Titel: Vermisst Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Spannung Erstellt: 27.08.-31.11.2004 Disclaimer: Die Herausforderung ist das Werk des Nordlichts, alles Zitierte gehört den rechtmäßigen Inhabern. Achtung, keine Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen beabsichtigt! Herausforderung vom Nordlicht: für jeden Tag Aufenthalt in Japan eine Fortsetzung der Geschichte. "Und nun noch eine Vermisstenmeldung. Gesucht wird der vierundzwanzigjährige [XY]. Er ist 1,85m groß, sehr schlank, hat schwarzes kurzes Haar und eine auffällige Tätowierung am Hals. Er trägt Jeans, ein blaues T-Shirt und wahrscheinlich keine Schuhe. [XY] benötigt dringend ärztliche Hilfe. Und nun zum..." Stichworte: - Großstadt, laut, schrill, chaotisch, gefährlich - Hardrock, Punkrock, Heavy Metal etc. vs./plus Chopin, Mozart und Vivaldi - "Es gibt kein Grau, nur schmutziges Weiß." (Terry Pratchett) - "Suddenly I know that I'm not sleeping" (aus "Hello" von Evanescence) - Mittzwanziger - Nachtleben - Zwielicht - Spätsommer/Herbst (Novembernebel) - fliegende Fetzen - splitternde Felsen in der Brandung - grüne Augen ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ Vermisst Teil 1 (27/08/2004) "Und nun noch eine Vermisstenmeldung. Gesucht wird der vierundzwanzigjährige Konrad Siebeneicher. Er ist 1,85m groß, sehr schlank, hat schwarzes kurzes Haar und eine auffällige Tätowierung am Hals. Er trägt Jeans, ein blaues T-Shirt und wahrscheinlich keine Schuhe. Konrad Siebeneicher benötigt dringend ärztliche Hilfe. Und nun zum..." Ich verfolgte die Verkehrsmeldungen nur mit halbem Ohr, bereits bis zur geistigen Umnachtung betäubt durch die Top Ten der Hitparade. Gruselpop, der wie das Leben in einer endlosen, marternden Schleife jeglichen Geschmack abtötete. Miss Spears setzte an, und ich zuckte reflexartig, suchte nach dem Klassik-Sender. Natürlich nicht zu empfangen! »Nun gut«, beschied ich knapp, »wozu haben General Motors DVD-Player in ihre Gefährte eingebaut?« Damit sich nun die "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi in den Sommer stürzten, flirrend und vibrierend vor Leben und Agilität. Es hieß, Kolonne zu fahren, umzingelt von blinkenden Absperrposten, sich an einer endlosen Baustelle vorbei zu schlängeln. Der Spätsommerhimmel über mir trug bleigrau, abgestumpft oder ermattet von seiner langen Saison. "Konrad, sprach die Frau Mama, ich geh aus und du bleibst da", glitt mir gedankenverloren von den Lippen, meine Gedanken wanderten müßig umher. Nicht gerade die passende Verfassung, um Auto zu fahren, und ich überraschte mich selbst mit diesem Zitat aus meiner Kinderzeit. Als Struwwelpeter noch kein Punk und Pauline keine Pyromanin mit Emanzipationsstreben waren. Heinrich Hoffmanns Werk prägte sich doch tiefer in die kindliche Psyche ein, als man allgemein annahm. Vielleicht hatte "Bussi Bär" auch einfach nicht die griffigen Reime... "Reiß dich zusammen, Rowan!", rief ich mich selbst zur Ordnung. "Konrad Siebeneicher ist nicht von Belang für dich." »Siebeneicher...« Was für ein Name! Ich assoziierte damit Berge, eine ländliche Region, alles irgendwie pittoresk. »Ob er wohl auch am Daumen gelutscht hat und deshalb ärztlicher Hilfe bedarf?«, trödelte ungeachtet meiner energischen Bemühungen ein absurder Gedanke durch meinen betäubten Schädel. Ich war schon zu lange unterwegs. ~#~ Teil 2 (28/08/2004) In der Ferne zeichnete sich die Silhouette der Metropole ab, eine beeindruckende Sammlung von Wolkenkratzern, Kirchtürmen und Kuppelhallen. Geschickt illuminiert, werbend. Und nun, da die Sonne, von unzähligen Partikeln in der Luft entzündet in brennender Schönheit hinter dem Horizont versank, ihre sterbenden Strahlen in feuriger Glut den Himmel dramatisch beleuchteten, wirkte das Schauspiel noch imposanter. Fast unwirklich. Die Asphaltbänder verwandelten sich mit der Dämmerung in Lichtschienen, ein gewaltiger, pulsierender Organismus, orchestriert von Abertausenden Intentionen. Meine reduzierte sich im Augenblick darauf, auf Mussorgsky zu wechseln, "Bilder einer Ausstellung". Ebenso phantastisch, surreal erschien mir die sich rapide verändernde Aussicht rund um meinen sicheren Kokon. Abgetrennt von dem chaotischen Wirbel der Autos und Motorräder, Neon-, Xenon- und Ampellicht bewegte ich mich in träumerischer Sicherheit wie in einer Seifenblase durch diese Wunderwelt. Von Musik umpulst, erneut dankbar für diesen Luxus, der mir in Augenblicken wie diesen, erschöpft und ein wenig fiebrig, den Zauber meiner Welt nahe brachte. Wie ein Märchenland, angefüllt mit Möglichkeiten, Verheißungen und gefährlichen Abenteuern. Ja, man sollte nicht meinen, dass ich mich bereits am oberen Ende des Klassements "Mittzwanziger" bewegte. Tatsächlich, eingestandener Weise, liebte ich diese Symphonie der Großstadt. Ein Wunderwerk einer unbekannten Mechanik, die unsichtbare Zahnräder und -riemen im Schwung hielt, um dieses Schauspiel für mich allein aufzuführen. Stimmt, ein ausgesprochen eitler Gedanke. Doch wenn ich mich umblickte, so konnte ich mir kaum vorstellen, dass einer der anderen Verkehrsteilnehmer, die sich um mich drängten, diese transzendenten Wahrnehmungen wertschätzte. Vielleicht irrte ich auch. Wer weiß. Die Innenstadt mit ihrem lebendigen, organischen Wechsel aus Glas- und Spiegelpalästen, Bürgertumsvillen, Rotlichtviertel und Verkehrsknotenpunkten hinter mir lassend bog ich auf die Strecke in die Satellitensiedlungen ein. Meine Mietwohnung, drei Zimmer-Küche-Bad, lag in einem der Viertel, die man aus einem traditionellen Ortskern ausgeweitet hatte, in den frühen Achtzigern mit niedrigen Mehrfamilien-Wohnblocks inmitten von Grünstreifen ausgestattet. Heute entsprachen sie nicht unbedingt mehr dem Stand der Technik. Die Wärmedämmung war lausig, die letzte Sanierung hatte erst die Boilertechnik ersetzt, die Anstriche bewegten sich in einer trübseligen Skala von mattem Steingrau bis fahlem Bleichgelb. Eine ruhige Mittelschichtsgesellschaft frönte ihrem Leben, kleinere Unternehmen hatten ihren Sitz in der Nachbarschaft, alles überschaubar, geordnet, friedlich. Kleingärten boten neben den obligatorischen Vereinen die Möglichkeit, die Nachbarn zu treffen, wenn man die Pinten und Stehkneipen ausließ. Ich steuerte meine zweite Luxusanschaffung neben der hervorragenden Anlage in meinem Auto an: meine Containergarage. Man hatte in unmittelbarer Nachbarschaft ein ehemaliges Industriegelände geräumt und beim Abriss der lange leerstehenden Bauten bemerkt, dass der sich darunter befindende Erdboden kontaminiert war. Die Entseuchung würde ein halbes Jahrzehnt in Anspruch nehmen, was dem Investor zu einem Schnäppchenkauf gereichte. Er entschloss sich, einfach ausgemusterte Container für den Seetransport aufzukaufen, in zwei Etagen zu stapeln und die unteren Container mit ihrem Fassungsvermögen als Garagen zu vermieten, die oberen als Lager auf Zeit. In einem Viertel, in dem man bei der Konzeption von einem Auto pro Familie ausging, ein lukratives Angebot. Und so war ich nun seit meinem Einzug stolzer Mieter einer Containergarage, in der auch meine Suzuki auf ihren Einsatz wartete. Ich näherte mich dem Areal, steckte die Codekarte in den Schlitz, steuerte meine Garage an und bereitete mich darauf vor, den Kleidersack samt Aktentasche und Notebook zu schultern. Die kühle Brise des fortschreitenden Abends tief in meine Lungen hinabzuziehen und mir einige Stunden Ruhe zu gönnen. ~#~ Teil 3 (29/08/2004) Es war ein Fehler, der aus der Macht der Gewohnheit entsprang. So, wie ich gewöhnlich gedankenverloren den Briefkasten beim Eintreten in das Treppenhaus leerte, so ließ ich Schlüsselbund und Codekarte in eine kleine Schale unter dem Garderobenspiegel fallen. Drückte den Wiedergabeknopf an meinem kombinierten Fax-Drucker-Scanner-Anrufbeantworter. "Rowan, melde dich unbedingt sofort bei mir. Auf deinem Handy geht nur die Mailbox an." Kein Gruß, Befehlston vom Kasernenhof, die Erwartung des unbedingten Gehorsams ohne einen Anflug von Rebellion: das konnte nur meine Großmutter sein. Zusammen mit meiner Mutter war ich im Haus meiner Großeltern aufgewachsen und verdankte dieser Erfahrung mein sehr zügiges Studium und den Aufbruch in die Autarkie. Aber der Familie zu entfliehen gelang mir natürlich nicht. »Du musst nicht zurückrufen«, wisperte das Teufelchen in meinem Ohr, »du bist gerade erst von einer anstrengenden Arbeitswoche zurückgekommen. Sie kann gar nicht beurteilen, wann du eingetroffen bist...« »Stimmt«, bestätigte ich, »andererseits wäre es kindisch, auf diese Weise zu reagieren. Das würde mir beweisen, dass ich immer noch unter ihrem Einfluss stehe.« Was ich nicht wollte. Noch bevor ich die Nummer eintippte (ich hatte sie nicht eingespeichert, um einen weiteren Beleg dafür zu haben, dass ihre Bedeutung nicht so hoch war), hatte ich eine Vorstellung von ihrem so dringenden Anliegen. Zusammen mit meiner Großmutter, der Tyrannin ihres Reichs, lebte in dem großen, alten Haus abgesehen von meiner jenseitigen Mutter noch mein Onkel Kurt. Von schlichtem Gemüt hatte er die Erwartungen aller übertroffen, indem er bereits seinen fünfzigsten Geburtstag ansteuerte. "Rowan", unterbrach sie mit harscher Stimme meine Gedanken, "dein Onkel ist mal wieder in der Stadt. Bring ihn her." "Ich könnte ihn in die S-Bahn setzen", versuchte ich mich mit Verhandlungen, doch sie blockte mit abschätzigem Schnauben ab. "Es ist schon spät für ihn. Er würde den Ausstieg verpassen." Das konnte ich nicht widerlegen. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn sie hatte bereits die Verbindung unterbrochen. Ich wechselte in das Schlafzimmer hinüber, schlüpfte in meine Motorradkluft und entsagte dem Wunsch, eine ganze Flasche Stilles Wasser hinunterzustürzen. Die Codekarte sicher verwahrt, ausreichend Kleingeld verstaut, trat ich in die rasch einsetzende Dämmerung hinaus. »Aber morgen«, schwor ich mir, »morgen werde ich ausschlafen.« ~#~ Teil 4 (30/08/2004) Die Suzuki schmiegte sich an das Asphaltband, schmuste mit der kühlen Brise, glitt quecksilbrig durch den Abendverkehr. Die Innenstadt hatte mich wieder, denn in der Nähe des großen Bahnhofs befand sich der Anziehungspunkt, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit dafür sorgte, dass Onkel Kurt sich davonstahl. Neonreklamen strahlten in die fortschreitende Nacht. Wärme und Musik pulsierten auf das Trottoir, Touristen mischten sich mit überpünktlichen Nachtschwärmern. Arbeitnehmer eilten zum Bahnhof, Autos schoben sich in Corsi durch die Straßenschluchten. Für ihn wirkte es wohl wie ein Weihnachtsbaum, glitzernd, bunt, verlockend. Ich fand ihn ohne besondere Schwierigkeiten direkt vor einem gewaltigen, dreistöckigen Salsa-Schuppen, fasziniert von den kreiselnden Beleuchtungskörpern und den berauschenden Wattleistungen der Bässe. Unbeeindruckt von den ausgemergelten Junkies und Stadtstreichern, den Anreißern und Hütchenspielern strahlte er in die Höhe, den Kopf weit in den Nacken gelegt, um die Wiederholung jedes Umlaufs nicht zu verpassen. Ich nahm neben ihm auf dem massiven Betonblumenkübel, der auch der Verkehrsberuhigung diente, Platz, leistete ihm Gesellschaft. "Kurt", sprach ich ihn beiläufig an, "es wird langsam Zeit, dass wir wieder zurückfahren." Mein Onkel, untersetzt, mit der Sorgfalt eines gründlichen Menschen in Strickjacke, gebügeltes Karohemd und Cordhosen gekleidet, rümpfte die Nase. Ich wartete geduldig. Ihn zu drängen verspräche keinen Erfolg. Erst als er aus eigenem Entschluss die Hände auf die Oberschenkel legte, eine konzentrierte Miene aufsetzte, ging ich mit gutem Beispiel voran, erhob mich. Langsam trödelten wir Richtung Bahnhof, versorgten uns mit zwei Tüten Pommes frites und als Reiseproviant frischen Brezeln. Die S-Bahn war vollgepackt, aber mit jeder Station entfernt vom Zentrum des Geschehens leerte es sich zunehmend, sodass wir es uns bequem machen konnten. Kurt bestaunte die nächtliche Welt mit glitzernden Bändern aus Neonlicht, nagte stillvergnügt an seiner Brezel. Ich tat es ihm nach, balancierte meinen Motorradhelm auf den Beinen und ließ meine Gedanken wandern. Tatsächlich, mir fehlte Schlaf. ~#~ Teil 5 (31/08/2004) Glücklicherweise bemerkte Kurt unsere Station rechtzeitig, sodass wir in die fahl beleuchtete Nacht ausstiegen, uns auf dem Bahnsteig umsahen. Park+Ride, nahezu verlassen, in der Ferne verklingende Schritte: eine ungemütliche Atmosphäre. Kurt erschien jedoch alles ein Abenteuer zu sein, sodass er ebenfalls mit einer Hand in meinen Helm fasste. Ihn amüsiert wie einen Picknickkorb zwischen uns schwenkte, während wir gemessenen Schritts dem hochherrschaftlichen Domizil entgegen schlenderten. Vollkommen mit untypisch dunkler Holzverschalung eingekleidet wirkte das Haus aus der Zeit des Bürgertums mächtig, die spitzen Zaunlatten in Übermannshöhe sehr abweisend. "Gruselbunker" nannten es damals die Kinder, mit denen ich den Nachhauseweg absolvierte. Ich klingelte, wie stets von einem prickelnden Schauer des Triumphs elektrisiert. »Entkommen«, signalisierte mein Ur-Instinkt mit gefletschten Zähnen. "Kurt, Rowan, tretet ein." Keine höfliche Bitte, sondern ein Befehl, zwischen abgezirkelt in Kirschrot getönten, dünnen Lippen. Eisblaue Augen mit einem scharfen Blick, der keinerlei optischer Hilfsmittel bedurfte. "Stechend", würde man wohl sagen. Meine Großmutter, schlank, hochaufgerichtet, stets geschmackvoll in Twinsets gekleidet. Eine Herrscherin, die sich mit den Unannehmlichkeiten disziplinloser oder charakterschwacher Zeitgenossen plagen musste. Einem zurückgebliebenen Sohn (Onkel Kurt), meinem verstorbenen Onkel Siegfried (Motorradunfall mit Mitte Zwanzig) und meiner Mutter. Die einem "dahergelaufenen" Musiker ihre Jugend schenkte, nach einigen Monaten des "Hippielebens" schwanger und mittellos in den Schoß der Familie zurückkehrte und sich fortan mit Kursen an der VHS und Liebesromanen befasste. Und das alles führte zu mir, in der "irischen Phase" meiner Mutter auf diese Welt gekommen und fortan eine weitere Last auf den Schultern meiner Großmutter. "Guten Abend, Elisabeth", begrüßte ich sie höflich, streckte ihr die Hand entgegen, wartete mit festgefrorenem Lächeln (durchaus süffisant) auf den kalten, harten Händedruck. Kurt schob sich an uns vorbei, stampfte mit Gründlichkeit die Treppe in das erste Obergeschoss hinauf. "Gute Nacht, Kurt", rief ich ihm nach, zwinkerte der eisernen Front höflicher Ablehnung zu, nickte knapp, "gute Nacht, Elisabeth." Ihr Gruß entfiel ebenso frostig, dann schloss sich die schwere Eichentür wieder hinter mir, verschluckte meine mir bekannten lebenden Verwandten in ihren düsteren Eingeweiden. Ich legte den Kopf in den Nacken, atmete tief durch, suchte zwischen den Wolken nach Sternen. Obwohl ich wirklich müde war, wirkte das Gefühl neu gewonnener Freiheit wie eine euphorisierende Droge. Wie der erste Schritt aus jahrelanger Kerkerhaft. ~#~ Teil 6 (01/09/2004) Den Weg zurück zur Bahnstation konnte ich im beschwingten Schlendrian zurücklegen, das heißt, ich drehte mich um die eigene Achse, die Arme ausgebreitet, nur der Helm hielt meine kreiselnde Bewegung einem Zentrum zugeneigt. Bauschige Pummelwolken tanzten über mir, meine Genick meldete sich knochentrocken knirschend, was mich jedoch nicht in meiner Ausgelassenheit behinderte. Mit jedem Atemzug der sich rapide abkühlenden Nachtluft, bereits knackig nach Herbst schmeckend, klärte sich der klebrige Film Müdigkeit in meinem Kopf. Jetzt konnte mich der traurige, einsame Bahnsteig mit seinen verunzierten Sitzschalen nicht mehr schrecken, selbst die Ähnlichkeit mit antiken Plumpsklos (schön aufgereiht, körperangepasst) entlockte mir ein Kichern. »Ganz schön übermütig«, warnte mich eine Stimme düster, doch ich schob sie beiseite. Vermutlich konnte man meine Reaktion nur verstehen, wenn man in den glatt-ledernen Slippern meiner Vergangenheit in diesem tristen Haus gelaufen wäre. Für mich bedeutete jeder Aufbruch den Sieg über den Moloch, der unweigerlich Menschen anzog, ihrer selbst beraubte und sich gierig die Zombiegestalten einverleibte. Ein grausiges Marionettentheater, dessen Strippen meine Großmutter zog. Natürlich in den besten Absichten, so, wie die Hölle gepflastert zu sein pflegte. Vielleicht mag es verwundern, dass mir der Anstand fehlte, wenigstens meiner Mutter einen guten Abend zu wünschen. Nun, so viel sei gesagt: jede Begegnung erweckte eine sommerbrisenleichte Verwirrung, als könne sie gar nicht begreifen, dass sie mich vor so vielen Jahren zur Welt gebracht hatte. Für einen Held ihrer geliebten Romane fehlte mir das äußere Erscheinungsbild und die Züge, die an meinen mir gänzlich unbekannten Vater erinnerten, wurden unter dem Diktat der Verdrängung nicht zur Sprache gebracht. Katzengrüne Augen, kurzsichtig, ein Grübchen in der linken Wange, dickes, kastanienbraunes Haar mit leichter Welle, die sich nicht bändigen ließ. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, so konnte ich für mich guten Gewissens behaupten, ein vollkommen neues Konglomerat darzustellen, das sich demzufolge auch von der "Familie" absondern durfte. Ich balancierte auf den Sicherheitsmarkierungen die Länge des Bahnsteiges auf und nieder, ließ die Leere durch meinen erhitzen Kopf gleiten. »Schockgefrieren Sie störende Gedanken und erfreuen Sie sich am porentief reinen Glanz Ihres Gemüts«, dichtete ich einen Werbeslogan, pirouettierte um eine Säule. All dies hätte ich wohl nicht getan, wäre noch eine andere Menschenseele in meiner Nähe gewesen. Die Freiheit dieser verlassenen Einöde wirkte wie ein magischer Bann, verzauberte meinen Alltag. »Vielleicht«, dachte ich mit einem breiten Grinsen, »vielleicht steckt doch ein Romanheld in mir. Auch Prinzen haben ja als Frösche angefangen.« ~#~ Teil 7 (02/09/2004) Die S-Bahn schmiegte sich matt an die Schienen, nahezu unbelastet durch Fahrgäste, die an einem Samstag mit ihr in die Metropole einfallen wollten. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe, stellte mir vor, wie sich die Nacht in ein gewaltiges Meer mit herausragenden Lichtinseln verwandelte. Mit mir als Käpt'n Nemo auf einsamer Tauchfahrt, der das geschäftige Treiben einer fremden Welt beobachtet. Nur das lautlose Dahingleiten seines phantastischen U-Boots konnte mit der Geräuschkulisse der S-Bahn nicht imitiert werden. Sobald der Stadtrand passiert wurde, füllte sich mein U-Boot, wurde wieder ein Viehwagon mit der üblichen Mischung an Passagieren. Die beschwingte Stimmung ging mir verlustig. Nun kreisten meine Gedanken nur noch um den Weg zurück zu meiner Suzuki und den Heimweg, bis ich endlich ins Bett fallen konnte. »Bloß weg von Fax, Telefon und Handy!«, ermahnte ich mich stumm, als ich mich in den Lemmingschwarm einfügte, auf den Bahnsteig hinausquoll und zu einem der Ausgänge gespült wurde. Glücklicherweise befand sich der Motorradport direkt bei den Taxi-Ständen, sodass Vandalen und anderes Gelichter dort selten ihrem Handwerk nachgingen. Ich sperrte die kühle Nachtluft mittels Helm aus, kramte Handschuhe und Nierengurt hervor, kletterte auf meine Maschine, rollte vorsichtig aus der winzigen Lücke heraus, bevor ich mich in den nächtlichen Verkehr einfädelte. »Kurz vor Mitternacht«, registrierte ich an einer Ampel, aufgerichtet, das Visier hochgeklappt. Wie lange war es her, seit ich das letzte Mal ausgegangen war? Nicht im Zusammenhang mit geschäftlichen Interessen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, andererseits übte die Disco-Kneipen-Bar-Szene keinen besonderen Reiz auf mich aus. »Kein Verlust«, stellte ich fest, um mit dem nächsten Gedanken bei Gelegenheit mal die Theaterprogramme studieren zu wollen. Wenn sich etwas Unterhaltsames fände... Die grell beleuchteten, betriebsamen Straßenzüge verloren sich, vereinzelte Hunde waren in Begleitung unterwegs, die Bürgersteige wurden hochgeklappt. »Fast zu Hause«, seufzte ich erleichtert, bog in eine Abzweigung rechter Hand ab, die an einem großen Friedhofskomplex vorbeiführte. Wenig Betrieb um diese Zeit, die einsame Litfaßsäule warf den größten Schatten auf den sich hochwölbenden Asphalt. In diesem Augenblick löste sich etwas aus dem Dunkel, huschte wie ein Schemen von rechts auf die Fahrbahn. Mir blieb nicht mal ein entsetzter Atemzug, als ich den Lenker verriss und vergeblich versuchte, das ausbrechende Hinterrad abzufangen. ~#~ Teil 8 (03/09/2004) Nur durch Reflexe ausgesteuert riss ich beide Arme vor den Kopf, rollte mich zusammen, als meine Suzuki wegschleuderte. Sie kam nicht weit, was ich glücklicherweise ohne Schwierigkeiten erkennen konnte, da ich mich in unmittelbarer Nähe der Litfaßsäule im Rinnstein wiederfand. Adrenalin raste durch meine Glieder, sorgte dafür, dass ich auf die Beine kam, mich umsah. Hatte ich jemanden angefahren?! Obwohl ich keinen Zusammenprall gespürt hatte, soufflierte der erstaunlich intakte Teil meines Gehirns, dass es darauf nicht ankam. Unweit meines "Landeplatzes" kam eine weitere Gestalt unsicher auf die Beine, schwankte. »Besoffen, unter Drogen, Crack-Junkie oder irre?!« Ich hielt lieber auf meine Suzuki zu, hob sie wieder auf ihre Reifen und schob sie an den Straßenrand. Abgesehen von einigen Schürfwunden hatte mein altes Mädchen dieses Intermezzo unverletzt überstanden. Selbst die Blinker funktionierten noch. Nachdem ich mir den Helm vom Kopf gezogen hatte, wagte ich mich mit ihm als Verteidigungswaffe zu meinem Unfallgegner. "Du liebe Güte!", entfuhr es mir automatisch halblaut. Ein hochgewachsener, junger Mann lehnte sich an die massive Säule, presste eine Hand an seine Stirn, was den hervorquellenden Blutstrom nur marginal reduzierte. Mich zogen aber weniger die zerrissenen Jeans oder das T-Shirt an, sondern seine Füße. Sie waren bloß. Ich starrte den Fremden an, maskiert mit Blut und einer schmalen, langfingrigen Hand. Schließlich erwachte ich aus meiner Starre, fischte eine Packung Taschentücher aus meiner Brusttasche, entzupfte das erste dem trauten Schoß der Zellstoffgemeinschaft und reichte es vorsichtig in den Blickwinkel meines Opfers. Als er mit der Hand, die an der Säule festgeklebt schien, zugriff, wandte er sich mir zu und bot einen Teil seines sehnigen Halses dar. Trotz der schlechten Beleuchtung konnte ich eine Tätowierung wie Flammenlohen bis zu den Ohrläppchen erkennen. "Konrad Siebeneicher", flüsterte ich ungläubig. Die Hand, die den Blutstrom zu stillen versucht hatte, sank herab. Wie eine durch Blut geteilte Maske blickte mir ein junges, sehr erschöpftes Gesicht entgegen, wachsam trotz des Schreckens. "Ach du Scheiße..." ~#~ Teil 9 (04/09/2004) Nicht gerade die passenden Worte für eine derart unvorhergesehene erste Begegnung, aber ich konnte mich nicht beherrschen. Selbst im Neonlicht der Straßenlaterne entsprach Konrad Siebeneicher, so es sich denn um ihn handelte, nicht auch nur annähernd meinen Vorstellungen. Wie in den Nachrichten, die mir vermutlich aus dem überwachen Zustand fehlenden Schlafs im Gedächtnis geblieben waren, erreichte mein Gegenüber im aufgerichteten Zustand 1,85 m Körperhöhe, war sehr schlank und eindeutig jung. Schwarze Haare, kurzgeschnitten und glatt, blaues T-Shirt und eine nunmehr verschmutzte Jeans, keine Schuhe. Flammentätowierungen an der Kehle. Schön und gut, aber niemand hatte erwähnt , dass es sich um einen Südostasiaten handelte. Ganz und gar nicht typisch für seinen Namen. Eine warme, bronzefarbene Haut, ein feingeschnittenes Gesicht mit einer flachen Nase, kritisch zusammengezogene, wie getupft wirkende Augenbrauen über tiefdunklen Augen mit einem verdächtigen Schleier. Weiche Lippen über einem spitzen, energischen Kinn. Auf eine fast erschreckende Art wirkte er verletzlich und jung, alterlos. Für Kontemplation blieb mir allerdings wenig Zeit, denn mein Gegenüber taumelte, mit der Hand an der Litfaßsäule, um diese herum, bereits auf der Flucht. "Hey!", rief ich der Form halber, bevor ich die Verfolgung aufnahm. Aus einem mir nicht erklärbaren Grund glaubte ich nicht, dass er betrunken war oder unter Drogen stand. Vielleicht, weil er trotz seines Zustands so schnell reagierte, keine Anstalten unternahm, mich zu attackieren oder um Hilfe zu bitten. "Warte doch!" Nun schwang ich meinen Helm erneut, dieses Mal jedoch, weil der vermeintliche Konrad Siebeneicher in einem erheblichen Tempo weiterspurtete. Dass er blutete und barfuß über scharrtige Pflastersteinplatten lief, schien ihn überhaupt nicht zu behindern. Ich schwitzte schon bald in meiner Montur und entschied mich für einen Tackle. Mit einem Hechtsprung nach vorn rammte ich meinen Helm in seine Kniekehlen, landete mit der Eleganz eines Plattfischs auf dem Kutter und ächzte nach Sauerstoff. Er kam nur wenige Handbreit von mir schwankend auf die Füße, doch dieses Mal war ich schnell genug, umklammerte seine schmalen Hüften und beförderte ihn mit einem sehr entschiedenen Körperwurf in ein robustes Gebüsch. "Mach Platz!", schnaubte ich, wischte durch meine Haare und fluchte, weil sich meine Haarspange verabschiedet hatte. »Herrlich«, funkelte ich agitiert in seine dunklen Augen, »nun bin ich kaputt, erschrocken, außer Atem, verschwitzt und sehe noch aus wie ein Hippie!« ~#~ Teil 10 (05/09/2004) "Also", nahm ich Anlauf für mein Verhör, "du bist doch Konrad Siebeneicher, oder? Der, den man im Radio sucht? Ärztliche Hilfe?", reihte ich Stichworte aneinander. "... ich muss gehen", flüsterte mein Gegenüber in Höhe meines Bauches, rollte mühsam aus dem anhänglichen Gebüsch. "Nicht so schnell", herrschte ich im besten Tyrannin Elisabeth-Ton, grub die Finger hart in seine Schulter, was ihm ein Ächzen entlockte. "Du bist mir fast in das Motorrad gerannt, ist dir das eigentlich klar?! Und in dem Zustand wirst du nicht mehr weit kommen. Also schlage ich vor, dass du mit mir zur Ambulanz gehst und dich durchchecken lässt. Vielleicht muss die Platzwunde genäht werden." Er schüttelte den Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet. Bluttropfen flogen wie Sprühnebel durch die Luft, doch ihn schien das gar nicht zu beeindrucken. Ebenso wenig wie das trocknende Äquivalent auf seinem Gesicht, das sich zu einer grausigen Maske formte. "Ich kann nicht", beharrte er mit heiserem Trotz. »Tja, was nun, er will nicht«, ätzte mich meine Herrscherin Elisabeth-Stimme an, die mit großer Begeisterung mein Selbstbewusstsein regelmäßig untergrub. Eigentlich konnte ich es aus erlittener Erfahrung nicht ertragen, anderen meinen Willen aufzuoktroyieren. Andererseits wirkte Konrad, wie ich ihn nun schon nannte, nicht mehr in der Verfassung, seine Lage zutreffend zu beurteilen. »Aber du hast auch keine Ahnung davon, was dieser Bursche eigentlich treibt, warum und welche ärztliche Behandlung ihn erwartet. Das könnte ein ganz schlimmer Finger sein!« »Haha«, beendete ich das interne Diskussionsforum, fasste Konrad unter einen Ellenbogen und dirigierte ihn mit sanfter Gewalt zurück zur Straße. "Wir gehen jetzt in die Notaufnahme, da hast du Bewegung, und ich kann sicher irgendwann im Laufe des heutigen Tages in mein Bett sinken mit dem beruhigenden Gedanken, dass du gut versorgt bist. Und dass mir keine Schmerzensgeldklage oder sonst was droht", fügte mein misanthropischer Part hinzu. Mein unfreiwilliger Begleiter schwieg, konzentrierte sich auf das Laufen, was ihm, sobald er sich in Bewegung befand, mit erstaunlicher Leichtigkeit und Eleganz gelang. "Heißt du wirklich Konrad Siebeneicher?", entblödete ich mich nicht zu fragen. "Ich weiß nicht", entgegnete er höflich, was mich verärgerte. »Ruhig, alle Systeme im grünen Bereich«, ermahnte ich mich. "Also, Konrad-oder auch nicht-, ich heiße Rowan. Ob es mich freut, dich kennenzulernen, kann ich im Augenblick noch nicht mit Sicherheit behaupten." Ich hatte noch nicht erwähnt, dass ich einen Hang zum Zynismus habe? ~#~ Teil 11 (06/09/2004) Zehn Minuten Fußmarsch. Eine halbe Ewigkeit in hilflosem Schweigen, zumindest kam es mir so vor. Unbehaglich und "dabbisch". Wieso konnte ich mir nicht ganz normal wie jeder andere Erwachsene, dem ein gesuchter Verkehrsrowdy beinahe in das Motorrad gelaufen war, mit ein wenig Smalltalk die Zeit vertreiben?! Alles, was ich in meiner "Dabbischgeit" vollbrachte, war das schnörkellose Rupfen der Taschentücher aus meinem rapide schrumpfenden Vorrat, die ich mit gluckiger Aufdringlichkeit in seine blutige Hand drängte. Während er, Meister Konrad von der blanken Sohle, aufrecht neben mir her marschierte, vollkommen absorbiert von dieser Bewegung. »Jetzt tritt aber mal auf die Bremse, Kumpel!«, besänftigte mich der Part, der Magengrimmen vorbeugen wollte, »läuft doch ganz gut bis jetzt, nicht wahr?« "Stimmt", brummte ich griesgrämig, "noch ist keiner tot." Konrads Kopf wandte sich mir zu, höfliches Interesse stand in seinen Augen. »Oder auch die Frage, wer von uns beiden mehr an die Ömme bekommen hat«, schnaubte mein besseres Ich indigniert. "Oh", grinste ich dümmlich, "ich rede nur mit mir selbst. Schlafmangel", zuckte ich mit den Schultern. Zu meiner Überraschung nickte Konrad bloß beifällig, wenn auch sehr behutsam. »Vielleicht doch eine Gehirnerschütterung?«, mutmaßte ich, gefolgt von dem bissigen Kommentar, »da gibt es wenigstens noch was zu erschüttern.« »Ich bin ruhig und gelassen, ich ruhe in mir und verhalte mich wie ein verantwortungsvoller Erwachsener«, intonierte ich stumm mein Mantra der Beherrschung. Eigentlich war ich ein sehr korrekter, ruhiger, umgänglicher Mensch... Abgesehen von den vagabundierenden Auswüchsen meiner dunkleren Seiten, die immer dann unangenehm ins Rampenlicht platzten, wenn ich erschöpft, erschrocken oder verlegen war. Wenn ich mich beschäftigte, oder Arbeiten zu erledigen anstanden, erübrigte sich jede Sorge... hier rettete mich das Leuchtsignum der Notaufnahme, begleitet von einschläfernd klassischer Musik. »Mozart. Das Valium aus dem CD-Regal.« Wenn sie Bruckner oder Mahler auflegten, wusste man, dass der nette Knochenmann in dem schicken Dingi auf dem Styx wartete. Bevor ich uns standesgemäß an der Rezeption als Opfer eines Beinahe-Verkehrsunfalls anmelden konnte, ränderte mein Blick rapide schwarz. Ich blinzelte träge, dann umfing mich freundliche Dunkelheit. Endlich schlafen. ~#~ Teil 12 (07/09/2004) Meine Hoffnung trog, -natürlich!-, denn die verführerische Dunkelheit endete in einem schmerzhaften Aufprall auf dem Linoleum direkt vor dem Schalter der Anmeldung. Spitze Knochen bohrten sich mir in Partien meines Körpers, die ich ohne Perforation wertschätzte, gleichzeitig lief mir zu meiner größten Scham ein Rinnsal Speichel aus dem Mundwinkel über das Kinn. Eine schlanke Hand mit getrocknetem Blut tupfte mit dem letzten Eckchen Papiertaschentuches die feuchte Spur ab, während ich mich eiligst darum bemühte, von Konrad herunterzurollen. Er hatte wohl einen heldenhaften, wenn auch vergeblichen Versuch unternommen, meinen schwächebedingten Sturz zu verhindern. "Danke", blubberte ich mit seifigem Schaum im Mund, schluckte hastig. Erstaunlicherweise blieb es in meinem Kopf stumm, von den dumpf blinkenden Lichtern in meinen Augenwinkeln abgesehen. Auf die ich wirklich liebend gern verzichtet hätte. Mittlerweile war Bewegung in das Stillleben hinter der Aufnahme gekommen. Die übernächtigte Schwester hinter dem gewaltigen Rondell hatte die Maschinerie der ersten Hilfeleistung in Gang gesetzt. Ich fand mich von zupackenden Händen in einen Rollstuhl gehievt und davongekarrt, während Konrad mit seiner Platzwunde uns barfüßig folgte. »Das ist doch lächerlich!«, schäumte ich vor mich hin, verstand nicht, warum sich mein Magen nun so übellaunig zeigte. »Vielleicht der Stress...