Titel: Unsichtbar Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Drama Erstellt: 26.02.2001 Disclaimer: Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und absolut zufällig. +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ +#+ Unsichtbar Der Junge bewegte sich geschickt durch die Menschenmenge, huschte wie ein Schatten in den blinden Fleck der Passanten. Er maß gerade 1,50m, unkenntlich gemacht durch eine tief in die Stirn gezogene Baseballmütze und einen Mundschutz, der nur die Augen frei ließ. Auf seinem knochigen Rücken balancierte er eine Kiepe, die die Aufschrift eines Kurierdienstes trug, derselbe Slogan, der auch auf der Baseballmütze prangte. Die Regenjacke, überdimensioniert, starrte vor Werbeschildern. Der Junge hielt den Kopf stetig gesenkt, flink eilte er auf die gläsernen Pforten eines Bürogebäudes zu. Die Drehtür spuckte ihn auf der anderen Seite aus, routiniert wandte er sich an den Informationstisch, wagte keinen Blick auf die gleich gewandeten, ewig lächelnden Schönheiten dahinter. Er klappte eilig die Schutzklappe der Kiepe auf, entnahm einen Umschlag. Der Junge verbeugte sich tief, reichte den Umschlag über die geschmackvolle Theke. Seine weißen Handschuhe hinterließen keinerlei Spuren auf der groben Verpackungsstruktur. Er verbeugte sich erneut, schulterte die Kiepe und verließ das Haus. +#+ Der Junge lief, folgte der grauen Pflasterung auf dem Boden. Er kannte jeden Riss in den Platten, jede Verfärbung. Sie waren ihm vertraut wie eine Landkarte in seinem Inneren. Raue Steine, mit Füßen getreten, unbeachtet, farblos. Er fühlte sich mit dem Pflaster verbunden. Er überquerte eine Straße, Asphalt, dunkel, gleichförmig, grobkörnig. Wie ein erstarrter Lavafluss. Und wieder Steine. Seine Schuhe. Nur tragbar mit zwei Paar Socken, die man mit einer Hanfkordel um die Füße gebunden hatte. Vertraute Fußmatte, sanftes Schnauben einer elektrischen Schiebetür, die unbestechlichen Augen der Maschine registrierten seine Anwesenheit. Der Junge hob den Blick leicht an, flüchtig, scheu. Die Frau hinter dem Schalter stapelte weiteres Kuriergut hoch auf dem Laminat. Der Junge verbeugte sich kurz, sammelte die Päckchen und Umschläge in die Kiepe ein. Sie sprachen nicht miteinander. Das taten sie seit langem nicht mehr. Es gab keine Worte, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Der Junge verließ das Haus wieder, folgte dem vertrauten Muster auf dem Pflaster. Er wusste nicht, welche Gebäude hier standen, obgleich er täglich dieses Haus mehrfach betrat. Die Passanten registrierten seine Existenz nicht. Er hätte auch unsichtbar sein können. Der Junge spürte ein leises Zittern, huschte in eine Nische. Seine Finger glitten aus den weißen Handschuhen in den Jackentaschen. Eilig grub er die Finger in die Plastiktüte, die er in der rechten Jackentasche trug. Die knotigen, versehrten Finger tauchten ungeschickt in die klebrig-ölige Masse aus Sesamöl und Reis. Der Junge zog sich noch tiefer in die Nische zurück. Die linke Hand schob verstohlen den Mundschutz herunter, dann klatschte er unbeholfen einen Reisklumpen in den Mund. Noch bevor er den Geschmack auf der Zunge aufnehmen konnte, wurde die Maske wieder gerichtet. Und schon fädelte er wieder in den Menschenstrom ein. +#+ Der Aufzug war alt, nur blindes Blech und die Bedienungstafel. Der Junge schlüpfte in eine Ecke, betrachtete wie üblich seine Fußspitzen. Jemand warf einen Schatten. "Guten Abend!" Der Junge erstarrte. Man hatte ihn bemerkt? Kälte rieselte durch seine knochigen Glieder. Eine fremde Stimme mit einem unbeholfenem Akzent. Aber warm, freundlich. Der Junge riskierte unbehaglich einen hastigen Blick auf den Sprecher, während der Aufzug ruckelnd in die Höhe schoss. Ein junger Mann stand an der Tür. Der Junge bannte seine Augen wieder auf den Kabinenboden. Sein Herz schlug rasend schnell. »Wie schön. So schön.