Titel: Tsunami Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 0 Kategorie: Drama Erstellt: 01.08.2002 ...and they don't live happily ever after... ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ ~+~ Tsunami Es war einer dieser Tage, an denen der Himmel ausschließlich aus endlosen Bindfäden Regens zu bestehen schien, die Sonne nur eine fremde Erinnerung in einer monoton-grauen Welt, die nicht in Horizonte zu grenzen war. Dampfschwaden dümpelten in verdichteten Wolken niedrig durch die Straßen, passierten Passanten wie Schemen. Mein Hemd klebte wie meine Hose auf meiner Haut, die mit einem dünnen Film aus Schweiß und Kondenswasser überzogen war. Ich keuchte und unterdrückte ein Husten, die wassergeschwängerte Luft legte sich erstickend wie Blei auf meine Brust und Lungen. »Grässliches Wetter!« Trieb träge eine Verwünschung durch meinen nebelverhangenen Schädel. Wie stets in dieser dampfenden Dschungelatmosphäre fiel das Denken schwer, ebenso jede andere Willensanstrengung. Mein Tag hatte früh begonnen, Fußmarsch zur Sammelstation, Vorsortieren meiner Versandboxen, beladen der Gepäcktaschen, bevor ich das ausbalancierte Alu-Ross in Betrieb nahm. Briefkasten um Briefkasten... in einer Semi-Trance versenkte ich Schriftgut, Reklame und kleine Sendungen, eingeschlossen in meiner kleinen, privaten Welt, betäubt durch die Geräuschlosigkeit, die der Dauerregen verursachte. Stumpfer Asphalt verwandelte sich in schwarz-glänzende Spiegelseen, leises Gluckern im Rinnstein akkompagnierte mich. Ich fühlte mich müde. Nein, weniger müde... eher apathisch in einer ewig grauen Alltäglichkeit gefangen. Schmerzlich, dass ich nicht einmal Kraft oder Zielstrebigkeit aufbrachte, auszubrechen, den Kokon zu verlassen, der mich eingesponnen hatte. Doch würde ich es vollbringen, in welche Richtung sollte ich mich wenden? Ich wusste es nicht. Hatte es noch nie gewusst und mich folgerichtig treiben lassen. Strandgut, mal hier, mal da angeschwemmt, hängengeblieben, bis eine Laune des Schicksals die armselige Fracht losriss und weitertrieb. Ich bockte das Rad auf die doppelten Ständer. Schnappte mit feuchten Fingern einen Stapel Briefgut und hielt auf eine Haustür mit mehreren Parteien zu, die Briefkastenfront in aggressivem Rot gestrichen, nur winzige Klappschlitze mit tückischen Gewichten. Mechanisch stemmte ich mittels patentiertem Griff einhändig die Klappen hoch und ließ rasch die Ladung in der Versenkung verschwinden, das dumpfe Plumpsen ein Echo meiner Bemühungen, bis... ich schreckte hoch. Ein Geräusch war ausgeblieben, und ich sah auf meine Füße hinab, verwirrt, ob ich etwa derartig in meiner Trance versunken war, dass ich das Postgut neben seinen Bestimmungsort fallen gelassen hatte. Doch meine nass umkränzten Turnschuhe glänzten einsam. Ein amüsiertes Kichern hieß meinen Kopf hochzucken. Die milchglasbesetzte Haustür schwang nach innen und ein wollig-lockiger Schopf mit schwarz glänzender Pracht spitzte um die Ecke. Ein rundes Lausbubengesicht mit alert-nussbraunen Augen, von einem weichen, ungewöhnlich rötlichen Mund beherrscht. Der junge Mann, -es musste sich bei einer Körpergrüße von 1,80m um einen solchen handeln ungeachtet seines Erscheinungsbildes-, in nicht mehr als ein dünnen Baumwollmäntelchen gehüllt, grinste und präsentierte die abgefangene Briefmenge. Ich blinzelte eine Perle Kondenswassers weg, starrte begriffsstutzig, weniger