« "Mir geht es schon wieder besser, ich bin nicht verletzt", wagte ich einen zaghaften Versuch, in die Domäne der weißen Halbgötter einzubrechen. Mein Chauffeur klopfte mir nachsichtig auf die Schulter. "Das lassen wir doch besser den Arzt entscheiden, nicht wahr?" "Bitte, er", winkte ich herum und bereute die heftige Bewegung sofort, "ER ist verletzt! Er blutet. Ich nicht." Überzeugendes Argumentieren für Anfänger. "Wir kriegen das schon wieder hin. Beruhigen Sie sich erst mal." Mit diesem Auftrag ließ mich mein Beförderungsunternehmer auf dem Flur zurück, unter dem grauenhaften Gewinsel von Mahler. Konrad nahm neben mir auf der Sitzbank Platz, lächelte mich dann an. Ein gruseliges Bild, so blutverschmiert und gleichzeitig trügerisch harmlos. Ich seufzte und sackte in mich zusammen. "Falls ich nicht mehr aufwachen sollte", orderte ich mit geschlossenen Jalousien, von lockendem Schlaf nur einen Wimpernschlag entfernt, "in meiner Hosentasche sind ein paar Münzen." Man konnte ja nie wissen. Ebenso wenig, wo der gute, alte Knochenmann die Dinger verstaute. "Gute Nacht, Rowan", verabschiedete Konrad mich höflich. Von wegen. ~#~ Teil 13 (08/09/2004) Gerade als die wohlige Schwere meiner gesenkten Lider sich zu verlieren drohte, ich mich also an der heimeligen Schwelle von Dösen zur Eintrittsphase in das Wunderreich des Schlafs befand, schon in Reichweite von Morpheus, traf ein Fleischklopfer meine eingesunkene Schulter. Zutreffenderweise, wie ich mich zwangsläufig dank hochschießender Jalousien versichern konnte, eine kräftige Hand im schmucken Gewand der puder- und latexfreien Einweghandschuhe. Meine ohnehin unzuträgliche Körperhaltung verschlechterte sich unter dem Eindruck dieses Handschlags, dann aber siegte meine Verärgerung über die resignative Müdigkeit. Offenkundig war mit Schlaf in der nächsten Zeit nicht mehr zu rechnen. Ich hatte mich bereits in unfreiwilliger Mutterbodenverehrung befunden, -sogar zweimal, rechnete man den Sturz mit meiner Maschine ein-, sodass ich beschloss, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Erster Schritt: raus aus dem unmotorisierten Gefährt. Der Besitzer der Hand wich zurück, vermutlich hatte er sein Soll an resistenten Patienten schon erreicht. Stehen nahm sich nicht weiter schwierig aus, möglicherweise mit der Hoffnung, in Kürze zu Hause die Matratze küssen zu können (bequemer als Mutterboden in jedem Fall). Zweiter Schritt: kläre die Situation. "Guten Morgen", zynischer Schlenker, "ich bin nicht verletzt und benötige keine ärztliche Hilfe. Ich wäre aber dankbar, wenn man sich meines Begleiters, Herrn Konrad Siebeneicher, annehmen könnte. Beinah-Kollision mit einem Motorrad, Platzwunde am Kopf. Außerdem wird er seit etwa heute Nachmittag über den Rundfunk gesucht." Ende der Durchsage. Ich glaube, ich lächelte sogar ein wenig. Dritter Schritt:... "Ah, das ist er?!" Schon wirbelte der Halbgott in Weiß herum, die Mantelschöße flatterten gestärkt auf. Eilte davon. »Jetzt könnten wir uns ja selbst entlassen«, raunte der misstrauische Part meiner Natur, »los, nichts wie weg, Suzuki holen und nach Hause!« Leider erreichte der Ruf meine Füße nicht rechtzeitig, denn diese setzten sich in Bewegung, auf der Spur des diensthabenden Arztes. »Also wirklich, ist der Bursche etwa berühmt?« ~#~ Teil 14 (09/09/2004) In dem Bemühen, weder ungebührlich neugierig noch aufdringlich zu wirken, tarnte ich mich mit dem Schattenwurf einer verstaubten Riesen-Plastikpflanze. Lugte betont unauffällig um den Türpfosten herum, in Ausnutzung eines spiegelnden Türblattes. Obgleich es dem Eindruck an Schärfe gebrach, konnte ich doch die dunkle Erscheinung von Konrad auf einer Liege ausmachen. Das Kopfteil war aufgerichtet worden, während ein weiblicher Weißkittel mit einem rollenden Utensilienschränkchen das gereinigte Gesicht bearbeitete. Mein flüchtiger Halbgott staunte am Fußende. "Das ist er??" "Niedlich, nicht? Kaum dass er sich ausgestreckt hatte, war er schon weg." "Hast du die an der Uni schon angerufen? Dass wir ihn hier haben?" "Nee, mach du mal, ja? Kannst du dir das vorstellen? Dass einer zwei Tage ohne Schlaf durch die Gegend rennt? Ich meine, ganz ohne?!" Ich rollte mich an der Wand herum, watschte dem aufdringlichen Staub-Gewächs eine, um mich von den vergilbten Blättern zu befreien. Was sollte das bedeuten, Uni? Und zwei Tage ohne Schlaf? Nun gut, wir hatten ja auch manchmal Zeiten, in denen sehr lange am Stück gearbeitet wurde... »Wie dem auch sei, Abmarsch!«, kommandierte mein höchsteigener Schleifer. Postwendend machte ich kehrt, stiefelte wie auf Wattewolken zum Eingang und dann aus der Lichtschleuse hinaus in die Nacht. Die Dunkelheit schmeichelte meinen trockenen, schmerzenden Augen, während ich mich in Richtung Suzuki aufmachte. Klare, schneidende Luft lichtete den Nebel von Erschöpfung ein wenig, als ich meine treue Maschine behutsam zum Leben erweckte. Was für ein Glück, dass sie sich ohne Einschränkungen dirigieren ließ, wirklich unverwüstlich auch dieses Abenteuer überstanden hatte! Ich ließ meine Suzuki in der Containergarage, schwankte mit luftleerem Ballon auf den Schultern zu meiner Wohnung, hoppelte in dem vergeblichen Versuch, mich meiner Motorradstiefel zu erledigen, zu meinem Bett. Fiel vornüber und verwuchs frontal mit dem Satin. Home sweet home. ~#~ Teil 15 (10/09/2004) Ein aufdringliches, von eifriger Arbeit kündendes Brummen vertrieb mich aus den geschmeidigen, einnehmenden Tiefen meines Bettes. Meine Handrücken schmirgelten über die klebrigen, resistenten Jalousien, und dann hatte mich der Spätnachmittag wieder. "Verdammt!", schoss ich fluchend in die Höhe, raufte meine völlig verkletteten Haare. Eigentlich hatte ich nach ausgiebiger Ruhe einen Großeinkauf eingeplant, wollte die Wäsche aus dem Trolley räumen und ihn der fürsorglichen Obhut meines Waschmonsters anvertrauen. Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir meine Vermutung: für das Einkaufen außerhalb von Tankstellen war es bereits zu spät. Das enervierende Dröhnen stammte von einem Nachbarn, der Sport und die dazugehörigen Fernsehübertragungen partout torpedierte, was ihm der Lustbefriedigung diente. Ich ließ mich rücklings auf mein verwüstetes Bett sinken und massierte meine Schläfen. Pellte mich dann aus meiner Montur und marschierte im Adamskostüm in das Badezimmer. Lauwarmes Duschwasser, dazu eine prickelnde Luffa-Massage in Aromen, die angeblich dem Dschungel ähnelten, und ich sah mich wieder imstande, dem Grauen entgegenzutreten. "Also", sortierte ich mich aufgeräumt, "erst mal Kaffee aufbrühen, die Vorräte auf Essbares prüfen, dann das Waschmonster bestücken." Gesagt, getan. Nun allerdings konnte ich mich nicht dem Terror der modernen Kommunikationsmittel entziehen. Auf dem Anrufbeantworter teilte mir mein Chef mit, dass er auf dem Handy nur meine Mailbox erreicht hatte. Außerdem hätte ich meine E-Mails offenkundig noch nicht gelesen, weshalb er hier die Botschaft hinterlassen wollte, dass ich pünktlich Montag um acht Uhr eine Präsentation über den gegenwärtigen Entwicklungsstand abzuliefern hätte. Spontan spießte ich Bonduelles Knuddel-Baby-Karotten auf einen Mais-Haken, wälzte sie in Maggi-Würzmischung und nagte sie anschließend herunter. "Na toll", kommentierte ich die Hausaufgaben. Andererseits hätte es mich gewundert, wenn die Führungsebene nicht erwartet hätte, möglichst noch vor der Abreise die Ergebnisse auf dem Tablett serviert zu bekommen. Ich ließ mich gerade auf meiner Couch nieder, als das Telefon Alarm schlug. Seufzend lüftete ich meine vier Buchstaben, nahm den Anruf entgegen. "Ja, das bin ich." "Nein, ich habe keine Vermutung." "Ja, natürlich. Bitte, wiederholen Sie noch einmal Ihren Namen und die Nummer." Mit einem knappen Gruß legte ich auf. Gerade noch hatte ich bereits die Details meines Abschnitts des Ablaufschemas vor Augen, nun wirbelten Informationen unsortiert in meinem Kopf umher. »Wieso glauben diese Weißkittel, dass ich wüsste, wo dieser merkwürdige Bursche steckt?!» ~#~ Teil 16 (11/09/2004) Das war nun mehr als obskur. Ich drehte konzentriert grübelnd Kringel in meine noch feuchten Locken, bevor ich diese beschämende, aber hartnäckige Marotte registrierte und nach einer Haarspange griff. »Freie Sicht, klare Gedanken!«, hatte Herrscherin Elisabeth stets zu sagen gepflegt, wenn ein weiterer Rasenmäher-Haarschnitt mich an den Rand einer Glatze brachte. Im Schlafzimmer las ich meine Montur auf, durchsuchte die Taschen. Tatsächlich, die Visitenkarte, die dort hinterlegt war, falls es mich einmal unglücklich "hinlegte", fehlte. Hatte dieser fragwürdige Konrad sie an sich genommen, während ich in meinem Luxusgefährt eingenickt war? "Möglich", brummte ich verärgert, "und aus diesem kühlen Grund haben sie mich auch aufgespürt." Denn meinen Nachnamen und meine Anschrift hatte ich ihm nicht genannt, außerdem stand ich nicht im Telefonbuch. Aber warum hatte Konrad meine Adresse an das Personal in der Notaufnahme weitergegeben?! Hmmm... war das überhaupt die Notaufnahme? Stehenden Fußes machte ich kehrt und verglich meine Notizen der Rufnummer mit den Einträgen der Krankenhäuser und Kliniken im Telefonbuch. "Universitätsklinikum", knurrte ich, nicht sonderlich überrascht. Die Stirn warf Falten, was der Spiegel über der Sitzgarderobe ungeniert präsentierte. Die Uni-Klinik hatte nach Konrad gesucht, weshalb anzunehmen war, dass man ihn dorthin überstellt hatte, oder nicht? Und nun hatten sie ihn schon wieder verloren?! "Wie dem auch sei", erklärte ich meinen Flurwänden grimmig, "ich werde jetzt etwas essen und dann meine Präsentation ausarbeiten. Woher soll ich auch wissen, wo sich dieser ominöse Kerl herumtreibt?!" »Eben«, stimmte ich mir inbrünstig zu. Auf solche Abenteuer konnte ich verzichten. Damit trabte ich, aufgemuntert und jeder Verantwortung für den unbekannten Konrad Siebeneicher ledig, in meine Küche, um den Knuddel-Karotten einige Spielkameraden nachzusenden. »Essen hält Leib und Seele zusammen«, bekräftigte Tyrannin Elisabeth in meinen Ohren mit hochgezogenen Augenbrauen, wohlgefällig meine Entscheidung sanktionierend. »Jupp, immer sauber bleiben, Rowan«, nickte ich und drehte das Radio auf. Chopin. Nocturne in Fis-Dur, Opus 15. Na also, geht doch. ~#~ Teil 17 (12/09/2004) Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert. Zugegeben, Amüsement wäre ein sehr euphemistischer Begriff für meine Beschäftigung bis Mitternacht, andererseits steigerte sich mein Hochgefühl mit jedem erledigten Punkt. Die Inhalte stellten mich vor keine Probleme, aber Präsentation bedeutete ja mehr. Sogenannte Charts und Grafiken, dazu perfekt getimte Übergänge von einem Panel zum Nächsten, augenfreundliches Design, das richtige Maß an Animation und nicht zuletzt die Synchronisation des Geschehens. Nachdem ich diesen Hindernisparcours überstanden hatte, kopierte ich mein Werk gleich in das Netzwerk meiner Firma, legte eine Sicherungskopie an und lehnte mich mit genüsslichem Knacken aller Knochen in meinem Bürodrehstuhl zurück. "Gut gemacht, alter Junge", lobte ich mich selbst, kam dann gemächlich auf die Beine und wanderte zur Küche hinüber. Der Anrufbeantworter blinkte dezent. Irgendein rücksichtsloser Mensch hatte mich in meiner produktiven Phase zu stören versucht und war gegen die virtuelle Mauer meines Blechdieners gestoßen. "Ich könnte mir das jetzt anhören", sinnierte ich unschlüssig, "es könnte wichtig sein." Das kleine, bordeauxrot gefärbte Teufelchen auf meiner Schulter rammte den Spieß in meinen Nacken. »Klar, Blödmann, mach ruhig. Spiel den Pfadfinder, denn unter Garantie will mal wieder jemand was!« Damit konnte er richtig liegen. Ich wieselte in meine Küche, schüttete ein paar Maispops in meine Hand und kaute knirschend. Spülte mit Milch nach. Und hörte die Nachricht doch ab. »Ich hab dich gewarnt«, piesackte mein kleiner Teufel selbstzufrieden. Ich seufzte. Nein, ich hatte den mittlerweile sehr lästigen Konrad Siebeneicher noch immer nicht gesehen, ich wusste nicht, wo er sich rumtrieb und es war mir ein Rätsel, warum er mich als Kontaktperson benannt hatte. "Es ist was faul im Staate Dänemark", deklamierte ich verdrießlich. Innerhalb kürzester Zeit war es diesem seltsamen Burschen gelungen, meinen sorgfältig austarierten Stundenplan zu ruinieren, meinen Großeinkauf zu verhindern und mein armes, altes Mädchen flachzulegen. Langsam nahm ich es persönlich. ~#~ Teil 18 (13/09/2004) Eigentlich sollte ich mich am Sonntagmorgen gegen ein Uhr in der Nacht in meinem Bett befinden und meinem Schlafdefizit zu Leibe rücken. Tatsächlich schüttete ich den zweiten, eiskalten Cappuccino hinunter und zerkaute einen Schokoriegel mit Kaffeeanteilen, während meine Suzuki artig neben der Tankstelle wartete. Sie war höchst exklusiv ausgeführt worden, was wohl mittlerweile für jeden Tankstop gilt dank der Steuern für Vater Staat und Mutter Natur. Koffein- und Zucker-hochgeputscht bestand wenig Aussicht auf eine angenehme Nachtruhe. Andererseits war die Tiefschlafphase im durchschnittlichen Biorhythmus ohnehin verpasst. »Wieso hat er meine Adresse angegeben?« Dieser Gedanke hatte mich einfach nicht losgelassen. Er hätte ja irgendjemanden benennen können. Und in der Uni-Klinik schien er nicht unbekannt zu sein. Warum also dieses merkwürdige Verhalten? Ich kam zu dem beunruhigenden Schluss, dass er möglicherweise geplant hatte, sich erneut abzuseilen (oder auch einfach hinauszuspazieren) und bei mir auf der Fußmatte zu stehen. Zu welchem Zweck auch immer. Nicht unbedingt eine rationale Verhaltensweise, aber immerhin möglich. Daraus folgte die beunruhigende Konsequenz, dass er es nicht bis zu meiner Wohnung geschafft hatte. Weshalb ich nun eine nächtliche Spritztour unternahm, um meine Nachbarschaft nach einem vollkommen verrückten Burschen abzusuchen. Eigentlich wollte ich mich nicht für ihn interessieren. Ich mochte mein Leben genauso, wie es gewesen war, bevor er hineinstolperte. Ruhig, geprägt von Arbeit und kleinen Fluchten aus dem Alltag. Überschaubar. Vorhersehbar. "Ich bin zu alt für diesen Unsinn", brummte ich, schob eine störende Locke aus meinen Augen, klappte das Visier herunter. Noch eine Runde, dann ist Schluss! ~#~ Teil 19 (14/09/2004) Eine Gruppe junger Erwachsener in hochsommerlicher Bekleidung mit Club-Schick blockierte die ganze Breite des Trottoirs. Aufgedreht und fröhlich, durchschnittliche Nachtschwärmer. Gab es einen Club in meiner Nähe? Da ich kein sonderliches Interesse an Nachtclubs hegte, verfolgte ich die lokale Szene nicht, erinnerte mich aber dunkel an die häufige Nutzung von leerstehenden Lagerhallen und alten Bunkern als Treffpunkte. »Wie wahrscheinlich ist es, dass ein vollkommen übermüdeter Typ ohne Schuhe in einen solchen Club geht?« »Ungefähr so wahrscheinlich wie ein Beinahezusammenstoß mit einem Fußgänger vor dem Friedhof gegen Mitternacht.« Also kreiste ich noch eine Runde, fand den Bunker, vor dem sich verschiedene Grüppchen unterhielten und stellte meine Suzuki in die Nähe eines Schwarms von hochglanzpolierten Rennmaschinen. Meinen Helm in der Hand hielt ich auf den Eingang zu, unsicher, ob man mich in diesem Aufzug einlassen würde. Ein Kleiderschrank hielt dort Hof. Ohne Vorwarnung zog er den Reißverschluss meiner Motorradjacke herunter, inspizierte mein Unterhemd, brummte dann knapp, "fünf Euro, keine Getränke, Helm an der Garderobe abgeben." Ich widerstand der Versuchung zu salutieren und tigerte artig zu der wiederkäuenden Britney Spears-Kopie hinter einem verkleideten Tapeziertisch, kassierte eine Plastikmarke für meinen Helm und blinzelte in das Nachtleben. Stroboskopartige Lichter lieferten sich ein hitziges Duell mit bunten Scheinwerfern, Lasern und anderen Leuchtmitteln. Ich blinzelte und schluckte mehrfach, um eine vage Übelkeit zu unterdrücken. Der Bunker hatte eine Menge stützender Säulen, die drei Galerien trugen, in der Mitte wölbte sich eine gewaltige Kuppel bis zum gewaltigen Dach. Klappstühle waren an die unverputzten Wände geschraubt worden, Plattformen dienten Gogo-Girls und -Boys als Bühne. Durch einen Pulk glaubte ich, die Bar zu erkennen, entouriert von einer Unzahl Getränkekisten, in die man sein Leergut deponieren sollte. Bässe dröhnten durch meinen Körper, als ich mich durch die wogende, hopsende Menge schob. Eine merkwürdig-erregende Ganzkörpermassage. Ich spürte, wie mir prickelnde Hitze in die Wangen stieg. Streifte mir die Motorradjacke von den Schultern. Eine Hand glitt über meinen Oberarm, ließ mich herumfahren. Eine junge Frau lächelte mich an, fasste nach meiner Haarspange und löste sie, bevor ich zurückweichen konnte. "Echt sexy", formten ihre Lippen durch den Lärmpegel, dann drückte sie mir die Haarspange in die Hand und kehrte grinsend zu ihren Freundinnen zurück. Ich kämmte durch meine verdrehten Locken, klemmte sie hinter die Ohren und durchpflügte die Menge entschlossen weiter. ~#~ Teil 20 (15/09/2004) Es musste diese Musik sein. Techno oder irgendein Klon davon. Die Leute zuckten wie aufgezogene Batterie-Häschen herum, in einer Trance, die keinen Partner suchte, sondern sich nach innen kehrte. Möglicherweise war ich auch in den Hardcore-Pulk der Tänzer geraten. In dieser von grellen Blitzen durchzogenen Finsternis mit neongrellem Gewittersturm konnte man leicht den Überblick verlieren. Daher heftete ich meine blinzelnden Augen auf die erhöhten Plattformen, versuchte mich an den Gogos zu orientieren. Wie ein Klippfisch schlüpfte ich, meine Motorradjacke wie einen Schutzschild vor die Brust gepresst, durch die zuckende Masse. »Moment mal!«, blieb ich abrupt in meinem Vorwärtsdrang Richtung Bar stehen, wälzte mich mit einiger Schwierigkeit herum. "Konrad?!", blaffte ich fassungslos. Ich hatte natürlich gehofft, -auf eine verquere Weise-, ihn hier anzutreffen, um ihm die Leviten zu lesen und ihn dann mit einem verbalen Tritt in seinen Allerwertesten aus meinem Alltag zu befördern. Andererseits verwirrte es mich schon, dass er sich wirklich vor mir in zwei Meter Höhe produzierte. Ob er Schuhe trug, vermochte ich nicht zu sagen, der Rest seiner Bekleidung jedenfalls bestand in einem Faltenrock mit Karomuster. Die Sichtverhältnisse machten es unmöglich, seinen Gesundheitszustand zu beurteilen. Er tanzte in einer geschmeidigen Haltlosigkeit wie ein Derwisch, kreiste um sich selbst, von einer Reihe junger Frauen umgeben, die zu seinen Füßen unbegleitet loslegten. "Was auch immer das für eine Medizin ist", knurrte ich ärgerlich, "sie wirkt offenbar Wunder." Ich arbeitete mich mit vorbildlicher Brustschwimmerhaltung heran, verwurzelte mit dem Beton vor seinem Käfig, ignorierte Rippenstöße und Rempeleien. »Wie komme ich an ihn ran? Rufen ist ja zwecklos.« "Hey, willst du rauf?", sprach mich eine Art Ordner an, studierte meine Figur. Wäre mir nicht bereits heiß gewesen, hätte ich vor Verlegenheit in der Gewitterzone wie der Mars geglüht. "Ey, Miep, du bekommst Besuch!", dröhnte er zur Plattform hinauf, fasste mich an den Hüften und katapultierte mich mit antrainierter Muskelkraft ansatzlos auf die Bühne. Ungeschickt und erschrocken fiel ich nach vorne auf die Knie, ließ meine Motorradjacke fahren. Blinzelte mit rasch pulsierendem Herzschlag nach oben. "MIEP?!" ~#~ Teil 21 (16/09/2004) Eine schlanke Hand mit langen Fingern streckte sich mir entgegen. Ich griff automatisch zu, kam wieder auf die Füße und stand Konrad gegenüber. "Miep?", wiederholte ich fragend, obwohl er dies höchstens von meinen Lippen ablesen konnte. Trotz seiner galanten Reaktion, mich wieder in die Vertikale zu befördern, blieb Konrads Blick entrückt. Er bewegte sich weiter, geschmeidig wie ein Schlangentänzer, die Arme zuckten über seinem Kopf wie Tentakel. Ich war wohl bereits wieder ausgeblendet in seiner Wahrnehmung. Für einen Augenblick war ich versucht, diese Missachtung mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Von der Plattform wieder auf Mutter Erde zu klettern und den netten Menschen in der Uni-Klinik zu stecken, wo ihr kostbarer Patient seine Energie verquaste. Konrad beugte sich unerwartet in seinen unermüdlichen Schlangenbewegungen vor, formulierte seine Frage. "Warum verfolgst du mich?" Meine Kinnlade klappte herunter. »Klasse, er hält dich für einen Stalker...« Ich kreuzte verärgert die Arme vor der Brust, fauchte kühl zurück, "wieso hinterlässt du in der Klinik meine Nummer?!" "Hey, Miep! Sorg dafür, dass dein Kumpel was zeigt oder werde ihn los!", quäkte mein Steigbügelhalter nach oben. »Was zeigen?! Bitte?!!« Ein minimales Lächeln umspielte Konrads Mundwinkel, dann drehte er auf, vielmehr eine halbe Pirouette. Kehrte mir den Rücken zu, beugte sich dann langsam, mit raumgreifend ausgestreckten Armen zurück, bis ich glaubte, dass er umkippen würde. Zwinkerte mir mit einem Auge provozierend zu. Ich spürte, wie eine Zitrone in meinem Mund Aufmerksamkeit beanspruchte. »Nun reicht's mir aber!!« Grimmig fasste ich nach seinem Handgelenk. »Jetzt gibt's Saures!« ~#~ Teil 22 (17/09/2004) Ich konnte es wirklich nicht ausstehen, wenn man versuchte, mich an der Nase herumzuführen. Außerdem wurde ich langsam müde, und der ganze Schlamassel könnte nun zu einem Abschluss gebracht werden. Konrads Handgelenk in Gewahrsam ging ich in die Hocke, um mich von der Plattform herabzulassen. Unerwarteterweise folgte mir Konrad geschmeidig, während ich meine Motorradjacke auflas und schob sich vor mir durch die wogende, zuckende Menschenmenge. Unser Zielort stellte sich als Pissoir heraus, eine Bedürfnisanstalt, die auf gruselige Weise sämtlichen Vorstellungen von Hygiene und Ästhetik widersprach. Mein Magen zog sich zusammen, kalte Schauder voller Ekel rieselten über meine bis dato erhitzte Haut. Ich umarmte das schwarze Leder meiner Motorradjacke schützend und versuchte, das Atmen einzustellen. "Wieso hast du meine Nummer hinterlassen?!", schnaubte ich in Höchstgeschwindigkeit durch meine bereits flatternden Nasenflügel. "Wie hast du mich gefunden?" Scheinbar unempfindlich lehnte sich Konrad mit blankem Rücken gegen eine Kabinenwand aus Holz. Obwohl ich mit Empörung zu reagieren geneigt war und Durchatmen zur nervlichen Beruhigung absolut außer Frage stand, zögerte ich. Möglicherweise irritierten mich auch seine blanken Füße, die er ungeachtet der unhaltbaren Zustände fest auf die aufgeklebten Holzbohlen aufsetzte, deren dunkle Färbung allerlei Flüssigkeiten aufgesogen haben konnte. "Nun ja", formulierte ich schließlich vorsichtig, "es hat mich verwundert, dass das Uni-Klinikum meinen Anrufbeantworter belagert hat. Denn wir kennen uns doch gar nicht und es gibt überhaupt keinen Grund für dich, ausgerechnet meine Nummer zu hinterlassen." Konrad zupfte mit unleserlicher Miene an dem Pflaster, das die Wunde auf der Stirn abdeckte. "Und deshalb bist du hier? Damit dein Anrufbeantworter nicht besprochen wird?" »Da hört sich ja wohl alles auf!«, detonierte mühsam unterdrückte Wut in mir. »Unglaublich!« "JA!", fauchte ich mit Nachdruck, "ich möchte, dass du meine Nummer nicht hinterlässt, wenn du dich selbst aus ärztlicher Aufsicht verabsentierst. Das wäre sehr zuvorkommend!", ätzte ich, wickelte mich in meine Motorradjacke. "Und dann ist alles vorbei", stellte Konrad seltsam gefühllos fest. "Genau!", schnaufte ich, wandte mich ab. Was hatte ich schon mit halbnackten, schlaflosen, karo-berockten, barfüßigen Verrückten, die Konrad, -oder Miep?!-, hießen, zu schaffen?! ~#~ Teil 23 (18/09/2004) "Okay", murmelte er, ohne mich anzublicken, verlor die nahezu apathische Reglosigkeit, die ihn wie eine Puppe hatte wirken lassen. Drehte sich unruhig nach rechts, dann nach links, ungezielt, wippte von einem Fuß auf den anderen. Ich glotzte. Man konnte es nicht schmeichelhaft umschreiben, weil meine Augäpfel aus meinen Höhlen heraustraten. »Okay, was stimmt hier nicht?«, versetzte meine innere Stimme schulmeisterlich. »Ich will ihn zur Minna machen, und er interessiert sich nicht mal dafür!« »Richtig. Wie werden wir also vorgehen?« Meine Haarspange zwecks Zottelbändigung zum Einsatz bringend knurrte ich kühl zurück, »wir werden jetzt Leine ziehen, weil es mir wurscht ist, was dieser abgedrehte Spinner für Motive hat!« Andererseits konnte ich nicht das vermeintliche Feld des Triumphs (noch immer die Bedürfnisanstalt des Ekels) verlassen, ohne das letzte Wort gehabt zu haben. "Also lass meine Adresse, meine Telefonnummer und meinen Namen aus dem Spiel!", ordnete ich herrisch an, kehrte ihm den Rücken zu. Die Plastikmarke fest umklammernd kraulte ich mich durch die Menge Richtung Ausgang. Helm auslösen, Maschine anwerfen und dann nach Hause. Ausschlafen. Schaumbad. Brunchen gehen. Wäsche bügeln. Ein guter Plan. Wieder zurück zum normalen Leben. Weg von Verrückten in Röcken ohne Schuhe. Ich baute mich vor dem weiblichen Wiederkäuer auf, reichte die Plastikmarke über den getarnten Tapeziertisch. "Meinen Helm bitte", gab ich den Anstoß, so etwas wie Bewusstsein in ihre großen, aber intelligenzfreien Augen zu nötigen. Sie blinzelte, schnaubte enerviert von der Aussicht, sich bewegen zu müssen, eine grellrosa gefärbte Strähne aus den Augen. "Hey, Kumpel!" Schon wieder beehrte mich eine Pranke mit unwillkommener Vertraulichkeit auf der Schulter. "Ja, bitte?", schluckte ich Indignation hinunter. »Ruhig, Rowan, locker bleiben. Nur noch eine Viertelstunde vor erholsamen Schlaf.« "Wo ist Miep hin?" Saurer Atem wehte mir unangenehm aufdringlich ins Gesicht, als der Steigbügelhalter/Gorilla mich adressierte. "Ich habe ihn zuletzt auf der Toilette gesehen", gab ich knapp zurück, bereits im Begriff, meinen Helm hinter dem Wiederkäuer im Regal auszudeuten. "Toll, Alter. Aber da ist er nicht mehr. Er hat das Scheißfenster ausgebaut und ist getürmt." Meine Augenbrauen zuckten ungläubig in die Höhe. »Wie soll er das angestellt haben?« »In diesem Pissoir gab es ein Fenster?!«, echote ein weiterer, schier atemberaubender Gedanke in mein vages Erstaunen. "Das ist bedauerlich", gab ich betont reserviert zurück, langte an der von ihrem Kaugummi offenkundig völlig in Anspruch genommenen Garderobiere vorbei und ergriff meinen Helm. "Ja, weil du seinen verdammten Kram mitnehmen wirst. Wir sind hier nicht die Bahnhofsmission." »Wie bitte?!« ~#~ Teil 24 (19/09/2004) "Moment mal", begehrte ich auf, drehte mich nun frontal zu dem Gorilla herum, der sich von der unerwartet zum Leben erwachten Langstreckenkaugummitesterin eine prallgefüllte Plastiktüte mit dem Logo eines Discounters reichen ließ. "Ich bin keineswegs mit ihm bekannt", wich ich einen Schritt zurück, um der ausgestreckten Pranke mit der Überraschungstüte zu entgehen, "da liegt ein Irrtum vor." "Schön", blökte der Verpackungskünstler grimmig, "dann werfe ich die ganze Scheiße eben in den Container. Geht mir am Arsch vorbei." »Das ist ein weiter Weg«, schoss es mir unerwünschterweise durch den Kopf, weshalb ich mit einer Grimasse ein Grinsen herunterkämpfte. Seufzend nahm ich unter seinem triumphierenden Zähnefletschen die Kunststoffbombe entgegen, stemmte mich gegen den Zustrom nach draußen. "Wirklich toll", kommentierte ich laut, marschierte dann verärgert zu meiner Maschine herüber, verscheuchte einige juvenile Draufgänger mit frostigem Blick und geschwenktem Helm. »Kommt mir bloß blöd, und es gibt Hühnerfrikassee«, sandte ich telepathisch aus, während ich überlegte, wie ich die Liebesgabe in PVC verstauen sollte. Schließlich befreite ich ein Zugband aus meinem Case, tüdelte das Paket auf dem Gepäckträger fest. Rollte mein altes Mädchen aus dem Pulk Reiskocher und lehnte sie gegen meine Seite, um meinen Helm vom Ellenbogen auf den Schädel zu befördern. Das Visier in Habachtstellung, um die Hitze meiner Wut abzukühlen, rollte ich im Schritttempo auf die Straße. »Nach Hause, Kutscher«, verspottete mich amüsiert mein Teufelchen, was mir ein Knurren entlockte. Irgendwo in dieser späten Nacht lief trotz der kühlen Temperaturen ein junger Mann barfuß in einem Schottenrock durch die Gegend, der in einem Technobunker das Fenster des Pissoirs ausbaute, um zu entkommen. Gegen meinen Willen kontemplierte ich seine möglichen Motive. Ich verstand seine Reaktionen einfach nicht. Wirklich jede seiner Handlungen gab mir Rätsel auf. Rätsel, die ich nicht lösen wollte, weil sie nur noch mehr Ärger und eine tiefere Verstrickung in sein seltsames Leben bedeuteten. »Vielleicht hätten sie ihm eine Zwangsjacke verpassen sollen, diese Weißkittel«, bemerkte mein Schleifer in zungenschnalzender Missbilligung. Ich wusste nur eins: mein Bett rief. Und ich würde antworten. Also brachte ich meine Suzuki in der heimeligen Zuflucht der Containergarage unter, tätschelte ihren Tank, bevor ich alles verriegelte. Schlenderte meinem Domizil entgegen, bemühte mich, im Treppenhaus keinen Lärm zu verursachen, immerhin war es schon spät. Als ich den Schlüssel in das Türschloss schob, löste sich in der Dunkelheit eine schlanke Silhouette aus dem Schatten der Treppen zum Dachboden. "Rowan", wisperte die Gestalt rau. "Verdammt!", entfuhr es mir seufzend. ~#~ Teil 25 (20/09/2004) "Du bist sicher hier, weil du deine Sachen haben möchtest", flüsterte ich arrogant, überreichte die pralle Tüte ohne Zeremoniell. Im Halbdunkel konnte ich ausmachen, wie er die Plastikkugel vor dem Bauch balancierte, mit beiden Armen umfasste, wie eine schwangere Auster wirkte. Ratlos, unschlüssig. »Deine Chance«, lieferte der Misanthrop das Stichwort, »nutz sie und verzieh dich rein!« Ich brachte es nicht über das Herz. Drehte den Schlüssel, schob die Tür auf, aktivierte das Licht, trat in den Hausflur zurück. "Willst du reinkommen?", suchte ich in seinen schwarzen Augen nach einer Reaktion. "Danke schön", versetzte er so steif und höflich, dass ich mich grimmig versteifte. Ich wollte nett sein, zugegebenermaßen ungewöhnlich generös, und er fertigte mich so brüsk ab?! Angesichts der sorgfältigen Massage seiner blanken Fußsohlen auf der rauen Schmutzfangmatte vor meiner Haustür schluckte ich allerdings grobe Erwiderungen herunter. »Ich verstehe ihn einfach nicht«, resignierte ich ein weiteres Mal seufzend. "Wenn du dich frischmachen willst, das Bad ist geradeaus", wies ich den Weg, schälte mich aus meiner Motorradjacke, schlüpfte aus den Stiefeln. Natürlich blinkte mein Anrufbeantworter schon wieder. Trotzig entledigte ich mich dennoch der Codekarte, Schlüssel, Kleingelds und all des anderen Krimskrams in meinen Taschen. "Könnte ich wohl ein Glas Wasser bekommen?" Konrad stand noch immer im Flur, mit seinem Kunststoffbauch. "Natürlich", brummte ich ratlos, wechselte in die Küche hinüber. "Nur Wasser oder vielleicht was anderes?", entnahm ein Glas aus dem Oberschrank. In diesem Moment gab es ein dumpfes Geräusch. Ich fuhr alarmiert herum. Den Plastikbeutel noch immer umklammernd lag Konrad auf dem Teppich ausgestreckt in meinem Flur. "Oh nein", wisperte ich, "bitte nicht schon wieder in die Notaufnahme." Womit hatte ich diesen Schlamassel verdient?! ~#~ Teil 26 (21/09/2004) Ich sackte neben ihm auf die Knie, hob seinen Kopf im Nacken an, tätschelte seine kalte Wange. "Konrad! Hey, wach auf!", drängte ich mich laut in sein Unterbewusstsein, registrierte erschrocken, wie niedrig seine Körpertemperatur war. "Komm schon!" In meiner aufkeimenden Panik griff ich zu groben Methoden, rieb seine Wangen mit den Knöcheln, dann seine Arme, scheute aber vor der nackten Brust zurück. Er wirkte sehnig und von anmutiger Gestalt, doch bei näherer Betrachtung trennte Konrad nur wenig von ungesunder Magerkeit. Hätte ich die Behandlung seiner Wangen auf dem Brustkorb fortgesetzt, wären wohl meine Fingerknöchel aufgescheuert worden. "Hey, bitte, komm wieder zu dir!", flehte ich eindringlich, erwog, ob ich ihn mit Wasser übergießen sollte, oder ob ich es mit dem stechenden Geruch japanischer Heilminze versuchen sollte. Seine Lider flatterten, dann streifte mich ein trüber Blick. "Bleib wach!", krähte ich am Rande der Hysterie, kam auf die Beine, hetzte zum Telefon hinüber. Wählte die Nummer auf dem Block an. "Hallo? Ich habe Konrad Siebeneicher bei mir, und es geht ihm nicht gut", sprudelte ich in Hochgeschwindigkeit einleitungslos in den Hörer. Lauschte der gemächlichen Antwort unhöflicherweise nicht bis zum Satzende. "Nein, hören Sie, er liegt auf meinen Teppich hier! Umgefallen, verstehen Sie?!" "Nein, ich habe keine Ahnung! Ich brauche Hilfe, begreifen Sie das?!", explodierte meine Angst schließlich aggressiv, "ich will, dass Sie etwas unternehmen!" Der Weißkittel am anderen Ende der Leitung setzte zu einer pikierten Erwiderung an, doch mein Maß an Geduld und Demut war erschöpft. "Sie haben meine Adresse, schicken Sie jemanden her!", brüllte ich enthemmt, rammte den Hörer auf die Gabel. Atmete tief durch, versuchte, meine Pulsfrequenz zu reduzieren. Konrad zu meinen Füßen hatte die Augen aufgeschlagen, fixierte mich. Er atmete flach, doch ohne pfeifende Nebengeräusche oder Anzeichen von Anstrengung. »Verdammt, was soll ich bloß tun?!« Die pragmatische Seite meiner wirren Gedanken setzte sich durch, also trabte ich in mein Schlafzimmer, holte ein Kissen und eine Decke, bettete ihn etwas weicher, wickelte ihn behutsam ein. "Ich habe Hilfe geholt, Konrad", erklärte ich betont langsam. »Zumindest hoffe ich das«, grunzte es zynisch in meinem Hinterkopf. Seine Lippen formten eine Silbe. "Wie bitte?", wisperte ich hilflos. "Miep", krächzte er heiser. "Miep?", wiederholte ich verständnislos, zwischen Lachen und Weinen schwankend. Er grinste fahl, drehte dann den Kopf und sackte weg. Ließ mich allein und panisch zurück. ~#~ Teil 27 (22/09/2004) »Das kann er doch nicht machen?!«, kreischte hyperventilierende Hysterie in mir auf, rannte wie ein kopfloses Huhn im Kreis, während ich verzweifelt versuchte, nicht diesem Impuls nachzugeben. Zugegeben, es hätte befreiend gewirkt. "Wie lange brauchen die denn?!", fauchte ich im Selbstgespräch, aber ich wusste selbst, dass es ein unfairer Vorwurf war. »Reiß dich zusammen, Rowan!«, kommandierte der höchst indignierte Part mit Tyrannin Elisabeth-Alt, »benutze endlich deinen Verstand!