« Der Junge suchte nach dem passenden Begriff. »E...exotisch.« Der Aufzug kam zu einem Stillstand. "Auf Wiedersehen!" Der Junge beugte den Kopf tiefer, kauerte sich zusammen. Ließ sich bis unter das Dach tragen. Er betrat das winzige Zimmer, schlüpfte aus den Schuhen. Das Zimmer war dunkel und ungeheizt. Er setzte sich auf den nackten Boden, wickelte sich in eine grobe Decke. Vergaß, noch ein wenig Reis zu essen. Er hob einen Bilderrahmen hoch. Strahlende Gesichter, jedes sorgfältig mit einem Namen versehen. Der Junge lehnte den Kopf an den Beton und versuchte, sich zu erinnern. Zu den Gesichtern gehörten Namen... Stimmen? Aber er hatte sie längst vergessen. +#+ Der Junge schlug die Tempelglocke. Eine sinnentleerte Geste des Gedenkens. Er wusste nicht mehr, warum er gedachte. +#+ "Guten Abend!" Der Junge blickte nicht auf, nickte stumm. Und spürte vage Wehmut. So vieles vergessen. Gesichter. Worte. Stimmen. Nur noch eine dunkle Ahnung von einer Vergangenheit, die so unwirklich war, dass sie ein Traum sein musste. Seine Augen kletterten verschämt an fremden Hosenbeinen hoch, überwanden eine gefütterte Winterjacke. Darüber lockten sich Haare, luftige Kringel. Hingerissen saugte er deren Farbe in sich auf. Kastanienbraun, schimmernd. Ein sanftes Gesicht, fremd. Darin Augen mit einer ungewohnten Farbe. Blau. Ein Blau wie der Himmel im Sommer, ohne die kleinste Trübung. Hastig senkte der Junge wieder den Blick, während eine seltsame Wärme seinen abgemagerten Körper durchströmte. Der Aufzug hielt, der Fremde verabschiedete sich. Die Türen griffen knackend ineinander. "Gaijin!" Verächtliche Worte. Bleischwer in der Atmosphäre. Schweigen unter den Anwesenden. Der Junge zuckte zusammen, presste sich enger in seine Ecke. Er empfand dumpfen Schmerz. +#+ Er wartete ungeduldig. »Da!« Vertraute Schritte, vertraute Schuhe. "Guten Abend!" Plötzlich ein Ratschen. Pakete, die auf den Boden fielen. Der Junge bückte sich geschwind, seine Augen huschten eilig über den Boden. "Oh, vielen Dank!" Eine warme Hand brannte sich durch den Stoff seiner Handschuhe. "Diese Papiertüten reißen doch immer im falschen Moment!" Die Stimme schwang in einer fremden Melodie, reizvoll und sanft zugleich. Der Junge verbeugte sich hastig, zog sich wieder zurück. Er spürte die leise Enttäuschung des wunderschönen Mannes, dass ihm nicht einmal ein Wort gegönnt wurde. "Auf Wiedersehen!" Leiser dieses Mal. +#+ Der Junge huschte über den Gang. An der letzten Tür hielt er an. Auf dem Türschild fremde Zeichen. Er grub in seinem Kopf in fernen Erinnerungen. »To-ma-su.« Von Freude erfüllt formten seine zerfetzten Lippen stumm die Silben. Sein Herz sang mit einer vergessenen Stimme diesen Namen. Da nahten Schritte. Entsetzen. Heillose Panik. »Ein Versteck!« Der Junge kauerte sich zwischen Pappkartons. "Sie verachten mich. Reden nicht mit mir." Die warme Stimme voller Trauer. Eine andere Stimme, heller, akzentfrei, liebevoll. "Thomas, mach dich nicht fertig, bitte. Ich bin doch hier. Wir finden einen Weg!" Die Tür wurde geschlossen. Der Junge entfloh über den Gang. +#+ Der Junge schob die Scheine über die Theke. Er hob den Kopf nicht an, als ihm die Schachtel gereicht wurde. Bettete sie in seine Arme wie einen kostbaren Schatz. Er überhörte die Worte des Verkäufers, der sich wunderte, was so ein abgerissener Junge mit einer Schachtel Schokoladenkekse aus der Schweiz wohl anstellen mochte. Der Junge rannte nach Hause, hängte ehrfurchtsvoll die Plastiktüte mit der Schachtel an die Tür. Dann kauerte er sich hinter die Pappkartons, die niemand wegschaffen wollte. »To-ma-su. Schöner, exotischer To-ma-su. Bitte sei nicht mehr traurig. Nicht mehr einsam.