aufgrund seiner Geschicklichkeit, sondern vermehrt wegen seiner unglaublichen Virilität. Wie konnte ein Mensch bei dieser Witterung derart... lebendig sein?! "Guten Morgen." Ungerichtete Zähne mit dezenter Tendenz Richtung Elfenbein. "Ich wollte dich nicht erschrecken." Ein entwaffnendes Grinsen, dann wuschelte er sich durch die eigene, ungebändigte Mähne. Mich irritierte seine direkte Anrede, hatte ich ihn doch nie zuvor gesehen und wurde im Übrigen sehr selten vertraulich angesprochen. "Kommst du immer um die Zeit?" Er lächelte ungebrochen, musterte mich eingehend, während ich im Nebel meiner Verständnislosigkeit unterzugehen drohte. "Ja... ungefähr..." Würgte ich schließlich, trocken schluckend, hervor, vollkommen ratlos, was mir wohl die Ehre einer Konversation verschafft hatte. Vielleicht wollte er nur nett sein.... vielleicht behandelten sich andere Menschen so... normale Menschen.... "Schön, dann sehen wir uns also morgen wieder." Er nickte freundlich, kehrte sich mit wehenden Mantelschößen um, enthüllte für einen Wimpernschlag neben seiner olivfarbenen Haut anmutig-schlanke Beine ohne offensichtliche Spuren von Körperbehaarung. Die Tür rastete mit einem Knacken ein, und ich erwachte. Für einen winzigen Augenblick. Schleppte mich zurück zu Fahrrad und Satteltaschen, meiner Sisyphus-Aufgabe. Wartete darauf, dass sich die schillernde Seifenblase meiner Unberührbarkeit wieder regenerierte, die Wellen, die diese unerwartete Begegnung geschlagen hatte, absorbierte. ~+~ Als ich mich, einen Tag später, dem Haus näherte, wie ein deja vu in gleicher Witterung und Gemütszustand, lehnte er bereits im Türrahmen. Das spärliche Mäntelchen klaffte offen, nur der nachlässig geschlungene Gürtel auf Hüfthöhe verhinderte die völlige Entblößung. Ich zögerte in meinem Schritt, ratlos, wie ich mich verhalten sollte. Zwar hatte ich ausreichend Zeit gehabt, um mir vor Augen zu führen, was geschehen mochte, wenn sich seine Ankündigungen bewahrheiteten, doch in meiner Lethargie hatte ich kein Ergebnis finden können... oder wollen. Er lachte leise, krümmte dann lockend einen Finger, eine spielerische Geste, die mir die Röte ins Gesicht schießen ließ. Hastig senkte ich den Blick, strebte den Briefkästen zu, legte mir Scheuklappen auf, bis ich nicht mehr umhin konnte, mich ihm zuzuwenden, denn die letzten beiden Wurfsendungen waren für ihn bestimmt. Said... der Nachname erging sich in verklausulierten Stammbaumzugehörigkeiten. Ich hielt beide Umschläge am äußersten Rand, bemerkte zum ersten Mal die kreisrunden Spuren Feuchtigkeit, die meine Fingerkuppen hinterließen, drückte sie dann eilends in die einladend ausgestreckte Hand. Doch statt der Briefe umfing er mein klammes Handgelenk, nicht fest, lediglich eine Ahnung von Hautkontakt. Ich erstarrte, bar jeder geistigen Anstrengung. "Na du, siehst so traurig aus... Lust auf Kaffee?" Wieder blitzte sein freigiebiges Lächeln auf. "Gerade frisch aufgebrüht." Ich blinzelte hilflos. Er legte seinen Kopf schief, studierte mich, tippte sich dann auf die Nasenspitze, ein gewitztes Grinsen blitzte auf. "Hör mal, bleib hier, und ich husche hoch und hole zwei Tassen, ja?" Noch bevor ich eine Regung in Gang setzen konnte, drehte er sich in tänzerischer Anmut, der dünne Mantel flog auf, dann tappten seine blanken Fußsohlen die steinernen Treppenstufen hinauf. Ich sollte gehen! Jetzt gleich! Der Impuls