« Ich kam der Aufforderung nach, tauchte zuerst die Wohnung in taghelle Beleuchtung, um den Weg zu weisen. Dann zog ich mich eilig um, denn in meinem schockbebenden Zustand stand Motorradfahren nicht mehr zur Debatte. Geld, Mobiltelefon, Ausweis-, alles wanderte in meine Hosentaschen. Noch immer keine Spur von einem Rettungswagen! Nervös öffnete ich meine Fenster zur Straße hin, um keinen Laut zu verlieren, ignorierte die einströmende Kälte. Die Stille jedoch bedrückte mich nach wenigen Augenblicken. Ich kniete mich deshalb zur Ablenkung auf den Teppich neben Konrad, nahm die wertvolle Plastiktüte an mich und durchstöberte sie mit einem Anflug schlechten Gewissens. Andererseits konnte man Fragen an mich richten, und zudem wollte ich endlich wissen, mit wem ich es eigentlich zu tun hatte. Solchermaßen legitimiert sortierte ich Kleidungsstücke aus, die eingerollt worden waren, dazu gerolltes Bargeld, ein besticktes Falttäschchen mit Münzen. In einen Klarsichtbeutel verpackte Ausweispapiere samt einer Organspenderkarte und einer Chipkarte mit dem Logo des Universitätsklinikums. Außerhalb des Beutels knitterte mir ein offenkundig waschmaschinenerprobter Studentenausweis entgegen, den ich in den Klarsichtbeutel einquartierte. Ein Plastikkamm, Einwegrasierer, Nagelfeile, Zahnbürste und Zahnpasta komplettierten seine Habseligkeiten. »Er wird doch kein Wohnsitzloser sein?!«, schoss es mir durch den Kopf. Hatte er vielleicht deshalb meine Adresse angegeben?! Ich wandte den Kopf, studierte Konrad kritisch. Ich konnte es mir nicht vorstellen, denn nichts an ihm wirkte verwahrlost. »Außerdem ist er Student, er hat Bücher, einen Computer, massenweise Papier und so weiter«, beruhigte ich meine Besorgnis. »Und wenn es anders wäre, ginge es dich auch nichts an«, stänkerte mein nörgeliges Ich übellaunig, denn es vermisste Schlaf. Ich übrigens auch. Weshalb ich auch, gegen die Garderobe sinkend, prompt eindöste und trotz geöffneter Fenster den Einmarsch der Gladiatoren verpasste. ~#~ Teil 28 (23/09/2004) Mein Schädel, der noch kinnlings auf meiner Brust bequem geruht hatte, rammte mit Blitzgeschwindigkeit gegen die unnachgiebige Garderobe. Schmerz raste nachhaltig bis zum Steißbein hinunter, weshalb meine Aufmerksamkeit temporär vom Einfall der Barbaren in Neonkitteln abschweifte. So ein Erwachen tat nicht gut. Noch weniger, dass einer der zwei Aliens in Kreischfarben mit der flachen Hand auf meiner Brust gönnerisch den Einsatz der Task-Force einleitete. "Alles okay, Kumpel, wir haben die Sache im Griff." "Ach, ist das so?", ätzte ich näselnd zurück, da der zweite Hilfsbeatle vergebliche Anstrengungen unternahm, Konrad von meinem Flur zu klauben. Demnach musste er noch immer ohne Bewusstsein sein. "Ey, ich sach mal in der Zentrale Bescheid." Der Mann mit dem Griff ignorierte die Anlaufschwierigkeiten seines Partners großzügig, tastete konzentriert auf einem handtellergroßen Handy herum. »Dumm und dümmer bei der Arbeit«, grunzte mein zynischer Part, »ob sie sich gegenseitig die Kneifzange halten, um in die schicken Beinkleider zu steigen?« Ich wollte es lieber nicht wissen. "Wie lautet die Adresse?", fragte ich bemüht höflich, "ich werde mit dem Wagen folgen." "Nee, lass mal. Heute Nacht wird der Typ nur gebunkert. Montag kommt der Chef wieder, dann is auch Besuch drin." Das konnte wohl kaum der Wahrheit entsprechen. Auch am Wochenende gab es Besuchszeiten, und wenn sie schon mitten in der Nacht diese zwei Clowns schickten, um Konrad aufzulesen, würden sie ihn wohl kaum bis Montag bunkern ohne ärztliche Konsultation. Allerdings blökte mein prämierter Scheißedetektor Alarm, was mich im letzten Moment daran hinderte, dem telefonierenden Dumpfbackus ignorans die Leviten zu lesen. Ein geschickt getarnter Blick aus dem Fenster bestätigte meine vagen Ahnungen. Meine beiden schrill befrackten Gorillas arbeiteten für ein privates Krankentransportunternehmen, das sich in einem umkämpften Markt mit Dumpingpreisen einen unschönen Ruf erworben hatte. Nun, Konrad hatte den Unfall mit mir überstanden, da sollte ein kurzer Transport in das Uni-Klinikum keine Herausforderung an seine Schicksalsgötter darstellen. »Und außerdem«, monierte mein nörgeliges Ich piefig, »wenn du nicht endlich mehr Schlaf bekommst, liegst du bald neben ihm.« ~#~ Teil 29 (24/09/2004) Die beiden Entsandten aus der Welt der neongrellen Uniformen im Dienste der Gesundheit ihrer Kunden bewerkstelligten es schließlich, mit einer einfachen Bahre meine Wohnung zu erklimmen. Dann Konrad umzubetten und ohne Stürze ihren Transporter zu erreichen. Ich blieb zurück mit einer einsamen Plastiktüte und dem faden Geschmack des Verrats. Auch wenn ich Konrad nicht kannte, so fühlte ich mich für sein Wohlergehen verantwortlich. Rational betrachtet gab es keine Alternative zu meiner Handlungsweise, dennoch begab ich mich in mein Badezimmer und gurgelte gründlich, um den Kloß schlechten Gewissens aufzulösen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Sonntag bereits zwei Stunden zählte. "Ich werde mich hinlegen, dann ordentlich brunchen und falls dieser merkwürdige Vogel dann noch immer im Klinikum ist, seinen Aldi-Koffer abliefern." Und dann endlich meine Ruhe haben. Tatsächlich schlief ich so tief und fest, dass ich erst mit dem nachdrücklichen Geläut des Kirchturms in der Nähe wieder Morpheus' heimeliges Reich verließ. Während die Welt nun das Mittagessen in Reichweite wusste, knurrte mein Magen ausgehungert. Er hielt wenig von Aufregung, wenn sie nicht mit Nachschub verbunden wurde. Das gemütliche Bad tilgte sich von meiner Liste der Annehmlichkeiten, eine Dusche musste genügen. Die nassen, sich störrisch kringelnden Haare in einen wüsten Zopf gezwungen tigerte ich vor meinem Kleiderschrank auf und nieder. »Frühstück bei einer Fastfood-Kette oder lieber in einem Hotel?« Alternative Eins bot legere Kleidung und Anfahrt mit dem Motorrad, Kandidat Zwei gehobeneres Niveau und den Einsatz des PKW. »Du vergisst die Plastiktüte!«, ermahnte mich der Schleifer tadelnd. Also PKW und Hotel. Ich unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, meine Haare zu bändigen, streifte ein Sakko über meinen Rollkragenpulli, steckte das Notwendige ein samt der Nummer des Klinikums. Las Konrads Erbe auf und machte mich auf den Weg, meinen Wagen aus der Garage auszulösen. Die hungrigen Wölfe heulten kriegerisch auf in Erwartung eines All-you-can-eat-Buffets. Orffs "Carmina Burana" begleitete sie. ~#~ Teil 30 (25/09/2004) Wohlgesättigt und erheblich zuversichtlicher gestimmt verließ ich die Lobby des Hotels, fischte mein Mobiltelefon aus der Innentasche meines Sakkos. Wartete geduldig, bis endlich jemand die Muße fand, meinen Anruf anzunehmen. Nach einigen Anläufen stellte sich heraus, dass ich eine Dame vom Reinigungspersonal alarmiert hatte, die "nur ganz kurz" den Empfang vertrat. Um mich möglichst rasch abzuwimmeln, gab sie mir kurzerhand die Nummer des Gebäudes durch und legte auf. Da mein Magen zu beschäftigt war, um diese rüde Serviceleistung entsprechend zu kommentieren, ignorierte ich sie und machte mich auf den Weg. Das weitläufige Areal des Klinikums befand sich in einer steten Umbauphase, sodass man sich erstaunlich weitsichtig dafür entschieden hatte, Orientierungspläne und Wegweiser aufzustellen. Die Tüte unter den Arm geklemmt marschierte ich guten Mutes zu meinem Bestimmungsort. Ließ mich weder von der verschlossenen Eingangstür noch von den Fangnetzen der Fassadensanierung abschrecken, sondern presste die Klingel tief in das Innere des Gesteins, bis sich eine enervierte Seele fand, die mich hereinließ. Und kommentarlos in einem Raum verschwand, die Tür zuschlagend. "Tsktsk", entfuhr es mir. »Nun denn«, bemerkte meine innere Stimme aufgeräumt, »drinnen sind wir, lass uns den Burschen aufstöbern, die Plastikbombe abgeben und den Rest des Tages ausspannen.« Wie aber sollte ich mich orientieren? Stille lag über dem Gebäudekomplex, Material stellte die Hinweistafel im Eingangsbereich blickdicht zu. Also stromerte ich ziellos die Gänge auf und nieder, arbeitete mich in den dritten Stock hoch. Bog um eine Ecke und rannte direkt in einen Weißkittel hinein, der verbotenerweise seine Lungen mit Teer pflasterte. Er verschluckte sich, hustete, krächzte, heulte Rotz und Wasser... während ich mich erneut als Taschentuchspender nützlich machte. Darauf verzichtete, meinem boshaften Teufelchen Erleichterung zu verschaffen, indem ich dem Halbgott in Weiß auf den Rücken klopfte. "Ich suche einen Patienten, der heute Nacht eingeliefert wurde. Konrad Siebeneicher", erklärte ich im Plauderton, während sich der Äskulap-Anhänger dem Boden entgegenkrümmte. Er gestikulierte in Hüfthöhe, wedelte mich weg. "Vielen Dank", verabschiedete ich mich höflich. »Ziemlich merkwürdiges Volk, diese Medizinmänner«, brummte der Schleifer abschätzig. »Genau«, stimmte ich zu, »also nichts wie raus hier.« ~#~ Teil 31 (26/09/2004) Die traurigen Reste einer Beschriftung wiesen mich daraufhin, dass ich mich nun im Bereich der Schlafforschung befand. Das überraschte mich nicht mehr sonderlich. Dieses Mal allerdings bemerkte man meine Anwesenheit sofort. Eine energische Dame mittleren Alters ohne Kittel bremste mich in meinem Forschungsdrang nachdrücklich. "Wo wollen Sie hin? Das ist hier kein Besuchertrakt!" »Wöff«, grinste mein Teufelchen. Ich erklärte mein Anliegen, verzichtete aber darauf, die Plastiktüte als Legitimation vor ihr zu entleeren. "Sie wollen Miep besuchen?" Ihre mit scharfem Stift gezeichnete Augenbraue zuckte argwöhnisch Richtung Haaransatz. »Eigentlich möchte ich ihn aus meinem Leben entfernen«, wäre wohl die zutreffende Replik gewesen, aber ehrlich währt nicht wirklich am Längsten. Also nickte ich artig, ließ mich wie ein Kleinkind unter Mutters strenger Aufsicht zu einem Raum führen, der eine Aussicht auf ein Bett inmitten von Apparaten, Monitoren und Kabeln bot. In dem Bett nächtigte Konrad, mit Klebedioden bepflastert, von der Stirn bis zum Bauchnabel. Er wirkte zerbrechlich und mager in den Tentakeln der gierigen Gerätschaften. "Geht es ihm gut?", erkundigte ich mich beklommen, umarmte die Plastiktüte. "Den Umständen entsprechend", schnaubte der Zerberus, "allerdings hat er sich diesen Zusammenbruch selbst zuzuschreiben. So was von unzuverlässig!" Das konnte ich nicht bestätigen. Immerhin pflegte Konrad immer in Erscheinung zu treten, wenn ich gerade dem trügerischen Glauben zum Opfer fiel, mein Leben zurückerobert zu haben. "Sie können nicht mit ihm reden", ergänzte sie plötzlich, "hat also keinen Zweck, wenn Sie hier warten." "Ich möchte ihm seine Sachen übergeben", streckte ich ihr mit gewinnendem Lächeln die Plastiktüte entgegen. "Ich nehme nichts für andere in Verwahrung", fauchte sie unerwartet heftig. "Den Ärger halse ich mir nicht auf. Rufen Sie an und fragen Sie, ob er wach ist, dann können Sie vorbeikommen und ihm seinen Krempel geben." Und mit diesem Machtwort scheuchte sie mich raus, taub für meine Proteste. Kochend vor unterdrücktem Zorn, der durch hinderliche Restposten guter Manieren kein Ventil fand, machte ich auf dem Heimweg Halt bei einer Eisdiele und versüßte meinen Ärger mit einem Gelati Paradiso. Da konnte man wirklich nur hoffen, dass die Woche besser verlaufen würde. ~#~ Teil 32 (27/09/2004) In der Flimmerkiste lief ein alter Tatort, schwarzweiß und ohne hektische Action-Sequenzen. Ich befasste mich mit meiner Wäsche, bügelte, faltete, ordnete. In einem Anflug von Fürsorge hatte ich sogar Konrads spärliche Bekleidung ihrer trauten Plastikbehausung entrissen und sie einer Reinigung unterzogen. Da ich Hose und T-Shirt unserer ersten Begegnung nicht fand, sah ich mich in meiner Annahme bestätigt, dass der merkwürdige Bursche irgendwo eine Unterkunft hatte, wo sich der weitere Hausstand befand. Allerdings wunderte es mich doch, dass er wichtige Dokumente und ein wenig Wäsche zum Wechseln in einer Plastiktüte durch die Gegend trug. Um meine Bemühungen nicht durch ein Umfüllen in den Beutel zu torpedieren, bugsierte ich die sorgsam behandelte Wäsche in eine geräumige Ikea-Tragetasche, ordnete die Dokumente und Konrads Toilettenartikel dazu. »Das ist alles schon seltsam«, grummelte der Schleifer in meinem Hinterkopf, der es gar nicht begrüßte, dass ich fremden Männern die Unterhosen wusch. Nun gut, diesen Part übernahm das Waschmonster. Als die Ganoven dingfest gemacht wurden, schaltete ich die Übertragung aus, machte mich bettfertig und genoss die angenehme Schwere des drängelnden Schlafs. »Morgen wird alles besser«, lächelte ich mir selbst zu, bevor ich jedwede bewusste Aktivität beendete. Einige Stunden später, nach einem eiligen Frühstück, einer Präsentation und einem Vormittag angefüllt mit angenehm ruhiger Planungsarbeit schien sich meine Hoffnung des Vorabends zu bestätigen. Beinahe glaubte ich mich schon im gewohnten Trott meines wohlstrukturierten, überschaubaren Alltags. Bis mein Mobiltelefon lärmte. Ich hatte vergessen, es auszuschalten. Meine Vergesslichkeit verwünschend nahm ich widerwillig den Anruf entgegen. Dieses Mal war er ihnen nur mit einem Schottenrock bekleidet entwischt. Ich seufzte laut. "Wird er wieder in meinem Flur kollabieren?", erkundigte ich mich gehässig. Nach den bisherigen Testergebnissen stand das nicht zu befürchten. Eher konnte es sein, dass Konrad die nächsten drei Tage ruhe- und schlaflos durch die Gegend marschierte. Ich presste die Hand auf meine Augen. »Irgendjemand«, schwor ich mir, »wird mir nun endlich erklären, was genau hier los ist.« Denn es sah nicht so aus, als würde ich jemals dieser lästigen Angelegenheit ledig werden. ~#~ Teil 33 (28/09/2004) Meiner Vermutung zum Trotz, Konrad wartete vielleicht wieder auf meiner Türschwelle, erledigte ich zuerst die notwendigen Einkäufe. Ein Unterfangen, das man knapp vor 20 Uhr aufgrund langer Arbeitszeiten zwar ohne Störpotential wie Rentner und Kinder absolvieren konnte, aber mit einigem logistischen Geschick und rapidem Tempo verbunden war. Ich unterbot meinen letzten Rekord, pilotierte meinen ausbrechenden Einkaufswagen zu meinem Auto. Lud meine Vorräte ein und schloss das widerspenstige Gefährt an seine Kameraden an, bevor ich als einer der letzten Kunden den Parkplatz verließ. Beladen mit Einkäufen, die an den Auszug aus Ägypten erinnerten, stampfte ich die Treppen hinauf, bereit, einen spärlich bekleideten jungen Mann auf der Fußmatte vorzufinden. Aber niemand harrte meiner Heimkehr. Ein wenig enttäuscht betrat ich mein trautes Heim, verstaute die Neuerwerbungen, zog mich um und kontrollierte Anrufbeantworter, Faxgerät und Mobiltelefon. Keine neuen Nachrichten. Hatten sie Konrad gefunden? Oder war er zurückgekehrt? Wohin konnte ein Mann mit einem Schottenrock gehen? Kurzentschlossen sah ich Konrads Eigentum durch, fand seinen Personalausweis. Ein Blick in das Telefonbuch führte nicht zu einer Telefonnummer, aber mein Entschluss war bereits ausgereift. Wenn er nicht hier war, konnte er mit einem Zweitschlüssel in seine Wohnung gelangt sein. Sodass ich mich mit der Tragetasche bewaffnete, meine Suzuki auslöste und eine kurze Tour in die Innenstadt unternahm. In der Nähe des Bahnhofs gab es frisch sanierte Häuser im Stil des Bürgertums Ende des 19. Jahrhunderts, die hässlichen Hinterhofbauten vorstanden. Ich rollte durch ein Tor in den Bereich eines Betonklotzes, der sich hinter einer hübschen Larve verbarg. Graffiti, Müll und der beißende Gestank von Urin empfingen mich. Aus den geöffneten Fenstern drang der Geruch von Mahlzeiten, verdichtete sich mit Gesprächsfetzen in Idiomen, die ich nicht zuordnen konnte. Die Haustür hing schief in den Angeln, das Klingelbrett, sämtlicher Kabel ledig, ebenso. Also stieg ich unangemeldet im spärlichen Licht einer stahlummäntelten Funzel bergauf. ~#~ Teil 34 (29/09/2004) War mir der Geruch von Speisen (obwohl ich mir lieber nicht vorstellen wollte, was genau dort schmorte) bereits im Innenhof als atemberaubend erschienen, so konnte man sich beim Erklimmen dieses Betonfossils nur Kiemen wünschen. Ich atmete flach, schwang unwillkürlich mit der Rechten meinen Helm wie eine Keule, während ich mir fortwährend die Ikea-Tasche in die Kniekehlen schlug. Die Türen waren ohne Beschilderung, doch Spuren wiesen auf ihre vermuteten Bewohner hin: zerlatschte Schuhe gähnten mitleiderregend in das Zwielicht der Funzel. Entouriert von Mülltüten, die sich wider Erwarten nicht selbsttätig in den Container beförderten. Daneben Fingerabdrücke kleiner Schmutzfinken in Hüfthöhe, Kratzspuren von Tieren, die einen Hass gegen Holz hegten und Tags aller Art. Ein Schatten huschte zwischen einem weiteren Tütenlager, und ich beschleunigte. »Wahrscheinlich eine dieser hundegroßen Kampfratten...« Es würgte mich im Hals. Wie konnte man nur in so einem Schmutz leben? Stumpfte man ab, wurde einem alles gleichgültig? Ich biss meinen Ekel zurück. »Bleib ruhig, Rowan, erinnere dich an deine Mission.« Genau, diesen Konrad aus dem Busch scheuchen, seinen Kram loswerden und sich verziehen. Zurück in die saubere Idylle meines Lebens. Natürlich beschlich mich die vage Befürchtung, dass es nicht ganz so geschmeidig ablaufen würde ungeachtet meiner Vorsätze und Absichten. Ich hatte das oberste Geschoss erreicht, stand neben der von Brandspuren rußgeschwärzten Tür, die den Zugang zum Dach blockierte. Die benachbarte Tür wirkte abgenutzt, aber nicht in vergleichbarem Maße widerlich wie die Zugänge zu den Wohnhöhlen darunter. Durch meine Motorradhandschuhe leidlich geschützt klopfte ich an die Tür, bestaunte die massive Kette, die eine Fußmatte aus Drahtverhau festhielt. »Nett. Richtig heimelig«, säuselte eine boshafte Stimme in meinem Hinterkopf. »Wohl wahr«, brummte ich innerlich, donnerte eine Nuance vehementer gegen das bebende Türblatt. "Konrad?", intonierte ich eine Spur schrill, weckte sogleich diverse Hausbewohner, die in einer Kakophonie loslegten. Möglicherweise Hunde. Oder Ratten mit Keuchhusten. In diesem Augenblick verabschiedete sich die Funzel auch noch ächzend. Einen illuminierten Schalter konnte ich nicht ausmachen, der Grubenhelm ruhte auf der heimischen Garderobe. "Scheiße!", fluchte ich enerviert. Ein Schatten neben mir bemerkte sehr weise, "jetzt wäre es gut, wenn man rauchen würde, nicht?" ~#~ Teil 35 (30/09/2004) Ich schrak herum und verfehlte im Schein eines Feuerzeugs knapp einen sehnigen Mann mit Ziegenbart und Wollmützchen. Das Geheimnis seiner ungesehenen Annäherung erklärte sich nun auch: ein Fenster zum Dach eines niedrigeren Nachbargebäudes stand offen. "Hey Mann, alles friedlich!", winkte der Dachbesteiger mit erhobenen Händen, grinste mich zähnebleckend an. »Er hat Ähnlichkeiten mit einer Ratte«, befand ich, aber wenigstens nicht der Sorte, die im Rudel Katzen jagte. "Hallo", nahm ich tapfer die erste Hürde, "ich suche nach Konrad Siebeneicher." "Miep? Um die Zeit zu Hause?" Mein Gegenüber lachte keckernd. "Mann, du machst Witze! Der ist unterwegs. Willste warten?" Ich zögerte. "Komm, gib dir 'nen Ruck, Kumpel. Meine Shisha ist noch warm." "Bitte?", plapperte ich verständnislos, starrte in die Semi-Dunkelheit des Dachs hinaus. "Wasserpfeife", dolmetschte der Bemützte feixend, "gesünder als Gras, riecht auch besser und kommt extrem lässig." Ich krallte die Ikea-Tüte an meine Hüfte. "Danke schön, aber ich habe es ein wenig eilig. Wo könnte ich ihn denn finden?" "Miep? Äh, welchen Tag haben wir heute?" Irgendwas bewegte sich im Hemd des sehnigen Mannes. Ich war unwillkürlich an Alien erinnert, wich zurück. "Tag?", mahnte er mich nachsichtig, sodass ich hastig das Datum heraussprudelte. "Nee, Kumpel, der Wochentag", bedachte mich ein mildtätiger Blick, während die Beule sich Richtung Brustkorb nach oben arbeitete. Kalter Schweiß sammelte sich fröstelnd entlang meines Rückgrats. "Montag?", versuchte ich es zaghaft. "Tja, dann...", sinnierte der schräge Vogel gedehnt, raufte die spärliche Kinnbehaarung ausdauernd, "versuch's mal im Angeldust." "Okay, das mache ich. Vielen Dank und noch einen schönen Abend!" Mit gezwungenem Grinsen tastete ich mich bereits Richtung Treppe. Jeden Moment würde das Ding aus der Wäsche herausplatzen! "Immer sauber bleiben", kicherte der merkwürdige Kerl, aber dafür war es nach meiner Auffassung bereits zu spät. Ich brauchte keine Minute, um der urbanen Hinterhofhölle zu entfliehen. ~#~ Teil 36 (01/10/2004) Meine Maschine schnurrte erleichtert, als uns die neonbeleuchtete, quecksilbrige Innenstadt wieder hatte, wir ein Teil des pulsierenden Lebens der Metropole wurden. Ich kämpfte mit einem Zwiespalt. Wenn ich ernsthaft daran dachte, Konrad ausfindig zu machen, hieß dies im schlimmsten Fall, sich durch das Nachtleben zu schlagen. Und der Dschungel schloss auch an Montagen seine Pforten zur wild wuchernden Unterwelt nicht gänzlich. Andererseits war es gerade 21 Uhr, noch kein großer Betrieb, lediglich der erste Schichtwechsel, Cocktail-Hour und After Work-Party beendet. Doch wollte ich wirklich an einem Werktag meinen Schönheitsschlaf für diesen unermüdlichen Herumtreiber opfern? Da ich den Bahnhof passierte, fädelte ich mich ein, hoppelte einer Taxe hinterher, um im Schatten des gewaltigen Gebäudes mein Mädchen aufzubocken und zu sichern. Die kühle Brise wehte meine ungebärdigen Locken auf, als ich durch die Personenschleusen in das gefräßige Innere des Kopfbahnhofs eintrat, mich nach den magenta leuchtenden Säulen der Telekom umsah. In ihrer Nähe fand sich auch ein Info-Terminal, der mir nach einiger Mühe die Adresse des Angeldust verriet, kombiniert mit einer Wegbeschreibung. Es würde sich wohl lohnen, das treue Beutelchen in ein Schließfach zu stopfen, was mir tatsächlich gelang, ohne Rücksicht auf Falten in meiner Bügelarbeit. Zusammen mit meinem Helm. Der Fußweg vom Bahnhof zum Angeldust war nicht weit, und ich nutzte die Zeit, mich abzukühlen an den Fallwinden, die zwischen den Hochhausschluchten heulten, an unsichtbaren Ketten zerrten. Sie rochen den Herbst und wollten endlich ihre gewaltige Kraft beweisen. Da ich der Club-Szene vor geraumer Zeit entsagt hatte, konnte ich mit dem Angeldust nichts anfangen. Allerdings änderte sich das rasch, als ich die Leuchtschrift registriere. Und die Reihe schwerer, hochglanzpolierter Zweirad-Boliden vor dem Eingang. »Toll«, bemerkte mein gehässiges Ich trocken, »eine Yuppie-Biker-Kneipe.« »Fast richtig«, ächzte ich, als ich in den Eingang trat. Sie mussten nicht die Village People bemühen, um das Stammpublikum anzulocken, oder die Regenbogenfahne lüften. Ein heftig tätowierter, in spärlichem Lederkostüm marginal bekleideter Concierge dirigierte mich zur Garderobe, musterte mich so kritisch, dass ich den Blick auf den hochflorigen Teppich senken musste. Ich entrichtete den Obolus und atmete tief durch. "Wird schon schiefgehen", ermunterte ich mich wispernd. »Garantiert«, versicherte meine bessere Hälfte finster. ~#~ Teil 37 (02/10/2004) Das Interieur überraschte nach dem Eingang: der Boden bestand aus alterspoliertem Holz, die Wände waren dunkelgrün bespannt und mit Devotionalien der Subkultur dekoriert, Lampen und ganze Deckenpartien mit Netzen und Draht verkleidet. Alles wirkte wie eine Mischung aus Countrybunker und Fernfahrerkneipe. Eine Tanzfläche trennte Sitzgruppen von Billardtischen und Spielautomaten ab, Kellner mit Lederschürzen balancierten Tabletts mit Gläsern und Flaschen durch die Gegend. Lynard Skynard wechselten zu Motörhead zu Metallica zu ZZ Top zu AC/DC zu Steppenwolf. Ich verstand nicht sonderlich viel von dieser Musikrichtung, hielt diese Mischung aber für bemerkenswert. Zu meiner Erleichterung setzte sich das Publikum durchaus vielschichtig zusammen, der Anteil weiblicher Besucher beruhigte meine vagen Befürchtungen. Die sich allerdings blitzartig in Technicolor meldeten, als ich eine fremde Hand auf meiner Gesäßfläche spürte und zusammenzuckte. "Hey, suchst du jemanden? Kann ich dir helfen?" Die Offerte klang aufrichtig und wenig einschüchternd, doch ihr Sender machte diesen positiven Eindruck durch sein Erscheinungsbild wieder wett. Einen Kopf kleiner als ich, in eine Latexhose und ein hautenges Hemd gekleidet funkelten seine Augen derart gierig, dass ich zurückwich. Was ihm eine Aufforderung war, nachzurücken, mich wie Tyrannosaurus Rex zu fixieren. Ich erwartete förmlich, Fleischfetzen zwischen seinen überkronten Hauern zu entdecken. "Nein, danke", lehnte ich kühl ab. Sandte ich etwa irgendwelche Signale aus?! Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, preschte ich eilends zur Tanzfläche hinüber. »Keine Käfige, keine Podeste...wenn ich diesen Konrad erwische, dann wird er büßen«, schnaubte der beschämte Neandertaler in mir, während ich mich ratlos umsah. Irgendeine Combo schmetterte nun Gitarren gegen Absperrgitter-, es hörte sich zumindest so an, begleitet von einem Eunuchen, der vor sich hingreinte. "Grauenhaft", murrte ich suizidal und atmete auf, als die Doors um das Anfachen ihres Feuers baten. Dann entdeckte ich auch den Zielpunkt meiner Odyssee durch die Unterwelt. »Konrad.« Der gerade von einem stiernackigen Bierbauchheger eine Gesichtsreinigung erhielt. Mittels Leckbrett. ~#~ Teil 38 (03/10/2004) Da stand ich nun und konnte nicht anders. Ich hielt mich nicht für homophob, allerdings ließ ich altmodisch durchaus gelten. Nichts gegen Gesten der Zuneigung, soweit diese sich im Rahmen der Dezenz bewegten. Wenn man schon den Kindern das Zungerausstrecken verbat, weil es einen ordinären Eindruck auf Dritte machte, sollte man allen anderen vermitteln, dass orale Affektionsbekundungen in dieselbe Kategorie fielen. Eingedenk meines Aufenthalts im Raubtiergehege ignorierte ich meine Manieren, näherte mich mit forschem Schritt. Mittlerweile hegte ich kein ausgeprägtes Interesse mehr daran herauszufinden, wer Konrad Siebeneicher war. Hauptsache, diese Konfrontationen mit fremdartigen Lebenskonzepten nahmen ein Ende. Zu meiner Überraschung registrierte er mich, schob den untersetzten Zungenakrobaten an den Schultern von sich, bugsierte sich aus der Nische zwischen zwei Automaten. "Hey, komm, Süßer, geh noch nicht!" Schon knisterte ein zusammengefalteter Schein im Bund von Konrads engen Lederhosen. Konrad beachtete weder die Gabe noch den Spender, nahm mein Handgelenk, zog mich hinter sich her in Richtung der Toiletten. »Welche Überraschung!«, schnaubte mein Scheißedetektor. Ich hatte nicht die Absicht, ihn die Führung übernehmen zu lassen, stemmte demzufolge die Hacken in die Bohlen. "Hör mal, Konrad, wir müssen uns unterhalten, aber bitte nicht zwischen Pissoir und Spülkasten", setzte ich Maßstäbe. "Werden wir nicht", versicherte er gleichmütig, was meiner dynamischen Ankündigung sämtlichen Schwung stahl. Er angelte hinter einem verborgenen Paneel einen Schlüssel heraus, wischte um zwei Ecken, hielt vor einer ungekennzeichneten Tür inne und sperrte sie auf. "Endstation Putzkammer", stellte ich resignierend fest. Eine nackte Glühbirne brachte Licht in das erstaunlich gut sortierte und aufgeräumte Reinigungsarsenal. "Hast du meine Sachen?", kam er gleich zur Sache, umfasste meine Oberarme. "Natürlich", schnaubte ich energischer als beabsichtigt zurück, "und ich würde sie gerne loswerden! Ich..." Weiter kam ich in meinen Ausführungen nicht, weil ein Gorilla die Tür nach innen schlug, mich rücklings im toten Winkel erwischte und gegen Konrad katapultierte. Etwas beißend Riechendes taufte mich, dann hagelte es Kanister, Flaschen und Eimer. Ich ging k.o. ~#~ Teil 39 (04/10/2004) Es wurde Licht. Sanft von einer Tiffany-Nachbildung gefiltert. Ich blinzelte und drehte sehr vorsichtig meinen Kopf. Es gab ein Panorama in Form eines vollgestopften Büros und Konrads Gesicht, das über mir schwebte. "Tut mir leid", erklärte er unverschämt gelassen, "manchmal lassen sie nicht locker." "Oh, ich wollte deinen Brötchenerwerb keineswegs beeinträchtigen", ätzte es aus mir heraus, bevor ich mich wieder in der Kontrolle hatte. Zu meiner Überraschung wanderten seine Mundwinkel nach oben. "Können wir meine Sachen holen?" Schon schob er mich in eine aufrechte Haltung, was mir bewusst machte, dass ich auf seinem Schoß geruht hatte. "Sicher", grunzte ich indigniert, weil ich keine Angriffsfläche für meine wütende Verwirrung fand. Dann bemerkte ich den Odeur de Klo, der uns anhaftete, samt einer bläulichen Flüssigkeit, die das Leder verschont, aber allen anderen Stoff getränkt hatte. "Widerlich!", protestierte ich angeekelt, trabte eilends hinter Konrad her, der meiner Verärgerung keine Beachtung schenkte. Durch eine Feuertür gelangten wir ins Freie, hielten dann gemeinsam in raschem Marschschritt auf den Bahnhof zu. Tausend neugierige Fragen brannten mir auf der Zunge, aber ich hielt sie artig im Zaum. Erstens wollte ich mich ja aus diesem ganzen Schlamassel lösen, und zweitens genoss ich rudimentäre Reste meiner Erziehung. Konrad störte sich wohl nicht an meinem Schweigen, denn er ergriff erst wieder das Wort, nachdem ich mit einer Münze sein Hab und Gut ausgelöst hatte. "Gebügelt", bemerkte er treffend, fast schon ergriffen. Als seine schwarzen Augen mich inquisitorisch ins Visier nahmen, flammte Röte in meinen Wangen auf. "Ich war ohnehin gerade dabei und die Plastiktüte eingerissen...", brabbelte ich in Selbstverteidigung los. "Danke", unterbrach er mein verlegenes Gestammel, lächelte verhalten, so, als suche er eine Antwort in meinem Gesicht. "Darf ich bei dir duschen?", folgte seine nächste Frage, doch bevor noch Alarm erschallen konnte, wehrhafte Wälle sich aufbauten, filterte ich eine verwirrende Intention heraus. Er wollte mich testen. Aber warum? »Wer bist du?«, fragte ich mich stumm. ~#~ Teil 40 (05/10/2004) "Ich bin mit der Maschine hier", verschaffte ich mir hastig Bedenkzeit, wies auf das Unübersehbare hin. "Du möchtest mich nicht mitnehmen?" Scheinbar gelassen sondierte er meine Intentionen, die schwarzen Augen unleserlich auf mein Gesicht fixiert. Fieberhaft unterzog ich meine wirren Gefühle und Eindrücke einer Bestandsaufnahme. Was wollte ich? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Was sich durch eine entsprechende Geste mit hochzuckenden Schultern und herumwedelnden Armen offenbarte. So etwas war mir noch nie passiert. Mir wurde richtiggehend flau, weil die Konsequenzen deutlich aus dem Nebel der Irrungen und Wirrungen leuchteten: kein noch so eleganter Schritt zur Seite würde mich aus dieser Geschichte herauspauken. "Musst du denn nicht arbeiten?", blubberte ich sinnentleert auf der Suche nach einem Strohhalm heraus. Konrad lächelte hintergründig, kopierte meine Geste der Ratlosigkeit mit graziler Geschmeidigkeit, berührte dann meine rechte Hand. Kurz und behutsam, wie jemand, der Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, aber sich bewusst war, dass eine solch vertrauliche Geste zwischen Männern in unserem Kulturkreis missverstanden werden konnte. Sorgte er dafür, dass ich mein dusseliges Gesicht wahren konnte? Mittlerweile vernebelte mir der Eau der Klo in der Qualität von Reizgas die Sinne, sodass ich einfach hinter ihm her dappte. Während er geschmeidig durch die quecksilbrige Menge der Reisenden und Pendler glitt, dölmerte ich trudelnd, kollidierte mit Taschen, Schultern und Ellenbogen. Zu meiner Überraschung fand Konrad nicht nur den Parkplatz für die Zweiräder mühelos, nein, er identifizierte sogar mein geduldiges Mädchen. Wühlte in der Ikea-Tasche nach einer Wollmütze, die er sich über die Ohren zupfte, um dann den Gürtel seiner Lederhose zu lösen und den Beutel zusammenzuschnüren und meiner Suzuki aufzuladen. "Lass uns fahren, Rowan", forderte er mich sachlich auf, "ich rieche Regen." Ich topfte meinen kreiselnden, ratlosen Schädel in den Helm, kletterte auf die vertraute Stromlinienchasis meiner Herzdame, ignorierte die Hände auf meinem Bauch und steuerte mein Heim an. Glücklicherweise lief auch die Suzuki auf Autopilot, sodass wir ohne Kontakt mit Streifenpolizisten oder anderen Widrigkeiten die Garagencontainer erreichten. Als wir das umzäunte Gelände verließen, begann es, sanft, aber eisig zu nieseln. Ich fröstelte und bemerkte nun die fiebrige Hitze meiner Stirn. »Das ist alles ein wenig viel«, tröstete eine Stimme in meinem Hinterkopf fürsorglich. »Genau«, ergänzte eine weitere gehässig, »jetzt brennt ihm gleich die Sicherung durch. Zappenduster, was?