Titel: Unsu-Wolkenschieber Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Romantik Ereignis: Weißer Tag 2019 (14.03.2019) Erstellt: 13.03.2019 Disclaimer: alles Meins, soweit nicht abweichend zitiert. Hinweis: Kato und Aoki treffen in "Jungfern-Meister" das erste Mal aufeinander Erklärungen: - "Unsu", auch mit "Wolkenhand" oder "Wolkenschieben" übersetzt, ist eine Technik aus dem Kampfsport Karate bei einer Kata, einer stilisierten Übung gegen imaginäre Gegner. - "Wolkenschieber" ist auch ein umgangssprachlicher Begriff für Phantasten oder verträumte Personen oder Utopisten... - MRT = Magnetresonanztomograf - Aoki hat eine Vorliebe für die Werke von Jane Austen, die Kato so gar nicht teilt... Japanische Begriffe - Dojo = Übungshalle/Gelände für Sportarten - Furoshiki = große Stofftücher, zum Einschlagen und dem Transport von Gegenständen genutzt, wörtlich "Bad-Tuch", weil man seine Badeutensilien darin einschlug - Oosaka ist die Metropolregion "Osaka", transkribiert mit dem Doppel-O ^_~ - Kimono und Yukata sind Kleidungsstücke - Origami = Papier-Falten ~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#*~~~~>#* Unsu-Wolkenschieber Kapitel 1 "Er wird garantiert etwas Anstrengendes vorschlagen." Vertraute Aoki matt seinem besten Freund an. Der schwieg mitfühlend, formell gekleidet, adrett, dezent abgeknuddelt und grundsätzlich auf seiner Seite. Als Stoffpinguin keine große Herausforderung. Aoki seufzte, massierte sich unter den langen schwarzen Strähnen die Schläfen. Selbstredend kam Kneifen auch nicht in Frage. Vor allem wegen ihrem ersten offiziellen Date.... Er stöhnte leise. Ja, er HATTE zugestimmt, sich mit Kato zu verabreden, GAAAAAANZ langsam auf eine Beziehung zuzusteuern, nachdem er über zwei Jahre dessen Präsenz hartnäckig und weiträumig vermieden hatte. Verständlicherweise, dieser Kato sah ja wie ein Gorilla/Delinquent/Herumschubser/Kraftprotz aus! Wenn er sprach, hörte man unmissverständlich den Oosaka-Akzent! Obwohl... Aoki hegte den unausgesprochenen Verdacht, dass Kato sich durchaus nach zwei Jahren wie ein Tokioter ausdrücken konnte. Es aber nach Belieben NICHT tat! Hundsgemein! Wie der ganze Kerl! Leider auch gerissen, ziemlich schlau und beängstigend hartnäckig. Eigentlich war Aoki in recht unangenehmer Lage gar nichts anderes übrig geblieben, als einem Rendezvous zuzustimmen. Erst mal bloß einem Essen. Picknick. "Pah!" Schnaubte Aoki in bloßer Erinnerung hilflos. Kato, dieser entsetzliche Gorilla mit dem Handbreit hohen Irokesenkamm auf dem Schädel, rückte mit einem ganzen TURM gestapelter Boxen an! Nicht nur das! Aoki warf einen Blick zur Eingangstür seines kleinen Einzimmerappartements, auf deren Rückseite platt gebügelt ein fröhlicher Pinguin grüßte, vormalig einen Heliumballon schmückend, der langsam eine finale Diät erlitten hatte. Ehrlich, welcher Riese mit einem Kreuz von einem Doppeltürschrank lief mit einem großen Heliumballon durch die Gegend?! Kato. Da konnte man schon Fracksausen bekommen! Besagter gemeingefährlicher Potenz-Bolide in humaner Verkleidung hielt sich unverschämterweise an seine Zusagen: ganz bürgerlich-konventionell miteinander ausgehen. Das bedeutete nach gängiger Lesart: bummeln, essen, Schaufenstergucken, Vergnügungspark, Aquarium... Aoki hatte noch nie so eine Beziehung gestartet. Noch nie zuvor hatte sich das jeweilige Pendant, männlich oder weiblich, mit Küssen begnügt! Weil Laken zerwühlen erst am anderen Ende der Ereigniskette stand. Da zweifelte man schon am eigenen Urteilsvermögen! Andererseits hatte der kapitale Bursche zwei Jahre durchgehalten! Stur und hartnäckig! Außerdem fast einen Kopf größer, garantiert doppelt so schwer und drei Monate jünger! Nicht zu vergessen heimtückisch schlau! Unwillkürlich zupfte Aoki eines seiner vielen Dreieckstücher im Nacken zurecht, seiner "Achillesferse". Empfindlich, sensibel, verräterisch. Wenn er zum Friseur ging, seine glatten schweren Strähnen stutzen zu lassen, rasierte er sich vorher selbst den Nacken aus, um fremde Kontakte auszuschließen. Aber irgendwie hatte Kato Lunte gerochen....! Erneut seufzte Aoki, angelte den Pinguin heran, blinzelte müde. Ihre erste offizielle Verabredung reihte sich ein in die Perlenkette der Peinlichkeiten, die ihm wie Blei um den Hals hing! Nicht nur das Desaster mit Chiharu und der Ärger mit ein wenig zu viel Medikamenten, nein, ER durfte aussuchen, was sie unternehmen sollten. In gewisser Panik, mit der Absicht, Kato in Schach zu halten, hatte Aoki einen Film vorgeschlagen,. Selbstverständlich nicht im Kino. Kato hatte erwiesenermaßen keinerlei Scheu, ihn an der Hand mit sich zu schleppen! Nein, ganz zivil hier in seinem kleinen Appartement. Dem "Papierfriedhof", wie Kato es despektierlich nannte. Das bürstete Aoki gegen sein Fell, der im Begriff war, sein Studium vergleichender Literaturwissenschaften abzuschließen! Eingebildeter Godzilla-Verschnitt! Nur, weil man hauptberuflich andere Leute umzog, mit Logistik-Software herumfummelte und noch handwerklich bastelte, außerdem Ersthelfer war, gab es ja wohl keine Rechtfertigung...! Literatur bedeutete eben gedrucktes oder geschriebenes Material, zumindest im letzten Jahrtausend! Pah! Ärgerlich und ängstlich zugleich, bloß das sehr gedrosselte Tempo beizubehalten, hatte Aoki den Film gestartet, mit Untertiteln, basierend auf Weltliteratur. Zugegeben, es hatte ihn nervös gemacht, vor Kato zu hocken, der sich hinter ihm platziert hatte, als Sofa fungierte. Er hatte seinen Pinguin als "Anstandsdame" geknuddelt, ein großes Dreieckstuch mit Totenköpfen um den Hals geschlungen! Das ließ sich recht vielversprechend an... Danach musste er, mutmaßlich nach zehn Minuten Abspieldauer, in Katos lockerer Umarmung, eingeschlafen sein! Der ihn empörender Weise nicht mal weckte, sondern, wie der unverschämte Kerl ihm feixend berichtete, mit doppelter Geschwindigkeit den Film ablaufen ließ. Den er immer noch entsetzlich deprimierend-öde-fad fand, nicht glauben konnte, dass man aus so einem bisschen Textband über drei Stunden elegischer Langeweile produzieren konnte! Meine Güte, wie hatte er es ABGEFEIERT, als der bebrillte Eumel ENDLICH den Löffel abgegeben hatte! Da musste man sich erst mal die Gehörgänge freispülen, Punkrock selbstredend. Währenddessen hatte Aoki vor sich hin geschlummert.... "Peinlich" war da ein geradezu euphemistisches Etikett für diese Katastrophe! In Konsequenz durfte folglich Kato bestimmen, was sie bei ihrer nächsten Verabredung unternehmen würden. Aoki rieb sich die Augen, spielte einen Moment mit dem Gedanken, vielleicht doch noch eine weitere Pille... Da würde er sich etwas anhören müssen, unter Garantie! Nicht, dass Kato herumbrüllte. Sein Oosaka-Idiom verstärkte sich zu einem grollenden Poltern. Der gemeine Kerl konnte sehr sarkastisch werden! Außerdem entsprach er überhaupt nicht Aokis Typ, seiner Vorliebe! Bloß.... Aoki rollte sich mit seinem Pinguin auf die andere Seite. Kato hatte ihn in seinem schwächsten, peinlichsten, hilflosesten Momenten erlebt, war nicht abgeschreckt, nicht zurückgewichen, sondern wiederholte ungerührt, er sei gekommen, um zu bleiben! Prinzlinge hin oder her. Das konnte man nicht ignorieren, nicht nach zwei Jahren geduldigem Jagen aus der Distanz. Außerdem wusste Aoki seine Hilfe durchaus zu schätzen. Nur~nur verwirrte ihn einfach die Gesamtsituation! Wo er ohnehin mit dem Studienabschluss genug um die Ohren hatte, eigentlich ziemlich gut allein klarkam. Relativ gesehen. Aoki ertappte sich bei einem Kiefer sprengenden Gähnen, angelte nach dem altmodischen Wecker. Nur ein kleines Nickerchen, er wäre bestimmt fit, wenn Kato aufschlug.... ~~~~>#* "....das is ja ein nerviger Weiberhaufen! Würde ich glatt durchdrehen." Stellte Kato mit seiner rauen, sonoren Stimme fest, pflückte die Plüsch-Konkurrenz aus Aokis Armen, dessen Blinzeln ihm verraten hatte, dass mit einer baldigen Rückkehr in die Gegenwart zu rechnen sei. "...Kato? Aber...?" "Du hast wieder nichts gegessen, oder? Und das, ohne die Kunst zu beherrschen, Futter aus der Luft abzufiltern." Was Säugetieren regelmäßig selten gelang, zugegeben. "Wie kommst du...?" Aoki kämpfte sich in eine sitzende Haltung. Kato, der stand, einen mächtigen Schatten werfen konnte, schnaubte. "Umzugsspezialist. Wo ich rein will, komm ich rein." Weshalb das schlichte Türschloss für ihn wirklich kein großes Hindernis darstellte. "Oh...warum hast du mich schlafen lassen?" Der Blick auf den Wecker verriet Aoki nicht nur die fortgeschrittene Zeit, sondern auch sein Unvermögen, dessen Alarm einzustellen. "Du hattest es offenkundig nötig." Versetzte Kato gewohnt aufgeräumt und direkt. "Nachdem ich mal wieder durch all deine Schränke und Schubladen bin, hab ich festgestellt, dass bei dir außer Bücherwürmern alles verhungern würde." Er grinste Aoki herausfordernd an, einen alten Vorwurf zitierend Aoki funkelte hoch, wich dem stechenden schwarzen Blick nicht aus. "Ich WOLLTE ja einkaufen! Aber ich hatte nun mal Termine einzuhalten! Es hat geregnet. Bis zum Bahnhof...!" Wäre er klatschnass geworden. Außerdem konnte Aoki recht gut eine Weile aushalten, wenn er andere Prioritäten hatte! Nicht so wie ein gewisser Gorilla mit Irokesenkamm! "Wenigstens hast du nicht versucht, dich mit zu vielen Pillen zu dopen." Stellte Kato fest, fütterte Aokis kleine Mikrowelle. Der senkte den Kopf, wusste, dass eine Entschuldigung angezeigt war. So hatte sich Kato bestimmt ihr Date nicht vorgestellt. Er selbst stand ja im Wort. "...es tut mir leid. Ich wollte bloß ein kurzes Nickerchen machen." Bekannte er leise, den Blick auf seinen Schoß gesenkt. "Der Vergnügungspark läuft uns nicht weg. Siebenschläfer sind wohl nicht erlaubt." Grinste Kato, bleckte frech die Zunge mit dem Piercing, offenkundig gedacht, ihn aufzumuntern. Aoki reagierte wie so häufig, ohne etwas dagegen unternehmen zu können: seine Augen tränten. Nicht, weil ihm so arg nach Heulen zumute war! Nein, aus irgendeinem verflixten Grund leckte er unerfreulicherweise bei der kleinsten Angelegenheit im Schädel! Lachen, Speisen, Niesen, Luftveränderung, Emotionen aller Art: prompt wurde der Rasensprenger ganz unaufgefordert angeworfen! Hastig wandte er sich ab, fischte eilig ein Stofftaschentuch aus seinem großen Reservoir. Auch in diesem Fall schien Kato weder zu zürnen, noch die Situation zu missinterpretieren. "Ich war zwischenzeitlich um den Block, Spachtelmasse besorgen. Also fallen Würstchen am Stock zwar flach, aber es gibt Bratnudeln mit Gemüse." Verkündete er, operierte geübt mit der Mikrowelle. Kein Vorwurf, keine gekränkte Enttäuschung. Das half Aoki nicht gerade. Leidlich trockengelegt balancierte er anschließend seinen Anteil auf dem Schoß. "Hast ne Menge abzuschließen, hm?" Kato, der sich neben ihm niedergelassen hatte, schaufelte gelassen. Aoki seufzte. "Eigentlich lag ich ganz gut in der Zeit. Dann fällt einem eben dies und das auf..." So drängte sich viel Arbeit in noch kürzere Zeitspannen. "Wirklich, ich wollte unsere Verabredung nicht sabotieren!" Beteuerte er. Kato lupfte eine Augenbraue über den stechend blickenden schwarzen Augen. "Das weiß ich. Ist auch nicht so tragisch, Aoki. Bloß das Angebot der Unterhaltung könnte besser sein." Aoki warf ihm einen strengen Blick zu. "Es handelt sich um zeittypische Klassiker. Wenn ich geahnt hätte, dass du Lektüre wünschst, hätte ich etwas herausgelegt." "Ja, vermutlich mit vielen Bildern, hm?" Provozierte Kato ungeniert, bereits mit seiner Mahlzeit durch. "Gar nicht wahr! Allerdings hast du bisher auch nicht durchblicken lassen, welches Genre dich interessiert!" Konterte Aoki durchaus gekränkt. So ein schlechter Gastgeber wollte er ja nun doch nicht sein! "Bauanleitungen und Handbücher für Software." Kato zwinkerte, strich Aoki die langen Strähnen hinter die Stecker-geschmückten Ohrmuscheln. Der schnaubte lediglich im Rückzugsgefecht. Außerdem ermüdete ihn das Essen. Weil er viel zu lange geschlafen hatte, schien sein verwünschter Kreislauf mal wieder anzunehmen, dass dieser Luxus weitergepflegt werden könnte. Unerfreulicherweise blieb diese Inklination Kato nicht verborgen. "Du wirkst wirklich angestrengt. Na los, zähl noch ein paar Schäfchen, hm?" "Das geht nicht!" Protestierte Aoki. Kato argumentierte nicht, sondern zog Aoki an sich, küsste ihn ausgiebig, keineswegs zurückhaltend, ließ ihn ebenso mühelos wie behutsam aufs Bett sinken. "Gönn dir dein Päuschen. Dein befrackter Kamerad und ich werden sich unterdessen die Zeit vertreiben." Aoki beäugte nervös, wie Kato das Plüschtier abfischte, ihn selbst mit einer leichten Decke einhüllte. "Herrje!" Knurrte Kato, beugte sich herunter, küsste Aokis Stirn zwischen den geteilten Strähnen. "Wir werden beide auf dich aufpassen, in Ordnung? Schisser." "Bin ich nicht!" Schimpfte Aoki blinzelnd. Er war es nun mal gewöhnt, mit seinem Pinguin zu schlafen und nicht, wenn Kato hier herumtobte! Der widmete sich einfach dem Geschirr, summte sonor vor sich hin, wirkte keineswegs vergrätzt. »Beängstigend.« Konstatierte Aoki müde. Als sei es wirklich genug, ihm Gesellschaft zu leisten.... ~~~~>#* Kato werkelte ausdauernd geschäftig herum, bis er überzeugt war, dass Aoki den Kampf gegen die Mattigkeit verloren hatte. Er warf dem Stoffpinguin einen bezeichnenden Blick zu. Tsktsk! Nach zwei Jahren intensiver Recherche und Feldforschung erkannte er durchaus die Zeichen: die winzigen Linien in den feingeschnittenen Gesichtszügen, eine minimale Falte zwischen den dünnen, anmutig gebogenen Augenbrauen. Er überragte Aoki zwar nur um eine Haupteslänge, aber in der Silhouette: mein lieber Jolly! Schmal gebaut, dünn und biegsam wie ein Bambushalm. Lautlos pirschte er sich an, ging neben dem Bett in die Hocke. Aoki hatte sich auf die Seite gedreht, die Beine vor den Leib gezogen, sich fötal zusammengerollt. Wenn es um veritable PRINZEN ging, ruhte hier gerade Dorn-José! Warum um alles in der Welt Aoki bloß nach einem Prinzen suchte, wenn ein Blick in den Spiegel doch genügte?! Selbstverständlich hatte er sich ihr zweites offizielles Date schon anders vorgestellt. Allzu enttäuscht fühlte Kato sich nicht. Bei schlechtem Wetter hätte er Aoki ja auch nicht durch die Gegend gezerrt! Zudem konnte er sich nicht sicher sein, dass Aoki nicht doch, um sich als gefällig zu erweisen, mehr Blutdruck-Pillen einwarf als vorgesehen, sich aufputschte, um mitzuhalten. Auch bei ihm. Was Kato auf gar keinen Fall auslösen wollte! Er streckte die Hand aus, strich mit den Fingerspitzen hauchzart über die schwarzen Strähnen, die unterhalb des Ohrläppchens streng gekappt wurden. Obwohl er schon Einiges herausgefunden hatte, stellte Aoki ihn noch immer vor Rätsel. Kontaktfreudig, aufgeschlossen, unternehmungslustig, vielseitig interessiert. Sagten seine Freunde. Eigentlich bi, aber eben nicht festgelegt, sondern flexibel! Wieso bemerkten sie nicht, was ihm selbst rasch ins Auge gestochen hatte: dass Aoki verzweifelt einen festen Freund suchte? Bei dessen Pechsträhne, die durch Diskretion (bis auf den letzten Prinzling) eher wie muntere Alltags-Eskapaden wirkten, nicht unbedingt verwunderlich. Allerdings hatte er selbst schon immer einen anderen Blick auf Aoki gehabt. Gleich beim ersten Mal schon, in diesem Gewühle, als sich nur kurz die Menge teilte, er ihn direkt wie eine Erscheinung vor sich sah. Fasziniert, vom Blitz getroffen, elektrisch aufgeladen, im Tunnelblick gefangen. Als Aoki IHN jedoch bemerkte, konnte er vor der Grimasse ob des Anglotzens Angst in dessen Miene dechiffrieren. Warum?! Warum löste er bei Aoki eine stets geleugnete, abgestrittene Angst aus? Gut, mit seiner Figur und der Frisur mochte er gelegentlich ein wenig martialisch auftreten. Ja, er konnte nun mal nichts für seinen recht durchdringenden Blick! Dass man ihn gleich wie einen notorischen Totschläger abqualifizierte und wie die Pest mied, also wirklich! Das hatte ihn aber so was von angestachelt! Obwohl er sonst als ausgesprochen gelassen und souverän galt, trotz seiner Jugend. "...so viele Geheimnisse..." Wisperte er rau, wechselte einen Blick mit dem Stoffpinguin. Aokis erblich bedingten, sehr niedrigen Blutdruck, die Kreislaufschwäche, auch die eingebaute Leckage bei den Augen... All diese Dinge hatte er in Erfahrung gebracht, deshalb geduldig auf den richtigen Moment gewartet, damit er auch selbst die nötige Contenance aufwies. Weil Aoki ihn eben regelmäßig auf die Palme brachte! Allzu viele Fehler oder Missverständnisse konnte er sich nicht leisten, befand Kato. Weil er dem schönen Schein nicht traute. Ärgerlicherweise zog Aoki ihn jedoch auch noch nicht ins Vertrauen. Deshalb konnte man zwar kalauern, pro forma herumgrummeln, musste jedoch streng auf die unsichtbare Mauer/Dornenhecke achten, um Aoki nicht zu verschrecken. Etwas missmutig blickte Kato auf gestapelte Papierbündel. Der Titel schien ihm eine nützliche Ermahnung zu sein. Wenn er sich erneut durch das dusselige Herumgequatsche der jüngeren Schwestern quälen müsste.... "Sei froh, dass du nicht lesen kannst." Raunte er dem Stoffpinguin zu, fädelte GANZ vorsichtig hinter Aoki ein, der nicht mal einen Laut von sich gab. So erschöpft schlief! ~~~~>#* Aoki erwachte mit dem etwas verschwommenen Blick auf Katos sehr breite Rückenpartie, weil der gerade die Wohnungstür leise hinter sich zuzog, telefonierend. Offenbar ein wichtiger Anruf. Sonst war Kato grundsätzlich nicht bereit, seine "Qualitätszeit" durch das Mobiltelefon stören zu lassen. Kein Herumtippen, kein Daddeln irgendwelcher Spiele (oder zutreffender Kraulen und Wischen), kein Überfliegen irgendwelcher Unterhaltungen im Stenogramm-Stil. Verblüffend. Ausgesprochen galant. Was Aoki häufig ins Trudeln geraten ließ. Er tolerierte durchaus, dass das Mobiltelefon am Mann blieb, aktiviert, immerhin galt das als üblich. Katos strikte Weigerung, sich von einem bloßen Arbeitswerkzeug in seiner Freizeit tyrannisieren und gängeln zu lassen, löste bei ihm Nervosität aus. Ja, Kato hatte ihm unmissverständlich erklärt, er meine es ernst. Bierernst. Da wurden keine halben Sachen gemacht! Weshalb konsequenterweise der Potenz-Bolide im Gorilla-Kostüm sich sofort auf ihn hätte stürzen, ihn herumkommandieren mü... Doch davon keine Spur. Abgesehen von gewissen sarkastischen Kommentaren und pointierten verbalen Seitenhieben blieb Kato strikt manierlich. Das ängstigte Aoki heimlich sehr viel nachhaltiger als jedes unerwünschte Godzilla-Gebaren. Er rieb sich die Sicht klar, wischte die langen Ponysträhnen hinter die Ohren, konsultierte seine Umgebung. Vermutlich hatte sich Kato wohl doch Lektüre gesucht. Sein Pinguin balancierte einen dünnen Band aufgeschlagen aus. Aoki seufzte leise, schwang die Beine über den Bettrand. Er würde sich noch mal entschuldigen müssen, anbieten, dass Date nachzuholen. Wenigstens, um positiv zu bleiben, fühlte er sich jetzt einigermaßen erholt. Das musste man auch eingestehen, hätte Kato versucht, ihn in diesem Zustand in einen Vergnügungspark zu schleifen, hätte sich ein weiteres Desaster abgespielt. Die Wohnungstür öffnete sich wieder, Kato schlüpfte geschmeidig hinein. Die schwarzen Augen funkelten gefährlich unternehmungslustig. "Du bist wach? Perfekt! Sag dem Pinguin Adieu, wir müssen sofort los!" Aoki zog alarmiert die Schultern hoch. "Los? Wohin? Jetzt? Muss ich mich nicht umziehen?" Kato bleckte die Beißer, streckte eine Hand auffordernd aus. "Auf die Hufe, Kamerad, wir werden gebraucht!" Was jeden weiteren Protest durch zielgerichtete Aktionen unterband. ~~~~>#* Aoki befand durchaus, dass Kato sich wie ein Taifun verhielt, eine unbeirrbare, eigensinnige Naturgewalt. Nein, ein Umkleiden sei nicht nötig. Selbstverständlich müssten sie den kleinen Transporter nehmen. Nein, er glaube nicht, dass Aoki fußfaul sei. Ah, nicht aussteigen, sondern Transporter hüten! Klar verfüge er über eine Sondererlaubnis, die engen Gassen zu befahren. Stopp, Transportarbeiten ausschließlich durch Profis! Genau, das sei Zubehör für einen Auftritt. Nein, nein, es sei wichtig, dass er hier warte und den Überblick behalte. Aoki schnaubte leise. Ehrlich, wie konnte dieser verwünschte Gorilla-Verschnitt ihn einfach auf diese mannshohe Transportkiste setzen?! Während um ihn herum eifrig Leute wieselten! Durchaus nervös blickte Aoki sich um. Hinter einer Bühne hatte er sich noch nie befunden, deshalb betrachtete er das "Gerippe" der Illusionen unbehaglich. Gut, hier sitzend konnte er nichts beschädigen, dennoch... Man sah Gerüste mit Scheinwerfern, Leitungen, Lautsprecherboxen, Sicherheitseinrichtungen, Kontrollpaneele mit Knöpfen und Reglern auf der Seite. Kato wuchs wieder unerhört lautlos vor ihm aus dem Boden. "Fertig, geht gleich los!" Strahlte er kriegerisch, fasste Aokis Hüften, der vornüber kippend eilig die Arme ausstreckte, sich auf den imposanten Schultern abstützte, mühelos abgepflückt und artig auf die eigenen Füße gestellt wurde. Die großen Hände legten sich auf seine Schultern, drehten ihn um die eigene Achse, steuerten ihn ungefragt aus. "Wir bekommen einen Logenplatz, quasi!" "Tun wir? Wer spielt denn hier?" Erkundigte sich Aoki hilflos, der nicht gern ferngesteuert wurde, überrumpelt der Direktion folgte. "Bekannte von mir. Ist ein Geheim-Konzert. Eine Stunde Volldampf, dann ab durch die Mitte!" Kato schien elektrisiert. »Ach du Schande!