« Schritte. Der Junge krallte die Finger in den abgetragenen Stoff seiner Hose. "Nanu?!" Verstohlen glitten seine Augen über das geliebte Gesicht. »Ich« »Ich möchte dich berühren.« "Das ist ja unglaublich! Schoko-Kekse!" »So sehr.« »Wünsche mir« »Zu berühren.« »Zu fühlen.« »Zu kosten.« Der Junge wartete, bis sich die Wohnungstür geschlossen hatte. Er zog die Finger aus den Handschuhen. Knotig, vernarbt, grobe Klauen. Nicht mehr in der Lage, eine sanfte Berührung zu verspüren. Oder zärtlich zu sein. Er hob eine Hand unter die Maske, streifte den Kiefer. Verdrahtet, die Haut zusammengenäht wie ein Flickenteppich. Viel zu wenige Zähne. Konnte nicht mehr küssen. Nicht mehr schmecken. Der Junge stieß einen leisen Ton der Qual aus, stürzte aus seinem Versteck und rannte den Flur entlang. +#+ Er sah aus dem Fenster in die Nacht. Es war kalt, aber sein Geld reichte nicht für einen Wärmeofen oder den Strom. Also wickelte er sich in die Decke und blickte in das Lichtermeer. Bilder wirbelten aus den Tiefen seiner sich auflösenden Persönlichkeit. Erschütterung. Erdstöße. Er zwinkerte sie fort. Fünf Jahre. Fetzen eines anderen Lebens. Familie. Ein Gesicht, unversehrt. Der Junge schlug eine verkrümmte Hand auf seinen Mund, einen Schrei zu dämpfen, der nicht kam. Er hatte vergessen. Dass es schmerzen sollte. Der Junge lächelte leicht, dann schloss er die Augen. Es war nicht mehr viel übrig. +#+ "Stell dir vor, gestern war es eine Packung Spaghetti!" "Du hast wohl einen heimlichen Verehrer. Ich sollte eifersüchtig sein." "Nein. Nein, dazu gibt es keinen Grund." Der Junge in seinem Versteck verzog die zerfetzten Lippen zu einem grausigen Lächeln. Eine solche Wärme wünschte er sich auch. Diese liebevollen Stimmen, die den scherzhaften Worten Weichheit verliehen. "Thomas, ich habe eine Wohnung für uns gefunden." "Wirklich?!" Der Junge hörte Stoff aneinander reiben, glückliche Laute, vertraulich geraunt. »Er« »Er wird fortgehen.« Trauer. »Aber« »Er ist glücklich.« »Dann« »Will ich auch glücklich sein.« +#+ Der Junge hob den Kopf. Er sah starr geradeaus. Seine dürren Arme umfassten eine Flut gelber Narzissen. Wie eine Sonne in dieser grauen Winterwelt. Er spürte die befremdeten, neugierigen Blicke. Seine übergroßen, schwarzen Augen in dem früh vergreisten Gesicht glühten. Er setzte die Blumen vor der Tür ab. »Nimm die Sonne mit dir.« »To-ma-su.« Er zog eine kleine, leicht gefleckte Narzisse aus dem Strauß. Dann stieg er langsam die Stufen der Nottreppe hoch bis in die Dunkelheit und Kälte seines Zimmers. Er öffnete das Fenster und blickte auf das Pflaster vor dem Haus. »To-ma-su« Trug die Blumen. Seine freudige Stimme verlor sich im Geräuschwald der Großstadt Kobe. Er stieg in den wartenden Kleinbus. Fuhr fort. Der Junge glitt von der schmalen Fensterbank und hockte sich auf den Boden. Die Nacht verfinsterte das Firmament. Der Junge barg die Narzisse in seinen verkrümmten Händen. Der Himmel trübte sich, dann tanzten Schneeflocken auf die Erde. Zuerst vereinzelt, dann geballt in dicken Wolken. Die Junge hob den Kopf und lächelte verzückt, als die Flocken wie Daunen in sein Zimmer schwebten. Er folgte ihnen mit den Augen, bis ihn eine bleischwere Müdigkeit überwältigte. Vergaß sich selbst in traumlosen, ewigen Schlaf. +#+ Die Schneedecke legte sich wie ein Leichentuch über die Stadt. Frost überzuckerte eine welke Narzisse, die alle Blätter verloren hatte. +#+ ENDE +#+ kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Entstammt einer Reaktion auf diverse Einsendungen der damaligen Yaoiger-Mailingliste. Keine leichte Kost, sondern eine Mahnung an alle, die leichtfertig ihr Leben wegzuwerfen drohten. Erwartungen sind trügerisch.