« Ich beschloss stehenden Fußes, meine unsichtbaren Begleiter mit einer doppelten Dosis Aspirin mundtot zu machen. ~#~ Teil 41 (06/10/2004) Nun hatte ich also Konrad samt seiner umtriebigen Habseligkeiten in meiner Wohnung. Nachdem er die Fußmatte energisch konsultiert hatte, streifte er unaufgefordert seine halbhohen Bikerstiefel ab, arrangierte sie ordentlich vor der Garderobe. Ich staunte. "Darf ich mich umsehen?", erkundigte er sich höflich, woraufhin ich mit einer einladenden Geste automatisch antwortete. Und gleich von den gewohnten Sorgen durchmessen wurde: hatte ich aufgeräumt? Lag irgendwo Wäsche herum? Geschirr in der Spüle? Konrad spazierte besockt über das Parkett, die Hände auf dem Rücken verschränkt, agil und graziös wie ein Tänzer. Auf mich machte er den Eindruck eines Raubtiers auf der Pirsch, das sich zwingt, nichts ohne Einverständnis des Besitzers anzufassen, gleichzeitig aber alles hungrig in sich aufzusaugen. Betrachtete ich meine Einrichtung durch die Augen anderer, musste sie wohl funktionell und eher karg wirken. Zwar war ich kein Verfechter von Chrom und schwarzem Leder, doch die altertümliche Plüschigkeit und die massive Schwere der Möbel im "Gruselbunker" hatten eine lebenslange Aversion gegen bestimmte Formen von "Gemütlichkeit" in mir ausgeprägt. Kurzum, ein schwedisches Möbelhaus hatte Pate gestanden, was Schränke, Sofa, Bett und Arbeitsplatz betraf. Anstelle von Bildern hatte ich gerahmte Präsentationspläne meiner ersten beiden großen Aufträge über Sofa und Bett aufgehängt. Die Begrünung entstammte dem Kunststoffsektor und reizende Hobbys mit Sammlungen konnte ich auch nicht ausstellen. Insgesamt wohl eine nichtssagende Unterkunft. Schloss man daraufhin auf den Inhaber, so entstünde ohne Zweifel kein schmeichelhaftes Bild von mir. "Sind Iren unter deinen Vorfahren?" Konrad inspizierte gerade mein Schlafzimmer, also Bett, Kleiderschrank, Spiegel und Herrendiener. Erwähnte ich eine gewisse Kargheit? "Wegen meines Namens?", äußerte ich gelassen, "möglicherweise. In jedem Fall hatte meine Mutter eine irische Phase, als sie mich zur Welt gebracht hat." Er nickte nonchalant. "Erzähl mir doch ein wenig mehr von deiner Familie", bemerkte er mit einer so trügerischen Beiläufigkeit, dass sie mich alarmierte. "Vielleicht sollten wir zunächst einmal duschen und uns umziehen", wich ich aus. "Bitte geh doch zuerst ins Bad. Ich werde dir gleich Handtücher geben." "Danke." Ein ruhiger, sezierender Blick verfolgte mich, bis ich eilends Frotteelaken ihren Kameraden aus dem eingebauten Flurschrank entrissen hatte. »Irgendwas ist hier nicht ganz koscher«, bemerkte mein Scheißedetektor paranoid. »Der will sich doch nicht nur einfach unterhalten! Los, Dumpfbacke, schließ die Wertsachen ein!!« »Hmm«, brummte ich nachdenklich. Und tat, wie mir aufgetragen. ~#~ Teil 42 (07/10/2004) »Was nun?« Unschlüssig tigerte ich in meinem Wohnzimmer auf und nieder, gab mir endlich einen Ruck. Wenn ich wirklich jedes loses Ende dieser merkwürdigen Geschichte aufziehen wollte, dann würde es wohl eine geraume Zeit benötigen. In anderen Worten, ich müsste Konrad auch Unterkunft anbieten. Ich hob eine frische Garnitur Bettwäsche aus dem eingebauten Flurschrank, schob den niedrigen Beistelltisch beiseite, um dem Stauraum des Sofas eine zweite Bettdecke und Kissen zu entführen. Ausgebreitet auf der Sofalehne konnten sie frische Luft schnappen, während ich künstliches Aroma aus der handlichen Dose versprühte. »Es wird wohl für eine Nacht gehen«, qualifizierte ich mein Werk, dann ging bereits die Badezimmertür auf. Eilends durchmaß ich mein Wohnzimmer, wechselte in den Flur. »Höchste Zeit, sich den widerlichen Gestank der Reinigungsmittel vom Pelz zu waschen!« Konrad lächelte, die schwarzen Haare glänzten feucht und ungekämmt, was ihn wie einen Schuljungen wirken ließ. Zugegeben, einen 1,85m großen Schuljungen. "Mach es dir bitte bequem", spielte ich meine Gastgeberrolle, "bitte nimm dir auch etwas aus der Küche, okay?" Konrad nickte wortlos, ein leichtes Kopfneigen, das Respekt und gleichzeitig würdevolle Zurückhaltung bekundete. »Ich muss herausbekommen, was er studiert«, schoss es mir durch den Kopf, als ich den feinen Sprühnebel meines Badezimmers betrat. Einige Minuten später duftete ich nach "Karibischem Sommertraum"... irgendwie süßlich-exotisch, mit einer Ahnung von Zitrus. Zumindest erträglicher als zuvor. Meine rolligen Haare kräuselten sich ungeniert ineinander, verbrüderten sich zu filzigen Kletten, die vermutlich in Kürze an ein Vogelnest erinnern würden. Gar nicht vorteilhaft. Allerdings hatte ich einen Gast, sodass Conditioner einmassieren und die widerspenstigen per Kamm einzeln zähmen nicht in Frage kam. Mit mittlerer Gewalt zwang ich jede erreichbare Strähne in eine breite Spange, wickelte mich in meinen Bademantel und trat in den Flur. Sprach etwas dagegen, wenn ich mir einen Pyjama anzog? Oder doch lieber leger-sportive Bekleidung für den Hausgebrauch? Es war verdächtig still. "Konrad?", erkundete ich laut die Lage. Und blieb ohne Echo. Eine Minute später war ich meines ersten Eindrucks versichert. Er war weg. ~#~ Teil 43 (08/10/2004) Was von Konrad übrig blieb: eine marginal erleichterte Ikea-Tragetasche, eine Plastiktüte mit seinen feuchten Kleidern und ein umgekehrtes Glas in der Spüle. "Was soll das jetzt?", plumpste ich höchst unmajestätisch auf das erwartungsvoll mit Bettwäsche beladene Sofa. »Es erklärt zumindest, wie es dem Klinikum gelingt, ihn ständig zu verlieren«, belehrte mich meine innere Stimme besserwisserisch. Hatte ich etwas falsch gemacht? Oder missverstanden? Ein Grimm stieg grollend in mir auf. »Wieso ist er so schwierig?! Und überhaupt, wenn er nicht will,-ich muss nicht! Hah! Ich gehe jetzt schlafen! So!« Was ich auch tat. Mutwillig und trotzig bar jeder textilen Hülle. ~#~ Morgenstund hatte Cappuccino in der Tasse, dazu Kinder-Frühstücksflocken, die an Kekse erinnerten. Ich schloss mich an, lauschte den Nachrichten und konsultierte die Zeitung. Ein ganz normaler Morgen, der Viertel vor Acht im Büro beginnen würde, die Aussicht auf konzentrierte und befriedigende Arbeit bot. Konstruktionen, Berechnungen, Computeranimationen... ich mochte Routine. Sie war verlässlich. Magenfreundlich. Und zum gegenwärtigen Zustand meines Daseins eine erfreuliche Ausnahme. Dennoch ertappte ich mich dabei, dass ein Teil meiner Selbst ferngesteuert arbeitete, während ein anderer Part sich absonderte und Spekulationen nachhing. Wohin konnte man gehen in seinem Aufzug? Was tat er tagsüber? Und diese Sache in der Kneipe...? Gegen sechs Uhr waren neunzig Prozent meines Bewusstseins damit ausgelastet, psychopathischen Kopfgeburten diverser Fernsehregisseure nachzueifern. Und Konrad in einen männermordenden Vamp zu verwandeln, der wie ein Tramp aus reichem Elternhaus tagsüber Konzerne lenkte und des Nachts seinen sadomasochistischen Gelüsten nachging. Drogen mussten da irgendwie auch noch rein und mindestens eine Leiche, aber hier streikte die Koordination leider. Bevor mein heißgelaufener Kopf Amok lief und das abwesende Gekritzel auf meinem Notizblock Sinn zu ergeben drohte, beendete ich meine Erwerbstätigkeit für den Tag. »So viel Aufregung ist eben nichts für dich«, psalmodierte mein persönlicher Elisabeth-Klon gönnerhaft, »darum rate ich dir, halte dich von ihm fern.« Ich warf mir in den spiegelnden Scheiben des Aufzugs einen kriegerischen Blick zu. Das Resultat war jedoch eher ernüchternd, da die zerrupfte Masse Putzwolle auf meinem Schädel mich wie einen Flokati unter Strom wirken ließ. "Liebe Güte", entfuhr es mir leise, verblüfft. Normalerweise veränderte ich mich, wenn ich in den dreiteiligen Anzug, meine Uniform der arbeitenden Gesellschaft, schlüpfte, doch diese Grenze schien überschritten. Mein wahres Ich, die Ansammlung von Schattenseiten, hatte die Kluft übersprungen. Nun wurde mir Konrad wirklich gefährlich. ~#~ Teil 44 (09/10/2004) »Er könnte ein Drogendealer sein«, offerierte der besessene Regisseur in meinem Ohr mit Schaum vor dem Mund, »oder ein Agent!« Meine Mundwinkel zuckten geringschätzig, während ich mit meiner Suzuki das Kampfrattenterrain ansteuerte. Das Phantom "Konrad" musste sich wieder in einen ganz normalen Menschen verwandeln, um diesen ganzen Unsinn einzugrenzen. Und nichts machte einen Menschen so verletzlich, so durchschnittlich wie ein Überraschungsbesuch in seinem Domizil. Da konnten mich auch Ratten, geschlüpfte Aliens und wasserpfeifenrauchende Dachliebhaber nicht einschüchtern. Ich stellte mein Mädchen im Hof ab, sicherte sie und zückte die Sprühflasche mit Haushaltsessig, um den Asphalt und alles andere in ihrer Nähe einzustäuben. Vertrauen ist gut, eine Geruchsversicherung ist besser. In meiner gepolsterten Motorradkluft, den Helm auf dem Schädel, eine Taschenlampe im Griff meiner Handschuhe konnte ich mich in das schmuddelige, nach Urinal stinkende Treppenhaus wagen. Sigourney Weaver stand mir zwar nicht zu Seite, aber ich fühlte mich gut gerüstet. Ein Trugschluss, wie sich herausstellen sollte. Kurz unter dem Dach machte ich möglicherweise Anwesende durch Klingeldruck und Klopfen aufmerksam. Zu meinem Erstaunen öffnete der Dachliebhaber mit dem Ziegenbärtchen. "Oh, Mann, du bist der Typ von neulich, richtig?" "Rowan", streckte ich artig die Pfote hin, sicher hinter den Lederschichten, "ich wollte nach Konrad sehen." "Der is nich da", beschied mir der Bursche, in dessen löchrigem Unterhemd es krabbelte. "Kann ich warten?", drängte ich mich ungeniert auf, lupfte den Motorradhelm. "Logo, komm rein, Kumpel. Ich muss Ronnie aber rauslassen, also musste mich nen Augenblick entschuldigen", grinste er mit gelbem Rattengebiss. »Bei so einem Mitbewohner würde ich Hautausschlag bekommen«, bemerkte mein Teufelchen schaudernd. Ich stimmte uneingeschränkt zu. Der Rattenmann fasste unter dem ausgefransten Saum seines Unterhemds zu und produzierte eine gewaltige, haarige Spinne. "Sag hallo zu Rowan, Ronnie!", grinste der Irre, während die Spinne einen Satz auf meine Brust machte. ~#~ Teil 45 (10/10/2004) Mein Schrei gellte durch das Treppenhaus... und niemand reagierte. Ich erstarrte zu einer Salzsäule, damit der Verrückte "Ronnie" von mir pflücken konnte. "Hey, keine Panik, Mann!", feixte er breit, "Ronnie will nur spielen." Ein Königreich für die Sonntagsausgabe der FAZ! Das Vieh wäre so platt wie eine Briefmarke. Ein Fleck auf dem dreckigen Boden. Eine hässliche Erinnerung. Etwas krabbelte an meinen Füßen. Ahnungsvoll richtete ich den Blick nach unten. Eine Art Echse versuchte, meine Motorradstiefel anzukauen. "Was ist das hier? Ein Zoo?", erkundigte ich mich mit ausgesucht höflicher, bemüht unangestrengter Stimme. »Wenn das Ding da nicht SOFORT verschwindet, nehme ich es Volley und klatsche es an die nächste Wand, so wahr mir Gott helfe...« Der Ziegenbart parkte Ronnie auf seiner Schulter, klemmte sich die Echse unter eine Achsel und ging watschelnd voran. "Weißte, Kumpel, ich durfte nie einen Hund haben. Da is bei mir dann eines Tages die absolute Tierliebe ausgebrochen. Und seitdem habe ich immer ein paar um mich rum." »Is nich wahr?!«, ätzte mein Teufelchen im Brustton des falschen Erstaunens, »dabei reicht doch ein Blick in den Spiegel.« Der Flur beherbergte neben diversen Türmen aus Umzugskisten auch ein schlauchartiges Gebilde, in dem Mäuse flitzten. "Meine kleine Farm" letterte ein verblichenes Schild. Wohl Futter für die anderen Viecher....buärks. "Miep mag es nicht, wenn meine Jungs in seiner Bude sind, also müssen wir da vorsichtig sein." "Okay", signalisierte ich Einverständnis. Ich legte auch keinen Wert auf die Gesellschaft der "Jungs". Konrads Zimmer war klein, mit den schäbigen Resten einer blümeranten Tapete aus den Fünfzigern dekoriert, die moosgrüne Kunststoffplatten kontrastierten. Eine Matratze auf dem Boden, Umzugskisten und Plastiktüten, eine kleine Nachttischlampe ohne Schirm...kurzum, ein albtraumhaftes Ambiente. »Hier würde ich auch nicht schlafen können«, stellte ich fest. Der Rattenmann sackte bequem auf die Matratze, klopfte neben sich. "Nun erzähl doch mal, Kumpel, wie biste auf Miep gestoßen? Oder kennste ihn von früher?" "Früher?" ~#~ Teil 46 (11/10/2004) "Na ja, als er auf diesem Sport-Dingsda war!", wedelte der Rattenmann lässig mit einer Hand. "Ich verstehe nicht?", verkündete ich hilflos das, was er ohne Zweifel meinem Gesicht entnehmen konnte. "Also nich", stellte mein ziegenbärtiger Gastgeber fest, zupfte denselbigen und hakte nach, "aber wie biste denn dann an Miep geraten?" "Er lief mir fast in das Motorrad", erklärte ich artig, während mein Regisseur die Hände rieb und neue Phantasien formte. "Cool", bemerkte der Wasserpfeifenraucher, "kann verstehen, dass einen so was zusammenschweißt." »Eher in Notaufnahmen bringt«, beckmesserte meine innere Stimme wichtigtuerisch. "Was ist das mit Sport?", hangelte ich mich in vertraulicher Diktion heran. "Hier, schau's dir an, Kumpel!" Aus einer der Kisten wurde ein gewaltiger Ordner gefischt und mit bedeutungsvollem Schwung auf meinen Knien abgelegt. Neugierig blätterte ich... und blätterte... und blätterte. Eine solche Anzahl von Urkunden und Zeugnissen und Zertifikaten hatte ich noch nie gesehen. "Deshalb haben sie ihn Miep genannt", grinste Rattenmann vertraulich, "weißte, wegen diesem Storch da." "Ein Strauß, glaube ich", murmelte ich irritiert, "Road Runner." "Genau, Mann!" Rattenmann klopfte sich bekräftigend auf die dürren Schenkel. "Der hat immer Miep-Miep gerufen." Konrad Siebeneicher, der Langstreckenläufer. Ein Champion. Auf einem Sportinternat ausgebildet. Mit Stipendien bedacht. Mehrfach ausgezeichnet. "Was ist passiert?", brachte ich schließlich meine heisere Stimme wieder zu Gehör. "Na ja", Ziegenbart kratzte sich den Nacken, "es is wohl diese Sache. Weil er kaum schläft und immer rumrennt und so. Obwohl es kein Doping is, haben sie das nich zulassen können, wegen der Werte und so." Ich verstand nicht wirklich, nickte aber. Deshalb wohl die ärztliche Aufsicht im Schlaflabor des Klinikums. "Was studiert er eigentlich?", brach ich die schwermütige Stille. "Informatik und Biochemie, oder so", zuckte mein Matratzennachbar mit den Schultern, "ich krieg das nich so mit, weil er nicht oft da is. Man kommt selten zum Quatschen, weißte." Das konnte ich nur bestätigten. Rattenmann rappelte sich hoch, klopfte mir auf eine Schulter. "Mach's dir mal häuslich, Kumpel, ich muss mal nach meinen Jungs sehen." Ich nickte artig, faltete die Hände auf dem Schoß. Eine Anstandsminute wartend, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, erhob ich mich und inspizierte die Kisten und Tüten. Ein paar Kleider, Toilettenartikel, unverderbliche Lebensmittel, Haushaltswaren, Bücher und Büromaterial... und ein schmales Album. Ich schlug es auf, da es Konrads Namen letterte. Ein sehnig-dynamisches Ehepaar grinste mir herrisch entgegen. Edith und Peter Siebeneicher. Mit Insignien der Friedensbewegung vor einem gewaltigen Schiffsrumpf, dessen Name für eine umstrittene Lebensrettung stand. ~#~ Teil 47 (12/10/2004) Ein eisiger Schauer huschte mit klapperndem Gerippe über mein Rückgrat. Ich wusste nicht, was auf den nächsten Seiten kommen würde, doch ich war mir bewusst, dass ich in Konrads intimste Privatsphäre eindrang. Ich schlug die Seite um. Meine Neugierde war zu mächtig, dass ich sie hätte besiegen können. Oder wollen. Sauber und sorgsam eingefügt, -geheftet oder -geklebt schlossen sich Zeugnisse aus einem stürmischen, mysteriösen Leben an. Ein heller Stoffrest. Ein Polaroid von einem Kind. Mit großen, schwarzen Augen in einem spitzen Gesicht, hungerdünne Glieder, schulterlange Strähnen, die lose hinter die Ohren gebannt waren. Die Kopie eines Aufnahmeprotokolls, in englischer Sprache abgehalten. Nur eine Zeile war nicht blank geblieben: [Clothing: Short trousers, plain cotton, color: yellowish, origin: handmade.] Als Nächstes folgten Abschriften, die in einer Adoptionsurkunde von 1987 mündeten. Fünf Jahre, nachdem Edith und Peter Siebeneicher einen kleinen Jungen als Pflegekind aufgenommen hatten. Der nun einen staatlich festgelegten Namen, einen Geburtstag und eine Staatsangehörigkeit besaß. Danach folgten die üblichen Stationen mit wenigen Photos, Einschulung mit Schultüte, Wechsel in das Sportinternat, Zensuren, Abiturfeier. »Konrad mag wohl keine Bilder, wie?«, kommentierte eine Stimme in mir beiläufig, während mein Gefühl mit Verspätung auf diese Enthüllungen reagierte. Im Zuge der Adoption hatte man sich bemüht, das auf etwa zwei Jahre geschätzte männliche Kind, das in einem seeuntüchtigen Boot mit vielen anderen Flüchtlingen trieb, einer Familie, einer Nation, einer Volksgruppe zuzuordnen. Es war nicht gelungen. Keiner der anderen Geretteten kannte den Jungen. Und da er nicht sprach, kein einziges Wort, konnte man auch nicht herausfinden, woher er stammen mochte. Ein ausgemergeltes, aber zähes Kind, das die Torturen überlebt hatte, aber ganz allein auf der Welt stand. Ich blätterte zurück, starrte lange auf das erste Polaroid. Wer mochte ihn wohl noch vermissen? Gab es irgendeinen Anker in seinem Leben? Als ich hochschreckte, die Augen verschwollen, stand Konrad vor mir. Blut schoss sofort in meine Wangen, doch ich brachte kein Wort der Entschuldigung über die Lippen. ~#~ Teil 48 (13/10/2004) Die Situation war nicht zu missdeuten, das ausgeschlagene Album ruhte auf meinen gekreuzten Beinen, mein Gesicht sprach ohne Zweifel Bände. Konrad ging geschmeidig in die Knie, legte eine Hand mit den langen, schlanken Fingern auf meine gepolsterte Schulter, sah mir unbewegt in die Augen. "Lass uns rausgehen, Rowan." Es klang so ruhig, dass ich zweifelte, ob er nicht gerade ein Duell oder eine Prügelei avisiert hatte.... oder wollte er wirklich nur eine Ortsveränderung? Deren er ja offenkundig ständig bedurfte. Er nahm mir die Entscheidung ab, klappte das Album zusammen und ordnete es wieder in die vorgesehene Kiste, fasste meine untätige Hand und zog mich mit unerwarteter Kraft auf die Beine. Ich brachte noch immer kein Wort heraus, ließ mich mitziehen. Wollte dann, in einem Augenblick der Geistesgegenwart, umkehren, meinen desertierten Helm aufzulesen, was Konrad jedoch verhinderte. "Wir gehen zu Fuß. Es ist nicht weit." »Das sagt ER!«, nölte mein Scheißedetektor, »der Marathon-Mann! Verdammt, Rowan, du Blindgänger, komm endlich aus der Hüfte!!« Ein debiles Grinsen verzerrte mein Gesicht. »Lieber nicht«, antwortete ich in zotiger Abschweifung, »das könnte er missverstehen und mir die Stange halten wollen.« Mein Scheißedetektor riss die imaginären Arme hoch und schrieb mir die alleinige Verantwortung zu für alles, was mir nun geschehen mochte. Es kümmerte mich nicht sonderlich, denn ich tappte noch immer in einem emotionalen Nebelfeld herum. Obwohl ich dem Rätsel "Konrad" nicht tatsächlich nähergekommen war, hatte er sich von Grund auf verändert in meiner Wahrnehmung. Der Regisseur plante bereits eine dramatische Titanic-Story, meine Augen klebten an Konrads schlanker Gestalt, während meine Hände immer wieder ratlos über meine revoltierenden Locken kraulten. Im Flur lauerte Ronnie, doch Konrads kurzer Tritt schüttelte das beutegierige Mistvieh ab, dann hatten wir es in das finstere Treppenhaus geschafft. Stumm arbeiteten wir uns mit meiner Taschenlampe nach unten, zurück zu Mutter Erde. "Wohin gehen wir?" Ich krächzte wie ein Stimmbrüchiger, räusperte mich hastig. "Ins Pandemonium, die Dämonen austreiben", lautete seine Antwort mit einem Wortspiel. Ich nickte, auch wenn ich keinerlei Vorstellung über diese Lokalität besaß. Meine Verantwortung und meine Beschämung sorgten dafür, dass alle anderen Sorgen und Befürchtungen hintan zu stehen hatten. Außerdem, was konnte schon passieren? ~#~ Teil 49 (14/10/2004) Das Pandemonium war eine subterrane, labyrinthische Vision der Hölle. Oder zumindest einer Hölle. Alte Kanalisations- und Stichtunnel der U-Bahn, mal gemauert, mal gefliest, mal betonbeschichtet, bildeten eine enge, aber weitläufige Kulisse für die pulsierenden Bässe und Scheinwerfer. Durch den Temperaturunterschied unter der Asphaltdecke wandelten die Nebelwerfer pausenlos kondensierende Flüssigkeit in der Luft in lungernde Schwaden um, die Laser in allen Varianten des Farbspektrums durchbrachen. Videowände und Projektoren warfen jeweils im Takt der gespielten Musik Bilder an die Wand, berauschten die Tanzenden und Tobenden. Nach den ersten Schritten hinter der schweren Feuerschutztür am Eingang erkannte ich rasch, warum hier ein Dresscode unwichtig, die Nähe einer Hilfsorganisation aber von immenser Bedeutung war. Das neblige Zwielicht bot keine Chance auf Zurschaustellung, sah man von fluoreszierenden Objekten und Makeup ab. Kein Ort der gepflegten Konversation, so viel war sicher. Alte Plastiksitze von Wartehallen reihten sich an den Wänden auf, doch hier wurde hauptsächlich getanzt. Mit Pappbecher oder ohne, geschickt oder ohne Hoffnung auf Anflüge von Talent: die Hauptsache war das Austreiben der eigenen Dämonen. Lautstark, phonisch, rhythmisch, schweißtreibend. Konrad führte mich an der Hand durch Schwaden und zuckende Leiber. Bald folgten wir den unsichtbaren Ansagen der gespielten Lieder, konnten dem allgegenwärtigen, von den röhrenförmigen Wänden zurückgeworfenen Pulsschlägen nicht mehr entgehen. Egal, wo man sich befand, abgesehen von einer Kuppel, in der sich gleich drei DJs austobten, lief ohne erkennbare Verzögerung dasselbe Programm ab. Mir klebte bereits das T-Shirt am Leib, und ich war froh, wie Konrad auch meine Motorradjacke bei der Garderobe verstaut zu haben. Konrad drehte sich unvermittelt um, nahm den herrschenden Takt auf, löste rasch die gewohnten Hemmungen und Spannungen der zivilen Gesellschaft. Grazil, biegsam, geschmeidig und gleichzeitig voll von sehniger Kraft. Ich staunte hilflos, kam mir wie ein Pottwal unter Klippfischen vor. Zwar hatte ich den gesellschaftlichen Erwartungen meiner Großmutter entsprochen und ohne allzu unrühmliche Ausfälle eine Tanzschule absolviert, doch diese orgiastischen Ausschreitungen vibrierender, kochender Lust hatte man uns vorenthalten. Ohne merklichen Übergang wechselte der Song, noch immer bewegte man sich im Spektrum Hardrock, Punkrock, Metal. Die Projektoren zuckten, feuerten neue Bildsalven ab. Ein Wirren und Flirren von Tönen und Schlägen, wie ein Fluss oder aber ein Bienenschwarm... ich taumelte ein wenig unter der Gewalt dieser Musik. "Hinagiku- The great wave" projizierten die Wände Antwort, dann schäumte das Meer in einer animierten Version von Hokusais berühmten Holzschnitt. Um mich herum sprudelte und wirbelte es, der Moloch mit seinen zuckenden Leibern erwachte zum Leben. Eine Männerstimme flüsterte Zärtlichkeiten über die Lautsprecher, losgelöst von dem Sog der Musik, lachte lasziv-provozierend. Schaumkronen peitschten wie gierige Krallen nach Luft und Wasser, Laser ächzten in Puls der schnellen Schläge gewaltiger Trommeln. Ob er meine Not erkannte, wusste ich nicht zu sagen, doch Konrads Arme schlangen sich lose um meinen Nacken, überbrückten auf diese Weise die Trennung von der mir fremden, chaotischen, bedrohlichen Unterwelt. Und ich stieg hinab, vertraute mich ihm an. ~#~ Teil 50 (15/10/2004) In den umpeitschten Wogen eingefangen wich ich Konrads beunruhigend direktem Blick aus, schloss die Augen, um dem leichten Schwindel zu entfliehen. Ließ Arme und Beine flattern und zucken, wie ihnen beliebte, konnte mich ja nicht sehen, also das Potential an Peinlichkeit nicht ermessen. Songfetzen woben sich in mein Bewusstsein, verdeutlichten mir, um was es ging, bei "The great wave": den alles überwältigenden Orgasmus. Ich spürte die klebrige, schweißdunstige Hitze, die prickelnde Kälte des künstlichen Nebels, den starken Geruch der Menschenmasse. »Was denkst du, was du tust?!«, brüllte mein Scheißedetektor fassungslos, jenseits von Alarm. Ich wusste es nicht, aber ich wehrte mich auch nicht dagegen. Ließ alles fahren, mich einfangen und durchdringen. Wurde eins mit den Dämonen, die hier bis zur Ekstase feierten. ~#~ Wir legten nicht sonderlich viel Pausen ein. Wie eine notwendige Katharsis trieb es uns auf den Beton, löste unsere Glieder vom Körper. Mehr als einmal kollidierten wir miteinander oder mit anderen, torkelten weg, ungemindert in unserer Bewegung. Solange wir nicht rasteten, schien die Energie unendlich. Ich glühte gleißend hell und zitterte unter Kälteschauern, musste schließlich die Arme um Konrads Nacken schlingen, um zu Atem zu kommen und meinen rasenden Pulsschlag zu besänftigen. Seine Finger kraulten durch meine wirren Locken, ohne dass er seine tänzerische Aktivität einstellte, er leckte Schweißperlen von meiner Wange. Ich ließ ihn gewähren, hypnotisiert von meinem trommelnden Herzschlag. »Das halte ich nicht mehr lange durch«, erkannte ich in einem Anflug wilder Panik. Es war verrückt und absolut unvernünftig und archaisch... und es hatte mir unbändige, fast sexuelle Freude bereitet, doch nun verlor ich mein Vertrauen. "Ich will gehen!", brüllte ich Konrad zu, löste mich, taumelte an der Wand entlang Richtung Ausgang. Die Hinweisschilder wie eine Leuchtspur auf Boden und überkopf lotsten ich mich nach draußen. Es war eisig kalt, dicke Regentropfen prasselten in die Nacht. Konrad stand hinter mir, wickelte mich in meine vergessene Jacke, schlang einen Arm um meine Hüften. In der Nähe schlug eine Uhr dumpf. »Zwei Uhr in der Früh?!« Ich keuchte entsetzt und wischte ungelenk in Konrads stützender Umarmung herum. "Ich muss heim!", quietschte ich heiser in Panik, zitterte kraftlos. "Okay", bescheinigte Konrad, schob mich in einer Passage gegen die Stahlmaschen eines Schutzgitters und küsste mich leidenschaftlich auf den Mund. ~#~ Teil 51 (16/10/2004) Er hörte nicht auf, und ich sah nicht ein, warum ich es sollte, denn er hatte ja wohl angefangen! Die Stahlmaschen quietschten, wir ächzten beide nach Luft, die wir dem anderen nicht gönnen wollten. Umklammerten uns und erprobten unsere oralen Liebeskünste. Es gab nichts, womit ich mir in dieser Hinsicht hätte schmeicheln können, doch gerade in diesem fieberschwangeren, tollkühnen Augenblick interessierte mich meine persönliche Bilanz nur marginal. Er schmeckte gut, war tröstend warm in der herbstlich-nassen Kälte und solide unter meinen Griff. Weitere Ansprüche mussten warten. Irgendwo splitterte Glas mit kristallinem Knall, gefolgt von trunkenem Gelächter. Wir lösten uns gleichzeitig, stolperten/stürmten durch die trügerisch stille Nacht zurück zu Casa la ratas. Atemlos erreichten wir den Innenhof. Ich musste mich auf meinen Oberschenkeln vornübergebeugt abstützen, um Sauerstoff in meine protestierenden Lungen zu pumpen. "Alles okay?" Konrads Hand lag auf meinem unteren Lendenbereich, doch trotz der Polsterung der Motorradjacke spürte ich sie so direkt, als läge ihre glühende, leicht feuchte Fläche auf meiner nackten Haut. Ich torkelte unsicher, taumelte in die Höhe, wirrte mein Gesicht unter verkletteten Lockensträngen frei. "Ich muss heim", wiederholte ich stupide, bar jeder lässigen, souveränen Replik, grinste dämlich. "Dein Helm liegt oben", wies mich Konrad höflich auf die Situation hin. "Ja, dann muss ich wohl...", dölmerte ich Richtung Treppenhaus, kramte nach meiner Taschenlampe. Irgendwann im Laufe unseres eher schwankenden Aufstiegs verhakte er sich in den Schlaufen meiner Motorradhose, ließ sich ziehen. Dann gaben die Batterien ihren Geist auf, es wurde dunkel. Ich riss die Augen auf, erwartete, hunderte, blutrünstige Augenpaare aufleuchten zu sehen. Dies geschah nicht. Stattdessen klemmte mich Konrad gegen eine Wand, umschlang meine Mitte und trieb die Zähne in meinen Nacken. Zu meiner Scham stöhnte ich laut auf, was artig widerhallte. »Das kann er nicht tun!«, dröhnte es lustschwanger in meinem Schädel, »das kannst du nicht tun!!« Seine Hände massierten meine Brustwarzen, die bereits hart aus dem klammen T-Shirt hervorstanden. »Verdammt, Rowan, das ist ein Kerl!«, blökte der Schleifer hochnotpeinlich berührt. Was meiner Libido vollkommen gleich war. Konrad allerdings löste das Problem auf seine Weise. Seine Hände glitten abrupt an mir ab, sein Gewicht gegen meinen Rücken verstärkte sich, sodass ich alarmiert herumfuhr und seinen Sturz kurz vor dem Fußboden abfangen konnte. Einen Arm um die Schultern geklemmt stabilisierte ich unsere schwankende Lage, tippte mit der Fußspitze hart gegen die Wohnungstür und hoffte, dass der Rattenmann sich von seinen Jungs lösen konnte. ~#~ Teil 52 (17/10/2004) Rattenmann öffnete tatsächlich, in Unterhemd, Boxershorts und einer Nachtkappe, die er einem Rastafari abgeschwatzt haben musste. "YoYoYo, Leute, seid ihr nicht reichlich früh dran?" Ich ignorierte ihn unhöflicherweise, was meiner Atemnot geschuldet war, denn trotz seiner überschlanken, sehnigen Gestalt war Konrad nicht gerade einfach zu manövrieren. "Kennst ja den Weg, Kumpel." Schon schlappte der Ziegenbart wieder in seinen Zoo zurück. Mit Mühe erreichte ich Konrads Matratze, legte ihn ab und kauerte mich daneben, Luft holend. Zwei Uhr in der Früh an einem Werktag... und ich hier. Neben einem jungen Mann, den ich bis zur Besinnungslosigkeit geküsst hatte. Vollkommen enthemmt. »Nicht vollkommen«, nörgelte meine Libido unzufrieden. Ich richtete mich auf, bevor sich noch weitere Ungeheuerlichkeiten ereignen konnten, pellte Konrad aus seinen regennassen Kleidern. Trocknete die warme, cremig-dunkle Haut mit einem Handtuch, bevor ich ihn in zwei Lagen Decken hüllte. »Da war bestimmt was in diesem Belüftungssystem«, zischte der Schleifer paranoid, »PHEROMONE oder sonst was... Drogen!« »Sicher doch«, brummte mein nüchterner Teil knapp, »ist ja nicht so, dass Rowan was für Sex übrig hätte.« Ich seufzte leise. Zugegeben, viel war es nicht, was weniger an körperlicher Liebe als an den Begleitumständen lag. Es wurde stets so rasch kompliziert, von unterschiedlichen Erwartungen beschattet, mit Vorwürfen und Missverständnissen gepflastert, auf absolutistische Ebenen katapultiert. Ich beugte mich über Konrad, strich sanft über seine glatten, schwarzen Haare. "Dann schlaf mal gut, du Rastloser", flüsterte ich. Seine schwarzen Augen schlugen auf. Vollkommen klar und ernsthaft. Röte schoss mir in die Wangen, Verlegenheit hieß mich verkrampfen. "Rowan." "Ja?", kiekste ich verschüchtert. Seine Rechte schnellte aus dem zweilagigen Kokon, krallte sich in mein T-Shirt. "Welchen Namen willst du mir geben?" ~#~ Teil 53 (18/10/2004) Wie in einem Nebel fuhr ich nach Hause, zog mich um, duschte und kroch ins Bett. Wirre Träume voller Neonlichthagel, splitternder Felsen unter gewaltigen Wogen, Brandung mit schäumender Gischt, bleigrauem Himmel und schwarzen Untiefen schlossen sich an, bevor mich der Wecker energisch aus ihrem wirbelnden Sog rettete. "Oh", bemerkte ich ein weiteres, längst überwunden geglaubtes Ereignis. Erhob mich ächzend und wechselte sofort unter die Dusche, vertraute den Pyjama gleich dem Waschmonster an. Ein sehr unterschätzter Vorteil des Alleinlebens: Samenergüsse im Schlaf wurden ohne Zeugen beseitigt. Zwei starke Cappuccini und einen Liter Wasser später sah ich mich endlich in der Lage, den Mittwoch mit Würde und meiner natürlichen Gelassenheit zu überstehen. In einen Anzug gewandet, die trotzigen Locken streng eingezopft, die Spuren der Nacht dezent wegmassiert fühlte ich mich gewappnet. Bis mir Konrads Frage wieder prominent in den Sinn kam. Ich erinnerte mich an das Aufnahmeprotokoll in Konrads Album. In seinem Leben hatte es nicht mehr als eine handgenähte, kurze Hose aus hellem Baumwollstoff gegeben. Nun erklärte sich auch seine scheinbar flapsige Bemerkung, als wir uns das erste Mal trafen. Seine neuen Eltern hatten ihn Konrad Siebeneicher genannt, seine Schulkameraden Miep... wer aber war er wirklich? Und wie sollte ich ihn nennen? Ich seufzte und blickte mich rasch um, ob mein ungewöhnlicher Ausbruch Zeugen gefunden hatte. Konrads schwarze, intensive Augen verzauberten mich, schlugen mich in seinen Bann. Im Augenblick war nur eins sicher: meine Absicht, ihn loszuwerden, würde ich nicht mehr durchsetzen. »Und was willst du nun sagen, wenn ihr euch trefft, Herr Zungenakrobat?«, stocherte mein ausgeprägtes Selbstbewusstsein in der offenen Wunde. Mir lief es heiß-kalt über den Rücken. »Da muss man ja wohl nicht drüber reden«, verteidigte ich mich wütend. Passiert war passiert. Allerdings hätte ich mir den Kopf nicht zerbrechen müssen, denn es dauerte ganze zehn Tage, bis Konrad wieder bei mir auf der Matte stand. In der Zwischenzeit hatte ich es mehrfach beim Rattenmann, der Markus hieß und Chemielaborant war, versucht. Tausend wirre Gedanken im Kopf, Schamröte auf den Wangen... alles umsonst. Sodass es gar nicht mehr so furchtbar war, Konrad gegenüberzutreten. Nun gut, der Überraschungseffekt tat ein Übriges. Denn ich trug Pyjama, einen klettigen Wollpullover, dicke Filzpantoffeln und eine Zahnbürste zwischen den Kiemen, den Schädel zwecks Lockenbändigungen turbaniert. ~#~ Teil 54 (19/10/2004) "Hallo", schmuggelte ich durch den Schaum vor meinem Mund, trat zurück, um Konrad einzulassen, der sich wie gewohnt die Schuhe abstreifte und barfuß folgte. »Was sag ich ihm?! Was sag ich ihm?!«, dröhnte durch meinen Kopf, allerdings dank Frotteeturban gedämpft. Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet und mich bereits mental in der imaginären Hängematte eingelagert, aus der ich meinen Verstand nun mit Nachdruck herausprügelte. "Wie geht es dir?", versuchte ich es nach einer eiligen Mundspülung hilflos, peilte in meiner Verzweiflung als nächste Destination der Gesprächsführung das Wetter an. "Du hast nach mir gesucht." Das war eine sachliche Feststellung. Was mein Hirn begriff, mein Blutdruck jedoch ignorierte. Adrenalin pulsierte durch meine Adern, mein Herz sprintete los und ich lief dunkelrot an. Brachte nun gar nichts mehr über die Lippen. »Natürlich hab ich nach dir gesucht, du Streuner! So feige bin ich nicht!