« Dachte Aoki, der vermutete, ihm werde das Gehirn mit Punkrock ausgefegt, nicht unbedingt sein Genre. "Das ist doch aber nicht illegal, oder?" Erkundigte er sich flüsternd. Kato lachte. "Kommt darauf an, welche Art von Gesetz du zugrunde legst." Er grinste hinter ihm breit, stoppte. "Hier ist unser Plätzchen, bei der Regie." Eine winzige Nische, die eher wie eine Mausefalle wirkte. Kato streifte sich sein T-Shirt ab, stopfte einen Teil in eine hintere Hosentasche seiner schwarzen Jeans. Aoki schnappte nach Luft. Hier blankzuziehen, also wirklich! "Wird dir bestimmt auch gleich warm." Konterte Kato unbeeindruckt, drehte Aoki herum, damit der die Bühne sah, schob sich hinter ihn in die Nische, die muskulösen Arme links und rechts um ihn legend. "Ich werde mich nicht ausziehen!" Legte sich Aoki fest, dem schon Übles dräute: stiernackige, aufgepumpte Kerle, die grölend herumhopsten, wie eine Horde aufgeputschter Paviane agierten! Kato hinter ihm lachte. "Solltest du nicht auf die Römer hören? Bist du unter Barbaren, verhalte dich wie sie!" Aoki kreuzte die dünnen Arme vor der Brust. Wieso endete seine Suche nach einem wahren Prinzen immer in so einem primitiven Schlamassel?! ~~~~>#* Kato grinste ungeniert. Natürlich war er sich einiger scheeler Seitenblicke durchaus bewusst, weil selbst in großer Hitze in der Stadt die Männer nicht oben ohne herumliefen. Auf dem Land mochte man ja eher "hemdsärmelig" (in diesem Fall ohne selbiges) agieren, doch in der Stadt bewies man Manieren und Kultur, zeigte sich nicht plump a la nature! Aber noch erfüllte ihn die pulsierende Energie der Musik, brannte lodernd ein Feuer, das ihn aufheizte. Das Verladen und Rückführen ging ihm flott von Hand und Steuer. Er tankte auf, notierte den Privat-Auftrag sorgsam. Aoki neben ihm als Beifahrer und Dekor, schwieg, ein wenig benommen, hatte auch herumhopsen müssen, in der Enge, die Arme recken, konnte nicht außen vor bleiben bei so viel aufgestauter Energie. Kato öffnete ihm die Beifahrertür, assistierte beim Aussteigen. "Lass mich rasch die Bude verrammeln. Ich eskortiere dich heim." "Oh, nicht nötig. Da musst du die Strecke ja zweimal laufen." Aoki wich seinem Blick aus. "Stimmt, aber es ist MEIN Date." Erinnerte Kato betont selbstherrlich, vermutete, dass es Aoki unangenehm war, ihn halbnackt neben sich zu wissen. Er beugte sich herunter, raunte. "Für einen Kuss ziehe ich mein T-Shirt wieder über." Ein anderer hätte ihn jetzt in seine Schranken verwiesen, wäre vielleicht aufgebraust. Aoki jedoch, als aufgeschlossen, freundlich, zuvorkommend charakterisiert, fiel nicht aus der Rolle, hatte sich, bis auf einen Hauch rosiger Tönung auf den Wangen, gut im Griff. "Du könntest es auch tun, um ältere Damen nicht zu schockieren." "Ha!" Lachte Kato rau auf. "Du kennst zu wenige ältere Damen, mein Prinz! So einfach sind die nicht zu beeindrucken." Aoki wirkte tatsächlich aus dem Konzept der vornehmen Zurückhaltung gebracht, aber auch leicht verletzt. "Es wäre dennoch höflicher..." Begann er entschieden, sich nicht hinreißen zu lassen. Kato bediente sich hingegen selbst, umschlang die schmale Gestalt mit einem Arm, küsste Aoki gründlich. Bis die Kugel in seiner Zunge förmlich pulsierte. Er streifte sich wortlos sein T-Shirt über, kaperte Aokis Rechte, bevor der ihm noch außer Atem entschlüpfen konnte. "Lass uns an der Ecke noch ein Eis lecken. Ich hab ne akute Pfefferminz-Unterversorgung." Verkündete Kato sonor, nahm Schwung auf. Verdammt. Aoki fürchtete sich noch immer vor ihm! Oder wenigstens seiner Erscheinung! ~~~~>#* Aoki justierte die Stoffmaske vor Nase und Mund. Eigentlich hatte er keine Zeit dafür... Aber er musste raus, weil er sämtliche seiner Blutdruckpillen aufgebraucht hatte. In seinem Kopf schwirrten noch immer hohle Phrasen, grässliche Monologe... Er wollte sie am Liebsten vergessen, diese Plattitüden, so monoton, so fade, so demoralisierend! Monster, Kämpfe und Roboter/Maschinen und Fang-Sammel-Geschichten und Stereotype und Klischees und "Geschmacksmuster" und... Er keuchte, blieb einen Augenblick stehen, streckte eilig den Arm aus, tastete sich an der Wand entlang zu einem Mäuerchen, das ein winziges Pflanzband abteilte. Nicht gut! Aoki rang keuchend um jeden Atemzug, hörte sich selbst röcheln. Dämliche Erkältung! Wenigstens kein Schnupfen und Husten, aber trotzdem...! Er beugte sich vor, schlang die Arme um sich, musste sich irgendwie verrenkt haben, sein Brustkorb schmerzte auch noch peinigend. "Entschuldige, ist alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?" Aoki blinzelte auf weiße Hosenbeine neben zwei großen Rädern. Rollstuhl mit Anschieber? Jemand ging vor ihm in die Hocke. Ein sympathisches, mit Piercings geschmücktes Gesicht. "Geht es dir nicht gut?" Erkundigte sich eine freundliche Stimme, während verschiedenfarbige Augen ihn besorgt musterten. Aoki wollte antworten, aber irgendwas stimmte nicht... Er presste die Rechte auf seine Brust, bemerkte einen Krampfanfall. "Keine Angst, ich rufe Hilfe!" Panik wäre nun gerechtfertigt gewesen, doch Aoki spürte wehrlos, wie ihn Schwärze verschluckte. ~~~~>#* Kapitel 2 "Nanu, Aoki...?" "Ja, stimmt, das ist mein Name. Was ist passiert?" "...verstehe. Wohin?" "Ja...ja...klar. Danke." "Kann ich die Sachen gleich abholen?" "Vielen Dank!" "Ja, bis gleich!" Kato beendete das Gespräch, wählte eilig eine Nummer. "Onkel? Ja, ich bin's. Darf ich den Roller nehmen? Ich arbeite die Zeit nach, versprochen!" "...ja, ist es. Ich weiß noch nicht, wie schlimm. Ich sage dir Bescheid." ~~~~>#* Kato hängte sich die schlichte Tasche über eine Schulter. Sie quer zu tragen wie ihr Besitzer schied für ihn aus. Der Tragegurt hatte nicht genug Länge aufzubieten. Ausweisen, Besuch-Anmeldung ausfüllen, das alles kostete ihn Zeit. Andererseits half Hektik gar nicht. Endlich durfte er den Trakt betreten. Innere Medizin, Herzchirurgie. Ohne den freundlichen Samariter, der in einem Alten- und Pflegeheim arbeitete, sich Aokis Habseligkeiten angenommen, ihn angerufen hatte: hätte er nichts erfahren. Weil seine Nummer die war, die Aoki regelmäßig und häufig angewählt hatte. Seit fast zwei Monaten kein persönliches Treffen mehr. Wegen Aokis Abschluss, der alles an Zeit auffraß, was verfügbar war. In Kato brodelte es. Wenn er darauf bestanden hätte, dass sie sich träfen, dann...! "Ah, Entschuldigung, junger Mann, die Besuchszeiten sind vorbei." Kato wandte sich herum, reichte den Anmeldebogen weiter, erläuterte knapp die Lage. "Ach so. Sind Sie ein Angehöriger? Im Moment können wir ohnehin niemanden vorlassen. Der Patient ist sehr geschwächt. Die Untersuchungen sind auch noch nicht abgeschlossen." Beherrscht spielte Kato nach den Regeln. "Muss Aoki länger bleiben? Was kann ich ihm mitbringen? Pyjama, Handtücher?" "Das wäre hilfreich, vielleicht auch eigene Bettwäsche. Aber wenn Sie nicht verwandt sind.... Sehen Sie, wegen der Kosten?" Kato funkelte grimmig. JETZT musste er seine Zurückhaltung aufgeben, ganz gleich, wie Aoki diese Einmischung auffasste. ~~~~>#* Kato war weniger in einer Familie als in einem weitläufigen Clan aufgewachsen. Die Eltern hatten Geschwister, es gab also Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen, jede Menge Großeltern, Großonkel, -tanten, -nichten, -neffen... Den Überblick zu behalten, das glich durchaus einer Herkulesaufgabe. Allerdings unterzog sich nur selten jemand dieser Mühe. Man kannte sich eben, kam zusammen, ganz pragmatisch, praktisch, geerdet. Half sich untereinander. Beinahe jeder Geschäftszweig, jedes Gewerbe war vertreten, aber auch künstlerische Neigungen wurden unterstützt. Stellte man Werke eben in den Geschäftsräumen aus, öffnete sie an Sonntagen für Vernissagen! Wichtig war allen, die er zur "Familie" zählte, dass man etwas tat, das einen herausforderte, befriedigte, erfüllte. Brachten die Kinder Freunde oder Lebenspartner in spe mit, wurden die auch der "Familie" einverleibt. Erstaunlicherweise funktionierte dieses Netzwerk ohne Druck, ohne Repressalien. Es zählte, was man tat, nicht Aussehen, Herkunft oder Geschlecht. Eben pragmatische Herangehensweise ans Leben! Kato kam dies ganz normal vor. Für seine Familie. Er musste nicht konform seine Individualität unterdrücken. Irokesenkamm? Ja, wenn ihm das nun mal gefiel. Piercing? Autsch, aber der Junge wollte es probieren. Es wäre ja seine Zunge, die ihm die rote Karte zeigen würde. Pubertäres Aufbegehren wurde in SEINER Familie zumindest recht schwierig. Andererseits gab es auch immer etwas zu tun, sodass man seine Zeit besser verbringen konnte! Weshalb Kato, im Nachhinein betrachtet, ein recht pflegeleichter Sprössling war. Nicht verhätschelt wurde, nein, in seiner Person stets akzeptiert und angenommen. Dass es sich auch anders verhalten konnte, wusste er durchaus. Man lebte ja nicht in einer Seifenblase! Dennoch kostete es ihn große Selbstbeherrschung, diese nicht zu verlieren, auf die Pauke zu hauen! Damit wäre Aoki ganz sicher nicht gedient. ~~~~>#* "...ist ein übler Schurke, die Tastatur, was?" Kato blickte auf, grimmig. Schwarze, ebenso stechend blickende Augen funkelten zurück. Mit viel Humor. "Neffe, da du ihr so zusetzt, muss sie dir ja ordentlich vorn Latz geballert haben." Lautete die launige Mutmaßung. Man nahm auf der Tischkante Platz. Kato knurrte vernehmlich. "Was macht der hübsche Bengel, den du uns einfach nicht vorstellen willst?" Die nächste Kerbe wurde entschieden gehauen. Tief durchatmend schluckte Kato eine Reihe von gutturalen Verwünschungen herunter. Aufregung half niemandem...zumindest nicht über den Moment der Erleichterung hinaus. "Onkel, ich stecke in Schwierigkeiten." Bekannte er mit gezügeltem Zorn. "Oha. Das ist ja mal was Neues. Wie sehen die denn aus, deine Schwierigkeiten?" Kato straffte seine mächtigen Schultern, setzte sich sehr aufrecht. Anschließend begann er, im Telegrammstil die letzten Ereignisse zusammenzufassen: den Anruf zu Aokis Zusammenbruch, die Einlieferung mit Verdacht auf massive Herzprobleme, die Schwierigkeiten mit den Kosten oder der mangelnden "Angehörigkeit". Als wäre das nicht noch Ärger genug, das selbstherrliche Einlassen in Aokis Appartement, wegen Pyjama und Pinguin. Wo er die Kündigungen entdeckte, erst von der Wohnung, deren Mieter gar nicht Aoki, sondern eine Kanzlei war, die sich expressis verbis auf die Dauer der Schul- und Studienzeit beschränkte. Und die verdammte Kündigung per Fax von Aokis Ausbeuterjob, weil er nach der kurzen privaten Pause nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt war. "Also keine Prämien mehr gezahlt für die Krankenversicherung?" Fasste sein Onkel zusammen, was gerade am Dringlichsten schien. "Ich werde bürgen, aber ob denen das reicht?" Kato knurrte sonor. Allzu viele Ersparnisse hatte er auch nicht. "Außerdem komm ich nich an ihn ran, weil: kein Angehöriger!" Fauchte er frustriert. "Aha. Hm. Ist wohl nicht ganz zufällig ein Grund, warum du deinen Liebsten noch nicht vorgezeigt hast, wie?" Für einen Moment starrte Kato die gegenüberliegende Wand nieder. "Das ist kompliziert. Wenn ich zu schnell bin, verschrecke ich ihn ganz." Es verhielt sich ja nicht so, als hätte Aoki nicht immer noch Angst vor ihm. "Tja!" Eine kräftige Hand klopfte ebenso nachhaltig auf seine muskulöse Schulter. "Neffe, lass den Computer heil und erledige den Rest, ja? Ich mach mich unterdessen mal schlau." Kato warf seinem Onkel einen erleichterten Blick zu. Er würde jede Unterstützung in Anspruch nehmen, die ihm angeboten wurde! ~~~~>#* Selbstbewusst einen imposanten Schatten werfend schlug Kato zum zweiten Mal auf der Station auf, präsentierte die zuvor schon per Fax eingereichte Kostenübernahmeerklärung und seine Legitimation als "Angehöriger" in Vertretung. Genauere Recherchen würden selbstredend entdecken, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen, die er vertrat, äußerst entfernt waren. Darauf kam es ja offenbar nicht an. Aoki lag zwischen zwei Vorhängen in einem Bett, entouriert von allerlei Maschinerie, ätherisch bleich, verkabelt und an einen Tropf angeschlossen. Kato setzte den Pinguin ab, was die Lider anhob. Er konnte sofort erkennen, dass Aoki geweint hatte. Nicht die übliche Sprinkler-Einlage. "Hallo, Aoki. Ich hab deinen Freund mitgebracht." Raunte Kato, unwillkürlich seine raue, tiefe Stimme senkend. Aoki nickte, blinzelte, versuchte, seinen Pinguin zu umarmen, scheiterte jedoch bereits an der Herausforderung, die Arme ausreichend von der Matratze zu lupfen. Kato half aus, bemüht, sein Entsetzen nicht merklich werden zu lassen. "Kann ich sonst etwas für dich tun?" Eine minimale Bewegung des Kopfes lehnte weitere Hilfsangebote ab. Die Lider senkten sich wieder. Kato blieb noch einige Minuten länger, doch es schien nicht so, als könne er Aoki noch einmal für sich interessieren. ~~~~>#* "Wir sind recht sicher, dass es eine Herzmuskelentzündung ist. Kann man mit einer Grippe verwechseln. Außerdem, bei der Konstitution des Patienten, niedriger Blutdruck, Kreislaufschwäche, da neigt man zu Fehlannahmen. Im Moment verordnen wir starke Medikamente. Unbedingte Ruhe und Schonung ist angezeigt. Wir wollen ja nicht, dass sich eine dauerhafte Schädigung ausprägt. Das MRT hat uns aber Hoffnungen gemacht. Der Patient kann entlassen werden, WENN regelmäßig die Kondition geprüft wird und vollkommene Ruhe gewährleistet ist. Jede Anstrengung kann all unsere Bemühungen zunichte machen. Stress ist unbedingt zu vermeiden. An Arbeit ist nicht zu denken. Üblicherweise gehen wir von drei Monaten Schonung aus. Das hängt von vielen Parametern in der Entwicklung ab. In diesem Fall ist es auch ein wenig knifflig wegen der Kombination von Medikamenten. Ich würde Ihnen ja zum stationären Aufenthalt in einer Privatklinik raten, aber das ist nicht ganz billig. Ah, hier sind auch noch allgemeine Hinweise, für den Hausarzt. Überlegen Sie es sich. Bis morgen ist der Patient ohnehin nicht transportfähig." ~~~~>#* Kato wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht ganz praktisch an Lösungen orientiert agierte. Zunächst mal galt es herauszufinden, ob es überhaupt noch einen Hausarzt gab oder ob Aoki auch hier die Ausgaben schlicht eingestellt hatte wie bei der Krankenversicherung. Leichtsinnig, sollte man meinen, gerade mit seiner Disposition, aber... Kato, der sich erneut selbstherrlich des Appartements bemächtigt hatte, pflügte mit grimmiger Entschlossenheit durch den Papierfriedhof. "Du hättest mir was sagen können!" Hielt er dem abwesenden Bewohner aufgebracht vor. Aber Aoki hatte es vorgezogen....! Nein. So ging er die Situation verkehrt an. Offenkundig lagen die Probleme noch tiefer, als er vermutet hatte. "SCHEISSE!" Brüllte Kato lautstark, kümmerte sich kein Bisschen um etwaige Empfindlichkeiten der Nachbarschaft. Er WAR wütend, so wütend wie selten. Deshalb entschied er, bei Aokis Ex-Arbeitgeber den ausstehenden Lohn einzufordern. So, wie man das in schlechten Filmen sah. ~~~~>#* "Die Laus is n Elefant, was? Deine arme Leber." Kato knurrte, nickte seinen Kollegen zu, die sich grinsend verabsentierten. Sie hatten, mehr als ein Dutzend sehr kräftiger, sehr entschlossen aussehender Männer, seine Entourage bei der schmuddeligen Produktionsfirma gebildet, wo er äußerst frostig Aokis Ansprüche durchgesetzt hatte. IHN hatte man nicht lapidar an die Luft setzen können, zwei Monate Durcharbeiten unter dubiosen Umständen, ohne Pause, ohne Freizeit. "Der Laden gehört geschlossen!" Zischte er zornig, hoffte, dass ihr Auftreten für ordentlich Fracksausen gesorgt hatte. Er atmete tief durch, erwiderte das humorige Lächeln seines Onkels halbherzig. "Hast nicht übertrieben, als du sagtest, dein Ausgeguckter könne dich auf die Palme bringen. Junge, Junge!" Kommentierte der launig, aber auch respektvoll. Kato seufzte. "Das is alles noch komplizierter als gedacht. Egal, was ich tu: er wird's nich mögen." "Erst mal musser ja gesund werdn. Dachte mir, wir reden mal mit den anderen Bürgen." Kato merkte auf. "Sind das etwa wirklich Verwandte?" Sein Onkel zwinkerte. "Haste gedacht, ich borg mir eben mal fremde Siegel? Neffe, putz dich raus, wir treffen auf die bucklige Verwandtschaft!" Kato wischte sich über seinen Irokesenkamm. Was hatte sein Onkel ausgeheckt? ~~~~>#* Buckel konnte man nicht entdecken. Einer der beiden Männer, tatsächlich, wenn auch sehr ausgedünnt, blutsverwandt, bestritt seinen Lebensunterhalt als Kampfsportlehrer mit eigenen Dojo. Sein Gefährte führte eine Massage-, Akupunktur- und Akupressur-Praxis. Was zur Sprache kam, missfiel Kato außerordentlich, befremdete ihn. Es erklärte jedoch, zumindest ein wenig, warum Aoki sich so irreführend verhielt. "Na, die beiden sind in Ordnung. Besteht noch Hoffnung." Konstatierte sein Onkel. Keiner der drei Männer zeigte Inklinationen, die Bürgschaft zurückzuziehen, Aoki seinem Schicksal zu überlassen, obwohl der volljährig war, über einen Studienabschluss verfügte, sich also selbst prompt und final über Wasser zu halten hatte. "Ich werde mit ihm reden müssen." Kato stellte unwillkürlich die sehr breiten Schultern aus. Angenehm würde das Gespräch sicher nicht werden. ~~~~>#* Aoki saß aufgerichtet in seinem Krankenbett, eine Jacke um die schmalen Schultern gewunden, sehr bleich und gezeichnet von den Strapazen, sich sehr behutsam zurück ins Leben zu tasten. "Wie geht's dir?" Wagte sich Kato entschlossen auf vermintes Gelände. Aoki bemühte sich um ein Lächeln. "Die Medikamente sind sehr stark. Ich konnte mich kaum auf etwas besinnen. Da haben sie die Kombination geändert, damit ich wieder denken kann." Kato holte entschlossen Luft. "Aoki, da sind ein paar Dinge am Laufen, über die wir reden müssen." Damit entlockte er Aoki ein Krächzen. "Ich weiß Bescheid. Gefeuert, gekündigt, mittellos." Dabei tippte er auf sein Mobiltelefon, das trügerisch harmlos eigentlich nur dazu dienen sollte, Kato in Notfall zu kontaktieren! "Die haben dir Nachrichten geschickt?!" Aoki zuckte mühsam mit den Schultern. "Na, bravo!" Knurrte Kato, der zumindest um die Last des Boten schlechter Nachrichten herumkam. Was nicht sonderlich viel verbesserte. Bevor er sich schwungvoll in die Schlacht werfen konnte, krächzte Aoki. Vermutlich sollte es ein Aufmerksamkeit einforderndes Räuspern sein. "Ich bin nicht einverstanden. Mit der Bürgschaft. Hab ich dem Arzt bereits gesagt." Selbst die wenigen Worte kosteten Aoki sichtlich Kraft, auch wenn sein Blick ungetrübt blieb. Kato atmete tief durch. "Aha. Welche Alternative schwebt dir vor?" Er VERSUCHTE, höflich und nicht gemeingefährlich sarkastisch zu klingen. "Ich will hier raus. Kann das nicht bezahlen!" Aoki funkelte ihn an. Allerdings wirkte er in seinem Zustand eher bemitleidenswert. "Schön, ich kann verstehen, dass dir das Ambiente nicht zusagt. Bis du allerdings stabil bist, bleibst du hier. Über das Geld sprechen wir später." "Nein! Es ist MEIN Leben! Meine Entscheidung!" Fauchte Aoki aufgebracht, vor Anstrengung zitternd. Kato knirschte mit den Zähnen. "Das nehme ich zur Kenntnis. Für den Moment wirst du dich drein schicken." Er erkannte eine verzweifelte Wut in Aokis umschatteten Augen. Der drückte die Rufanlage. Ein schmaler älterer Pfleger blickte überrascht zu ihnen. "Das ist kein Angehöriger! Ich will ihn nicht mehr sehen!" Gestikulierte Aoki wild. Kato kam auf die Beine, wedelte mit seiner "Akkreditierung" durch Namenssiegel der entfernten Verwandten. "Ich bin legitimiert. Aoki, hör mit dem Zirkus auf!" Zwei weitere Pfleger traten auf den Plan. "Bitte, begleiten Sie uns doch zum Besuchszimmer." Nach Luft ringend sackte Aoki auf die Polster zurück, drehte den Kopf weg. Kato ballte die Fäuste, nickte knapp den drei Pflegekräften zu, die nervöse Blicke wechselten, weil er sie durchaus in Größe und Statur in den Schatten stellte. Wirklich, das lief ja GRANDIOS! ~~~~>#* "Dieser ungezogene, egoistische, klapprige, Wasser sprengende Depp!" Schimpfte Kato unterdrückt, während er eilig einen weiteren Auftrag erledigte, Einbauschränke montierte, säuberte, dezent parfümierte und nach Plan mit den Habseligkeiten der neuen Bewohnenden füllte. Was sollte dieser alberne Aufstand?! Wenn Aoki nicht auf die Beine kam, konnte der doch sein Leben nicht selbst bestimmen! Überhaupt, was dachte der, wie viel Geld zusammenkäme bei diesem depperten Ausbeuterjob?! Grummelnd und grollend schloss Kato seine Arbeiten ab, marschierte mit Werkzeugkoffern im Schlepptau zum Roller, wo er geschickt austariert das Gepäck auflud, tief durchatmete. Er fischte im Trüben. Von wegen "klare Sache"! Es musste noch mehr dahinterstecken, das ihm verborgen war. Wieso zeigte sich der Vermieter so unerbittlich? Ums Geld konnte es allein nicht gehen. Aber die Kanzlei blockte mit Schweigepflicht, stellte eine Sackgasse dar. Warum sprang die Familie nicht ein? Wieso hatte Aoki die Prämien für die Krankenversicherung nicht mehr bezahlt? Zu viele Geheimnisse. Kato knirschte mit den Zähnen, topfte den Helm auf. So einfach gab er sich nicht geschlagen! ~~~~>#* "Im Moment empfängt er gar keinen Besuch. Hat sich überanstrengt und ist kollabiert. Ich verstehe auch gar nicht, wieso er nicht Assistenz angefordert hat. Toilettengang, eigentlich unerwartet, bei den Infusionen..." Kato lauschte höflich, verzichtete darauf, seine Gedanken auszusprechen. Er ließ sich Zeit, bis er auf dem kleinen Vorplatz vor dem Klinikgebäude stand, fischte sein Telefon heraus. [Glaub nicht, dass dein vorzeitiges Ableben MEIN Leben verbessert. Ich lass dich nicht abhauen.] ~~~~>#* "Ich bin mir ziemlich sicher, dass er etwas Blödes versucht hat." Ließ Kato seinen Onkel wissen, während er sich eine Liste machte. "Er sieht nicht danach aus, aber...Himmel, kann