funkte in meinem Kopf auf, panische Flucht, einfach nur weg, von dieser Situation oder dem Zwang, eine Entscheidung treffen zu müssen. Unschlüssig wandte ich den Kopf, schielte Hilfe suchend zu meinem Rad. Ich hatte Arbeit zu erledigen... einen festen Zeitplan... genau, man erwartete mich ja... jedenfalls die Post, die ich brachte... Es gab kein Verbot, das Pausen negierte, solange man den zeitlich eng bemessenen Rahmen erfüllte, aber ich hatte bis jetzt nie davon Gebrauch gemacht.. "Hier!" Eine sich spiralförmig gen Himmel drehende Dampfwolke starken Kaffees benetzte mein Gesicht mit winzigen Tropfen. Automatisch ergriff ich die Tasse, versank in Stupor in ihren nächtlichen Tiefen. "Warte, Zucker!" Papier raschelte. "Und Milch habe ich auch..." Ich musste verlernt haben, wie es weiterging, denn weder mein Arm wollte mir keinen Hinweis geben, wie ich zu verfahren hatte, noch mein Kopf. Das Schweigen, von regnerischen Bindfäden untermalt, breitete sich beruhigend aus... wenn ich nicht sinnentleert an diesem Ort gestanden hätte. Dann schlürfte er genüsslich, laut. Und ich erinnerte mich wieder, hauchte selbstvergessen über die wellenkräuselnde Oberfläche, bemerkte dann, dass ich zitterte. "Trink ruhig, ist wirklich gut!" Seine Stimme schreckte mich auf, ungeachtet ihres samtigen Timbres, der behutsamen Aufmunterung der Worte. Artig, oder vielmehr wie stets den Weg des geringsten Widerstands wählend, kostete ich. Eigentlich war ich kein Liebhaber des gerösteten Bohnengetränks, andererseits pflegte ich ohnehin keine kulinarischen Vorlieben. Weil es mir schien, als seien meine persönlichen Geschmacksknospen nur rudimentär ausgeprägt. Ich aß, was ich bekam, klaglos, aber auch ohne Anteilnahme. "Ich bin Said, und wie heißt du?" Seine Kaffeetasse touchierte die Keramik meiner eigenen. Meinen Vornamen aus dem Gedächtnis zu graben erwies sich als gewisse Anstrengung, da mich selten jemand ansprach, dennoch fand ich ihn und brachte ihn stockend über die Lippen. "Peer". "Hi, Peer!" Mit kindlichem Überschwang packte er meine freie Hand und schüttelte sie, sodass ich gezwungen war, ihm endlich wieder in sein Lausbubengesicht zu blicken. Man musste ihn wohl für schön halten... auf eine unwirkliche Weise, so glatt und weich, in dem warmen Olivton, mit diesen lebendigen Augen und den ungewöhnlich dunkel getönten Lippen. Für mich war er ein Mysterium. Welches nun lächelnd und kaum lautstärkereduziert dem Kaffee einen neuen Aufenthaltsort bescherte. Dabei mit zuckenden Augenbrauen belauerte, dass ich nicht aus unserem stummen Duell ausschied, sondern brav meinen Becher leerte. "Danke." Murmelte ich beschämt, reichte die Tasse, um mich abzuwenden, in den sicheren Hort meiner eintönigen Arbeit zu entkommen, Flucht per Stahlross. "Bis morgen dann, Peer!" Trällerte er unbeeindruckt von meiner unziemlichen Hast und abweisenden Art fröhlich. Ein Schauder jagte meinen Rücken hinab. ~+~ Ich wollte es nicht. Diese Gedanken verfolgen, die sich zähe durch den Brei meines Gehirns fraßen, Bluthunden gleich dem Rätsel dieses fremden Mannes auf den Grund gehen wollten. Warum hatte er mich angesprochen, die Distanz zerstört, die gesichtslose Dienstleistende und unsichtbare Kunden umhüllte? So etwas war mir noch nie zuvor passiert... und ich fürchtete mich vor den Konsequenzen. Seine Annäherung, so normal sie sein mochte, -meine Erfahrungswerte in dieser