« Wäre ich zu meiner Schande aber gern gewesen. Denn dann hätte ich mich nicht mit Konrads Biographie und den Ereignissen im Pandemonium befassen müssen. Aber ich hatte nicht Elisabeth getrotzt, um hier den Schwanz einzuziehen. Im übertragenen Sinne natürlich!! Meine schlimmere Hälfte schnaubte gehässig, »ja, sicher doch.« Ich glotzte noch immer perplex und ohne Zweifel grunddämlich in Konrads Gesicht. Er wirkte blass, gehetzt, die schwarzen Augen stumpf. Mein Turban senkte sich enerviert vom grottigen Laienspiel einer durchgepausten Soap-Opera-Folge. Schwer von Nässe lagerte das Frottee wie eine Diva auf meiner Schulter. »Ikea!«, funkte es in meinem hormonvernebelten Verstand. "Ah, du bist sicher wegen deiner Sachen hier!" Schon schlurfte ich glücklich voran, dieses Mal vor Erleichterung glühend. »Gute Idee, sauberer Pass!«, lobte ich mich selbst. Konrad blieb hinter mir stehen, sodass ich gezwungen war, mich umzudrehen, ihn anzublicken und seine Konditionen zu registrieren. "Rowan, welchen Namen willst du mir geben?", erkundigte er sich fast beiläufig, doch ich wusste, dass es ihm ernst war. Von ungeheurer, entscheidender Bedeutung. Mein Herz raste, es trommelte wie Hagelsturm in meinen Ohren, mein Hals setzte sich blitzartig zu, mein Mund trocknete aus. »Mach keinen Fehler! Sag bloß das Richtige!« Ermahnungen schallten hysterisch durch meinen umwölkten Schädel, mich fror urplötzlich stark. »Sieh an«, wisperte eine leise, aber durchdringende Stimme in meinem Inneren, »wie viel er dir bedeutet.« Ich war erschrocken. Und sprudelte das erste heraus, das mir über die spröden Lippen kam. ~#~ Teil 55 (20/10/2004) "Freund?", kiekste ich schrill, ließ ein mitleidheischendes Grinsen aufflackern. Konrad schwieg, prüfte meinen Vorschlag offenkundig gründlich und mit Bedacht. In mir lösten sich inzwischen hämische Bemerkungen und die Top Ten der Selbstzeihungen ab. So was funktionierte nicht in der realen Welt, das war mir nur zu bewusst, doch ohne Reflektion entsprach es dem, was ich fühlte. Ich sorgte mich um diesen seltsamen Streuner, der immerzu lief und kaum Ruhe fand. Und ich war neugierig, beschämend wissbegierig. Wie war sein Leben verlaufen? Hatte er versucht, seine Familie zu finden? Was hatte seine Adoptiveltern bewegt, ihn aufzunehmen? Warum hatte er sich Flammen auf den Hals tätowieren lassen? Wie konnte er es mit Markus und seinen Jungs aushalten? »Warum hast du mich geküsst?« Mit diesem Punkt setzte schlagartig Stille in meinem rotierenden Schädel ein. »Er hat ja wohl angefangen!!«, quengelte der Rest des kindlich-trotzigen Rowan-Verschnitts in mir, doch gegen das machtvolle Schweigen konnte er nicht gewinnen. Ich wollte-, nein, ich brauchte!-, Konrads Antwort auf diese Frage. Möglicherweise war es nur ein Spiel, eine Laune aus dem Überschwang der Situation heraus. Was ich gar nicht verurteilen wollte. Wenn er aber etwas anderes...?! Mir wurde flau, wie so oft in den letzten zehn Tagen, in denen ich energisch und zunehmend panisch weitere Erwägungen von mir gewiesen hatte. Konrad berührte mit den Fingerspitzen meine Hand, sehr höflich. Ich hatte ihm nicht zugehört. Peinlich berührt schoss mir erneut Blut in die Wangen. "Kann ich bei dir schlafen? Nur ein wenig?" So zurückhaltend seine Worte gewählt waren, in seinem Gesicht stand blanke Not. "Sicher", gab ich verwundert zurück. Gab es Streit mit Markus oder den Jungs? "Bitte sag niemanden, dass ich hier bin, ja?" Konrad wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. "Mach ich nicht", versicherte ich verschwörerisch wie ein Grundschüler, klopfte ihm auf eine Schulter, "keine Sorge." "Danke", brachte er leise über die Lippen, lehnte sich an die Wand, sackte lautlos an ihr herunter und glitt auf den Boden. ~#~ Teil 56 (21/10/2004) »Oh nein, nicht schon wieder!«, ächzte es verärgert in meinem Hinterkopf, als ich in die Hocke ging und ungeschickt nach einem Puls an Konrads Kehle tastete. Schließlich verzichtete ich auf weitere Beweise, dass er noch lebte, sondern befasste mich mit dem Gedanken, ihm vom Teppich in meinem Flur bis in das Bett in meinem Schlafzimmer zu transportieren. Der Elisabeth-Klon hielt nichts von träumerischem Herumstehen, sondern kommandierte im Kasernenhofton mit dünnen Lippen unter hochherrschaftlicher Hakennase und missbilligend gelupften Augenbrauen. »Schlag erst mal das Bett auf. Und dann dimm das Licht. Die Tür weit auf.« "Puh!", stöhnte ich beim ersten Versuch, meinen Bettgenossen in spe unter den Achseln aufzulesen. »So wird das nie was, Tollpatsch!«, tadelte die Megäre in meinem Ohr schrill, »los, hol die Badematte, roll ihn drauf und zieh dann!« Obwohl ich ihren Umgangston überhaupt nicht ausstehen konnte, hörte sich ihr Vorschlag praktikabel an. Sodass ich zunächst meine Badematte mit dem gummierten Rücken zusammenrollte, neben Konrad wieder entrollte, ihn einrollte und dann mit einigem Gestolper in Richtung Schlafzimmer aufbrach. Als ich ihn endlich, mit einem halben Salto um mich ins Bett gerungen hatte, war ich selbst erschöpft und atemlos. Dass er die gesamte Unternehmung verschlafen hatte, irritierte mich massiv. Aus der unmittelbaren Distanz betrachtet wirkte Konrads Gesicht ausgewaschen, die Haut wie Pergament strukturiert, ohne die unbändige Virilität, die mich überfallartig erobert hatte. Seine Fingerspitzen waren eisig kalt, das Adergeflecht trat violett hervor. "Du hättest dir besser einen Arzt als Freund wählen sollen", murmelte ich beklommen, wickelte eine Bettdecke um seine spannungslose Gestalt. In diesem Augenblick hörte ich meine eigene Stimme, die vom Anrufbeantworter säuselte. Gefolgt von einer energischen weiblichen. »Rowan? Dein Onkel ist am Bahnhof aufgegriffen worden. Bring ihn vom Revier nach Hause.« Ich zerraufte mir die wüste Mähne. Conditioner wirkte nur Wunder, wenn sich meine rolligen Locken willig zeigten. Was sie nicht waren, da der Turban vorzeitig den Dienst quittiert hatte. Ein ganz wunderbarer, entspannter Abend für mich allein. Pustekuchen. ~#~ Teil 57 (22/10/2004) Konrad wirkte nicht, als würde er im nächsten Augenblick quicklebendig und viril aufspringen und sich wieder auf Achse begeben. Sodass ich durchaus berechtigt Hoffnungen hegen konnte, er möge sich nicht entfernen, während ich meinen Onkel Kurt im Revier auslöste. Auf Zehenspitzen wechselte ich von Pyjama zu Jeans, Sweatshirt und gefütterter Regenjacke, sammelte Geld, Mobiltelefon und meine Codekarte ein. Mir stand nicht das Verlangen nach einer weiteren Tour mit dem ÖPNV, sodass ich lieber Geld in eine Kurzparkerlaubnis investieren wollte. Ein guter Plan... bis ich vor dem Containergelände stand. Ein gewaltiger Lastzug blockierte sowohl Ein- als auch Ausfahrt. Mit einem geplatzten Reifen, einem Fahrer, der seinen Schock darüber durch die wiederholte Schilderung der Ereignisse verarbeitete und einer Menge von Gaffern. Kein Durchkommen, denn ein Reifenschaden bei diesen Titanen bedurfte besonderer Utensilien und handwerklichem Geschick. »Also Taxe?«, erwog mein Nervenkostüm baldrianisiert. Immerhin war dieser Abend bereits in Reichweite einer Katastrophe auf meiner persönlichen Richterskala einzuordnen. »Und Kurt per Taxe Zuhause abliefern? Wohl im Lotto gewonnen, oder was?!«, schnaubte der Elisabeth-Klon indigniert. »Vergiss es!«, ergänzte mein Buchhalter kategorisch. Seufzend schlug ich den Weg zur Bahnstation ein. Flink geflippert, die juvenilen Herumtreiber ignoriert, die die Haltestelle als persönliches Wohnzimmer betrachteten und dann Richtung Bahnhof geschaukelt. Als ich ankam, konnte man bereits die Mondsichel erkennen, erste Sterne kämpften gegen Wolkenverhang und starke Kunstbeleuchtung. Mit Ausweis und einer Erklärung konnte ich den freundlichen Beamten meinen Onkel abschmeicheln. Der wiederum lauschte fasziniert dem Sprechfunkverkehr, den Tableaus mit bunten Leuchtknöpfen und dem steten Strom, der sich durch das Gebäude bewegte. Mittels Mohnschnecke gelang es mir, Onkel Kurt wieder auf die Straße zu lotsen, dann erwogen wir gemeinsam unsere Möglichkeiten. Sollte ich ihn allein nach Hause fahren lassen? Oder mitkommen und damit meinen Gast eine Ewigkeit ohne Aufsicht lassen? Oder... "Sag mal, Kurt, hast du Lust, bei mir zu übernachten?", nahm ich einen tollkühnen Plan in Angriff. Onkel Kurt, vorausschauend ausgerüstet wie für eine Himalaya-Expedition mit Bärenfellmütze, langem Schal, Handschuhen, langer Winterjacke plus Schneehosen und passenden Stiefeln, erwog meine Offerte mit dem gebotenen Ernst. "Meine Murmelbahn müsste auch mal wieder nachgesehen werden", lockte ich völlig ungeniert. "Davon versteh ich was", nickte er gravitätisch, nahm Münzen und fütterte den Fahrscheinautomaten. »Erfolg auf der ganzen Linie!«, triumphierte ich heimlich. ~#~ Teil 58 (23/10/2004) Die Rückfahrt verlief in gemeinschaftlichem Schweigen, wie es zwischen gestandenen Männern der Tat üblich ist. Ich wusste, dass ich Onkel Kurt im Wohnzimmer auf dem Sofa ein Abenteuer bot, das seinen Alltag auflockerte. Denn dort konnte er ohne Sperrstunde der Murmelbahn zu Leibe rücken und sich bequem in die Bettdecke gehüllt wie ein alter Indianer mit den wesentlichen Dingen des Universums befassen. Die Murmelbahn übrigens war eines dieser Designerunglücke aus den späten Achtzigern, das gewöhnlicherweise in einem Regal in meinem Wohnzimmer ein Schattendasein fristete. Verchromte und schwarze Murmeln konnten durch ein Plexiglasröhrengebilde gejagt werden, was sie auf unterschiedlichen Wegen schließlich in einem kleinen Kästchen landen ließ. Eine Art Schmuck für die niedrigen Glastische zwischen Cosmopolitan und Vogue, die man auf schwarzen Ledersofas schmökerte... Nun ja, Geschmacksverirrungen, die günstig erstanden meinen Protest gegen das Interieur des "Gruselbunkers" darstellten. Mittlerweile versteckte sich das Sofa unter einem Stoffüberwurf, beherbergte Kissen zwecks Bequemlichkeit, der Glastisch hatte die Kollision mit einer Champagnerflasche nicht überlebt und war durch zwei große Teekisten ersetzt worden. Nur die Murmelbahn versah ihre Dienste noch, wenn Kurt sich bei mir aufhalten durfte. Und als ihr Ingenieur für die Wartung zuständig war. Mir gefiel sie eingestandenermaßen auch, weshalb ich einen Sack bunter Murmeln als Testobjekte beigesteuert hatte. In jedem Fall wäre Kurt versorgt. Und Elisabeth auf 180 Pulsschlägen pro Fauchen. Doch ich hatte schließlich eine sehr gute Erklärung: einen Gast. Der sich erstaunlicherweise ganz gegen seine Gewohnheit noch in meinem Bett befand, als ich mit Kurt im Schlepptau in den heimatlichen Hafen einlief. "Kurt", wisperte ich meinem Onkel zu, "das ist Konrad, ein Freund. Er übernachtet auch hier." Kurt nickte, von dieser Enthüllung keineswegs überrascht. Ihn drängte es vielmehr zur Murmelbahn. Ich ließ ihn gewähren, tippte in mein Mobiltelefon und belohnte mich für die Anstrengung mit einer süffisanten Bekanntgabe meiner Entscheidung. Elisabeth schäumte zischelnd, bereit, eine vernichtende Replik zu formulieren, als sich Konrad ruckartig im Bett aufrichtete und mich anstarrte. Ich erschrak, wisperte abgelenkt einen Gruß und kappte die mobile Leitung, was mir vermutlich einen neuen Spitzenstand auf Elisabeths Liste meiner persönlichen Unzulänglichkeiten einbrachte. "Ich muss gehen", erklärte Konrad heiser, schwang die Beine über die Bettkante und sackte prompt wieder in die Kissen, als ihn die Gravitation verriet. Obwohl ich keine Vorstellung hatte, was ihn so abrupt aus seinem Schlaf gerissen hatte, siegte mein Instinkt über Verstand und Konventionen. Rasch nahm ich auf der Bettkante Platz, hinderte ihn somit an erfolgreicher Flucht und wickelte ihn wieder in die Bettdecke ein. "Alles ist in Ordnung. Schlaf noch ein wenig", wisperte ich, bevor Röte meine Wangen entzündete. »Was soll das?!«, schnaufte es kriegerisch in mir, »bist du seine Mutter?!« Ich zupfte die Decke zurecht und ignorierte diese Einwände. »Nein. Ich bin sein Freund.« ~#~ Teil 59 (24/10/2004) Kurt zeigte mir stolz mehrere Durchläufe mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad, dann durfte ich mich zurückziehen. Der Anrufbeantworter blinkte hysterisch, was mutmaßlich Elisabeth zu verdanken war, doch ich verzichtete auf eine Verifizierung meiner Annahme. Erneut in Pyjama gewandet, die Dentalpflege absolviert und gerechterweise ermüdet von einem ereignisreichen Tag schlüpfte ich neben Konrad in mein Bett. Wickelte mich in meine Bettdecke ein und lauschte auf seinen Atem. Er war wach. Heldenhaft einen Stoßseufzer unterdrückend erwog ich meine Möglichkeiten. Sollte ich nun das Gespräch forcieren? Oder vorgeben, seinen Zustand nicht zu bemerken? Eine Hand tastete kühl nach meiner eingemummelten Schulter. "Entschuldige die Umstände, Rowan", raunte er so ruhig wie üblich in die Dunkelheit meines Schlafzimmers. "You're welcome", brummte ich, weil es genau das ausdrückte, was ich ihm versichern wollte: auch wenn es Umstände waren, er war mir willkommen. »Seltsam«, schoss es mir gleichzeitig durch den Kopf, »es scheint fast so, als würde es mir fehlen, mich um einen anderen zu sorgen. Und damit selbst umsorgt zu werden.« Wahrhaftig seltsam, denn eigentlich hatte ich von mir geglaubt, diese Lektion längst verinnerlicht zu haben. Dass ich solcher Aufmerksamkeiten und Verpflichtungen nicht bedurfte. »Auf was lässt du dich da bloß ein?!«, schüttelte mein Scheißedetektor fassungslos das werte Haupt. »Vielleicht bin ich einfach nur neugierig«, streckte ich ihm boshaft die Zunge heraus, wünschte Konrad laut eine gute Nacht. Zu meiner Überraschung lachte er leise. "Haben sie dir nicht gesagt, dass ich praktisch schlaflos bin?", neckte er mich freundlich. Meine Achseln zuckten, was in der Finsternis natürlich unbemerkt blieb. "Jeder braucht Schlaf. Sonst geht der Körper kaputt. Man muss ja schließlich den Tag verarbeiten, nicht wahr? Und du siehst aus, als hättest du sehr viel Schlaf nötig", wurde ich direkt, unverschämt und bis zur Idiotie ehrlich. Konrad schwieg eine geraume Weile, bis seine Replik mich aus sanftem Eindösen weckte. "Dann bin ich wohl unkaputtbar." ~#~ Teil 60 (25/10/2004) Ich mochte diesen Missklang nicht. Schwieg beklommen, ratlos in der unbehaglichen Atmosphäre der entstehenden Spannung. Üblicherweise pflegte ich keineswegs auszusprechen, was mir spontan und ungefiltert durch den Kopf schoss. Möglicherweise war ich zu direkt gewesen. Man konnte nicht erwarten, dass jeder einen Hinweis auf ein durch Anstrengung und Schlafmangel gezeichnetes Äußeres ohne eine gewisse Verärgerung wegsteckte. »Deine Manieren ließen schon immer zu wünschen übrig«, bestätigte mich der Elisabeth-Klon unaufgefordert, aber hilfsbereit. »Vielen Dank auch!«, knurrte ich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mit hochgezogenen Schultern finster auf die Zimmerdecke. Dass ich kaum etwas zu erkennen vermochte dank großflächiger Verdunkelung und es im Übrigen auch selten etwas Bemerkenswertes an dieser Stelle gab, hielt mich nicht davon ab, einen Fixpunkt niederzustarren. »Sag was!«, drängte mich mein Gewissen beharrlich, »du hast schließlich angefangen!« Bevor ich mir jedoch eine einigermaßen plausible Antwort zurechtgezimmert hatte, die mich feigenblattgleich von meiner Verantwortung für die Missstimmung befreien sollte, bewegte sich mein Bettgenosse. "Darf ich?" Schon lupfte er meine Bettdecke, rückte an meine Seite, den Kopf auf meinem Kissen eingenistet, einen Arm über meiner Brust, seitlich halb auf der Front lagernd. »Hey!«, dröhnte es in mir. »Zehn Schritt vom Leib!«, quiekte der Anstands-WauWau entsetzt, während eine andere Stimme einen triumphierenden Cowboy-Ruf entlud. Allerdings bemerkte ich rasch, dass Konrad nicht beabsichtigte, meine "Unschuld" in Gefahr zu bringen. Kein Austausch romantischer Zärtlichkeiten wurde hier initiiert, nein, vielmehr eine matte Geste der Nähe und Versicherung. "Ich bin wirklich erschöpft", flüsterte er flach, kein Versuch einer Entschuldigung für meine vermeintlich gehegten Erwartungen an die vielversprechende Konstellation, sondern eine bloße Feststellung. "Dann schlaf gut", wünschte ich höflich, wandte Konrad den Kopf zu. Er lachte leise auf, doch mir erschien es im ersten Augenblick wie ein Schrei. "Natürlich", entgegnete er sarkastisch, um dann in eine verbindliche Form zu wechseln, "auch dir eine erholsame Nacht." Obwohl ich mich anstrengte, auf seine Atemzüge zu lauschen, um zu erfahren, wann ihn Morpheus per Sandsack-K.O. einkassierte, gelang es mir nicht. Ich ging mindestens eine Runde früher zu Boden. ~#~ Teil 61 (26/10/2004) Ich erwachte mit dem Aufkreischen des Radioweckers, was mich fatal an "Täglich grüßt das Murmeltier" erinnerte. Zwar bedrängten mich nicht Sonny und Cher, aber unvermittelt in Beethovens Neunter hochzuschrecken konnte einem empfindsamen Gemüt einen vitalen Schock versetzen. Noch benebelt, bettwarm und unsortiert rollte ich mich herum, auf Autopilot das Morgenprogramm abarbeitend, als eine Hand mich lose streifte. Ich schrak zusammen, Adrenalin-gesteuert, wischte herum, fegte die Nachttischlampe vom Bord, was diese zur Genüge kannte. Tastete nach dem Kabel, angelte den Schalter heran und sorgte für Erleuchtung, bevor mein morgenmuffliges Gehirn den Riemen auf die Orgel gelegt hatte. »Konrad.« Lag neben mir in tiefem Schlaf. Ich war so überrascht von diesem Anblick, dass ich auf die Matratze plumpste wie ein Zentner Kartoffeln und blinzelte. Die schwarzen, glatten Haare schmiegten sich verspielt an Stirn und Schläfen, seine feingeschnittenen Züge mit der warmen Hautfarbe wirkten alterslos und heiter entspannt wie eine Buddha-Figur. Er war auf eine natürliche Art schön, strahlte Frieden und Sorglosigkeit aus, mit einer Prise Verführung durch die langen, dichten Wimpern. Ich musste lächeln, trotz Morgenknitter und tote-Socken-Geschmack auf der pelzigen Zunge. »Hat der gute Sandmann dich also doch noch erwischt«, neckte ich ihn stumm. Für einen weiteren Moment gönnte ich mir noch die stumme Betrachtung, dann erhob ich mich, dieses Mal weniger spektakulär, tänzelte auf Zehenspitzen aus meinem Schlafzimmer und suchte meinen zweiten Hausgast. Onkel Kurt hielt viel von einem geregelten Tagesablauf. Die Armbanduhr bot einen Weckdienst, woraufhin er sich bereits nach einer provisorischen Morgentoilette in meiner Küche eingefunden hatte und die spärlichen Vorräte in ein ordentliches Frühstück zu verwandeln versuchte. Was in einer Aufstellung mündete, die die Fehlbestände in meiner Bevorratung akribisch dokumentierte. Diese wurde mir mit ernster Miene überreicht, als abschließende Diagnose meiner Anstrengungen, mich ohne Aufsicht selbst über dem Wasser des Alltags zu halten. Ich nickte mit dem gebotenen Respekt, gelobte Besserung und signalisierte Einsicht, bevor ich in mein Badezimmer entkam. Im sicheren Hafen der täglichen Hygiene konnte ich mir einen Schlachtplan für den Tag zurechtlegen. Zumindest dachte ich das, bevor das Telefon lärmte. ~#~ Teil 62 (27/10/2004) Ich starrte meinem Spiegelbild in die morgendlichen Abgründe der Seele, seufzte laut, bevor ich mein Refugium verließ, den lärmenden Anruf annahm. Vermutlich Elisabeth, die mir fernmündlich den Marsch blasen wollte. Mit entsprechender Vorfreude meldete ich mich lustlos, kratzte mich ungeniert im Nacken, blinzelte dann. "Markus?!", identifizierte ich den Anrufer mit einiger Mühe an der Diktion, kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich angestrengt. "Yo, Kumpel", flüsterte es in getriebener Dringlichkeit an meinem Ohr. "Is Miep bei dir? Nich, dass du meinst, ich wär neugierig, oder so, aber diese Typen von der Uni haben einfach nich locker gelassen! Die ganze Zeit belatschern die mich schon!" "Warum?", platzte ich heraus, bevor sich eine weitere Runde über die Penetranz der Mitarbeiter des Klinikums in meiner Ohrmuschel entladen konnte. "Wegen Miep. Also, weil da wohl ne Chance besteht, dass er sich was wegholt, Blutgerinnsel im Kopf oder Dings, also extrem ätzend." Hastig sortierte ich die Information ein, schlagartig von einer frostigen Schicht Sorge glasiert wie ein Eiszapfen. "Haben sie gesagt, was zu tun ist?! Soll Konrad sich irgendwo melden?!" Panik schlich sich in meine Stimme. Vielleicht schlief er gar nicht friedlich neben mir, sondern war bewusstlos?! »Reiß dich zusammen!«, fauchte der Elisabeth-Klon energisch, »ich kann mich nicht erinnern, dass du über medizinische Kenntnisse verfügst.« »Sehr richtig«, stimmte ein Chor zu, woraufhin ich die Lippen verletzt aufeinander presste. »Das war wirklich hilfreich, jetzt fühle ich mich absolut Herr der Lage, vielen Dank!«, fauchte ich stumm zurück. "...hörst du zu, Kumpel?", holte mich der Rattenmann wieder auf die Tagesordnung zurück. "Entschuldigung", gab ich kleinlaut zu, "könntest du es noch einmal wiederholen?" "Yo, sicher, also hier ist die Nummer." Ich schrieb mit, bedankte mich, als Markus Ungemach in Person eines Vorgesetzten herannahen hörte und lehnte mich schwer an die Garderobe. Kurt tippte mir höflich auf die Schulter. "Es ist Zeit", stellte er gelassen fest. Ich nickte betäubt. »Anziehen wäre gut, außerdem solltest du den Rasierschaum aus dem Gesicht wischen«, soufflierte meine bessere Hälfte schneidend, »man wäre sonst versucht zu glauben, dass du tollwütig bist.« Nach Tollen stand mir nun wirklich nicht der Sinn, von Wut ganz zu schweigen, ohne ein konkretes Ziel für mögliche Aggressionen. Dennoch folgte ich dem Ratschlag, der Ratio geschuldet, schenkte mir einen verzweifelt-tapferen Blick im Spiegel. "Einem Inscheniör ist nichts zu schwör", murmelte ich und feixte grimassierend. Ich hoffte eindringlich, dass der Volksmund damit richtig lag. ~#~ Teil 63 (28/10/2004) Nicht mehr länger schaumgeboren, dafür aber mit klopfendem Herzen näherte ich mich meinem Schlafzimmer, begleitet von dem beruhigenden Geräusch der sorgsam polierten Kugelrennbahn. Denn das war sie nun ohne Zweifel, beschleunigt schossen die Kugeln in Kapriolen ihrem Ziel entgegen. Ich dagegen schlich mich bänglich an mein Bett heran, kauerte ratlos über der schlafenden Gestalt, als könne im nächsten Augenblick ein Schachtelteufelchen hervorspringen und eine Katastrophe auslösen. »Es ist wahrscheinlicher, dass dich ein Herzkasper dahinrafft als dass er in akuter Gefahr schwebt, du Hasenfuß!«, pöbelte mich eine innere Stimme an. Solchermaßen beleidigt fuhr meine Hand automatisch aus, berührte eine Schulter und zuckte hastig zurück. Wider Erwarten detonierte Konrad nicht in meinem Gesicht. Er schlief einfach weiter. »Von wegen Blutgerinnsel!«, fauchte profunde Erleichterung empört in mir, »diese Medizinmänner haben dem Rattenmann bloß irgendwas erzählt, um an Konrad heranzukommen!« Langsam beruhigte sich mein aufgeregter Herzschlag, während ich neben ihm kauerte. So ein tiefer, friedlicher Schlaf... konnte es wirklich sein, dass er in Gefahr schwebte? Ich studierte seine schlanke Silhouette unter der Decke, die glatten, schwarzen Haare, die Gesichtsfarbe warm und vital. Wie verzaubert tänzelte meine Hand durch die reglose Luft, huschte mit der Ahnung von Fingerspitzen über seine Wangenknochen und die samtig weiche Haut. "...caraid...", entschlüpften mir kaum hörbar raue Silben, von einem Impuls gesteuert, den ich nicht einordnen konnte. Blinzelnd kehrte ich in die fordernde Gegenwart zurück. Verließ auf Zehenspitzen mein Schlafzimmer, um Konrad eine Notiz zu hinterlassen, mich in den Alltagszwirn zu hüllen und mit Kurt eine Bahnfahrt zu unternehmen. Kurt störte sich nicht an meinem Hausgast, an dem Gedränge in den öffentlichen Verkehrsmitteln, den dichten Nebelvorhängen, die aus seinem leuchtenden, glänzenden Wunderland eine dunkel-trübe Suppe rührten. Wir stiegen am Hauptbahnhof aus, damit ich Kurt in die richtige Bahn nach Hause setzen konnte. Als Männer der Tat schüttelten wir uns knapp, aber herzlich die Hände. "Vielen Dank für die Wartungsarbeiten", drückte ich meine Wertschätzung aus, "besuch mich doch mal wieder. Vielleicht zum Backen? Vor der Adventszeit?" Ein verrückter Gedanke, so wie der gesamte Morgen sich an ungewöhnlichen Eingebungen übertraf, doch mir schien es nicht verwunderlicher als jeder andere Vorschlag. "Ich werde meinen Kalender konsultieren", versprach mir Onkel Kurt ernsthaft, stieg dann mit Würde in die Bahn, als handele es sich um den Orientexpress. Ich lächelte und begab mich auf den Weg zu meiner Arbeitsstätte. Auch wenn ich nicht damit rechnen konnte, dass Konrad bei meiner Rückkehr noch in meiner Wohnung schlief, fühlte ich mich erstaunlich beschwingt. Trotz bleigrauer Wolken am trüben Firmament und eisigen Tropfen in der würzigen Herbstluft. ~#~ Teil 64 (29/10/2004) Es war dunkel, als ich nach Hause kam, in einer grünlich-durchscheinenden Plastiktüte chinesische Fertiggerichte in Alufolie transportierend. Ich rechnete nicht mit Konrad, und er enttäuschte meine Erwartungen auch nicht. Das Bett war ordentlich gemacht, jede Spur seiner Anwesenheit getilgt. Den Stich in der Magengrube ignorierend wärmte ich mir die Speisen, machte mich daran, Hausarbeiten zu erledigen, bis ich mich nicht mehr zurückhalten konnte. Und Konrads Tüte umkehrte, die meiner Obhut anvertrauten Habseligkeiten durchsah, als könnten sie mir eine Botschaft übermitteln. Durch furchtbare Ereignisse hatte sich der rote Faden seines Lebens zerrissen, war von fremden Menschen wieder angeknüpft worden. Doch die wenigen Dinge, die Kleider und Toilettenartikel, selbst der Ausweis erzählten mir nichts von ihm selbst. Sie waren fremdes Strandgut einer Phantomerscheinung, die mir immer wieder durch die Finger schlüpfte. Wohin verschwand er, was trieb ihn an und warum hatte er mich ausgewählt? »Mein lieber Schwan!«, stöhnte eine Stimme staubtrocken in meinem Hinterkopf, »du wirst doch nicht etwa metaphysisch werden?!« "Nein, nein!" antwortete ich laut, aber amüsiert, "sicher nicht." Doch der Gedanke, dass ich zu einem Kreis Auserwählter gehörte, denen Konrad einen kleinen Einblick in sein Leben gestattete, erfüllte mich mit Stolz. So pathetisch es klingen mochte: Konrads außergewöhnliches Leben entführte mich aus meiner sicheren Seifenblasenexistenz, ohne dass ich von Unsicherheit überwältigt wurde. Ein gutes Gefühl. Wie eine enge Freundschaft. Die sich allerdings in den nächsten Tagen von der Distanz nährte. Konrad stattete mir keinen Besuch ab, um sein Hab und Gut in Augenschein zu nehmen, sodass ich, von dem trüben, nass-kalten Wetter ungeduldig gestimmt, Markus als Informationsquelle anzapfte. Doch auch in der heimatlichen Wohngemeinschaft hatte sich der Road Runner nicht blicken lassen. "Mach dir keinen Kopf, Kumpel", kaute der Rattenmann mir launig ins Ohr, "Miep kommt schon klar. Vielleicht haben die mal wieder ne Studienreihe am Laufen. Hat ja schon lange keinen Telefonterror mehr gegeben." "Das könnte sein", stimmte ich nachdenklich zu. Und wenn Konrad noch immer meine Visitenkarte bei sich trug, so hätte man mich sicher informiert, wenn es ihm nicht gut ginge. Ich bedankte mich bei Markus und schloss mit mir selbst einen Pakt: wenn ich bis zum Wochenende keine Nachricht erhielte, dann würde ich mich auf mein Mädchen schwingen und auf die Pirsch nach dem Road Runner gehen. Auch wenn Konrad zweifellos über Talent verfügte, sich zu verabsentieren, ich würde ihn aufspüren. Zumindest redete ich mir das selbstgewiss ein. ~#~ Teil 65 (30/10/2004) »Das ist ja wohl ein schlechter Scherz?!«, schnaubte der Elisabeth-Klon des Anstands in meinen Ohren, während ich meine rebellischen Locken in einen straffen Zopf zwang und das Halstuch gegen Zugluft in meine Montur stopfte. "Freunde kümmern sich um Freunde", gab ich schnippisch zurück, streckte mir die Zunge raus. »Ja, ja, und guten Freunden gibt man ein Küsschen, nicht wahr, Herr Zungenakrobat?«, feuerte eine gewaltige Breitseite zurück, die mir das Blut in den Kopf trieb. »Wir waren bloß ein wenig ausgelassen!«, fauchte ich peinlich berührt, wagte aber nicht, dies laut auszusprechen. Zugegeben, ich dachte mehr als einmal an diese merkwürdige Nacht. Die Erinnerung an die Stahlmaschen in meinem Rücken, meinem Hintern, dazu seine Wärme, die sehnige Kraft, die mich hielt... »Aber das war nur der Überschwang trunkener Leidenschaft, nichts weiter!« Zumindest wollte ich mich davon überzeugen, haderte aber mit mir selbst. »Du wünschst dir doch nicht etwa, dass da mehr...?!« Argwöhnisch gelupfte Augenbrauen meines internen Scheißedetektors schlugen Alarm. »Fatale Faszinationen stehen dir nicht gut zu Gesicht«, schaltete sich auch der Elisabeth-Klon ein. Die Fäuste ballend atmete ich tief durch. "Er ist ein Freund. Nichts weiter, okay?!" »Sicher doch«, echote es süffisant, »wir werden dich daran erinnern, wenn deine Wünschelrute beim nächsten Mal ausschlägt.« Spontan dachte ich an Eisberge, Frostbeulen und Magenbitter. Das half. Für den Augenblick. Zur Unterstützung meiner absolut ehrbaren Absichten unserer definitiv platonischen Beziehung ließ ich mir den frischen Wind regenschwangerer Wolken ins Gesicht wehen, vom hochgeklappten Visier meines Motorradhelms ungehindert. Abgestürztes Laub wirbelte auf, verklebte dann feucht den Asphalt, ließ mich langsam und vorsichtig besonders schmierige Passagen auf meiner Strecke nehmen. Ich dachte an Bratäpfel, Glühwein, Spritzgebäck und nelkengespickte Mandarinen. Über mir zogen eilige Wolken grimmig über den Himmel, stachen mit ihrer Präsenz die verschnupft wirkende, fahle Sonne aus. Gerade als ich nach einer geeigneten Parkmöglichkeit für mein tapferes Mädchen suchte, erblickte ich eine schlanke Gestalt in einem unifarbenen Jogginganzug. Aus dem Kragen loderten imponierende Flammenzungen. Ich fing meine Suzuki einigermaßen elegant ab, kniff die Augen in der schleierbewölkten Luft zusammen. "Hallo, Rowan." Konrad schlenderte elastisch auf mich zu. Ein debiles Grinsen nistete sich wohnlich in meinem Gesicht ein, bevor ich mich an meinen Stolz erinnern konnte. "Hallo, wie geht es dir?!", platzte ich gegen meine Natur ungestüm heraus, schüttelte seine Hand. Konrad lächelte, über meine Geste, meinen Überschwang, meinen kindlichen Eifer. »Du brauchst ein Hobby«, murmelte es kopfschüttelnd unisono in meinem Hinterkopf. »Umpf«, schnaubte ich stumm zurück. ~#~ Teil 66 (31/10/2004) Zu meinem Glück ließ sich Konrad nicht durch meine euphorische Reaktion aus dem Konzept bringen, lächelte mich freundlich an. Zog dann den Reißverschluss seiner Joggingjacke herunter und bleckte mit verschwörerischer Miene seinen blanken Oberkörper. Mit attraktiven Klebedioden. "Aha, sehr kleidsam", brabbelte ich ungehindert und schlug mir mental gegen die Stirn. »Du bist schlimmer als ein sauerstoffunterversorgter, hormongesteuerter Teenager!«, stützte mein Selbstbewusstsein meine kritische Lage souverän. Konrad grinste, klopfte mit der Handfläche auf einen kleinen Apparat, der entfernt an einen Walkman erinnerte. "Dieses Aufzeichnungsgerät erlaubt es mir, ganz normal durch die Gegend zu laufen. Und ich kann meinen neuen Job auch abwickeln." "Neuen Job?", echote ich neugierig, kletterte endlich von der Suzuki herunter und lüftete den Helm aus. "Schieb deine Maschine einfach da neben die Müllcontainer", schlug der verkabelte Marathon-Mann vor, nahm mir den Kochtopf ab und ging vor. Ich folgte in seinem Windschatten und stellte meine Maschine ordnungsgemäß ab. "Können wir uns irgendwo unterhalten?", erkundigte ich mich, öffnete meine Motorradjacke, um ein wenig Luft an meinen Torso zu lassen. "Gehen wir doch in die Cafeteria." Dynamisch-agil schritt der Road Runner aus, zwinkerte mir zu. Die Cafeteria erwies sich als modern ausgestaltet nach einer Renovierung, die Glasfronten einladend, das Gestühl pflegeleicht, aber ergonomisch angepasst. Ich balancierte zwei große Becher Kaffee und eine Packung Donuts mit Schokoglasur, stellte meine wertvolle Ladung auf der Tischplatte ab und ließ mich Konrad gegenüber nieder. "Oh, Donuts!", begeisterte sich Konrad mit einem vorfreudigen Strahlen, griff auf meine Einladung hin zu und ließ es sich schmecken. "Du hast einen neuen Job?", nahm ich den Gesprächsfaden auf, wissbegierig der Aufklärung harrend eingedenk der merkwürdigen Szene im Angeldust, deren Zeuge ich geworden war. "Ich trage Zeitungen aus", erklärte Konrad, "kann zu meinen Vorlesungen gehen und meine Klausuren schreiben und hier für die Testreihen zur Verfügung stehen." »Keine Rede von seinen nächtlichen Engagements«, schmollte meine Neugierde unbefriedigt, doch mein Stichwort war bereits gefallen. Ich griff in eine Tasche und fischte ungelenk meine Zweitschlüssel heraus, schob sie über die Tischplatte in die neutrale Zone zwischen unsere Kaffeebecher. "Wenn du mal schlafen oder duschen möchtest...", murmelte ich einigermaßen verlegen. Dann vermurkste ich meinen Auftritt durch hirnloses Brabbeln, "ich weiß, es ist nicht gerade zentral und du hast ja deine Wohnung..." Konrads Fingerspitzen legten sich auf meine. "Ich habe Angst..." ~#~ Teil 67 (01/11/2004) »Bitte?!