der STUR sein!" Funkelte er zu seinem Onkel hoch, der auf der Tischkante residierte. "Hm. Komische Sache. Mit dem Vermieter." Kato knurrte. "Da komm ich nich weiter. Nützt auch nix." Er zog einen dünnen Band aus seinem Fundus, reichte ihn an. "Dieser Stempel da, sagt der dir was?" Erwartungsvoll blickte er zu seinem Onkel hoch, der nachdenklich das Kinn massierte. "Neffe, ich ahne da einen gewissen Plan bei dir..." Kato funkelte mit patentiert stechendem Blick. Er würde den Teufel tun und Aokis Starrsinn gewähren lassen! ~~~~>#* Der alte Mann reichte Kato gerade bis zu den Ellenbogen, nippte an einer sehr abgenutzt wirkenden Teetasse mit Blumendekor und lauschte aufmerksam. Er zwirbelte einen etwas zauseligen Kinnbart, polierte die runden Gläser seiner starken Brille. "Oh, an Leute erinnere ich mich nicht so gut, aber an Bücher!" Kato verbeugte sich sehr höflich. "Bitte, können Sie mir helfen? Es ist etwas ungewöhnlich..." "Oh, gar nicht, mein Junge, ganz und gar nicht." Der Buchhändler (oder eher Antiquar) grinste, enthüllte sehr unsortierte Zähne. "Du glaubst gar nicht, wie oft diese Bände ihren Weg schon zurück zu mir gefunden haben." ~~~~>#* Es gab da diesen Spruch, über die freie Wahl der Mittel, in der Liebe und im Krieg. Manchmal konnte man diese beiden Zustände kaum unterscheiden. Kato jedenfalls dachte nicht einen Moment daran, Aoki sich selbst zu überlassen, weil er es durchaus für möglich hielt, dass der den einsamen Heldentod zu erleiden beabsichtigte. Aus reiner Sturheit! Sollte man gar nicht meinen, bei dem üblichen freundlichen, aufgeschlossenen, zuvorkommenden Auftreten... Aber Kato hielt das für eine sehr hübsche Prinzen-Fassade, die ihn nicht täuschen konnte. Überhaupt, diese Prinzen-Sache brachte ihn ja auf eine gewisse charakterliche Untiefe! Wie oft konnte man auf denselben Typus an geschmeidig-aalglatten, gutaussehenden, bumsfreudigen Prinzlingen reinfallen und TROTZDEM nicht das eigene Ideal ein wenig modifizieren?! Betriebsblindheit?! Blinder Fleck?! Überzogenes Wunschdenken?! Kato schnaubte in Erinnerung an die letzten zwei Jahre Pleiten, Pech und Pannen mit Prinzlingen, die er gezwungenermaßen aus der Distanz verfolgt hatte, fassungslos ob Aokis Beharren! Einerseits. Andererseits erklärte es, warum sich die Situation gerade so zugespitzt hatte. Aoki musste gewusst haben, dass er die Wohnung verlieren würde. Trotzdem hatte er keine Anstrengungen unternommen, wenigstens zu packen. Gut, er hatte, ausweislich der Faxe, die sich im Papierfriedhof befunden hatten, versucht zu verhandeln. Ohne Erfolg. Dann die andere Sache... Kato hatte sich gegen ein Studium entschieden, auch wenn er durchaus ansprechende Abschlussergebnisse erzielt hatte. Weitere drei bis vier Jahre auf dem Hintern hocken?! Keine Chance! Zwar hatte er nicht wie die meisten Mitschüler für die grauenhaften Aufnahmeprüfungen büffeln müssen, aber auch nicht auf der faulen Haut gelegen, sondern sich bei der großen Verwandtschaft getummelt, Kurse in der Freizeit belegt, um gut vorbereitet bei seinem Onkel in die Arbeitswelt einsteigen zu können. Daher betrachtete er sich keineswegs als Kenner der Szene für Absolventen des Studiums vergleichender Literaturwissenschaften. Nur... Wieso hatte Aoki diesen Sklavenhandel abgeschlossen?! Gut, möglicherweise sollte es zur Überbrückung sein, aber das langte doch nie und nimmer...! Was zur Entdeckung des Sparbuches führte. Jeder Japaner verfügte über eins, immer aktualisiert mit den "Pegelständen" des Sichtbestands. Schließlich gab es noch in einigen Bereichen veritable "Lohntüten" mit Bargeld! Zahlungen der Familie waren zu erwarten, Unterhalt, ganz normal. Nicht gerade üppig, das musste man zugeben. Seit mehr als einer Dekade unverändert in der Höhe. Die abrupt endeten. Der Ausbeuterjob konnte das nicht kompensieren. Aoki MUSSTE gewusst haben, dass er auf einen Abgrund zusteuerte! Und hatte den ignoriert?! Oder einfach nur seinen lästigen Verehrer nicht ins Vertrauen gezogen?! Die Alternativen, die Kato vor Augen standen, nahmen sich alle weder schmeichelhaft noch aufmunternd aus. Auf was hatte Aoki gehofft, ein Wunder?! Oder~oder stellte sich gar nicht die Frage nach Hoffnung? Grimmig blätterte Kato durch Fotos und Notizen. Vielleicht hatte Aoki ja auf einen Prinzen gehofft, der ihn aus diesem Debakel rettete. Bloß konnte man die verflossenen Prinzlinge diesbezüglich in der Pfeife rauchen! "Na schön!" Knurrte Kato entschlossen. "Ich werd nich zulassen, dass du schwachsinnigen Märchen nacheiferst!" Er begann, nacheinander die Kontakte anzuwählen. ~~~~>#* "Ja, gut, dass Sie sich melden! So viel Besuch, das ist zwar anstrengend, aber auch sehr förderlich für die Moral! Nette junge Männer und Frauen, das muss ich schon sagen! Wir haben ja hier eher ältere Semester, die freuen sich über ein bisschen mehr Pep. Ah, ja, die Kostennote haben wir bereits versandt. Ich denke, in einigen Tagen steht einer Entlassung nichts mehr im Weg. Solange jede körperliche Anstrengung streng limitiert ist, können wir gute Aussichten für eine vollkommene Genesung prognostizieren." ~~~~>#* Kato hatte Übung, keine Frage, insbesondere auch als Profi. Das hier jedoch war persönlich, ganz gleich, wie oft er das kleine Einzimmerappartement betreten, sich umgesehen hatte. Einige Freunde von Aoki waren vorbeigekommen, ebenfalls zu assistieren. Kato hatte sie nicht vorher eingeweiht, damit sie sich bei den Krankenbesuchen nicht "verquatschen" konnten. Ihre Besuche hatten dafür gesorgt, dass Aoki sich mustergültig brav verhalten musste, keine Dummheiten begehen konnte, weil er dazu viel zu ausgelaugt war. Ein Blick in die Runde verriet Kato auch noch mehr über die Vergangenheit seines widerspenstigen "Dates". Bis auf den sehr entfernten Cousin, einen Oberschüler, waren alle Freunde Aokis drei oder vier Jahre älter als er und Kato. Freundlich und Anekdoten memorierend räumten sie den "Papierfriedhof" nach Anweisung des Buchhändlers aus. Der kannte offensichtlich den Lehrkanon und die Pflichtlektüre-Listen auswendig, würde die gebrauchten Bänder für sehr kleines Geld erneut in Umlauf bringen. Kato hatte ihn jedoch gebeten, die Bände auszusparen, von denen der alte Mann annahm, dass Aoki sie vermissen würde. Es hieß ja nicht umsonst, dass Bücher wie gute Freunde waren. Aoki würde jedenfalls ihren Trost zu schätzen wissen. Und ihm vielleicht verzeihen, dass er Fakten schaffte. ~~~~>#* Kapitel 3 Zehn Tage nach seinem Zusammenbruch stand Aoki auf unsicheren Beinen. Er musste sehr langsam gehen, durfte keine größeren Strecken erzwingen. Anweisungen, Rezepte, Medikamente, Kontrolltermine... Eine "Armbanduhr", die seinen Pulsschlag ständig auswertete, Alarm schlug, wenn er sich außerhalb des gesunden "Korridors" bewegte. Ein grässlicher Aufstand, und wofür?! Eine der ehrenamtlichen Seniorinnen nahm seine Tasche hoch. "Ah, danke, die nehm ich." Stellte die sonore, raue Stimme mit Oosaka-Akzent unerbittlich fest, kaperte auch gleich noch Aokis Pinguin. "Ich bin mit dem Transporter da. Schaffst du es bis zum Parkplatz?" Aoki blickte auf den polierten Fußboden. "Habe ich denn eine Wahl?" Kato beugte sich zu ihm runter. "Ich kann dich auch vor den Augen der netten Dame hier bewusstlos knutschen und über die Schulter werfen." Kein Szenario, das Aoki für vollends ausgeschlossen hielt. Deshalb setzte er sich langsam in Bewegung, auch wenn eine matte Stimme in seinem Hinterkopf sich fragte, warum er sich der Mühe unterzog. ~~~~>#* "Ich hab deine Klamotten hier untergebracht. Dein Bettzeug ist hier." Kato führte die Umgestaltung seiner Souterrain-Wohnung (ohne Fenster und Tageslicht) vor. "Die Bücher sind noch im Karton, bis mir was Schlaues einfällt. Im Bad, hier, hinter der Schiebetür, hab ich deine Sachen dazugestellt." Alles für ein Leben zu zweit arrangiert. Aoki, der auf dem Bett lag, seinen Pinguin umarmend, blinzelte erschöpft. "Also, das ist jetzt dein Zuhause, okay? Wenn du irgendwas vermisst, frag mich, ja? Wir können auch umräumen, kein Problem!" Verströmte Kato entschlossen Optimismus und Energie. Aoki so still und wehrlos zu erleben behagte ihm gar nicht. Zugegeben, der neigte nicht zu Attacken, zum Aufbrausen, zur Polterei, aber Verärgerung ließ er durchaus erkennen. Wenn auch verbindlicher, moderater (die Ohrfeige bei Chiharu stellte in dieser Hinsicht eine Premiere dar). "Mit der Praxis drei Straßen weiter habe ich ausgehandelt, dass sie täglich deine Werte aufnehmen. Da wissen wir, ob wir noch mal in die Klinik müssen, oder ob es gut vorangeht. Ach ja, du musst nichts machen, sollst dich ja schonen, also sind die Hausarbeiten erst mal meine Domäne. Kulinarische Wünsche werden übrigens gern entgegengenommen!" Obwohl Kato Zweifel hegte, dass Aoki bereits wieder Appetit entwickelte. Zudem, das hatte er ja vorher schon in Erfahrung gebracht, schien Aoki mehr der Esser aus Notwendigkeit-Typ zu sein. Er ließ sich auf der Bettkante nieder, betrachtete das bleiche Gesicht. "Wenn du schlafen willst, nur zu. Alles in Ordnung." Verkündete Kato, küsste die Stirn zwischen den stumpf wirkenden, mittig geteilten Strähnen. Aokis Lider flatterten, senkten sich final. Schonung, keine Aufregung, nur sehr moderate Anforderungen an die Leistungsfähigkeit, lauteten die medizinischen Gebote. Pünktlich und sorgsam die Medikamente einnehmen, damit Aokis Herz sich wieder ganz erholte. Mit dem niedrigen Blutdruck hatte der schon genug Herausforderungen zu meistern! Sich geschmeidig erhebend blitzte Kato auf die dünne Gestalt herunter. Um die Einhaltung der Regeln würde er sich selbst kümmern, aber hallo! Weil...trotz aller Schwierigkeiten.... Dorn-José einfach sein Typ war.... ~~~~>#* Schlimm hatte es schon vorher gestanden, stellte Aoki fest, die Beine vor den Leib gezogen, auf der Seite liegend, den Pinguin umarmend, damit er nicht das Appartement sehen musste. Gekündigt. Mieser Job, der ihm jede Begeisterung für Literatur austrieb. Kaum Schlaf, nur Arbeit, Stress, unregelmäßige Einnahme seiner Medikamente, erheblich reduzierte Mahlzeiten. Pleite. In Bälde obdachlos. Körperlich vollkommen erledigt... noch bevor er zusammengebrochen war. JETZT war es schlimmer, schuldete er...wie viel Geld? Nicht mal das konnte er erfragen. Spielte auch keine Rolle, weil er nicht in der Lage war, am Erwerbsleben teilzunehmen. Nur durch die Mildtätigkeit und perfides Geschick gerettet. War das wirklich eine Rettung? Aoki fühlte sich nicht nur schwach, sondern auch unbehaglich. Fremd in diesem Keller-Appartement, das "ihr" Zuhause sein sollte, aber nicht war. Wie ein überfälliger Gast kam er sich vor. Selbst vertraute Gegenstände aus seinem Besitz wurden fremd, unpersönliche Objekte. Alles nahm eine große Distanz ein. Fragen vor jeder Aktion, sich artig bedanken, ständig Hilfe annehmen müssen, beim Waschen, beim Umziehen, beim Essen... Die einzige Freiheit bestand darin, im Schneckentempo den Weg zur Arztpraxis zurückzulegen. Erst Messungen, danach Einnahme der Medikamente, die ihn runterbremsten, in einen dumpfen Zustand der Gleichgültigkeit versetzten. Sie ließen gegen Mitternacht nach, wo er, der hauptsächlich im Bett vegetierte, ohne Antrieb, ohne Energie, ohne Ziel und Willen, wach lag, Schlaf vortäuschte, seinem Gastgeber strikt den Rücken zukehrte, sich unbehaglich fühlte, am liebsten ausgebüchst wäre. Was nicht ging, selbstredend. Das war ein einziger Horror. Wieso~wieso?! Es sollte doch irgendwie, nun, angenehm sein! Mit einem festen Partner unter einem Dach! Danach hatte er doch all die Jahre gestrebt?! Zugegeben, es sollte ein Prinz sein, was Kato ausschloss, aber... Aber Aoki fühlte sich grässlich. Nicht, dass ihm Arges drohte, ganz sicher nicht, da hielt sich Kato perfid ehrenhaft an die eigene Zusage! Dennoch. Zu allem um ihn herum wuchs eine unsichtbare, aber merkliche Distanz. Das war nicht sein Zuhause. Das war nicht sein Leben. Das funktionierte nicht. Er hatte sich geirrt. Die Sache mit dem Happyend würde für ihn nicht wahr werden. ~~~~>#* "Ah, Neffe, bist du im Obergeschoss fertig?" "Onkel? Was tust du hier? Ja, gerade alles verstaut." Kato glitt elastisch die sehr schmale, offene Wendeltreppe herunter, ein enges, hohes Gebäude, zwischen zwei Mehrfamilienhäuser bis auf den Brandschutzabstand eingepasst. "Da hat jemand für dich angerufen, von der Praxis. Offenbar ist dein Schatz dort nicht aufgeschlagen." Erschrocken tastete Kato nach seinem Mobiltelefon. Kein verpasster Anruf oder eine ungelesene Nachricht erwarteten ihn. Eilig bimmelte er durch. Jeden Morgen kontrollierte er den Ladezustand des Akkus, wenn er Aoki Kleider rauslegte. "...Aoki? Hörst du? Geht es dir gut? Hast du den Termin heute verschlafen? Dann nimm wenigstens jetzt die Medikamente!" Er konnte nur hoffen, dass sein Appell durchdrang. "Stimmt was nicht?" Die große Hand des Onkels auf seiner Schulter erdete Kato ein wenig, der gerne explodiert wäre, obwohl er doch gemeinhin als gelassen und souverän galt. "Ich bin nicht sicher. Aoki ist...na ja....apathisch. Er soll sich ja ausruhen, aber mir kommen so langsam Zweifel." Grimmig rieb er sich über den Nacken. "Ist besser, ich fahre kurz vorbei und sehe nach dem Rechten." ~~~~>#* Man hätte annehmen können, dass Aoki einfach schmollte, deshalb nicht redete. Kato ließ sich vom Augenschein nicht täuschen: die Beutel standen noch da, gefüllt mit nahrhaftem Gelee zum Lutschen, angeblich weniger anstrengend als konventionelles Speisen mit Besteck, Geschirr und Kauen. Es wirkte auch nicht so, als hätte Aoki überhaupt das Bett seit dem Vortag verlassen. Die Kleider waren unangetastet. Nur die Medikamente hatte er wohl geschluckt. Sein Blick ging einfach ins Leere. Kato entzog den Pinguin der losen Umklammerung, hievte Aoki in eine sitzende Haltung, gegen die eigene stabile Statur gelehnt. "Aoki, was ist los? Wieso isst du nichts, hm? Und Durst musst du doch haben." Eine Antwort wurde ihm nicht zuteil. Aoki wirkte abwesend. Wie eine Puppe, ohne eigenen Willen, ohne merkliche Reaktion auf seine Ansprache. Nicht mal die Abwesenheit des Pinguins schien ihn zu tangieren. "...verdammt." Wisperte Kato rau, legte Aoki behutsam ab, der sich nicht mal mehr in die gewohnte fötale Haltung zusammenrollte, von ihm abwandte. Vielleicht irrte er sich ja? Darauf wollte er nicht setzen. ~~~~>#* "Gut, dass Sie vorbeigekommen sind. Das wirft uns jetzt wieder etwas zurück." Kato blickte auf den behandelnden Arzt herunter, kämpfte gegen einen Groll auf das Schicksal an. Wieso mussten sie wirklich ALLE Komplikationen mitnehmen?! "Depressive Verstimmungen, kommt nicht so häufig vor. Wir können das noch nicht vorhersagen, schwierig, und ohne die Medikamente... Nun ja, wir haben noch eine andere Kombination, die funktionieren könnte. Allerdings muss die Ernährung überwacht werden." Es sollte kein Vorwurf sein, durchaus nicht, trotzdem rang Kato eine scharfe Replik mühsam herunter. Ja, er hätte gern Aoki rund um die Uhr im Auge behalten, aber er musste nun mal arbeiten, konnte ihm auch nicht die blöden Beutel mit Gewalt eintrichtern! Nein, es gefiel ihm auch gar nicht, wie zerbrechlich und beinahe ausgemergelt Aoki wirkte! Dass dessen Körpergröße das mangelnde Volumen bei der Dosierung der Medikamente unvorteilhaft beeinflusste. Er wusste ja selbst, wie erschreckend leicht und auch rücksichtslos gegen sich selbst Aoki beschaffen war. "Also eine stationäre Unterbringung?" Brachte er selbstbeherrscht hervor. "Es gibt da eine Möglichkeit. Nicht hier, um das klarzustellen. Sehen Sie, es kommt recht häufig zu Belastungsstörungen nach einem massiven Kollaps. Zeitverzögerte Schockzustände sozusagen. Todesangst, Panikattacken, Akzeptanzprobleme der veränderten körperlichen Disposition. Ich frage einfach mal nach, ob eventuell ein Platz verfügbar ist. Dann können Sie immer noch eine Entscheidung treffen." Kato nickte, verbeugte sich höflich. Wahrscheinlich stellte es die einzige verlässliche Möglichkeit dar, Aoki zu helfen. Nicht nur die Medikation musste neu erprobt werden, man musste ihn auch überwachen, zum Essen anhalten, zur Bewegung. Dazu, sich zu erklären, mitzuteilen, was alles auf sein Gemüt drückte. Kato ballte die Fäuste. Es tat körperlich weh, dass Aoki ihn einfach nicht ins Vertrauen ziehen wollte. ~~~~>#* Kato transportierte Aoki so zum Mini-Bus, wie er es bei der Einlieferung getan hatte: auf den Armen. Eine Marionette ohne Fäden, eine Puppe ohne Aufziehschlüssel, zusammengesackt, viel zu leicht für die Körpergröße. Er schnallte Aoki umsichtig an, holte das Gepäck samt Pinguin, verstaute alles auf den Sitzen. Man musste sich glücklich schätzen. Aoki war reisefähig UND sie hatten einen Platz bekommen. Zwei Stunden Fahrt in einen Vorort, ein Gebäude wie ein Hohlbaustein, nicht sehr einladend, führend bei der Nachbehandlung von Herzkreislauferkrankungen und damit verbundenen psychischen Störungen. Betreuung in unterschiedlichen Disziplinen, therapeutische und krankengymnastische Angebote, dazu Kurse in diversen Diäten (Krankenkost). Kato setzte sich hinter das Steuer, warf einen Blick auf seinen Passagier. Es würde wohl eine sehr ruhige Fahrt werden. Wie sein Stoffpinguin sprach Aoki mit niemandem mehr. ~~~~>#* Kato arbeitete gewissenhaft jeden Auftrag ab, holte auf, was er versäumt hatte, wollte nicht zurückkehren in sein Appartement, das mit Aokis Habseligkeiten doch ohne ihn selbst trist wirkte. Mit dem Therapiezentrum gab es eine bindende Vereinbarung: Kontakt in der ersten Phase nur bei Notwendigkeit. Das bedeutete explizit keine digitalen Nachrichten, Anrufe oder ähnliches. Man hatte ihn wissen lassen, dass die neue Medikation anschlug, dass der Patient sich auch wieder aktiv bewegte, dass die Werte erfreuliche Trends einläuteten. Schön und gut. Nur: er vermisste Aoki. So schlicht und einfach verhielt es sich, selbst wenn der ihn auf die Palme brachte, so unglaublich stur und geheimniskrämerisch agierte! "Was du brauchst, Neffe, ist ein Besuch in einem heißen Bad." Bestimmte sein Onkel aufgeräumt, keinen Widerspruch duldend. Zudem befand sich Kato in keiner Situation, die Opposition erlaubte. Die Rechnungen für Aokis Behandlung summierten sich. Da sah er ganz schön alt aus! "Schau nicht so kariert, sonst bleibt das noch hängen!" Neckte ihn sein Onkel grinsend, wedelte auf Zehenspitzen über Katos Irokesenkamm. Kato grimassierte seufzend. "Ich hab gehofft, es würde nich ganz so dramatisch." Fasste er die letzten Entwicklungen zusammen. "Na, na, Kopf hoch, Brust raus! Das wird schon. Bis jetz is doch alles in Butter!" "Ja, sagte der Mann beim Sturz vom Hochhaus, während er am 11. Stock vorbeiflog." Grummelte Kato im Rückzugsgefecht. "Ich seh schon, ein Bad reicht nich! Eintopf! Das gibt Muckis und hebt die Laune!" Außerdem konnte Kato sich im Kreis der Kollegen wohl kaum so miesepetrig zeigen. ~~~~>#* [Hallo, Kato. Es geht mir besser und ich darf Besuch empfangen. Hast du am Sonntag Zeit? Es wäre schön, wenn du auch das Kitschigste mitbringen könntest, das dir beim Gedanken an mich einfällt. Bitte entschuldige, dass ich dir so zur Last falle. Aoki.] ~~~~>#* Kato stellte den Roller ab, der tapfer (ohne Beladung) die Strecke absolviert hatte. Er fasste das Furoshiki am Knoten, hielt auf den Eingang zu. Aoki befand sich jedoch nicht etwa im Zimmer, sondern auf dem Dachgarten. Mit Topfpflanzen begrünt und mit Sitzgelegenheiten ausgerüstet empfing Kato ein mit Netzen und Zäunen umspanntes Areal. Die Sonne blinzelte durch bauchige Wolken. Eine leichte Brise wehte dezent salzige Luft vom Meer her. Aoki saß auf einer schmalen, schlichten Holzbank, erhob sich vorsichtig, als Kato sich bemerkbar machte, trug noch immer, wie der gleich erkannte, die "Messuhr" am dünnen Handgelenk. "Hallo. Danke, dass du gekommen bist." Man hätte linkisch ebenso antworten müssen, das Furoshiki schwenken, zum Auspacken auffordern. Kato schob seine Manieren grob beiseite, überwand die gesellschaftlich angezeigte Distanz, zog Aoki in seine muskelbepackten Arme. "Ich hab dich vermisst." Vertraute er rau dem mehrlagig verpackten Nacken an. Er erwartete keine Antwort, auch keine ebenso innige Umarmung, trat brav einen Schritt zurück, reichte das Furoshiki an. "Das Kitschigste....na ja, ich weiß zwar nicht, warum?" Er zuckte mit den imponierenden Schultern, ließ Aoki auspacken. Der wickelte aus dem traditionellen Stofftuch ein Sweatshirt mit Känguru-Beuteltasche und Kapuze, Flamingo-farben mit weißem Aufdruck. Ein gerade höchst angesagtes Lama mit wildem Beatles-Pony-Haarschnitt, Herzchen-Sonnenbrille. Untertitel: Pretty perfect! Peace! Eine gleichfarbige Sonnenbrille mit Herzchen-Rahmen hatte Kato ebenfalls auf einem Flohmarkt aufgetan. Vermutlich würde er nun ordentlich die Meinung gesagt bekommen... "Oooooh, das ist wirklich perfekt! Vielen Dank!" Aoki lächelte, wirkte tatsächlich erfreut, streifte sich das Sweatshirt gleich über sein dünnes Hemd, setzte die Sonnenbrille auf den Oberkopf, dabei seine langen Strähnen hinter die Ohrmuscheln bannend. Kato schmunzelte verhalten. Er kannte wirklich keinen anderen jungen Mann, der sich in SO EINEM Aufzug lächelnd bedankt hätte. Ja, diesbezüglich erwies sich Aoki eben als Prinz! Der soeben mit einer Geste einlud, sich neben ihm auf dem Bänkchen niederzulassen. Er klappte eine kleine Gummizug-Mappe auf, die zuvor neben ihm auf dem Sitzplatz gelegen hatte. "Ich möchte dir gern etwas erzählen, Kato. Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich muss es tun, weil ich weiß, dass ich dir Erklärungen schulde. Das, was ich möchte, kommt ganz am Schluss." ~~~~>#* Kato nahm Platz, registrierte die Distanz, Aokis Körperhaltung, sehr aufrecht, angespannt, strikt geradeaus blickend, die eleganten Hände, die sich an der Mappe festhielten, die feinen Züge des oval geschnittenen Gesichts kontrolliert, ernsthaft. Das erste Mal, dass er DIESEN Aoki sah. Nicht den attraktiven, zugänglichen Prinzen und Traum-Schwiegersohn, nicht den sturen, abweisenden, ihn heimlich fürchtenden Gleichaltrigen. Der mehrmals tief Luft holte, Anlauf nahm. »Da muss ich jetzt durch!« Ermahnte Kato sich stumm, auch wenn ihm vermutlich Einiges so gar nicht gefallen würde. ~~~~>#* Aoki strich kurz über den aufgesetzten Känguru-Beutel des Sweatshirts, schmunzelte verhalten, weil die vorausgesagte Wirkung tatsächlich eintrat. "Danke, dass du dir die Mühe machst und hierher kommst. Und vielen Dank für diesen Kapuzenpullover und die Sonnenbrille! Sie sind wirklich perfekt." Er hielt sich dazu an, die verspannten Schultern zu senken, sonst verhakten sich seine bunten Ohrstecker auch wieder in dem gewaltigen Dreieckstuch, das er umgelegt hatte. "Es hat drei Tage gedauert, bis ich wieder gesprochen habe. Nicht, weil ich es nicht konnte oder weil die Medikamente meinen Verstand vernebelt haben. Nein, ich habe einfach keine Veranlassung mehr gespürt, mich zu äußern. Zu irgendwas." Er strich mit den Daumen über die Gummizug-Mappe in seinen Händen, blickte jedoch geradeaus. "Ich bin hier in Therapie. Ein Ansatz ist, Bilder zu zeigen, ganz unterschiedliche, bis es irgendwo beim Betrachten Klick macht. Um wieder Kontakt herzustellen mit der Welt draußen." Aoki räusperte sich leise, konzentriert. "Dazu gehört auch diese Aufgabe hier. Mit dem Kitschigsten, das eine wichtige Person mit einem selbst in Verbindung bringt. Damit man~damit ich mich befreien kann." Er klopfte sich knapp mit den Handrücken auf die dünnen Oberschenkel. "Aber ich zäume das Pferd von hinten auf! Dabei muss ich vorne beginnen, also... Da war ein Bild, das mich angesprochen hat. Ein Mensch, vollkommen umschlossen von Gewitterwolken. Wie dicke, graue Wattebäusche, aber ganz grob und ungekämmt. Wie Putzwolle oder Dämmmaterial, verstehst du?" Einen Seitenblick riskierend streifte Aoki Katos Blick, der sich ihm zugewandt hatte. Rasch orientierte er sich wieder geradeaus. "Das~das war ich. Wie diese Person im Bild. Die Therapeutin schlug mir vor, meine Wolken darzustellen, die mich von der Welt abschotten, die mich ganz gleichgültig gemacht haben." Aoki zupfte aus der Gummizug-Mappe aus grober Pappe ausgeschnittene Wolken. Einen nicht geringen Stapel. "Wenn ich nicht sprechen könnte, wäre es ja möglich, sie zu beschriften. Eigentlich geht es ja um den Dialog mit mir selbst." Ein rascher Seitenblick, ob Kato auch folgen konnte, trotz Auslassungen, ohne ausführliche Erläuterungen zur Strategie dieser Behandlung. Aoki atmete tief durch. "Da habe ich angefangen, die Wolken zu taufen. Manche folgen mir schon ein Leben lang. Mit jeder Wolke, über die ich nachgedacht habe, wurde mir vieles bewusst, das dafür gesorgt hat, dass ich in diesem Wolkenfeld verschwunden bin." Er sortierte die Papp-Wolken wie ein Kartenspiel, den Kopf gesenkt, richtete sich entschlossen auf, schob den Stapel zusammen. "Ich fange vorn an. Mit der ältesten Wolke. Und entschuldige bitte, es ist nicht gerade eine schöne Geschichte." Aoki holte tief Luft. "Ich bin ein ungewolltes und unerwünschtes Kind. Die Frau, die mich zur Welt brachte, habe ich nicht kennengelernt, bis heute nicht. Über den Mann, der mich zeugte, weiß vermutlich niemand etwas. Ich habe keine Familie." Er seufzte leise. "Meine, nun, biologisch gesehen, Mutter, hatte wohl damals in der Studienzeit ein Alkoholproblem. Nach dem Abschluss einer sehr strengen Schule hat sie die Freiheit nicht so gut vertragen. Es gibt wohl auch genetische Prägungen, die ziemlich schnell eine Abhängigkeit zulassen, wo eine Sucht sehr rasch eintritt. Jedenfalls steckte ihre Familie sie in eine Entzugsklinik. Sie muss entwichen sein, und als man sie fand, stockbetrunken, wollte die Leitung natürlich nicht, dass die Familie etwas erfuhr. Dass sie auf ihrem Freigang nicht nur getrunken hat, sondern auch geschwängert wurde, fiel zunächst niemandem auf. Man konnte es allerdings nicht mehr wie geplant vertuschen. Hätte man sich damals nicht über die Kosten gestritten, gäbe es mich gar nicht, weil die Abtreibung durchgeführt worden wäre. So zog sich alles in die Länge, bis man sich zähneknirschend außergerichtlich einigte. Die Klinikleitung musste die Kosten für meine Unterbringung übernehmen. Die Familie hatte meine Lebenskosten zu stemmen." Aoki strich über den Papp-Wolken-Stapel. "Von Anfang an bin ich in Pflegeeinrichtungen gewesen, nicht in einer Familie. Tagsüber vom ersten Türöffnen bis zum Abschließen im Kindergarten und Kinderhort, dann in der Schule. Danach ging es zum Schlafen zu Pflegestellen oder in Pensionen. Auch wenn mir irgendwann klar wurde, dass das nicht normal war, habe ich mir gesagt, dass es nur für eine gewisse Zeit ist. Bis alles besser wird." Er seufzte. "Es wurde allerdings bloß anders. Ich musste begreifen, dass es für mich keine Familie gibt. Nach dem Ende der Grundschule hieß es durch die Kanzlei, ich müsse hierher ziehen, nach Tokio, wegen des Appartements, das sie günstig bekämen. Meine Meinung war gar nicht gefragt oder wie elend mir war, hier ganz allein zu stranden, nicht mal in einer Pension, sondern allein. Aber mit zehn Jahren sollte man das ja wohl auf die Reihe bekommen, nicht wahr?" Er lächelte bitter. "Außerdem stellte sich heraus, dass ich mich damit abfinden musste, zu niedrigen Blutdruck zu haben, absackender Kreislauf, immer eine Niete beim Sport, von Medikamenten abhängig. Von wegen 'das wächst sich aus'. Jedenfalls war mir furchtbar elend zumute, aber ich wollte nicht, dass jemand etwas merkt und ich auch hier zur Zielscheibe werde." Ein entschlossener Zug prägte sich um Aokis Mundwinkel. "Also dachte ich mir eben aus, dass ich so was wie ein Diplomatensohn bin, auf Heimat-Mission. Ich habe meine Basis, das Appartement und ich bin so souverän, dass ich alleine die Burg halten kann. Ich brauche keine Eltern in der Nähe, ich habe alles im Griff." Aoki lächelte über sein jüngeres Ich. "Das hätte eigentlich schiefgehen müssen, aber da waren die Jungs und Mädels in der Nachbarschaft, die Enkel vom Ladenbesitzer um die Ecke. Die bekamen natürlich mit, dass ich immer allein einkaufte, morgens ganz früh zur Schule ging und abends als Letzter quasi nach Hause. Sie waren alle älter als ich, aber sie haben mich adoptiert, nicht zugelassen, dass man mich hänselt." Er lachte leise, in Erinnerung. "Sie sind morgens gekommen, um mich aus dem Bett zu holen, wenn mein Kreislauf mal wieder ungezogen war. Beim Schulsport tauchten sie auf, sammelten mich ein, wenn ich nicht mehr konnte. Die doofe Rasensprengerei haben sie nicht zum Spott genutzt, sondern mich einfach angenommen, mir geholfen, vieles beigebracht, was ich ohne Familie, ohne Eltern nicht wusste, nicht gelernt hatte. Ich bekam sogar Essen von Ex-Freundinnen, Tipps für günstige Kleider oder Schuhe. Das war wirklich ein Wunder. Ein echtes Märchen." Aoki seufzte versonnen. "Ich habe dazugehört trotz des Altersunterschieds. Und ich wollte ja auch klarkommen." Den Blick senkend sortierte er Papp-Wolken. "Es fühlte sich so an, als wäre ich gleichaltrig. Bis zu einem gewissen Grad." Er zögerte, straffte sich dann merklich. "Ich hatte das erste Mal mit Dreizehn Sex und war eigentlich nicht bereit. Dabei kann ich ihm keinen Vorwurf machen, ich gehörte ja zur Clique, alle waren neugierig, dann noch die Hormone. Damals habe ich zwei Dinge gelernt: erstens, es ist keine große Sache, wenn man nicht zulässt, dass es eine große Sache ist und man kann durchaus gefällig sein, wenn keine Gründe für eine Ablehnung sprechen. So gesehen konnte ich Chiharu gut verstehen, weil ich ähnlich gedacht und agiert habe. Zweitens habe ich erkannt, dass mein schwächlicher, leistungsarmer Körper doch einen Nutzen hat, mit Geschick, Übung und manchmal chemischer Unterstützung. So ein ganz hoffnungsloser Fall bin ich also doch nicht. Dachte ich damals." Aoki legte einen Teil der Wolken in die Gummizug-Mappe zurück. "Das sind die Wolken, die mich begleitet haben. Dann kamen jedoch weitere dazu. Die haben mich dann vollkommen umzingelt." Er holte tief Luft, erzeugte ein rasselndes Geräusch, das auf eine enge Kehle hindeutete, schluckte mehrfach. "Ich habe natürlich gewusst, dass meine Schonfrist abläuft, mit der Miete und den Lebenshaltungskosten. Dass man den Bastard der versoffenen Schlampe endgültig loswerden will. Es ist ganz sicher nicht geplant gewesen, dass Takafumi Kontakt mit mir aufnimmt, obwohl wir nur sehr, sehr, sehr weit entfernt verwandt sind. Aber der Bursche hat wirklich seinen eigenen Kopf! Ich habe meinerseits auch keine Anstrengungen unternommen, weil ich Angst hatte, dass die Vereinbarungen platzen. Wenn man sich bedeckt und unauffällig verhält, zwingt man ja niemanden, einen zur Kenntnis zu nehmen. Selbst in schwierigen Zeiten." Die Papp-Wolken sortierend las Aoki die Schriftzeichen ab. "Prämie für die Krankenversicherung nicht mehr gezahlt: das lag daran, dass nach dem Schulabschluss die Höhe exorbitant gestiegen ist. Ich hätte auch nicht wechseln können, weil 'chronisch krank', da schlagen sie gleich zu. Mir blieb bloß die Wahl, entweder die Medikamente kaufen zu können oder die Prämie zu zahlen. Ich habe einfach gehofft, dass nichts passiert." Er seufzte. "Gekündigte Wohnung: ich wollte verhandeln, aber es ging der Kanzlei nicht ums Geld, was ich nicht gleich begriffen habe. Ich vermute, dass die Wohnung jemandem aus der Klinikleitung gehört. Die wollten sich einfach endgültig von dieser Sache verabschieden." Er legte eine weitere Wolke ab. "Der Job: das ist...ich HABE nach Arbeit gesucht nach dem Abschluss der Prüfungsarbeiten. So viele Verbindungen hatte ich allerdings nicht, weil ich nie gejobbt habe während des Studiums. Weil ich einfach....ich habe es körperlich einfach nicht geschafft. Da wollte ich wenigstens den Abschluss hinlegen. Ich kann nicht mit nur zwei Stunden Schlaf pro Nacht auskommen, Nachtschichten im Supermarkt übernehmen oder Kurierdienste. Als ich mich nun beworben habe...na ja, für die Behindertenquote reicht es nicht, aber chronisch Kranke wollen sie auch nicht, obwohl ich ja gut eingestellt bin und durchaus arbeiten kann!" Aoki schnaubte frustriert. "Also, ich brauchte das Geld und ich wollte arbeiten, wenn auch nicht so. Es war fürchterlich, aber unter dem Zeitdruck, mit den Kollegen... Irgendwann war ich im Hamsterrad gefangen: bloß durchstehen, die Termine einhalten, irgendwie weitermachen. Man kommt gar nicht mehr zum Nachdenken oder zum Essen, zum Schlafen. Bis mir die Medikamente ausgegangen sind." Er sortierte eine weitere Wolke auf den Stapel. "Die Bürgschaft: ich war enttäuscht. Als ich wieder bei Verstand war, im Krankenhaus, weil die Lage so ausweglos war, weil es bloß noch schlimmer wurde, weil ich für andere kein Ballast sein will, nicht der lästige Bastard der versoffenen Schlampe." Langsam legte Aoki die Wolke ab, drehte die nächste hin und her. "Ich war wütend. Im Rahmen meiner schwächlichen Konstitution. Ich wollte nicht mehr, also habe ich versucht abzuhauen, in der Hoffnung, dass ich umfalle und dieses Mal keine Hilfe kommt." Ein ungemütliches Schweigen breitete sich bleischwer aus. Eine Wolke hielt Aoki jedoch noch in seiner Hand. Sie trug einen Namen. Er holte mehrfach tief Luft, unterdrückte ein nervöses Keuchen. "Das ist wirklich schwierig! Trotz Kitsch, puh! Aber Kneifen gilt nicht! Also... Ich wollte einen festen Freund haben, einen Prinzen, damit ich doch noch dieses Happyend aus dem Märchen bekomme: 'und sie lebten glücklich und froh, und wenn sie nicht gestorben sind'. Also habe ich gesucht, war gefällig und aufgeschlossen und unternehmungslustig. Dann kamst du. Es ist gar nicht so gelaufen wie vorher. Das hat mich aus dem Konzept gebracht und verunsichert. Allerdings stand ich ja im Wort. Du hast dir solche Mühe gegeben und... Ich habe dir nie gesagt, dass ich dich mag. Ich habe dir nichts über mich erzählt oder deine Hilfe erbeten. Nun überschlugen sich die Ereignisse und du hast mich zu dir geholt. Du hast so viel gemacht, bist so großzügig... und ich fühlte mich unbehaglich. In der Wohnung zu sein war erstickend. Ich habe, wenn die Medikamente nachließen, so getan, als würde ich schlafen, aber am Liebsten wäre ich weggelaufen. Ich kam mir vor wie ein ungebetener Gast, gezwungen, stets höflich zu sein und manierlich und..." Aoki kämpfte mit sich, zwang sich Haltung auf. "Jedenfalls habe ich da, als ich nur noch herumlag, etwas begriffen: dass ich~dass ICH das Problem bin. Dass es kein Happyend geben wird, dass ich gar nicht mit einem anderen Menschen zusammenleben kann, nicht mal nebeneinander schlafen, wenn ich nicht total erledigt bin. Ich fühle mich ständig bedrängt. Also, was soll mir da noch für mein Leben bleiben?" Er legte die letzte Wolke in die Mappe, räusperte sich gepresst. "Tja, das sind meine Wolken. Auch ohne die Nebenwirkungen läuft es auf eine klinische Depression hinaus. Zur Therapie gehört es nun, dass~dass man sich vorstellt, wie es ohne die Wolken wäre, wie eine lebenswerte Situation aussähe." Aoki schluckte schwer. "Also~also dachte ich darüber nach, mir fiel aber nichts ein. Ich brauchte...hartnäckige Fragen..." Er wischte sich über die Wangen. Dieses Mal quollen nicht die üblichen Tränen hervor. Nein, dieses Mal wollte er heulen, um den Schmerz zu kompensieren. "Na ja, das Wetter wäre nicht so wichtig, aber ich wäre gern draußen, mit frischer Luft. Vielleicht im Grünen. So wie im Park beim Schrein. Das wäre echt toll, aber..." Aoki schluchzte. Die mageren Schultern zuckten. "Aber ich wäre dort allein. Und ich will nicht allein sein! Aber wie~wie soll ich denn...aus den Wolken...?! Und~und ich dachte...vielleicht...wenn du~du auch da wärst..." ~~~~>#* Kapitel 4 Kato hielt es nicht länger aus. Ihn würgte es im Hals. Das war schon starker Tobak! Er wandte sich herum, zog Aoki einfach in seine Arme, hielt ihn fest umschlungen. "...bin da. Bin DA!" Auch wenn seine Gefühle wohl nicht erwidert wurden, wenn Aoki bloß aus Dankbarkeit gefällig war, sich in seiner Gegenwart erstickt und bedrängt fühlte. Ihm wirklich NIE gesagt hatte, dass er ihn auch mochte. Das tat weh. Bis ins Mark. Allerdings konnte er gar nicht anders als Aoki beizustehen. Auch daran gab es keinen Zweifel. ~~~~>#* Die Offenbarungen hatten Aoki sichtlich erschöpft. Kato fasste ihn behutsam unter, stützte ihn leicht auf dem Weg zum Zimmer tiefer in dem hässlichen Zweckbau. "Entschuldige, dass ich dir das alles zugemutet habe." Aoki lächelte fahl, die Augen gerötet. Sich auf der Bettkante niederlassend nahm Kato seine Hände. Sie waren eisig kalt, was ihn nicht wunderte angesichts des niedrigen Blutdrucks und des langen Sitzens auf der Bank. "Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich bin dankbar, dass du mir alles erzählt hast, auch wenn ich ein wenig Zeit brauche, das zu verdauen." Er konnte nicht lächeln, nicht mal aus gesellschaftlicher Höflichkeit. "Es tut ziemlich weh, dass ich bei dir nicht die Gefühle wecken kann, die ich empfinde, aber ich helfe dir mit den Wolken, die wir gemeinsam verscheuchen können. Ehrensache." Kato beugte sich vor, wisperte. "Deshalb versprich mir, dass du nicht aufgibst. Lass mich hier nicht allein. Bitte, Aoki." Er erhob sich erst, als Aoki ihm kaum hörbar diese Zusicherung leistete. ~~~~>#* "Is das ne Allergie? Oder Feinstaub?" Kato, der am Sonntagabend an der Logistik-Software werkelte, blickte kurz auf. "...nein. Ich hab geheult." Bekannte er halb trotzig, halb gequält. "Oha." Bemerkte sein Onkel, ließ sich in Gewohnheit auf der Tischkante nieder. "Du musst nicht wie ein Verrückter arbeiten, Neffe. Wir haben das im Griff." Referierte er auf die gebürgten Außenstände für Aokis Behandlung. "Ich brauch Ablenkung. Was zu tun. Bis ich, na ja, wieder richtig nachdenken kann." Brummte Kato. Nicht umsonst galt er als gelassen, ruhig und souverän trotz jugendlichen Alters. Weil er die Fähigkeit erlernt hatte, sich aus einer brenzligen Situation herauszunehmen, sie aus der Distanz erneut zu bewerten. "Wie geht's unserem Schützling denn? Hat er wirklich das grässliche Ding übergezogen?" Hartnäckig bis dort hinaus, der Onkel! Kato seufzte. "Besser, und ja. Gefiel ihm sogar. Gehört zur Therapie." "Aber...?" Sich die Nasenwurzel massierend erwog Kato eine Antwort. Eigentlich fühlte er sich noch nicht bereit, die Lage zu analysieren, andererseits half es, sich auszusprechen. "Ich hab einige hässliche Wahrheiten erfahren. Und stehe quasi immer noch im Startblock. Was so ein klein wenig an meinem Selbstbewusstsein kratzt." Ergänzte er selbstironisch. "Das is ne vertrackte Sache. Da kann ich schlecht was Schlaues sagen." Stellte sein Onkel ein wenig schelmisch, aber auch mit ernsthafter Absicht fest. "Deshalb is es am Besten, man schläft mal drüber. Wenn man sich vorher so richtig müd gemacht hat." Kato lupfte eine kritische Augenbraue. "Mach die Kiste jetz aus, Neffe. Gehen wir rüber, ein bisschen kicken. Arata hat ein Feld reserviert." Sich erhebend grummelte Kato. "Du willst doch bloß gewinnen, oder? Und ich muss ins Tor!" Was er dank Statur recht gut ausfüllte auf dem kleinen Feld. Der Onkel grinste. "Neffe, das is bloß die eine Seite der Münze!" Den Computer herunterfahrend warf Kato einen prüfenden Blick auf seinen Onkel. "Ach, und die andere Seite?" Vergnügt wurde ihm ungeniert erläutert. "Das is die Einladung zum Sushi-Büfett durch den Verlierer!" Ja, kein Zweifel, SEINE Familie neigte wirklich zur Pragmatik, ganz gleich, wie die Aktien standen! ~~~~>#* Sich körperlich zu verausgaben, dann nach einem leckeren Mahl und einer heißen Dusche ins Bett kriechen... Traumloser Schlaf und energiegeladenes Erwachen am nächsten Morgen. In der Summe die Zutaten, die Kato halfen, die Lage neu zu bewerten. Ja, er hatte einige Dinge bestätigt bekommen, die er geahnt hatte, unschöne, besorgniserregende Angelegenheiten. Noch mal ja, es schmerzte immer noch, aber er gab seine Liebe nicht verloren. Aoki wusste ihn offenbar noch immer nicht richtig zu nehmen, hatte IHN aber um Hilfe gebeten, ihm die Wahrheit erzählt, die Wolken offenbart. Das wog schwer. "Verdammte Hacke." Stellte Kato deshalb fest. Wie geschickt, aber auch verängstigt musste Aoki gewesen sein. Keiner der Freunde, die Kato kennengelernt hatte beim Ausräumen oder in den zwei Jahren zuvor, wusste von der Familie. Alle schienen den Eindruck zu haben, dass Aoki TATSÄCHLICH ganz autonom aus eigenem Entschluss lebte. Die Illusion überlagerte Skepsis und Zweifel. Vielleicht, weil man traditionell davon ausging, dass sich alle in der Gemeinschaft um die Kinder kümmerten, dass wegen der zahlreichen Umzüge der Väter als Angestellte oftmals Jugendliche blieben, um ihre Schulkarriere nicht zu gefährden. Weil Aoki so zugänglich, freundlich und ganz 'normal' wirkte. Dabei entsprach gar nichts an seiner Biographie dem Durchschnitt! Irgendwie auf geregelte Bahnen einzuschwenken, das würde wirklich nicht leicht! Kato räumte systematisch Wandschränke ein, auf Autopilot, während er entschlossen einen Plan entwickelte. Aoki benötigte Unterstützung, einen Wolkenschieber mindestens. Er selbst wollte, dass Aoki vor ihm keine Angst mehr hatte, nicht mehr zurückwich oder bloß gefällig war. Sich daran gewöhnte, neben jemandem zu schlafen, entspannt, sicher, geborgen, geliebt. Klare Sache: Herkules konnte schon mal packen! Hier brauchte es mehr als einen Halbgott, aber hallo! ~~~~>#* Aoki umklammerte seinen Stoffpinguin. Die drei Wochen Therapie hatten ihm wirklich geholfen, nicht nur körperlich. Auch wenn er lediglich zähneknirschend seine Schwäche angenommen hatte, die strenge Überwachung durch die Pulsuhr, die Alarm schlug, wenn er zu ungeduldig mit dem eigenen Leistungspensum wurde. Nein, er hatte auch einen breiten Strich ziehen müssen unter sein bisheriges Leben. So würde es nicht mehr sein, das war vorbei. Bloß, was nun? Die Wolken vaporisierten sich ja nicht, weil man sie entdeckt und identifiziert hatte! Ohne Katos Bereitschaft, ihm in die Wolkenberge die Hand zu reichen, säße er noch immer fest. Andererseits, mit Katos enervierender Sturheit konnte auch gerechnet werden, der einfach nicht kleinzukriegen war, höchstens mal einen Schritt zurücktrat, um mehr Anlauf zu haben! Nervös beäugte Aoki deshalb den muskulösen Gleichaltrigen mit dem Irokesenkamm, der in schwarzen Jeans und einem schlichten, ungefärbten T-Shirt für Statuen vergangener Epochen warb. Wenn nicht dieser stechend-durchdringende Blick gewesen wäre! "So, deine Sachen sind verstaut. Soll ich dir beim Einsteigen helfen?" "Nein, danke schön, das schaffe ich." Murmelte Aoki beklommen, kletterte in den Wagen mit der Form eines Toastbrots, hoch, eckig, wenig Grundfläche einnehmend, Leichtbauweise. Ein Leihwagen offenkundig. Kato faltete seine sehr ausgeprägte Gestalt auf den Fahrersitz. Es wirkte doch ein wenig wie Godzilla in einer Keksschachtel! "Ich kann die Klimaanlage anwerfen, wenn du magst." Bot er an, steuerte geübt durch den Verkehr. "Nicht nötig, wirklich! Das offene Fenster ist prima." Antwortete Aoki artig, winselte innerlich. Sie waren so höflich, distanziert