Hinsicht beliefen sich auf marginale Mengen- , setzte mich in Zugzwang. Riss mich aus Passivität und Lethargie. Ich müsste vielleicht mit einem Kollegen sprechen... oder genauer beobachten... oder gar, ihn selbst fragen? Warum bist du so freundlich? Zu mir? Ich verstand es nicht. Er war hereingebrochen wie eine Naturkatastrophe... ankündigungslos, schicksalhaft und überwältigend. Fraglich, ob ich mich einbunkern wollte, bis der Sturm vorübergezogen war, oder ich in seiner gewaltigen Kraft zermahlen wurde. ~+~ Ich näherte mich seiner Haustür mit der Vorsicht eines belauerten Tiers, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Die Augen zwinkernd unter der Anstrengung, keine Bewegung an den endlosen, monsunartigen Regen zu verlieren. Mein Entschluss, oder vielmehr meine Absicht, stand fest: ich würde ihm sagen, dass es mir nicht erlaubt war, eine Kaffeepause zu machen. Und dann würde ich weniger als stumm seine Post übergeben und gehen. Ein lausiges Vorhaben, kein Zweifel, doch das einzige, was mir passend erschien. Als ich jedoch seine Gestalt erblickte, in dem gewohnten Hausmantel spärlich verpackt, registrierte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Den Wuschelkopf mit den ungebärdigen Locken gesenkt, die Arme eng um den Oberleib geschlungen, wirkte er zerbrechlich und niedergeschlagen. Unschlüssig hielt ich meine Schritte vor ihm inne, auf sicherem Abstand verbleibend, um nicht in den Radius seines Kummers zu geraten. "Peer." Seine Stimme heiser und angegriffen. Dann zuckte wie eine ferne Ahnung ein flackerndes Lächeln über sein fahles Gesicht, bevor er sich in einer einzigen flüssigen Bewegung um meinen Hals warf. Mein Herz blieb stehen, vor Schreck und Verwirrung, weil er sich an mich klammerte wie ein Ertrinkender, leise keuchend. Er suchte wohl Trost und Schutz... vermutete ich ahnungslos, bevor ich mich zu erinnern anstrengte, wie man sich verhielt in Situationen wie diesen. Ich konnte seinen Schmerz, sein Unglück spüren, intensive Wellen, deren klägliche Ausläufer ihn zittern hießen und fragte mich, warum er mich gewählt hatte. War ich nur der Erste in Reichweite? So musste es sein. Vorsichtig ließ ich meine Hände, Briefgut umklammernd, über seinen Schultern schweben, bis ich, nachdem keine Abwehr spürbar geworden war, ihn behutsam berührte. Durfte ich fragen, was ihm geschehen war, oder sollte ich nicht besser schweigen, stillen, kargen Trost bieten? Ich wartete, bewegte mich nicht, ungeachtet meiner in Krämpfen schmerzenden Hände, die Umschläge knitterten. "Ach, Peer!" Er löste sich, in müheloser Eleganz, um meine Handgelenke locker zu umfassen. Erst jetzt, da er mich ansah, erkannte ich, dass er misshandelt worden war: ein Hämatom schillerte schwellend an seiner rechten Schläfe, unter dem runden Kinn klebte ein Pflaster. Spuren von Fingernägeln hatten blutige Kratzer in die warme Haut gegraben. Ich war schockiert und doch nicht. Die Welt, die ich durch meine milchglastrübe Kugel gefiltert wahrnahm, musste grausam, erbarmungslos und gefährlich sein. Gerüchteweise konnte man nicht umhin, dies für zutreffend zu halten. Doch mit Spuren tatsächlicher, physischer Gewalt, ihrer Ausstrahlung, so ungeschützt und unvermittelt konfrontiert zu werden, übertraf meine Befürchtungen. Hatte ich zuvor schon keine Vorstellung davon gehabt, wie ich mich geben sollte, so verlor ich mich nun rettungslos in