«, kreischte es panisch in meinem Kopf, doch Konrad sorgte selbst für Aufklärung, bevor die Spekulation das Kraut in Mammutbaumhöhe treiben konnten. "Ich habe Angst", wiederholte er gelassen, "dass ich deine Schlüssel verliere." "Oh", entfuhr es mir ausgesprochen geistesgegenwärtig. Weitere Äußerungen wollten sich trotz fieberhafter Fahndung nicht anschließen. "Sag mal", er tippte ohne falsche Scham auf meine Fingerspitzen, "hast du Lust, mit mir auf eine Halloween-Party zu gehen? Ich habe Freikarten bekommen." "Sicher, gern", sprudelte ich hervor, erleichtert, dass er die unbehagliche Stille elegant umschifft hatte, bevor meine oberste Kontrollinstanz tadelnd Alarm schlug. »Hältst du das für eine gute Idee? Nach dem letzten Mal?«, lupfte sie kritisch-unbestechlich die Augenbraue. Ich lächelte eisern und ignorierte den offenen Vorwurf. "Wo steigt denn die Veranstaltung?", lenkte ich auf ungefährlichere Fahrwasser ab. "Am Flughafen. Eine richtige Kostümparty, viel Musik, viele Menschen. Das wird sicherlich klasse", erklärte mir Konrad aufmunternd, als hätte er meine Bedenken aufgefangen. "Kostümparty?!", schrillte eine Sirene in meinem Kopf, "ich habe gar kein Kostüm!" Konrads Fingerspitzen morsten beruhigende Signale auf meinem Handrücken, "ich kümmere mich schon darum. Also, was sagst du? Bist du dabei?" "Sicher", bekräftigte ich meine vorangegangene Zustimmung. "Gut", meine Zweitschlüssel verschwanden in Konrads freier Hand, "dann nehme ich das Sesam-Öffne-Dich-Besteck und schneie gegen sieben Uhr bei dir rein?" "Okay", notierte ich mir geistig, »Samstag Abend, 19 Uhr, Konrad.« Etwas piepte unterhalb der schützenden Textilhülle seines Jogginganzugs. "Oh", stellte er gelassen fest, "ich muss zur nächsten Testreihe auf die Station. Willst du mitkommen und es dir mal ansehen?" "Sicher!", kam ich rasch auf die dicken Sohlen, während mein Stolz fassungslos das ehrwürdige Haupt schüttelte. Nein, zweifelsohne ging mir heute jede Form von souveräner Zurückhaltung ab. Wie zuvor zuckelte ich hinter Konrad her, eigentümlich fasziniert von der Vorstellung, wie außergewöhnlich sich sein Alltag ausnahm. Kein Vergleich zu meinem, so viel stand fest. "Übrigens", wandte er sich zu mir herum, schreckte mich aus meiner Betrachtung auf, "diese Murmelbahn ist wirklich toll. Richtig fesselnd", zwinkerte er neckend. "Äh, ja, nicht wahr?", widerstand ich mühsam dem Reflex, mir verlegen den Nacken zu reiben, färbte meine Wangen rosig. »Okay«, schnaubte der Scheißedetektor grimmig, »was ist hier los?!« »Gar nichts!«, log ich ungeniert, während mein Herz vor sich hin stolperte. Und alles nur, weil Konrad mich unverwandt ansah, während man ihn nahezu entblößt erneut verkabelte und an diverse Maschinen anschloss. »Jetzt hör aber auf!!«, blökte der Alarm bärbeißig, »du wirst dich doch nicht in eine lächerliche Wunschvorstellung verknallen?! Oder ist schon der Notstand ausgebrochen und wir springen alles an, das nicht bei Drei auf den Bäumen ist?!« ~#~ Teil 68 (02/11/2004) Die Tage bis zum Wochenende waren rasch gezählt und aufgeladen mit Arbeiten aller Art. Doch die ungläubig-warnenden Kommentare meines Unterbewusstseins drängten sich immer wieder an die Oberfläche. Nicht, dass es Unrecht gehabt hätte. Ich freute mich eingestandenermaßen auf das Wochenende und die Party. Ja, ich mochte den rätselhaften Konrad, der eine verschämt verborgene romantische Saite in mir zum Klingen brachte. Ein Moll-Akkord, sehnsüchtig-melancholisch, bereits mit der Gewissheit angefüllt, dass er vergänglich war, seine zarte Beschaffenheit den Stürmen der Realität nicht gewachsen war. »Wehmut«, stellte meine Ratio unbeeindruckt fest, »das Sehnen nach idealisierten Vorstellungen, nach einem Idyll.« Demnach war ich nicht etwa verliebt, nur ein wenig abgelenkt von meiner gewohnten Route des realistischen Pragmatismus. Eine vorübergehende Phase. Nichts Beunruhigendes. Redete ich mir vertrauensvoll ein. Bis Konrad in der Tür stand, meine Schlüssel mit den gerade sehr beliebten, glitzernden Plastikschnüren um die schlanken Hüften. »Wie kommt es nur, dass dieser Kerl damit nicht wie ein Landstreicher aussieht?!«, fauchte ein neidisch-konservativer Part meiner Natur. Ich zuckte mit imaginären Achseln. Konrad sah eben unverschämt gut aus, möglicherweise ein wenig zu dünn für meinen Fast-Food-Geschmack, doch seine Ausstrahlung ließ keinen Zweifel zu: er war attraktiv. "Hier", schon wurde eine Tüte auf dem Flurteppich ausgeleert, dann kniete Konrad in den einzelnen Bekleidungsstücken und Accessoires. "Ach du... liebe Güte", entfuhr es mir vorahnungsvoll. Ich hatte mit gruselig-witzigen Kleinigkeiten gerechnet, aber nicht mit einem Fundus, der ganze Heerscharen in die Flucht schlagen würde. "Das hier steht dir sicher gut!" Mein Führer für die Nacht sortierte bereits eifrig, bildete kleine Felsen in der tobenden See der Möglichkeiten. "Aha", echote ich dumpf, rieb mir die Stirn. Das konnte ja heiter werden. Weniger heiter als neblig-diesig-milchig-trüb und verwaschen entbot die fortschreitende Dunkelheit ihren herbstlich-stimmungsvollen Gruß. Sterne fehlten in dem unwirtlich-wolkigen Himmel, Schwaden kondensierter Tropfen aus den Regengüssen des Tages lungerten ziellos herum. Das farbenprächtige Laub bildete einen unansehnlichen, breiigen Matsch im Schein der Straßenlaternen. Doch wir hielten uns nicht lange mit dem trostlos und angemessen düsteren Air auf, sondern bestiegen den ÖPNV in Richtung unseres Ziels am Flughafen. Mein dunkler Mantel verhüllte schamhaft das wilde Ensemble darunter, doch Konrad entbot seine Maskerade ohne Bedenken dem aufgekratzten Publikum dieser Nacht der Geister. Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten wir den Veranstaltungsort, eine gewaltige Einrichtung, die mit allerlei Devotionalien zu Halloween dekoriert worden war. Vermutlich aus einer Geisterbahn entführte Requisiten rundeten die glühend-bedrohliche Atmosphäre der feixenden Riesenkürbisse ab. Wir entblößten uns an der Garderobe, zum Entzücken der angestellten Damen. ~#~ Teil 69 (03/11/2004) Besonders Konrad erregte Aufsehen mit seinem schwarzen, vollkommen zerfetzten T-Shirt, das nur an Bund und ausgerissenem Kragen noch zusammengehalten wurde und seinen sehnig, sonnenwarmen Körper anpries. Dazu zwei Lagen zerrissener Strumpfhosen und eine knapp abgeschnittene, verwaschene Jeanshose, alles verziert mit einer ganzen Packung Sicherheitsnadeln und langen Ketten verzinkter Büroklammern. Mein Kostüm kam meiner schamhaften Natur entgegen: weite, zerfetzte Jogginghosen, auf die Konrad einige Stoffreste getackert hatte. Darüber ein kariertes Holzfällerhemd, dessen Bestandteile mit alten Schnürsenkeln zusammengenäht worden waren. Sein Meisterwerk jedoch stellte mein Kopfputz als unheimliche Vogelscheuche dar: meine Locken waren aufwändig toupiert, mit Gras- und Strohhalmen verflochten und mit einem langen Stoffband aus der Stirn hochgebunden worden. Zur Begrüßung stempelte man uns noch einen kleinen Kürbis beziehungsweise einen Totenschädel auf den Handrücken, dann konnten wir uns in das Getümmel stürzen. Abwechselnd liefen Melodien aus bekannten Gruselschockern, dann spielte eine Live-Band Party-Renner, die zum Mitgrölen animierten. Konrad war in seinem Aufzug sofort von interessierten Hexen umzingelt, die hautnah die Bekanntschaft mit diesem Vagabunden schließen wollten. Mich bedachte ein aufgerüschtes Mädchen mit schweren Lidern mit ihrer Aufmerksamkeit, die ich unbeholfen abwehrte. Sie wirkte älter als ich die amtlichen Daten vermutete, von Erfahrungen geprägt, die ihrer kindlich-lasziven Darbietung einen bitter-galligen Stich versetzten. Außerdem befürchtete ich angesichts ihrer Aufmachung, dass sie einige ungehobelte Machos in ihrem Schlepptau hatte, die nur auf eine Provokation warteten. Ich verabsentierte mich also mit der Erklärung, ich müsse dringend etwas trinken und schlängelte mich durch das wilde Treiben bis zur gewaltigen Tränke. Neben mir lehnte sich ein kaum bekleideter Vampir über die Theke. "Halt dich vom Kürbis-Punsch fern", riet er mir mit einer hochgezogenen, gezupften Augenbraue. "Danke", nickte ich, ein wenig überrascht, dass man sich trotz der Geräuschkulisse verständigen konnte und orderte eine Flasche Mineralwasser. Beim dem Alkoholdunst in der komprimierten Atmosphäre tränkte sich meine Bekleidung bereits mit Schweiß. Eine weitere Belastung meines Organismus wollte ich mir dann doch nicht zumuten. "Bist du mit Miep hier?", erkundigte sich der Vampir interessiert, musterte mich eingehend. "Ja", nickte ich überrascht. Sollte ich meinen leicht bekleideten Gegenüber kennen? "Sieh an, hat er sich endlich für die bessere Alternative entschieden?", lächelte der Vampir zähnebleckend, strich sich dabei mit der Handfläche über die mit chromglänzenden Kappen bedeckten Brustwarzen. "Was?!", quiekte ich nach einer langen Gedenkminute an die Begriffsstutzigen hastig. "Nein, nein, ich meine, wir sind nur Freunde, also...", bevor ich meine Stotterei aufgab. Graf Draculas hedonistischer Nachfahre lachte nachsichtig und streckte mir eine mit langen Kunstnägeln verzierte Hand hin. "Hallo, Johannes, aber ich bevorzuge Jo." "Rowan", stellte ich mich hochrot vor, schüttelte die dargebotene Hand. "So ein Glück", führte Jo süffisant aus, "dann ist Miep ja noch zu haben." ~#~ Teil 70 (04/11/2004) Ich glotzte fassungslos auf sein Profil, bemühte mich, mein Blut von meinem Schädel wieder Richtung Fußboden zu senden. »Was denn?!«, unterstützte mein gehässiges Ich den Vampir, »jetzt markier hier nicht die Unschuld vom Lande! Immerhin hat er dich geküsst!« »Zugegeben«, murmelte ich orientierungslos, »aber ich habe ihn ja auch geküsst, also wir uns quasi gegenseitig, wie man das eben so macht...« »Aha, "Mann" macht das so?!«, ätzte es pointiert dazwischen, doch ich ließ mich nicht irritieren. »Aber das heißt ja noch nicht, dass er schwul ist! Oder ich!«, trumpfte ich auf. »Neeeein, siiiiicher nicht«, zog mich die dunkle Seite niederträchtig auf, »und der Auftritt im Angeldust war sicher auch ein Missverständnis, nicht wahr?« Ich zog wie eine Schildkröte die Schultern ein und riskierte einen Blick zum Vampir hinüber, der sich umwandte und mich mit einem Ellenbogen aufmunternd touchierte. "Was meinst du, habt ihr Lust, mit einer netten Clique ins Pandemonium zu wechseln?", offerierte er freigiebig, "wir haben sozusagen freien Eintritt." "Warum nicht", gab ich mich unentschlossen, "vielleicht sollten wir..." "Miep fragen?", vollendete Jo meinen Satz, löste sich von der Theke und bahnte sich bereits den Weg. Betont hüftschwenkend, seinen satinglänzenden Umhang ausbreitend wie ein Cape. In seinem Windschatten trudelte ich hinterher, noch immer mit der Frage befasst, ob Konrad denn wirklich...?! »Aber was spielt das schon für eine Rolle?!«, trotzte ich mir selbst. »Freunden ist doch die sexuelle Präferenz vollkommen egal!« »Wäre ohnehin ein weites Feld«, schnaubte die Stimme in meinem Hinterkopf. Unter anderem deshalb, weil sich gleich zwei wie geklont wirkende Wesen aus einer anderen Dimension hautnah an Konrad anschmiegten und sich mit ihm in einer geschmeidigen Bewegung zu "Whole Lotta Love" von Led Zeppelin wiegten. Ohne Rücksicht und mit starrem Lächeln für die beiden Trabanten um seinen Sonnenkönig verschaffte sich Jo Platz, fasste Konrad am Ellenbogen und beugte sich vertraulich zu ihm hin, wisperte ihm seinen Vorschlag ins Ohr. Konrad hielt den Blick auf mich gerichtet, streckte die Hand nach der Flasche Wasser aus, die ich an ihrem Hals mit mir trug. "Hast du Lust?", erkundigte er sich nach einigen Schlucken, wischte sich durch die glatten Strähnen. Ich nickte ein wenig verunsichert, vor allem, weil Jos Hand so selbstverständlich auf Konrads Schulter lag. »Vielleicht ist das doch eine Nummer zu groß«, triezte mich mein aufdringliches Gewissen triumphierend. »Ach was!«, wies ich jeden Anflug von Selbstzweifel zurück, »wie wild kann das schon werden?! Außerdem bin ich volljährig, vielen Dank für das Vertrauen!« Ein dumpfes Schnauben echote in meinen Ohren, aber ich ignorierte es geflissentlich. Konrad ließ sich von Jo an der Hand nehmen, hakte mich aber lässig unter. Er zog mich herunter, als uns das Gedränge bremste, wisperte in meine ausgeuferte Lockenpracht. "Es wird lustig, bestimmt", versicherte er mir augenzwinkernd. Ich vertraute ihm. Wider besseres Wissen. ~#~ Teil 71 (05/11/2004) Das Pandemonium schmückte sich nicht mit den Halloween-Artikeln, die man zuhauf sah, sondern vertraute auf seine einzigartige Konzeption. Ausgesuchte Videoclips und Ausschnitte aus alten Horrorfilmen wurden auf die Wände und Monitore projiziert. Die Musik schwankte zwischen Hardrock, Metal, Fusion und Techno, akzentuiert mit der Klaviermusik, die früher Stummfilmen atmosphärisches Knistern verlieh. Im Eingangsbereich erklärte sich auch die spezielle Einladung, über deren wesentliche Details sich Jo nicht ausgelassen hatte. Wir wurden als Showtanzgruppe erwartet... und Jos Freunde hatten sogar die Kostümierung organisiert. Man gestattete uns, einen nicht einsehbaren winzigen Teil der Garderobe zu nutzen, immer zwei Personen zugleich. Obwohl ich mich bereits mit Jos Freunden bekannt gemacht hatte, war ich dankbar für die Gnade, Konrad an meiner Seite zu wissen. Eine solche Bekleidung kannte ich von Titelblättern bestimmter Magazine, die ich nicht zu lesen pflegte. "Das ist nicht wahr", protestierte ich ungläubig, wich vor Konrads hilfreich ausgestreckter Hand zurück und kollidierte mit der Spanischen Wand, die uns ein Mindestmaß an Privatsphäre garantierte. Konrad schmunzelte, in seinen Augen tanzte Amüsement. "Du hast doch nichts zu verstecken", ermunterte er mich, "und wenn es dich tröstet, die Trockeneisnebelschwaden werden uns sicher ganz einhüllen." "Ich würde gern den Eisberg der Titanic zur Tarnung nutzen", brummte ich leise und kämpfte mannhaft gegen fassungsloses Starren an. Meine Kinnlade hängte sich gemütlich zwischen meinen Kniekehlen ein. Von doppelter Strumpfhosen-Bewaffnung, Hotpants und Fetzenhemdchen hatte sich Konrad in eine Kopie von Frank'n'Furter verwandelt. Rocky Horror Picture Show. Ich drehte unschlüssig das goldfarbene Retro-Höschen in meinen Händen. "Das ist wirklich keine gute Idee", wehklagte ich, "könnte ich nicht diesen Motorradrocker übernehmen?" Konrad zurrte sich das Lackmieder zusammen, hängte die Strapse ein und zupfte an der Strumpfband-Rüschenslip-Kombination herum, bis er mit dem Sitz und der eigenen Bequemlichkeit zufrieden war. Vor meinen Augen und meinem zweifelsohne dunkelrot leuchtendem Kopf. "Weißt du", unterrichtete er mich beiläufig, "ein Pärchen, Freunde von Jo, haben sich die Parts schon ausgesucht." "Und dieser Brad?! Der Spießer?!", kratzte ich mühsam Erinnerungsfetzen zusammen, "könnte ich nicht den...?!" "Rowan", Konrad fädelte mich aus meinem Kostüm, "Brad wird traditionell gestrippt und jeder darf mal anfassen. Überall", zwinkerte er lächelnd, während ich ein schrilles Pfeifen in meinem Gehörgang registrierte. Und es war kein Beifall spendendes Murmeltier. ~#~ Teil 72 (06/11/2004) Ich presste die Handflächen fest auf die Ohrmuscheln und schloss die Augen, schluckte mehrfach, doch eine Verbesserung meiner Situation stellte sich nicht ein. "Hey", Konrad pflückte meine Hände herunter, "keine Angst. Ich passe auf dich auf", drückte seine Daumen fest in meinen von der Anspannung verhärteten Nacken. Ich war nicht überzeugt und fragte mich, welche Figur Jo wohl darstellen mochte. Vielleicht dieses gruselige, blonde Faktotum? Weitere Gedanken verabsentierten sich abschiedslos, weil Konrad zu meinen Füßen kniete und das neckische Goldhöschen an meinen nackten Beinen hochzuziehen versuchte. "Ähm, ich mach das schon, danke!" Hastig beugte ich mich vor, sein Kopf in Höhe meines Schritts, lediglich von meinem bescheidenen Slip getrennt. Dann sah ich für einen Augenblick Sterne. Konrad hatte sich als feinfühliger Mensch zum Rückzug entschlossen, ich knickte übereilt nach vorne und kollidierte mit einem dumpfen Bumms schädelseits. "Autsch", kommentierte Konrad, rieb sich die toupierten Spitzen, zwinkerte mir dann zu, "ich sprühe dich einfach mit der Farbe ein, ja?" "Tut mir wirklich leid", entschuldigte ich hochrot, hakte das Pseudo-Feigenblatt zu und verwirrte meine sich vor Begeisterung kringelnden Locken beschämt. "Seid ihr bald soweit?" Der Kopf zur Stimme erschien und studierte unseren Fortschritt. "Gleich", nickte Konrad, schüttelte die Farbe kräftig, um mich dann in einen goldenen Jungen zu verwandeln, während ich schicksalsergeben die geschnürten Sandalen festband. "Na los, rein ins Vergnügen!", fasste er meine Hand und zerrte mich an die so gar nicht wohltuend vernebelte Öffentlichkeit. Das Ensemble hatte sich bereits versammelt, eine aufgedrehte, quietschvergnügte Gesellschaft, die der berüchtigten Lack- und Leder-Messe durchaus das Wasser reichen konnte. "Wow! Wirklich klasse!! Scharf!!", komplimentierte man sich gegenseitig, während ich schamhaft wie ein Schuljunge halb hinter Konrad Deckung suchte und vergeblich nach Courage aus einem Knopfloch fahndete. Die Musik veränderte sich, als wir wie die Gladiatoren in das Labyrinth schritten. Verfremdete Musicalfetzen, mit schwerem Paukenschlag unterlegt, dröhnten durch die engen Röhren. "Wir müssen doch nicht etwa tanzen oder singen?", wisperte ich panisch in den toupierten Bombast auf Konrads Kopf, der es vorzog, mir nur seine makellosen Zähne zu präsentieren. "Ich glaub, mir wird schlecht", gab ich bekannt und stützte mich schwer auf unseren verschlungenen Griff. Mit jedem Schritt in das Verderben wurde ich langsamer, stemmte die Sandalen wirkungslos in den Beton. Doch allzu bald hatten wir unser Ziel erreicht, das Herz des Pandemonium, wo man schon jubilierte, bevor wir überhaupt eine Chance auf Rückzug hatten. Unzeremoniell flackerten Monitore und Beleuchtung, Nebel schwadete raumgreifend empor, der "Time Warp" setzte ein, und Jos Clique legte fröhlich los, mischte sich unter das Publikum, das sich anstecken ließ. Jo kam herüber, wie befürchtet als das sehr attraktive Faktotum und zielsicher Konrad im Visier, doch ich hielt mich wie ein Schiffbrüchiger an der rettenden Planke fest. "Kannst du Tango? ChaChaCha?" Frank'n'Furter bemerkte seinen Lakaien gar nicht, fühlte sich wohl in der Rolle des Lehrers seiner goldenen Schöpfung. "Weiß nicht", murmelte ich, klammerte aber artig und ließ mich schieben. Jede Form von Deckung war mir recht. ~#~ Teil 73 (07/11/2004) Die nächsten Minuten waren von meinem Unvermögen geprägt, Konrad in die Augen zu sehen, wie es einem höflichen Menschen anstand und gleichzeitig seine Füße zu verfehlen. "Nimm den Rhythmus auf", wies er mich sehr hilfsbereit an, doch ich fühlte mich wie ein Klappstuhl mit vom Russischen über das Chinesische in Suaheli übersetzter Bauanleitung. Was meinen Peiniger köstlich amüsierte. Ich hatte Konrad zuvor noch nicht so gelöst und ausgelassen erlebt, er lächelte freimütig, seine schwarzen Augen glitzerten vor Begeisterung. Glücklicherweise erkannte er mein technisches Unvermögen und lenkte meinen bockig-verstockten Körper, indem er die Hände auf meine Hüften legte und mit den Lippen dirigierte. "Vor-vor-zurück-wiegen-vor-vor-zurück-leichte Drehung", um uns kreiselte es ebenfalls im Freistil, jeder so, wie er/sie gerade noch vermochte. Die Schwaden drängten sich aufdringlich in die unterirdischen Katakomben und Tunnel, Horrorfilmausschnitte flackerten in Schwarz-Weiß über Wandflächen und Monitore, wild kostümierte Gruselgestalten sprangen zwischen den Tanzenden umher. Stroboskopartig wechselte die Beleuchtung, vom erhöhten Takt der dramatischen Musik getrieben, die mit harten Schlägen bombastischen Orgelschwulst beschleunigte. »Dracula auf Speed«, klassifizierte mein sorgsam gehegter Geschmack verzweifelt und zog sich ein Kissen über den Kopf. Ich behielt unterdessen, soweit es mir möglich war, den hoffnungsvollen Jo als verräterisch-treuen Lakaien von Frank'n'Furter im Blick. Hatte er es ernsthaft auf Konrad abgesehen? »Und was war das in der Kneipe neulich?«, erinnerte meine Paranoia dienstbeflissen. Ich scheuchte alle Besorgnis in eine Schachtel und sperrte sie in die unterste Schublade abgründiger Verzweiflung. Außerdem hatte ich bald andere Sorgen. Nachdem der Durst mich zwang, temporär meine durchaus beneidete Position bei Konrad aufzugeben, schlängelte ich mich wagemutig und treu-doof durch die Menge, um Wasser zu ordern. Hatte Konrad nicht erklärt, dass Brad eigentlich in der größten Gefahr schwebte? Dass er gestrippt wurde? Nun, bei mir gab es nicht mehr sonderlich viel zu strippen, aber "mal anfassen" hinderte dies natürlich nicht. Mehr als einmal streiften mich Handflächen gezielt am Hintern, obwohl ich mich in hochnotpeinlicher Panik in ein Streichholz zu verwandeln versuchte. Je geringer die Angriffsfläche, umso weniger Farbabrieb... Ich flüchtete schließlich in die sehr nüchtern gehaltenen Toilettenanlagen. Neonlicht, wie im Schlachthof von Boden bis zur Decke gekachelt, klinisch grell und deprimierend unbestechlich in der Reflektion. Das BKA hätte von meinem Torso mühelos ein ganzes Register Fingerabdrücke nehmen können. Zumindest fühlte ich mich so. Ich klatschte mir Wasser in das Gesicht und versuchte, die Kletten aus meinen vom feuchten Dunst aufgedrehten Locken zu lösen. "Hi", nickte mir ein Mann zu, der sich gerade die Tolle a la Elvis richtete, zwinkerte, "allein hier?" Zähnebleckend schüttelte ich den Kopf und versuchte, nicht zu stottern. "Mit meinem Freund." Die Wahrheit ist eben, wie der ganze Rest auch, relativ. ~#~ Teil 74 (08/11/2004) Als ich mich tapfer wieder in das Getümmel wagte, auf meinen gewohnt schlechten Orientierungssinn vertrauend, um zu den anderen Mitgliedern der Show-Tanz-Gruppe zu stoßen, produzierte sich gerade eine Gruppe professioneller Trauerklöße. Grundsätzlich schwarz gekleidet, dramatisch wie Stummfilmstars aufgemacht, das unerträgliche Leid ihrer tragischen Existenz aufgebürdet, bewegten sie sich sparsam zu ebensolcher Musik. Viktorianisch-gothic, nahezu lebensfeindlich und pubertär in sich selbst versponnen. Eingestandenermaßen sagte mir diese Einstellung nichts, und von Elisabeth wusste ich mit Sicherheit zu behaupten, dass sie jeden derartigen Anflug von selbstverliebtem Nihilismus mit einem kräftigen Schlag ins Kreuz vertrieben hätte. Düster-schwärmerisch auf Friedhöfen herumlungern und mit Leichenbittermiene vor sich hin klampfen?! Ausgeschlossen. Einen Vorteil hatte dieser Auftritt jedoch: das Grundtempo war reduziert worden, sodass ich mich ungefährdet hindurch schieben und wachsam etwaigen taktilen Aufmerksamkeitsbekundungen entgehen konnte. Als ich nach einigem Herumirren und dem zwanghaften Vermeiden jedes aufmunternden Flirtzwinkerns von Damen und Herren fündig wurde, überraschte mich die Konstellation von Herr und Lakai nicht sonderlich. Konrad lehnte an einer Betonwand, die Arme lässig über dem Kopf abgelegt, sodass die Verschnürung seines Mieders spannte, glitt träge von einem Fuß auf den anderen. Jo belauerte ihn. Eine Hand über Konrads Schulter gegen die Wand gestützt folgte er schlangengleich wie ein Beschwörer den ungezwungenen Bewegungen. Kein Wort fiel, lediglich ihre Augen hielten einander fest im Blick. »Wenn das nicht zufällig ein Duell im Niederstarren ist, dann hast du gerade den Jackpot verloren«, informierte mich meine optimistischere Hälfte süffisant. Jemand fasste nach meiner Hand, legte sie auf einer knochigen Schulter ab, die zu einer ausgehungerten Frau mit dem Air eines Chihuahuas gehörte. "Hi Goldjunge!", krächzte sie mit dem rauen Timbre einer Kettenraucherin. "Hi", beschränkte ich mich auf Basis-Formalitäten, schwankte im schleichenden Rhythmus eines weiteren Schwanengesangs von rechts nach links und zurück. So war tanzen gar nicht schwer, verursachte allerdings auch keinerlei eruptiven Gefühlsausbruch. "Du erinnerst mich an Michael", vertraute mir das Handtaschenhündchen an, lehnte sich schwer an mich. "Michael?", erkundigte ich mich wohlerzogen, während ich gleichzeitig vermied, in Konrads Richtung zu schielen. »Meine Güte, du bist doch kein Teenager mehr! Reiß dich zusammen! Du hast doch sonst eine große Klappe, da wirst du wohl ohne einen weißen Ritter auf der Tanzfläche überleben können?!«, schnaubte es enerviert in meinem Kopf. »Das ist gar nicht das Problem!«, brummte ich aggressiv zurück, »ich habe bloß keine Lust mehr.« Weil Jo Konrad in Beschlag nahm. Und ich keinen Stich landen konnte. "Michael Hutchence", krächzte die als Hund getarnte Ratte aufklärend, "von INXS. Der ist schon tot." »Na, danke. Ich fühle mich auch schon miserabel.« ~#~ Teil 75 (09/11/2004) Mit der letzten Serenade auf die in ihre Depression Verliebten änderte sich endlich wieder das Programm. Bunte Filme aus den Hammer-Studios in London liefern, Vampire gegen Marsbewohner, Frankenstein gegen Godzilla und/oder das Ungeheuer von Loch Ness. Technicolor wie die ersten Comichefte leuchtete der Beton, wurde die Illumination angepasst, dazu Lieder aus den Sechzigern, poppig-quietschiger Grusel, der gleichzeitig Anweisungen für Gruppentänze gab. Der Madison wurde ausgerufen, gefolgt von einem Käfertanz, den berühmten Küchenschaben, und bald gab es kein Halten mehr. Während auf der Wand die Mumie aus ihrem Klopapier strippte, schwofte man im wahrsten Sinne des Wortes. Könner und Kenner waren definitiv im Vorteil. Jo und Konrad hatten sich verabsentiert, doch ich entschloss mich trotzig, dass nun Amüsement bis zum Erbrechen angesagt war. Ich würde mir selbst den Beweis erbringen, dass ich mich auf gesellschaftlichem Parkett bewegen konnte, auch wenn ich dies selten praktizierte. Meine Aufmachung erleichterte natürlich den Kontakt mit den Damen, die ich anvisierte. In dieser aufgedrehten Stimmung wechselte die Show zu Freddy Krüger und anderen Meuchelfiguren der Achtziger, untermalt vom unaufdringlichen Soundtrack der Village People. Lippensynchron metzelte sich der Mann mit dem Gesicht wie erbrochene Pizza durch die Teenager-Crew, während gleichzeitig "Macho Macho Man" erschallte. Der Effekt war grandios, ich konnte ein Auflachen nicht unterdrücken, obwohl ich noch immer an Konrads "Treulosigkeit" knabberte. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt noch Grusel das Thema gewesen war, so konnte man sich nun ungefährdet in einer Faschingssitzung gegen zwei Uhr nachts wähnen, wenn keiner mehr nüchtern und das Schlafbedürfnis überschritten war. Aufgeputscht tobte die Menge in den Tunneln, Schaum wurde gespritzt, stilecht in giftigem Schleimgrün gehalten, Wasserbomben aus Luftballons mit roter Lebensmittelfarbe klatschten auf Vergnügungssüchtige. Und ich hopste ungeniert prustend und kreischend wie ein Vierjähriger inmitten des Tohuwabohu herum. Unvermittelt stieß ich völlig unerwartet gegen Jo, der sich theatralisch vor mir aufbaute, einen der Luftballons in seiner Faust zerdrückte und die blutrote, wässrige Ladung auf seiner Brust verteilte. Ich begriff nicht gleich, was es zu bedeuten hatte, doch dann dechiffrierte mein beschwingtes Gehirn seinen enttäuschten Blick. Verlegen zuckte ich mit den Schultern, wie sollte man auch eine erlittene Abfuhr als Außenstehender (doch mindestens mit einem Fuß in der Tür) aufrichtig quittieren? Von Konrad allerdings konnte ich keine Spur feststellen, was mich aber nicht beunruhigte. »Wenn er nicht schwul ist, bist du es auch nicht«, argumentierte mein Un-Logik-Zentrum benutzerfreundlich, »also ist alles in Butter.« Ich allerdings war derartig derangiert, dass ich eine Toilette aufsuchen wollte. Die Örtlichkeit war mäßig bevölkert, doch ich vergaß jeden weiteren Besucher schlagartig, als eine Kabinentür sich öffnete, Konrad heraustrat, im Gefolge einen untersetzten Kahlkopf, der sich die Hose justierte. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel. Mein Herzschlag setzte aus. Dann floh ich. ~#~ Teil 76 (10/11/2004) »Das muss gar nichts zu bedeuten haben«, versuchte es mein Kuscheltier-Ego, während ich mich eilig zur Garderobe durchwühlte, »vielleicht war er dem anderen nur behilflich...« »Sicher doch!«, schnaubte mein verletztes Selbstwertgefühl wehleidig, »er hat ihn von einer störenden Erektion befreit, mit der sich der Kahlkopf in seinem verdammten Hosenlatz verfangen hat. Klarer Fall von Erster Hilfe!« Ich streifte die zerfetzte Jogginghose ungeachtet meines Zustands in kunterbunten Farben über, wickelte mich in das Fetzenhemd und meinen Mantel. Fasste meine Schuhe an den Schnürsenkeln und stolperte hinaus in die fortgeschrittene Nacht. Diesig-kalt nässte es in unzähligen Tropfen, ein undurchdringlicher Schleier, der alle Geräusche erstickte. Ohnehin war gegen drei Uhr morgens wenig Geräuschkulisse zu erwarten. Ich fühlte mich wie im London der Zeit Jack the Rippers, schwadig-schwammige Atmosphäre schmuddeliger Einsamkeit und Kälte. Mein Herz tat weh. Ein harter Knoten in meinem Magen bot immer neue Verschlingungen auf. »Du Idiot«, titulierte ich mich selbst, während ich ziellos der Straße folgte, »was hast du denn erwartet?! Dass er dir jeden Tanz schenkt?! Bist du in ihn verliebt, oder ist das bloß eine Phase geistiger Umnachtung?« Ich war nicht sicher. Vielleicht hatte ich mich wirklich in die Vorstellung verliebt, verliebt zu sein. Möglicherweise rannte ich einem Trugbild nach, das das Phantom Konrad inspiriert hatte. »Er hat mich verletzt«, stellte eine Stimme in meinem Kopf alle anderen autoritär ruhig. Es tat wirklich weh. Nässe kringelte meine Haare, die ebenso niedergeschlagen um mein Gesicht hingen. All die bunten Farben, das Lachen, die Leichtigkeit: selbst unter dem verschwommenen Lichtkegel einer Straßenlaterne, den Kopf weit in den Nacken gelegt, konnte ich weder den Himmel sehen, noch einen Trost finden. Assoziierte mich für einen selbstsüchtigen Augenblick lang mit all den schwarz gekleideten Verzweifelten an dieser Welt. »Nun sei vernünftig«, schaltete sich mein Elisabeth-Klon knapp ein, »nimm dir ein Taxi, fahr nach Hause, dusche heiß und geh ins Bett.« Welche Alternative hatte ich schon? Da hörte ich leichte, regelmäßige Schritte, die klatschend den Wasserfilm auf dem Trottoir aufwirbelten, Pfütze um Pfütze zur Explosion brachten. Ich wandte mich nicht herum, wollte nicht feststellen müssen, dass es ein früher Jogger oder ein Spätheimkehrer mit Konfirmandenblase war. Die Schritte hielten inne, sehnige Arme schlangen sich von hinten um meine Schultern, baumelten über meinen Brustkorb. Im Lichtschein der Laterne konnte ich sehen, wie sich in den Wasserperlen auf der sonnenwarmen Haut winzige Härchen spiegelten. Konrad lehnte sich an meinen Rücken. Wir schwiegen beide, unfähig, eine Entschuldigung zu produzieren, die wir nicht für ehrlich erachteten. Aber gerne vom anderen gehört hätten. ~#~ Teil 77 (11/11/2004) Konrads Nähe an meinem Rücken wärmte mich trotz der frostigen Dusche, die wir beide erfuhren. Das verschwommene, von Dunst gefilterte Neonlicht der Straßenlaterne wirkte plötzlich warm. Endlich drehte ich mich unter seinen Armen auf meinen Schultern hindurch, wagte es, mit Tropfenvorhang an den Wimpern, in seine Augen zu sehen. Ruhige, schwarze Pole, die mich anzogen, ablenkten von den kritisch zusammengezogenen Augenbrauen. Seine toupierten Haare glänzten vom Perlenfang wie chinesische Lackware. »Warum tust du das?!« So hätte ich am Liebsten geschrien, ihn geschüttelt, mit aller Vehemenz. Aber ich tat es nicht. Brachte kein Wort hervor, die Kehle zugeschnürt, blinzelte verschleiert unter dem Eindruck der grellen Beleuchtung, in ein eisig-kaltes Nadelmeer eingeschlossen. Die Welt verschwand, ein dunkler, diffuser Ort jenseits dieses Lichtstrahls, stumm und öd. Mein Herzschlag rauschte in meinen Ohren, kämpfte wacker und fiebrig gegen den Raureif an, der sich auf mir niederließ. Ein Songfetzen leierte in meinem Kopf herunter, immer wieder, wie eine hängengebliebene Schallplatte. Mit dem gleichen Schrei, schwankend zwischen Entsetzen, rückhaltloser Hingabe und Verdammnis: "God, I'm in love". Musste mich der Wehklage von Steven Tyler bedienen, der in der Dunkelheit nach Erlösung schrie. Mein Verstand fror ein, verabschiedete sich stumm, ließ mich zurück, eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden, unfähig, sich zu bewegen. Ich konnte nicht mehr tun, als in den schwarzen, von schimmernden Perlen beschatteten Augen zu versinken, die fein gezeichnete, warme Symphonie seines Gesichts ehrfurchtsvoll bestaunen, in diesem Zauberbann untergehen. So unwirklich diese Situation sich darbot, hätte es mich nicht gewundert, wenn Gene Kelly um die Ecke gebogen wäre, um tanzend seine Hymne an den Regen zu schmettern. In dieser Dimension schloss sich Sprache aus, Gesten und Gesang ersetzten die Verständigung. »Ich will nicht in dich verliebt sein«, klagte es hilflos und dünn in meinem Kopf, »nicht, wenn du mich so furchtbar verletzen kannst.