zueinander, dass ihn grauste! Von diesem Unbehagen lenkte ihn allerdings das Studium der Verkehrsleitzeichen ab. "Wir fahren nicht nach Tokio?" Erkundigte er sich schließlich nervös. "Nein." Kato fischte eine schlichte Sonnenbrille ab, setzte sie auf. Das grelle Licht blendete nun doch. "Ich sag's dir gleich, damit du mich noch eine Weile auszanken kannst: wir fahren zu meiner Großtante, eigentlich Urgroßtante, ist kompliziert... na ja, Großtante Chieko jedenfalls. Aufs Land, ins Grüne, viel frische Luft. Sie führt eine kleine Pension für Wanderungen und Pilgerreisen. Vorher müssen wir aber noch meine Mutter einsammeln. Sagt, sie braucht mal Ferien. So, JETZT kannst du mich runterputzen. Nutz die Chance. Wenn meine Mutter nämlich dazustößt, müssen wir singen, weil sie glaubt, dass ihr dann nicht übel wird." ~~~~>#* Kato registrierte selbstredend das entgeisterte Starren seines Passagiers, fragte sich, ob Aoki ihn nun, dezent, ganz gelinde, kritisieren würde. Stattdessen drückte der jedoch den Pinguin noch enger, zog die Schultern unter dem üppigen Tuch bis zu den Ohren hoch. Kato seufzte innerlich. Laut entschied er sich für die Oosaka-Gorilla-Polter-Methode. "Du weißt schon, dass Weibsvolk Angst riechen kann?" Neben ihm verspannte sich Aoki, reckte jedoch trotzig das Kinn. "Ich habe keinerlei Probleme mit Mädchen oder Frauen! Bloß ist das deine Familie..." Ja~ha, genau! Weshalb Kato übertrieben schnaubte. "Exakt, Sonnenschein! Wenn die MIR ähnlich sind, hältst du es für schlau zu kuschen?!" Provozierte er grobschlächtig. Aoki ging leider jedoch nicht mit Verve auf ihn los, sondern ließ einige ungemütliche Augenblicke verstreichen. "Du hast ihnen gesagt, was mit mir los ist. Oder?" Den Polter-Modus ausschaltend riskierte Kato einen Seitenblick. "Sie wissen, dass du körperlich angeschlagen bist, dich erholen musst, um keine bleibenden Schäden zu behalten. Dass ich angestrengt versuche, bei dir zu landen, habe ich aber nicht episch breitgetreten. Niemand wird dich wie den Schwiegersohn in spe behandeln. Du bist ein Freund der Familie, Aoki. In Ordnung?" Was natürlich nicht hieß, dass sich die Mitglieder der Familie nicht ihren eigenen Reim machten. "....verstehe. Vielen Dank. Ich weiß nicht..." "Wenn du jetzt sagst, 'wie ich das wiedergutmachen kann', fahre ich links ran und schreie!" Drohte Kato grimmig. Neben ihm schrumpfte Aoki einige Zentimeter in sich zusammen. "Klapper ja nich mit den Zähnen, mein Prinz. Sonst brauchst du bald n neues Gebiss. Wir sin nämlich ne verdammt große, vielköpfige Familie!" Der arme Stoffpinguin ging in den nächsten Clinch. ~~~~>#* Aoki spürte, wie ihn das Entsetzen über diese unerwartete Volte im Nacken packte, die rasierten Härchen aufstellte, ihn lähmte. Er HATTE vermutet, es ginge zurück ins Kellerappartement in Tokio, wo er sich im winzigen Maß seiner Leistungsfähigkeit ins Leben zurücktasten würde. Wobei er noch keine Vorstellung hatte, wie um alles in der Welt er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, von den aufgelaufenen Außenständen ganz zu schweigen. Jetzt quasi Landurlaub zu bekommen, noch bei Katos Familie...! Der verlegte sich darauf, ihm die Familienverhältnisse unverdrossen zu erläutern, wobei Aokis Entsetzen schon nach wenigen Minuten den Kürzeren zog. Die komplette Verwirrung obsiegte schlichtweg. "...deshalb haben wir n riesiges Verzeichnis, online auch. Wegen dem Überblick." Schloss Kato gerade. Aoki hingegen bezweifelte, irgendwas noch annähernd überblicken zu können. Du liebe Güte, mit so vielen Personen konnte man glatt eine Kleinstadt allein bevölkern! Offenkundig verstreuten sie sich über die Inseln, lebten auch im Ausland, trieben Handel untereinander, Geschäfte miteinander und rege Konversation: das sprengte jede Vorstellung von einer "Familie"! So kam man, wie Kato ausführte, in den Genuss, ans Meer oder in die Berge zu kommen, als Gast, im Austausch, in ganz unterschiedliche Leben und Milieus reinzuschnuppern. "So, jetzt hast du deine Chance verpasst!" Riss er Aoki aus verzweifelten Versuchen, sich in diesem fremden Kosmos zu orientieren. "Da steht meine Mutter schon...und oh, sie hat bloß den halben Haushalt im Zug mitgenommen..." ~~~~>#* Kato registrierte, wie Aoki unbeholfen aus dem Auto kletterte, sich hastig verbeugte, gar nicht so prinzlich-aufmunternd wie sonst lächelte, sondern besorgt und bange. "Ah, Kato! Das ist Aoki, richtig? Oh, du schaust ja schon viel besser aus!" Aoki wurde nach unten in eine Umarmung gedrückt, was Kato ein kurzes Grinsen in die Mundwinkel prägte. Seine Mutter reichte ihm selbst gerade bis zu den Ellenbogen und war ein wenig mollig, machte ihrem Namen jedoch alle Ehre, Toriko, Vögelchen! Sie plauderte zwitschernd (andere hätten "lispelnd" bevorzugt) auf Aoki ein, der noch verschreckter wirkte. "Oh, Liebchen, du musst unbedingt hinten neben mir sitzen! Sonst fühl ich mich wie Queen Mom! Ah, Kato, unterwegs brauch ich ne Pause, konnte vorher nix essen! Wegen der falschen Schlange! 'Urlaub?! Oh, meine Liebe, ich kann Sie gern entlasten...'! So ein Biest! Hat mir geradewegs den Appetit verschlagen! Frechheit!" Kato verstaute Gepäck und Versorgungsmaterial. "Fanden die Leute im Zug auch, hm? Willste ne Kompanie durchfüttern?" Er wurde in den Po gekniffen. "Bengel! Die Reisenden waren sehr nett! Hab die Kekse oben gehabt, da werden alle friedlich." Grinste seine Mutter schelmisch. "Ah, aber so n Urlaub auf m Land, das brauch ich immer mal! Ist bei dir auch ein bisschen her, oder, Liebchen? Hat dir der Bengel erzählt, dass ich Autofahren nich vertrag? Geht aber, wenn ich singe. Wusstest du, dass wir überall Verwandte haben? Die kommen uns dann auch besuchen..." Kato kontrollierte seine Mitfahrenden mit einem Blick, bevor er den Pinguin neben sich angurtete. "Mama, schnall dich an, ja?" "Hab ich schon, fast, beinahe! Verflixt straff, dieser Strick! Oh, danke schön, Liebchen, sehr aufmerksam! Ah, ich war gerade dran...wir haben auch viel Besuch! Da wird's daheim richtig voll! Außer beim ersten Mal, wenn sie in die Kapsel-Dinger kriechen wollen, aus Jux! Hast du deinem Freund schon von Großneffe Tarou erzählt? Der wollte unbedingt in so ne Röhre! Klettert hoch, Hexenschuss, bumms, steckengeblieben! Da war die ganze Nacht Betrieb, bis sie ihn wieder raus hatten, ist nämlich ziemlich ausgedehnt, so als Persönlichkeit, der gute Tarou." Kato fädelte in den Verkehr ein, fing einen unzweideutig überfahrenen Blick von Aoki im Rückspiegel ein. Er lächelte, wählte brav einen Radiosender aus, denn es musste ja gesungen werden! ~~~~>#* In einer Aussichtsbucht verlangte Katos Mutter Toriko eine Pause. Erstens musste sie jetzt etwas essen, sonst wäre sie ganz schlapp bei der Ankunft, zweitens bekam man von der Hockerei ja Hämorrhoiden und Wasser in den Beinen! Drittens ging nichts über frische Luft und einen Panoramablick in die Landschaft. Also wurde ein Picknick ausgepackt, das tatsächlich für eine Großfamilie ausgereicht hätte. "Du weißt nie, wen du triffst!" Stellte sie einen Allgemeinplatz vor, der rechtfertigte, sich wie für eine Karawane durch die Wüste auszurüsten. Aoki wurde in liebevoller Strenge angehalten, auch ordentlich zuzugreifen, weil Landluft hungrig machte, das würde er schon sehen! Bei dem löste die frische Luft in Böen jedoch die Sprinkleranlage aus, was ihm ungeheuer peinlich war. Allerdings nicht länger als zehn Sekunden. Schon wurde er ungeniert umarmt, mit weiteren Anekdoten aus dem Bekanntenkreis versorgt, die ähnliche oder andere Kalamitäten zu bewältigen hatten. Niemand machte sich groß was draus, außer natürlich, man wäre so eine falsche Schlange wie die Nachbarin! So ne moralisch überintegre Pharisäerin, grässlich unflexibel in ihren Ansichten! Kato lud ein, scheuchte seine Passagiere auf, auch Platz zu nehmen, immerhin wollten sie halbwegs pünktlich eintrudeln. Er musste ja auch noch zurück nach Tokio fahren! ~~~~>#* Aoki stolperte benommen aus dem schmalen, hochformatigen Auto. Seine Sitznachbarin hatte weniger Mühe, kannte sich auch aus. "Huhu! Tante Chieko! Wir sin dahaaaa!" Eine kräftig gebaute, groß gewachsene Frau stapfte aus einem Anbau. "Das sehe ich." Kommentierte sie trocken das Eintreffen der Familienangehörigen. Sie trug eine Latzhose, darunter ein kariertes Arbeiterhemd und um den Kopf mit schlohweißem, kurz getrimmten Haar ein Tuch als Schweißband. "Tante Chieko, das is Katos lieber Freund Aoki. Aus Tokio!" Übernahm Katos Mutter die Honneurs, zog Aoki mit sich, der noch über den Kontrast staunte, da sie im Kostüm sehr adrett gereist war. Nach einer sehr höflichen Verbeugung äugte Aoki nervös zu Kato hinüber, der das Auto entlud. "Wir dürfen ihn nich überanstrengen, Tante! Wegen dem Herz! Schau mal hier!" Aoki ging seines Handgelenks verlustig, das gelupft und präsentiert wurde, woraufhin Großtante Chieko aus den zahlreichen Taschen der Latzhose eine eingeklappte Lesebrille entführte. "N Pulsschlagmesser, wie?" Konstatierte sie gelassen. "Aufladen nur in der Küche. Wegen der Brandlast." "Oh, richtig, richtig! Du musst ja das Haus sehen, Liebchen! Tante, sind viele Gäste da?" Die ältere Frau verstaute die Lesebrille wieder. "Bloß zwei Pilger. Sind aber gerade im Dampfbad. Junge, zeig deinem Freund sein Zimmer. Die 'Futteralien' können warten." Aoki verbeugte sich eilig, huschte zu Kato, sein Gepäck zu bergen. "Lass mal, nimm du den Pinguin, ja?" Der Aoki nun wirklich mehr als eine moralische Stütze sein musste, bei so viel Neuem! ~~~~>#* Kato bewegte sich sicher durch die Pension, ein altes, traditionell gebautes Haus. Ineinander übergehende, große Räume, die man geschickt mit Schiebetüren und mobilen Trennwänden separieren konnte. In einem Karree um einen kleinen Innengarten angeordnet konnte man unterschiedlich große Reisegruppen unterbringen, auch wenn häufig nur noch Wandernde und Pilgernde für eine Nacht kamen. Er zeigte Aoki die Stichflure, den überdachten Wandelgang zum Badehaus und zu den Toiletten sowie die gemauerte Wasch-/Küche, die gefliest mit der vollen Elektrik ausgestattet war. "Das Haus ist ziemlich alt und weitläufig. Wegen der Brandlast gibt es in den Räumen keine elektrischen Leitungen. Man holt sich also Laternen für die Nacht, siehst du? Hier wird es selten sehr kalt, also braucht man auch keine Feuerstellen. Wer friert, geht ins Badehaus. So, hier ist dein Zimmer. Schau, du kannst die Matratze einrollen, das Bett hier hochklappen und arretieren. Das gibt Platz und Bewegungsfläche." Er stellte Aokis Gepäck ab, wartete auf dessen Reaktion. Nur sehr zögerlich ließ Aoki den Stoffpinguin los, setzte ihn auf das heruntergeklappte, niedrige Bett. "Vielen Dank. Es ist sehr schön hier." Ein knittriges Lächeln. Kato eiferte ungeniert seiner Mutter nach, zog Aoki in seine Arme, hielt ihn fest. "Das hier ist Urlaub, in Ordnung? Erst musst du gesund werden, versprochen? Du kannst mich anrufen, jederzeit. Wenn was ist oder auch nichts ist. Hab keine Angst vor meinen Leuten, Aoki. Sie nehmen dich, wie du bist." ~~~~>#* "Du fährst vorsichtig, ja, Junge? Sag denen, der Strick hinten ist zu knapp!" "Ja, Mama. Melde dich, wenn was ist." "Musst du mir nicht sagen! Ich muss dich ja auch sonst immer anrufen, Lauser!" Aoki wartete beklommen im Hintergrund, winkte verhalten, bis man die Rücklichter nicht mehr erkennen konnte. Nun war er hier allein... auf diesem großen Gelände, in einem breiten Tal mit dünner Besiedlung, weit weg von der Großstadt. "Toriko, sieh mal in der Küche nach der Brühe." Trat die Großtante auf den Plan, so gar nicht dem Klischee entsprechend mit Schürze und Kopftuch wie eine altmodische Pensionswirtin. Katos Mutter trällerte los, marschierte, mittlerweile in einen einfarbigen Jogginganzug gekleidet, schnurstracks zur Tat. "Zeig dir den Garten." Brummte Großtante Chieko Aoki zu, der sich nervös in Marsch setzte. "Die Ohren brauchen mal ne Pause von dem Gezwitscher." Ließ sie ihn in staubtrockenem Humor wissen, kletterte über kleine Absätze jenseits der Straße auf kaskadierende Plateaus herunter, reichte Aoki einen flachen Weidenkorb, zückte ein Messerchen. "Frisches Grün. Bevor die Karnickel schneller sind. Verfressene Bande." Flink und geschickt übergab sie Aoki die Ausbeute. Der verzweifelte, konnte da überhaupt nichts identifizieren, kam sich recht nutzlos vor. "Hab auch keine Familie gehabt. War ja Krieg und Hungersnot." Erwähnte Großtante Chieko knapp. "Die Urgroßmutter hatte ihren Jungen verloren, musste in den Krieg. War sehr zornig darüber, hat entschieden, dass ich zur Familie gehöre. Hat sich nicht reinreden lassen. Mochte ohnehin keine vorgesetzten Männer. Der Dorfvorsteher hat mehr als einmal ihren Besen zu spüren bekommen." Aoki traf ein bezeichnender Blick, als die Großtante sich aufrichtete, sehr viel älter sein musste, als man ihr ansah. "Ist ein wilder Haufen, diese Familie, aber man kann's schlimmer treffen. Nur Mut." Verlegen lächelte Aoki, verneigte sich knapp. "Vielen Dank, dass Sie mich so großzügig aufnehmen. Ich möchte mich auch gern nützlich machen, aber..." Aber eigentlich empfand er sich als überhaupt nicht alltagstauglich jenseits der durchorganisierten Großstadt. Großtante Chieko brummte kurz. "Noch so'n Brummkreisel und mir schwirrt der Kopf. Komm, Jungchen, lass uns herausfinden, ob du an der Kaffeemühle orgeln kannst." ~~~~>#* Kapitel 5 Selbstverständlich übernahm es seine Mutter, mit Lautsprecher-Funktion die Tagesaktivitäten weiterzumelden. Jawohl, ihnen ging es prächtig und sie amüsierten sich! Zudem hatte sie höchstpersönlich das Liebchen in die Familienverbindungen eingeführt, mit dem Kontaktverzeichnis und den Bildern und den Treffen und überhaupt... Kato konnte sich vorstellen, wie eingeschüchtert Aoki dieser stundenlangen Sitzung gefolgt sein musste. Wobei sie alle brav auf die Alarmuhr achteten! Die gar nicht gelärmt hatte bis jetzt. Obwohl das Liebchen heute doch tatsächlich mit Tante Chieko aufs Dach gestiegen war, Schindeln austauschen! So erhielt Kato jeden Tag ein fernmündliches Bulletin. Langweilig würde es Aoki wohl kaum werden. Die Großtante bewirtschaftete ihre Pension allein, das hieß, sie bewältigte auch die ständigen Instandhaltungsarbeiten selbständig. Für Aoki zweifellos eine ganz neue Erfahrung. Aber, so beruhigte sich Kato, es gab ja das kleine, eigene Zimmer, somit einen Rückzugsort, wenn die Präsenz anderer Menschen ihm zu viel wurde. Er selbst klotzte auch ran, mit großem Schwung, weil er ja nicht nur Wolkenschieber sein wollte, sondern zu Aokis Lieblingsmensch avancieren! ~~~~>#* "Das ist aber eine Menge." Bemerkte Aoki so vorsichtig wie möglich. Großtante Chieko orientierte sich an der Natur und dem Sonnenstand. Sie war deshalb früh auf den Beinen. Aoki, der nach wie vor Mühe hatte, seinen Kreislauf zu dressieren, bekam von ihr morgens einen Milchkaffee. Pürierte Sojabohnen, mit exakt Tee-temperiertem Wasser aufgegossen, bis zum Schäumen geschüttelt, frisch gemahlene, zuvor in einer gusseisernen Pfanne angeröstete Kaffeebohnen, das Pulver durch einen Dauerfilter noch mit allen Ölen versehen. Dazu Rohrzucker. Nicht unbedingt das, was man landläufig als gesunden Start in den Tag empfahl. Großtante Chieko leistete sich importierte Kaffeebohnen als Luxus für den Alltag. Eine Tasse morgens, eine Tasse abends. Sie stellte sich taub, was Kritik betraf. Der Junge brauchte eine Starthilfe, und die hier funktionierte. Punkt. Für die Pilgernden und Wandernden gab es eine leichte, von Mönchen inspirierte, einfache Kost, schlicht, regional, saisonal, ohne Schnickschnack. Ganz anders operierte Katos Mutter, die "Futterpakete" zusammenstellte, üppig, hübsch dekorativ, garniert mit Gesangseinlagen und Anekdoten. Keine Frage, dass sie auch das Picknick für ihren früh angekündigten Sohn entsprechend zusammenstellte! Der würde sie auf der Rückfahrt nach ihrem einwöchigen "Urlaub" wieder zu Hause abliefern, respektive bei der Bahnstation. Deshalb mussten auch, um die Gepäckmenge bei den Mitreisenden wohlwollend zu avancieren, jede Menge Kekse gebacken werden. Großtante Chieko suchte deshalb das Weite. Zu tun gab es ja immer was! "Das täuscht, Liebchen! Sieht viel aus, aber wenn man Hunger hat: du wirst staunen! Oh, hörst du das auch? Sind das Reifengeräusche?" Aoki bot sich eilends an, dies zu erkunden. Tatsächlich rollte im Leerlauf ein Kleinwagen an, Zweisitzer, geliehen, halbes Toastbrot quasi. Kato zwängte sich mit artistischem Geschick aus der Fahrerkabine. "Guten Morgen. Wie geht es dir?" Erkundigte sich Aoki wohlerzogen, ein wenig unsicher. Der durchdringend-stechende Blick und das martialische Erscheinungsbild prägten den Eindruck von Kato. Kato selbst dehnte und streckte sich brummend. "Nich mal mit nem verdammten Schuhlöffel kommt man in die Sardinenbüchse rein!", Er wandte sich Aoki zu. "Wie geht's dir denn? Verträgt sich das Landleben mit den Medikamenten?" Aoki nickte brav, wischte sich nervös die Strähnen hinter die Ohrmuscheln. "Deine Mutter ist noch in der Küche..." "Dann ist Großtante Chieko garantiert geflüchtet. Ich könnte einen Schluck Tee vertragen." Kato setzte sich in Bewegung. Bevor Aoki ihm ausweichen konnte, kaperte er im Vorbeigehen dessen Hand selbstherrlich. Das war ziviler, als ihm direkt um den Hals zu fallen! ~~~~>#* "Wir wollten eigentlich nicht auf eine mehrtägige Reise gehen." Bemerkte Kato, während er in dem winzigen Kofferraum Proviant verstaute. "Ah, nimm eine Flasche mit nach vorne, ja? Leg eine Pause ein. Der arme Junge hat bloß diesen gesüßten Milchkaffee intus! Ich glaube nicht, dass davon seine Ärzte erfahren sollten." Kato blickte von seiner emsigen Mutter zu Aoki hinüber, der eilig den Kopf senkte. "Oh, Liebchen, sieh mal nach den Trockenstangen, ja? Dein hübscher Kapuzenpullover müsste trocken sein. Du willst dich nicht verkühlen!" Rasch huschte Aoki ins Haus und hinüber zum Vordach des Lagerschuppens. "Deine Großtante Chieko gibt ihm morgens von ihrem gerösteten Bohnenkaffee ab." Raunte Katos Mutter hoch an sein Gehör. "Ich weiß nich, ob ich das unterstützen soll. Weil er morgens nix runterbringt." Kato seufzte. "Ich behalte Aoki im Auge, Mama, versprochen." In Tokio hatten sie sich mit Energieriegel beholfen. Oder Lutschbeuteln, als selbst das Kauen für Aoki zu anstrengend, zu mühselig wurde. "Du denkst daran, langsam zu fahren, ja? Und schön auf der linken Seite." "Die Strecke ist ohnehin einspurig, Mama, keine Sorge." Er wurde in die Pobacke gekniffen. "Ich trau dieser komischen Schuhschachtel nich! Is mir unsympathisch." Kritisierte sie seine Wahl des Leihwagens. "Tja, die Konkurrenz ist wegen des vorhergesagten guten Wetters groß." Verteidigte Kato sich unbeeindruckt, hielt nach Aoki Ausschau, der mit dem Lama-Sweatshirt zögerlich hinzutrat. "So, Jungs, amüsiert euch gut, ja? Genug trinken und das Essen nicht vergessen!" Kato kassierte einen aufmunternden Klaps auf die Kehrseite. Sie durften tatsächlich losrollen. Großtante Chieko entstieg gemächlich ihrem terrassierten Garten, nickte gravitätisch. Man würde sie bestimmt nicht dabei erwischen, ein Handtuch wild zu schwenken! Diese Toriko, einfach zu aufgedreht! ~~~~>#* Aoki studierte das Innere des Leihwagens akribisch, um sich ein wenig zu sammeln. Er wusste bloß, dass Kato gekommen war, um seine Mutter abzuholen. Und, nebenbei, mit ihm einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Die Umstände allerdings veranlassten ihn, auf der Hut zu sein. Außerdem... "Sie wissen Bescheid." Kato pilotierte geübt trotz der Enge im Cockpit. "Ich wette, meine Mutter hat dir von der nervigen Nachbarin erzählt, der 'falschen Schlange' und quasi Erzfeindin. Mit ihrer Tochter hab ich mal in der Schulzeit für die Nachbarschaftsvereinigung an nem Projekt gearbeitet. Hui, hui, da musste man sittlich den Anstand wahren, um bloß kein Gerede aufkommen zu lassen! Das ging mir auf den Keks, also hab ich gleich gesagt, dass Mädchen mich nich interessieren." Aoki äugte nervös zu ihm herüber. "Und deine Eltern....die haben...das so akzeptiert?" Die imponierenden Schultern kurz lupfend brummte Kato sonor. "Sind ja aufgeklärte Menschen und Umtausch is nun mal ausgeschlossen. Na ja, mein Vater war jetz nich begeistert. Wegen Großcousin Hideyuki, der hat eine Pflaume nach der anderen gepflückt, dagegen is deine Pechsträhne nich mal n Fädchen breit! Prompt hat meine Mutter erklärt, sie würde jeden liebhaben, den ich mir ausgucke, woraufhin mein Vater ergänzte, er wäre ja auch prinzipiell bereit, außer bei Vollpfosten. Was nach Einschätzung meiner Mutter aber nich zu befürchten is, weil ich ihren Geschmack geerbt hätte. Kannst dir denken, dass mein Vater da schachmatt war." Kato grinste herausfordernd. "Also, ja, ich hab dich an der Hand genommen, aber das zählt nich." Neben ihm runzelte Aoki kritisch die Stirn. "Ach, und weshalb nicht?" Kato feixte. "Wen meine Mutter 'Liebchen' oder 'Herzchen' nennt, fällt unter Welpenschutz." Aoki sackte spontan die Kinnlade herunter. Nach einigen Augenblicken verschränkte er die dünnen Arme vor der Brust, wandte sich ab. "Also wirklich! Das nehme ich nicht ernst." Dazu hatte ihn Katos Mutter zu akribisch ausgeforscht, selbst wenn sie stets munter zwitscherte und sang! Kato löste die Rechte, strich sanft über Aokis Hinterkopf. "Sei nicht sauer, okay? Ich hab dich einfach vermisst und wollte mich ein wenig schadlos halten." Aoki grummelte leise. Äußerst gewagt, er stand ja exorbitant in Katos Schuld! Der wandte sich wieder nach vorne. "Wie kannst du so