Unsicherheiten. Ich verstand einfach nicht. Die Leidenschaften, die einen Menschen bewegten, einen anderen derartig zu misshandeln, die persönliche Sphäre zu überwinden... Zugegebenermaßen lebte ich von der Vermeidungstaktik, erachtete nichts für derart bedeutend, dass es mich zu körperlichem Aktionismus und zielgerichteter Emotionalität treiben konnte. Meine Befindlichkeiten jedoch standen nicht zur Debatte, hangelte ich mich wieder Richtung Gegenwart zurück. Wagte einen feldforschenden Blick in die nussbraunen Augen. Er ersparte mir die langwierigen Abwägungen hinsichtlich einer direkten Frage, sondern berichtete leise, mit winzigem Zittern in der Stimme, was ihm widerfahren war. "Ach Peer... ich fühle mich so elend... dabei war es wirklich ein netter Tag!" Ein abgegriffenes Lächeln irrlichterte orientierungslos über sein Gesicht. "Dann mache ich noch sauber und die Kasse, will den Müll raustragen..." Mir wurde bewusst, dass ich keinerlei Vorstellung davon hatte, wie er seinen Lebensunterhalt bestritt. Dennoch wagte ich nicht, ihn zu unterbrechen, der förmlich hinter meinem Körper Schutz vor der launischen Brise suchte. Wäre ich nur ein wenig bestimmender gewesen... dann hätte ich Mut gefasst und ihn in den Hausflur geschoben, damit er sich nicht verkühlte, auch wenn die Luft dampfte. Wie leicht konnte man sich eine Atemwegserkrankung zuziehen... Fast gewaltsam riss ich mich zusammen, um seiner Erzählung zu lauschen, die in ihrer Fortdauer an Sicherheit und Trost gewann. Als genüge es ihm bereits, die überstandenen Schrecken in Worte gepresst zu wissen. "... so ein großer Kerl, er hat mich angeschrien, widerliche Dinge gesagt... obszön..." Seine Fingerspitzen verhedderten sich in der Lockenmähne, und ich erkannte an dem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck eines Wimpernschlags, dass die Kopfhaut ebenfalls lädiert worden war. Nur sorgsame Versuche, herausgerissene Haarbüschel zu kaschieren, verhinderten die Entdeckung. Mitgefühl wallte in mir auf und Unverständnis über die Ursache einer solchen Gewalttat. Seine Worte formten ein vages Bild in meinem Kopf. Er selbst an Mülltonnen mit ihren flachen, unpraktischen Deckeln, eine Hand diese lupfend, während die andere mühsam herumangelte, um die Beutel mit Schwung auf die überquellende Masse zu befördern. Gehandikapt und hilflos einer Attacke ausgesetzt, deren vernichtende Wirkung ich sehen, aber nicht einordnen konnte. Er litt unter Schmerzen, Verunsicherung und Schock. Ich begriff die Hintergründe nicht, vernachlässigte diese aber, weil mir unerwarteterweise ein Gedanke gekommen war. Eine Auflistung von Ratschlägen, die ich unlängst in der Zeitung gelesen hatte, für die Opfer von Kriminalität. Folgerichtig legte ich mir die Worte zurecht und wartete auf eine Pause in seinem Monolog, der darum kreiste, dass er selbst nicht verstand, wie ihm so etwas hatte widerfahren können. Dann räusperte ich mich, verunsichert. Seine Augen hingen an meinen Lippen, aufmerksam, ein wenig aufgehellt, als könne die Aussicht, ich möge eine Äußerung vornehmen, bereits Hilfe bringen. "Man sollte einen Freund anrufen... und den Überfall melden... sich aufschreiben, was passiert ist, an was man sich erinnert..." Ich brach ab, von mir selbst enttäuscht, denn dieses zusammenhanglose Gestammel würde ihn nur beleidigen und verwirren. Zudem hatte ich unergründlicherweise von mir selbst