« Ich atmete flach und hastig durch den Mund, von Frostschauern geschüttelt. »Wenn ich alles akzeptieren würde, um dir zu verzeihen.« So wollte ich nicht sein, niemals in solchen Traumgespinsten eingesponnen sein, von idyllischen Wunschträumen kleiner Mädchen fehlgeleitet, um mich zu einem Opfer zu machen. Wie meine Mutter in einer anderen Welt dem Glück nachjagen. »Dann beweise Stärke«, stachelte mich eine boshafte Stimme an, wohl wissend, dass ich einknicken würde. Weil er sich über die nassen Lippen leckte, mit den Fingerspitzen meine verkletteten Locken streichelte. Von Ernst erfüllt und gleichzeitig Hilfe suchend in meine Augen blickte. »Das kann alles nicht wahr sein!«, stöhnte es in mir triebhaft. »Und wenn es nicht wahr ist«, ergänzte bedächtig eine ruhige Stimme, »was verlierst du schon? Dies ist nur ein Traum, darum folge deinem Herzen. Vertraue auf deine Instinkte. Morgen ist alles vorbei.« ~#~ Teil 78 (12/11/2004) In Abertausenden kitschigen Filmsequenzen küssen sich Paare im strömenden Regen, perfekt ausgeleuchtet, der Mittelpunkt der Welt. Ob wir es wollen oder nicht, wir werden geprägt durch diese Vorbilder. Ich spürte die verdampfende Kälte der nadelfeinen Stiche, die so trügerisch harmlos wie schimmernde Perlen auf unserer spärlichen Bekleidung kondensierten. Kopfscheu und sprachlos, von dem verzerrten Refrain gequält, der meine Selbsterkenntnis in die Welt hinausschrie, entschied ich mich instinktgesteuert für die Flucht nach vorn. Umarmte Konrad eng, küsste ihn ohne höfliches Abtasten und Hofieren, geprägt von Gier und gärenden Emotionen. Ich wollte, dass er meine Enttäuschung, meinen Schmerz, meine lächerliche Liebe am eigenen Leib erfuhr, meine Wut über die verlorene Selbstgewissheit spürte, wenn ich seine Unterlippe zwischen meinen Zähnen gefangen nahm. Hörte mich schnaufen, nach Luft ringen, weil ich nicht von ihm lassen wollte, sondern ihn physisch niederringen, mit aller Gewalt seine Selbstsicherheit zerstören wollte. »Verstehst DU?!«, brüllte es militant in meinem Kopf, »dass ich dich liebe?! Wie kannst du mir das antun?! Was habe ich dir getan, dass du mir diesen Fluch auferlegst?!« Konrad grub die Fingerspitzen in die Schulterpartie meines Mantels, stemmte sich los, um mit dem Gesicht in meiner Halsbeuge Zuflucht zu suchen vor meiner Aggression. Außerdem zitterte er vor Kälte, in seinem aufreizenden Kostüm unter dem dünnen Mäntelchen. Während mein Pulsschlag wie Kriegstrommeln sämtliche Geräusche übertönte, kam ich wieder zu mir, zog ihn eng in die wärmende Nähe meines Mantels, barg ihn in den geöffneten Seiten. Als er sich aufrichtete, ein wenig außer Atem, bemerkte ich das Blut auf seinen Lippen, das meiner Rage zuzuschreiben war. Aber ich konnte mich nicht schämen, fühlte mich nicht schuldig, obwohl ich es sollte. Der Teufel auf meiner Schulter lächelte triumphierend, »endlich zeigst du ein wahres Gesicht!« Es hätte mich verstören müssen, doch ich blieb unbewegt, ohne Reue. Ein Filmzitat stieg mir in den Sinn, als ich Konrads Taille umschlang, ihn in die verschleiert-dunstige Dunkelheit zwischen den Lichtpools geleitete. »Sieh es endlich ein, zu den Guten gehörst du nicht mehr.« »Vielleicht«, gestand ich ein, schwankte mit Konrad durch die Nacht, dem nahegelegenen Unterschlupf entgegen, seiner Wohnung. Andererseits, durfte man einem großartigen Beobachter der Menschen glauben, gab es kein Grau, sondern nur schmutziges Weiß. Änderte sich Konrad in meinen Augen, weil ich vermutete, dass er gegen Geld sexuelle Gefälligkeiten erteilte? Ja und nein. Meine romantisch-verspielte Liebe hatte mit der Erkenntnis einen Schatten zu all dem naiv-unschuldigen Weiß gewonnen, war schlussendlich erwachsen geworden. Realistisch. Hatte mir den Mut gegeben, ihn so animalisch zu küssen, wie ich es gerade getan hatte. Und die Entschlossenheit, darüber hinauszugehen. Jetzt gab es nur noch ihn und mich. In dieser Nacht. Auf dieser Welt. Ich war nicht mehr der nette, besonnene, harmlose Jung-Ingenieur von nebenan, sondern ein Mann mit Trieben und Abgründen, der im Begriff war, zum ersten Mal in seinem Leben mit einem anderen Mann intim zu werden. Lieber ein beflecktes Weiß als das Grau des trügerischen Alltags. ~#~ Teil 79 (13/11/2004) Wir schleppten uns Konrads Wohnung entgegen, an den Hüften zusammengewachsen wie siamesische Zwillinge. Konnten von der wärmenden Stütze des anderen nicht lassen. Meine Schuhe steckten in meinen Manteltaschen, die einfachen Sandalen des Goldjungen waren bereits tropfnass und ruiniert, Farbe sickerte an mir herab, sog sich in die zerfetzten Lumpen meines ersten Kostüms. Endlich erreichten wir taumelnd in der trüben Brühe, die von dichten, niedrigen Nebelschwaden wie Schimären gemächlich durchstreift wurde, den Hinterhof. Natürlich war die Beleuchtung defekt, sodass jeder mit einer Hand ausgestreckt tapsig den Aufstieg ertastete, während die andere mit der nackten Haut des fremden Leibs verschweißt blieb. Unter gemeinsamen Anstrengungen öffneten wir die Wohnungstür, wurden von Semi-Finsternis empfangen. Kein Laut war zu hören, keine verrückte Spinne stürzte sich auf meine nackten Knöchel, keine Echse betätigte sich in Corgi-Manier als Hackenbeißer. Markus war wohl ausgeflogen. Noch im Dunkel des Flurs zogen wir uns gegenseitig die durchweichten Mäntel von den Schultern, ließen sie achtlos fallen, schoben sie mit den Füßen zu traurigen Haufen verschmähten Stoffs. Ich konnte kaum etwas mehr erkennen als Silhouetten, was mein inneres Auge beflügelte. »Eine perfekte Gegebenheit!«, frohlockte ein Urtrieb triumphierend, um sein Können zu untermauern. Vor mir entstand ein Bild von Konrad, mit seinem geschnürten Mieder, den an Strapsen befestigten Strümpfen, dem Hüftgürtel über dem knappen Slip, die zerzausten Haare beperlt. Also drängte ich ihn rücklings an eine Wand, streichelte gierig über den Kunststoff des Zierpanzers, fasste um ihn herum. Glitt mit ausgebreiteten Handflächen über die nackte Haut an seinen Hüften, über das polyestrige Netz der Strümpfe, die seine Beine bedeckten. Schmiegte meinen Unterleib an seinen, bedeckte sein Gesicht mit nassen Küssen. Für meine Libido war es gleich, ob Mann oder Frau, das Kostüm allein sendete Reizimpulse aus, die mich erregten. Der Kontrast zwischen warmer, seidig-glatter Haut zu kaltem Kunststoff, das statische Knistern reibender Stoffbahnen und seine harten Atemzüge an meinem Ohr, während er mir entgegenkam, die Farbe auf meinen Leib verteilte. Die Dunkelheit machte mich kühn. Hier konnte es kein verschämtes Zurückzucken geben, weil dies oder jenes nicht dem eigenen Ideal entsprach, solange es sich elektrisierend in Handflächen, an Lippen und Zungen anschmiegte. Und ich hatte ihn hier, halb auf meinen Hüften, ein bestrumpftes Bein um meine Taille geschlungen, hautnah und in gleichem Maße erregt wie ich. Ich konnte nicht ablassen, mit Hilfe des Mieders seine Brustwarzen zu reizen, mich selbst an seiner Brustpartie abzuschmirgeln, bis ich Sterne sah. Glücklicherweise war Konrad praktischer veranlagt, reüssierte in unserem intimen Duell damit, die hinderlichste Bekleidungskomponente zu entfernen. Indem er mit viel Kraft meine goldenen Hosen zerriss, sie den traurigen Fetzen auf unseren Füßen hinzufügte und mich ausreichend lange an seinem Hals beschäftigte, bis er sich selbst Befreiung aus der eigenen Hose verschaffen konnte. Dünne Nähte sind in manchen Fällen ein Geschenk des Himmels. Den wir gemeinsam zu erstürmen beabsichtigten. ~#~ Teil 80 (14/11/2004) Hätte ich mich ausführlich mit dem Gedanken befasst, Intimitäten mit einem anderen Mann auszutauschen, wäre ich wohl in verständlicher Scham zurückgewichen. Doch in diesem Augenblick, in der verbrüderten Dunkelheit, die Schutz und Schild bot, konnte mich nichts hindern. Natürlich hegte ich eine gewisse Vorstellung davon, was mir selbst Hochgenuss verschaffte und fühlte mich kühn genug, zumindest einen Versuch damit bei Konrad zu unternehmen. Zuzufassen, nicht zaghaft und bänglich, sondern selbstvertrauend. Zu erkunden, mich mit winzigen Gesten dirigieren zu lassen, um mein Ziel zu erreichen. Konrads harte Atemzüge fauchten an meinem Ohr, immer wieder umklammerte er meinen Nacken, krümmte sich, um Abstand zu gewinnen, bevor ich ihn wieder aufrichtete, gegen die Wand presste. Ich schmeckte den Alkohol, eine salzige Ahnung von Schweiß, roch Parfüm und Farbe, kostete ihn mit allen Sinnen. Wie berauscht konnte ich nicht aufhören. Die unterdrückten Laute, die sich unseren Kehlen entrangen, mischten sich zu einem archaischen Lobgesang, und ich wollte nicht innehalten, bis der Gipfel erstürmt war. Immer schneller strich ich, spielte auf der Klaviatur meiner Fingermuskeln, bewegte mich in einem winzigen Kreis, blies meinen Atem in sein Gesicht, auf seinen Hals. Wie eine Dampfmaschine unter vollem Druck, wollte den Kessel mit einer Explosion zerreißen. Konrad schloss sich mir an, vereinte unsere Erektionen in meiner Hand, um seine darüberzulegen, funkensprühend die Erregung zu potenzieren. Spasmische Zuckungen waren willkommene Vorboten, meine Knie wechselten zwischen Pudding und Stahl, die Augen fest geschlossen, hinderten das Feuerwerk nicht. Wenn Zurückhaltung eine Zier ist, so schmückte ich gewiss keine Ehrentafel, denn ich kam eilends, nass und eruptiv. Konrad umklammerte meinen Nacken mit beiden Händen und ließ sich von den Springfluten meiner Erregung weitertragen, um mir zu folgen, bis wir atemlos an der Wand lehnten. Klebrig-heiß und bebend, unsicher auf den Beinen, Körperkontrollen ledig. Der Refrain in meinem Kopf war verstummt, meine Kehle rau und trocken. Ich zog Konrad an mich, umarmte ihn eng. Er hatte mir einen geheimen Traum erfüllt, ein winziges, sündiges Vergnügen beschert, in Kombination mit einer Erfahrung, deren Bedeutung ich nicht abschätzen konnte. Aber, so wurde mir zwischen donnernden Herzschlägen klar, während ich ihn fest in meinen Armen hielt, es reute mich nicht. Endlich einmal hatte meine Flucht aus dem rigiden Albtraum meiner Familie ein Ziel erreicht: ich fühlte mich nicht verpflichtet, mich zurückzuhalten, mich zu verstellen oder zu verbergen. Einmal nicht in die Schablone der Normalität zu passen, oder dem, was ich aus meiner Beobachtung dafür hielt. Und so fand ich mich hier, strich über seinen knochigen Rücken, wühlte im Nackenansatz seines nassen, glatten Haars, küsste ihn wieder und wieder auf jeden erreichbaren Punkt. »Bei dir muss ich mich nicht fürchten«, morste ich in seine warme, gastfreundliche Haut. »Nicht einmal vor mir selbst.« ~#~ Teil 81 (15/11/2004) Konrad stemmte sanft, aber bestimmt die Hände gegen meine nackte Brust, fasste dann meine Hand, nachdem ich ihn widerwillig freigegeben hatte. Führte mich in das Badezimmer, wo eine trübe Funzel schmutziges Licht in die Angelegenheiten brachte. Ich ließ Konrad los, beugte mich über den Wasserhahn, um gierig Leitungswasser zu trinken, von dem ich wusste, dass es unbedenklich zu genießen war. Wandte mich dann ab, um verstohlen an mir herabzusehen. Nein, dieser Anblick hätte wohl libidinöse Absichten abgekühlt, denn ich starrte vor getrockneten Farbverkrustungen und dem weißlichen Sekret, das zur Feier des Tages der Geister abgeschossen worden war. Ganz zu schweigen von den gewohnten körperlichen und ästhetischen Defiziten, die solitär in meiner eigenen Gesellschaft ohne Beachtung blieben, doch bei Anwesenheit Dritter im Scheinwerferlicht des Interesses standen. Hastig hob ich den Kopf, erblickte Konrad, der es mir nachtat, über dem Wasserhahn gebeugt mit hungrigen Schlucken den Durst zu vertreiben suchte. Ehe ich mich versah, stand ich hinter ihm, packte mit beiden Händen die mageren Pobacken und drückte zu. Es lag vielleicht an dem mitgenommenen Mieder, den Strapsen und Strümpfen, dass ich nicht an mich hielt. Kein Gedanke mein Handeln blockierte, ob ich selbst eine solche Geste geschätzt hätte. Konrad hielt inne, zuckte jedoch nicht zusammen, während ich über die nackten Hauptpartien strich, dann die Strümpfe aus ihrer Halterung hakte, was ein wenig Geschick erforderte. Schließlich richtete er sich auf, drehte sich herum. Wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, während langsam mein Verstand zurückkehrte. Realisierte, dass unter dem verrutschten Mieder eine andere Ausstattung geboten wurde, die nicht ganz meinen imaginären Vorstellungen entsprach. Ich bin nicht sicher, ob er an meiner Reaktion ablas, dass ich mich selbst irritiert hatte, doch er fasste behutsam in dem schmierigen Licht nach meinen Händen, legte sie auf seine Brust. Mühte sich mit gesenktem Haupt, der Verschnürung ein Ende zu bereiten, bis ich endlich begriff und mich anschloss. Zurren und zerren, die Zungenspitze konzentriert zwischen den Lippen hervorspitzend, lieferten wir uns einen erheiternden Kampf, wer wohl als erster das unsägliche Kunststoffungetüm zu Boden schicken würde. Grinsten uns freimütig wie Schuljungen an. Die Spannung der Unsicherheit verlor sich, sobald wir zwei nackte, nicht sonderlich reine, junge Männer in einem altmodischen, nicht bemerkenswert einladenden Badezimmer waren. Wir kletterten in die abgeschabte Wanne, dann reichte Konrad mir einen Lappen, füllte Wasser in eine angelehnte Plastikwanne, die er zwischen uns auf den Wannenboden stellte. Kniete sich auf seiner Seite hin, um seinen Lappen einzutauchen und sanft, aber energisch meinen Waden zu Leibe zu rücken. Ich ließ ihn gewähren, drehte mich artig, bis ich an der Reihe war, seinen Beinen die gleiche Prozedur angedeihen zu lassen. Dann knieten wir beide, streckten lächelnd die Hände aus und streichelten einander mittels Lappen über den Torso. Schöpften mit den Händen Wasser, um es über den anderen zu träufeln. Ich konnte mich nicht erinnern, das jemals getan zu haben. Aber es gefiel mir sehr und einer Wiederholung war ich absolut nicht abgeneigt. ~#~ Teil 82 (16/11/2004) Leidlich gereinigt verließen wir, nun mit Konrad an der Spitze, das trübe Interieur des Badezimmers und betraten Konrads bescheidenes Reich. Eine Kerze in einem alten Senfglas leuchtete heimelig-verstohlen in die Dunkelheit, die ihre trübsinnige Realität mit einem Schleier Geheimnis tarnen konnte. Bar und bloß legten wir uns, als sei Hochsommer, auf die Matratze unter eine dünne Decke, aneinander geschmiegt und noch immer aufgedreht. An Schlaf war nicht zu denken, doch das Wort zu ergreifen stand uns auch nicht der Sinn. Im Kerzenschein konnte ich Konrad nun betrachten, ihn streicheln und mutwillig in dem schützenden Zelt der Decke abtauchen, um weitere Expeditionen in südlichen Hemisphären zu unternehmen. Dieses Mal weniger ungezügelt und zielgerichtet, sanfter, leichtmütiger. In der bescheidenen Aureole von Licht konnten wir ungezwungen ohne Befriedigungsdruck unsere Honneurs machen. Spitze Knochen, kleine und große Narben, Muskeln und Sehnen erkunden. Ich durfte in spielerischem Übermut den züngelnden Flammen mit einer ebensolchen folgen, ja, Konrad drehte sich sogar schmunzelnd, damit ich nicht um ihn herumspringen musste. Kichernd und innehaltend tauschten wir wortlos Wohlbefinden aus. Die Erkenntnis meiner fatalen Leidenschaft nahm sich unter diesem Eindruck gar nicht mehr so entsetzlich aus. Ich war verliebt, sogar mehr, drängte meinen Verstand jedoch, nicht einen winzigen Moment über die Konsequenz dieser Feststellung hinauszugehen, um nicht den Zauber zu zerstören, der uns umgab. Hier, in diesem Augenblick, war alles folgenlos und frei. Keine Rechtfertigungen, keine Erklärungen, keine Verpflichtungen. Wie verliebte Teenager schmusten und kuschelten wir, bis uns die Augenlider zu schwer wurden, um sie am Herabsinken zu hindern. Zu meiner schläfrigen Verwunderung störte mich weder das bodennahe, harte Lager noch die Kälte oder der reduzierte Raum, auf dem wir uns ausstreckten. Meine Brille war nicht rosarot. Sie war nicht vorhanden. ~#~ Teil 83 (17/11/2004) Dumpfe Stille hüllte mich ein, aus der ich mich zunächst orientierungslos herauskämpfte, bis ich begriff, dass ich bei Konrad unter seiner Decke auf der Matratze genächtigt hatte. Dem fahlen Lichtschein des Fensters zu entnehmen musste es schon fortgeschrittener Tag sein. Und ich war allein. »Wundert dich das?!«, ätzte meine Ratio, die die Nacht auf der Suche nach der Neige in einem Schnapsglas verbracht haben musste, so übellaunig-verkatert fuhr sie mich an. Ich zuckte mir selbst zur Antwort mit den Schultern. Setzte mich auf und erwog meine Möglichkeiten. Auf den Flur hinaushuschen und nach den Resten meines Kostüms suchen? Wie ein Römer eine Toga aus der Decke schlingen und eruieren, ob die hungrigen Wölfe in meinem Magen auf Fütterung hoffen durften? Schließlich gewann mit trockenem Kommentar meine Blase, die ohne weiteren Zwischenaufenthalt die Lokalitäten anzustreben wünschte. Gehorsam leistete ich ihr Folge, rieb mir die Augen und widerstand der Versuchung, mit den Händen in meinem verkletteten Kopfputz stecken zu bleiben. »Ein netter Sonntagmorgen«, stellte ich versöhnlich für mich fest, nun, da ich aufdringlicher Pflichten ledig war, wickelte mich enger in die Decke. Der Flur war frei, auch von den Farben war nichts mehr zu sehen. Ein wenig unbehaglich registrierte ich diese Zeugnisse eifriger Betriebsamkeit. »Ganz schön flink darin, die Spuren zu tilgen, wie?!«, ätzte mein verkatertes Ich und kroch förmlich in eine Schachtel Aspirin. »Du weißt doch, dass er nicht viel Schlaf braucht!«, fauchte ich zurück, schüttelte dann aber den Kopf über mich selbst. »Es war eben ein Traum aus einer anderen Welt in der letzten Nacht«, versuchte ich es mit kühler Logik, »nun ist der Traum zu Ende. Weiter nichts.« Folgerichtig wappnete ich mich mit Mut und begann, vor dem Badezimmerspiegel die Verknotungen zu lösen. Ich fixierte derart konzentriert meinen Blick auf das jeweilige Nest widerwilliger Locken, dass ich in meiner Versunkenheit weder das ärgerliche Herabsinken der Decke noch Konrads Rückkehr bemerkte. Erst als er hinter mir stand, mich umschlang und die frostigen Knöpfe der Jeans intimen Kontakt mit meiner Kehrseite aufnahmen, erschrak ich aus meiner Beschäftigung, zuckte zusammen. Konrad wich, während ich meine Hand instinktiv auf mein Herz presste, nach Luft rang und mit hochrotem Kopf zu ignorieren versuchte, welche Reaktionen er bei mir auslöste. Entschuldigend wedelte Konrad mit einer Brötchentüte vor meinem Kopf, hob gleichzeitig verlegen die Schultern an, als habe er nicht erwartet, dass ich derart selbstvergessen meiner Haarpflege nachging. Er selbst sah wieder adrett aus, wenngleich ein herausforderndes Funkeln in seinen Augen tanzte. Beugte sich vor, um zielsicher mit kühlen Lippen auf meinen zu landen, mir ein Lächeln zu entlocken. "Lass uns noch mal ins Bett gehen", raunte er an meinem Ohr, als ich ihn an mich zog und spielerisch drückte, "da könnten wir auch frühstücken." "Auch" löste ein nervös-aufreizendes Schmetterlingsgestöber in meinem Unterleib aus. Dennoch folgte ich Konrad bereitwillig. ~#~ Teil 84 (18/11/2004) Konrad spendierte Kaffee aus der Thermoskanne, dazu Honig und ein stumpfes Messer, mit dem wir gemeinsam dem Inhalt der Papiertüte zu Leibe rückten. Fütterten uns grinsend, leckten uns die verschmierten Backen ab und balgten uns wie Welpen auf der Matratze herum. Um dann mit sehr viel mehr Engagement unsere Bekanntschaft aufzufrischen. Konrad fühlte sich unter meinen Händen verlockend an, selbst im Tageslicht schreckte ich nicht mehr zurück. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn sich mir eine Erektion wie meine eigene entgegenstreckte?! Er schmeckte und roch so gut, dass ich mich sämtlicher Vorbehalte entledigte. Wollte mich aber auch nicht mit den Folgen befassen, wie ich trotzig beiseite wischte. "Rowan", schnurrte Konrad kehlig, nagte sich an meinem Ohrläppchen fest, drehte sich mit mir um die Achse, hielt mit meinem Hunger wacker mit. Mit steigender Hitze nährten wir uns dem Höhepunkt, die Glieder ineinander verschlungen, mit bannendem Blick in die Augen des anderen, um die ekstatische Erlösung einzufangen. Und dann ausgestreckt nebeneinander zurückzusinken und blinzelnd zur Zimmerdecke emporzublicken. Konrad tastete nach meiner Hand, verwebte unsere Finger miteinander. "Hast du heute etwas vor?", erkundigte er sich, wandte mir den Kopf zu. "Hmmm", grübelte ich laut. "Mich anziehen?", schlug ich lächelnd vor, zwinkerte ihm zu. "Und dann?", hakte er unbekümmert nach, drehte sich auf den Bauch, um die Wange auf meinem Herz abzulegen und sich anzuschmiegen. Ich kraulte seinen Nacken wie bei einem Kater, strich durch seine seidig-kräftigen Strähnen. "Was möchtest du denn tun?", erkundigte ich mich geistesgegenwärtig. Konrad ließ sich Zeit, glitt mit einem Finger an meiner Seite auf und nieder. "Ich würde gern mit dir spazieren gehen", gab er schließlich bekannt. "Dafür müsste ich mich anziehen", nahm ich den Faden auf, "was ja geradezu hervorragend mit meinen Plänen korrespondiert." Konrad knurrte spielerisch und kniff mich in die Seite als Strafe für meine Überheblichkeit. Doch was konnte man erwarten? Langsam realisierte ich, dass ich mich gegen Jo, den Kahlkopf und meine eigenen Ängste durchgesetzt hatte. Da sah ich mich durchaus in der Lage, mit Konrad einen Spaziergang zu unternehmen. Und sehr vorsichtig wieder über den Augenblick hinaus zu denken. ~#~ Teil 85 (19/11/2004) Eine Viertelstunde später nach einer Zahnputzorgie per Finger und dem verzweifelten Versuch, meine Haare zu bändigen, kauerte ich auf der Matratze und staunte über Konrads Fundus. Das Depot von Kisten und Tüten spuckte schließlich ein Ensemble aus, das sich als tragbar erwies, sodass ich mich mit einer Stoffhose, einem Wollpullover sowie Unterwäsche und Strümpfen vor die Tür wagen konnte. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, in dieser Staffage bis nach Hause zu gelangen, um dort in meine eigenen Kleider zu schlüpfen, doch Konrad bestand darauf, mich gleich zu entführen. Der Tag zeigte sich wie ein Herbst aus dem Bilderbuch, mit einem Kaleidoskop bunten Laubs und einem Wasserschleier in der dunstig-kühlen Luft. Wir schritten in mittelhohem Tempo aus und erreichten bald einen der großen Parks in der Stadt. Reduzierten dort unsere Geschwindigkeit und spazierten nun tatsächlich im Schutz der Mäntel Hand in Hand. Die Luft roch würzig-süßlich, benetzte uns mit kondensierenden Tropfen. Dann versammelten sich dunkle Wolken übellaunig über uns und Konrad zog mich mit sicherem Schritt in einen kleinen Pavillon, wo wir ohne Zeugen eng aneinander geschmiegt in die Regenschleier schauten. Unvermittelt brach Konrad unser vertrautes-verträumtes Schweigen. "Ich habe mir die Tätowierungen heimlich stechen lassen, als wir in Thailand waren. Da war ich vierzehn. Das war das einzige Mal, dass mein Vater wirklich wütend war." Ich zog die Flammen mit meinem Daumen nach, wagte aber nicht, ihn mit einer Frage zu unterbrechen, seinen Blick in meine Augen zu lenken. Es erschien mir durchaus seltsam, dass ein Vierzehnjähriger sich damals an derart exponierter Stelle solch auffällige Zeichen in die Haut stechen ließ. "Weißt du", flüsterte er leise, "ich kann mich an meine Kindheit nicht erinnern bis zur Ankunft hier. Das einzige, das mich immer begleitet hat, war das Gefühl von Flammen in meinen Augenwinkeln. Doch wenn ich mich umdrehte, fand ich natürlich nichts. Aber es machte mich nervös und unruhig, also dachte ich damals, wenn ich mir die Flammen in den Hals stechen lasse, dann habe ich keinen Anlass mehr, mich umzudrehen, weil ich weiß, dass die Flammen real sind. Ein wenig Abhilfe hat es gebracht", er zuckte mit den Schultern, "auch wenn meine Eltern das nicht annehmen wollten." "Ich finde, die Flammen stehen dir", gab ich beherzt meine Meinung bekannt, hauchte einen Kuss auf seine Wange. Konrad drehte den Kopf, lächelte versonnen. Vor der farbenprächtigen Kulisse hinter dem Nebelvorhang küsste er mich leidenschaftlich und sehr nachdrücklich. "Ich weiß nicht, warum", wisperte er an meinen Lippen, die schwarzen Augen bannend in meine Grünen gesenkt, "aber bei dir finde ich Ruhe." Nach dieser rätselhaften Eröffnung zog er mich in den Regen hinaus, lieferte mir ein Rennen bis zu seiner Wohnung, wo wir Markus beinahe überrannten, um uns in Konrads bescheidener Bettstatt aufzuwärmen. Was auch immer mir noch von Konrad verborgen blieb, eins begriff ich in diesem Augenblick: Konrad hatte es ebenso heftig erwischt wie mich. "God, I'm in love." ~#~ Teil 86 (20/11/2004) An diesem Montag erwachte ich trotz der Dunkelheit und nasskaltem Schmuddelwetter mit einem wohlig-optimistischen Gefühl. Das Fest der Geister überstanden, eine Identitätskrise überwunden (zugegeben, sie hatte nicht lange Bestand gehabt) und das Wochenende mit einem Menschen verbracht, in den ich mich mit Haut und Haaren verliebt hatte. Beinahe schon erschreckend intensiv und rücksichtslos. Der Gedanke ließ mich schmunzeln, verlor sich auch über den anstrengenden Tag hinweg nicht. Zu meiner eigenen Verwunderung setzte nicht einmal das Störfeuer Realität und Vernunft ein, das ich erwartet hatte. Tatsächlich hatte ich angenommen, in winzige, fliegende Fetzen gerissen zu werden von Vorwürfen und Anklagen. Was ich mir dachte, -sofern überhaupt möglich!-, mit einem Mann intim zu werden? In einem solchen Aufzug herumzulaufen?! Tagträume in der Mittagspause zu hegen von einer gemeinsamen Zukunft?! »Es liegt nicht gerade eine Karriere-Aussicht darin, sich als Schwulibert zu outen«, säuselte eine hämische Stimme in meinem Kopf durchdringend. Erstaunlicherweise blieb ich selbst gelassen und ruhig. »Wie kann ich homosexuell sein, wenn ich mich nur für ihn interessiere?« Ein kurzer Blick in die Runde belegte meine Überzeugung. »Toll!«, schnaubte es, »aber für die Leute wird es anders aussehen!« »Die Leute kann ich nicht ändern«, beschied ich mir selbst tapfer, »aber in einem Korsett aus Erwartungen und Maßregelung habe ich lange genug vegetiert, vielen Dank!« Mein Entschluss stand fest: ich wollte Konrad meine Gefühle gestehen und ihn bitten, mit mir zu leben, vielleicht sogar mit mir in meiner Wohnung. Gewappnet mit der Wehr der absoluten Überzeugung und in Abkehr von allen tradierten Lebensplanungen alias Haus-Hund-Frau-Kind hoffte ich auf Konrads Besuch in meiner Wohnung. Ich schloss die Haustür auf, wurde von Lichtschein empfangen und dem Geruch einer warmen Mahlzeit. Obwohl ich insgeheim einen solche Szene erträumt hatte, blieb ich wie vom Donner gerührt im Flur stehen, musste einen Kloß der Rührung schamerfüllt hinunterwürgen. "Hallo, du hast ja eisige Wangen!" Schon hüllte mich Konrads Wärme ein, lächelte sein ernster Blick in meine Augen. Ich ließ theatralisch meine Tasche auf den Boden sinken, schlang die mantelwattierten Arme um seine Mitte und küsste ihn gierig. Als könne er sich wie eine Fata Morgana als Trugbild erweisen. "Ich nehme an, du hattest einen reizvollen Tag!", kommentierte Konrad zwinkernd meinen Auftritt, leckte sich über die Lippen und streifte mit einer Hand meine merkliche Erektion. In meinem Schädel dröhnten Schlachttrommel unablässig, sogar seine Worte erreichten mich kaum mehr. "Schlaf mit mir!", drängte ich, ließ ihm gerade noch genug Zeit, die Abendspeise abzudecken und die Energie herunterzufahren. Ich riss mir förmlich die Kleider vom Leib, erstickte mich in meiner Hast beinahe mit dem eigenen Binder, sprengte einen Knopf von einem Ärmel, doch nichts konnte mich aufhalten. Allerdings unternahm Konrad auch keine diesbezüglichen Anstalten. Vielmehr lächelte er mit funkelnden Augen über meine Liebesraserei. Ich wollte nicht mehr als ihn hautnah an mir zu wissen, seine kraftvollen, geschickten Finger, seine aromatisch-akrobatische Zunge, seinen Geruch, seine Stimme in meinem Ohr. ~#~ Teil 87 (21/11/2004) Mein Bett sah aus, als hätte es eine Havarie mit einem Großraumtransporter gehabt. Kissen, Laken, Decken: alles war über Bord gegangen. Auf meiner Haut prickelte abkühlendes Sekret unterschiedlicher Herkunft. Meine Zunge schmeckte nach Konrad. Ich konnte nicht ganz glauben, dass ich ohne Willensanstrengung so weit gegangen war... und es mir keineswegs widerwärtig vorkam. Konrad lag quer über mir, sein glänzender, kurzgeschorener Schopf ein steter Quell beruhigender Streicheleinheiten. Ein wenig ermattet erschien es mir dennoch nicht der richtige Augenblick, einen formvollendeten Antrag zu stellen, was mich wurmte. Ungeduldig malte ich auf seinem knochigen Rücken, bis Konrad sich auf die Ellenbogen stützte und mich ansah. Wortlos, ruhig, abwartend. Mir fehlte die Sprache, selbst das Schlucken wurde erneut ein ernsthaftes Problem. »Was ist bloß los?!«, schüttelte ich peinlich berührt den Kopf über mich selbst, »wo liegt dein Problem?!