sicher sein, dass ich kein 'Vollpfosten' bin?" Zitierte er die Einlassung von Katos Vater leise. Er erntete ein raues Auflachen. "Das ist einfach! Vollpfosten sind lästig, nervig und langweilig. Mit dir kann ich mich über Langeweile hingegen ganz sicher nicht beklagen. Ich rege mich zwar auf, aber ich lerne dich auch immer besser kennen und verstehen. Außerdem geht mir einfach deinetwegen die Pumpe. Und nich nur die." Aoki spürte, wie sich Röte in seine blassen Wangen schlich. Kato sprach zwar salopp, meinte es jedoch ernst. Er wusste nicht, wie er antworten sollte. Ohne seine "Prinzen"-Vorstellung mangelte es ihm an konkreten Wunschbildern. Vor allem nach der Erkenntnis, dass Zweisamkeit doch sehr herausfordernd für jemanden war, der das nie erlebt und erprobt hatte. Kato erlöste ihn aus seinem Dilemma. "Wir sind noch ein Weilchen unterwegs. Mach es dir gemütlich, ja?" ~~~~>#* Nach zwei Stunden gemächlicher Fahrt hielt Kato es für angezeigt, eine Pause einzulegen. Er war mittlerweile mit Aokis Rhythmus vertraut, der sich mit mehreren leichten Mahlzeiten zusammenfassen ließ. Gleich nach dem Aufstehen beispielsweise etwas zu essen, das konvenierte seinem Kreislauf gar nicht! Kaum war schließlich das "Betriebssystem" hochgefahren, musste schon Verdauungsarbeit geleistet werden?! Nein, danke! Also zeitlich versetzt kleine Imbisse, um keine großen Schwankungen auszulösen. Tatsächlich hing Aoki der Magen in den Kniekehlen, bloß knabberte er metaphorisch noch an einer gewissen Befangenheit. Da hatten sie sich eine Woche nicht gesehen, konfrontierte ihn Kato (mal wieder) mit einer Liebeserklärung, und er?! Er fühlte sich inkapabel, unfähig. Seine übliche Verliebtheit (in die Prinzen) konnte und wollte sich nicht einstellen. Die bittere Erkenntnis, dass er sich wahrscheinlich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte, half auch nicht gerade. Kato so im Ungefähren zu lassen, das war mehr als schofel! Eigentlich konnte er gar nicht so richtig bestimmen, vor was genau er Angst hatte, was er befürchtete. Sitzengelassen zu werden? Du liebe Güte, DAS stellte ja nun wirklich kein Novum dar! Gekränkt und unglücklich darüber zu sein, ganz sicher auch nicht. Darüber hinaus musste man sich auch über einen anderen, delikaten Aspekt Gedanken machen: mehr als ausgedehnte Küsse gab es zwischen ihnen nicht. So eine beinahe jugendfreie Beziehung kannte Aoki gar nicht. Hielt sich Kato bloß an seinen angekündigten Plan, zeichnete sich durch enorme Rücksicht aus? Oder...? Er mümmelte mechanisch auf dem idyllischen Rastplatz einen winzigen Teil des gewaltigen Picknicks. Auch wenn Kato nicht in die Prinzen-Kategorie fiel, konnte er sich doch nicht einfach so untätig verhalten. Wieso schlug nicht einfach der Blitz der Verliebtheit ein?! Der hatte sich doch auch sonst immer ungefragt in seine Lebensplanung eingemischt! "Okay, was stimmt nicht? Zu sauer?" Unversehens nahm Kato ihm einen kalten Reis-Ball mit Füllung aus der Hand, kostete selbst. "Komisch, schmeckt für mich ganz appetitlich?" "Erlaube mal! Warum nimmst du meinen angebissenen Reis-Ball?!" Empörte sich Aoki sehr zivilisiert, aus seinen düsteren Gedanken gerissen. "Weil du so ein essigsaures Gesicht ziehst." Konterte Kato unbeeindruckt. "Das ist angeboren! Schau halt nicht hin!" Schimpfte Aoki, senkte den Kopf, damit ihn seine geteilten, Ohrläppchen-langen Strähnen verbargen. Zu seinem Schreck fasste Kato einfach zu, wischte ihm mit beiden Händen den Sichtschutz hinter die Stecker-geschmückten Ohren. "Ich seh die Wolken, Aoki. Also, rede mit mir. Was ist los?" Der stechend-durchdringende Blick, kantige Gesichtszüge. Martialischer Gorilla-Herumschubser-Delinquent! Wenn es doch bloß so einfach wäre! Unversehens zornig über seine eigene Hilflosigkeit ereignete sich, was Aoki seit Jahrzehnten in Verlegenheit brachte: ihm lief uneingeladen das Wasser aus den Augen, feuchtete Katos Handflächen auf seinen Wangen an. "...es is nich nötig, sofort ne Antwort auf alles zu haben." Stellte Kato mit seiner rauen Stimme und dem starken Oosaka-Akzent fest. Der sich einzuschleichen pflegte, wenn er sich über Aokis Gebaren echauffierte. Oder wie jetzt sanft tröstete. Was überhaupt nicht zur 'Verpackung' passte! Aoki fischte rasch nach seinem ersten Stofftaschentuch, um sich trockenzulegen. "...ich bin...nur ärgerlich über mich selbst. Entschuldige bitte." Kato antwortete ihm nicht, hauchte jedoch einen Kuss auf Aokis freigekämmte Stirn. "Lass uns weiterfahren, ja? Ist noch ein Stück." ~~~~>#* Unten im engen Tal konnte man durch den Dunst die Gleiskörper ahnen, von Warn- und Signalleuchten markiert. Die einspurige Straße schraubte sich in Serpentinen an den Bergflanken entlang. Die Luft war merklich kühler, frischer. Überschritt man in der Höhe die trägen Dunstfelder des Tales, sah man den klaren Himmel, die Sonne und viel Grün. Kato pilotierte sicher, obwohl er diese Strecke zum ersten Mal absolvierte. Seit einigen Minuten war Aoki neben ihm aus einem leichten Schlummer wieder erwacht. Je näher man der Bahnstation im Tal kam, umso dichter die Bebauung der Hänge. Viereinhalb Stunden Bahnfahrt bis zur Metropolregion, deshalb durchaus gefragt als halbwegs erschwinglicher Wohnsitz für Pendelnde. Der Zweisitzer erklomm den Hügel. Kato bog von der Landstraße ab, hinauf über eine geschotterte Piste zwischen Laubbäumen und invasiven Bambushalmen, die ein Schattenspiel aufführten bis zu einem Baustellenzaun mit Tor. "Ab hier müssen wir laufen." Erklärte er, stieg aus, umrundete den Wagen, um Aoki zu assistieren. Der ächzte leicht. Sein Kreislauf mochte allzu langes, regloses Sitzen auch nicht leiden. Kato fischte seinen schlichten Rucksackbeutel aus dem winzigen, mit Picknick-Zubehör vollgestopften Kofferraum. "Zieh dir besser den Kapuzenpullover über, ja? Könnte frisch sein." "Sagt der mit dem T-Shirt!" Murmelte Aoki, entschied jedoch, der Empfehlung Folge zu leisten. Im Schatten der Bäume und Bambushalme war es empfindlich kühl. Unterdessen löste Kato das Vorhängeschloss, schwang das Tor auf. Man konnte einen mit Sand und zerkleinerten Muscheln ausgewiesenen Weg erahnen, der noch nicht von einem grünen Teppich überwuchert war. Sich nur halb umwendend kaperte Kato Aokis Hand. "Es ist nicht weit, etwa hundert Meter." Was auch immer "es" sein mochte, das man hinter der grünen Wand üppigen Bewuchses nicht ahnte. Bis sich der ehemalige Weg gabelte, wie eine alte Kutscheneinfahrt zum Kreis um eine betagte Sonnenuhr auf einem steinernen Sockel. Dahinter erhob sich ein großes Gästehaus im europäischen Stil Ende des 19. Jahrhunderts. Aoki entfuhr ein überraschtes Keuchen. Selbstverständlich waren sämtliche Öffnungen mit vorgehangenen Holzplatten verdeckt und abgedichtet, hatte sich das umgebende Grün angepirscht. Doch man konnte mühelos die vergangene Pracht erkennen, die gebrannten Ziegel, die Giebel und Erker, die Söller und Belvedere! Ausgenommen das Fundament schien das zweistöckige, mit zwei Flügeln versehene Haus aus Holz errichtet zu sein, wobei man die Bretter und Balken abgeflammt hatte. Das erklärte, warum sie diese lange Zeit ohne Verwitterung überstanden hatten. Kato wählte einen überwachsenen Kiesweg um das Gästehaus herum. "Hinter dem Gebäude gibt es eine Veranda. Da, siehst du am linken Flügel den kleinen Anbau? Das ist das Badehaus." Dort demonstrierte Kato ihm, dass man ganz altertümlich mit einem Brennofen das Badebecken aufgeheizt hatte. Von außen mussten Bedienstete das Feuer anblasen und aufmerksam überwachen. "Schau, Plumpsklo da hinten, geschickt getarnt bei diesen Arkaden. Das könnten mal Kletterrosen aus Europa gewesen sein." Er wies auf den rechten Flügel. "Es gibt hier sogar einen Brunnen. Mit einer Pumpe holt man das Wasser hoch." Früher konnten die Gäste bei gebändigtem Dschungel in die Ferne blicken, ahnte man noch Spuren eines gepflegten Gartens. "Kannst du mal den Beutel halten? Ich nehme die Platte hier ab." Kato entfernte eine Holzabdeckung an einer schlichteren Tür zur Seite hinaus, mutmaßlich ein Bedienstetenzugang. Brav reichte Aoki den Beutel zurück, aus dem Kato eine Taschenlampe entnahm. Er griff wieder nach Aokis Hand. "Schauen wir mal rein, ja?" Geschickt leuchtete er ihren Weg aus. Auch im Inneren ahnte man im herrschaftlichen Hauptgebäude die vergangene Pracht. Ein großzügiger Treppenaufgang, abgedeckte, mutmaßlich bunte Fensterscheiben, viele Räumlichkeiten. Aoki schnupperte verwundert. Abgestandene Luft, nun, das hatte er erwartet, doch hier roch es dezent würzig. "Ah, merkst du es auch? Das ist wohl so eine Art Politur, aus Honig und Baumharzen hergestellt. Brennt allerdings lichterloh, also Vorsicht mit offenem Feuer." Was ihn dazu anleitete, die große Küche mit der Pumpe zum Brunnen vorzuführen. Feine, bemalte Kacheln an den Wänden rund um den Platz, wo einmal ein mit Briketts und Holzscheiten betriebener Ofen gestanden haben musste. In einer Wand befand sich ein Schacht für einen flaschenzugbetriebenen Aufzug. "Speisen rauf, Nachttopf runter." Flachste Kato, führte Aoki wieder ins Freie. "Die Räume sind alle leer." Stellte der fest, atmete auf der Veranda tief durch. "Hmm, stimmt. Vermutlich nach und nach alles verkauft, was sich bewegen ließ." Kato verplombte den Zugang wieder. "Es gibt eine Menge Auflagen, hauptsächlich wegen der Hanglage. Eine konventionelle Bebauung ist nicht möglich. Die Verdichtung und Last würde ein Abrutschen bewirken. Zudem muss alles bepflanzt bleiben, um stabilisierend zu wirken. Da nützt das große Gelände und die prima Lage alles nichts. Deshalb konnte die Familie es auch sehr günstig erwerben, ist ja quasi nur ein Kostentreiber wegen der Abstützarbeiten." Die Taschenlampe verstaut ließ er sich weiter zur Situation aus. "Außerdem kein Anschluss an die Wasserver- und entsorgung. Kein Stromanschluss zur Straße hin. Keine Heizung, Kochen nur über der Gasflamme. Alles muss man hierher befördern. Na ja, nichts, was meine Leute aufhalten könnte, die sich dachten, he, so ein Gästehaus wäre schon fein! Bevor es verkommt. Also, warum nicht mit Komposttoilette arbeiten? Da hat man auch feinen Dünger für einen Gemüsegarten. Die Grünabfälle vom invasiven Bambus könnten verkokst werden, da gibt es ganz einfache, sehr effektive Systeme. Wie wäre es mit einem Teich zur Reinigung des Oberflächenwassers? Kanalisiert auch bei Regen den Abfluss zum Tal. Mit den richtigen Pflanzen kann man den Hang gut stabilisieren. Strom ist natürlich so eine Sache, aber mit Wind und Sonne könnte es für den kleinen Bedarf reichen! Alles prima Ideen, die man testen könnte, wenn man es hierher schafft. So ganz ohne Maschinen ist es ja doch schwierig." Aoki unterbrach ihn. "Warum erzählst du mir das? Warum zeigst du mir dieses Dornröschen-Haus?" Kato stellte den durchaus eifrig-euphorischen Vortrag prompt ein. Sollte man diplomatisch vorgehen? Er entschied sich für die direkte Variante. "Kannst du dir vorstellen, mit mir hier das Haus flottzumachen und als Verwalter zu arbeiten?" Die Nachricht benötigte einige Sekunden, um verarbeitet zu werden. Aoki starrte ihn entgeistert an. "Ich?! Aber ich habe keine Ahnung von diesen Dingen! Ich bin total unnütz!" "Woher weißt du das? Hast du es schon mal versucht?" Schoss Kato unbeeindruckt zurück, erwischte Aoki selbstredend unvorbereitet. "Nein, aber...ich kann bloß Bücher lesen! Und hab keine Kondition! Und..." "Das deckt sich schon mal mit einigen Anforderungen, zum Beispiel Bauanleitungen. Außerdem ist das ein Projekt für Geduldige. Pausen zum Nachdenken sind zwingend." Argumentierte Kato unnachgiebig. Aoki gab auch nicht so schnell auf. "Es könnte aber schiefgehen! Was, wenn sich herausstellt, dass ich zu gar nichts tauge?! Dann..." "Dann wärst du natürlich an allem schuld. Ist ja nicht so, als wäre das ein Tummelplatz für zig verrückte Leutchen aus meinem Clan." Feuerte Kato prompt pointiert zurück. Bevor Aoki vor ihm zurückweichen konnte, fasste er dessen Hände. "Das hier ist die Summe von zig Experimenten, Aoki. Viele Ideen, viele Leute, die kommen wollen und sich ausprobieren. Ich bitte dich bloß darüber nachzudenken, ob du mit mir als Pionier hier loslegen willst. Wir machen das nicht allein. Wenn wir es nicht machen, finden sich andere in der Familie. Ich dachte mir, es könnte eine Möglichkeit für uns sein. Frische Luft, grüne Umgebung, eigener Rhythmus." Aoki funkelte nervös hoch. "Aber was ist mit Tokio? Deinem Onkel, deiner Arbeit?! Deinen Freunden und Kollegen?!" Damit konnte er Kato nicht auf dem falschen Fuß erwischen. "Stimmt, hin und wieder müsste ich nach Tokio fahren, weil hier ja 'Home-office' ausscheidet. Andererseits fallen wir ja nicht aus der Welt. Bergab gibt es genug Zivilisation. Ehrlich, wenn wir den Anfang gemacht haben, wird es garantiert jede Menge Besuch geben. Du erinnerst dich, riesig große Familie, gegenseitiger Austausch, persönliche Kontakte?" Ergänzte er grinsend, wurde ernst. "Aoki, denk einfach mal in Ruhe darüber nach. Es eilt nicht, okay?" Der schnaubte aufgebracht, zerrte an seinen eingefangenen Händen. "Wirklich, ich verstehe dich überhaupt nicht! Wie kannst du so eine bedeutende Sache einfach mit mir aufziehen wollen?! Ich bin vollkommen unsortiert und durcheinander und...psychisch derangiert! Und du~du machst so weiter, als wären wir ein richtiges Paar! Dabei hatten wir noch nicht mal Sex!" Platzte er heraus, die Wangen schon wieder nass. Kato setzte zu einer Erwiderung an (vermutlich gepfeffert), atmete jedoch erst mal tief durch. "Ich liebe dich. Ich will mit dir zusammen sein und mache mir Gedanken, wie das klappen könnte. Ich sehe uns als Paar, stimmt, weil wir vereinbart haben, miteinander auszugehen. Was jetzt den Sex betrifft: am Willen oder Vermögen scheitert es bestimmt nicht." Er reduzierte den Abstand um einen Schritt. "Allerdings tut es mir WEH zu sehen, dass du Angst vor mir hast. Das will ich nicht, also halte ich mich so lange zurück, bis ich von dir nicht mehr gefürchtet werde." Aoki spürte, wie seine nassen Wangen sich auch noch unangenehm aufheizten, er wahrscheinlich einem Feuermelder Konkurrenz machen konnte. Ganz gegen sein gewohntes Selbstbild stotterte er eine Attacke. "...u~~und wenn~wenn das NIE klappt?!" Kato drückte für einen Moment seine Hände fester. "Ich gebe nicht auf, Aoki. Ich beweise dir weiter, dass du mir vertrauen kannst. Bis du es tust." Dessen Beine gaben einfach unter ihm nach, sodass er einknickte. Auch Kato ging in die Hocke, Aokis Hände nicht freigebend. "Vielleicht sollten wir das Picknick hier fortsetzen, hm? Deine Energiereserven müssen aufgefüllt werden." Aoki senkte den Kopf, schnüffelte gegen die nächste Flut an. "Du~du bist so unerträglich nett, wenn ich dich gerade ausschimpfen will!" Beklagte er sich hilflos. Wieso wich Kato auch nicht wie jeder andere in alberne Scherze aus, wenn die Situation Ernsthaftigkeit verlangte?! Das war so~so egoistisch! Vor ihm lachte Kato auf. "Tschuldige. Bin eben ein schurkischer Gorilla. Magst du hier warten? Dann hole ich unseren Proviant." Seufzend nickte Aoki minimal. Ohne kalorischen Nachschub war er Kato einfach nicht gewachsen! ~~~~>#* Die wandernde Sonne erwärmte auch die Veranda, sodass sie trotz der frischen Luft recht angenehm tafelten. Kato referierte dazu, was er vom Werdegang des Gästehauses wusste. Er wies auch bezüglich der Bauteile auf Parallelen zur Pension von Großtante Chieko hin, obwohl das Gebäude noch sehr viel älter war, einem ganz anderen Konzept entsprach. Bei den Materialien hatte man sich eben durchaus, trotz europäischem Vorbild, an heimischen Möglichkeiten orientiert. Aoki lauschte, kaute langsam, versuchte einmal mehr zu begreifen, dass Kato durch nichts zu erschüttern war in der Überzeugung, sie passten zueinander. Mit einem so hoffnungslosen Fall wie ihm ein so herausforderndes Abenteuer wagen wollte, ohne vorher, nun ja, wenigstens erprobt zu haben, ob es sich 'lohnte'?! Körperlich. Sexuell. "Welche Wolke torpediert jetzt gerade meine Flirtversuche?" Riss er Aoki aus den Gedanken, strich ihm lächelnd über eine Wange. Erneut registrierte der Hitze in den Wangen, verspürte Wut über sich selbst. Immer wieder die gleiche Platte, wie festgeklebt kam er einfach nicht weiter! Er straffte seine schlanke Gestalt entschlossen. "Entschuldige meine Direktheit, aber ich halte es für erforderlich, dass wir Sex haben." ~~~~>#* Kapitel 6 Es dauerte eine Weile, bis sie ein Hotel für Reisende und Geschäftsleute fanden, das stundenweise Zimmer vermietete. In der Metropolregion keine Seltenheit, besonders in der Nähe von Flughäfen oder Bahnstationen. In der Peripherie allerdings nicht so häufig anzutreffen. Nach einem Love-Hotel suchten sie gar nicht. Die Wahrscheinlichkeit, abgewiesen zu werden als nicht gemischtes Pärchen, nahm sich noch zu groß aus. Aoki wirkte ausreichend blass, um eine kurze Ruhepause zu begründen, als sie eincheckten. Zwei, maximal drei Stunden, die Möglichkeit zu duschen, sich auszustrecken. Nach Geschäftsleuten, die konferieren wollten auf neutralem Gebiet, sahen sie ohnehin nicht aus. Kato zahlte, schloss sich Aoki an, der mit der Schlüsselkarte voranging. Möglicherweise auch ein wenig konsterniert war, weil Kato sich mit Kondomen und Gleitgel ausgerüstet hatte? Obwohl ja lediglich eine Ausflugsfahrt mit Picknick vorgesehen war! Im Zimmer inspizierte Aoki sogleich den Nassraum. Keineswegs, wie Kato überrascht registrierte, verärgert über die Pfadfinder-Fähigkeiten seines Begleiters. "Gut, dass du so vorausschauend bist. Ich brauche auch nur einen Augenblick..." Kato fasste zu, zog Aoki entschieden in eine muskulöse Umarmung. "Wenn du das hier nur aus Gefälligkeit tust..." Brachte er rau hervor, brach ab. Aoki lachte leise, gänzlich unerwartet. "Ganz sicher nicht. Du erinnerst dich garantiert, dass ich nicht gerade als Mönch gelebt habe. Ich weiß bloß nicht, ob die Pulsuhr Alarm schlägt. Aber wenn ich sie abnehme und abschalte, könnte ich mich übernehmen." Mit diesem praktischen Problem konfrontiert verzog sich Katos aufkeimende Sorge. "Lass sie an. Passen wir ein wenig auf und bremsen eben." In seinen Armen prustete Aoki gedämpft. "DAS wage ich zu bezweifeln!" ~~~~>#* Ein wenig ungelenk kam sich Aoki aufgrund der beklemmenden Autofahrt doch vor. Allerdings verfügte er über Übung und Erfahrung, was die Präparationen betraf. Selbst etwas unternehmen zu können reduzierte den eigenen Leidensdruck. Sich nämlich als Spielball des Schicksals zu erfahren, von anderen hin und her geschubst! Kato wartete bereits, die Decke zurückgeschlagen, die Hilfsmittel in Reichweite. Angesichts seiner imponierenden Gestalt, muskulös, lange Beine, wie ein Kurzstreckenschwimmer, beschleunigte Aokis Puls. Nicht sein Typ, nein, gar nicht! Immerhin lieferte er sich jemandem aus, der ihn zwar bloß um ein Haupt überragte, aber von der Kampfmasse her...! Allerdings streckte Kato ihm einladend die Hand entgegen, hatte sogar für eine Flasche Wasser aus dem Automaten im Hotelflur gesorgt, ein Handtuch ausgebreitet, um eventuelle Spuren auf den Laken zu verhindern. Aoki kletterte ins Bett, nahm rittlings auf Katos Schoß Platz. "Du darfst mich nicht beißen. Ich bekomme ganz schnell Hämatome, und ich will nicht aussehen wie nach einem Boxkampf." Ermahnte er streng. Kato nickte artig, ließ seine großen Hände über Aokis Schultern und Arme gleiten. "Küssen ist erlaubt?" "Dass du tatsächlich mal fragst?!" Tadelte Aoki seufzend, legte die dünnen Arme um Katos Nacken. Zugegeben, das Zungenpiercing hatte Gewöhnung bedurft, doch der erotisierende Effekt überzeugte! Kato ließ seiner Frage gleich Taten folgen, legte eine Hand sehr behutsam auf Aokis sensiblen Nacken. Diesbezüglich NICHT reglementiert zu werden, das verblüffte ihn. Andererseits schien er wohl der Erste zu sein, der die Empfindlichkeit dieser Körperpartie entdeckt hatte. Was es zu nutzen galt! ~~~~>#* Kato hielt Aoki umschlungen, streichelte über die noch immer bebenden Oberschenkel, den flachen Bauch, hauchte tröstende Küsse in den fragilen Nacken. Wenn es Zweifel ob ihrer Kompatibilität gegeben hatte, verabschiedeten die sich gerade kleinlaut durch die Hintertür. Er HATTE alle Umsicht walten lassen. Sie waren ganz konventionell vorgegangen, von hinten, erst Finger, dann Familienzepter. Kato konnte nicht behaupten, so viel Erfahrung wie Aoki zu haben, in beide Rollen zu schlüpfen, mit mehr als einem Spielgefährten, oder auch mit Damen... Sachdienliche Hinweise nahm er gern entgegen, durchaus! Bloß setzte sich das fort, was beim Küssen für Furore sorgte, ohne hilfreiches Zungenpiercing: es gab da eine gewisse sich potenzierende Elektrisierung, bis zum Wendepunkt, der danach keine Umkehr mehr zuließ. Ein kulminierendes Aufschaukeln könnte man auch sagen. Wobei gar nicht gesprochen wurde, zumindest nicht zusammenhängend und verständlich. Die Kettenreaktion, die Kato auslöste, resultierte jedenfalls in heftigen, unkontrollierten Kontraktionen. Nasse Wangen, kurze Ohnmacht. Während ihm auch eine sehr willkommene Erlösung aufgestauter Spannungen zuteil wurde. Deshalb konnte er sich selbst auch nicht schuldbewusst reumütig zeigen, weil er jede einzelne Sekunde genossen hatte. Ob es Aoki genauso ging, wagte Kato jedoch noch nicht zu eruieren. Mächtig Eindruck hinterlassen hatte er, keine Frage! Erstaunlicherweise hatte die Pulsuhr keinen Alarm geschlagen, lediglich eine gemäßigte Warnung abgesetzt. Er löste einen Arm, angelte erneut die Wasserflasche heran, flößte Aoki einige kleine