erhofft, ein einziges Mal elaboriert eine Einschätzung von mir geben zu können... vergeblich. Zu meiner Verwunderung schlich sich ein mildes Lächeln über seine dunkel getönten Lippen. "Du hast ganz Recht, das sollte ich tun... danke!" Beschämt deutete ich ein Nicken an, fixierte meine Turnschuhspitzen. "Oh, ich habe den Kaffee vergessen!" Sein Ausruf ließ mich zusammenfahren, hastig winkte ich ab. "Vielen Dank, aber ich muss weiter..." Selbst Laien in Soap-Operas verfügten über eine gelungenere Sprachmelodie als mein abgehacktes Stottern. "Schade... aber dann am Montag?" Plötzlich lag seine flache Hand auf meiner Wange. Ich erinnerte mich losgelöst, diese Geste in Dokumentarfilmen beobachtet zu haben bei diversen Völkern Nordafrikas. Eine freundliche Geste, nicht misszuverstehen, doch meine Fassungslosigkeit konnte ich kaum verbergen. Ich wich zurück, murmelte Unverständliches und wandte mich ab, in die tröstende Nähe meines Stahlrosses, das massiv und missbilligend meiner harrte. Obgleich seine Handfläche nur Wimpernschläge auf meiner Haut gelegen hatte, brannte diese wie Feuer. Als ich gegen Abend zufällig mein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe musterte, hatten meine Nägel ein bizarres Streifenmuster eingegraben, um auszumerzen, was meine Gedanken beschäftigte. ~+~ Das Wochenende brach eine Bresche in die mächtige Regenwand. Die aufgeweichte Erde wurde nunmehr von brütender Sonnenhitze gleißend gedünstet, eine Vorbereitung für die nächste Gewitterfront. Ich verbrachte die Zeit wie stets mit mir allein, nach den obligatorischen Haushaltsaktivitäten an ein Fenster gelehnt, in der Stille zeitlos und reglos außerhalb des brummenden Geschehens verweilend. Die tröstliche Glätte des doppelten Lärmschutzglases linderte den pochenden Schmerz in meiner aufgerissenen Wange. ~+~ Natürlich wartete er auf mich, sein Lausbubengesicht trotz der Spuren von Gewalt wieder leuchtend, freudestrahlend, als verheiße meine Erscheinung aus der schweren Nebelsuppe ein besonderes Ereignis. Und ich? Ich hatte nicht eine einzige Briefsendung für ihn, die mir zur Ablenkung gereichen konnte, um ihn auf die alltägliche Distanz im Dienstleistungsgewerbe zurückweisen zu können. "Guten Morgen!" Schon hielt ich einen dampfenden Becher in der Hand, dessen schlanke Wolkenspirale sich kondensierend in Perlen auf meine Stirn legte. "Mir geht es schon wieder besser." Er sprudelte schnell, fröhlich heraus, begleitet von lebhaften Gesten. "Ich habe deinen Ratschlag befolgt und sogar Anzeige erstattet!" Eine Hand in die schlanke Hüfte gestemmt funkelte er mich herausfordernd an, sodass ich nicht umhin komme, das erwartete Lob zu bekunden. "Gut." Spärlich, knauserig, banal... es war mir bewusst, dass ich seinen Redefluss durch meine rationierte Antwort austrocknete, doch schien er sich nicht daran zu stören. "Ach du Schreck!" Und diesen verspürte ich auch. "Was ist mit deiner Backe passiert?" Seine Finger touchierten kaum merklich meine Haut, als ich schon entsetzt zurückfuhr, eine gewaltige Schrittlänge. Augenblicklich zogen Trauerwolken in die nussbraunen Augen, entschuldigte er sich wortreich, in der irrigen Annahme, mich verletzt zu haben. Ich spürte den Schmerz längst nicht mehr, vielmehr plagte mich der Zwang, eine nachvollziehbare Erklärung finden zu müssen, die den Spuren in meinem Gesicht Rechnung trug. Unmöglich preiszugeben, dass seine