« Ich wusste es nicht. Meine einzige Antwort bestand darin, dass uns eine gewaltige Anziehungskraft verband, etwas Archaisches, Chemisches, Elektrisierendes, Magnetisches. Konrad setzte sich auf, wandte mir mit einem aufreizend kühlen Blick den Rücken zu, um sich auf allen Vieren zwischen meinen Beinen einzurichten und den Kopf über meinen Schritt zu senken. Meine Herzschläge rasten schlagartig davon, allein die Vorstellung, er könne mit der Zungenspitze...!!!! Kurzum, wir erwiesen einander gegenseitig die Verehrung, landeten erneut in einem ungeordneten Knäuel nachbebender Glieder auf der mitgenommenen Matratze. "...ist das?", drang Konrads Stimme durch die lustgetränkte Watte post-orgasmischer Benommenheit an mein Bewusstsein. "Hmmm?", grunzte ich, angelte kraftlos nach ihm, um ihn an mich zu ziehen und nicht mehr loszulassen. "Das Wort." Konrad schmiegte sich auf mich, drückte mich in die Taschenfederkernpolster, fixierte meinen glasigen Blick, "du hast es gestöhnt." Aufgrund Blutmangels im Kopf blieb mir eine erneute schamhafte Reaktion erspart, dafür brachte ich unfallfrei über die Lippen, was mich bewegte. "Willst du mit mir leben?" Konrad zog die Nase kraus, ein komischer Ausdruck schwankend zwischen Belustigung und zögerlicher Hoffnung. "Ist das dein Ernst?" Wie ein verliebter Backfisch konnte ich bloß atemlos eine Zustimmung krächzen, was nicht an Konrads Gewicht auf meinem Brustkorb lag. Er musterte mich lange, eingehend, abwägend, spielte mit den Fingerspitzen in meinen verdrehten Locken. Verschränkte unsere Finger in Kopfhöhe miteinander zu einem festen Halt. "Können wir es langsam angehen?", erkundigte er sich so behutsam, dass ich glaubte, er fürchte, dass ich ihm die Nasenspitze abbeißen würde. Ich nickte hastig, hätte allem zugestimmt, wenn es bedeutet hätte, dass ich ein Anrecht auf ihn bekam, ganz gleich, wie gering es sich ausnehmen mochte. "Dann lass uns duschen, Rowan, und etwas essen", schlug Konrad diplomatisch vor. Natürlich folgte ich ihm artig wie ein tapsiger Welpe. ~#~ Teil 88 (22/11/2004) Vereinbarungsgemäß übernachtete Konrad fortan bei mir. Er war nicht mehr da, wenn ich aufstand, da er Zeitungen austrug, joggte, seinem Studium frönte und beim Klinikum Untersuchungen absolvierte, doch mich grüßte ein freundlich dekorierter Platz an der Bar zum Frühstücken, meine Zeitung daneben. Und an manchen Morgen auch ein Abdruck von Konrads Lippen auf meiner Stirn, in Lippenstiftfarbe. Dann stand ich vor dem Spiegel, wischte mit Vaseline und Toilettenpapier die Spuren weg und lachte mir selbst entgegen. Wer hätte es seinem ernsten, aufmerksamen Gesicht zugetraut, solche liebevollen Scherze zu treiben? Ich fieberte jedem Abend entgegen, denn seit langer Zeit zum ersten Mal interessierte sich jemand für die Dinge, mit denen ich mich beschäftigte und umgab. Doch so sehr ich mich selbst preisgab, -willentlich und wissentlich-, so wenig konnte ich über Konrad erfahren. Seine Vergangenheit schien nicht nur betreffs frühester Kindheit ein unbeschriebenes Blatt, auch die Jahre danach wirkten ausgebleicht und künstlich wie Fotomontagen. Bald schon packte mich die Sorge, es möge mir genauso ergehen. Nur eine verwaschene Erinnerung, die mit einem Windstoß verschwinden würde. Überraschend, doch willkommen stand am folgenden Wochenende, das mit einer Schlafstudie eine einsame Nacht für mich verhieß, Onkel Kurt in der Tür. "Zum Backen und für die Wartungsarbeiten", erklärte er pflichtbewusst. Während mein Onkel seinem Faible nachging, suchte ich eilig Zutaten für einfache Blechplätzchen zusammen, dann wurde gemeinsam geknetet, gerollt, ausgestochen, eingepinselt und in die heiße Grube eingefahren. Begleitet von unserem lautstarken Gesang sämtlicher Weihnachtslieder, die wir kannten. Bestäubt und glücklich hockten wir wie kleine Kinder in der Küche vor dem Backofen und beobachteten die Entwicklung unserer Kunstwerke. Es war schon spät, der Anrufbeantworter blinkte hektisch, doch mit einigen warmen Plätzchen im Bauch konnte uns nicht mehr als das Bett mit wohlverdienter Ruhe locken. Ich löschte also die barschen, drohenden, zunehmend hysterischen Anrufe Elisabeths, hielt dann aber inne. "Rowan? Kannst du mich abholen? Der Test ist geplatzt." Konrads Stimme klang verunsichert. Ein Blick auf die Uhr und ich hetzte los, die Codekarte zwischen den Zähnen, mit wehendem Mantel und bestäubtem Sweatshirt. Konrad wartete bereits vor der Ausfahrt, als ich mit einem schlingernden Ruck zum Stehen kam, kletterte neben mich und legte den Kopf auf meine Schulter. "Alles okay?", erkundigte ich mich besorgt, fasste nach seinen eisigen Händen. Und erschrak über sein fahles Gesicht. Er schüttelte den Kopf, zuckte mit den Achseln. "Ich habe seit vorgestern nicht mehr geschlafen", bekannte er tonlos. Ich starrte mit herabsinkenden Kiefer. "Aber... aber ich dachte...?!" Wieso hatte ich das nicht bemerkt?! "Du riechst gut." Sein Kopf wanderte tiefer, doch dieses Mal sammelte sich genug tollkühne Beherrschung, sodass ich ihn aufrichtete, an den Schultern festhielt. "Warum sagst du mir das nicht? Habe ich irgendwas falsch gemacht?!" Schon mischte sich Panik in meine Stimme. Statt einer Antwort schlang Konrad mir die Arme um den Hals, lehnte sich an mich. Und hielt sich wie ein Ertrinkender an mir fest. ~#~ Teil 89 (23/11/2004) Es gelang mir, Konrad mit einiger Anstrengung in meine Wohnung zu transportieren, wo mich Kurt mit sorgenvollem Blick erwartete. Gemeinsam entkleideten wir Konrad, der mit flatternden Lidern unseren Mühen Aufmerksamkeit zollte, dann entließ ich Kurt mit einem aufmunternden Händedruck, der unter uns Männern signalisierte, dass alles unter Kontrolle war. Kroch in meinem bestäubten, nach Plätzchen duftenden Sweatshirt an seine Seite und schmiegte mich an ihn. Warum hatte ich seinen Zustand nicht bemerkt?! Hatte er neben mir so lange tief geatmet, bis ich eingeschlafen war, um dann unruhig herumzulaufen?! Nun war es an mir, lange keinen Schlaf zu finden. Der nächste Morgen begann selbst für Kurt später, dann frühstückten wir zu zweit und naschten von den Plätzchen mit verschwörerischem Zwinkern. Konrad ließ ich schlafen, brachte Kurt zu seinem Zug mit einem großen Paket Frischgebackenem. Als ich zurückkehrte, lag Konrad mit geöffneten Augen in meinem Bett und starrte stumm an die Decke. Ich kletterte zu ihm, bot meine Schulterbeuge als Ruheplatz, den er wortlos annahm, die Arme um mich schlang. "Kannst du mir sagen, was ich tun kann, damit es dir besser geht?", wagte ich mich aus der beklommenen Deckung. Konrad zappelte unruhig, ohne seinen Griff zu lockern, erklärte sich dann beinahe unbeholfen, knapp. "Ich bin unruhig, keine Ahnung, warum. Vielleicht mache ich mir Sorgen..." Endlich verlagerte sich sein Blick in meine Augen. "Worüber Sorgen?", nahm ich das Stichwort auf, streichelte über seinen verspannten Rücken, die glänzenden Strähnen. Er nagte an seiner Unterlippe, seine Pupillen irrten über mein Gesicht. "Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Bei dir zu bleiben", erklärte er nach einem Räuspern. Bemerkte mein fassungsloses Entsetzen und nötigte sich hastig Erläuterungen ab. "Ich will ja, weil ich dich sehr...mag, aber..." Nun kniete er neben mir, ballte die Hände zu Fäusten. "...aber ich halte es einfach nicht lange mit anderen Menschen aus!" Betäubt betrachtete ich ihn, als hätte ich alle Zeit der Welt dazu. Seine überschlanke Gestalt, die warme, braune Haut, die schwarzen Augen über dem sinnlich geschwungenen Mund, die kurzen Strähnen, die mich magisch anzogen, sie zu liebkosen. Das gefürchtete Hyänengelächter in meinem Kopf unterblieb, während Konrad sich wieder an mich schmiegte, mich umklammerte. "Sag es bitte", wisperte er in mein Ohr und ich begriff, was er hören wollte, legte die Arme schwer um seinen Leib. "Caraid", raunte ich erstickt an seinem Ohr, "caraid", meine Wehklage, mein Fluch, meine Hoffnung, mein Schwur. Packte Konrad grob mit einer Hand am Kinn, um ihn rücksichtslos und mit verzweifelter Vehemenz zu küssen, seinen Speichel mit meinem zu mischen, ihm kehlige Laute der Lust zu entlocken. So einfach würde ich nicht aufgeben, oh nein!!, beschloss ich in diesem Augenblick. Wenn es nötig wäre, würde ich ihn zähmen wie ein wildes Tier. In mein Haus locken und dort gefangenhalten, bis er meinen Anspruch anerkannte. »Seine Heimat werden«, ergänzte ein sehr kluger, ruhiger Gedanke meine hitzigen Phantasien skalpellscharf. Schlagartig verflog mein knebelnder Kummer. ~#~ Teil 90 (24/11/2004) Ein verwegener Plan manifestierte sich während des Sonntags, den ich damit verbrachte, Konrad zu verhätscheln, mit Plätzchen zu füttern und für ausreichende Erholung zu sorgen. Hatte ich nicht anfangs geglaubt, einen Flüchtigen vor mir zu haben? Einen Getriebenen ohne Ziel? Einen Menschen, der in einem Trauma lebte, das ihn unsichtbar umgab und von allen anderen separierte? Für jedes Problem gab es eine Lösung. Manchmal geriet einfach die Reihenfolge durcheinander, doch einem Ingenieur, der sich mit Ablaufprogrammierung von automatisierten Konstruktionsverfahren beschäftigte, konnte eine solche Feststellung nicht schrecken. Im Gegenteil. Fortan bedachte ich Konrad, so, wie er es gewünscht hatte, mit seinem neuen Namen: Caraid. Dem Umstand gedankt, dass meine Mutter unterschiedliche Phasen ihrer Liebesromangenerationen durchlaufen hatte, in der auch eine verzeichnet war, die sich mit der gälischen Sprache befasste. Caraid, ein männlicher Freund. Mein Freund. Um dessen Gunst ich kämpfen wollte gegen den Sog der Entwurzelung, der ihn zu verschlingen drohte. Vermochte ich es auch nicht, Tätowierungen anzubringen, machtlos war ich deshalb noch nicht! Also plante ich heimlich, mit meinem Caraid an das andere Ende der Welt zu fahren, in das Land, vor dessen Gewässern vor 22 Jahren sein Schicksal sich gewendet hatte. Ein Kind, das entgegen allen Widrigkeiten und schlechten Chancen überlebt hatte und arglos duschte, während ich seinen Reisepass an mich brachte und durchsah. Ein Visa für Thailand, sonst gähnte mir Leere entgegen. Hervorragend für meine Zwecke erwies es sich, dass mich eine Geschäftsreise nach Berlin bringen würde, in ausreichender Zeit, zuvor schriftlich die Anträge auf Visa einzureichen und die persönliche Abholung zu vereinbaren. Konrad freute sich über die Aussicht, nach Berlin zu fliegen und dort zu übernachten, während sich der Winter in das Land stahl. Doch eine Sightseeing-Tour war nicht eingeplant, als ich ihn mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Stadtplan bewaffnet zur Botschaft des Königreiches Kambodscha lotste. Wie angewurzelt blieb er vor dem bezeichnenden Schild stehen. "Bitte!", ich fasste nach seinem Arm, flehte in seine Augen, "begleite mich hinein, Caraid." Verunsichert folgte er mir und bald schon begriff ich, was ihn in die Defensive trieb. Kaum reihten wir uns ein, Reisepässe und Entgelt für die Bearbeitung artig präsentierend, wurde er bereits in Khmer angesprochen. Konrads Gesicht wurde undurchdringlich, während er leise und auf Deutsch erklärte, kein Wort verstanden zu haben. Irritierte Blicke, Kontrolle des Reisepasses, obwohl ich bereits im Vorfeld eine Kurzfassung von Konrads Biographie mitgeteilt hatte. Getuschel, bis dann endlich der freundliche Wunsch uns nach draußen in die winterkalte Luft begleitete, wir mögen unseren Aufenthalt genießen. Mit hochgezogenen Schultern stapfte er vor mir her, nunmehr entschlossen, bis zum Einchecken für die Nacht die Sehenswürdigkeiten in Angriff zu nehmen. Ich folgte ihm stumm, die wertvollen Visa eng am Körper. ~#~ Teil 91 (25/11/2004) "Was versprichst du dir davon?", erkundigte er sich, während ich meine schmerzenden Füße wehleidig in seifigem Wasser massierte und mich nach Hause in mein Bett wünschte. Zu erschöpft, um meine Antwort zu überdenken, platzte ich gedankenlos heraus, "deiner Suche ein Ende bereiten, damit du bei mir bleibst." Im gleichen Augenblick schoss mir feurige Röte in die Wangen, sodass ich mich noch tiefer über den Wannenrand beugte, mit den Zehen eilig Begleitgeräusche erzeugte. Konrad setzte sich neben mich auf den Wannenrand, studierte mein Profil. "Ich kann das nicht bezahlen", erklärte er sachlich. Was mich zu einer harschen Replik herausforderte, "das brauchst du auch nicht! Ich will dich bei mir haben, und das ist die einzige Lösung, die sich bietet. Sie ist bei Erfolg jeden einzelnen Cent wert!" "Und wie hast du dir das Ganze vorgestellt?" Seine Finger streiften meine versöhnlich. Durchatmend besann ich mich auf Selbstbeherrschung, fixierte die farblosen Kacheln. "Das Visum gestattet uns einen Monat Aufenthalt. Wir fliegen mit Thai Airways nach Bangkok und im Anschluss nach Phnom Penh. Das Hotel ist mit einem Doppelzimmer für eine Woche gemietet. Ich habe die deutsche Botschaft vor Ort schon schriftlich um Hilfe gebeten, wie man Angehörige finden kann." "Ich glaube nicht, dass ich mich erinnern kann", erklärte Konrad mir leise, "wir waren schon in Thailand, aber nichts kam mir bekannt vor, damals." Um Zeit zu gewinnen, kletterte ich unbeholfen aus der Wanne, trocknete meine geplagten Füße ab und streifte mir wollene Socken über, bevor ich die Beine meiner Pyjamahose herunterrollte. "Versuch macht kluch", scherzte ich lahm, schluckte an seinem ernsten Blick, streckte die Hand aus, um über seine Wange zu streicheln. "Bitte, Caraid, ein Versuch. Vielleicht ist es die Antwort?", wisperte ich beklommen. Er setzte ein betont zuversichtliches Lächeln auf, fasste meine Hand und ließ sich von mir aufhelfen. In dieser Nacht schliefen wir beide lange nicht, hielten uns umschlungen und lauschten auf unsere unruhigen Herzen. Der Abschied von Berlin fiel leicht, denn es schneeregnete und der Himmel drohte, sich aus Verzweiflung über die trübe Stimmung auf unsere Köpfe zu stürzen. Die nächsten Tage verflogen förmlich. In hektischer Betriebsamkeit kaufte ich eine überlebensnotwendige Reiseapotheke zusammen, kontrollierte unsere Impfpässe, die glücklicherweise keine Lücken aufwiesen. Wusch im Akkord eingepackte Sommerbekleidung und las seitenweise Reiseberichte und Reportagen über das fremde Land, in das ich aus einer verzweifelten Lage reisen wollte. Nun packte mich die Panik. Auch wenn ich Geschäftsreisen gewöhnt war, so stellte ein armes, vermintes, tropisches Land, dessen Sprache ich nicht beherrschte, mit der Mission, Konrads Familie zu finden, mich vor gewaltige Hindernisse. Konrad selbst blieb ruhig, transportierte einige Kartons und Tüten aus seiner Wohngemeinschaft mit Markus in meine Wohnung. Gab im Klinikum seine Absenz bekannt und meldete Vertretungsbedarf bei der Agentur an, die ihn prompt als Träger kündigte. Bis zum Abflug, der gegen zehn Uhr Abends anstand, umkreisten wir einander wie nervöse Seiltänzer: ein Fehltritt konnte den Absturz bringen. Die Flugzeit währte lange, Einchecken, Auschecken, das Gepäck abpassen, Sicherheitskontrollen über Sicherheitskontrollen. Als wir endlich auf dem Boden des Königreichs Kambodscha standen, in der letzten Zwiebelschicht unserer Bekleidung, hatte ich Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Fast einen ganzen Tag verloren, von Uniformen und einer kehligen Sprache umschwirrt lehnte ich mich schwer an Konrad, überließ ihm die Führung. ~#~ Teil 92 (26/11/2004) Konrads optisches Erscheinungsbild, eine einfache Stoffhose über dünnen Segeltuchschuhen, dazu ein schlicht geschnittenes Leinenhemd, täuschte auch den Taxifahrer, der uns zu unserem Hotel brachte, für einige Augenblicke. Er glaubte wohl, dass Konrad ihn auf Englisch ansprach, weil er mit einem Fremden,- mir-, unterwegs war, wechselte dann vertraulich in die eigene Sprache, doch Konrad schüttelte bloß müde den Kopf. Mir schossen mit pochendem Schädel angesichts der unglaublichen Luftfeuchtigkeit und Hitze die Warnungen durch den Kopf, vor Raubüberfällen, Spaziergängen, der einsetzenden Dunkelheit, den schlechten Verkehrsmitteln und -straßen... Doch hier wirkte nichts bedrohlich. Erstaunlich komplikationsfrei lief das Einchecken. Der freundliche und gut verständliche Angestellte am Empfang teilte sofort Broschüren aus, die Ausflüge zum höchsten Heiligtum, dem Angkor Wat, beschrieben, riet uns fürsorglich, ausreichend zu trinken und die Moskitonetze zu benutzen. Ich wollte nur noch schlafen. Konrad jedoch, grausam-besorgter Wächter über mein Wohlergehen, zwang mich zu einer Dusche, dem Wechsel der Wäsche und einem Gang an die Bar. Softgetränke ohne Eis, um Salmonellen und anderen Unerfreulichkeiten zu entgehen, Mineralwasser und Obstsäfte-, ich hatte das Gefühl, mein Magen würde lautstark Seegang vermelden, doch Konrad blieb unerbittlich. Erst danach gestattete er mir, unter den enttäuschten Blicken der attraktiv zurechtgemachten Gesellschafterinnen, in mein Lager zu klettern, zog das Netz streng über mir zu. Der Morgen kam, ich ebenfalls, allerdings mit sehr viel mehr Mühe und lediglich auf die zitternden Beine. Konrad selbst hatte weniger Schwierigkeiten mit der klimatischen Herausforderung, verputzte aber ebenso ausgehungert wie ich ganze Berge des Frühstücks, das man uns bot. Der Service war aufmerksam, rührend um uns bemüht, was mich glauben ließ, sie hätten aufgrund von Konrads Reisepass eine gewisse Vermutung, was sein Schicksal anging. Mit einem weiteren Taxi gelangten wir zur deutschen Botschaft, in der ich meine Verabredung einzuhalten gedachte. Der Botschafter selbst empfing uns, was die schlechten Nachrichten, die er überbrachte, nicht sonderlich linderte: mit derart mageren Hinweisen konnte schlechterdings unmöglich eine Familie ausfindig gemacht werden. Allerdings, und dies bedeutete ihm eine Menge, habe er einen "Berater" gefunden, der uns gegen ein geringes Honorar helfen würde. In zwei Tagen. Ich zögerte, doch Konrad nahm die Nachricht mit Erleichterung zur Kenntnis. "Dann lass uns doch nach Angkor fliegen, ja? Flughafen Siem Reap, eine Tour mit Führung findet morgen statt!" Er fasste unbekümmert meine Hand, zupfte wie ein Kind voller Begeisterung. Natürlich stimmte ich zu. Der Ausflug in die weltberühmten Tempelanlagen gestaltete sich jedoch für mich als Tortur. Die feuchte Hitze, die Stechmückenschwärme, Stufen über Stufen-, die anderen Teilnehmer, häufig sehr viel älter, waren um Längen zäher als ich selbst. Konrad blieb an meiner Seite, trug den Proviant und die einfache Schnappschusskamera, spannte den Sonnenschirm über mir auf und bot mir sogar seinen Schoß für eine Siesta. Trotz Sonnencreme, Hut, geschlossener Tropenkleidung und wirklich sparsamen Bewegungen kroch ich wie ein Zombie auf dem Zahnfleisch meiner Willenskraft, bis wir glücklich mit Einbruch der Dunkelheit unser Hotel erreichten. "Tut mir leid, wirklich", tätschelte ich matt Konrads Hand, der auf meiner Bettkante saß und meine Stirn abtupfte, "beim nächsten Mal nehmen wir uns mehr Zeit, ja?" "Schon gut", ein Kuss trocknete meine Lippen, "schlaf jetzt, Rowan." ~#~ Teil 93 (27/11/2004) Ich wusste sofort, dass etwas Fundamentales nicht stimmte, als ich die Augen aufschlug. Zum Ersten waren diese nicht verklebt, zweitens zeigten sich meine Gedanken klar und rational, drittens lag ich nicht in meinem eigenen klammen Schweiß und viertens: ich war allein. Hastig kletterte ich unter Flüchen aus Bett und Moskitonetz, hetzte in das kleine Badezimmer, ohne Hoffnung, dass Konrad sich dort befinden könnte. Wusch mich, rasierte mich, meine rot-fleckige Gesichtsfarbe ignorierend, zog mich eilends an und rannte die Stufen hinab in den Speisesaal. Ich war natürlich spät dran, was die freundlichen Menschen nicht hinderte, mich mit einem munteren Gruß und höflichen Gesten auf meinen Platz zu komplimentieren und mir ein Frühstück zu servieren. Beschämt bremste ich meine Sorge um Konrad angesichts solcher Rücksichtnahme, bedankte mich fortwährend und erhielt mit dem frisch gepressten Saft eine handgeschriebene Nachricht. [Rowan, konnte nicht schlafen. Treffe dich an der Botschaft. Keine Sorge, C.] »Gut«, dachte ich, während ich mit gezwungener Ruhe tafelte, »er sieht aus wie ein Einheimischer, aber wir wurden doch ausdrücklich gewarnt! Wie kann er nur so sorglos sein?! Er hätte doch mit mir reden können!« »Oder andere Dinge tun«, offerierte meine in den letzten Wochen stark vernachlässigte Libido hoffnungsvoll. »Bei dem Klima?! Nur über meiner Leiche!«, seufzte ich verletzt. Also machte ich mich allein per Taxi auf den Weg zur Botschaft. Dort wartete Konrad im Schatten, und ich musste an mich halten, ihn nicht an mich zu reißen, zu umarmen und dann energisch durchzuschütteln. "Ich habe mich gesorgt!!", beklagte ich mich, fasste seine Hände impulsiv. Konrad sah mich lediglich an, ernst, stumm, ohne eine Entschuldigung, wandte sich dann ab. "Da hinten ist unser Führer." Onkel Kang, wie er sich nannte, war ein säbelbeiniger, munterer Greis mit listigen Augen und einem winzigen Urenkel auf dem krummen Rücken, der uns großäugig bestaunte und sich dann in tiefen Schlaf begab. Unter Kangs Führung erreichten wir ein Teehaus, ließen uns dort nieder, entfernt von den anderen Gästen, die spielten, verhandelten oder schwatzten und uns mit freundlich-argwöhnischen Blicken bedachten. Zu meiner Verblüffung mischte Kang Französisch und Englisch mit Khmer, von deutschen Vokabeln durchsetzt. Während ich Mühe hatte, die braunen Zahnstümpfe zu ignorieren, antwortete Konrad bereitwillig auf die Fragen Kangs zu seiner Herkunft und seinem Leben, zeigte das Bild vor, das ihn in bei der Aufnahme auf dem Schiff darstellte. Kangs Leben, von dem er mit bewegten Gesten berichtete, immer lächelnd, entsprach einer Odyssee, aber einer glücklichen. Denn er hatte überlebt, sogar fremde Sprachen gelernt und konnte noch seinen Kindeskindern von den Kriegen und der Not berichten, auch wenn diese, wie er nachsichtig schmunzelte, lieber an die Zukunft dachten. Dann, überraschend für uns beide, denn wir zuckten unisono zusammen, fasste er kräftig nach Konrads Gesicht, betastete es konzentriert. Studierte das Bild eingehend, drehte Konrads Kopf hin und her, zupfte an den Haarsträhnen, ließ sich Konrads Hände geben, um die Finger abzumessen. Möglicherweise, eröffnete er uns knapp, gebe es keine Antwort auf unsere Suche, selbst wenn man ein aktuelles Bild von Konrad veröffentlichen würde, um Verwandtschaften zu erkennen. Denn er könne ein Mischling sein, vietnamesisch oder sogar mit chinesischen Anteilen. Ich war sprachlos, obwohl ich zugeben musste, dass es mir nicht leichtfiel, die Physiognomie der unterschiedlichen Völker treffsicher zu erkennen. "Also hat man mich weggeschickt, weil ich ein Besatzerkind bin?!" ~#~ Teil 94 (28/11/2004) Stumm kehrten wir am Abend in unser Hotel zurück, nahmen einige Drinks an der Bar und zogen uns zurück auf unser Zimmer. "Wir werden trotzdem dein Bild auf die Suchlisten setzen lassen", verkündete ich mit trotzigem Nachdruck, "er war sich schließlich nicht sicher!" Konrad stand im Badezimmer vor dem Spiegel, wortlos wie seit unserem Abschied von Kang, den ich für seine Mühe großzügig entlohnt hatte. "Ich glaube nicht, dass er sich irrt", widersprach Konrad mir schließlich leise, löschte das Licht und kroch unter sein Moskitonetz, die Beine eng an den Leib gezogen. "Das würde es erklären. Der Einmarsch der vietnamesischen Besatzer, der Krieg. Vielleicht war es für meine Mutter die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten. Möglicherweise habe ich Halbgeschwister, die sie nicht verlassen konnte", spekulierte er mit gepresster Stimme, senkte das Kinn auf die Knie, "eine gute Gelegenheit, einen ungewollten Bastard loszuwerden, ohne ihn töten zu müssen." Ich biss mir auf die Lippen, schluckte an Kummer, weil mein rücksichtsloser Plan ihn in eine noch furchtbarere Lage gestürzt hatte. Schlich mich gesenkten Haupts unter sein Moskitonetz, um verstört über seine nackten Beine zu streicheln, die wie eine Palisade jede Annäherung abwiesen. "Es muss nicht so sein", versuchte ich es mit dünner Stimme, "immerhin sind jahrelang viele Kambodschaner über das Meer geflohen. In jedem Fall dürfen wir nicht die Hoffnung verlieren..." "Welche Hoffnung denn?!", unterbrach er mich aufgebracht, löste seinen Belagerungszustand, um mich unversehens auf den Rücken zu befördern und über mir zu kauern. "Wovon redest du da eigentlich?! Ich verstehe kein Khmer, ich erinnere mich an nichts! All das hier berührt gar nichts in mir! Und es hat nichts, NICHTS mit mir zu tun!" Während ich noch erschrocken nach Atem rang, sprang er über mich hinweg, verließ das Zimmer. Ich wagte nicht, ihm zu folgen, wartete zusammengerollt in seinem Bett, denn eine Gewissheit konnte ich mir zugestehen: in diesem Land würde er wieder bei mir auftauchen. In unruhigem Halbschlaf bemerkte ich seine Rückkehr in der Frühe, wie er mein Bett wählte, um mich nicht aufzuwecken. Schlaftrunken erhob ich mich, kletterte unfallfrei (höchst befremdlich) durch zwei Moskitonetze, um mich an ihn zu schmiegen und tief seinen Geruch in mir aufzunehmen. Die Ahnung von Salz irritiere mich beschämenderweise nicht. Beim Frühstück, das wir schweigend und matt absolvierten, schlug Konrad vor, dass wir die Gedenkstätte der Killing Fields besuchen sollten, im ehemaligen Gefängnis Tuol Sleng eine Ausstellung. Ich wollte ihm den Wunsch nicht abschlagen, obwohl mir der Sinn nicht gerade nach dieser harten Kost stand. Doch meine Vorstellungen wurden von der Realität um Lichtjahre übertroffen. Gelang es mir noch, in der Ausstellung mühsam die Fassung zu wahren und jegliche Imaginationskraft mit aller Gewalt zu unterdrücken, so verlor ich den ungleichen Kampf in der Gedenkstätte. Über eine Millionen Tote, fast ein Zehntel der Bevölkerung, gejagt, gefoltert, verhungert, in Stücke gerissen von Minen... Ein weites Feld, trügerisch grün und harmlos barg die verrottenden Überreste unzähliger Opfer, von denen nur exemplarisch einige Schädel aufgetürmt worden waren. Ich konnte Konrads Hand nicht mehr loslassen, meine andere hielt krampfhaft meinen Magen in Schach. Eiskalte Schauer unbeschreiblichen Grauens jagten ohne Pause über meinen Körper, trotz der brütenden Hitze, der freundlichen Führer, der fernöstlichen Idylle. Erschüttert stolperte ich wie aufgezogen hinaus ins Freie, an Konrads Hand, unfähig, zu weinen oder diese entsetzlichen Gefühle, die Scham und Todesangst vor meinen Mitmenschen und mir selbst abzuschütteln. ~#~ Teil 95 (29/11/2004) »...suddenly I know that I'm not sleeping.« Meine Wahrnehmung veränderte sich. Die Postkartenidylle verschwand, endlich sah ich klar. Die lächelnden Menschen, von denen so viele verkrüppelt waren. Die Warnschilder, die ungleiche Bevölkerungsstruktur, die versteckte Armut. Die untergehenden Kulturschätze, die man mit großer Mühe zu retten versuchte, dem Verfall eine Gnadenfrist abtrotzte. Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass ein Besuch hier etwas veränderte?! Was hatte ich beweisen wollen?! Dass Konrad dankbar für sein Wohlergehen ein Schlussstrich ziehen sollte, wenn sich keine Spur in seine Vergangenheit aufnehmen ließ?! Ich überschüttete mich selbst mit Vorwürfen, um nicht auf unserem Zimmer von den furchtbaren Bildern dazu verleitet zu werden, meinen bescheidenen Mageninhalt wieder von mir zu geben. Endlich sammelte ich mich so weit, um Konrad gegenüberzutreten und mich zu entschuldigen. Er blickte mich reglos an, matt beinahe, als hätten meine dürren Worte ihm den finalen Schlag versetzt. Reue erfüllte mich, gepaart mit Selbstmitleid. Hätte ich doch nie diese dämliche Idee verfolgt! Wären wir Zuhause geblieben, wäre alles noch in Ordnung! Ich verkroch mich in mein Bett und schmorte in meinem eigenen Saft. Durchaus wörtlich zu nehmen, denn ich schwitzte und fror abwechselnd, drehte mich unruhig hin und her, fand keinen erholsamen Schlaf, verfolgt von Albträumen, die die Ereignisse des Tages verarbeiteten. Als ich zerschlagen gegen Morgen eine Dusche erwog und den Kleiderwechsel, war das Bett neben mir unberührt. Ohne Gewissensbisse machte ich es mir darin bequem, tröstete mich mit der Ahnung von Duft, die dem Laken anhing. Wenige Stunden später weckte mich Konrad mit gepackten Taschen. "Wir frühstücken noch und checken dann aus. Unser Flieger nach Bangkok geht in drei Stunden." Ich war sprachlos und benommen, folgte seinen knappen Anweisungen ohne Widerstand, diskutierte nicht über seine Entscheidung, denn er hatte umsichtig alles organisiert, was die Änderung unserer Pläne betraf. Wir landeten in Bangkok mit einem halben Tag Aufenthalt bis zum Weiterflug. Konrad entsorgte Reiseunterlagen, Servietten und Broschüren in einen Papierkorb. "Ich will nie wieder dahin zurück." Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, nahm die unausgesprochene Anklage an, doch Konrad verblüffte mich mit einem Lächeln, zog mich an der Hand aus dem Airport hinaus. "Los, komm, lass uns ein wenig Spaß haben!" Seine Munterkeit irritierte mich, doch in feiger Verantwortungslosigkeit schloss ich mich ihm an, erleichtert, noch einmal am bitteren Giftkelch der Verdammnis vorbeigekommen zu sein. Überließ mich Konrads unternehmungslustiger Regie, die uns in ein großes Hotel führte, das stundenweise Zimmer vermietete. Ich konnte kaum glauben, dass ich mich in einem solchen Etablissement wiederfand. Sonderlich viel Zeit zur Kontemplation wurde mir allerdings nicht zugestanden, denn Konrad entblößte mich mit sichtlichem Vergnügen an meiner Ratlosigkeit, bevor er sich unzeremoniell selbst entkleidete. Das Bett war für europäische Standards nicht gerade groß, die Kondome unglaublich teuer, -bestand man zumindest auf Markenprodukte-, doch wir wollten wenigstens keine Spuren hinterlassen. Aneinander geschmiegt hielten wir für einen Moment inne, lächelten uns dann offen begehrlich an. "Caraid, das habe ich vermisst." ~#~ Teil 96 (30/11/2004) Nicht gerade ein romantisches Entree, aber Konrad stand wohl auch nicht der Sinn nach Liebesschwüren, denn er überzog mich mit gezielten Streicheleinheiten, beugte sich über mich, um mir seinen verwegenen Wunsch ins Ohr zu flüstern. Auch wenn ich eine schamvolle Neugierde nicht ganz verneinen konnte, erfüllte mich seine Bitte doch mit Besorgnis. Was mich nicht hinderte, besonders, da er handgreiflich meinen eigenen Lustgewinn in Angriff nahm, ein Kondom über zwei Finger zu streifen und zwischen seinen mit meinen verschlungenen Gliedern auf Expedition zu gehen. Man las so viele Dinge und hörte sie, Leistungsdruck und Perfektion verlangten nach persönlichem Einsatz und Wagemut...mich hielten nicht nur seine Küsse sondern auch seine energischen Finger wortwörtlich bei der Stange. Angespannt bahnte ich mir einen Eingang in seinen Körper, sofort bereit, beim ersten Anzeichen von Schmerz den Rückzug anzutreten, denn eingestandenermaßen konnte ich mir kaum vorstellen, angenehme Empfindungen auszulösen. Konrad, mir zugewandt, so wie ich ihm, zuckte unerwartet heftig, rang mit geweiteten Augen nach Luft, bohrte die Fingerspitzen instinktiv in mein geschwollenes und sehr sensibles Fleisch. Was uns beiden innerhalb kürzester Zeit einen heftigen Energieaustausch bescherte. Platt wie ein Käfer fand ich mich auf dem Rücken, atemlos und ein wenig verschreckt von der Intensität, die ich bei Konrad ausgelöst hatte. Der sich an mich schmiegte und mit glühenden Wangen keuchend Küsse verteilte. Verzaubert starrte ich in sein Gesicht, so wunderschön mit den Spuren der lustvollen Erregung versehen, gleichzeitig befreit und nahezu euphorisch ob dieser Erfahrung. "Noch mal?", spornte er mich an, saugte sich wie ein Tintenfisch an meinem Brustkorb fest, stiepte mich mit spitzen Fingern keck in die kurzen Rippen, kaute ein Loch in meinen Bauch, wo sich mein Bauchnabel befand... Kurzum, bald krümmte ich mich vor Lachen, balgte mit ihm herum, bis ich so übermütig war, dass er voller Erwartungsfreude auf meinem Unterleib Platz nahm und die Gewissheit verspürte, dass ich keinen Rückzieher mehr machen würde. Was ich nicht tat. So gut es mir möglich war, assistierte ich Konrad, bot mit einem aufgestellten Bein eine Stütze, damit er den geheimnisvoll-verruchten Hochgenuss erringen konnte, der seine Phantasien durchzog. Dieses Mal konnte ich ihm wirklich mühelos folgen, denn nun gab es kein Entweichen vor den ruckartigen, muskulären Kontraktionen, die uns gemeinsam erschütterten. Vage hörte ich sein Stöhnen durch meine eigenen Laute hindurch, umklammerte seine Hände, überantwortete fahnenflüchtig die Erektionen ihrem Schicksal, brannte mir Konrads von sexueller Erfüllung gezeichnetes Gesicht in das Gedächtnis. Auch lange Minuten danach, zwischen nachlassendem Herzrasen, Lungenflügeleinfalten und zerbissene Lippen befeuchten verlor sich mein einziger, zusammenhängender Gedanken nicht: »ich will ihn nicht verlieren.« Wir duschten sehr viel weniger energiegeladen, riefen uns ein Taxi und durchliefen die Routine, bis endlich der lange Flug auf uns wartete. Konrad schlief die gesamte Flugzeit hindurch an meiner Seite. Ich neidete ihm diesen Luxus nicht, weil mir mein Privileg endlich mit aller Deutlichkeit bewusst wurde. Entgegen aller Chancen und Wahrscheinlichkeiten hatte ein kleines Kind Unglaubliches überlebt. Eine gewaltige Odyssee überstanden und vertraute sich mir nun als Erwachsener an. Ein Sturm, ein Piratenschiff, ein Unfall... eine Kleinigkeit hätte genügt, und ich hätte niemals unter der warmen Decke seine Hand halten können wie jetzt. Noch während wir saßen, vermisste ich ihn bereits mit jeder einzelnen Faser meines Daseins. ~#~ Epilog Wir landeten zerschlagen nach der langen Flugzeit, warteten mit erschöpfter Resignation auf die Abfertigung, dann auf unser Gepäck, schleppten uns zum Taxistand und konnten endlich die Aussicht auf ein bequemes, warmes und gemütliches Bett goutieren. Regen mit Schneegriesel ordnete Generalverdunkelung an. Ob Tag oder Nacht spielte unter diesen Umständen keine Rolle mehr. Ich ignorierte die Postberge, den hysterisch blinkenden Anrufbeantworter, die abgestandene Luft, die uns empfing. Parkte die Taschen ungeöffnet im Flur, fasste Konrads ebenso kalte Hand, um ihn ins Schlafzimmer zu ziehen und unter die Decken zu kriechen, wo wir uns mit übermüdetem Kichern auszogen und nackt aneinander kuschelten. "Endlich Zuhause", stöhnte ich erleichtert, küsste seine Nasenspitze. "Ja, endlich daheim", ergänzte Konrad, zerwühlte meine Locken, die vollkommen verwahrlost eher einem Vogelnest glichen. "Ich bin so müde", beschwerte ich mich gähnend, "ich konnte überhaupt nicht schlafen!" Er lachte leise, kitzelte mich höchst unfair, um dann die Arme um meinen Nacken zu schlingen. "Ich bin auch müde, Rowan. Schon wieder müde", zwinkerte er verschwörerisch. "Wird auch Zeit", knurrte ich, seine Nase kneifend, bevor ich mich einrollte und ihn wie einen persönlichen Wärmespender arrangierte. Als ich erwachte, nach Maßgabe der Uhr sehr viel später, war meine Seite leer. Ruckartig saß ich aufrecht, mein Herz raste. »Er ist gegangen!!!«, schrillte es überschlagend in mir, »ist er nicht!!« hielt es dissonant dagegen. "Morgen, Rowan, na, hast du mich vermisst?" Konrad kletterte in seinem einfachen Pyjama über die Bettdecke, um sich gemütlich neben mir einzukuscheln. "Zu viel Kaffee. Wirklich störend." »Er... war nur auf dem Klo«, stellte der Kreischchor fassungslos in meinem dröhnenden Schädel fest. »Gebt endlich Ruhe!«, ordnete ich siegessicher an, drehte mich zu Konrad herum. "Ich hab dich vermisst, Caraid", schnurrte ich an seinen Lippen, küsste ihn sanft, um dann in seine Augen zu sehen, "geh nicht mehr weg." Mein absoluter Ernst. Konrad streichelte konzentriert über meine Schläfen, durch meine verkletteten Locken, über meine Wangen und das Kinn, studierte mich wie ein wertvolles Kunstwerk. Ich hoffte inständig, diese Prüfung würde zu meinen Gunsten ausfallen. "Ich gehe nicht mehr weg", antwortete er mir schließlich ruhig, "ich bin hier zu Hause. Meine Heimat ist bei dir, Rowan." Noch enger anrückend verflüchtigte sich der Sauerstoff und jedes Pathos. "...ich liebe dich...", rutschte mir hastig heraus, bevor ich sein Gesicht mit beiden Händen umfasste und mit Küssen beregnete. Ungeachtet meiner wenig formvollendeten Ausführung verstand Konrad meinen Antrag als solchen, und ich war mir meines Ernstes absolut sicher. Ihn oder keinen anderen Menschen auf der Welt. Und wenn sich das nach einem der kitschigen Liebesromane meiner Mutter anhörte, dann kümmerte mich das keinen Deut. "Rowan?", rief er mich aus meiner Sturm-und-Drang-Phase, "kann ich noch ein wenig schlafen? Ich bin so müde." Ich grinste und bot meine Schulterbeuge als Ruheplatz. Er konnte Jahre Dornröschenschlaf nachholen, solange mein Kuss ihn aufweckte. ~#~ ENDE ~#~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera