritische Frage hinaus, schlich sich wieder Oktavians Mutmaßung an, dass er eigentlich Tiberius viel lieber mochte. Klar, mit dem ungebremsten Tatendrang und seiner Energie wirkte Tiberius sehr anstrengend, doch Raimund verspürte auch nicht das unwillkürliche Bedürfnis, ihm deshalb böse zu sein. Hauptsächlich fühlte er sich verwirrt. Warum unterzog sich Tiberius solchen Mühen? Wobei der vermutlich "Mühen" ganz anders als ein Normalbürger definierte! Mochte Tiberius ihn? Oder entsprach das nur einem antrainierten Reflex? Eine Art Helfer-Syndrom auf Zeit? "Du bist doch sehr an Pflanzen interessiert, oder? Richtig, nicht wahr? Also, mein Vater will einen Studienkollegen besuchen, und wenn wir gemeinsam fahren, können wir die Zeit im Botanischen Garten verbringen! Was hältst du davon? Klingt doch prima, oder?" Hin und her gerissen, ratlos, welche Argumente er gegen die Einladung vorbringen sollte, fand sich Raimund einmal mehr auf Exkursion, nur mit Tiberius, dessen Marschrucksack und einer schier unermüdlichen Wissbegierde. Wirklich, man musste dankbar sein, dass Anfang Januar noch nicht allzu viel blühte und sprießte! ~~~@* Kapitel 3 - Offenbarung Erstaunliche zwei Tage herrschte Funkstille. Keine Einladung, keine Nachricht. Allerdings fühlte sich Raimund nicht sonderlich disponiert, diese Entwicklung zu begrüßen. Er befand sich nicht ganz auf der Höhe und genoss, wenn man das so nennen wollte, die Erleichterung, sich nicht betätigen zu müssen, weil ja noch die Schulferien andauerten, wurde keine Anwesenheit beim Frühstück erwartet, und was er tagsüber tat, keiner Kontrolle unterzogen. Im Grunde jedoch addierte sich da nichts, weil er schlief, gegen eine merkwürdige Mattigkeit ankämpfte und verlor. Deshalb erhob er keinen Widerspruch, als Tiberius unangekündigt aufschlug, ihn für einen kurzen Spaziergang verpuppte und an die frische Luft beförderte. Es nieselte, kein angenehmes Wetter. Tiberius wünschte ein ernstes Gespräch. Raimund, zwischen Schal und Mütze nur zu erahnen, nickte brav, noch wurden ihm ja keine Einlassungen abgefordert. "Also, zunächst mal danke, dass du mitgekommen bist. Ich hab mich ja nicht angemeldet. Es ist so: als wir vom Botanischen Garten zurückgekommen sind, hat mich Oki ins Gebet genommen. Das macht er sonst nicht, wirklich, er ist ja sehr gelassen und nachsichtig, kennst ihn ja, richtig? Ich soll mal in mich gehen und richtig nachdenken. Warum ich dich nämlich ständig belagere. Ob das wirklich in Ordnung ist, denn es geht ja nicht um ihn, also Oki! Da war ich erst mal platt, weil ich ja dachte, ich meine, die Absage, also..." Raimund schwante trotz Bodennebel im Verstand Übles. "Da sagt Oki mir also, dass du MICH magst. Lieber als ihn, respektive. Unter diesem Aspekt soll ich mal gründlich nachdenken, was ich dir da zumute. Wir sind ja keine siamesischen Zwillinge und es ist höchste Zeit, sich mal RICHTIG auf einen anderen Menschen einzulassen." Während Raimund ungehört dank Stoffschichten ächzte, schnaubte Tiberius kräftig durch, "na, einem anderen als Oki hätte ich das Gebiss neu sortiert, aber hallo! Dann habe ich aber angefangen zu grübeln. Nicht wegen der Zwillingssache, klar, ich hab auch KEINE Fixierung! Aber, na ja, stimmt irgendwie schon, dass ich jetzt nicht gerade Leute auf Dauer um MICH schare. Mir reicht ja der Harem um Oki, bloß, also, hypothetisch, ist da etwas ausbaubar, um das ich mich nicht ausreichend bemühe. Gut, sein Harem bringt MIR ja keine Gefühle entgegen, deshalb habe ich da keinen Schweiß, aber wenn jemand MICH mag, also, dann ist so eine oberflächliche Haltung meinerseits möglicherweise verletzend, in logischer Konsequenz." Raimund schrumpfte immer tiefer in seine Kleidungsschichten. "Ist nur so, ich bin eher ungeduldig. Eiertänze höchster Sensibilität sind mir ein Gräuel. Außerdem habe ich ja auch genug zu tun, mit ordentlich Schmackes und Tempo. Das ist nicht gerade förderlich, um zartbesaitete Seelchen zu hätscheln. Tja. Was sollte ich jetzt aber anstellen? Ist nicht anständig, weil die Sache ja dich und mich angeht, aber ich hab ums Verrecken keine Antwort gefunden, also habe ich Oki gefragt, in Sachen 'Zuneigungsanalyse', nach verlässlichen Indikatoren. Den ganzen Quatsch mit Schmetterlingen und sonst was will ich nicht als Qualitätsmesser heranziehen, ehrlich! Die andere Sorte von Reaktion, also biologisch-chemisch mit Standup in der Hose, nee, das ist mir zu joker!" Tiberius grummelte, "Oki meint, sich richtig konzentrieren, nicht in Grund und Boden quatschen, Zeit nehmen. Reinversetzen. Schön und gut, nur, da will ich dir nichts vormachen, das hat mich keinen Deut weitergebracht! Aber das ist ja keine Entschuldigung, richtig? Also hab ich mir gedacht: Recherche! Kann ja wohl nicht so schwer sein. So, vor den Monitor gehockt, erst mal all die Sex- und Datings-Treffer raus plus den ganzen Mist, den man kaufen soll, geht ja zunächst nicht um die Physis. Dann bin ich bei Comics gelandet, Romanzen und Gelöt. Allein schon beim Studium der Handlungsstränge rollten sich mir die Fußnägel hoch! Während ich also noch sortiere, was alles nicht in Frage kommt, Klischees und Schema F, guckt mein Vater zufällig rein, sieht die Bilder. Und dann Waidmanns Heil, kein Pardon!" Tiberius atmete tief durch, "weißt du, gegen Asterix und Obelix haben meine Eltern keine Einwände, obwohl die eher unter Kommentar zum Zeitgeschehen fallen, zumindest die ersten Bände. Zeichnungen sind ja auch eine gute Sache, um komplexe Zusammenhänge zu illustrieren. Aber! Anatomisch total DEFORMIERTE Mädels mit UNMÖGLICHEN Haaren in lächerlichen Kostümchen?! Die Burschen dazu auch irgendwie daneben, dann Idioten-Minimal-Plots?! GANZ UND GAR ausgeschlossen! Ich musste gefühlt ne halbe Stunde nachdrücklich versichern, dass ich weder so ein Menschenbild pflege, noch die Optik als wünschenswert ansehe, mir all der Unkorrektheiten absolut bewusst bin und ganz bestimmt nicht auf diese miese Marketingstrategie für ewig Gestrige reinfalle! Da hatte ich erst mal die Nase voll, kannst du dir vorstellen. Aber schlimmer wäre es wohl gewesen, wenn sie mich bei der Sex-Recherche erwischt hätten." Raimund winselte. Zwar registrierte ein versprengter Rest seines Verstandes, dass seine Mutter und Tiberius sich gut verstehen würden, was Rollenklischees betraf, aber der letzte Nachsatz...! "Also, ich weiß ja nicht, ob du dich auskennst, na ja, jedenfalls gibt es auch Romanzen zwischen Jungs. Gezeichnet. So, dachte ich mir, Wissen ist Macht, also informier dich! Bloß, die Plots wurden nicht besser, die Typen sahen irgendwie alle viel zu, na ja, unecht aus. Und dann der Sex. DAS kam mir absolut unglaubwürdig vor, obwohl ich natürlich anatomisch gewisse Erkenntnisse vorweisen kann. Zum Glück habe ich dann Hinweise für ECHTE Menschen erwischt, aber die waren auch... Also, was man da alles beachten muss! Überall herum rasieren, hier salben, da kremen, dies beachten, jenes kaufen, das ist mir technisch schon ZU VIEL. Bewegte Sequenzen gab es auch, von so Porno-Seiten, Werbe-Clips, weiß der Geier! Ehrlich, DAS bringe ich nicht! Da gruselt es mich! He, nicht, dass ich dir irgendwas unterstellen möchte, aber ich finde schon, ich sollte das zur Sprache bringen, ich meine, dass ich da einfach nicht mit klarkomme. Ich bin mir auch nicht sicher, dass sich das mit galoppierendem Alter ändert, Rai, wirklich nicht. Und die Verrenkungen... nee. Definitiv, nee." Tiberius schlug sich kräftig auf die Oberschenkel, "also, deshalb habe ich nichts von mir hören lassen. Unhöflich, stimmt, aber ich brauchte einfach länger, um das alles auf die Reihe zu kriegen. Leider weiß ich immer noch nicht, wie exakt DIESER Hase hier laufen soll. Oder Bunny, um Hugh Hefner zu würdigen", atmete er tief durch, wandte sich dann zu Raimund um, "ist alles in Ordnung? Rai?" Raimund wagte nicht, den Kopf zu einem Nicken zu bewegen. Der schien in den letzten paar Minuten förmlich zu zerspringen. Und jetzt lief ihm auch noch Wasser aus den Augen! "Oh, du wirst doch jetzt nicht heulen, oder? Rai? Hast du Fieber?" Raimund gurgelte an einer Antwort. So richtig heiß fühlte er sich gerade nicht, besonders Hände und Füße erschienen ihm eiskalt und erstarrt. "Verdammte Hacke!", deklamierte Tiberius, hievte Raimund mühsam auf die Beine, die nicht mehr den Eindruck machten, als könnten sie größere Distanzen bewältigen. "Halt dich an mir fest, ja? Wir kriegen das hin, kein Problem!", behauptete Tiberius, erneut auf hoher Betriebszahl. ~~~@* Als die Pein nachließ, konnte Raimund sich so langsam wieder am Geschehen orientieren, beispielsweise an Tiberius, der auf seiner Bettkante hockte, Clementinen pellte und ihn mit einzelnen Schnitzen fütterte, "deine Mutter hat mir einen Schlüssel gegeben. Sind ja noch Ferien, also passt das und sie muss keinen Urlaub nehmen." Raimund kaute äußerst angestrengt. Er fühlte sich vollkommen schlapp und kraftlos, aber die Schmerzen hatten sich verabschiedet. "Ich hatte noch nie eine Grippe. Das ist echt fies", bekannte Tiberius, studierte ihn eindringlich, "vielleicht trinkst du besser was. Ich habe eine Elektrolytpulvermischung aus der Apotheke mitgebracht. Musst ja wieder die Reserven auffüllen." Er beugte sich über Raimund, hievte ihn mühelos in eine kauernde Haltung, stopfte und stapelte Kissen hinter dessen Rücken. Dann wurde Raimund aufgerichtet und wieder luftdicht verpackt, nicht mal die Arme musste er heben, weil Tiberius ihm die Tasse an den Mund setzte. "Wahrscheinlich war der Ausflug in den Botanischen Garten die Ursache. Ich hätte dich nicht unermüdlich durch die Gegend scheuchen sollen." Raimund öffnete den Mund, um zu widersprechen, bekam aber trotz vorheriger Flüssigkeitszufuhr nur ein unverständliches Krächzen zustande. Sofort wurde er wieder per Tassen-Express versorgt. "Dein Freund Yann war auch hier. Wollte sich bedanken und hat dir ein Geschenk da gelassen." Irgendwie schien es Raimund, als habe sich Tiberius auch in seine Mini-Familie eingearbeitet. Er wirkte vollkommen vertraut mit allem, so, als gehöre er selbstverständlich dazu. "Möchtest du es auspacken? Dann hole ich es dir." Und noch etwas stimmte Raimund nachdenklich: Tiberius schwadronierte nicht so beschwingt und gnadenlos wie sonst. Nachdem es ihm nur mit dessen Hilfe gelungen war, die Arme freizulegen, zupfte er an der Verpackung. Wahrscheinlich essbare Spezialitäten aus der Gegend. "Wow, das sind Bonbons, oder? Schokolade, Gebäck, na, die Flasche ist bestimmt für deine Mutter, oder?", Tiberius half beim Sortieren, räumte dann umsichtig alles wieder in die Schachtel zurück, stellte sie beiseite, betrachtete Raimund schweigend, der vermutete, ein verheerendes Bild abzugeben. "Erinnerst du dich noch an unser Gespräch? Na ja, eher meinen Monolog?" Raimund repetierte mit wachsender Übung seine Memoiren. Genau, Romanzen, Comic-Figuren, Klischees und die Sex-Porno-Sache! Er konnte nicht rot anlaufen, blickte aber eilig beiseite. "Ich hab das nicht böse gemeint. Ich wollte dich auch nicht verletzen, nur bin ich eben nervtötend-lästig ratlos! Ich versteh ja nicht mal die Logik in diesen Liebesgeschichten!", Tiberius seufzte grimmig, "ich hab nachgedacht, wirklich! Aber ich kann mir keinen Reim drauf machen. Ich bin einfach zu blöd!" Dieser ärgerliche Ausruf entlockte Raimund ein heiseres Kichern. Tapfer wandte er sich wieder Tiberius zu, der ihn besorgt beäugte, "ich will nicht so ein Depp sein, weißt du? Oder dich kränken! Das nervt mich wirklich! Aber wie kriege ich das hin?!" "Schon okay", krächzte Raimund. "Ausgeschlossen! Das ist mir zu unbefriedigend. Das ist nicht in Ordnung, und ich mag's nicht, wenn es nicht in Ordnung ist", Tiberius klang erstaunlich bockig, was Raimund amüsierte. "Stur!", stellte er fest. Unterdessen energisch Clementinen pellend stopfte Tiberius ihm einfach eine Scheibe in den Mund, "ganz bestimmt! So einfach stecke ich nicht auf! Das wäre ja gelacht. Der Plan sieht wie folgt aus: Gesellschaft leisten und körperliche Nähe suchen. Nein, keine Angst, nicht die grässliche Sex-Porno-Variante!" Eilig schluckte Tiberius die eigene Scheibe herunter, "also, ich will dich ja nicht schockieren, aber ich bin jetzt nicht so der Kuscheltyp. Anhänglich. Schmusig. Hab ich dir erzählt, dass ich Aikido mache? Na ja, also, da setzt man die Kraft seines Gegners gegen ihn ein, sehr energiesparende Sportart. Außer natürlich, man will einem was auf die Mütze geben, selbstverständlich. Aber zum Thema zurück: ich mach das schon lange, ist mir quasi in Fleisch und Knochen übergegangen. So, ich sollte Oktavian zum Tanzkurs begleiten, als Dolmetscher, eigentlich. Aber die dachten wohl, he, die Pflaume soll da nicht nur die Luft bewegen! Bloß, und jetzt kommt der springende Punkt: ich hab immer reflexartig jede Attacke abgewehrt. Klar, die wollten bloß tanzen, ja, schon, aber irgendwie hat das nicht funktioniert. Deshalb denke ich mir, damit es nicht zu ähnlichen Desastern kommt, lernst du Aikido, ein Mal die Woche. Besondere Anzüge braucht man am Anfang auch nicht. Ist ziemlich praktisch, wir verbringen Zeit miteinander, und FALLS ich mal wieder einen Reflex auslebe, konterst du locker! Genial, oder?!", strahlte Tiberius über seine gerissene Taktik, sich selbst zu übertölpeln. Raimund sackte tiefer in die stützenden Kissen, "aber... warum...die Mühe?" Tiberius runzelte leicht die Stirn, "für mich ist das keine. Außerdem sagt Oki, dass du mich magst, mehr als ihn. DAS will schon was heißen! Oki liegt nie falsch, das kannst du aber glauben! Also, wenn du jetzt die einzige, nicht mit mir verwandte Person bist, die mich besonders leiden kann, gebe ich natürlich nicht einfach so auf! Gut, ein paar Optionen können wir jetzt schon streichen, beispielsweise die ständige Rasur rund um die Rosette und Pöter-Einlochen. Aber für Alternativen bin ich offen, sofern sie in Ordnung sind, also die Dinge ins Lot bringen. Wir können zur Abwechslung auch was unternehmen, was dir gefällt! Ich werde auch mein Tempo drosseln, versprochen!" Dabei blickte Tiberius Raimund so beifallheischend an, dass der ein Grinsen nicht bezähmen konnte. "...gut. Aber ich muss erst meine Mutter fragen", denn so ein Kampfsportverein kostete ja schließlich Geld! "Oh, das habe ich schon. Wir kamen so ein wenig ins Plaudern. Als ich ihr von den Comics erzählt habe, wurde es richtig lustig." Raimund keuchte erstickt. Tiberius hatte doch nicht wirklich seine komplette Recherche-Odyssee offenbart?! "Deine Mutter ist richtig nett. Hat ordentlich Schwung und ne dezidierte Meinung. Find ich prima. Sie hat keine Einwände gegen Aikido." "Du-du hast doch nicht... die andere...Sache...?" Tiberius gestikulierte, das erste Mal in ihrem Gespräch, zwinkerte, "während du hier sterbenselend herumlagst, Ferkeleien in der Unterhaltung mit deiner Mutter angedeutet? Rai, ich bin zwar ein Depp, was diese Beziehungssache angeht, aber sonst nicht auf Schwachstrom unterwegs. Keine Sorge." Vor Erleichterung ächzend sank Raimund wie ein Soufflee nach vorzeitigem Außenkontakt in sich zusammen. Tiberius sammelte unterdessen Tasse und Obstschalen auf, "ruh dich noch ein bisschen aus, ja? Inzwischen mach ich Mittagessen." DAS klang wieder nach dem gewohnten Tiberius, der durch seine Betriebsamkeit alle auf Distanz hielt. Raimund blinzelte hoch. "Ah, Kissen, richtig!", schon wurde er in müheloser Leichtigkeit "tiefer gelegt", dann zögerte Tiberius, als läse er eine interne Liste ab, Punkt für Punkt. Er beugte sich über Raimund und küsste ihn hauchzart auf die umsichtig mit einer Hand freigelegte Stirn, "ich krieg das hin. Klare Sache." Ehrlich, WER hätte da nicht prusten müssen?! ~~~@* Raimund war dankbar über die zurückerlangte Bewegungsfähigkeit. Nie hätte er geglaubt, wie sehr man eigenständiges Schlappen ins Bad und in die Küche vermissen konnte! Jetzt, vorsorglich warm eingewickelt, saß er bei seiner Mutter in der kleinen Küche, leichte Abendmahlzeit und Resümee des Tages. Wobei es ihm ja gelungen war, ganze fünf Tage zu verpassen. "Die sind gut!", bemerkte seine Mutter gerade, mümmelte den zweiten Muffin mit Geleefüllung, Tiberius' Backwerk, der ihn nicht nur betreut, sondern bekocht, gewaschen und auch geputzt hatte, ganz wie daheim. Raimund kaute ebenfalls und seufzte unterdrückt. Fühlte sich Tiberius etwa SO schuldig? Oder verfiel der wieder in sein gewohntes Verhaltensmuster? Durch unermüdliche Betriebsamkeit alle am langen Arm verhungern lassen. "Ist echt ein feiner Kerl, der Tibo", seine Mutter grinste, "wir hatten richtig Spaß! Wenn der mal loslegt, dann auch noch mit Gebärden, da ist Stimmung!" Etwas verunsichert räusperte sich Raimund, "ich finde, es ist manchmal schwierig, zu Wort zu kommen." Dass seine Mutter nun lachte, hatte er nicht anders erwartet, "also, da kann ich mich nicht beklagen! Hat er dir erzählt, wie er mit zur Tanzstunde musste?" Raimund nickte vorsichtig. "Herrlich! Ich habe natürlich eine Demonstration verlangt, und mich fast gekringelt vor Lachen!", was Raimunds Unterkiefer für einige Wimpernschläge aushängte, "Slapstick auf Spitzenniveau! DAS hätte ich gern im Original gesehen!" Da Raimund wusste, wie ärgerlich seine Mutter auf die zementierten Regeln beim Tanzen reagierte, konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken. "Erst dachte ich ja, er wäre einer von dieser Schleimer-Truppe, weißt du? Die, die einem aufdringlich Kleinigkeiten abnehmen, die man selbst erledigen kann, und dann ständig gelobt werden wollen, so Pseudo-bescheidene Narzissten! Aber der packt richtig an, zack-zack! Wirklich, wenn er jetzt, sagen wir, ein Vierteljahrhundert drauflegen würde..." Raimund hustete beinahe seinen Tee aus. "Tja, das klappt wohl nicht, wie? Schade! So ein Typ wäre jedenfalls ganz nach meinem Geschmack!" Blinzelnd versuchte Raimund zu ergründen, wie viel Spaß und Ernst in diesen Worten enthalten waren. Seine wirren Strähnen wurden wild zerstrubbelt, "nun guck nicht so kariert, Rai! Leider hat Tibo ja keinen patenten, unverbändelten Verwandten in meinem Alter!" Wirklich, WIE ausführlich hatten diese beiden sich unterhalten?! "Und, weißt du, er würde weniger reden, wenn du ihm Gelegenheit zum Zuhören gibst, Rai." Raimund zog nervös die Schultern hoch, "schon, bloß, ich weiß nicht so viel über die Dinge, die ihn interessieren und langweile ihn." "Pff!", prustete seine Mutter, sortierte ihm die überlangen Strähnen, "Rai, sprich doch einfach über das, was DICH interessiert, sonst kann er dich auch nicht kennenlernen. Komm ihm entgegen, wenn er lernen will, einen Gang runter zu schalten, immerhin weißt DU ja, dass die Welt nicht untergeht, wenn nicht alles immer in Ordnung ist, nicht wahr?" ~~~@* Raimund grübelte im Zwielicht seines Zimmers über das Gespräch mit seiner Mutter nach. Er hatte zu viel geschlafen und war einfach noch nicht müde. Tiberius entgegenkommen? Leichter gesagt als getan! Der agierte wie eine Lawine, nicht nur verbal, sondern auch in seinem Tatendrang! Da war man platt, bevor man "Fisch" sagen konnte! Und wieso glaubte Oktavian bloß, er möge Tiberius lieber als ihn?! Gut, gegen Ordnung hatte Raimund per se nichts einzuwenden, zumindest, wenn sie nicht überhand nahm, aber diese Art von Ordnung meinte seine Mutter wohl nicht, vielmehr ging es um Balance, ums Lotrechte, um befriedigende Zustände. Versuchte Tiberius mit seiner Betriebsamkeit auszugleichen, dass Oktavian taubstumm war? Oder gab es versteckte, unterdrückte Konflikte anderer Art? Kompensierte er damit vielleicht eine verborgene Sorge? Oder wollte er seinen "Wert" beweisen, indem er ständig etwas erledigte, dirigierte, ordnete? Setzte ihm vielleicht die Trennung von Oktavian, der ja nun eine Ausbildung begonnen hatte, zu? Raimund seufzte. Obwohl Tiberius viel redete, Anekdoten zum Besten gab (wenn er nicht gerade in Heldenverehrung seinen Bruder lobpries), fiel es schwer, IHN einzuschätzen, sodass sich Raimund auch keine Antwort auf die Fragen geben konnte. Stellte die sich überhaupt jemand? Oder hatte man sich schlicht an den patenten, kompetenten, bienenfleißigen Tiberius gewöhnt? »Und WARUM denkt Oki, ich ziehe Tibo vor?!« Konnte das am Ende ein Trick sein, um ihn dazu zu bringen, sich mit Tiberius anzufreunden? ~~~@* "Ist es nicht erstaunlich, dass Pferde sich an Pflanzen vergiften können? Gibt es da keine Vorwarnung?" Raimund zögerte kurz, bevor er antwortete, "nun, die meisten Pflanzen wehren sich gegen ihre Vernichtung, auf die eine oder andere Art. Gewisse Warnzeichen nehmen wir wahr, wie die Farbe von Früchten, ein bitterer Geschmack, ein abstoßender Geruch. Aber Menschen vergiften sich auch. Die Dosis macht das Gift. Wenn man sich vorstellt, wie Biosphären miteinander reagieren, sich gegenseitig helfen oder bekämpfen", er hielt inne. "Ja? Helfen oder bekämpfen?", half Tiberius aus, warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. "Also, willst du wirklich darüber sprechen? Oder bist du gerade höflich?", erkundigte Raimund sich unbehaglich, immerhin hatte er in der letzten Viertelstunde mehr als drei Sätze formulieren können. Tiberius runzelte die Stirn, "nun, ich bin neugierig, wegen der Zeitungsnotiz, dachte, du weißt mehr darüber. Wir können aber auch über etwas anderes sprechen, wenn dir das lieber ist", bot er konziliant an, was Raimunds Nervosität nicht gerade milderte. Doch sollte er sich tatsächlich aus der Deckung wagen? "Wenn es dir nicht unangenehm ist, die Privatschule, wie ist die so?", tastete sich Raimund SEHR vorsichtig an ein brisantes Thema heran. "Oh, viel kleiner als deine Schule! Aber wir haben richtige Gebäude!", zwinkerte Tiberius, der die Containeranlage offenbar keineswegs für ein kurzzeitiges Provisorium hielt. Mutmaßlich lag er damit richtig. "Die Klassen sind kleiner und es gibt viele Arbeitsgruppen, die altersübergreifend sind! Es geht recht familiär zu, die Eltern müssen sich aktiv beteiligen, weißt du? Aber ich finde, es zahlt sich wirklich aus! Ich glaube nicht, dass ich weniger gebildet und leistungsschwächer bin als ein Regelschüler." Raimund umkreiste das Fettnäpfchen, "du wolltest immer da hin?" "Klar! Ich meine, ich war ja in einer 'normalen' Grundschule. Du erinnerst dich an die Dussel-Trine mit ihrer fehlgeleiteten Meinung? An sich war es ja nicht übel, aber wenn man bedenkt, wie viel Zeit man sinnlos verliert...! Jedenfalls, Oki war da, also wollte ich selbstverständlich da hin, wo er war, damit wir Zeit miteinander verbringen. Es geht ja nicht bloß um Paukerei, Noten und Abschlüsse, sondern um Lebenszeit, um gemeinsame Erlebnisse!", deklamierte Tiberius engagiert, schwungvoll ausschreitend. Bella bellte zur Betonung ein Mal. "Recht so! Ich habe zwar blödes Gerede über meine Schule gehört, aber das ist doch bloß Neid! Gepaart mit Ignoranz und Vorurteilen. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass meine Eltern mir diese Chance ermöglichen!" Raimund versuchte, das Fettnäpfchen nicht mit vollem Schwung zu treffen, "dann ist es wohl schwierig ohne deinen Bruder. Oder?" Tiberius schnaubte, "nicht unbedingt schwierig, bloß ganz anders. Man hat sofort gemerkt, dass er nicht mehr da ist. ALLE haben es sofort gemerkt. Ist ja auch klar, Oki ist besonders! Andererseits ist er ja mein Bruder, also bin ich am nächsten an ihm dran! Da kann niemand sonst mithalten!", verkündete er mit stolzgeschwellter Brust. Und Bella bestätigte wieder artig diese These. "Verlierst du denn nicht Zeit? Mit mir?", die kalten Fäuste in den Taschen ballend wartete Raimund auf die Fett-Explosion. "Mit dir? Na hör mal, ich bin ja hier, weil Oki mir ins Gewissen geredet hat, dass wir keine siamesischen Zwillinge sind und ich mich anstrengen muss! Außerdem braucht er ja auch mal Zeit für sich, die Ausbildung ist anstrengend und er ist ja auch schon älter. Du hast keine Geschwister, oder?", Tiberius warf ihm einen strengen Blick zu. Raimund schrumpfte automatisch einige Zentimeter. Nun, zumindest war sich Tiberius des Umstands bewusst, dass er nicht mit einer Nabelschnur mit Oktavian verbunden war und eigenständig leben musste! "Doch, zwei jüngere Halbschwestern", antwortete er gehemmt. "Wirklich? Und, wie sind die so? Unternehmt ihr was zusammen?", Tiberius zeigte sofort Interesse. Oder machte lediglich höflich Konversation. "Ich kenne sie nicht. Es ist ein wenig schwierig, und sie wohnen auch nicht hier", stellte Raimund klar. "Hmmm, das erklärt es. Ich hatte von dir einen Einzelkind-Eindruck. Eigentlich liege ich mit meinen Einschätzungen häufig richtig." Kein neugieriges Nachhaken nach Details. Konversation. "Was für ein Eindruck wäre das? Egozentrisch, verwöhnt, rücksichtslos?", erkundigte sich Raimund, nicht einen Augenblick später über sich selbst erschrocken. Gingen ihm da etwa verletzte Gefühle durch, weil Tiberius brav tat, was Oktavian ihm aufgetragen hatte, ohne innere Beteiligung, aus reiner Pflichterfüllung? Der blieb stehen, Raimund mit einem großen Schritt Abstand ebenfalls. "Was ist denn los?" Raimund schnappte energisch nach Luft, blickte direkt in die sehr hellen, wasserklaren Augen unter der gefurchten Stirn, "das kann ich dir sagen! Allgemein gelte ich als sehr 'verständig', ich halte mich zurück, dränge mich nicht auf, rede nicht viel, ABER ich kann NICHT verstehen, warum wir Zeit miteinander verbringen! Bist du nur um deines Bruders Willen hier?! Könnte hier jeder und jede stehen, nicht ich?! Ich weiß nicht, was für eine Art Protokoll oder Betriebsanleitung du abarbeitest, aber sie funktioniert nicht! Du wolltest dich einlassen, aber das tust du nicht. Ich weiß nicht mal, wer DU eigentlich bist, so versteckst du dich hinter Reden und Herumhantieren. Das deprimiert mich, zieht mich runter. Ich will das nicht länger ertragen. Es reicht einfach." Nach dieser Wutrede fehlte ihm beinahe der Atem. Gleichzeitig fühlte er aber auch eine gewisse Erleichterung, die rasch von Schuldgefühlen flankiert wurde. Tiberius starrte ihn vollkommen überrumpelt an. "Ich kann dir wirklich nicht folgen", brachte er schließlich sehr beherrscht hervor. Raimund atmete tief durch, straffte die schmächtigen Schultern, "ich bin kein loser Knopf, keine fleckige Hose, kein kaputtes Spielbrett. Ich bin kein Objekt, kein Punkt auf einer Liste, der noch abzuhaken ist. Dein Bruder hat sich geirrt. Ich weiß nicht, wie ich dich mögen soll, wenn es DICH gar nicht gibt. Entschuldige die Mühe, die ich dir bereitet habe, auch wenn du behauptest, es sei keine gewesen." Damit machte Raimund kehrt und marschierte wie aufgezogen den Spazierweg zurück. Ihn schmerzte die Kehle und seine Augen brannten, aber das änderte nichts an seinem Entschluss. ~~~@* Kapitel 4 - Chaotische Zustände "...und das hast du ihm gesagt?" Raimund nagte an einem sehr trockenen, krümeligen Haferkeks mit Schoko-Flecken. "Mehr oder weniger", bekannte er kleinlaut. "Hmm", kommentierte seine Mutter, die ihm natürlich sofort am Abend angesehen hatte, dass ihn etwas bedrückte. Nachdem "Schule" kein Treffer war, folgte auf Platz 2 sofort "Krach mit Tibo". Wieso sie so zielsicher vermuten konnte, wollte Raimund lieber nicht ergründen, abgesehen von lebenslanger Erfahrung mit ihm. Sie nahm einen weiteren Schluck von selbst gemachter Hafermilch mit Kakaopulver, "und was hat Tibo gesagt?" Kekskrümel runterschluckend zuckte Raimund unbehaglich mit den schmächtigen Schultern, "ich hab ihn stehen lassen." "Hmmm", nachdenklich benagte seine Mutter ebenfalls einen großen Keks. Eine Weile lang hörten sie nur das Ticken der Wanduhr, eine imitierte Kaffeekanne mit altmodischem Zeigerpaar und einem schwingenden Gewicht darunter. "Rai, ich werde mich nicht einmischen, aber ich möchte dir eine Empfehlung geben: sperr Tibos Nummer nicht, gib ihm die Chance zu reagieren. Außer natürlich, er spamt dich zu oder stalkt oder sonst was." "So was tut er nicht", stellte Raimund fest. Seine Mutter zwinkerte, "nein, das glaube ich auch nicht. Also, denk mal drüber nach, in Ordnung?" Die kleinste Konzession, die man verlangen konnte. Raimund nickte artig. "Ah, und noch was!", damit platzierte seine Mutter ihre beiden geschlossenen Fäuste vor ihm auf den kleinen Tisch. Ratlos blickte er erst sie an, dann tippte er nach einem aufmunternden Nicken auf ihre linke Faust. Sie öffnete sie. Darin befand sich eine schlichte Haarklammer, an deren Ende ein kleiner, flacher Metallapfel Dekoration ausübte. Raimund zog eine Grimasse, tippte dann auf die rechte Faust. Darin befand sich ein eingerollter, recht zerknüllter Zettel. Er pickte ihn mit einer gewissen Vorahnung auf und glättete das Papier zur Lesbarkeit. "Ich hab dir schon Geld hingelegt, Rai. Wir nähern uns nämlich rasant dem Hirtenhund-Dilemma", nämlich der Frage, wo man den Napf abstellte, weil der Fellvorhang Bug und Heck gleich aussehen ließ! Mit einem Seufzer pickte Raimund einen weiteren Keks auf und kaute grimmig. Na schön! Vielleicht dräute nun wirklich die Zeit, dem Fransengehänge ein Ende zu bereiten! ~~~@* Ein bisschen beklommen fühlte sich Raimund doch, aber er WAR nun mal für den Aikido-Verein angemeldet und seine Mutter zum Beitrag verpflichtet. Ausbiegen, kneifen, weil er dort Tiberius begegnen könnte? Nein, kam nicht in Frage! Außerdem zählte er zu den (hoffentlich nicht wirklich) blutigen Anfangenden. Die würde man wohl kaum mit den langjährigen Profis zusammen in einen Kurs stecken, oder? Im Übrigen gab es keine Nachrichten von Tiberius, was Raimund eigentlich nicht wunderte. Der würde sich bestimmt in epischer Breite mit seinem geliebten, unfehlbaren Bruder austauschen und dann wäre sowieso Ende Gelände! Doch da hatte er ein wenig vorschnell geurteilt, denn die Übungsräume, das Dojo quasi, befanden sich im Volksgesellschaftshaus. Da sie heiß begehrt waren, traf man sich ein Mal die Woche dort, mit allen aktiven Mitgliedern! Angespannt schob Raimund sich zwischen die anderen Anfangenden, Grundschule bis zu Lebensabschnitt. Tiberius traf etwas später ein, nickte ihm aber bloß zu und gestikulierte automatisch eine Begrüßung. Die Kursleiterin stellte sich als eine sehr zierliche, kleine Frau mit keckem Pagenschnitt heraus, die munter die Aufwärmübungen erklärte, glücklicherweise, wie Raimund konstatierte, denn nur mit Zuschauen, wie man das von asiatischen Kampfsportarten häufig hörte, wäre ihm sicher nicht gedient. Andererseits war Aikido auch kein Kampfsport, sondern eine Achtsamkeitsphilosophie mit Selbstverteidigung. Wichtig war es, zunächst die eigene Balance zu stärken. Übungen mit Hebelkräften standen erst an, wenn niemand Gefahr lief, sich zu verletzen. Dabei wurde auch Sturzprävention eingeschlossen, was besonders die Älteren interessierte. Natürlich gab es dann am Ende doch, was Raimund befürchtet hatte: Partnerübungen, Neuling-Profi. Keine spektakulären Attacken oder wilden Aktionen, sondern das Ausbalancieren des Gegenüber. Glücklicherweise musste er nicht mit Tiberius üben, sondern einem Mädchen. Weil er aber doch dessen Blick auffing, registrierte er, dass Tiberius sich an den Mundwinkel tippte, was Raimund darauf hinwies, dass er vor Anspannung und Konzentration die Zunge dort eingeklemmt hatte. Das wiederum konnte gefährlich werden, wenn es zu einem Wurf kam. Hastig zog Raimund die Zunge ganz ein und versuchte, sich nicht von der Fünftklässlerin von den Beinen holen zu lassen. Erschöpft, aber grimmig entschied Raimund, dass er ab jetzt jeden Tag eine halbe Stunde Zeit für die Übungen abzwacken würde. Mentale Harmonie und Ausgeglichenheit, das würde er schneller erreichen als die körperliche Variante, aber sein Ehrgeiz war geweckt, seine schmächtige Statur durch die Kräfte der Physik auszugleichen! ~~~@* »Sehr nützlich!«, dachte Raimund, und zwar viel rascher als erhofft. In Zeitlupentempo verlagerte er sein Gewicht, die Füße plan auf den Teppich gesetzt, konzentrierte sich auf seinen Schwerpunkt. Ausgeglichenheit. Angriffe ins Leere laufen lassen. Genau! Darin hatte er gerade besonders viel Übung, selbst wenn es ihm just eine säuerliche Grimasse abnötigte. Man sollte ja nicht meinen, dass ein simpler Haarschnitt einen Kulturkampf auslöste. Möglicherweise hätte er sich auch im Vorfeld über eine Frisur Gedanken machen sollen, andererseits wollte er lediglich Kollisionsgefahren mit Laternenpfählen reduzieren. Wäre er nicht notorisch "verständig", hätte er auf die Bremse getreten bei "retro, aber stylish, Eighties meets Steampunk, absolut angesagt, sehr individuell". Aber er hatte unter dem veilchenfarbenen Kittel im erstaunlich bequemen Stuhl interessiert zum "Barber" rübergeschielt, der mit einem Rasiermesser (!) einen prachtvollen Bart stutzte, schlichtweg nicht zugehört, weil er selbst ja auch keine Ahnung hatte, was mit seinen zugegeben überlangen Strähnen passieren sollte. Das Ergebnis seines temporären Durchzugs in den Gehörgängen blickte ihm dann von der Spiegelwand entgegen. Raimund erkannte sich selbst kaum wieder. Nun, klar, die Augen, die Nase, der Mund, aber hinten lag nichts mehr auf dem Kragen auf, ganze Partien waren runtergestutzt. An den Schläfen hingen schnurgerade zwei dicke Strähnen herunter. Der Pony war zipfelig geschnitten worden, so vereinzelt, was Einblicke auf sein Gesicht zuließ. Die vermeintliche Kur hatte sein eigentlich nussbraunes Haar mit rötlich oder blond schimmernden Einzelsträhnen versehen. "Ganz natürlich! Die Wunder der Natur!" Aha. Wer ihm da aus dem Spiegel entgegenblickte, sah aus, als wolle er sich für ein Szene-Magazin oder auf einem Videokanal produzieren! Sprach- und fassungslos hatte Raimund für das Meisterwerk gezahlt, sofort seine Mütze aufgesetzt und sich gefragt, ob er sie nicht mit Leim dort stationieren sollte. Eine Überlegung, die seine Mutter selbstverständlich torpedierte, die ihm begeistert über die verbliebenen Strähnen in der Frontpartie wuschelte und bis ins letzte Knopfloch strahlte, nicht nur, weil die raue Liebesbekundung seine Frisur nicht im Geringsten beeinträchtigte, sondern weil ihr das Ergebnis als richtig "kickass" gefiel. Raimund hegte solche Ambitionen nicht, aber er ahnte schon, dass der nächste Schultag kein Vergnügen werden würde. Zuerst ging es nur darum, dass einige Leute sich wohl was einbildeten, über das sie gar nicht verfügten, dann wanderte ein Bild digital, dass eine gezeichnete Figur zeigte, die angeblich das Vorbild für Raimunds neue Frisur sei. Diese hatte, wie praktisch, nicht nur eine androgyne Erscheinung, simplifiziert wie die meisten Zeichnungen, sondern auch noch Sex. Woraufhin Yann, der ohnehin keine lange Lunte hatte, explodierte, dem Versender eine passende Figur zurücksendete. Über dem Tisch beschäftigte sich eigentlich kaum noch jemand. dafür als "Bückware" digital im Kreisrund, von gezeichneten Figuren mit wilden, nicht schmeichelhaften Köpfen ging es über Hunde weiter, man verlegte sich auf "Bad Hair Days" von Prominenten, was wiederum auf den Anfang referierte. Als Raimund sich zum Schulschluss die Mütze aufsetzte, reichte es ihm jedenfalls gründlich. Andererseits hatte er sich gar nicht eingemischt, die Attacken ins Leere laufen lassen, auch wenn ihn die Geschichte um seinen gezeichneten Lookalike nicht gerade begeistert hatte. Yann klopfte ihm kräftig auf die Schulter, "geht keinen was an, was du mit deinen Haaren anstellst. Die Welt ist voll von verklemmten Hornochsen." Raimund grinste schief, "danke. Aber das nächste Mal höre ich zu, wenn mir ein Friseur Vorschläge macht." Yann feixte, schulterte seine Hockey-Ausrüstung, "nimm meine grässliche Schwester mit. Die könnte sich auch mal in einen Menschen verwandeln lassen." Schmunzelnd wehrte Raimund dieses Gesuch ab., "ich habe gerade erst mit Aikido angefangen! So einer Aufgabe fühle ich mich nicht gewachsen." Yann lachte laut heraus, "stimmt! Das kleine Monster hat Alien-Queen-Qualitäten! Vielleicht kann ich Linus ja überreden!" Mit dieser aufmunternden Perspektive im Blick nickte er Raimund tatendurstig zu, marschierte beschwingt davon. Raimund lächelte, dann pickte er seufzend seinen Rucksack auf. Dieser Donnerstag war noch lange nicht zu Ende. ~~~@* Sie trafen sich unter der Woche, denn "am Wochenende gehört Vati der Familie", seiner richtigen, selbstredend, nicht dem Ausschuss des Fehlversuchs, im Einkaufszentrum in einem Schnellrestaurant, die langen Öffnungszeiten nutzend. Raimund hätte eigentlich etwas zu berichten gehabt, anders als sonst, angefangen von dem Versuch, ihn mit einem Böller in Brand zu stecken, doch kaum hatte er wohlerzogen die Mütze abgezogen, immerhin befanden sie sich in einem Gebäude, konnte er sich jedes Wort sparen, weil sein Vater sich über seine Frisur entsetzte, von konsterniert zu aufgebrachter Empörung wechselte. Was die Leute denken sollten?! Dass er endlich mal erwachsen werden sollte! Wie er sich nur so auf die Straße traute! Ob er als nächstes anfangen würde, Röcke zu tragen?! Raimund dachte an seine Aikido-Übungsstunde: ausgleichen, ins Leere laufen lassen. Man hätte die Umstände erklären können, sich verteidigen, aber mit plötzlicher Entschiedenheit verabschiedete sich Raimund von seiner gewohnten "Verständigkeit". Er wollte keine Energie darauf verschwenden, sich seinem Vater begreiflich zu machen, irgendwie dessen Akzeptanz zu gewinnen, nein, denn, das stellte Raimund nüchtern fest, das kümmerte ihn nicht mehr. Dessen Meinung, Wertschätzung oder Ablehnung: sie bedeutete ihm nichts. All dieses Ereifern, Tadeln, Herunterputzen, es lief ins Leere, berührte ihn nicht mehr. So konnte er distanziert wie ein klinischer Forscher seinen Vater begutachten. Ja, es war NICHT in Ordnung. Eine Menge Dinge waren es auch nicht, global gesehen, doch mit DIESER Unordnung konnte er leben. Biologische Verwandtschaft bedingte nicht, dass man sich gut verstand, einander wohlgesonnen war. Deshalb antwortete er gar nicht mehr, sondern ließ die Tiraden an sich abprallen, verabschiedete sich knapp und spazierte nach Hause, die Mütze trotzig in seine Jackentasche gestopft. ~~~@* [Habt ihr euch gestritten? Tibo ist so geknickt, aber er sagt mir nichts.] ~~~@* Bei der zweiten Aikido-Übungsstunde fühlte sich Raimund schon besser präpariert, immerhin hatte er hartnäckig jeden Tag die Gleichgewichtsübungen absolviert. Tiberius grüßte bloß gestisch, allerdings weiteten sich seine wasserhellen Augen angesichts der neuen Frisur. Dieses Mal kam Raimund allerdings nicht darum herum, die Balance mit Tiberius zu trainieren. Darauf konzentriert, nicht gefährlich die Zunge in einen Mundwinkel einzuklemmen, geriet er immer wieder aus dem Konzept. Kein Wunder, dass es Tiberius gelang, ihn aus dem Stand mühelos auszuhebeln und auf die Matte sinken zu lassen, jedoch sehr behutsam. Raimund keuchte trotzdem vor Schreck, denn für wenige Sekunden hatte er sich fast schwerelos gefühlt. "Hebelwirkung", diagnostizierte die Kursleiterin munter, klaubte ihn ebenso mühelos auf, "bitte bleibt immer konzentriert, damit ihr euren Schwerpunkt nicht verliert." Leichter gesagt als getan, wenn sich eine Beziehung im Schwebezustand befand. ~~~@* Eigentlich sollte es ihn nicht überraschen: Zeitungsblätter unter flachen Kissen, Thermoskanne, Becher. Höflich nahm Raimund Platz, blickte von den Stufen eines romantisierten Tempelchens auf die Hügel mit vergilbten Grasresten, wenn nicht der Regen schon kleine Furchen und Gräben gezogen hatte. Nun, wenigstens hatte Tiberius ihm gestattet, selbst zum Treffpunkt zu kommen und nicht ab der Haustür quasi Eskorte gespielt. HARMONIE! Innere Gelassenheit! Tiberius schenkte unterdessen Tee aus, wie Raimund nicht umhin konnte zu bemerken, die heimische Lieblingssorte. Klar, so was merkte der Kerl sich! Zuvorkommend, nahe an der Perfektion und ließ einen am langen Arm verhungern, metaphorisch gesprochen, denn nun entknotete Tiberius auch noch in der Demarkationszone zwischen ihnen ein Tuch und enthüllte Muffins. War das jetzt ungeheuer schmeichelhaft oder nachgerade unverschämt? Er entfaltete einen Zettel. "Stichworte", ein Seitenblick streifte Raimund, der sich betont unbeeindruckt gab, "das Übliche, Dank fürs Kommen, Kompliment zur Frisur, Lob für Fortschritte beim Aikido", Tiberius faltete den Zettel zusammen und verstaute ihn in einer Jackentasche, atmete tief durch, ebenfalls auf die Hügel blickend, "die meisten sind genervt, frustriert oder schlicht überfahren. Dass sich jemand über mich, was ich tue, so ärgert, das kommt nie vor. Ich habe nicht verstanden warum. War denn nicht alles in Ordnung, für alles gesorgt?" Er drehte seinen Becher in den Händen, "also habe ich gegrübelt. WAS war nicht in Ordnung? Ich hab mich doch daran gehalten: Zeit verbringen, zuhören, sich konzentrieren, Interesse beweisen. Was hätte ich anders machen sollen? Mir ist nichts eingefallen, also wieder zurück auf Los. Was soll es bedeuten, dass ICH gar nicht beteiligt war, dass ICH mich nicht kennenlernen lasse? Heißt es nicht, 'Lasst Taten Eure Fürsprecher sein?' Also eine weitere Sackgasse! Noch mal auf Los." Tiberius nippte an seinem Becher, um die raue Kehle zu befeuchten, "hat Oki sich geirrt? War es am Ende nur ein Trick? Eine selbsterfüllende Prophezeiung? Aber warum das? Ich komm doch klar, kein Problem, wir waren ja vorher auch nicht in derselben Klasse. Er würde mir doch nicht so einen Floh ins Ohr setzen, vor allem nicht, wenn es noch andere einbezieht! Hat er aber recht, dann habe ich etwas in Unordnung gebracht, richtig? Also muss ich es in Ordnung bringen, nur kenne ich die richtige Ordnung nicht! Das war alles so durcheinander und verwirrend!" Er schnaufte, spülte mit Tee nach, "eigentlich hätte ich mit Oki sprechen müssen, aber ich wollte ihn auch nicht enttäuschen, immerhin ist es ja MEIN Schlamassel, und ich kann nicht andere dirigieren und selbst dilettieren, oder? Ich habe nachgedacht und nebenher fast dreimal die gesamte Wohnung auf Vordermann gebracht. Meine Eltern waren schon leicht beunruhigt. Es gebe nämlich auch die Möglichkeit, ganz ruhig, im Sitzen, nachzudenken. Nicht immer lasse sich innere Ordnung durch äußere erzwingen." Tiberius pickte einen Muffin auf und nagte ihn an. Er schluckte rasch, denn, das musste man neidlos anerkennen: das Gebäck zerging auf der Zunge! "Ich HABE mich hingesetzt, nichts gesagt, nachgedacht, bin systematisch alles durchgegangen, was ich von dir weiß. Wo bin ich auf den Schlips getreten? Hab die Situation nicht im Griff gehabt? Was dann mal wieder zum verwirrendsten Punkt führt: WIESO magst du MICH lieber als Oki? Ehrlich, DAS kann ich nicht begreifen. Da, dachte ich so vor mich hin, SITZEND, OHNE WORTE, liegt der Hase im Pfeffer! ERWARTUNGEN!" Triumphierend klopfte er mit beiden flachen Händen schwungvoll auf seine Oberschenkel, blitzte aus den wasserhellen Augen, förmlich von dieser Erinnerung an den Geistesblitz erleuchtet, "so! These: verhalte ich mich wie immer, sind die Leute hin und wieder etwas frustriert oder genervt, weil ich sie auf Trab bringe und halte. Kein Problem. Verhalte ich mich beinahe wie immer, nur etwas dezenter, wirst du wütend. Konklusion: ich habe mich UNGENÜGEND verhalten, sprich, nicht erwartungsgemäß. Das passt dann auch zu deinem Vorwurf, ich würde MICH gar nicht kennenlernen lassen." Tiberius nickte gravitätisch, "vollkommen richtig unter den gegebenen Prämissen, das heißt, wenn die Erwartung an MICH anders gestaltet ist! Weil du mich, zumindest laut Okis Einschätzung, der nahezu unfehlbar ist, was Leute betrifft, magst, während andere Leute mich wohl eher aushalten, aus Gründen der gegenseitigen Nützlichkeit und Effizienz." Entschieden schob er Raimund den letzten Muffin zu, "boah! Kann ich dir nur sagen! Was für eine Erleichterung, dass ich endlich mal eine logische Eingebung hatte! Ich bin nämlich eigentlich recht systematisch und strukturiert unterwegs. So, mal diese These gesetzt, kommt JETZT die schlechte Nachricht." Raimund schluckte eilig den letzten Bissen Muffin herunter. Keine Frage, Tiberius raste wieder in vollem Tempo und unbeeindruckt durch seine Ansprache! Einen nachhaltigen Einfluss schien sein Ausbruch nicht gehabt zu haben. "Fakt ist, auch wenn ich deine Erwartungen nicht kenne, was schon ein wenig unbefriedigend ist: ich BIN so. So, wie du mich erlebst. Ich habe eine Vorstellung, wie es laufen soll, und dann drücke ich im übertragenen Sinn die Knöpfe. Ich merke mir, was Leute mögen, worauf sie reagieren, was sie bewerkstelligen können und was nicht. Ich sehe die Abläufe wie Schaltpläne vor mir, klar, dank einiger Übung, bin ja nicht mehr neu! Ich bin sehr gut im Lesen von Körpersprache, ich mag Ordnung, ich mag ausbalancierte Situationen, ich mag es, wenn Dinge erledigt werden. Ehrensache, selbstverständlich, dass ich da selbst zupacke, mich nicht einfach ausnehme und bloß den Feldwebel markiere." Tiberius verteilte geübt den letzten Rest Tee paritätisch auf beide Becher, "wenn ich jetzt also richtig vermutet habe UND meinen offenbar ziemlich seichten Charakter enthüllt, bleibt nur eins: deine Anleitung! Ich denke, ich bin ganz anstellig, und wenn ich weiß, worauf ich achten soll, bekomme ich das auch hin", Verkündete Tiberius mit größter Selbstverständlichkeit. Raimund starrte ihn hilflos an, "aber ich bin nicht sicher..." "Ob du mich tatsächlich magst? Zumindest mehr als Oki?", half Tiberius munter aus, "komische Sache, oder? Aber Oki würde sich keinen schlechten Scherz erlauben, das ist absolut unter seinem Niveau! Möglicherweise ist es dir selbst noch nicht so bewusst. Leider hat er nicht gesagt, ob es sich bei mir genauso verhält. Andererseits wäre das auch wieder sehr manipulativ!" Tiberius nickte Raimund zu, den Tee zu trinken, bevor der ganz abkühlte. "Gehen wir mal davon aus, dass Oki recht hat und ich so bin, wie ich bin. Also, welche special features muss ich mir zulegen? Kaum was Handwerkliches, klar, aber eher so ein soft skill, wie? PUH! Hab ich schon mal erwähnt, wie ich diesen Denglisch-Mist hasse?! Beeinflusst es dein Urteil, wenn mir schon mal bei Bewerbungssimulationen signalisiert wurde, ich sei 'ZU kompetent'?!" Raimund räusperte sich. "Das erstaunt mich nicht", bekannte er mit trockenem Humor. Wirklich, selbst Erwachsene mussten sich von Tiberius an die Wand gedrängt fühlen! Außerdem schien der auf fast perfide Art genau aufpicken zu können, wo etwas im Argen lag! Dazu, dachte Raimund, musste man schon sehr clever sein. Er war sich des prüfenden Blicks der wasserhellen Augen sehr bewusst. "Na ja, es kann schon daran liegen, dass du einfach ZU gut bist. Für andere mag das sehr nützlich sein, aber es vermittelt mir das Gefühl, dass du mich gar nicht brauchst. So als Präsenz. Vielleicht als Publikum." Tiberius warf die Stirn in Falten, "oh, hast du den Eindruck, ich sei eitel? Hmmm, das ist kein Vorteil. Tsk." Nun runzelte Raimund grimmig die Stirn, "nein, ich meine NICHT, dass du eitel bist! Hör bitte auf, wie eine Maschine zu reagieren! Du wirkst gerade so, als wolltest du dich selbst optimieren, Knöpfe durch Hebel ersetzen, was weiß ich!" DAS erboste ihn wirklich! Als ob er sich so einfach manipulieren ließe! "Ich halte mich gewiss nicht für eine Maschine! Ich habe aber zugesagt, dass ich nicht aufgebe, und wenn ich mich verbessern muss...!" "GAAARGGHHHH!", explodierte Raimund und sprang auf die Beine, "kapierst du es nicht?! Ich will nicht, dass du für mich eine Show abziehst, damit dann 'alles in Ordnung' ist! Das ist beleidigend! Ich will nicht durch 'Friede, Freude, Eierkuchen' ruhiggestellt werden! Ich erwarte, dass du mich als Person wertschätzt, nicht als Publikum, als Trainings-Dummy für Charakter-Tuning oder sonst was!" Tiberius funkelte hoch, angespannt, mühsam den gewohnten Tatendrang im Zaum haltend, "ich bin kein Freund von Auseinandersetzungen, das gebe ich zu, aber ich benutze dich ganz sicher nicht für irgendwas! Im Übrigen schätze ich jede Person. In abgestuften Graden." Raimund ballte die Fäuste, "GENAU DAS ist das Problem! Beliebige, wohlfeile Wertschätzung! Du schätzt auch gutes Essen, eine Mütze voll Schlaf und frische Luft! Das ist emotionale Dünnbrettbohrerei!" Er keuchte, zitterte merklich, in Anspruch genommen von diesem Streitgespräch, das er mit mehr Verve als jemals in seinem Leben führte, engagiert, nicht zurückhaltend, nicht verständig, sondern provozierend und persönlich werdend. Auch Tiberius erhob sich. "Ich habe genau so viele Emotionen wie jeder andere auch!", behauptete er aufgebracht, blitzte Raimund an, der, auch ohne hervorragende Kenntnisse in Körpersprache, einen Treffer registrierte. Befriedigt. "Aha! Wusste ich's doch! Ich bin wohl nicht der Erste, der dir nahelegt, mal dein Gefühlspanorama zu erweitern! Oder bist du schlichtweg zu bequem und saturiert in deinem alles ausradierenden Tatendrang?! Tolle Taktik, alle mundtot quatschen und zur Arbeit anhalten, um jede Kritik, jeden Zweifel auszublenden!" Himmel, war er das, der da nahezu selbstmörderisch streitsüchtig agitierte?! Raimund erkannte sich selbst gar nicht wieder. "Du-du bist ein Ekelpaket!", fauchte Tiberius ihn an. "Und du bist eingebildet! Bis auf deine Eltern und deinen Helden-Bruder akzeptierst du niemanden!", feuerte Raimund postwendend zurück. "Das ist nicht wahr!" "Ist es wohl! Frag deinen Bruder!" Tiberius stellte die breiten Schultern aus, reckte das Kinn, "das werde ich!" Abrupt wandte er sich ab, sammelte seine Habseligkeiten ein. Raimund schnaufte unterdessen von sich selbst verblüfft durch. SO einen Gesprächsverlauf hatte er ganz sicher nicht erwartet. "Guten Tag!", knurrte Tiberius im Abgang, marschierte stürmisch davon. "Schönen Feierabend!", brüllte Raimund hinter ihm her, der nie die Stimme erhob. Hoppla... ~~~@* "Es war also nicht allein MEIN Verschulden!", wies Raimund, durchaus beschämt beim zweiten Durchlauf der Ereignisse des Samstagmorgens, auf einen BEDEUTENDEN Aspekt hin, zur Rettung der eigenen Selbstachtung. "Und du bist laut geworden?", der Unglaube stand seiner Mutter allzu deutlich ins Gesicht geschrieben. "Ich war eben wütend. SEHR wütend! Ich hab ja wohl nie verlangt, dass er sich mir anpasst! Vor allem, aus welchem fadenscheinigen Grund! Damit 'alles in Ordnung' ist! Der Kerl ist einfach unerträglich BEQUEM!", schimpfte Raimund enragiert. "So kann man das auch sehen", kommentierte seine Mutter, die unverkennbar ein breites Grinsen zu unterdrücken versuchte. "Der bringt mich so was von auf die Palme! Ich brauche keinen persönlichen Feldwebel!", stellte Raimund aufgebracht fest, straffte die schmächtige Gestalt, "was der braucht, ist mal ordentlich einen Schuss vor den Bug!" Genau! Aber DEN Wecker sollte ihm mal sein geliebter Oki stellen! Immerhin hatte die Bagage ja wohl zugelassen, dass Tibo sich zu so einem unerträglich eingebildeten Fatzke entwickelte! ~~~@* Glücklicherweise für Raimunds aufgebürstetes Gemüt lenkten die schulischen Anforderungen von einer ständigen Exploration des Minenfeldes ab. Selbst die täglich zu absolvierende Übungshalbestunde konnte befriedigend bewältigt werden, was allerdings nicht mit der Aussicht auf das Aikido-Training einherging. Nun, man würde ganz sicher nicht als Partner zusammengestellt! Raimund funkelte Tiberius an. Der blitzte genauso grimmig zurück. Harmonie, Ausgleich, innere Gelassenheit? Zumindest nicht im Umkreis ihres aufgestellten Fells. Mangels Erfahrung flog Raimund innerhalb einer Minute gleich zwei Mal dem Mattenboden entgegen. Wäre er von aggressivem Naturell gewesen, hätte sich wohl eine wüste Keilerei entwickelt, die Schmach zu vergelten, tatsächlich aber konnte er einen hörbaren Ächzer beim Aufprall nicht unterdrücken. "Tibo! Rai! Auszeit", eine ruhige Ansage, aber unterschwellig die eindeutige Botschaft: SOFORT jeder in seine Ecke. Darüber wird noch zu reden sein! ~~~@* "Wir haben hier Regeln, damit niemand verletzt wird und damit wir ein gutes Beispiel geben." Raimund hockte neben Tiberius und brodelte still vor sich hin. Unfair! Der Kerl hatte erstens zu viel Vorsprung im Training, und zweitens einfach zu viel Kraft! Verdammte Genetik! "Offenbar habt ihr eine Meinungsverschiedenheit, die euch ablenkt, aus der Balance bringt. Bis zur nächsten Woche erwarte ich, dass ihr eine Lösung findet. Macht euch das Leben wieder leichter." Sie MUSSTEN nicken, natürlich, nicht allein aus Höflichkeit, denn in der kurzen Ansprache schwang eine beängstigend unbeugsame Ankündigung mit. »Alternativ wird das Leben besonders HIER ganz unerfreulich unbequem werden.« Man würde sich nämlich enttäuscht zeigen, dezent, selbstredend, aber eben wie bei einer charakterlichen Prüfung, die man spektakulär versemmelt hatte, quasi auf Quantenminimum schrumpfte in der Achtung. Tolerierte Existenz. Nein, keine schöne Perspektive! Ganz und gar nicht. ~~~@* Kapitel 5 - Maske runter! Raimund verzichtete darauf, diese Episode im zähen Kampf mit dem eindeutig in die Schranken zu verweisenden Tibo zu berichten. Ohnehin hegte er den unbehaglichen Verdacht, dass seine Mutter sich über diesen Zwist zu amüsieren pflegte. Nun, von außen mochte es ja drollig wirken, aber so mittendrin, als Protagonist und Beteiligter...! Wie bei ihrem letzten, so unerwartet hitzigen Treffen schlug Tiberius Ort und Uhrzeit vor. Wochenende, klar, weil sie beide im Alltag ja außerordentlich in Beschlag genommen waren, oder dies zumindest vorschoben. Raimund stimmte zu, immerhin dräute unangenehm bald die nächste Aikido-Übungseinheit und bis dahin mussten sie als halbwegs vernünftige Personen diese Farce beendet haben. Es reichte ihm schon aus, wenn Tiberius eingestand, dass er recht hatte und Oki bestätigte, das Gefühlsspektrum sei zu erweitern. Der Treffpunkt sollte am Rand eines Einkaufszentrums sein, nur wenige Gehminuten von Raimunds Heim entfernt. Er vermutete, dass Tiberius es kurz und schmerzlos halten sowie gleich noch Einkäufe absolvieren wollte, so a la "du hattest recht, auf Nimmerwiedersehen, und jetzt noch rasch zum Discounter!". Pah! Allerdings zeigte sich bald, dass er mindestens eine Fehlkalkulation eingebaut hatte, denn das samstägliche Gewusel schien sich minütlich zu verstärken, die Menge der Personen zu potenzieren. Unbehaglich blickte Raimund sich um, bereits am Geländer der zweiten Ebene des teilüberdachten "Einkaufserlebnistempels" lehnend. Er neigte eigentlich nicht zur Klaustrophobie, doch allzu viele Menschen auf allzu wenig Platz, man kannte schreckliche Beispiele, wie das ausgehen konnte! "Rai!", Tiberius arbeitete sich durch die verdichtete Masse, in grimmiger Entschlossenheit. Der Rucksack auf dem Buckel deutete an, dass er vermutlich durchaus noch Besorgungen zu erledigen trachtete. Raimund hob einen dünnen Arm, seine gegenwärtige Position im Gewühl anzuzeigen. Kraulend mit den Qualitäten einer Dampfwalze verschaffte sich Tiberius Spielraum, fischte Raimund ungefragt an einem Arm ab und pflügte entschlossen aus der kompakten Menge heraus, dabei unbeeindruckt knurrend, "Verzeihung! Dürfen wir mal! Entschuldigung! Achtung! Obacht, Ihre Füße! Verzeihung! Bitte um Nachsicht! Pardon!" Freigewühlt blickte er sich kurz nach Raimund um, der sich wie ein Wurmfortsatz fühlte, "unglaublich! Was wollen diese Leute alle hier?! Sicher irgendein Flashmob-Irrsinn! Tsk! Ist mir entgangen!" Der letzte Satz galt offenbar sich selbst. "Kontroll-Freak", knurrte Raimund leise. Tiberius schien diese Kritik überhören zu wollen. "Zum Verrücktwerden! Schon der ganze Tag!", grollte Tiberius, marschierte weiter, sich einen Pfad bahnend. Dabei hielt er weiterhin Raimunds Hand. "Boah, Schwuchteln!" Man bremste abrupt, so prompt, dass Raimund in Tiberius' recht breite Rückseite rannte. Der wandte den Kopf, "kennst du die?" Raimund, sich mit der freien Hand die Nasenspitze reibend, die einen Zusammenprall mit Tiberius' Schulterblatt hinter sich hatte, zog eine Grimasse. Keine Klassenkameraden, aber vom Ansehen her Mitschüler. "NEIDHAMMEL!", brüllte Tiberius mit verblüffendem Resonanzraum und Tragweite bis mindestens Südafrika zur kleinen Gruppe herüber. Postwendend zog er sämtliche Aufmerksamkeit erst auf sich, dann auf die Adressaten seines grimmigen Blicks. Deren Köpfe ähnelten rasch der Farbe gekochter Hummerpanzer. "Unglaublich! Heute haben sie wohl im IQ-Einzeller-Zoo die Tür offengelassen!", schnaubte Tiberius und zog Raimund unbeirrt weiter an der Hand. Der kam gar nicht dazu, einen Protest zu erheben, weil er Mühe hatte, dem dynamischen Tempo zu folgen. Zudem blockierte ihm Tiberius' breites Kreuz die Sicht auf den Kurs! "Jetzt warte mal bitte..." "Raimund!", noch ein entsetzter Ausruf. Dieses Mal bremste Raimund ohne Vorwarnung. Was tat sein Vater hier, mit der neuen Frau und den Mädchen? "Sapristi und bei Io! Ja, wir sind beide Jungs und das sind zwei Hände! Kriegen Sie sich wieder ein! Schönen Tag noch!", donnerte Tiberius über kurze Distanz, in merklicher Ungeduld, "was ist bloß mit den Leuten los?! Haben die nichts zu tun?!", zerrte er Raimund weiter, der nach seiner Sprache suchte. "...Tibo..." "Ich bremse nicht für Idioten, Vollspacken, Homophobe, verklemmte Neidhammel und... ist das ein Dinosaurier?!" Raimund erreichte zwar keinen Halt, aber eine kurzzeitige Reduzierung des Tempos. Tatsächlich schien sich eine Art übergroßer, gepunkteter, vereinfachter Dinosaurier durch die Menge zu bewegen, mutmaßlich ein bemitleidenswerter Mensch in einem gewaltigen Kostüm. "Ach du Schande! Nichts wie weg!", beschleunigte Tiberius mit vernichtendem Urteil. Raimund ließ sich ziehen, erkannte, dass sie sein Haus ansteuerten. Er fiel neben Tiberius in Schritt, endlich nicht durch Gegenverkehr auf dem Gehweg behindert. "Das war übrigens mein Vater vorhin", bemerkte er im Konversationstonfall. "Nun, er wird es verschmerzen", antwortete Tiberius mit der gewohnten Mischung aus Selbstbewusstsein und Kurzangebundenheit für lächerliche Petitessen in seinem gesetzten Kurs. So, wie sein Vater dreingesehen hatte, bezweifelte Raimund diese Einschätzung. "Und warum gehen wir zu mir?", erkundigte er sich ebenso beiläufig. "Meine Einkäufe im Rucksack. Ich muss wohl temporär um Asyl in eurem Tiefkühler nachsuchen. Ist deine Mutter da?" Raimund schüttelte den Kopf, "sie arbeitet heute den halben Tag und danach wollte sie mit Kolleginnen in die Therme und zur Massage." "Hat sie immer noch keinen neuen Bürodrehstuhl? Kein Wunder, dass ihr das Genick wehtut!", urteilte Tiberius entschieden. Woher...?! Neben ihm verdrehten sich die wasserhellen Augen demonstrativ, "ich HAB erwähnt, dass ich ziemlich gut darin bin, systemisch zu denken und mir Details zu merken, oder? Auch wenn es NICHT so aussieht, höre ich zwischen zwei Monologen mal zu." Was Raimunds Gefieder prompt aufstellte. "Na, was für ne Gnade! Du bist immer noch so unausstehlich eingebildet mit deiner zwanghaften Effizienz!", fauchte er aufgebracht. "Vollkommen richtig! Was hast du denn erwartet, dass ich mich um deinetwillen katzenfreundlich gebe?! Wo du dich selbst beklagt hast, ich würde dich bei jeder Form von Entgegenkommen manipulieren?!", hielt Tiberius entschlossen dagegen. "Das habe ich nicht gesagt! Außerdem lässt dein Ordnungsfimmel das auch gar nicht zu! Du bist ein totaler Kontroll-Freak, weißt du das?!" "Ist nicht wahr, hat mir noch nie einer gesagt! Schließ jetzt bitte auf, sonst tropft mir das Eis auf den Buckel." Raimund klapperte ärgerlich mit seinem Schlüsselbund, angespannt wie eine Feder vor Empörung, "ich kann nicht glauben, dass du dich hier aufdrängst, wenn du NICHTS kapiert hast! Und rumkommandieren lass ich mich schon gar nicht! Ich bin keiner von den denkfaulen Vögeln, die ihr Hirn bei dir outgesourct haben!" Tiberius, der sich in der Küche mühelos zurecht fand, verteilte seine Einkäufe unbeeindruckt, "bedaure, dich enttäuschen zu müssen, aber ich HABE was kapiert." Raimund, der seine Jacke an der Garderobe aufgehangen hatte und mit Verärgerung erkannte, dass er Tiberius nicht ohne militärische Verstärkung rausschmeißen konnte, fegte herum, "Gott, du bist so unerträglich...!" Weiter kam er nicht, weil Tiberius ihn an der Zimmertür stellte, diesen strategischen Vorteil nutzte und effektiv einklemmte, bevor er ihn speichelfeucht und sehr nachdrücklich küsste. ~~~@* Raimund rang nicht nur nach Luft, sondern suchte auch eilig Distanz, "...was.... was....?!" Was soll das?! Wollte er eigentlich aufgebracht schreien. Seine übersichtliche Menge an persönlicher Würde und Eitelkeit schritt jedoch eilig ein, denn die Antwort war nicht nur augenfällig, nein, er hatte sie unmissverständlich gespürt. Tiberius wirkte weder unbeeindruckt noch souverän, selbstherrlich und beherrscht, sondern erregt, in mehr als nur einer Hinsicht, kämpferisch und erschreckend entschieden. "Das mit dem Partnertraining beim Aikido wird auf absehbare Zeit nicht funktionieren", konstatierte er lakonisch, ließ Raimund nicht aus den Augen. "Das-das ist nicht komisch, klar?!" "Nun, vermutlich nur aus der Ferne. Wenn man nicht beteiligt ist. Göttliche Komödie, in der Sphäre", Tiberius streifte sich den Pullover über den Kopf. "Was soll das werden?", erkundigte sich Raimund alarmiert, verwünschte seinen noch immer rasenden Puls. "Ich ziehe mich aus, mache mich nackig, wenn du so willst. Scheint mir das übliche Vorgehen zu sein", kommentierte Tiberius, operierte mit seiner Jeans, etwas vorsichtig, denn oben beulte sich der Stoff merklich. "Übliches Vorgehen?! Du...! Kommt nicht in Frage!", protestierte Raimund hektisch. Tiberius verdrehte mal wieder ungeduldig die wasserhellen Augen. "Stellen wir uns doch nicht länger blöd, Rai. Biologie, Physik, Chemie, sogar Erdanziehungskraft", deutete er ironisch auf seinen bemerkenswerten Geigerzähler. "...aber... das ist... wir mögen uns doch nicht mal!", erhob Raimund hilflos Einspruch, konnte die Augen aber nicht von Tiberius' Mitte wenden. Mein lieber Schwan, solche Statuen gehörten nur in geschlossene Kabinette ab 18! "DAS ist eine voreilige Behauptung, die bis jetzt noch der Beweisführung bedarf", konterte Tiberius, schloss die Zimmertür hinter sich, ohne Raimund die Kehrseite zuzuwenden, "soll ich dir beim Ausziehen behilflich sein?" "...untersteh dich! Überhaupt, das geht mir zu schnell, und...!" Die Federung ächzte leicht, als Raimund mühelos durch die Luft auf seinem Bett landete,"unfair!" "Genau!", was Tiberius nicht hinderte, hautnah Kontakt zu suchen. Unverkennbar wollte er bis ins letzte Detail erkunden, warum sie einfach nicht brav und ordentlich die Balance halten konnten! ~~~@* "Ha! DAS war höchste Eisenbahn, aber hallo!" Raimund, hechelnd auf dem Rücken, schnaubte indigniert Protest. Wie KONNTE dieser unsägliche Kerl bloß so unausstehlich selbstbewusst sein?! "Gut, für's Protokoll, das sollte ich fairerweise nachholen: du hattest recht. Was ich im Nachhinein gar nicht bedaure. Es ist eine gewaltige Erleichterung, kein Zweifel, den Druck abzulassen." Wacklig stemmte sich Raimund auf die Ellenbogen, drehte den Kopf, "hörst du dir eigentlich mal zu?! Das ist echt furchtbar!" Tiberius, die Arme unter dem Nacken verschränkt, grinste, "ich gestehe dir zu, dass du die Begleitumstände noch nicht kennst, aber zu meiner minimalen Ehrenrettung hier die Details!" Bevor Raimund noch entschieden hatte, ob er sich die Ohren zuhalten wollte (und damit auf den Rücken plumpste), oder..., legte Tiberius los, "tatsächlich habe ich schon letzten Samstag, nach unserer Auseinandersetzung, mit Oki gesprochen. Seine Antwort hat mich ganz und gar nicht begeistert, kann ich dir sagen. Überhaupt, wieso eingeschränktes Gefühlsspektrum, wenn du mich so auf die Palme bringst?! Dachte ich mir. Außerdem empfinde ich mich gar nicht als eingebildet, die anderen haben bloß ein unterentwickeltes Selbstverständnis! Das kann man mir doch aber nicht zum Vorwurf machen." Raimund starrte in die wasserhellen Augen, das selbstgewisse Lächeln. Dieser Kerl war einfach UNAUSSTEHLICH! "Tja, dann kam unsere Trainingsstunde, mir ging natürlich durch den Kopf, dass Oki dir beigepflichtet hat. Hätte ich aus Fairnessgründen ja eingestehen müssen, pinselte mich aber gewaltig. Dann hat dieser Kontroll-Freak dich gleich zweimal blitzartig auf die Matte gelegt. Da war mir dann spätestens klar, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte." "Und vermutlich trage ich dafür auch die Schuld!", grollte Raimund heiser, blitzte auf den gemütlich ausgestreckten Tiberius hinunter. "Selbstverständlich, wer denn sonst?", gab der in makelloser Ernsthaftigkeit zurück. "Also, das ist ja wohl das Letzte!", tobte Raimund aufgebracht. "Nein, nicht ganz. Komische Sache nämlich, ich brüte also angefressen darüber, wie ich mich aus der Affäre ziehen kann, meinen schönen, perfekt geordneten, sauber choreographierten Alltag zurückbekomme. Muss doch irgendwo ein Ansatzpunkt sein, dich zu knacken." Jetzt langte es Raimund aber. Kannte die Einbildung dieses arroganten Spinners gar keine Grenzen?! "Da kam mir die Erleuchtung, nun, weniger so weit oben, eher tiefer. Definitiv nicht der morgendliche Gruß der Pubertät an Mutter Natur." "Wie bitte?", entgeistert und aus dem Konzept seiner immensen Empörung gerissen starrte Raimund in Tiberius' Gesicht, das einen konzentrierten, prüfenden Ausdruck trug. "Nicht nur, dass ich dich nicht knacken kann, dass du Chaos in mein Leben bringst, mich absolut aus dem Takt, nein, stehende Ovationen sind nur eine euphemistische Umschreibung, und das seit dem Morgen nach unserem Aikido-Training. Deshalb plädiere ich auf entschuldigenden Notstand! Ich bin an die äußerste Grenze meiner Leidensfähigkeit gegangen!" Raimund schnappte vor Empörung nach Luft, "soll ich das jetzt etwa als Kompliment auffassen?! Überhaupt, wenn ich ein Mädchen wäre, hättest du dich NIE so aufgeführt!" "Ganz richtig, absolut! Schon wegen der technischen Herausforderungen. Nicht, dass ich da bereits Erfahrungen hätte, aber scheint doch recht diffizil zu sein, die Dame ordentlich zu beglücken, während mir hier sehr vorteilhaft persönliche Expertise und eigenes Erleben beisprangen!", dabei grinste Tiberius verschmitzt hoch. "...gnnnAHHHRGGGHHHH!", explodierte Raimund und stieß beide Fäuste in seine Matratze, nachdem er sich aufgerappelt hatte. Tiberius lachte höchst amüsiert, "du hast doch nicht erwartet, dass ich dir Liebesgeständnisse mache, dich mit albernen Komplimenten umgarne und mich einschleime, oder? Denn erstens würde das bei dir nicht funktionieren, und zweitens käme ich mir lächerlich vor, für so eine alberne Scharade Zeit zu verschwenden." "Klar! Du schmeißt dich einfach wie ein brünftiger Ochse auf mich!", ätzte Raimund zurück, hätte gern physischen Eindruck hinterlassen. Vielleicht mit einer Kopfnuss? "Also, ich bin überzeugt, dass du bei der zweiten Runde oben warst. Kann mich sogar recht deutlich erinnern..." "Hör bloß auf damit! Diskretion ist für dich wohl ein Fremdwort?!" Tiberius feixte, "bitte um Nachsicht, Rai, aber Historiker-Haushalt! Ich hatte quasi schon im Kindergarten das Kleine Latinum. Wenn wir jetzt aber von vornehmer Zurückhaltung sprechen, ja, dann, da muss ich sagen, dass ich das recht selten in praktischer Anwendung habe." "Gott, du SCHAFFST mich! Du bist so ein elender Klugscheißer!", brodelte Raimund über, sich des mangelnden Erfolgs leider sehr bewusst. Unter ihm lächelte Tiberius, "nun, ich hoffe nicht, dass ich dich 'schaffe', Rai, denn ich bin, wie du siehst, ein ausgesprochen begeisterungsfähiger junger Mann..." Raimund kniff die Augen fest zusammen, "nein. Nein, nein, nein, nein! Meine Mutter kommst außerdem bald zurück! Kommt nicht in Frage!" "Ich dachte auch weniger an eine Frage als eine Feststellung", schnurrte Tiberius diabolisch, setzte sich auf, was Raimund postwendend in Alarmbereitschaft zurückweichen ließ. Tiberius seufzte demonstrativ auf, "nun gib doch nicht das verschreckte Hascherl, Rai. Fakt ist, wir sind körperlich SEHR kompatibel, sonst würde das hier gar nicht funktionieren. Wir sind für einander eine absolute Herausforderung. Außerdem, nicht ganz unwichtig, wir können uns schon recht gut leiden." "Pah!", fauchte Raimund aufgebracht über diese haltlosen Unterstellungen, "seit wann kannst DU mich leiden?! Du versuchst ständig, mich unterzubuttern! Oder 'zu knacken'!" Tiberius schmunzelte, "ehrlich, Rai, denkst du, mich würde jemand interessieren, den ich wie alle anderen behandeln kann?" "Gott, du bist SO ARROGANT!", ballte Raimund die Fäuste. "Nein. Ich bin einfach sehr gut in dem, was ich mir an Fähigkeiten und Kenntnissen angeeignet habe", konterte Tiberius gelassen, "ich habe das große Glück, einen liebenswerten, wunderbaren, überaus klugen Bruder zu haben. Oki kann nicht hören und nicht sprechen. Zum Ausgleich musste er seine anderen Sinne entwickeln. Ich hab von ihm mehr gelernt als von jedem anderen Menschen in meinem Leben, nämlich das, was er tun muss: antizipieren, im Vorfeld erkennen, was andere umtreibt." Die wasserhellen Augen blitzten ernst, "darin bin ich sehr gut und es fällt mir leicht. Ich habe auch keine Skrupel, meine Fähigkeiten einzusetzen. Das wirkt auf dich arrogant und manipulativ. Stimmt, ist es. Wenn ich weiß, wie ich vorgehen muss, um ein gewünschtes Resultat zu erhalten, dann tue ich das. Die meisten Leute merken es nicht mal, wenige jammern pro forma, weil ich ihnen entgegenkomme, ihre Eitelkeit gepinselt wird." Bevor Raimund reagieren konnte, hatte Tiberius seine Hände gekapert, hielt sie fest, "Oki ist, klar, die Ausnahme, mein moralischer Kompass. Jetzt tauchst du auf. Selbst wenn ich deine Knöpfe identifiziere, sie drücke: es klappt nicht. Erst hat es MICH frustriert, dann angestachelt. Jetzt bin ich einfach froh. Selbst für mich gibt es also Grenzen. Es gibt ein Limit, mich selbst immer wieder zu übertreffen." Raimund starrte Tiberius an. Die Brüder ähnelten sich, doch er bezweifelte, dass Oktavian so entschieden, konsequent und gnadenlos dachte und agierte. Es konnte einen bei diesen Offenbarungen wirklich gruseln! Tiberius zog mit einem heftigen Ruck an Raimunds Händen, katapultierte ihn nach vorn, fing ihn in seinen Armen ein, wie in Schraubzwingen, "ich mag dich, Rai, weil du mir Paroli bietest, dich nicht von mir einvernehmen lässt, selbst wenn ich deine Knöpfe ausgeknobelt habe. Beziehungen, Romantik, selbst Sex, das hat mich nie interessiert, war mir zu banal, zu langweilig. Keine Herausforderung, wenn man die richtigen Methoden beherrscht. Mit dir ist alles anders. Selbst jetzt, wo du dich kaum rühren kannst, weiß ich, dass ich dich nicht eingefangen habe." Raimund schlug das Herz bis zum Hals. "Und das stört deine überbordende Arroganz nicht?", gelang es ihm trotzdem, pikiert zu krächzen. Tiberius lachte, wirkte dabei sehr viel älter als seine nominell vierzehn Jahre, "oh doch, und wie! Glücklicherweise ist das aber nicht meine einzige Charaktereigenschaft." Wortlos fauchend kommentierte Raimund dieses unerträgliche Selbstbewusstsein. Andererseits, er studierte Tiberius so eindringlich wie der ihn, aus nächster Nähe. Andererseits musste er zugeben, dass Tiberius hinter der jovialen Hans-Dampf(walze)-in-allen-Gassen-Fassade einen messerscharfen Verstand versteckte, eine gemeingefährliche Beobachtungsgabe und eine rasante Aufnahmefähigkeit für Kenntnisse wie Fertigkeiten. All das muntere Schwadronieren, die Feldwebel-Nummer... Oktavian bezauberte, aber der wahre Illusionist hielt ihn gerade hier umklammert! "Ehrlich, du bist wirklich kein Charmebolzen!", knurrte Raimund. "Hmmm, kommt darauf an, ob ich annehme, es würde mir dienlich sein", schnurrte Tiberius süßlich, wirbelte einen Tusch mit den Wimpern. "Pah!" Unerfreulicherweise lag er damit vermutlich auch wieder richtig! "Und noch was sollst du wissen: ich bin verdammt froh, dass du nach deiner Mutter kommst und nicht so ein Testosteronbolzen bist, wie ihn sich dein Vater wünscht. Vergiss dessen dämliche Vorbehalte endlich, ja?! Ich seh dich heute ja nicht zum ersten Mal nackt, aber ich finde dich trotzdem noch mehr als scharf!" Raimund lief prompt puterrot an. Tiberius verdrehte die wasserhellen Augen, "ja, du bist ein wenig gschamig, deshalb hab ich vorher nicht erwähnt, dass ich dich während deiner Grippe hin und wieder gestrippt habe, aus rein hygienischen Gründen. Außerdem kaufst du alles bis auf deine Leibwäsche eine Nummer größer, um Volumen vorzutäuschen. Bewahre, wenn mal der Gürtel patzt, sag ich da nur! Das ist bescheuert. Wenn du willst, geh ich auch mit dir ins Museum und zeig dir klassische Pendants mit deiner Statur. Gelten ja üblicherweise als Epitom der Schönheit." Was Raimund zu einem, vergeblichen, Ausbruchsversuch antrieb, "du bist echt unerträglich! Haariger Affe! Eingebildeter, aufgeblasener Wichtigtuer!" Tiberius grinste, breit, "die Gattungszugehörigkeit kann ich nicht bestreiten, auch steht zu befürchten, dass der Pelz die Demarkationslinie unterm Pöterknick überspringt, dann habe ich mir nichts dir nichts Fellbespannung auf der Kehrseite und von oben arbeitet sich Gewöll runter vom Nacken übers Kreuz. Betrachte es einfach als Massage-Accessoire, okay? Denn Totalrasur kannst du vergessen, da bin ich raus! Hab ich dir mal erzählt, dass mein Vater eine römische Epilier-Variante ausprobieren wollte? Also.." Raimund presste sicherheitshalber beide Hände auf Tiberius' Mund, "kannst du vielleicht einfach mal die Klappe halten?!" Er konnte das Feixen unter seiner Haut spüren, schloss die Augen schicksalsergeben. "Nun, dann bring mich doch zum Schweigen", gurrte Tiberius SEHR subtil. "Aber es ist Schluss, wenn meine Mutter kommt, verstanden? Das mein ich absolut ernst, Tibo!" ~~~@* Raimund fixierte im Dunkeln die Zimmerdecke. Seiner Mutter hatte es sehr gefallen, dass sie sich offenbar wieder vertragen hatten. Klar, der grässliche Arroganz-Protz von Tibo wickelte sie ja auch um den kleinen Finger!, grollte er verstimmt. Trotzdem, wie konnte DAS passieren?! Ja, er war, leider leider LEIDER, Tiberius in körperlicher Hinsicht unterlegen, es galt auch gleiches Recht für alle, wenn der sich also wie im Rausch über ihn hermachte, konnte ER ja wohl genauso kontern! Herausforderung?! ZUMUTUNG! DAS war der Kerl! Selbst wenn die Hormone verräterisch bloß nach ihrer Triebbefriedigung lechzten! Raimund seufzte unmutig. Das wirklich SCHLIMME an Tiberius war, dass der nicht mal den Versuch unternahm, ihn zu täuschen. Der beschloss einfach, dass er ihn mochte, dazu noch Sex mit ihm wollte, und fertig! Wie ARROGANT war das denn?! "Eingebildeter Rechthaber!" Obwohl doch eigentlich ER selbst recht gehabt hatte, nur fühlte es sich nicht nach einem kolossalen Triumph über diesen Wichtigtuer an! Bedenklicher Weise schien Tiberius außerdem beängstigend schlau zu sein, kein Schaumschläger. Was jetzt? Die zeitige Rückkehr seiner Mutter hatte ihn vor einer vierten Vollkontaktrunde bewahrt, aber von welchem Status quo musste er jetzt ausgehen? "Verliebt bin ich jedenfalls nicht", konstatierte Raimund grimmig. Das verlässliche Aufwallen hormoneller Ekstase ausgenommen empfand er gegenüber Tiberius ein Potpourri unterschiedlicher Emotionen. Verärgerung, Scham, Wut, Sorge, Hilflosigkeit, Empörung, Vergeltungssucht... Hingerissenes Schmachten, auf Wolke 7-Schweben, zuckersüße Verliebtheit, den Drang, unaufgefordert in Gesang auszubrechen: Fehlanzeige! Definitiv und absolut. Gut, möglicherweise verkleisterte einem das Hollywood-Romanzen-Kitsch-Klischeebild den Blick auf die Realität, funktionierte es im wahren Leben nicht so lächerlich seifenopernhaft, aber musste es gleich so ausarten? Ein gerissener, skrupelloser, manipulativer Klugscheißer?! Der einfach entschied, ihn zu mögen, weil er ihm nicht beikam?! "Tolle Basis für irgendwas!", ätzte Raimund und fühlte sich extrem gegen das gesträubte Fell gebürstet. Andererseits, WAS sollte denn auch werden? DIE Frage sollte er sich doch mal lieber stellen, richtig? Raimund hatte noch keine konkrete Vorstellung, wie sein Leben verlaufen sollte. Wichtig schien ihm, sich auf anständige Weise seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Ja, er würde gern in die breitgefächerte Welt der Biologie eintauchen, vielleicht studieren, Wissen anwenden. Über alles weitere hatte er sich keine dezidierten Gedanken gemacht, weil: erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt! Überhaupt bot sich ihm die Zukunft als ausgesprochen volatil dar. Ha! Kontroll-Freak-Klugscheißer Tibo würde bestimmt einen Masterplan vorzeigen! Am Ende vermutlich "Weltherrschaft" als Zielpunkt! Klar, wenn man meinte, immer alles besser zu wissen, jeden manövrieren zu können, dabei auch noch Beifall einzuheimsen! Andererseits, wenn der Bursche sich nicht die Mühe machte, immer diplomatisch-diskret vorzugehen, sondern herauskehrte, wie wenig ihn die Leute tatsächlich interessierten...! Armer Oktavian! Der Einzige, der dem Großmaul Mäßigung auferlegen konnte. Raimund fragte sich, ob er nicht doch in einen perfid ausgeklügelten Plan hineingezogen worden war, nämlich Oktavians Bedürfnis, sich von der ständigen Aufsicht seines jüngeren Bruders zu befreien! ~~~@* Kapitel 6 - Was am Ende zählt "Ah, bist du wieder wach? Ihr seid ganz schön weit gelaufen, oder?" Raimund krabbelte zu seiner Mutter auf einen Stuhl in der Küche, "Marathonstrecke. Fühlte sich zumindest so an", brummte er und nippte an einer aufmunternd eingeschenkten Tasse Kakao. Gewohnt ungeniert zerraufte ihm seine Mutter lachend die Ponyfransen, "du musst wohl noch ein bisschen an deiner Kondition arbeiten, hm?" Raimund verdrehte bloß die Augen. Tatsächlich war Tiberius am Sonntagvormittag uneingeladen einfach aufgeschlagen, hatte, wegen Raimunds Einwand, ungeniert darauf hingewiesen, dass sie beide etwas zu kompensieren hätten. Wenn schon nicht in Hörweite der geliebten Frau Mama...! Bevor Raimund vor Entsetzen einen Blutsturz erleiden konnte, hatte er lieber interveniert, Tiberius den Mund verboten und nach seinen Schuhen gesucht. Wie lange konnte man denn auch spazieren gehen, um so ein bisschen hormonell bedingten Notstand...!! Offenkundig hatte Tiberius eine MENGE auszugleichen. Am Ende musste Raimund sogar darum bitten, doch den Bus für die Rückfahrt zu nehmen. Dort standen sie eng, er mit einem besitzergreifenden Arm um die Schultern. Von wegen "nicht verschmust"! "Ausnahmen bestätigen die Regel", konterte der Klugscheißer auch noch rotzfrech! Aber Raimund fühlte sich derart erledigt, die Knie wacklig, die Füße quasi qualmend, dass er auf das Zurechtstutzen auf Normalnull verzichtete. Vage trieben entsetzliche Schemen der Erinnerung durch seinen Kopf, dass Tiberius ihn sogar ins Bett gebracht hatte... Daran wollte man gar nicht denken! "Schön, dass ihr euch vertragen habt. Gehst du jetzt mit ihm?" Raimund starrte für einen Moment vollkommen fassungslos in das verschmitzte Lächeln seiner Mutter. Wie um alles in der Welt...?! Er schnaubte, "nein, das ist nämlich, so Klugscheißer Tibo, eine Chauvinistenfrage, auch unter Männern, respektive Jungs. Formal gender-korrekt geht so: wir sind zusammen und wir gehen miteinander. Totale Gleichberechtigung", er warf seiner Mutter einen SEHR bezeichnenden Blick zu, "außerdem tut er bloß so harmlos! Der schreckt vor NICHTS zurück, wenn er sich was in seinen Super-Schädel gesetzt hat! Wirklich, er bringt mich STÄNDIG auf die Palme! Angeblich mag er mich, weil ich mich NICHT von ihm einseifen lasse! Ha! DAS ist ja mal ein Grund, oder?! Und er hat an meinen Klamotten herumgenörgelt! Die sind ihm zu groß! Eitler Fatzke!" Seine Mutter leckte sich den Kakao-Schnurrbart von der Oberlippe, "ER ist eitel, weil du dir zu große Sachen kaufst, um mehr Volumen vorzutäuschen?" Raimund funkelte finster über den schmalen Tisch, aber er verzichtete auf eine sinnlose Replik. "Trotzdem magst du ihn, hm?", diese rhetorische Frage entlockte Raimund ein hilfloses Schnauben. "Schon, aber ich weiß ums Verrecken nicht WARUM!!" Seine Mutter grinste, wandte sich herum, um eine Banane abzufischen, auszuziehen und mit ihm zu teilen, "dein Vater hat übrigens angerufen. Er sei auf offener Straße von deinem herausgeputzten Zuhälter beleidigt worden." Raimund erwiderte den herausfordernden Blick seiner Mutter. Der O-Ton klang allzu deutlich nach dem, was das letzte Gespräch bereits angedeutet hatte. Er seufzte, "im Einkaufszentrum war ein fürchterliches Gedränge. Tibo hat den Kraul angeworfen und mich wie einen alten Besen hinter sich hergezogen, an der Hand. Er war ein wenig ungehalten. Was er gesagt hat, waren lediglich die Fakten und dass Vater sich 'wieder einkriegen' sollte, wobei er nicht wusste, dass, na ja. Es war jedenfalls keine Beleidigung." "Hmmm", stellte seine Mutter fest, "ich glaube auch nicht, dass Tibo dich an irgendwen jemals abtreten würde. So viel zur 'Zuhälterei'", kommentierte sie mit staubtrockenem Humor. Raimund musste, gegen seinen Willen, grinsen. "Wenigstens hat 'herausgeputzt' mir geholfen. Muss ich ihm lassen, deinem Tibo, er kleidet sich immer klassisch-elegant." "Bis auf den Rucksack mit Umzugswagen-Größe!", konterte Raimund, der sich immer noch ein wenig vergrätzt wegen der Kleiderfrage fühlte. Wer mochte sich auch schon gern vorhalten lassen, eitel zu sein? Vor allem, wenn es trotz der Mühe einfach nicht funktionierte? "Rai?" "Hm?" "Wenn er sich um deinetwillen ordentlich ins Zeug legt und nicht nachlässt, ist es in Ordnung. Er wird dich nicht vereinnahmen." Raimund grimassierte schief, "das glaube ich auch nicht. Dazu bringt er mich viel zu oft verlässlich in Rage." Das wissende Schmunzeln ignorierte Raimund aber um des eigenen Seelenfriedens Willen geflissentlich. ~~~@* "Waren wir verabredet?", hilflos und überrumpelt beäugte Raimund das Empfangskomitee jenseits des Schultors, wobei er viel zu viel neugierige Gesellschaft hatte. Tiberius, selbstverständlich Rudelführer und Hahn im Korb, strahlte gemeingefährlich selbstbewusst in den Nieselregen, in seinen rechten Arm eingehakt ein sehr schmales, zartes Mädchen, das eine Schlafmaske mit aufgestickten Augen trug, links an der Hand ein Steppke mit munteren Augen, die wieselflink die Zielobjekte wechselten, daneben zwei etwas untersetzte Mädchen, breit grinsend, flankiert von einem spindeldürren Jungen im Trainingsanzug mit ungeordneten Gesichtszügen. "Hallo Rai! Einer der Schulbusse ist liegengeblieben und ich eskortiere nun meine Kameraden nach Hause. Außerdem, kleiner Vorgeschmack auf die Hölle der zivilisierten Gesellschaft, präsentiere ich ihnen MEINEN SCHATZ!" Raimund ächzte. Wahrscheinlich würde das Guinessbuch einen neuen Rekord eintragen müssen, nämlich die schnellste Blutwanderung in den Kopf aller Zeiten! ~~~@* Tiberius' gewohnte Aufmachung ließ ihn ja schon älter, fast wie einen Studenten, wirken. Dazu noch diese Entourage! Und dann, coram publico der Schulgemeinde, DIESE ANSAGE! Wie vor den Kopf geschlagen erstarrte Raimund, schüttelte dann auf Autopilot Hände. Simonetta streifte sein Gesicht, da sie ihn nicht "ansehen" konnte, hängte sich bei IHM ein, während Olli seine Hand nahm. Die beiden anderen Mädchen nutzten die Gunst der Stunde, Tiberius einzukreisen. Glücklicherweise wurde ihm kein nennenswerter Beitrag abverlangt. Nach und nach reduzierte sich die Truppe, alle (außer ihm) höchst amüsiert und beschwingt, während Raimund sich nach und nach von seinem Schock erholte und innerlich brodelte. DIESER aufgeblasene Fatzke! Seine gewittrige Miene verfehlte selbstredend, irgendeinen bemerkenswerten Eindruck bei Tiberius zu hinterlassen. "Wieso musstest du das machen?! Und vor meiner Schule?!", fauchte Raimund schließlich, demonstrativ die Fäuste in die eigene Jacke stopfend. Sollte der Blödmann bloß WAGEN, ihm Arm und Geleit anzutragen! Tiberius lächelte, "erstens lag deine Schule ohnehin auf dem Weg, zweitens waren alle neugierig auf meinen festen Freund, drittens haben wir uns ja gleichlautend geeinigt, viertens habe ich damit die Konkurrenz aus dem Feld geschlagen", erläuterte er gewohnt selbstzufrieden. "Was denn für eine Konkurrenz?! Was faselst du denn da?!", explodierte Raimund aufgebracht. Neben ihm schnalzte Tiberius ungeduldig mit der Zunge, "Rai, mein Herzblatt, hat dir der vom Pappa eingegebene Minderwertigkeitskomplex die Sicht verkleistert? Was glaubst du wohl, wie viele Stielaugen es vorhin gegeben hat, hm?" Raimund kochte, teils beleidigt, teils beschämt, "du spinnst ja! Kein Mensch außer dir würde...!" Tiberius lachte bloß, weil er Raimund entgegen der Behauptung verunsichert hatte. "Das sagst du nur, um mich aus dem Konzept zu bringen!" Nun blieb Tiberius stehen. Man hätte bockig weiter marschieren können! Aber Raimund folgte, mit drei Schritten demonstrativer Distanz, seinem Beispiel, wollte grimmig unerbittlich mit Laserblicken diesen Aufschneider und Klugschwätzer auf Trottoir-Niveau herunterputzen! "Bist du mit der These vertraut, dass die Attraktivität gesteigert wird, wenn man sich begehrt und geliebt fühlt?" Erwartungsgemäß verfärbte sich Raimunds Gesicht rasch in Nuancen des Sonnenuntergangs. "Bei dir ist das keine These, sondern Fakt, und du warst vorher schon äußerst appetitlich", Tiberius neckte nicht, alberte nicht herum, sondern sprach sachlich, knapp, dezent ungeduldig, dass Raimund sich einfach weigerte, Tatsachen als solche anzuerkennen! Was Raimund, mal wieder, die Sprache verschlug. Gewohnt selbstherrlich kaperte Tiberius aus den Untiefen einer (nun, zugegeben, ein wenig zu groß gekauften) Jacke eine Hand, "ich weiß, dass du nicht nach Komplimenten fischst, Rai, aber es wäre doch sehr entgegenkommend, wenn du Realitäten nicht in Frage stellen würdest. Quod est demonstrandum, oder, kürzer, basta. Ich kann es auch kartografieren, wenn dich das endlich überzeugt." Raimund verzichtete auf eine Gegenrede. Das hätte auch nur bockig gewirkt, richtig? Erstaunlicherweise forcierte Tiberius auch kein Gespräch, bis sie die Haustür erreichten, "ist deine Mutter schon da?" Raimund blickte in die wasserhellen Augen. Natürlich, kein Zaudern, kein Zögern, keine Zweifel. Der Klugscheißer hatte ihn ausgewählt und damit fertig! "Willst du mit hochkommen?" "Scheißen Einhörner Regenbögen?", entgegnete Tiberius mit ausgesuchter Artigkeit. ~~~@* Raimund registrierte beiläufig, dass er sein "ausgleichendes Naturell", langjährige Auszeichnung, verlor. Andererseits konnte es damit auch nicht allzu weit her sein, wenn gesteigerte Belastungen den "Stresstest" verhagelten, oder?! Zu Selbsterhaltungszwecken wäre es besser gewesen, Tiberius SOFORT nach Hause zu schicken, auf keinen Fall über die Türschwelle gelangen zu lassen, um dem Kerl mal die Schranken aufzuzeigen, die eigene Wichtigkeit zu betonen, sich unabhängig von der höchst zweifelhaften Aufmerksamkeit dieses Klugscheißers zu machen! Jedoch. Erst der Krawall um eine schlichte Frisur, dann die unüberbrückbare Distanz zu seinem Vater, der ihm JETZT auch noch unterstellte, einen Zuhälter zu haben, die unerfreuliche Erkenntnis, dass er für den Rest seines Lebens ohne FAT-Suit ein Spargel-Tarzan bleiben würde, keine nennenswerten Muskeln, keinen Pelz. Ja, nicht mal ein Hipster-Bart war drin! JETZT, nach all diesen Zumutungen, öffentlichem Offenbaren seines grenzwertigen Geschmacks (TIBO!) sollte er sich mit dem Feigenblatt der Selbstbeherrschung schmücken? »Ich WILL nicht!«, dachte Raimund empört über die schicksalhaften Wendungen der letzten Zeit. Nicht, dass ihm alles gerade mal grundegal wurde, aber...! Jedenfalls musste er sich bei diesem vorlauten, eingebildeten, selbstsüchtigen TIBO nicht zurückhalten! Wenn DEM was nicht passte, dann konnte der ja Leine ziehen! Nahezu imaginären Dampf aus den Ohren absondernd ließ Raimund sich nicht von seiner gewohnten Zurückhaltung ausbremsen, zerrte sich eben die bemängelten Kleider vom Leib, enthüllte seine schmächtige, magere, androgyne Gestalt! Rangelte quer über die Matratze mit dem Großmaul um die bessere Position! Und dann wollte eben keiner nachgeben, loslassen, sich dreinschicken! Weshalb Raimund sich keuchend auf dem Rücken fand, schon wieder! Dabei war doch gerade mal ein Tag (Marathon!) vergangen, seit dem... und tagsüber Schule... Tiberius setzte sich mit elastischer Dynamik neben ihm auf, höchst zufrieden blickend, leckte sich jetzt sogar die Lippen! Raimund knurrte heiser. Über ihm lachte man amüsiert. "Was hast du erwartet? Dass ich dich keusch anschmachte? Mich ätherisch nach dir verzehre?", schnurrte Tiberius mit diabolischer Poesie. Den Unterarm über die Augen legend, um sich wenigstens den spöttischen Blick zu ersparen, schnaubte Raimund. "Ja, ich fühle mich ungeheuer wertgeschätzt, rein äußerlich. Herzlichen Dank auch für die Gnade deiner Aufmerksamkeit!", ätzte er gallig, ein wenig über sich selbst erschrocken, denn eigentlich galt er doch als...! Nicht zwei hastige Atemzüge später wurde er untergefasst, ansatzlos nach oben befördert. Eine Hand fixierte sein Genick, jeden Abwehrversuch unterbindend, dann küsste Tiberius ihn gierig, so ausgiebig bis stur, dass Raimund schwarze Punkte sah, als er sich endlich mit letzter Kraft (und wohl auch Tiberius' Entgegenkommen) freikämpfte. Zumindest relativ, auf etwa zehn Zentimeter Distanz. "Das alles hast du zu verantworten", ließ Tiberius ihn rau wissen, "denkst du ernsthaft, ich hätte mich für Sex begeistert, wenn es dich nicht in meinem Leben gäbe?", wisperte er an Raimunds Ohr, "eigentlich ist es nämlich ziemlich lästig, geil zu sein. Festzustellen, dass man DOCH den Umschlag des Buchs extrem explorieren möchte. Im Prinzip versaust du nachhaltig mein Selbstbild." Raimund schnaubte vor Empörung, "ach ja?! DU hast doch angefangen! Und überhaupt, was ist mit mir?! Das schert dich keinen Deut!" "Angefangen hast DU. Du magst mich zuerst", behauptete Tiberius unbeeindruckt, auch und besonders in körperlicher Hinsicht, wie Raimund nicht umhin konnte, eindeutig zu registrieren. "Das-das ist so kindisch! Ich hab nicht mal gewusst, dass ich dich mag, klar?! Dann zählt es auch nicht!", konterte er auf genau demselben Niveau, funkelte Tiberius an. Der blitzte gewittrig und grinste dann spitzbübisch-entwaffnend. Raimund blinzelte und erwog, sich über dieses wetterwendische Gebaren gleich als Nächstes heftig auszulassen. Der Kerl versuchte doch mal wieder, ihn zu manipulieren! "Rai, ich zolle dir GERADE höchsten Respekt und mache dir Komplimente. Falls du es nicht bemerkt hast", schmunzelte Tiberius selbstgewiss. "Das...?! Du bist ein verdrehter Spinner! Das sind ja wohl Vorwürfe, Schuldzuweisungen und Herumgejammer!", brauste Raimund auf. "Auf der einen Seite", pflichtete Tiberius ihm grinsend bei. Raimund schnaufte aufgebracht durch, "soll ich mich jetzt freuen, oder wie?! Dass du dich herablässt, bei mir die Maskerade zu streichen und mich stattdessen ärgerst?!" Tiberius lächelte, "ja. Ich lasse nicht nur metaphorisch bei dir die Hosen herunter. Umgekehrt erwarte ich von dir den gleichen Liebesdienst." "Ha! Von wegen! Normalerweise bin ich total ausgeglichen und zurückhaltend! Aber du provozierst mich ständig...!", unter dem amüsierten Schmunzeln brach Raimund schließlich ab, "ich-ich bin nicht so...!" Streitbar, engagiert, kämpferisch, zupackend, physisch, offensiv... Raimund stöhnte auf, weil Tiberius gewohnt zielsicher die beiden ungeduldig wartenden Ovationen an Mutter Natur in seiner Hand zusammenführte. "Ich bin verrückt nach dir, Rai. Das ist erschreckend, aber auch verdammt erfüllend", in den wasserhellen Augen tanzte fröhliche Frechheit. "Halt bloß die Klappe!", verlangte Raimund, selbst ein wenig erschrocken über die Leidenschaft, die er in Tiberius' Miene erkennen konnte. "Bring mich doch dazu!", forderte der ihn ungeniert heraus. Raimund ließ die durchsichtige Provokation mehrere Herzschläge unbeantwortet verstreichen, studierte das gelöste Gesicht, die kleidsame Farbe auf den Wangen, den glänzenden Lack auf den polierten Lippen, das Funkeln in den Augen. Kantigere Züge, dunklere, dezent verschwitzte Löckchen, nicht die anbetungswürdige Symmetrie des älteren Bruders, dessen geheimnisvolle Aura. Ein nervenaufreibender, arroganter, leider viel zu bewanderter Klugscheißer von vierzehn Jahren mit dem Anschein eines Erwachsenen! Dem es gelungen war, seine Hemmungen und Minderwertigkeitskomplexe zu überlisten, sonst... Raimund schlang die dünnen Arme um ein recht breites Kreuz. Er küsste Tiberius sanft, federleicht, immer wieder, ein wenig neckend, dessen Geduld herausfordernd, bis der grimmig grummelte, sie aushebelte, sich auf Raimund ausstreckte und energisch die nächste Runde forcierte, dabei Raimunds halb ersticktes Kichern im Ohr. ~~~@* "Du bist schon wieder hier", stellte Raimund eine Tatsache fest. Tiberius zwinkerte, "wir können auch einen SEHR ausgedehnten Spaziergang unternehmen. So wie am Sonntag", gab er konziliant zu. Raimund lupfte eine Augenbraue in seinen Fransenpony. Es regnete Bindfäden. "Hast du nicht jede Menge zu tun?", versuchte Raimund es mit einem anderen Argument, sich der Aussichtslosigkeit durchaus bewusst, wie auch der getuschelten Kommentare am Ausgang beim Schultor. Tiberius WAR schließlich nicht zu übersehen, auch ohne Entourage, und seit gestern wussten ja alle, die nicht hinter dem Mond lebten, dass sie ein Paar waren. Keine angenehme Situation, wie Raimund fand, der sich aber auch als vorgewarnt betrachten musste. Wie war das noch gleich mit der Diskretion?! Wenigstens Yann hatte ihn nicht wie ein exotisches Insekt unter dem Sezierbesteck betrachtet, sondern bloß gegrummelt, "verdammte Hacke, die Einschläge kommen näher", was Raimund selbst in Erinnerung noch ein Schmunzeln aufs Gesicht zauberte. "Erst Linus, dann Hulk, selbst das kleine Monster hat mich gewarnt, von Tussis auf Typen umzuschwenken!", sein hohler Blick ließ Horror erkennen. Raimund, ganz gegen seine Gewohnheit, hatte ihm auf die Schulter geklopft, dem Freund aus Kindertagen, "du hast doch schon deine kleine Schwester. Karma-technisch bist du damit ausreichend belastet." Gewagter Humor für Raimund, doch Yanns profunde Erleichterung belohnte ihn, "das ist wahr! Definitiv die größte Bürde! Eigentlich sollte ich noch was rausbekommen, oder?" Sie hatten beide laut herausgelacht. Das half Raimund über den Tag und die Erkenntnis, dass Tiberius vielleicht doch nicht so falsch lag. Einige Mitschüler, die ihn besonders kritisch kommentierten, wirkten nämlich so, als müsse jeder Gedanke, er könne vielleicht doch anziehend sein, annihiliert werden! Unterdessen hob Tiberius erneut einladend seinen Regenschirm, "Prioritäten, Rai. Gute Organisation, Delegation von Aufgaben und Prioritäten." "Klugscheißer", grummelte Raimund, schlüpfte jedoch unter den Schirm, "obwohl, so klug bist du gar nicht." Tiberius wandte ihm den Kopf aufmerksam zu. Raimund grinste angriffslustig. "Richtig clever wäre gewesen, hier ohne Schirm aufzutauchen, pudelnass und mich anzuflehen, dich zur Vermeidung elenden Influenzatodes mit nach Hause zu nehmen." DAS ließ er mal einen längeren Zeitraum sacken! Tatsächlich schritt Tiberius stumm neben ihm aus, nicht ganz so beschwingt wie gewohnt, "stimmt. Das wäre ein guter, aber ziemlich verzweifelter Plan gewesen. Ich hätte sogar eine Übernachtung herausschinden können, bloß geht das heute leider nicht. Ich komme auch so erst in dein Bett, dann unter deine Dusche, weil wir sonst deiner Mutter unsere ungezügelten Triebe ungeniert zumuten müssten. So wie gestern, nicht wahr?", strahlte er mit goldenem Schein sonnig-wonnig in den regnerischen Januarnachmittag. Raimund seufzte. Mal wieder ausgekontert! Und auch noch mit unwiderlegbarem Beispiel, weil sie am Vortag tatsächlich blank und bloß ins Bad geflüchtet waren, um nicht in flagranti und ohne Feigenblatt erwischt zu werden. Tiberius lachte, kaperte Raimunds Hand, "wenn du wirklich hin und wieder gern eine hollywood-kitschige Szene erleben willst, mache ich das. Kein Problem." "Klar!", fauchte Raimund eingeschnappt, "du schreckst vor gar nichts zurück! Absolut skrupellos! Würdest wahrscheinlich sogar vor mir auf die Knie fallen, um mir einen Antrag zu machen!" "In meinen besten Hosen! Passend aufgewühlt, mit Ring! Vor Publikum!", ergänzte Tiberius bestens gelaunt. Raimund seufzte und drückte dessen Hand fester, "bitte, tu das nicht, ernsthaft. Im Moment ist schon genug Drama in meinem Leben, das reicht mir." "Aha?", signalisierte Tiberius ungeniert Aufmerksamkeit, was Raimund einen weiteren, schicksalsergebenen Seufzer entlockte. "Du, Mitschüler, die mich anglotzen, mein Vater, der dich im Übrigen als meinen ungehobelten Zuhälter ansieht, mein Aussehen, außerdem noch das Ende der Welt, Klimawandel, Verödung, Überbevölkerung und die Zukunft nach dem Schulabschluss. Deswegen: ich habe fertig!" Tiberius schmunzelte, dann verkündete er aufgeräumt, "nun, die anderen müssen sich jetzt hinten anstellen. Prioritäten! Es ist deshalb ganz unstrittig MEIN Vorrecht, dich fertig zu machen." Obwohl es der heheren Absicht zuwiderlief, sich weiter beleidigt-vergrätzt-bockig zu präsentieren (aus Prinzip), lächelte Raimund vor sich hin. Kein Zweifel: gegen Tibo kam im Moment einfach nichts an! ~~~@* "Wir waren die letzten beiden Tage ausgiebig zusammen. Du kannst nicht einfach jeden Tag aufschlagen...!", setzte Raimund zu berechtigter Kritik an, immerhin gaben sie KEIN trutschig-klebrig-verkitschtes Liebespaar ab, das in der ersten Beziehungsphase wie Kleister aneinanderhing! "Nun, dein Mangel an Begeisterung ist der Höflichkeit geschuldet, was ich respektiere", antwortete Tiberius unbeeindruckt, nahm Raimunds Rechte uneingeladen in Arrest, "allerdings handelt es sich jetzt um eine Notwendigkeit und wir müssen uns sputen." Raimund verdrehte die Augen, "ach, vorher waren es keine Notwendigkeiten? Meine Güte, da hatte ich wohl den falschen Eindruck... wo laufen wir denn hin?!", denn sein Heimweg wurde nicht eingeschlagen. Tiberius, der ihn forsch beschleunigte, wandte sich halb herum, lächelnd, "nun, ich assistiere am Freitagabend beim Polytechnischen Einführungstag der monatlichen Vortragsreihen. Selbstverständlich wirst du mich begleiten und aus dem Publikum heraus bewundern, deshalb musst du angemessene Kleidung tragen." ~~~@* Raimund schmollte ungefähr fünf Minuten, schwieg verbissen und ließ sich trotzig ziehen. Erstmal wurde er NICHT gefragt! Und dann nörgelte Tibo wieder mal an seinen Kleidern herum! Außerdem... Außerdem hatte der verwünschte Kerl schon die Erlaubnis seiner Mutter eingeholt und auch, dass eine Übernachtung sich anschloss. Selbstverständlich hegte sie auch keine Einwände gegen eine passende Garderobe, weshalb er jetzt geradezu unverschämt zur "Zweiten Chance" geschleift wurde, dem "Kaufhaus" für Guterhaltenes aller Art. In der ehemaligen Wartungshalle für Straßenbahnen fanden sich Textilien, Möbel, Gebrauchsgegenstände und runderneuerte Elektrogeräte. Verbunden mit einem Beschäftigungsprogramm galt dieses kommunale Unternehmen als Erfolgsgeschichte. Raimund fand sich dort hin und wieder, aber er benötigte ja nur wenige Dinge... "Wir kaufen nicht in Übergröße", stellte Tiberius diktatorisch fest. "Ich brauche keine anderen Sachen! Hose, Hemd, darüber Pulli, das reicht doch!", protestierte Raimund pinselig. "Täte es, könntest du dich darin nicht ohne jede Mühe drehen, ohne dass man es merkt", warf Tiberius ihm einen belehrenden Blick zu. "Ich hab eben gern mehr Spiel- und Stauraum", knurrte Raimund, nervös auf die Kleiderständer äugend, die Tiberius flink durchstöberte, "vergiss es! Da pass ich nie und nimmer rein!" "Das glaubst du. Los, probier es. Beweise mir, dass du recht hast." "Fein! Bitte sehr! Hätte nicht gedacht, dass du so ein oberflächlicher Schnösel bist!", schimpfte Raimund, schnappte grimmig die ausgewählten Kleidungsstücke und verzog sich in ein luftiges Kabinett mit Vorhang. Grollend wickelte er sich aus den eigenen Sachen, stapelte sie über seinem Schulrucksack. Versuchte der eingebildete Fatzke DOCH, ihn umzumodeln! Aber wenn der so einen Schickimicki-Freund haben wollte, dann sollte der...! "Kommst du bitte raus, Rai?" "Ich will nicht." "Ich kann auch reinkommen." "Untersteh dich!" Wütend, kleinlaut und vor allem sehr verunsichert schob sich Raimund am Vorhang vorbei. In den Spiegel wollte er gleich gar nicht sehen, bloß stand ein altmodisches Exemplar genau in Blickrichtung der Kabinen. Prompt nagelte er auf dem Boden fest. "Sehr schön. Das steht dir ausgezeichnet, Rai." Slim-fit, grauenvolle Mode, fand Raimund, alles quasi auf Hautkontakt geschnitten, kräftige Farben, total unvorteilhaft, weil sich alles abzeichnete! Nur, bei ihm gab es nichts, was sich eher nachteilig in den Vordergrund quetschen oder quellen konnte. Die Hose saß ganz ohne Gürtel auf seinen Hüften, das Hemd reichte bei den Schößen nicht bis auf die Mitte der Oberschenkel und musste gefaltet werden, das leichte Sakko aus sommerlich dünnem Leinenstoff betonte seine schlanke Gestalt. Ein Blitz hätte Raimund nicht heftiger treffen können. Er sah aus wie eines der Modelle, die in den Anzeigen für modische Bekleidung warben, nun, nicht für den normal gebauten Mann über 30, klar! "Das-das kann ich nicht tragen!", stammelte er erschrocken. Auffällige Farben, die Hose kobaltblau, das Sakko in sattem Safran, das Hemd blütenweiß! Nicht schwarz, nicht marine, nicht anthrazitgrau. Tiberius packte ein Handgelenk, bevor Raimund herumfahren und hinter den Vorhang flüchten konnte. Ein Ausfallschritt half Raimund nicht weiter, im Gegenteil, in spielerischer Mühelosigkeit konterte Tiberius, wirbelte den überrumpelten Raimund tänzerisch um die eigene Achse, fing ihn vor einem fatalen Sturz ab und küsste ihm aufreizend mit Zungenduell, "Rai?" "...das..." "Bitte." "Aber...!" "He. Klugscheißer, hm?" "...du nervst." "Nur, weil du unnötig gschamig bist." "...das ist ja wohl mein Körper! Und wenn ich nicht beglotzt werden will..!" "Warum kümmert dich, was Leute beglotzen, die du nicht kennst und die nicht von Bedeutung sind?" Raimund senkte den Kopf und schnaubte hilflos. Der Zirkus um seine Frisur stand ihm allzu deutlich vor Augen. Ohne ausgiebige Stoffschichten um sich herum fühlte er sich einfach ungeschützt. Klar, wenn ein Herr Klugscheißer wie Tiberius mit DER Statur herumparadierte, dann konnte man selbstherrlich...! Der hob ihm gerade das Kinn mit einem gekrümmten Zeigefinger, "Rai, lass uns bezahlen und dann gehen, ja? Sonst pass ich gleich nicht mehr in MEINE Hose." "Gott, du bist einfach unmöglich!", eilig entwischte Raimund aus der lockeren Umarmung, stemmte die Hände in die schlanken Hüften. Tiberius lächelte. "Denk an EISPICKEL!", fauchte Raimund errötend und floh hinter den Vorhang. ~~~@* "Lass MICH reden, ja?! Und schneide hinter mir keine Grimassen!", nahm Raimund Tiberius streng ins Gebet. Dass der ihn am Donnerstag nach der Schule abpasste, stand schon zu erwarten, immerhin ging es direkt zum Aikido-Training. Aber, wie die letzten Tage unmissverständlich demonstriert hatten, konnten sie NICHT als Partner üben, wenn auch aus anderen Gründen als beim letzten Mal, bloß wollte Raimund die delikate Lage nicht der frechen Provokation seines Nicht-Partners überlassen! "Ah, Rai, Tibo. Ihr habt euch vertragen, wie ich sehe", die Kursleiterin lächelte geschäftig. "Das stimmt. Allerdings wären andere Trainingspartner", setzte Raimund tapfer an, alle anderen Sinne angespannt nach hinten tastend, ob Tiberius sich an die Anweisungen hielt. "Oh, tatsächlich? Tibo, hast du deinen Meister gefunden?", sie grinste unzensiert und sehr jugendlich. Tiberius umschlang Raimund uneingeladen. "Glücklicherweise!", trompetete der ebenso ungeniert. Raimund schnappte vor Verärgerung nach Luft. "Prima! Nun, wir werden euch schon verteilen. Ihr gebt ein süßes Pärchen ab." Raimund winselte gequält und versuchte vergeblich, Tiberius zur Strafe auf die Füße zu trampeln. ~~~@* Etwas eingeschüchtert schob sich Raimund durch den großen Saal. Er konnte Tiberius am Rande der Bühne sehen, wo dieser unter Erwachsenen stand, Notizen aufschrieb und ganz am Platz wirkte. Jeder Vortrag der geladenen Redner der Polytechnischen Gesellschaft sollte nur zwischen zehn bis zwanzig Minuten dauern. Für zwei Vorträge war Tiberius als Gebärdendolmetscher fest eingeplant, konnte aber auch bei weiteren einspringen. Obwohl er einen dreiteiligen Anzug trug, ging von ihm eine elegante Lässigkeit aus, die die Mehrzahl der anderen Männer in den Schatten stellte. Raimund umklammerte seine (zu große) Winterjacke nervös. Er hatte sie gleich abgestreift, weil der gut besuchte Saal bereits angenehme Temperaturen aufwies. Jemand tippte ihm sanft auf die Schulter. "Oki! Hallo!", erleichtert atmete Raimund aus, lächelte. Nun, Oktavian würde Tiberius nie aus dem Feld schlagen können, so viel stand fest! Der ältere Bruder zwinkerte, grüßte mit freundlichen Gesten, führte Raimund auf die reservierten Plätze neben den Eltern, die sich noch angeregt im Gang unterhielten. Es war ungewohnt, den sonst so umschwärmten Oktavian allein zu erleben, aber möglicherweise bremsten Sitzordnung und Elternnähe zu ungenierte Annäherung? Oktavian zog seine einfache Schreibtafel hervor, [es ist schön, dass du kommen konntest.] "Ich freue mich auch. Danke für die Einladung und auch die Gastfreundschaft heute Nacht", formulierte Raimund, Oktavian zugewandt. Herrje, wirklich, wie ein Bild oder eine Götterstatue! Ein ausnehmend schöner junger Mann! [Du siehst toll aus. Das steht dir wirklich gut.] Raimund errötete leicht, "danke. Ich muss mich allerdings erst daran gewöhnen." Oktavian zwinkerte, blickte dann auffordernd zur Bühne hin, wo Tiberius ihnen einen kritischen Blick zuwarf, obwohl er sich noch immer im Gespräch mit den Erwachsenen befand. Raimund grimassierte, "wie ein Wachhund, ehrlich!" Ehe er sich bremsen konnte, bleckte Raimund boshaft die Zunge. Neben ihm grinste Oktavian höchst amüsiert, [danke, dass du dich um Tibo kümmerst. Er hat dich sehr gern.] Raimund grummelte, übernahm die Tafel, denn so konnte Tiberius nicht einfach "mitlesen"! [Hauptsächlich treibt er mich die Wände hoch], dazu malte er ein grimmiges Grinsegesicht. Oktavian schmunzelte, [Tibo ist ein wenig zu klug für sein eigenes Wohl.] Raimund warf erst einen Blick auf die Tafel, dann zu Tiberius hinüber, der sich offenbar anstrengte, gleichzeitig dem Gespräch zu folgen und sie in den Fokus nahm. War er etwa eifersüchtig? Machte sich Sorgen? Ha! Triumphierend blies Raimund einen demonstrativen, spöttelnden Kuss zu Tiberius. Jetzt konnte er IHN mal in Verlegenheit bringen! Oktavian neben ihm gestikulierte, was Raimund natürlich nicht verstehen konnte. Tiberius grinste schief, richtete sich dann brav nach dem Diskussionskreis aus. Raimund malte auf die Tafel ein gewaltiges Grinsegesicht, mit Ausrufezeichen. Hin und wieder brauchte der Klugscheißer einen Dämpfer, aber hallo! Allerdings kam sich Raimund auch ein wenig kindisch vor, weil er, nun ja, durchaus bewunderte, wie Tiberius sich hier präsentierte. Dabei hatte der noch nicht mal neben der Bühne den Platz eingenommen, um Fachvorträge zu "untertiteln"! Er erbat sich erneut die Schreibtafel, denn eine Sache galt es noch aufzuklären: [War es ein Trick? Dass ich Tibo mehr mag als dich?] Oktavian lächelte, zwinkerte, küsste Raimund federleicht auf die Wange, legte schmunzelnd den Zeigefinger auf die Lippen. ~~~@* ENDE ~~~@* Vielen Dank fürs Lesen! kimera