Berührung getilgt werden sollte, eine Strafe für meine Unachtsamkeit, die ihn verleitete, mir nahe zu treten. "Ich habe Wundsalbe, die hole ich dir!" Schon flatterten seine Rockschöße auf, enteilte er, bevor ich ihn aufhalten konnte, seine fürsorgliche Geste brüsk zurückweisen. Welche Bedeutung hatten schon einige Kratzer?! Niemand hatte sie vor ihm bemerkt, und ich war einer Menge Menschen begegnet, zumindest erinnerte ich mich an ihre schemenhafte Passage durch meine Wahrnehmung. Wenn es für mich keinerlei Wert hatte, für niemanden von Belang schien, warum maß er den Spuren Bedeutung bei? Ich verstand ihn nicht. Dafür aber ereilte mich für einen kurzen Augenblick eine ungeahnte Welle von Energie, als mir schreckensvisionenhaft aufging, er möge vielleicht insistieren, mich zu verarzten... erneut berühren. Nein, dem musste nun ein Riegel vorgeschoben werden. Und so stellte ich die unberührte Tasse lautlos auf eine Treppenstufe und floh in den Nebel hinaus. ~+~ Für einige Stunden folgte ich meinem somnambulen Trott, mit einer nicht zu verhehlenden Erleichterung und Freude. Niemand forderte mich, niemand verlangte mir Menschlichkeit ab. Dann aber dräute sich in meinem Bewusstsein die Gewitterwolke des nahenden Unheils drohend zusammen. Meine Route würde mich morgen wieder zu ihm führen, und wenn ich mich nicht sehr irrte, war er nicht der Typ, der ungeachtet der Summe meiner Unfreundlichkeiten aufgab. Ich hatte keine plausible Erklärung für meine Flucht, ebenso wenig für die Kratzer... mit jeder Begegnung zwang er mich zu weiteren Ausflüchten und Gedankenarithmetik. ~+~ Mit der Regelmäßigkeit einer ewigen Uhr folgte ich meinem Arbeitsauftrag, auch wenn ich von Unbehagen und vager Furcht erfüllt seinem Haus näher kam. Die Route zu wechseln stand nicht zur Debatte, und ich konnte nicht ohne eine Arbeitsaufgabe existieren, wie ein geduldiges Lastvieh, ohne Leidenschaften oder erweiterten Horizont. Ein Ding, das man benutzte, nichts weiter. Er lehnte in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, dieses Mal in leuchtendes Rot gekleidet, was dem Olivton seiner Haut schmeichelte. Seinem Blick ausweichend deponierte ich routiniert Briefsendungen, Klappern und Plumps, der immer gleiche Rhythmus, doch die Wellen seiner Erwartung durchdrangen mich fordernd. "Guten Morgen, Peer." Seine Stimme blieb ruhig, bar jeder Anspannung, erwachsen, ohne ihre übliche Fröhlichkeit. Ich murmelte einen Gruß, dann wagte ich einen eiligen Blick in seine Augen, Gebot der Höflichkeit und auch meiner wachsenden Furcht. "Kannst du mir wohl mal helfen, nur einen Augenblick?" Er glitt von der Haustür weg, in den Schatten der Briefkästen im Hausflur. Zögerlich bremste ich ihren schmetternden Schwung, setzte einen Fuß weiter in die kühle Dunkelheit. Als er herumfuhr, die halben Ärmel wie Flügel flatternd, eine kreisrunde Bewegung aus der Hüfte heraus, deren Gipfelpunkt auf meinem Mund endete. Etwas Nachgiebiges bedeckte mich, mein Taumeln. Nach Halt suchend in meinem Schrecken, warf mich gegen die blecherne Front der Briefkästen. Dann, ein angstvolles Blinzeln später, hüllte mich seine Körperwärme wie ein Flammenmeer ein, als er sich an mich schmiegte, die Lippen auf das süßlich-sahnige Gemenge pressend, das meinen Mund verklebte. Ich schluckte, die Fingernägel in eine Rille zwischen Tür und Blechwand gebohrt, schmeckte die cremige Füllung von Torten. Lauschte fassungslos den wohligen Geräuschen, die sich aus seiner Kehle lösten, während er sich zu mir durcharbeitete. Seine wilden Locken streiften meine Haut, nach Shampoo duftend, dann tippte seine Zungenspitze meinen hastig verschlossenen Mund an. Bebend vor Hilflosigkeit und gelähmt erstarrte ich einfach, ließ ihn gewähren, als er in katzenhafter Manier die letzten Spuren des Konditorenerzeugnisses aus meinem Gesicht entfernte. Um sich dann, langsam und gelassen, von mir zu lösen. Seine nussbraunen Augen blickten ernst, mit einem Hauch Melancholie. "Weißt du, Peer, ich bin nicht dumm. Ich habe begriffen, dass du dich fürchtest. Ich wollte dich einladen, näher kennenlernen... aber nun..." Er drehte eine Locke aus der Stirn. "Nun bin ich überzeugt, du würdest es mir abschlagen. Darum werde ich dich nicht weiter bedrängen." ~+~ Er trat noch einen weiteren Schritt zurück, vergrößerte den Freiraum, den man wilden Tieren gestattet, wenn man ihnen die Flucht ermöglichen möchte. Ich zögerte nicht. Verschwand ohne Abschiedsgruß. ~+~ Es dampft noch immer, doch der Herbst wagt schon mit eisiger Brise Vorstöße in die Nebelküche. Ich bin auf meine Tour, wie stets, ein unsichtbares Wesen, das spurlos durch die Realität gleitet, die von ihr abperlt ohne Absorption. Sein Haus ist eines von vielen. Nein. Das ist nicht wahr. Als ich ihn das erste Mal erblickte, dachte ich an eine Naturkatastrophe, die über mich hereingebrochen war. Nun kann ich mich überzeugt geben. Er ist ein Tsunami gewesen, eine Springflut. Die mich überraschte, begleitet von titanenhaften Wogen, die alles niederrennen und überspülen. Ihrer gewaltigen Kraft kann nichts entgegengesetzt werden. Aber ich bin noch da. Und begreife, warum nicht allein die Flut eine tödliche Gefahr darstellt, sondern auch ihr soghafter Rückzug in die Untiefen eines Ozeans der Emotionen. Er hat mich beraubt. Mit seiner Freundlichkeit, seiner Nähe, seinem gesamten Wesen hat er meine sichere Festung durchdrungen und mir eine Ahnung davon verschafft, wie das Leben tatsächlich ausgefüllt werden kann. Mit welcher Leidenschaft und Tiefe, Engagement und Risikobereitschaft. Und dieses Gefühl frisst sich krebsartig durch meinen Kokon, saugt mich langsam auf. Ein seltsamer Phantomschmerz über Gefühle, die ich nicht kannte, nicht verspürt hatte, allein aufgrund dieses Hauchs von Möglichkeiten. Ich kann mich nicht einmal überwinden, die Häuserfront hinaufzublicken und nach seinem Fenster Ausschau zu halten. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum er mich erwählt hatte, seiner Aufmerksamkeit wert zu sein. Eine Erklärung werde ich nicht bekommen, ich frage nicht, ich begegne ihm nicht mehr. Warum warst du so freundlich? Was hast du gesehen, was mir entgeht? Ich weiß es nicht. Aber ich wünsche mir, dass am Morgen ein freundlicher, aufmerksamer Mensch, der seine Gefühle erwidert, die Tasse Kaffee aus seiner Hand entgegen nimmt und ihm Gesellschaft leistet. ~+~ ENDE ~+~ Vielen Dank fürs Lesen. kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Gelegentlich überfällt einen eine gewisse Stimmung und das passende Wetter, und dann findet sich so etwas. Die Reaktionen reichten von Verstörung bis Kloß-im-Hals-Trauer, was mir sehr viel bedeutet hat, da ich diese erzielen wollte. Oft ist es die Freundlichkeit von Fremden, die unseren Alltag erhellt und erträglich macht. Diesen sei hier gedankt ^_^