Schlucke ein. Dessen Atemzüge klangen noch ein wenig nach Schluchzern. "Das war wirklich bemerkenswert." Wagte Kato sich aus der Deckung. "Du lässt mich jetzt die Verantwortung übernehmen, richtig?" Hoffte er auf eine eindeutige Reaktion, rieb etwas energischer über die dünnen Arme und zitternden Oberschenkel. "Hör mal, wenn dir was weh tut...wenn ich dir weh getan habe..." So langsam wurde es ihm doch ein wenig unheimlich. "...Bad..." "Bad? Soll ich dich ins Bad bringen? Klar, sofort!" Vorsichtig schob er Aoki auf das Bett, erhob sich, beugte sich zu ihm herunter. "Halt dich fest, ja?" Beförderte er ihn mühelos in den Nassraum unter die Dusche, wo ein Schemelchen zur Vorreinigung wartete. Aoki schniefte, wischte sich mit den Handrücken über die Augen. "Nicht! Hier, ich nehme ein Tuch." Mischte Kato sich ein. "....dass du es weißt!" Hörte er Aoki mit belegter Stimme krächzen. "...das kommt so NIE vor. Du bist so...unfair!" Abrupt setzte Kato sich auf. JETZT konnte er sich nur äußerst dämlich verplappern! Er tat es trotzdem. "Das liegt daran, dass du zum ersten Mal wahrhaftig geliebt wirst. Alles andere war reine Gymnastik." ~~~~>#* Erstaunlicherweise schaffte es Aoki auf eigenen Füßen zum Zweisitzer. Das hinderte Kato nicht, beim Anschnallen behilflich zu sein oder die Fahrt zu unterbrechen, um Lutschbeutel mit isotonischem Gelee zu kaufen. Ein wenig später als vorgesehen rollte er im Leerlauf vor die Pension. Aoki schlief tief und fest. Kato gestikulierte seiner Mutter, die selbstverständlich auf ihren Transport wartete, ihn noch nicht anzusprechen. Er stopfte zwei verbliebene Lutschbeutel in die rückwärtigen Taschen seiner schwarzen Jeans, lockerte die Verschnürung seiner Halbschuhe, öffnete lautlos die Wagentür, wieselte um den Zweisitzer herum, befreite Aoki, der sich im Halbschlaf auf Automatik in seine Arme schmiegte. Ein warmes, entspanntes Bündel. Um den Gästen der Pension nicht in die Arme zu laufen, wählte Kato einen Seiteneingang. So benötigte er auch wenig Flurstrecke, bis er, akrobatisch geschickt aus seinen Schuhen schlüpfend, Aokis Zimmer erreichte. Die Schiebetür mit dem großen Onkel dirigierend, sich und die kostbare Last dabei ausbalancierend: körperliche Liebe verlieh nicht nur Flügel! Sanft legte er Aoki auf dem Bett ab, schob den geliebten Pinguin in die dünnen Arme, zupfte eine Decke zurecht, bevor er behutsam die Schuhe abstreifte, die restlichen Lutschbeutel in Reichweite als Pfand deponierte. Ein richtiger Abschied sah anders aus, aber er wollte Aoki auch nicht aufwecken. Also leise Tür zuschieben, die College-Slipper nach vorne tragen, sich von seiner Mutter über Pünktlichkeit belehren lassen. Die räumte jedoch mit Großtante Chieko schon im winzigen Kofferraum um: Picknick-Zubehör raus, Gepäck rein, Kekse selbstredend nach oben. Ein knapper Gruß. Großtante Chieko hielt sich mit ausschweifenden Oratorien nicht auf. "Entschuldige, Mama, es hat ein wenig länger gedauert..." Begann Kato pflichtschuldig. "Und? Hat er ja gesagt?" Interessierte sich seine Mutter keineswegs für Nebensächlichkeiten. Kato grummelte. "Ich hab ihm natürlich Bedenkzeit eingeräumt! Is ja ne wichtige Sache." "Ach, Papperlapapp! Garantiert sagt er zu. Würde jeder, der SO verwöhnt worden ist." Reflexartig trat Kato auf die Bremse, wandte sich ruckartig zu seiner Mutter um. Ihn traf ein strenger Blick. "Ich bin deine Mutter, Junge, weder blind noch blöd. So, wo stell ich hier die Musik an? Is ja fürchterlich unübersichtlich, das Cockpit!" ~~~~>#* Aoki rollte die Augenlider hoch, erprobte geübt Finger- und Zehenspitzen, drehte den Kopf. Er schickte erst mal den Pinguin in die Wirklichkeit jenseits der wärmenden Decke, versuchte, anhand der Lichtausbeute die Uhrzeit zu schätzen. Er richtete sich sehr vorsichtig auf, zog winselnd die Knie vor den Leib, legte auf ihnen die Stirn ab. Glatt bis zum Morgen durchgeratzt! Nach dem Ausflug gestern... Zögerlich spähte Aoki neben sich: Wasserflasche und Lutschbeutel, damit er es auch ja bis zum Sojamilchkaffee in die Küche schaffte. "....verflixt." Vertraute er seinem Pinguin an. Eine gewisse Unruhe, eine wachsende Ungeduld mit sich selbst ließ sich nicht mehr unterdrücken, machte sich so bemerkbar wie die am vorangegangenen Tag kulminierte Frustration über den sexuellen Notstand. "...uuuhhhhh...!" Kommentierte Aoki die Erinnerung, raufte sich durch die glatten schwarzen Strähnen. Nein, er war gewiss kein Kind, nun, Jugendlicher und junger Mann von Traurigkeit gewesen, doch immer, ausnahmslos, hatte er einen gewissen Rest an Kontrolle, an Distanz beibehalten. Sicher, häufig spielte ihm sein ungezogener Kreislauf einen kurzen Streich, aber das stellte kein besonderes Risiko dar. Die Vorsicht obsiegte immer. Bis zum gestrigen Tag. Da war sein Verstand einfach von seinem Unterbewusstsein überrumpelt worden, hatte ihn komplett, rückhaltlos ausgeliefert, sämtliche Bremsen gelöst! Unverschämt, rebellisch, verräterisch! Beängstigend. Aoki blinzelte zu seinem Pinguin hinüber. Selbst der schien ihm mit einer gewissen Strenge zu begegnen. "Wem mache ich was vor?" Krächzte Aoki sich selbst zu, fischte einen Lutschbeutel heran. Sein Unterbewusstsein, sein Körper hatten längst entschieden, vertrauten sich Kato ohne Netz und doppelten Boden an. Nur sein Verstand, sein Stolz suchte penetrant nach Ausflüchten. Argumenten, warum es mit Kato einfach nicht....! Nein, es lief nicht wie in Märchen oder kitschigen Romanzen, richtig. Kein erster Blick und blitzartig entflammte, unsterbliche Liebe! Einerseits. Andererseits konnte Aoki sich auch nicht länger selbst belügen. Immerhin hatte er sich eingestehen müssen, dass die vagen Vorstellungen von einem Zusammenleben fortgesetzte Arbeit an sich selbst verlangten. WER konnte denn nicht neben anderen Personen schlafen, fühlte sich bedrängt, weil man sich gemeinsame Räumlichkeiten teilte?! Energisch mümmelte Aoki den Beutel leer. Vielleicht funktionierte das mit der Liebe auch gar nicht so. Möglicherweise musste man sich geduldig, langfristig, immer wieder eine innige Verbundenheit erarbeiten, sie hegen und pflegen, nicht nachlassen. Was sprach gegen Kato? Aoki umarmte seinen Pinguin. Kato verhielt sich wie der beste Freund, den man haben konnte, umwarb ihn dazu altmodisch, hielt sein Versprechen ein, nahm auf körperliche Einschränkungen Rücksicht... Kato meinte es ernst. "Was mich aus der Komfortzone vertrieben hat." Gab Aoki gegenüber seinem Pinguin beschämt zu. Ihm konnte man keine Illusion servieren, sich aufgeschlossen und experimentierfreudig geben, gleichzeitig aber eine geschlossene Beziehung wollen. Sein widersprüchliches Verhalten funktionierte bei Kato nicht wie bei den "Prinzen", die den Schein für das Sein genommen hatten. Weil es konvenierte. Weil Aoki selbst seine eigenen Wünsche torpedierte. Er seufzte laut. "Das ist so peinlich!" Sowohl die Erkenntnis als auch die lange Halbwertszeit bis zum ehrlichen Eingeständnis der eigenen Verantwortung. Aoki setzte seinen Pinguin ab, angelte den letzten Beutel heran. Sich selbst leidtun, die Umstände anführen, gar jammern: DAMIT war jetzt Schluss! Trotzdem erhob sich Aoki durchaus vorsichtig. Sein kapriziöser Blutdruck gehorchte ihm ja auch nicht nach Belieben! "Das wird ein großes Abenteuer!" Warnte er seinen Pinguin vor. Andererseits, wenn man es nicht wagte, würde man nie erfahren, ob man es konnte oder nicht! ~~~~>#* Die Woche verging wie im Flug, weil sie sich beide bewusst waren, dass sie ein Abenteuer als Pioniere bestreiten würden. Was musste gleich mit? Was war noch zu erledigen? Wie bekam man all das, was zum Start überlassen wurde, bloß in einen Transporter?! Kato musste sein ganzes Wissen als Logistiker und Lademeister unter Beweis stellen. Er transportierte auch den Inhalt des flugs aufgelösten Mietverhältnisses! Klar, Mietzins zahlen würde zu sehr belasten, da die Familienstiftung für sie Werkpauschalen vorsah. Die nicht gerade üppig waren, wenn man bedachte, was alles hergerichtet werden musste. Andererseits würde es dauern, bis Erträge erwirtschaftet werden konnten, sodass sie quasi alimentiert wurden. Aoki erwartete ihn bereits, sein Reisegepäck plus Pinguin mit Proviant von Großtante Chieko ergänzt. Wohldurchdachte Vorräte, wenn man weder Kühlschrank noch Mikrowelle hatte, bloß fließend Wasser in der Küche dank Brunnen und Pumpe! Kato entstieg dem Führerhäuschen, hielt sich nicht mit gesellschaftlich angemessenen Gepflogenheiten auf, sondern zog Aoki in seine Arme, wisperte sein Liebesbekenntnis in ein geneigtes Ohr. Dessen Besitzer schmiegte sich an, registrierte den eigenen hastigen Herzschlag. Würde wieder eine gewisse hilflose Beklommenheit einsetzen? Als Kato sich aufrichtete, ihn anlächelte, verflog Aokis nervöse Unsicherheit, weil er automatisch zurücklächelte, erleichtert durchschnaufte. "Das wird unser erstes gemeinsames Abenteuer." Raunte Kato mit seiner rauen Stimme, zwinkerte aufgekratzt. "Ich hoffe bloß, dass ich irgendwas Nützliches beitragen kann." Seufzte Aoki grimassierend. "Hab ich keine Zweifel!" Trompetete Kato ungewohnt überschwänglich, aufgekratzt wie ein Schuljunge. "Los, sagen wir Großtante Chieko Tschüss und starten!" ~~~~>#* Mit dem vollen Transporter benötigte die Fahrt länger als mit dem Zweisitzer. Näher heran ans Grundstück kamen sie selbstredend auch nicht, was Kato nicht im Mindesten verdross. Aoki bemerkte, dass hinter der fröhlichen Erwartung gleichzeitig ein besonnener, planvoller Verstand arbeitete. "Am Besten, wir richten unser Basislager in der Küche ein, arbeiten uns nach und nach durchs Haus. Erst mal muss die Pumpe laufen. Danach schauen wir nach dem Außen-Klo. Ich habe eine Sackkarre fürs Ausladen. Morgen müssen wir klären, ob wir Strom bekommen können." Kato löste gerade so viel Schutzwände und Barrikaden, wie sie als erstes Refugium benötigten, zeigte Aoki die Tricks, die zufällige "Einmieter" davon abhielt, sich allzu leicht Zutritt verschaffen zu können. Die Baumeister des 19. Jahrhunderts hatten mit vielerlei Finessen gearbeitet. Nachdem aus dem Brunnen Wasser gepumpt werden konnte, schrubbte Aoki mit Eimer und Besen den Boden. Frische Luft wehte herein. Die untergehende Sonne tauchte die leeren Räume in rötlichen Schimmer. Sturmlaternen mit Kerzen bestücken, Bergen des Proviants und Einrichtung eines improvisierten Schlaflagers. Zwei Hängematten mussten genügen. Ermüdet verfolgte Aoki Katos Aktionen, der die wichtigen Habseligkeiten über den unwegsamen Pfad transportiert und gestapelt hatte, im Kerzenschein an einer dünnen Schnur Ablaufpläne mit Büroklammern befestigte, ihre Fortschritte dokumentierte, Listen ergänzte, durchaus zufrieden wirkte. "Ich bin gleich fertig. Leg dich schon mal hin, ja? Vor dem Morgengrauen stehen wir ohnehin nicht auf." Aoki kletterte in die Hängematte zu seinem Pinguin. Wenige Augenblicke später ließ Kato seinem Versprechen Taten folgen, löschte die Kerzenflamme. Im Zwielicht schlüpfte er in seine Hängematte. "Wir haben schon Einiges geschafft. Ich komm mir wie ein Entdecker vor! Macht Spaß!" Ließ er Aoki wissen, der das breite Lächeln hörte, sich aufsetzte, den Pinguin schnappte, eilig durch die Semi-Finsternis zur benachbarten Hängematte tappte. "Ist dir zu kalt?" Aoki rollte sich an Katos Seite, seinen Pinguin in einem Arm. "Nein. Ich will bloß nicht allein schlafen. Ist doch ein bisschen fremd hier." Lieber schmiegte er sich an Kato an in der Sicherheit, dass der am Morgen auf ihn achten würde! "Stimmt. In einer Küche hab ich auch noch nie übernachtet." Raunte Kato, küsste ihn sanft auf die Lippen. "Soll ich dir was zum Einschlafen vorsingen?" Schnaubend kniff Aoki mit der freien Hand in Katos Nase. "Soll ich DIR was über Emma oder Elisabeth und ihre Schwestern vortragen?!" "Uh, bitte nich! Da erzähl ich dir lieber was über die Hangbepflanzung, die wir auch in Angriff nehmen müssen!" Während Kato tatsächlich referierte, was ein befreundeter Experimental-Botaniker geraten hatte, schlummerte Aoki ein. ~~~~>#* Es diente durchaus der Beruhigung, dass die Zivilisation nur einen Fußmarsch entfernt im Tal wartete. Mit einer Bahnstation, mit Supermärkten, medizinischer Versorgung, Drogerien... Obwohl das Haus sich sehr gut gehalten hatte, fühlte es sich doch seltsam an, ohne Möbel zu wohnen. Oder fließend Wasser, Strom, Beleuchtung... Kato präsentierte zwei schmale, illustrierte Bändchen für Pfadfinder. Er hatte eine Gaskartusche besorgt und einen kleinen Campingkocher geliehen. Überhaupt zeigte sich die Familie als freigiebig. Was alles zugesagt wurde, hätte in DREI Transporter gepasst! Aoki trat, etwas zaghaft, den Beweis an, dass der Aufenthalt bei Großtante Chieko Früchte getragen hatte. Mochte er auch nie über Katos beeindruckende Körperkräfte verfügen, so konnte er dennoch mitanpacken, Fenster und Türen freilegen, durchlüften, den Staub abspülen, mit dem Campingkocher operieren und mit der kleinen Handsäge eine sichere Passage zum Haus freilegen. "Wir könnten einen kleinen Häcksler brauchen. Für die Komposttoilette und den Weg." Murmelte Kato, der ständig die Liste erweiterte. "Das Rohr zum Badehaus muss freigelegt werden." Stellte Aoki fest. "Ich möchte mich nicht ständig in der Küche bloß feucht abreiben." Vor allem nicht, wenn die Temperaturen fielen! Eine Heizung suchte man im gesamten Haus vergeblich: die alten Rohrleitungen schienen ebenso abgebaut und versetzt worden zu sein wie der große Herd und Ofen in der Küche. "Da werden wir extra Werkzeug brauchen. Schlimmstenfalls müssen wir das Rohr aufbuddeln." "Vielleicht kannst du einen dieser Wassersäcke besorgen? Wenn wir so einen hätten, könnte man ihn befüllen und wenigstens im Badehaus duschen?" Deutete Aoki auf den Ratgeber für Campingurlauber. "Ich tu mein Schlimmstes. Aber ich weiß nich, was ich leihen kann." Sprach Kato das Dilemma aus. Am morgigen Donnerstag war der Transporter zurückzugeben. Glücklicherweise hatte er Ladegut organisieren können, um die Kosten gering zu halten für den Onkel, aber... Wenigstens funktionierte das solarbetriebene Ladegerät für das Mobiltelefon! So konnte er, wenn er bis zur Straße lief, sogar Nachrichten austauschen. Was ihm gar nicht schmeckte, war der Umstand, Aoki die nächsten drei Tage hier allein zu lassen. Aber er musste nun mal den Transporter zurückerstatten! Er stand auch im Wort, an der Software zu arbeiten und Umzüge abzuwickeln, damit ein wenig Geld in ihre Kasse kam. Aoki servierte gekochten Reis mit eingelegten Gemüsestreifen und grünen Blättern aus dem ehemaligen Garten. "Vielleicht kostest du erst ein kleines Eckchen? Ich bin mir fast sicher, dass es Blattsalat ist." Warnte er Kato vor. Der zwinkerte. "Hast bei Großtante Chieko Einiges gelernt, hm?" "Vor allem, dass ich Sojamilchkaffee aus gerösteten, gemahlenen Bohnen vermisse!" Grummelte Aoki retour, der sich bestimmt nicht als Küchen-Maestro aufspielen wollte. Bloß musste man sich hier selbst versorgen, konnte nicht zum nächsten Automaten taumeln! Nicht mal, wenn man noch groggy vom Aufstehen war! Kato lächelte, kaute vollmundig. Na schön, Sojabohnen, Kaffeebohnen, eine gusseiserne Pfanne, eine Kaffeemühle und einen Dauerfilter würde er auch noch auftreiben! ~~~~>#* Aoki konnte sich den Luxus von Unbehagen und Fremdeln gar nicht leisten. Wenn er bei Anbruch der Dunkelheit in ihre Hängematte kroch, fielen ihm einfach vor Erschöpfung die Augen zu. Morgens war es durchaus beruhigend, Kato neben sich zu wissen, der für ihn munter herauskletterte, Wasser aufsetzte und ihm einen stärkenden Tee anreichte. Sich nicht mal darüber beklagte, dass Aoki es nicht über sich brachte, seinen Pinguin allein in der anderen Hängematte auszusetzen! Deshalb kam Aoki sein früheres Gebaren beschämend und lächerlich vor. Auf Kato konnte man sich verlassen! Ganz gleich, wie martialisch er auftrat, den Oosaka-Dialekt bemühte, durchdringend funkelte: er hatte die Ruhe weg, ließ sich von Schwierigkeiten nicht aufreiben, wurde nicht hektisch, unternahm auch keine Anstalten, Aoki zu bevormunden. Immerhin wussten sie beide ja nicht, was sie zu leisten vermochten, bevor sie es erprobten! Deshalb umarmte Aoki Kato zwar innig, löste sich auch entschlossen. "Ich halte das Dornröschen-Schloss, du sorgst für Nachschub. Wir schaffen das!" Verkündete er entschieden, wischte sich die langen Strähnen hinter die Ohren. Kato nickte artig, stahl sich noch einen Kuss. "Riskier aber bitte nichts, ja? Manches ist schwerer, als es aussieht." Aoki verdrehte die Augen theatralisch. "Keine Sorge, ich werde dir all die schmutzigen, schweren, unliebsamen Aufgaben brav aufheben. Ich leg mich jetzt einfach drei Tage auf die faule Haut und erhole mich!" Das brachte Kato zum Lachen. Er gab Aoki widerstrebend frei. Keiner von ihnen glaubte an diese Androhung mutwilliger Untätigkeit. "Jetzt steig schon ein, umso schneller bist du wieder da! Ich werde nicht heulen, also spekuliere gar nicht erst darauf!" Versetzte Aoki betont grob. Kato grummelte, kletterte ins Fahrerhäuschen, winkte durch das offene Fenster so lange, bis die Wegbiegung ihn verdeckte. Auch Aoki wedelte mit der Hand, trat den Rückweg zum Haus erst an, als von Kato schon längst nichts mehr zu sehen war. ~~~~>#* Kato überprüfte ein letztes Mal die Spanngurte der Plane des schmalen, aber hohen Pritschenwagens. Wenn er durch die Nacht alle Stationen abklapperte, würde die Ladefläche turmhoch zugepackt sein! Andererseits konnte er es sich, wie er fand, auch nicht leisten, die Hilfsgüter abzuschlagen: Tücher, Decken, Kissen, Werkzeug, kleine Gebrauchsgüter, Erbstücke der Urgroßeltern... Er musste auch eine Hiobsbotschaft übermitteln: die Energiegesellschaft erklärte sich gern bereit, Strom zu liefern. Wenn man selbst für den Anschluss ans Netz sorgte! Übernehmen könne man diese Dienstleistung nicht, bedauerlicherweise: keine schweren Maschinen, die man aber für Erdverkabelung oder Strommasten benötigte... Nicht gerade die Botschaft, die er Aoki gern ausrichten wollte. Ganz ohne Strom?! Wenigstens würde er eine handbetriebene Wäschetrommel aus Vorkriegszeiten bekommen. Der Fundus gerade außerhalb der Stadtwohnungen bot so Einiges an Antiquitäten, das keinen Strom benötigte. Trotzdem, es würde eine Herausforderung werden, das Gästehaus so herzurichten, dass wenigstens die handwerklich begabten Helfenden unterkamen! Während Kato gemächlich Kilometer abspulte, stets fröhlich empfangen wurde (mitten in der Nacht!), erhielt er auch noch Proviant, außerdem die besten Wünsche für ein gutes Gelingen und die Hoffnung auf Bilder. Man sähe sehr gern Fotos, wirklich, das sei ja so spannend! Ohne Strom und mit verplombten Fenstern und Türen konnte er sich diesbezüglich noch etwas Aufschub verschaffen. Allerdings, Reklame für ihr abenteuerliches Projekt wäre sicher nicht verkehrt! Der Morgen dämmerte noch nicht heran, als Kato durchaus geschafft den schwer beladenen Pritschenwagen ausrollen ließ. Ohne Beleuchtung stand Auspacken und Abladen gar nicht erst zur Debatte. Wenigstens erwies sich der freigelegte Weg als ausreichend einsehbar genug, keine Taschenlampe bemühen zu müssen. Er näherte sich dem Eingang zur Küche nach Umrundung des Haupthauses, als er Bewegungen bemerkte. Schwang da jemand einen Besen?! "Aoki?" Erkundigte er sich, blieb abrupt stehen. "Kato.... Kato!" Der Besen flog, Aoki auch, nämlich Kato um den Hals, die Wangen schon feucht. ~~~~>#* "Niemand wird irgendwem auf den Kopf schlagen." Stellte Kato kategorisch fest, während er akribisch im Laternenlicht die verschorfenden Kratzwunden inspizierte, mit dem dritten Taschentuch in Serie Aokis Gesicht abtupfte. "Du wirst auch deine Rationen nicht mit dem Hund teilen." Liebe Güte, das fehlte gerade noch, wo Aoki ohnehin nichts ansetzte! Besagter Hund saß in einiger Entfernung sehr ruhig, studierte sie offenbar abwartend. Definitiv kein Gesellschaftshund, eher eine wilde Promenadenmischung mit kurzem, lohfarbenen Fell. Schien jedoch, nach Aokis erster Einschätzung, durchaus an Menschen gewöhnt. "Er ist ganz sicher kein bösartiger Streuner!" Verteidigte Aoki ihren vierbeinigen Gast erregt. "Ich kann ihn doch nicht einfach verjagen, wo er mir so geholfen hat!" Dabei, wie Aoki auch, einige Krallenhiebe eingesteckt hatte. Kato seufzte grimmig. Waschbären! Augenscheinlich eine ganze Bande, mutmaßlich daran interessiert, sich im Haus einzurichten. Er glaubte keine Sekunde an die unverschämten Vorhaltungen von offenen Abfalltonnen oder Lebensmittelresten. Du lieber Himmel, in Aokis vorherigem Leben wären nur Bücherwürmer nicht verhungert! Dessen Gang zum Kauf von Desinfektionsmittel hatte wohl missgelaunte Nachbarn auf den Plan gerufen. »Ich sollte vielleicht auch mal in voller Breite durch das Kaff spazieren!« Dachte Kato in kaltem Zorn. War ja leicht, den ohnehin aufgeschreckten, schmalen Aoki runterzuputzen, der da mit einem wilden Köter einen Einkauf zu tätigen beabsichtigte! ER hingegen wurde nur sehr selten behelligt. Kato atmete tief durch, spürte, wie der unerwartete Adrenalinstoß nachließ. "Aoki, ich brauch ne kurze Auszeit. Dann geht's weiter. Morgen suchen wir einen Veterinär, in Ordnung?" Falls der Hund wider Erwarten doch jemandem gehörte, einen Chip trug oder was auch immer. "Entschuldige bitte, du musst ja todmüde sein!" Kato gähnte unterdrückt, kletterte in ihre Hängematte, zog Aoki so in die Arme, wie der gewöhnlich seinen Pinguin zu bekuscheln pflegte. "Nur n bisschen..." Aoki hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. "Träum was Nettes. Ich pass auf." Der Besen stand ja in der Nähe! ~~~~>#* Bei Tageslicht betrachtet sahen die beiden tapferen Waschbärenbekämpfer nicht viel besser aus. Kein Wunder, auf Geräusche lauschend konnte man nicht anständig durchschlafen. "Sie haben keinen Bau auf dem Gelände." Erläuterte Aoki, der Reiseintopf austeilte. Auch für den Hund. "Ich bin nämlich das Gelände abgegangen wegen des Abwassers. Oder vielmehr der Drainage." Kato lupfte eine Augenbraue. "Ich vermute, man hat offene Halbrohre gehabt, mit Steinplatten als Abdeckung. Wie in der alten Zeichnung, erinnerst du dich? Den Zugang zum öffentlichen Rohrsystem habe ich auch seitlich am Hang gefunden." Mit einem Schnauben leerte Kato grimmig seine Backen. "Lass mich raten: die Rohre sind entweder verstopft, zerbrochen oder beides. Wir können uns glücklich schätzen, nicht schon eine Schlammlawine ausgelöst zu haben." Aoki nickte bloß, löffelte erstaunlich gelassen weiter. "Hab ich schon erwähnt, dass es mit Strom aus dem Netz auch Essig ist?" Operierte Kato mit Sarkasmus. "Dachte ich mir schon." Ließ Aoki keine Unruhe erkennen. "Der sehr unfreundliche alte Mann ließ mich das wissen. Ich glaube, einige hier in der Nachbarschaft wollen unser Projekt scheitern sehen. Offenbar hoffen sie, dass die Auflagen dann modifiziert werden für 'interessierte Alteingesessene'." Kato knurrte, was den Hund die Ohren spitzen ließ. "Is ja reizend! Nun, die gewöhnen sich besser an uns. Muss mich dem Vogel wohl mal vorstellen." Möglicherweise müsste dann doch ein Dummschädel vom Stängel geschraubt werden! "Wenigstens stimmt die Wasserqualität aus dem Brunnen." Die kleinen Testsets zeigten beruhigende Ergebnisse, hingen mit Schnur um den jeweiligen Gefäßhals an der Wand. Aoki kämmte sich die langen Strähnen hinter die Ohren. "Ich bin gespannt, was du mitgebracht hast. Ich zeig dir, was ich erledigt habe." Kato lächelte erleichtert. "Ehrlich, ich hab erwartet, dass du mir die Ohren langziehst. Auch ohne Waschbären-Attacke." Versonnen spülte Aoki seine Schüssel mit dem Rest Tee aus, um nichts zu verschwenden, nippte. "Ich bin nicht sicher, ob das alles so funktioniert. Aber wir sind schon so weit gekommen! Da gebe ich doch nicht einfach so auf! Ich kann mehr, als ich je angenommen habe. Das ist den Einsatz wert!" Steigerte er sich ein eine entschlossen-flammende Erklärung. Kato lachte leise, langte hinüber, Aokis Wange mit der Fingerkuppe zu liebkosen. "Recht hast du! Ich hab vergessen, dass du genauso stur bist wie ich." "Nachhaltig willensstark." Verbesserte Aoki mit erhobenem Kinn, zwinkerte, nahm Katos Hand. "Dieses Dornröschen-Schloss braucht mehr als einen lumpigen Prinzen, um es wach zu küssen." Beispielsweise Fachleute für Botanik, Be- und Entwässerung, Installation... ~~~~>#* Aoki war sehr fleißig gewesen: improvisierte Wäschestangen mit handgereinigten Kleidungsstücken. Das Waschwasser hatte er genutzt, um die Drainage-Wege zu erkunden. Auf das Dach musste man auch steigen, wegen der Regenrinnen! Zisternen gab es keine, aber Sammeltonnen für Regenwasser schienen interessant! Mit der Handsäge hatte er sich den Weg gebahnt, ehemalige Ziersträucher freigelegt, einen verwilderten Küchengarten abgesteckt. Aufgehängte Tücher mit Furoshiki-Knoten dienten der Aufbewahrung diverser Artikel. Sie verbrachten den Sonntag damit, die abgeladenen Artikel zu verstauen und auf Gebrauchswert zu erproben. Kato registrierte dabei, dass der Hund nicht bellte. Der blieb in der Nähe, nahm Wasser und Futter an, schlief auf einem alten Handtuch im Vorraum zur Küche. Für einen Streuner doch eher unerwartet. "Ich gebe morgen Früh den aktuellen Stand weiter, wenn wir beim Tierarzt sind. Vielleicht hat jemand eine Idee, wie wir die Wasserentsorgung hinbekommen." Aoki, an seine Seite gelehnt, mit Einbruch der Dunkelheit ermüdet, pflichtete ihm murmelnd bei. "Das hilft bestimmt. Hoffentlich kann Basho bleiben." Kato unterdrückte ein leises Lachen. Von wegen "der Hund"! Wenn Aoki ihn bereits heimlich getauft hatte, würden sie ihren neuen Hausgenossen sicher nicht so schnell verlieren. Andererseits hegte Kato auch keine besonderen Einwände, solange Basho nicht mehr Streicheleinheiten als er bekam und der Pinguin der einzige Gast in ihrem Bett blieb! ~~~~>#* Aoki hielt die improvisierte Leine mit dem schlichten Stoffband um Bashos Hals. Der hatte sich geduldig ausstaffieren lassen, damit man zum nächsten Klein- und Haustier-Veterinär paradieren konnte, Kato betont martialisch auftretend. Falls die neugierige, ungezogene Nachbarschaft einen Blick riskierte. Konnte nicht schaden zu signalisieren, dass ER ein ordentliches Pfund in seine Fäuste legte! Während er telefonierte, auf Sparsamkeit bei der Akku-Kapazität bedacht und den Empfang nutzend, begleitete Aoki Basho, der über keine Implantate verfügte, nicht in den bekannten Datenbanken als vermisst oder gesucht aufgeführt wurde. Allerdings, das war ja auch kein Rassehund. Wenn auch zweifellos in gutem gesundheitlichem Zustand und an Menschen gewöhnt. Hatte man ihn ausgesetzt? War er verloren gegangen? Schlau genug musste er sein, wenn er sich so durchgeschlagen hatte. Kato bezahlte die Rechnung über Untersuchung und Behandlung, nahm Aokis Hand. "Was ist los? Ist etwas geschehen?" Erkundigte der sich prompt besorgt. Grimassierend enthüllte Kato die neueste Entwicklung. "Mach dich auf was gefasst: meine Urgroßmutter kommt heute Nachmittag mit dem Zug an!" ~~~~>#* Kato stellte den entladenen Pritschenwagen in der Nähe der Bahnstation ab. Glücklicherweise kannte man hier anders als in der Großstadt keinen immensen Parkdruck. In größter Eile hatten sie einen kleinen Nebenraum gelüftet und geschrubbt, die zweite Hängematte dort montiert. Aber, du liebe Güte, so ganz ohne Möbel, ohne alles, wie würde die alte Dame das aushalten?! Es half nichts, man würde improvisieren müssen. Deshalb hielt Kato auch Ausschau nach einer alten Frau, die noch kleiner als seine eigene Mutter war, ausgerüstet mit Rucksack und einem Trolley, unternehmungslustig einen Schirm schwenkend. "Endlich mehr Bewegung! Dachte schon, mir schlafen die Füße ein. Wo hast du geparkt, Jungchen?" ~~~~>#* Aoki staunte. Urgroßmütter stellte er sich anders vor: in Kimono oder Yukata, mit Schürze und Haube/Kopftuch, stets lächelnd, runzelig und zurückhaltend. Katos Urgroßmutter erfüllte dieses Ideal nur unvollkommen. Besonders runzelig sah sie nicht aus, trug Turnschuhe (Kindergröße), wechselte sogleich in einen "Matschanzug" (Kindergröße). "Kann man abwischen. Ohne Waschmaschine sehr praktisch, Liebchen." Adressierte sie Aoki, musterte Basho kurz. "Na, kaum hier, und schon auf den Hund gekommen?" Was Aoki ermutigte, ihren neuen Gefährten tapfer zu verteidigen. "Waschbären? Aha. Schlaue Viecher. Da brauchen wir Fallen." Wie ein Feldwebel stapfte sie über das Gelände, inspizierte die Umgebung, den Abhang, das größtenteils noch verschlossene Haus, ordnete, weil es dunkel wurde, gemeinsames Abendessen und eine strategische Besprechung an. Nicht, dass sie sich einmischen wollte, aber wenn Expertise gewünscht wurde? Kato und Aoki wünschten. Basho genügte es, sich zwischen den spitzen Ohren kraulen zu lassen. "Zwei Vorteile: Erfahrung aus dem Landleben vor dem Krieg und Zähigkeit." Erläuterte die alte Frau ungeniert. "Außerdem funktioniert der Kopf noch." Sie klopfte sich mit den Fingerknöcheln an den Schädel. Die grauen Haare waren in einem kurzen Pagenschnitt frisiert, mit einem Stirnband gehalten. Es wirkte verblüffend mondän, erinnerte an die kurze Blütezeit der Flappergirls in Europa. "Bevor du in die Stadt zurückfährst, haben wir hier Einiges erledigt." Zum Beispiel den invasiven Bambus stark ausgedünnt, die Segmente halbiert und als improvisierte Halbrohre genutzt. ~~~~>#* Zu ihrer Erleichterung funktionierte die Zusammenarbeit sehr gut. Wie alle Familienangehörige, die Aoki bisher kennengelernt hatte, zeichnete sich auch die Urgroßmutter durch eine pragmatische Natur aus. Sie schien ihm auch nicht übelzunehmen, dass er noch vieles zu lernen hatte, in einer kleinteiligen Gesellschaft aufgewachsen war, wo Spezialisierung regierte. Essen "entstand" in Supermärkten oder kleinen Läden, Getränke "zog" man schlicht aus den Automaten... Es zahlte sich aus, bei Großtante Chieko Basiswissen akkumuliert zu haben. Basho bellte tatsächlich nur, als die Waschbären einen zweiten Angriff lancierten. Mit Laternen und Besen/Schaufel/Schirm ausgerüstet wurden sie jedoch erneut verjagt. "Die Viecher hausen nicht hier. Wenn sie nichts zu fressen finden und keinen Zugang zum Haus, werden sie aufgeben." Sonst, daran ließ die Urgroßmutter keine Zweifel, gehörten sie bald zu einer aussterbenden Art auf diesem Gelände! "Wir werden über die Heizung nachdenken müssen. Früher haben wir Steine genutzt, in der Wanne." Die man mit langen Zangen transportierte, am Feuer durch Kohlebecken erhitzt. "Schade, dass wir hier keine Geothermie haben. Oder eine heiße Quelle." Nickte Kato, faltete ihre Pläne ordentlich zusammen. Es war schließlich spät. Am nächsten Morgen stand die Rückfahrt an, was ihn schon ein wenig wehmütig stimmte. Die gemeinsame Arbeit hatte ihn der Urgroßmutter näher gebracht. "Ah, richtig! Reich mir doch mal meinen Rucksack, ja?" Sie zog ein längs gefaltetes, aus schwerer Papierqualität bestehendes Dokument hervor, klappte es auf dem wackligen Feldtisch (einer der zahlreichen Spenden) aus. "Liebchen, willst du gerade dein Siegel holen?" Aoki, der schon erschöpft an Katos Schulter gedöst hatte, blinzelte verwirrt, leistete der Aufforderung aber Folge. "...Oma..." Setzte Kato an, der noch nicht so müde war und schneller auffasste, was GENAU vor ihnen entfaltet lag. "Pscht. Bring das Liebchen nich durcheinander." "Hier ist mein Siegel, bitte. Wofür wird es denn gebraucht?" Nahm Aoki neben Kato wieder Platz, um Aufmerksamkeit ringend, obwohl der Rest seines Körpers lieber die Hängematte bevölkert hätte. "Familienregister. Kannst danach Katos nutzen, bis dein eigenes fertig is." Während Kato vor Anspannung die Luft anhielt, dauerte es mehrere Wimpernschläge, bis Aoki begriff, entgeistert vom schweren Papier in die Gesichter blickte. Prompt setzte auch der Wassersprenger ein, was Kato veranlasste, ein Stofftaschentuch mit wachsender Übung zum Einsatz zu bringen. "Man kann sich seine Familie selten aussuchen, Liebchen, aber ich sage dir: wir sind erste Wahl. Bisschen verrückt, schon, doch bei der Menge Leute verläuft sich das. Is ohnehin ne Formalie, bist ja schon längst adoptiert." Aoki schluchzte erstickt, weil er nicht heulen wollte, aber bis ins Mark erschüttert war. "Soll ich grad siegeln? Dann gibt's keine Wasserflecken." Übernahm die Urgroßmutter pragmatisch die manuellen Voraussetzungen für eine familiäre Verbindung. "Na, passt! Gut, gut, verstau ich flott, dann hauen wir uns aber hin. Keine Sorge, ich hab Routine mit dem Einreichen vom Papierkram. Is ja nich das erste Mal." Zwinkerte sie frech, erhob sich, tätschelte Aokis Schopf. "Das wird lustig. Wirst jede Menge Spaß mit uns haben. So, ab in die Matten, Jungs!" Leichter gesagt als getan. Aoki schnüffelte in Katos Armen noch eine Weile vor sich hin, überrumpelt, glücklich, verwirrt. Kato kraulte ihm sehr sanft den sensiblen Nacken. "Davon hab ich nichts gewusst, Ehrenwort! Aber ich bin so froh, das kann ich gar nicht in Worte fassen! Danke schön, Aoki. Vielen Dank!" Der brachte keinen zusammenhängenden Satz über die Lippen, verlegte sich deshalb aufs Anklammern, damit endlich auch das lästige Schniefen, Zittern und Herzrasen aufhörte! ~~~~>#* Zum ersten Mal nutzte Kato die Bahn. Mit gewaltigem Marschrucksack, seiner ohnehin sehr imponierenden Gestalt nicht gerade gefragt bei den Sitznachbarn. Es beschwerte sich auch ohne Keksgabe niemand. Dazu musste Kato bloß die leichte Jacke abstreifen, seine Muskeln spielen lassen. Seine Urgroßmutter war natürlich nicht untätig gewesen. Bilder wurden geteilt, Herausforderungen geschildert. Das potenzierte die Hilfsbereitschaft und das Interesse noch. Strom vielleicht aus einer Autobatterie als Speicher mit Pedalantrieb oder Kurbelwelle eines Windrads? Ausrangiertes Verlegesystem einer Gärtnerei zur Bewässerung? Low-Tech aus dem Netz, ein luftdichter Behälter zum Verkoksen der Bambushalme? Einig schien man sich, dass in der Küche ein Ofen sein musste, damit gebacken und gekocht werden konnte. Auch die Frage des Heizens wurde lebhaft diskutiert, immerhin hatte das "Gästehaus" eigentlich bloß als Sommerfrische fungiert. Somit stellten niedrige Temperaturen kein Problem dar, weil in diesen Jahreszeiten niemand dort lebte. Wenn man die Kokserei mit den Grünabfällen (anstelle von Holz oder Briketts) meisterte, konnte man das Badehaus nutzen...?! Sollte man auch über eine Isolierung des Gebäudes nachdenken? Im Dornröschen-Schloss gab es ja nicht nur einen gewaltigen Kamin, sondern schwere Vorhangstoffe, um Zugluft zu verhindern! Wobei sich die Frage nach Schimmel oder Ungeziefer in den Tüchern stellte... Kato erhielt von Tüftlern und Bastlern die Rückmeldung, man erprobe daheim dieses oder jenes und lasse es ihm bei Erfolg zukommen. Die amüsante Schilderung seiner Urgroßmutter über die Schlafqualitäten in der Hängematte erregte auch Aufsehen. Warum nicht einen Kurzurlaub der eher rustikalen Sorte im Gästehaus verbringen? Man könnte reisen und schaffen und Spaß haben und mal die Perspektive wechseln... Zusagen gab Kato nicht. Noch galt es, erst mal die Pioniertätigkeiten abzuschließen. Zudem schien es fraglich, die rudimentäre Infrastruktur schon gleich einem Belastungstest auszusetzen. Was mit zwei Bewohnern gelang, konnte bei zehn Leuten schon die Kapazitätsgrenzen überschreiten. Dass sich die Familie ganz offiziell um eine Person erweitert hatte, löste außer einer wohlwollenden Anerkennung kein Aufheben aus. Man war das schlichtweg gewöhnt. Je mehr, je unterschiedlicher, desto besser! Man konnte ja nicht vorhersehen, welche Fähigkeiten und Kenntnisse mal gebraucht würden, richtig? Was Kato benötigte, während er sich wie umgekehrtes Origami aus dem Sitz faltete, war klar: Aoki. Den gewaltigen Marschrucksack auf dem Buckel marschierte er über den Bahnsteig. Erst auf den zweiten Blick konnte er Aoki ausmachen. Der kauerte nämlich neben Basho, einen Arm um den Hund gelegt, kraulte ihn und sprach auf ihn ein. Mochte Basho keine Züge? Oder Bahnstationen? Basho spitzte die Ohren, was Aokis Aufmerksamkeit nicht entging. "Kato!" Er richtete sich flugs auf, ließ die improvisierte Leine zu Boden sinken. Kato scherte sich nicht um Konventionen oder das empfindsame Feingefühl etwaigen Publikums. Schwungvoll zog er Aoki in seine Arme, hielt ihn fest. "Du hast mir so gefehlt!" Bekannte er ungeniert, lupfte Aoki sogar von den Zehenspitzen. Der drückte ihn ebenfalls, lachte an seiner Brust. "Willkommen zurück! Wir haben tapfer die Stellung gehalten." Eilig inspizierte Kato daraufhin erst Aoki, danach auch den artig wartenden Basho. Außer fröhlichen Mienen konnte er keine Kampfspuren ausmachen. "Wir haben nicht auf der faulen Haut gelegen!" Aoki nahm ganz selbstverständlich Katos Hand, ließ sich von Basho die Leine reichen. "Basho und ich sind durch das gesamte Haus gezogen, haben Spuren von Eindringlingen gesucht. Draußen haben wir es so gehalten, wie deine Urgroßmutter uns geraten hat, nämlich Kletterhilfen entfernt." "UNSERE Oma. Wirklich, sehr fleißig von euch beiden!" Lächelnd akzeptierte Aoki Korrektur und Lob. "Das Haus ist sicher. Ich habe noch angespitzte Bambus-Stangen in den Boden gerammt, rund ums Grundstück. Vielleicht sollten wir doch über eine kleine Senke nachdenken, für einen Naturteich? Das Wasser könnte Pflanzen-gereinigt durchsickern. Ob der Brunnen nämlich so viel hergibt?" Kato beugte sich herunter, drückte Aoki einen Kuss auf die Wange. "Ich bin sehr stolz auf euch zwei." Aoki strahlte neben ihm, die Wangen dezent rosig. "Hörst du, Basho? Wir werden gelobt! Du bist ein sehr feiner Kamerad." Basho wedelte kurz verstärkt mit der eingebogenen Rute. "Ich glaube fast, er versteht, was wir sagen." Merkte Kato an. "Ich bin sicher, dass Basho das Wesentliche sehr schnell begreift! Er ist ein GUTER Hund!" Betonte Aoki kämpferisch. "Wie gut, dass ich auch für ihn was im Rucksack habe." Entschlüpfte Kato einer flammenden Rede über die Vorzüge ihres vierbeinigen Gefährten. "Oh, apropos Rucksack..." Aoki blickte zu ihm hoch, zögerte kurz, bevor er seinen Einwurf ausführte. "Denkst du...ob wir vielleicht ein gebrauchtes Fahrrad anschaffen könnten? Für den Transport, weißt du? Ich bin nicht sicher, dass ich die zehn Kilo Reis im Sack bis zum Haus schleppen kann." Ein verlegenes Lächeln huschte über seine feingeschnittenen Züge. "Der Großhändler hat nämlich gleich hier unten sein Geschäft." Was bedeutete, dass man im schlimmsten Fall beim Aufstocken der Vorräte den ganzen Berg hochklettern musste. Mit Ballast. "Guter Gedanke! Auf dem Buckel würde ich den Sack auch nicht gern schleppen." Pflichtete Kato ihm bei. "Allerdings habe ich mich heute auch auf Soja- und Kaffeebohnen beschränkt." Er grinste, als Aoki wie ein Christbaum neben ihm erstrahlte. "Ohh...oh, wie wunderbar! Ich werde ganz bestimmt sehr verantwortungsvoll damit umgehen!" Gelobte er sofort, drückte ihre verbundenen Hände begeistert. Kato hob sie an, küsste Aokis Handrücken zärtlich. "Das läuft unter Betriebsmitteln. Wir werden uns nämlich ins Zeug legen müssen. Nachdem UNSERE Oma so viel Spaß hier hatte, wollen eine Menge anderer auch mithelfen und übernachten, in Hängematten, ohne Strom und fließendes Wasser." Aoki hob das Kinn ein wenig höher. "Das stand zu erwarten. Zurück zur Natur, zum vermeintlich einfachen Leben. Wusstest du, dass es diese Wellen, hauptsächlich bei der Oberschicht, immer mal wieder gab? Man könnte zum Tagesausklang darüber kurz referieren, etwas lesen...." "Wenn da wieder grässliche Schwestern auftauchen, stifte ich meine Mutter an, einen Gesangswettbewerb zu starten!" Drohte Kato aufgeschreckt. Neben ihm prustete Aoki, grinste schelmisch hoch. "Mich deucht, DU hast Manschetten vor dem Weibsvolk!" Kato grummelte sonor. "Nur vor der literarischen Variante! Gemein, mich so aufzuziehen!" Breit feixend sparte sich Aoki einen Kommentar. Kato lächelte entspannt, während sie den Aufstieg meisterten. SO wollte er Aoki erleben: selbstbewusst, mit Schalk im Nacken, munter, gut gelaunt! Prinzen waren definitiv überschätzt. ~~~~>#* Aoki strich Basho kurz über das Fell, was der Hund sich gern gefallen ließ, emsig den Kauknochen bearbeitete, der der Zahngesundheit dienen sollte. Nicht nur Aoki hatte Fans, auch Basho fand Anklang! Im Schein der Laterne wechselte Aoki die Kleidung, kletterte in die Hängematte. Man hätte auch beide nebeneinander aufhängen können, doch mittlerweile wollte er nicht mehr allein schlafen. Verblüffend. Derselbe Kato, doch nichts an ihm erschien Aoki bedrohlich. Wie denn auch?! Kato liebkoste ihn sanft, verwies den Stoffpinguin nicht des Feldes, summte sogar leise. Alles eine Frage des Vertrauens. Aoki vertraute rückhaltlos, schmiegte sich an den wenig jüngeren, sehr muskulösen Mann an, seufzte erschöpft und glücklich nach einem langen, anstrengenden Tag. "Ich hab dich vermisst. Konnte im Bett gar nich richtig pennen." Raunte Kato ihm zu, küsste ihn auf die Stirn. Man hätte nun mit einem Scherz reagieren können, auf die Bevorzugung von Ungemütlichkeit etwa, doch Aoki kuschelte eindringlicher. "Du hast mir auch gefehlt. So schön die Hängematte auch ist: hin und wieder brauchen wir ein Bett." Stellte er entschieden fest. Einige hastige Herzschläge verstrichen. Kato lachte leise. "Stimmt. Ich habe da so einen Entwurf im Gepäck. Lass uns das morgen angehen, hm? Da bin ich auch wieder fit, hab die Origami-Knickfalten vom Bahnfahren abgeschüttelt." Ein amüsantes Bild, ließ Aoki schmunzeln. "Ich freue mich drauf. Meine Kondition ist nämlich sehr viel besser geworden. Ich finde, ein bisschen Energie sollte man dafür ruhig abknapsen können. Zwei Jahre halte ich nämlich nicht durch." Spielte er auf Katos geduldiges Werben an. Wenn er sich in Erinnerung rief, zu welchem Zeitpunkt einer Bekanntschaft Sex stattgefunden hatte! Von all den Pleiten, Pech und Pannen-Prinzlingen mal ganz zu schweigen. Kato kraulte ihm den Nacken. "Tja, ich bin eben stur. Ich wusste, dass DU es bist, dass ich dich liebe. Das wollte ich eben umgekehrt auch auslösen. Mit ner schlaueren Taktik als die anderen Typen." Aoki lächelte, rutschte höher, um Kato auf die Lippen zu küssen. "Entschuldige, dass du warten musstest, bis ich begriffen habe, dass Prinzen nur Schönwetter-Phänomene sind. Was ich wirklich brauche, ist ein passionierter, unerschrockener, leidenschaftlicher Wolkenschieber. Und das bist du. Jetzt wirst du mich auch nicht mehr los. Da bin ICH stur." Keine Drohung, die Kato erschrecken konnte. "Nach dem Frühstück, da kümmern wir uns um ein Bett. Versprochen!" Verkündete er rau, ließ die kleine Kugel in seiner Zunge schwingen, als er Aoki die Höflichkeit erwiderte. Mehr als engagierte Küsse gewährte der Seegang in der Matte leider nicht. Aber morgen! Da würde er seines Amtes walten! Die Wolke des Ungeliebtseins wegschieben, auf Nimmerwiedersehen! Anschließend würde er die farbige Kreide hervorholen, mit Aoki bunte Wolken aufmalen, mit all den tollen, verrückten, fröhlichen Ideen für ihre Zukunft. Weil echte Wolkenschieber auch dieses Handwerk beherrschten. ~~~~>#* ENDE ~~~~>#* Danke fürs Lesen! kimera