Titel: Verweile doch! Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original Sequels: »Der Flügelschlag des Schmetterlings«, »Kernfusion« FSK: ab 12 Kategorie: Spannung Ereignis: Advent 2007 Erstellt: 28.11.2007+25.12.2007 Vielen Dank an Koryu und Ema für die Vorschläge!! ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ Herausforderung-Beiträge zum Adventskalender 2007, Antwort: Verweile doch! # Beiträge (nach zeitlichem Eingang) Koryu ~ Zartbitterschokolade, mit einer sehr scharfen Chili und einer Karies verursachenden Kirschfüllung; ~ koffeintablettenabhängige Medizinstudenten; ~ anhängliche Thaikatzen Ema ~ Thermalkuppel (3 Bilder zur Inspiration); ~ Unterwassermusik (ähnlich wie bei Sanifair-Toiletten); ~ Kräuterkerze mit Weihrauch, Sandelholz, Rosmarin und Nelken als Schutz # Disclaimer ~ Kalenderbild: Meguro taikobashi yuhi no oka von Ando Hiroshige ~ Erwähnung Meister Eder: Figur aus "Pumuckel" von Ellis Kaut ~ The War of the Worlds, H. G. Wells, Hörspielbearbeitung mit Sprecher Orson Welles ~ Friedrich von Schiller, Die Glocke "Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet." (Abgewandelt als Volksweisheit mit "ob sich nicht doch was Bess'res findet"). ~ Johann Wolfgang von Goethe, Faust I "Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde geh'n!" ~ Bacharach/Hilliard: Don't go (please stay), in Versionen von Ben E. King and the Drifters und von James Brown, Godfather of soul. ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ Verweile doch! Kapitel 1 - Häuslicher Zuwachs Alles begann vor 32 Jahren, nun, um korrekt zu sein, vor 32 Jahren, acht Monaten und ungefähr zwei Wochen. Das Resultat gewisser Anstrengungen begutachtete sich an diesem Sonntag zum wiederholten Wiegenfest kritisch, es gab jedoch nichts auszusetzen, zumindest war dies die Meinung des Herren vor dem Spiegel. Marius Neithold strich noch einmal über die schlanke Krawatte, die seit vielen Jahren nicht mehr in Mode war. Moderat reflektierte sein Erscheinungsbild gewisse Ausprägungen seiner Persönlichkeit und ihrer Vorlieben. Für andere mochte er durchaus nostalgisch bis merkwürdig wirken, doch Marius quittierte entsprechende Äußerungen stets mit einem entwaffnend nachsichtigen Lächeln. Er lebte sein Credo: ein jeder nach seiner Fasson. Zugegeben, ein großer, kleiner Mann hatte das bereits geraume Zeit vor ihm propagiert, doch fundamentale Wahrheiten des Lebens kamen schließlich nie aus der Mode, nicht wahr? So schnürte er auf schwarzen Baumwollsocken zur Eingangstür seiner kleinen Zweizimmerwohnung und schlüpfte in die polierten, schwarzen Schnürschuhe. Über den Anzug mit dem cremefarbenen Hemd und der schlanken, weißen Lederkrawatte, die herrlich mondän mit dem silbernen Anzugstoff kontrastierte, wurde zum Schutz gegen die ungemütliche Witterung ein Wollmantel mit Fischgrätmuster geworfen. Wollschal und Wollmütze in Eierlikörfarbe rundeten seinen Auftritt ab. Marius verließ das Haus, um rechtzeitig zum Drei Uhr-Termin bei seiner Tante einzutreffen, die ihn einbestellt hatte, in der sicheren Überzeugung, dass er ohnehin nicht gedachte, seinen Geburtstag zu zelebrieren. Als er sich auf sein Hollandfahrrad schwang, korrigierte Marius stumm für sich diese Behauptung. Es verhielt sich nicht so, als würde er den eigenen Geburtstag grundsätzlich nicht ins Kalkül ziehen, nein, er hatte immerhin für die Skatrunde am nächsten Abend Vorkehrungen getroffen, um eine Runde auszugeben, Getränke und Stullen, dann war ja auch noch das Bowling am Freitag zu planen. Hier wurde auch eine illustre Runde versorgt! Auf dem bescheidenen Küchentisch dampfte gerade ein Kuchen, den er mittels Fertigbackmischung produziert hatte, um am morgigen, ersten Arbeitstag der Woche seine Kollegen zu erfreuen. Andererseits, und darin musste er Tante Mechthild beipflichten, waren familiär-private Feierlichkeiten schon seit Jahren kein Thema mehr. Aus diesem Grund nahm es sich durchaus verwunderlich aus, dass er zum Kaffeetrinken herbeizitiert worden war, durchaus vom Protest seiner Eltern begleitet, die weit genug entfernt auf dem Land lebten, um häufige Besuche für einen nicht mehr ganz jungen Mann ohne eigenes Gefährt auf ein Minimum zu reduzieren. Marius summte munter vor sich hin, während er kräftig in die Pedalen trat. Er war dankbar dafür, dass gerade kein herbstlicher Schauer melancholisch herabpladderte und das Ende der Farbenpracht auf den Laubbäumen betrauerte. Es war recht hinderlich, bedachte man die Tatsache, dass er Brillenträger war, da störten Tropfen und Schlieren doch gewaltig den Blick auf die Szenerie! Nach einer guten Viertelstunde ohne allzu viel Verkehr erreichte er das vornehme Villenviertel mit den hochherrschaftlichen Bürgerhäusern, die zu Anfang des vorangegangenen Jahrhunderts errichtet worden waren. Hier schien es grundsätzlich ruhiger und gedämpfter als sonst in der Großstadt zuzugehen. Marius ließ das Rad ausrollen, stieg elegant ab und bedankte sich einmal mehr stumm dafür, dass es hier keinen lästigen Querholm gab, der einen zwang, sich wie ein Cowboy herumzuschwingen. Artig drückte er den dunkel summenden Türöffner und schob sein Rad durch das imponierende Tor zum Hauseingang hin, wo er es unter die Traufe stellte. "Sehr pünktlich, mein lieber Neffe", stellte Tante Mechthild lobend fest, wie immer ein Gardemaß an aufrechter, beinahe strenger Haltung und vollendeter Manieren, denn sie erwartete ihn am oberen Ende der Eingangstreppe. "Guten Tag, Tante Mechthild", Marius zupfte vorsichtig die Wollmütze vom Kopf, um nicht seine ordentlich zurückgekämmten Haare in Unordnung zu bringen. Eine sanfte Naturwelle sorgte für die dezente Tolle, die in Kombination mit den apart gestutzten Koteletten seine Vorliebe für Musik und Mode der frühen Sechziger demonstrierte. Artig beugte er sich herunter, um eine moderat gepuderte Wange zu küssen, "vielen Dank für die Einladung." Er lächelte freundlich und registrierte, dass seine Tante sich kaum verändert hatte. Das Haar aufgesteckt und offenkundig mit Beton fixiert, Twinset mit einreihiger Perlenkette, karierter Rock, natürlich über das Knie reichend, dazu elegante, aber nicht zu hoch angesetzte Pumps: eine grande dame mit jedem Zoll, von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Spitz war auch ihre Zunge, wie er nur zu gut wusste, sie hätte ohne Mühe jeden General in den Schatten gestellt, weshalb ihr Gatte sich darauf beschränkte, ihren fähigen Händen alles zu überlassen und sich weitmöglichst allein zu beschäftigen, außerhalb ihrer unmittelbaren Aufmerksamkeit. Marius legte ab, kontrollierte in dem antiken Spiegel bei der Garderobe noch einmal sein Erscheinungsbild und folgte seiner Tante dann in den Kaffeesalon. Dort hing sein Onkel wie ein Sack alter Wäsche in einem der gewaltigen Fauteuils, schützend die Zeitung aufgeschlagen. "Guten Tag", Marius schüttelte behutsam eine altersfleckige Hand, lächelte in das müde Gesicht seines Onkels, der einen eiligen Seitenblick auf seine bessere Hälfte warf. Ihren Unmut zu erregen konnte jeden Sonntag zerstören! Die Kaffeetafel war aufwändig gedeckt, ein Umstand, den Marius sofort wohlerzogen komplimentierte und sich erst auf die vornehmen Polster der unbequemen Stühle sinken ließ, nachdem seine Tante sich arrangiert hatte. Der trockene Kuchen wurde mit reichlich echter Sahne gekrönt, während der ausgeschenkte Kaffee jeden koffeintablettenabhängigen Medizinstudenten in Verzückung versetzt hätte. Marius war diese Art der Bewirtung, die Konversation erst nach der Verköstigung vorsah, durchaus gewohnt und geriet angesichts des rasenden Pulses sowie leichten Schweißfilms auf der Stirn nicht mehr in Panik. Obwohl es altmodisch anmutete, hatte er ein Tendre für diesen Raum. Die mit einer Seidentapete bespannten Wände, die gerahmten, alten Familienporträts, die mächtigen Möbel aus Kirschbaumholz, der schwere Teppich, das alles erinnerte ihn an die Atmosphäre alter Filme, wie eine Kulisse. Beinahe konnte er noch das Aroma des Pfeifentabaks ahnen, die unaufdringliche Musik des Pianoforte, das schon seit Jahren unter einem Schonbezug dahindämmerte. Zurück in der Gegenwart, die es notwendig machte, einige Kerzen in einem Kandelaber zu entzünden, da es bereits dämmerte, fragte er sich, was seine Tante wohl bewogen haben musste, ihn einzuladen. Sein Cousin lebte in Memphis, die Cousine in Perth, was, wie sein Vater vehement behauptete, ein bedeutendes Indiz dafür war, dass man beinahe bis zum anderen Ende der Welt ziehen musste, um sich Tante Mechthilds Diktatur zu entziehen. Obwohl man mutmaßen konnte, dass zwischen Eltern und Kindern kein allzu inniges Verhältnis bestand, wollte sich Marius darüber kein Urteil erlauben. Irgendwann kam eben immer die Zeit, in der die Kinder und auch die Eltern eigene Wege einschlugen. Außerdem ging er davon aus, dass seine Tante, ganz im Gegensatz zu seinen eigenen Eltern, sehr wohl mit den modernen Kommunikationsmitteln vertraut war und sich durchaus auch rund um den Globus Gehör verschaffen konnte. Wenn man von einem nicht allzu innigen Verhältnis sprechen wollte, fand sich das wohl eher zwischen Bruder und älterer Schwester. Ihre scharfe Zunge war schließlich sogar ausschlaggebend für seinen Taufnamen gewesen! Denn eigentlich war er einen Tag vorher erwartet worden, doch die Geburt hatte sich sehr in die Länge gezogen. Dieser Umstand, dass seine Mutter eine unerträglich langatmige Person sei, die sich einfach nicht sortieren könne, wie Tante Mechthild damals urteilte, wurde noch gekrönt von ihrem Ausruf, das könne ja wohl nur ein Scherz sein, als er schließlich doch das Licht der Welt erblickte. Zu diesem denkwürdigen Zeitpunkt nämlich erklangen in einigen Hochburgen des Frohsinns gerade erste Tröten- und Fanfarenrufe zum Beginn der fünften Jahreszeit. Damit nicht genug, das einzige Kind ihres Bruders als Faschingsscherz einzustufen, hatte sie sogar gestichelt, es wäre ihrer einfältigen Schwägerin mit ihrer enervierenden Frömmelei zuzutrauen, das arme Kind auch noch nach dem Heiligen zu benennen, der an diesem Tag ebenfalls sein großes Fest feierte. Marius wusste nicht, aus welchem Grund seine Tante etwas gegen den Namen Martin hatte, doch die Taktik zeigte, wie so oft, Erfolg. In höchster Not, einen faulen Kompromiss suchend, war seinem Vater die quälende Erinnerung an Lateinstunden in den Sinn gekommen, sodass er höchst ungewöhnlich einen altrömischen Namen für seinen Sohn auswählte. "Kommen wir zur Sache", die Serviette gefaltet erhob sich Tante Mechthild gewohnt energisch, während ihr Gatte zusammenschreckte und in konditioniertem Reflex bereits den Kopf zwischen die Schultern zog. Marius entließ die Vergangenheit aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Nun arrangierte sich sein koffeingetriebener Puls durchaus mit der inneren Spannung, die sich ausbreitete. "Da du ja offenbar dein Leben als alter Junggeselle verbringen willst", eröffnete Tante Mechthild unbarmherzig das Scharmützel, "werde ich dir zwei Kätzchen aus dem letzten Wurf schenken. Ein Mann braucht eine Aufgabe", behauptete sie, warf einen bezeichnenden Seitenblick auf ihren Gemahl, der ertappt erstarrte und vergaß, Kuchenkrümel von seinem Schoß auf den Teppich zu wischen, "besonders ein Mann!" Bevor Marius Einwände erheben konnte, sich verteidigen oder den Eindruck korrigieren, den seine Tante von seinem Leben hatte, marschierte sie bereits aus dem Salon. "Zwei Kätzchen?", flüsterte Marius und warf einen fragenden Blick auf seinen Onkel. Der grinste schief, sah dann hastig weg. Von ihm war keine Unterstützung zu erwarten. Die Abwesenheit seiner Tante dauerte nicht lange, dann kehrte sie zurück, ohne Mühe eine Plastikwanne apportierend, die unpassend für das gesamte Interieur wirkte. "Hier!", uUnversehens balancierte Marius die Wanne auf dem Schoß, blickte perplex hinein. Zwei Paar große Katzenaugen in recht spitzen Gesichtern teilten seine Verwirrung. "Das sind Anais und Iris, Geschwister", Tante Mechthild entnahm einem Kabinett einen Umschlag, breitete die darin enthaltenen Dokumente aus, "Thaikatzen, mit Stammbaum, zehnte Generation. Sehr wertvoll." Marius bestaunte noch immer die Kätzchen. Sie waren so klein, dass sie wohl auf seiner Hand Platz hatten. "Aha", fühlte er sich zu einer Äußerung bemüßigt. "Sehr wertvoll!", schnappte Tante Mechthild scharf und zwang ihn, den Kopf zu heben und sie artig anzusehen, während sie ihren Vortrag fortsetzte, "meine eigene Züchtung. Leider nicht ganz geeignet für eine Ausstellung, deshalb gebe ich sie dir. Die beiden sind bereits sterilisiert, natürlich stubenrein, gut erzogen und absolut gesund. Alle Impfungen findest du hier." Ein bunter Bilderbogen an Dokumenten wurde vor Marius auf dem Kaffeetisch aufgefächert, der nicht einmal von sich selbst behaupten konnte, noch über irgendeinen Impfschutz zu verfügen. "Aha", wiederholte er eloquent. "Sie sind an die Wohnungshaltung gewöhnt", Tante Mechthild predigte unbeirrt weiter, "ich habe dir hier eine Aufstellung dessen gemacht, was du noch besorgen musst, außerdem eine Übersicht über die Tierarzttermine. Ich werde dich natürlich daran erinnern müssen", setzte sie vernichtend hinzu. Marius nahm das nicht weiter übel, lächelte nachsichtig. Er vergaß seine wenigen Termine nicht, handelte aber nach dem Grundsatz, dass man durch Schweigen im rechten Moment harmonischer durchs Leben ging. "Vielen Dank", hasardierte er höflich, "ich habe mit einem solchen Geschenk gar nicht gerechnet." Das entsprach uneingeschränkt der Wahrheit. "Es wird dir gut tun, die Katzen um dich zu haben. Sie sind anhänglich, intelligent und robust, ein hervorragendes Vorbild." Tante Mechthild hatte IMMER das letzte Wort. Die implizierte Beleidigung perlte an Marius ab. Er beäugte erneut seine beiden neuen Mitbewohnerinnen. Die musterten ihn aus schokoladenbraunen Masken aufmerksam. Unglaublich blaue Augen schienen ihn zu durchleuchten, dann niesten beide Katzen. "Sie sind doch nicht allergisch gegen mich, oder?", Marius balancierte mit der Wanne, wagte nicht, einfach hineinzugreifen. Er hatte in seinem Leben noch nie ein Tier gehalten und pflegte in seiner eigenen Wohnung nicht einmal Pflanzen. "Unsinn!", schnaubte Tante Mechthild energisch, weshalb die kleinen Katzen sofort in Deckung gingen. »Aha!«, dachte Marius amüsiert, »sie sind definitiv intelligent!« "Und wie alt sind sie?", hangelte er sich durch einen Dialog, den er pflegte, wenn es um Hunde oder Babys ging. Hauptsache, die andere Partei konnte ein Ventil finden, ausführlich zu reden, dann musste er nämlich bloß noch lauschen. Mangelnde Kenntnis fiel nicht so sehr auf, wenn man die Ohren aufsperrte. "Sechs Monate", verkündete Tante Mechthild, erhob sich erneut, packte die Dokumente in den Umschlag, "du wirst dich nun sicherlich verabschieden möchten, da es bereits dunkel wird. Ich habe noch ein Paket Katzenstreu und einige Dosen der Nahrung, die sie gern essen, für dich zusammengestellt." Während Marius, mit der Wanne und den beiden Kätzchen bewaffnet, seinem Onkel ohne Händedruck einen Abschiedsgruß entbot, marschierte sie voran. "Keine Sorge, sie sind darauf geeicht, mit Katzennahrung aus der Dose auszukommen, ich kenne ja deine finanzielle Lage", ein subtiler Hinweis darauf, dass er weder über einen Wagen verfügte, noch jedes Jahr pünktlich in den Urlaub flog. Marius zwängte sich durch die Tür und stellte die Wanne an der Garderobe ab. Der Transport würde gar nicht so einfach werden, das wurde ihm nun deutlich, denn seine treuen Packtaschen, die jeden Einkauf zum Kinderspiel machten, warteten zu Hause, in seiner Wohnung. Trotzdem warf er sich optimistisch seinen Mantel über, stapelte die milden Beigaben in den Deckel der Katzentoilette und transportierte seine Last die Eingangsstufen hinunter. Mit dem Gepäckträger hinten, der eine sehr gut geölte und funktionstüchtige Feder aufwies, klemmte er die weiße Wanne samt Inhalt fest. So weit, so gut. Unter den kritischen Augen Tante Mechthilds, die zu gern ein Mannsbild hilflos scheitern sah, legte er seinen Schal über die Kätzchen, vorsichtig, damit sie nicht erstickten. Nun galt es, auf dem vorderen Gepäckträger, der lediglich aus einer offenen Plattform bestand, die blaue Plastikwanne zu befestigen und auch derart auszutarieren, dass die kleinen Passagiere nicht während der Fahrt ein Unglück erlitten. Marius, durch genügend Koffein aufgeputscht, um damit Rekorde zu erzielen, knöpfte seine Anzugjacke auf und zupfte mit nonchalanter Eleganz den schmalen Ledergürtel aus den Schlaufen der Anzughose. Nicht umsonst hatte er ausreichend Abenteuerromane gelesen! Den Gürtel um die schmale Seite der Plastikwanne gezogen und geschickt befestigt sah er sich in der glücklichen Lage, Tante Mechthild ein anerkennendes Schnauben zu entlocken. Abschließend topfte er sich die Wollmütze auf, knöpfte Anzug und Wollmantel zu, bedankte sich höflich für das reichliche Geschenk und die Beköstigung, um das treue Stahlross vom Ständer zu heben, behände aufzusteigen und mit Trafolicht Richtung Tor zu rollen. Unerwartet problemlos, da gemächlich und bedacht, kutschierte er seine kostbare Fracht durch die abendlichen Straßen. In der Ferne sah er in einem Park den Schein eines hochlodernden Martinsfeuers, hörte Gesang und bemerkte einzelne Laternen, die in den Fenstern standen. Der Asphalt war nass, trauriger Laubmatsch wartete schlüpfrig auf unbedachte Flanierende. Immer wieder warf Marius einen raschen Blick auf seinen Wollschal. Darunter spitzten zwei kleine Köpfe über den Rand der Plastikwanne. Er fragte sich, ob Anais und Iris, die er nur unterscheiden konnte, wenn er die eingestickte Aufschrift auf ihren Halsbändern entzifferte, dieses Abenteuer genossen. Ohne Zwischenfälle erreichte er die Siedlung, in der er residierte. Sie bestand aus vierstöckigen Wohnhäusern, die zu einem offenen Block um einen kleinen Park angeordnet worden waren, reichlich Betonvorhang der frühen Siebziger, alles ein wenig grob und kantig. Marius stieg von seinem Rad, bockte es auf den Ständer und löste die doppelten Schlösser am Fahrradständer aus. Das musste für den Moment reichen, bis er die beiden Plastikwannen nacheinander ins Treppenhaus befördert hatte. Nun stand er zögernd vor einer ungewohnten Entscheidung: konnte er die Kätzchen hier im Treppenhaus einen Augenblick allein lassen, um das Fahrrad im Schuppen zu verstauen oder war das zu riskant? Kurzentschlossen hockte er sich vor die Plastikwanne und zog seinen Schal weg. Anais und Iris wirkten recht munter, maunzten freundlich und gähnten entspannt. "Also gut!", machte Marius sich Mut, streckte beide Hände aus und schob sie sehr vorsichtig unter die Kätzchen. Die kletterten bereitwillig auf die Fläche. Blitzartig in seiner eigenen Wahrnehmung bugsierte er die beiden in je eine der großen Manteltaschen, schob die Schutzklappen nach innen, damit Licht und Luft zu sehen waren. Offenkundig, urteilte man nach den Geräuschen, empfanden die beiden diesen Ausflug ebenfalls als Abenteuer und nicht als Willkür, sodass er sich sputen konnte, sein Fahrrad auszulösen und im Schuppen zu verstauen, dann hastete er wieder zurück in das Treppenhaus, stapelte die Wannen und kletterte in den ersten Stock. Wieder hieß es, sehr vorsichtig in die Hocke gehen, die Wannen abstellen, die durch ihren Inhalt bemerkenswert großes Gewicht hatten, sich aufrichten, den Zustand der Kätzchen prüfen, bevor er den Schlüssel zwischen den Zähnen entfernte und die Wohnungstür entsperrte. "Mein lieber Jolly!", kommentierte Marius die Anstrengung, schubste mit dem Fuß die Wannen über die Fußmatte hinweg und beleuchtete sein Reich. Zunächst setzte er Anais und Iris wieder in der leeren Wanne ab, schälte sich aus seinem Wollmantel, arrangierte Schal und Mütze auf der Garderobe und entknotete die Schnürsenkel, um seinen vornehmen Schuhen zu entsteigen. "Das Wichtigste zuerst!", ein wenig ratlos drehte er sich in der winzigen Diele. Er selbst hatte nach dem mörderisch stimulierenden Kaffee das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen und fragte sich nun, ob es seinen beiden Gefährtinnen ebenso erging. "Immer mit der Ruhe", befahl er sich, zwang seine Blase, sich zu beherrschen. Die weiße Plastikwanne wurde zuerst ausgeräumt, dann genau nach Anweisung das Katzenstreu darin ausgeleert. Nun musste bloß noch der blaue Deckel darauf und dabei konnte man gleich die Kätzchen auf das Streu setzen. Geplant und ausgeführt! Sehr zufrieden mit diesem Arrangement stellte Marius die Katzentoilette unter dem Waschbecken ab. Dann kam der Ruf der Natur zu seinem Recht. Wohlerzogen, und auch, weil er darüber nachgedacht hatte, welche Gefahren für so kleine Tiere in einem Haushalt lauerten, klappte er Brille und Deckel herunter und drückte die Spüle. "Himmel!", murmelte er, wusch sich die Hände, griff nach dem Handtuch...und erntete ein Fauchen! "Hu?!", Marius bückte sich und starrte unter das Waschbecken. Anais und Iris hingen an seinem Handtuch! "Ähem", er räusperte sich und entsann sich eines Monologes, den seine Tante zu halten pflegte, "NEIN! Nein, nein!" Zwei kleine Katzen lösten sich, nicht sonderlich willig, aber gehorsam, von seinem Handtuch. Marius trocknete sich die Hände und faltete das Handtuch in der Mitte, bevor er es erneut dem Halter anvertraute. Nun hing es nicht mehr tief genug, um neugierige Katzen zu locken! "Dann will ich euch mal die Wohnung zeigen", verkündete er laut, spazierte voran. »Gleichzeitig sollte ich prüfen, wo Gefahren lauern!« Zunächst wählte er die Küche, Anais und Iris auf den Fersen. Während sie noch maunzend über die glatten Fliesen rutschten, schloss er eilig die Türen von Waschmaschine, Backofen und Mikrowelle, stapelte das Katzenfutter auf der kleinen Arbeitsfläche und studierte seinen Kuchen. »Besser schnell einpacken!«, dachte er. Das war nicht das letzte Mal, dass er an diesem Abend in die Küche lief, um die Schränke vor allem oben zu füllen. In diesem Punkte musste er seiner Tante recht geben: die Katzen sorgten sofort dafür, dass sich sein Leben wandelte. Es gab nichts Überflüssiges mehr, was an neuralgischen Stellen auf einen Sturz oder neugierige Katzenmäulchen lauerte. Mit einem tiefen Teller bewaffnet, da er noch nicht über ein katzentypisches Gedeck verfügte, transportierte er Wasser in sein Wohnzimmer. "So, werte Damen, mein Allerheiligstes", Marius stellte den Teller ab und kontrollierte die Länge der Vorhänge. Mit einem leichten Knoten und einigen Wäscheklammern waren sie wenig später kurz genug, um nicht als Kletterhilfen missbraucht werden zu können. Marius schüttelte Tante Mechthilds Dokumente aus dem Umschlag und überflog sie. "Kratzbaum", Marius wischte sich behutsam über die Tolle. »Wie teuer kann das werden?« Er sah sich um. Sein Wohnzimmer beherbergte ein Bettsofa, eine Leseecke mit einem gemütlichen Sessel, eine gesamte Wandseite mit Bücherregalen, einen kleinen Fernseher mit einer eher bescheidenen Medienlandschaft darunter und zwei große alte Teekisten, die als Couchtische dienten. Auf einer der Teekisten stand sein Laptop, der geradezu danach rief, eilig Lektüre zur Katzenhaltung zu erfragen. "Katzen für Dummies, oder so ähnlich", murmelte Marius und fragte sich, wo er Katzengras kaufen konnte. Oder eine Gummibürste. Anais und Iris tobten sich derweil unter dem Bettsofa aus. Mutmaßlich jagten sie Staubmäuse. Marius nutzte die Gelegenheit, um in seinem Schlafzimmer unter den Stuhl neben seinem Bett ein Kissen zu schieben und ein Handtuch über die Sitzfläche zu hängen. Das Gesamtwerk entsprach einer kleinen Höhle und würde hoffentlich den Ansprüchen seiner neuen Mitbewohnerinnen genügen. Dann schraubte er den Querholm des Kleiderständers hoch genug, damit seine Anzüge außer Katzenreichweite waren. Die Kommode machte ihm keine Sorge, denn die Schubladen klemmten und ließen sich nur durch die bewährte Rüttelmethode öffnen. "Fein", Marius kramte einen kleinen Gymnastikball heraus und eine alte Krawatte, die ihm geschenkt worden war in Missachtung seiner modischen Überzeugung. Er kehrte in das Wohnzimmer zurück, wo Anais und Iris das Bettsofa erklommen hatten und auf der Rückenlehne balancierten. Marius erstarrte, zwang sich dann, tief Luft zu holen. Katzen waren schließlich geschickt, richtig? Er ging in die Hocke und ließ den Gymnastikball losrollen, befestigte die grässliche Krawatte an einem Regal. Auch ein Karton fand sich noch, den man mit zerknülltem, raschelndem Zeitungspapier füllen konnte. Anais und Iris jagten bereits den Gymnastikball, als Marius sich niederließ und am Laptop darüber forschte, wie er mit seinen Kätzchen umzugehen hatte. Es klingelte, das Telefon im Regal lärmte. Marius erhob sich, wusste schon, wer um diese Uhrzeit anrief: seine Mutter. Die sich nun in Länge und Breite über die lächerliche Idee ausließ, ihrem Sohn wie einer alten Jungfer Katzen aufzunötigen! Restposten ihrer Zucht! Marius ließ den schrillen Vortrag mütterlicher Enttäuschung über seine Nachgiebigkeit gewohnt gelassen über sich ergehen. Im Hintergrund hörte er seinen Vater knurren, dass nur ein Hund ein angemessener Begleiter für einen Mann sei, ein Grund, weshalb sich sein Vater sofort nach seiner Pensionierung als Bahnbeamter einen Dackel zugelegt hatte. Marius kannte aber auch den bissigen Konter seiner Tante: sicher war ein Hund für den Mann die beste Begleitung, beide waren schließlich an Gehorsam gewöhnt! Verdutzt schreckte Marius aus dem Monolog hoch: auf seinem Rist hockte ein Kätzchen! Marius zwinkerte und hoch den Fuß leicht an, schaukelte leicht, was ein tiefes Schnurren auslöste. Da sein anderer Fuß nun ebenfalls besetzt wurde, musste er hin und her trippeln, damit jede Katze zu ihrem Recht kam. Da störten nicht einmal die kleinen Krallen in seinen Socken! Seine abschweifende Aufmerksamkeit entging keineswegs dem mütterlichen Radar. So sah er sich genötigt, Beschwichtigungen zu formulieren, bis endlich seine Entlassung großmütig gewährt wurde. "Puhh!", stöhnte Marius, der sich seinen Geburtstag weniger anstrengend vorgestellt hatte, angelte je ein Kätzchen von seinen Socken und ließ sich mit ihnen auf dem Sofa nieder, streckte sich aus. Anais und Iris auf seiner Brust schnurrten begeistert, während sie mit ihm eine kurze Auszeit nahmen. "Ladys", brummte Marius schließlich, "willkommen in meiner Familie!" ~o~ Ausgerüstet mit frohem Mut und einer großen Liste wagte sich Marius am nächsten Tag in eine ihm fremde Welt vor: den Großhandel für Fauna-Phile. Die Satteltaschen seines treuen Lastesels voll gepackt, um Erfahrungen reicher und an Bargeld erheblich ärmer strebte er dem trauten Heim zu, ein wenig unschlüssig, ob er sich bereits auf Kata/-zenstrophen gefasst machen sollte. Zu seiner Erleichterung jedoch hatte Tante Mechthild ihren großen Schatten einprägsam über seine beiden Gefährtinnen geworfen. Wie vollendete Damen wussten sie die Katzentoilette zu benutzen, hatten sich auch nicht herabgelassen, seine Wohnung auf den Kopf zu stellen. Eilends, da man ihn in Kürze beim wöchentlichen Skat erwartete, positionierte Marius das Katzengras, die einzige Art von Begrünung, die seine Wohnung jemals erfahren würde, verstaute das Katzenfutter, setzte die Wasserschüssel in seinem Allerheiligsten ab und deponierte die Gummibürste im Bad neben dem neuen Sack Katzenstreu unter das Waschbecken. Eine Viertelstunde Staubflusen jagen, den Gymnastikball scheuchen und mit Papier rascheln musste genügen, dann flitzte er davon, sich ermahnend, dass er einige Runden auszugeben hatte. Doch wie fern schien ihm schon sein Geburtstag, die Glückwünsche des Kollegiums am Morgen! Hätte man nicht fest mit ihm gerechnet, so wäre er sogar versucht gewesen, den Skatabend abzusagen, doch sein Verantwortungsgefühl überwog. »Außerdem«, hielt er sich schmunzelnd vor, Schopf und Gesicht feucht vom eisigen Sprühregen, »kommen die beiden sehr gut ohne mich aus, zumindest für eine Weile!« ~o~ Auch die nächsten Tage bewiesen, dass Tante Mechthild erstaunlich scharfsinnig mit ihrem Geschenk gehandelt hatte. Ohne große Mühe gewöhnte sich Marius an Iris und Anais, die sich ihrerseits sehr rasch akklimatisierten. Marius, ein Mann, der Ordnung hielt, weil er zu faul zum Suchen war, störte sich nicht an den Katzenabenteurerinnen, die Katzenball betrieben, in Papierwelten hausten, auf der Sofalehne spazierten oder darunter krochen. Es gelang ihm sogar anhand einer Bauleitung aus dem Internet und nach einem Besuch bei zwei Heimwerkermärkten, einen eigenen Kratzbaum zu zimmern, der den beiden pelzigen Damen offenkundig gefiel. Während er sie zum Tanzen brachte, indem er Seifenblasen produzierte, stellte Marius überrascht fest, wie sich die zierlichen Kätzchen veränderten, eine robuste Körperhaltung entwickelten. Sie mochten zwar, wie Tante Mechthild ihn belehrte, die schwächsten aus dem Wurf gewesen sein, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass sie nicht ebenso wie ihre Geschwister stark und anmutig werden würden. »Ein durchaus erfreulicher Gedanke!«, befand Marius, der am Herumtoben Gefallen fand, sich über den Kampf der Katzen mit seinem asthmatisch brüllenden Staubsauger amüsierte, es genoss, wenn sie dann zu dritt seinem sündigen Geheimnis frönten: dem Schmökern. So unwahrscheinlich es auf den ersten Blick auch anmutete, Marius liebte Lektüre. Sie musste nicht sonderlich hochgestochen sein, nein, es genügte, wenn sie der phantastischen Ecke entsprang, ganz gleich ob Neo-Western, Science Fiction oder Fantasy. Fremde Welten, fremde Leben, Abenteuer, Geheimnisse, ein schräg-lakonischer Humor, das zog ihn magisch an, so sehr, dass er jede Woche die Leihbücherei heimsuchte. Wie günstig, dass Anais und Iris sich gern auf seinem Schoß zusammenrollten, ein verschlungenes Katzenpärchen wie Ying und Yang, während er eingekuschelt in seinem Lesesessel auf große Reise in anderen Dimensionen ging. Vielleicht war doch etwas Wahres an dem Ausspruch, dass Glück eine Katze auf dem Schoß und ein gutes Buch war? In jedem Fall, völlig unbestritten, resümierte Marius für sich, dass sein Leben wirklich herrlich war. Er war mit seiner Situation überaus zufrieden. ~o~ Um dem üblichen Weihnachtsmarathon zwischen Geschenke kaufen, Feiern, Plätzchen backen und Nervenzusammenbruch erleiden zu entgehen, hatte man in dem Bürgeramt, in dem Marius ein Team führte, beschlossen, dass vielmehr der Vorabend vor dem Nikolaustag für eine kleine Feier nach Dienstschluss fester Termin wurde. So kamen die Eltern auch nicht in die Bredouille mit Veranstaltungen ihrer Sprösslinge in Kindergarten/Schule/Sportverein/Kirchengemeinde. Die Organisation unterlag einer Routine, die vorsah, dass sich die einzelnen Abteilungen abwechselten. Dieses Jahr sah Marius sich als Teamleiter herausgefordert, sein Scherflein zum Gelingen beizutragen. Seine Mitarbeiterinnen erklärten sich schmunzelnd bereit, die kulinarische Verantwortung zu tragen, sodass ihm als Hahn im Korb nichts weiter zu tun blieb, als für die Unterhaltung zu sorgen. Mit anderen Worten: er musste die unsägliche Musik beschaffen, die jedes Jahr über den gequälten Kunden hereinbrach, gefühlte tausend Jahre White/Last Christmas/Jingle Bells. Dann war an die Dekoration zu denken und zuletzt auch an den Auftritt des Nikolaus, ohne Knecht Ruprecht, selbstredend, ein himmlischer Vertreter strapazierte das Spendenkonto ohnehin genug. Die Aufgabe des Mannes in der roten Kutte mit dem weißen Fußabtreter unter dem Riechkolben sollte darin bestehen, mit dunkler Stimme das übliche Entree von der Weihnacht, die vor der Tür herumlungerte (und einen gewaltigen Kahlschlag im Portemonnaie verursachte), zu verkünden, einen sehr milden Glühwein zum Prosit zu heben und dann diskret zum elendigen Wichteln überzuleiten. Eine knappe Viertelstunde Arbeit, nach dem Pauschaltarif von 40 Euro, wie ihm das Studentenwerk versicherte, inklusive An- und Abfahrt sowie Kostüm und Kartoffelsack. Marius beriet sich nicht nur mit seinen Bowling-Freunden über den Inhalt der Wichtelpäckchen, sondern nutzte auch den Ratschlag seiner neuen Freundinnen. Waren ihnen nicht allen diese unnützen Dinge lästig, die man für wenig Geld aufgenötigt bekam? Überhaupt, die wesentlichen Aspekte des Daseins hatten mit der Wichtelei rein gar nichts zu tun! Doch was tun? Marius ließ sich nach dem Bowlingabend in seinen Lesesessel sinken, lud Anais und Iris ein, es sich auf seinem Schoß bequem zu machen und streichelte geistesabwesend das kurze Fell der Felinen. Zwei Paar großer, eindrucksvoll blauer Augen musterten ihn durchaus kritisch. "Mit euch beiden ist das einfach", seufzte Marius und erwog, sich doch gleich die Gummibürste zur Fellpflege zu holen, wenn er schon die Hände nicht traulich um einen Buchdeckel gelegt hatte. Ja, seine beiden Herzensdamen, die sehr rasch erwachsen wurden, liebten eine ordentliche Mahlzeit, sangen gerne mit ihm zur Musik des King, tobten durch das Wohnzimmer auf der Jagd oder räkelten sich gemütlich, wenn sie nicht dösten. Katzengras und Katzenminze, Seifenblasen, kleine Gymnastikbälle, Papier, alte Krawatten oder eine selbst gezimmerte Kratzbaumkombination: das war wahre Seligkeit! "Was meint ihr?", Marius setzte sich abrupt auf, stellte das gemächliche Kraulen ein, "wie wäre es mit etwas, das man nicht unnötig aufheben muss? Klein aber nützlich, traditionell und zugleich zeitlos?" Seine Begeisterung amüsierte die Katzen, also sprangen sie elastisch von seinem Schoß, eine Übung, die ihn noch immer erschreckte, weil er sich an die Kätzchen erinnerte, die er vor drei Wochen erst gehalten hatte, und spazierten auffordernd vor ihm her zur Tür. Offenkundig, mutmaßte Marius, der sich ebenfalls erhob, vermutete das unwiderstehliche Duo, dass er sich in die kleine Küche zu begeben wünschte, weil er oft dort hineinstürzte, um seine Einkaufsliste zu ergänzen. "Sehr clever!", komplimentierte er mit einem dezenten Bückling die Kombinationsgabe seiner Gefährtinnen, denn GENAU DAS sollte er eigentlich tun, bevor ihm seine gute Idee entfiel! In der Küche dann, je ein Katzenpopo auf dem Rist, notierte er eilig die Zutaten für seine Wichtelpakete, während sich Anais und Iris damit amüsierten, ihn am Auf- und Ablaufen zu hindern. Um sich auszulösen, musste Marius regelmäßig mit den Zehen wackeln, was die Katzen begeisterte, die besonders nach dem großen Onkel gern mit den Pfoten hieben. "Fein, fein!", Marius ging in die Hocke, um sich je eine Katze auf die Schulter zu heben, "morgen, Mädels, wird's viel Arbeit geben!", denn dann musste er sich zum Großeinkauf rüsten. ~o~ Früh am Morgen des Tags vor Nikolaus, einem Mittwoch, schleppte Marius seine regenfeuchten, schweren Fahrradtaschen in den Sozialraum, wo sich sein Spind befand. Wie alle Serviceteams mit stetem Publikumskontakt gab es in einem Großraumbüro nur halbhohe Wandteiler, jeder Schreibtisch mit Terminal hatte eine große Nummer. Morgens zogen allen Mitarbeitenden einen Rollcontainer mit der persönlichen Ausstattung hinter sich her zu einem freien Arbeitsplatz. Persönliche Kleinigkeiten wie Bildergalerien, Mausmatten oder Kaffeebecher konnten da nicht deponiert werden, deshalb war der Sozialraum entsprechend ausgestattet und sorgte in der Mittagspause für eine Kantinenatmosphäre. Marius war erleichtert, dass sich die Kolleginnen noch nicht eingefunden hatten, eine Belohnung für das besonders frühe Aufstehen. So konnte er rasch in den Sitzungssaal unter dem Dach huschen und seine Mitbringsel entsprechend deponieren. Jedes kleine Wichtelsäckchen, aus einer festen Serviette zusammengebunden, enthielt nun ganz weihnachtlich ein hübsches Teelicht mit Aroma, einige Kekse und getrocknete Apfelstücke, einen kleinen Schokoladennikolaus und war mit einem kleinen Zweig dekoriert. Marius arrangierte eilig eine kleine Pyramide mit Satsumas, stapelte das Einweggeschirr und schichtete die einfachen Servietten, bevor er sich an die unverwüstliche Dekoration begab und ein wenig künstliches Tannenaroma aus einer Dose versprühte. "Nachher noch eine dieser Duftkerzen angezündet,das sollte wohl passen!", sehr mit sich zufrieden verließ Marius den Sitzungssaal. Er sah den kommenden Ereignissen gewohnt freundlich-gelassen entgegen. ~o~ Nachdem der letzte Bürger das Haus verlassen hatte, stürzte Marius in Begleitung seiner Kolleginnen in den Sitzungssaal. War der Glühwein schon warm genug? Reichte der Kaffee? Wo waren die verflixten Streichhölzer? Stand der Plastiknadelbaum nicht ein wenig schief? Das Auge des Orkans, Marius, lauschte geduldig jeder Sorge und beschwichtigte. Die ersten Mitarbeitenden trafen ein, versorgten sich mit Flüssigem und Festem. Marius wartete unterdessen am Nebeneingang auf den einbestellten Nikolaus. Der sollte nach der unvermeidlichen Rede der Amtsleitung seinen Auftritt absolvieren. Der Student ließ sich Zeit. Marius konsultierte die Zeitzwiebel am Handgelenk und seufzte leise. Nun ja, solange ausreichend Essen und Trinken zur Verfügung standen, wäre eine Verzögerung sicherlich zu tolerieren. Da nahte sich, frei nach Goethe, endlich eine schwankende Gestalt. Die Augenbrauen bis zur Tolle hochgezogen, die Stirn in Falten geworfen beäugte Marius den Pseudo-Nikolaus: Sack, Bart und Kostüm waren durchaus stimmig, aber die blutunterlaufenen Murmeln über der weißen Baumwollmatte sowie die deutliche Fahne, die das Entree ankündigte, ernüchterten ihn. "Sind Sie der Herr vom Studentenwerk?", erkundigte er sich ruhig, aber auch konsterniert. Er hatte bei seinem Auftrag zwar mitgeteilt, dass es sich um eine Betriebsfeier handelte, jedoch ganz selbstverständlich erwartet, dass der Nikolaus nicht sternhagelvoll hereinschneite! "Können Sie wenigstens Ihren Text sprechen?", horchte er nach, während er den mit hohem Seegang geschlagenen Nikolaus zum Aufzug dirigierte. Undeutlich leierte der anonyme Nikolaus seinen Text herunter und blies Marius mindestens zwei Promille ins Gesicht, gekrönt vom Odeur einer alten Tennissocke. »Bloß eine Viertelstunde!«, tröstete sich Marius, setzte ein zuversichtliches Lächeln auf, »wenn dieser wandelnde Rumtopf es bis hierher geschafft hat, dann wird er das auch noch absolvieren!« Mit großem Hallo wurden sie empfangen, denn mittlerweile dröhnten die alljährlichen Weihnachtsschnulzen bereits in der zehnten Umdrehung und verbündeten sich mit dem Glühwein, sodass man sich wohlig erwärmt bereit zeigte, besinnlich und sentimental zu werden. Marius überließ dem Nikolaus das Feld, löschte die Deckenbeleuchtung, um den gesamten Saal in Kerzenlicht zu tauchen. Der Nikolaus lachte trunken, hob seinen groben Kartoffelsack von der Schulter, warf sich in Position und deklamierte, "von drauß' vom Walde komm' ich her und ich muss euch sagen..." Die Botschaft ward nicht vollendet, denn urplötzlich steckte der Nikolaus den Kopf in den Sack und übergab sich lautstark, dann schlug er auf dem Parkett wie eine gefällte Fichte auf. ~o~ Marius schleppte sich ein wenig matter als gewohnt in den ersten Stock, betrat seine Wohnung, achtete darauf, nicht über die munteren Katzen zu stolpern, die fröhlich um seine Beine strichen und ihm lautstark von ihrem Tagewerk berichteten. Er ließ seine Fahrradtaschen in der Diele sinken, schlüpfte umständlich aus den Schuhen und wechselte in das Wohnzimmer, wo er sich flach auf das Sofa legte und die Augen schloss. Nur Augenblicke später tappten zwei unerschrockene Damen über seine Beine und legten sich beschwerlich auf seinen Brustkorb, schnurrten auffordernd. Gehorsam kraulte er mit geschlossenen Augen. Was für ein Tag! Ein besoffener Nikolaus, der von einem Rettungswagen mit Polizeischutz abgeholt werden musste, weil besagter Nikolaus nicht nur eine heftig blutende Risswunde am Schädel erlitten hatte, sondern im Rausch zur Randale neigte. "Zumindest", Marius seufzte resignierend, "wird diese Weihnachtsfeier nicht in Vergessenheit geraten." Anais und Iris stimmten ihm lautstark zu. "Und", munterte sich Marius selbst auf, "sie haben alle ihre Wichtelpäckchen mitgenommen!" DAS zumindest konnte er als Erfolg verbuchen! ~o~ Kapitel 2 - Nachwirkungen Marius war längst dem Alter entwachsen, in dem man die Stiefel vor die Tür stellte und auf freundliche Gaben hoffte. Als er am nächsten Morgen, dem Nikolaustag, eilig für seinen Dienst zurechtgemacht, den Mund noch mit Zahnpasta ausgeschäumt zur Wohnungstür stürzte, nicht gerade in allzu positiver Stimmung eingedenk des Debakels vom Vortag, klebten die Katzen förmlich an seinen Hacken. "Ja, meine Lieben, es schmerzt mich ja auch!", Marius kämpfte mit den Handschuhen, "aber bedauerlicherweise muss ich hinaus in die feindliche Welt, um das Katzenfutter zu verdienen." Anais und Iris belegten ihn jedoch mit ungeduldigen Lauten, drängten sich um seine Halbstiefel. "Schön hier bleiben, draußen ist es kalt, dunkel und schmutzig", Marius, der in Katzensprache noch nicht sonderlich bewandert war, fehlinterpretierte die Anstrengungen seiner Hausdamen, sich ihm mitzuteilen. So traf es ihn auch vollkommen unerwartet, dass ihm beim Öffnen der Wohnungstür ein unbekannter Mann auf die Stiefel fiel und ihn von den Beinen holte. ~o~ Nach der ersten Schrecksekunde, in der Marius nicht nur seinen Steiß bedauerte, sondern auch fassungslos auf den ihm Unbekannten blickte, fasste er sich wieder und den Fremden an einer Schulter. Anais und Iris flankierten ihn, angespannt, mit aufgestelltem Fell und zurückgekehrten Ohren, bereit, ihren großen Freund fauchend zu verteidigen. Marius schob sich eilig unter der Last hervor, ging auf die Knie, um energischer zu schütteln, "hallo?! Hallo, können Sie mich hören?!" Besorgt studierte er das faltige Gesicht eines mittelalten Mannes, nicht sonderlich gut rasiert, grobporig und erschreckende Kälte ausstrahlend. Tapfer suchte er unter einem ausgefransten Rollkragen nach einem Puls, tastete nach einem Herzschlag, doch wenn er sich nicht ganz fürchterlich irrte, dann war dieser Mann tot. Seit einer Weile schon. "Was tue ich jetzt?!", Marius stellte sich auf die Beine, widerstand der Versuchung, sich fahrig durch die Haare zu pflügen. Jeder Gedanke an seine Arbeit, die fortschreitende Zeit, den Spott, war verflogen. Die beiden Katzen hefteten sich an seine Knöchel, je rechts und links außen, als er ins Wohnzimmer eilte, um den Notruf zu wählen. Mühsam, ein wenig zittrig von den Nachwirkungen des Schreckens, hangelte er sich durch die Fragen und versprach, auf die Beamten der nächsten Streife zu warten. Auch ein Rettungswagen würde alarmiert werden. Tief durchatmend warf Marius einen Blick auf den toten Mann in seiner Eingangstür. Was für eine Bescherung! Aus dem Treppenhaus zog es eisig herein, hieß ihn frösteln. "Hilft ja alles nichts!", stellte er bekümmert fest und gab in der Personalstelle bekannt, dass er seinen Pflichten als Staatsbürger nachkommen und die Polizei unterstützen müsse, weshalb mit einer erheblichen Verspätung zu rechnen sei. Anais und Iris verständigten sich telepathisch darauf, lieber kurz in die Küche abzubiegen, um auf den Schreck noch etwas zu frühstücken. Marius schloss sich an, von der beschämenden Furcht erfasst, mit dem Toten allein zu bleiben. Er erwog, ob vielleicht Kaffee für die Beamten angemessen sein würde, kochte eine Isolierkanne voll und räumte gestrandete Keramikbecher auf den winzigen Tresen, auch Zucker in Stangentüten und H-Milch fanden sich ein. So wartete er, auf einen Barhocker gekauert, bis endlich die Kavallerie eintraf. Erneut war ihm eine Überraschung gewiss: die beiden Herren, durchaus matter als bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, waren dieselben Beamten, die auf seinen Notruf angesichts des Nikolaus-Debakels erschienen waren! "Tja, die Personalien können wir uns dann wohl sparen", erklärte einer der beiden lakonisch. Marius gewann den Eindruck, dass sie sehr reserviert reagierten, vermutlich deshalb, weil er innerhalb von wenigen Stunden das zweite Mal aktenkundig werden würde. »Dabei habe ich bisher ein absolut sauberes Sündenregister gehabt!«, seufzte seine innere Stimme dramatisch, »nicht mal einen Punkt in Flensburg!« »Kein Wunder«, holte sich Marius selbst wieder auf den Teppich, »ohne Auto!« Während man nun zu fünft, Marius mit den Katzen auf dem Schoß und die beiden Polizisten, auf den Notarzt wartete, gab Marius das wenige zu Protokoll, was er beitragen konnte. Der ihm unbekannte Mann musste wohl an seiner Wohnungstür gelehnt haben, doch wie war er ins Haus gekommen? Hatte er sich in der Wohnung geirrt? Im Haus selbst? "Keine Papiere, nicht mal eine Brieftasche", brummte der Jüngere der beiden Beamten resignierend, "kein Fahrschein, kein Schlüssel." Er fingerte aus einer Jackentasche einen zerknüllten Zettel, doch die Notizen waren den beiden offenkundig nicht verständlich. Marius kraulte Anais und Iris, die nicht sonderlich angetan von der plötzlichen Betriebsamkeit waren und vermutlich allzu viele Gäste, die sich überfallartig einluden, nicht schätzten. »Seltsam«, dachte er und starrte nun ohne große Angst auf den Fremden, der keine Person mehr war, sondern ein Objekt der Rätsel, »wie ist er hierher gekommen? Zu wem hätte er wollen können?« Doch auch wenn er darüber nachdachte, so intensiv, wie die Polizisten ihn aufgefordert hatten, er konnte sich partout nicht vorstellen, zu welchen anderen Mitbewohnenden des Hauses dieser Fremde hätte gehören können. Es schien auch merkwürdig, dass der Mann weder Geld noch Ausweispapiere bei sich hatte. Nicht mal einen Schlüssel. »Sehr dubios«, resümierte Marius' innere Stimme konsterniert, »und wie ist er gestorben? Herzanfall? Schlaganfall? Warum haben wir nichts gehört?« Die Frage konnte wohl nur der Notarzt beantworten. Bis zu dessen Eintreffen Marius sein Gewissen plagte: hätte er dem Mann etwa noch helfen können? Hatte er vielleicht Klopfzeichen oder Rufe überhört? "Als Sie am späten Abend nach dieser Feier", der Polizist räusperte sich bedeutungsvoll, "nach Hause gekommen sind, haben Sie da jemanden bemerkt? Oder etwas Ungewöhnliches wahrgenommen?" Marius kontemplierte die Frage, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf. "Ich habe nicht sonderlich auf meine Umgebung geachtet", bekannte er, "es war auch sehr dunkel. Wenn jemand in den Büschen gestanden hätte, dann wäre mir das nicht aufgefallen", erläuterte er gestikulierend, "der Lichtkreis der Außenleuchte reicht nicht sonderlich weit." "Tja", murmelte der jüngere Polizist und unterdrückte tapfer ein Gähnen. Der Nikolaus hatte ihnen offenkundig keine Geschenke zugedacht. Erneut bot Marius den Kaffee an, und dieses Mal akzeptierten die beiden Herren die Offerte. Warum er nun ihr Vertrauen genoss, wusste Marius nicht, aber es erleichterte ihn doch. Endlich traf auch der Notarzt ein, begleitet von einem spindeldürren Assistenten, der sich am Gewicht der Einsatztasche beinahe krumm bog. In den folgenden Diskurs wurde Marius nicht einbezogen, sodass er Anais und Iris fest auf seinem Schoß halten konnte, die Anzeichen zeigten, sich unter dem Sofa verkriechen zu wollen. Dass der Fremde tot war, ließ sich nicht bestreiten, doch die Ursache dafür gab den Profis Rätsel auf. Auch die 'Übernachtung' im eiskalten Treppenhaus veränderte die Bedingungen. Schließlich einigte man sich darauf, die Todesursache durch die Pathologie feststellen zu lassen und den Leichnam abzutransportieren, was wiederum eine Wartezeit bedeutete. Während einer der beiden Polizisten bei Marius Kaffee trank, marschierte der andere Beamte los, um die Reste der Nachbarschaft herauszuklingeln, die nicht bereits neugierig genug gewesen waren, sich selbst zu erkundigen, was es mit dem Aufruhr auf sich hatte. Nachdem der Unbekannte respektvoll von zwei unauffällig gekleideten Herren in Anzügen einem Leichensack auf einer Bahre anvertraut worden war, löste sich auch das 'Kommandozentrum' in Marius' Wohnung auf. Er unterzeichnete artig das Protokoll und versprach, sich für weitere Fragen zur Verfügung zu halten. Es war beinahe Mittag, und eine fahle Sonne blinzelte vom schneegrauen Himmel. Marius entschloss sich, lieber noch etwas zu essen, bevor er den Dienst antrat. Immer wieder fiel sein Blick jedoch auf die Diele. Sollte er sie vielleicht abwaschen? Natürlich war ihm bewusst, dass er damit die Ereignisse des Tages nicht aus seinem Gedächtnis streichen konnte, doch irgendwie erschien ihm seine gemütliche Wohnung 'besudelt', ein seltsames Gefühl, schwankend zwischen Abneigung und Scham darüber, einem Unbekannten zu grollen, der hier, sicherlich nicht freiwillig, gestorben war. "Sie haben ja alles fotografiert", ermutigte er sich selbst, krempelte die Ärmel hoch und füllte den Putzeimer mit lauwarmen Wasser, "niemand hat gesagt, ich solle nichts anrühren! Dann haben sie mir ja auch Straßenschmutz in die Bude getreten! Meinen Fußabtreter eingezogen!" Aus dem Eimer stiegen winzige Seifenblasen auf, weil er den Wischlappen so energisch drückte. Seine beiden Katzendamen haschten laut singend nach den Bläschen und tollten um ihn herum. Das brachte Marius endlich wieder zum Lachen und zurück zu seinem gelassen-stoischen Selbst. Er stimmte brummend und summend in den Chor ein, wischte den Boden feucht und schrubbte den Türrahmen sorgfältig ab. Zufrieden mit seiner Arbeit rüstete er sich dann für den restlichen Tag im Büro. Anais und Iris wollten ihn gar nicht ziehen lassen, doch nach ein paar mahnenden Worten eiste er sich los, schnappte seine Fahrradtaschen und verließ seine Wohnung. Es würde stockfinster sein, bis er wieder zurückkam. ~o~ Die Kapriolen der erinnerungswürdigen Weihnachtsfeier vor dem Nikolaustag wurden von Marius' Erzählung über das unerfreuliche Erlebnis am nächsten Morgen noch übertroffen. Man bedauerte oder verspottete ihn, je nach Gesinnung, aber zweifelsfrei war er DAS Tagesgesprächsthema geworden. Marius dagegen, dem langsam Fransen an den Schnabel wuchsen, weil er sich genötigt sah, wieder und wieder vom Vormittag zu berichten, hoffte, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde. Es musste sich lediglich herausstellen, dass der Fremde einen natürlichen Tod gestorben war, eine Identität hatte und es für die Ungereimtheiten eine logische Erklärung gab. Im Übrigen bezweifelte er, dass man ihn unterrichten würde, was den Ausgang dieser Angelegenheit betraf, er war ja nicht mehr als ein unwesentlicher Zeuge. Am Abend packte er seine Tasche für das Bowlen am nächsten Tag und beschloss für sich, dass mit dem Ende der Woche auch seine Pechsträhne versiegen würde, und wirklich, beim Bowlen zeigte er sich trotz all der Sticheleien als ungekrönter Champion. So stolz auf seine Leistungen, wie er spät am Abend zu Hause einlief, tobte er noch eine ganze Stunde mit Anais und Iris durch die Wohnung, spielte Katzenfußball und pustete Seifenblasen durch die Gegend. ~o~ Der Samstag stand, wie jede Woche, für den Großeinkauf zur Verfügung. Frohgemut absolvierte Marius den Parcours durch die Gänge, hakte auf seinem Notizzettel gewissenhaft die erledigten Positionen ab, störte sich weder an der grässlichen 'verkaufsfördernden' Musik, noch an den Menschenmassen, die hastig oder zeternd ebenfalls Vorkehrungen für die kommende Woche trafen oder bis zur nächsten Sintflut. Als er, lässig über seinen Einkaufswagen gelehnt, die Wochenzeitung studierte, die er sich samstags leistete, fiel sein Blick auf eine aufgeschlagene Regionalzeitung, die ein Mann in der Nachbarschlange vor der Kasse studierte. Auf der Titelseite, so erkannte Marius nach einigem kritischen Blinzeln, war in der Tat ein Foto des Unbekannten zu sehen, den er so überraschend auf seiner Fußmatte gefunden hatte! Kurzentschlossen wandte sich Marius mit einem entschuldigenden Lächeln einer gegen das Vermummungsverbot verstoßenden, mutmaßlich weiblichen Person hinter sich zu, erklärte höflich, dass er sofort wiederkommen würde, drängte sich an ihrer zahlreichen Brut vorbei, um rasch eine eigene Ausgabe der Regionalzeitung seinen Einkäufen zuzufügen. Die Schlange bewegte sich langsam, aber stetig, sodass er bei Erreichen des Rollbandes den Leitartikel überflogen hatte. Geistesabwesend stapelte er seine Einkäufe auf das stotternde, partiell nasse Band, zwängte den Einkaufswagen samt der angehängten Fahrradtaschen neben die Kassenbox, wo eine junge Frau routiniert sämtliche Waren vom Band tiefplumpsen ließ. Es war der Polizei nicht gelungen, den Fremden zu identifizieren, er galt nicht als vermisst, sodass man nun die Bevölkerung darum bat, sich zu melden. "Blutgerinnsel im Gehirn", schauderte Marius halblaut, entrichtete seufzend den Kaufpreis, der nicht nur in 'gefühlten' Graden stärker anstieg als sein Verdienst. Also war der Fremde eines natürlichen, wenn auch unerwarteten Todes gestorben, doch wo lebte er? Warum war er gekommen? "Keine Fingerabdrücke, wie?", Marius packte gedankenverloren seine Fahrradtaschen, dirigierte den eiernden Einkaufswagen zu dessen Kameraden zurück und steuerte sein treues Hollandrad an, wo er die Taschen umsichtig montierte. Er hoffte, dass sich schnell jemand melden würde, denn es schien ihm sehr traurig, einsam im Dunkeln auf einer fremden Fußmatte zu sterben. Gab es jemanden, der sehnsüchtig auf die Rückkehr des Fremden gewartet hatte? ~o~ Obwohl man sich bereits im Dezember befand, genauer gesagt die zweite Kerze am Adventskranz entzündete, zeigte sich der folgende Sonntag als ein novemberlicher: kalt, regnerisch und deprimierend trübe. Marius entschloss sich aus einem Impuls heraus, einige der absonderlichen Kerzen anzuzünden, die seine Tante Annegret selbst herstellte und verschenkte, was sie zum Schrecken ihrer Verwandtschaft machte. "Eine bemitleidenswert armselige Person", pflegte Tante Mechthild streng zu urteilen, die im Übrigen überhaupt kein Verständnis für die Angehörigen seiner Mutter hatte, "geistig verwirrt, gar kein Zweifel!" Er selbst tendierte dazu, Tante Annegret, die beinahe jedem esoterischen Trend mit erschreckender Begeisterung folgte, geflissentlich aus dem Weg zu gehen. Engelssichtungen oder heilende Halbedelsteine, Aurenlesen etc.: das war nicht seine Welt, doch solange man 'seine Kreise nicht störte', war er durchaus bereit, zu leben und leben zu lassen. Also ließ er das Streichholz tanzen. Duftkerzen mit Vanille oder Zitrone, Kräuterkerzen mit Weihrauch, Sandelholz, Rosmarin und Nelken mischten ihre Aromen ineinander. Ob sie ihn wirklich auch schützten, wie Tante Annegret eindringlich behauptet hatte, das wusste er nicht. "Kann aber nicht schaden", stellte Marius fest und drehte den King auf Zimmerlautstärke auf. Er räumte auf, bügelte kurz über die Bettwäsche, bildete ein munteres Gesangstrio mit den beiden Katzen, die Hausarbeit nicht allzu viel abgewinnen konnten. Aber sie mochten die tanzenden Flammen der Kerzen, sodass sich Marius schließlich genötigt sah, sie erst auf ein einsames Bord zu stellen, dann ganz auszupusten, als sich tollkühne Samtpfoten daran begaben, das Bord zu erklettern. Er wollte das Fenster öffnen, um den schweren Geruch der Kerzen auszulüften, als Anais und Iris plötzlich gezielt auf seine Wohnungstür zuschossen. Bekam er Besuch? Marius folgte ihnen, bemerkte, wie unruhig seine Damen waren. Etwas stimmte nicht. Er lauschte und hörte merkwürdige kratzende Geräusche. Sofort stieg seine Pulsfrequenz, kalter Schweiß bildete sich auf seiner Haut. Tapfer blickte er durch den Türspion auf den Gang. Im Treppenhaus brannte kein Licht mehr, doch der Schein einer Taschenlampe beleuchtete zwei fremde Männer, die gerade dabei waren, seine Wohnungstür aufzubrechen! Marius erstarrte vor Schreck. Was tun?! Er machte eilig kehrt, stieg in seine Schuhe, wickelte sich in seinen Parka, setzte sich die Mütze auf und drapierte den Schal lose um den Hals, dann hängte er sich seine Tasche um, die er nie ausräumte. Schlüssel hinein, Sparbuch, alle Karten! Marius besaß nicht viel, sodass er mit fliegenden Fingern eilig Unersetzliches einsteckte, dann Anais und Iris am Nacken packte und in je eine große Parkatasche setzte. "Keinen Laut", wisperte er gepresst, schloss die Wohnzimmertür hinter sich und stürzte auf den Balkon. Er konnte nur hoffen, dass die laufende Musik die beiden Einbrecher in Sicherheit wiegte! Seitlich am Balkon klebten die ausfahrbaren Notleitern, die einen zweiten Rettungsweg darstellten und bei der Sanierung des Gebäudes montiert worden waren. Mit klammen Fingern löste Marius den Sicherungshebel, nachdem er sich überzeugt hatte, dass kein Komplize in der Nähe lauerte. Mit heftigem Herzklopfen stieg er auf die Balkonbrüstung und hangelte sich an den Holmen herab, bis er den Balkon im Erdgeschoss erreichte und sich fallen lassen konnte. Das war nicht angenehm und er hatte große Angst, die Katzen zu verletzen, doch sie protestierten nicht einmal. Er klopfte sich eilig die Hände am Hintern ab und rannte geduckt los, während die Umhängetasche unbequem gegen seinen Leib schlug. Üblicherweise trug er sie überkreuz, doch dann wäre sie mit einer katzengefüllten Parkatasche kollidiert! Im Stolperschritt fingerte Marius in seiner Tasche herum, fischte sein Mobiltelefon heraus und wählte den Notruf an. Die Verbindung kam nach gefühlten Ewigkeiten zustande, und er sprudelte atemlos heraus, was gerade geschah und weshalb er dringend Hilfe benötigte. Es wurde ihm zugesagt, eine Streife sofort zu schicken, er möge sich außer Sichtweite seiner Wohnung aufhalten und warten, bis die Beamten einträfen, auch das Telefon solle er auf Empfang lassen. Marius hastete eilends die Straße hinunter und stellte sich in den Schatten einer Litfaßsäule. Er holte Anais und Iris aus seinen Taschen, überprüfte besorgt, ob es ihnen auch gut ging. Sie beklagten sich über die schnöde Behandlung, aber nicht sonderlich laut, denn hier draußen war die Welt ganz anders als in der warmen Wohnung! Ein Streifenwagen näherte sich, hielt bei Marius an, der sich aus der Deckung wagte und erneut abgehackt seine Version der Ereignisse hervorstieß. Man einigte sich darauf, dass Marius samt Katzendamen hinter den Beamten mit zum Haus gehen sollte, dann teilten sich die beiden auf. Marius folgte der Beamtin, während ihr Kollege um das Haus ging, um zu überprüfen, ob sich jemand wie Marius über den Notausstieg davonmachte. Marius starrte fassungslos auf das zerstörte Schloss seiner Wohnungstür, betrat seine erneut entweihte Wohnung zögerlich. Seine Wohnung war verlassen, die beiden Männer bereits verschwunden. "Können Sie sagen, ob etwas fehlt?", die Beamtin sah sich prüfend um, doch abgesehen von den Einbruchsspuren am Schloss waren keine weiteren Verwüstungen festzustellen. Misstrauisch sah sich Marius um: Bade- und Schlafzimmer waren unberührt, im Wohnzimmer stand lediglich die Balkontür offen. In der Küche hatte jemand alle Schubladen aufgerissen. Den Zweck dieser Übung erkannte Marius rasch: seine unbekannten 'Besucher' hatten sämtliche verfügbaren Messer in ein Poster des King gerammt. "...oh...", rutschte ihm angesichts dieser subtilen Drohung heraus. "Ich werde besser ein paar Aufnahmen machen und diese Messer mitnehmen. Es könnten sich Fingerabdrücke finden", stellte der Beamte fest. Marius schreckte zusammen, er hatte dessen Eintreten gar nicht bemerkt. Die beiden Polizisten unterhielten sich über fehlende Fußabdrücke, eine Information an alle Streifen mit einer vagen Beschreibung, die Marius lieferte. Leider konnte er nicht allzu viel beitragen, denn sein Eindruck war nur ein flüchtiger gewesen. Tatsächlich kamen weitere Beamten, die Spuren sicherten und die Nachbarschaft befragten, die nach Marius' Gefühl langsam eine Abneigung gegen ihn entwickelten. Er wurde gebeten, mit auf das Präsidium zu fahren, um das Protokoll zu unterzeichnen. Es war klar, auch für sein aufgeschrecktes Gemüt, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Einbruch handeln konnte, oder einen einfachen Überfall, denn dann hätte man ja auch klingeln können und ihn an der Haustür überrumpeln. Also fand er sich am zweiten Advent nachmittags auf einem Flur im Präsidium, saß mit seinen beiden Katzen auf dem Schoß auf einer Stahlbank und fragte sich ratlos, was aus seinem Leben geworden war. Wer waren diese Männer?! Was wollten sie von ihm? »Und was haben sie gegen den King?«, ulkte seine innere Stimme hysterisch. Er konnte nur hoffen, dass man Fingerabdrücke fand, oder die beiden Männer von einer Streife aufgegriffen wurden. Marius blickte nicht auf, wenn jemand über den Flur marschierte. Hier war jeder Tag ein Arbeitstag, mit einem regen Kommen und Gegen. »Ob ich bei einer Gegenüberstellung auch wie im Fernsehen hinter einem dieser Spiegel stehen muss?«, er seufzte. Wäre er wirklich noch imstande, die beiden Männer zu erkennen? Vor ihm blieben ein paar Blackdenim-Jeansbeine stehen. Er blickte an den Beinen hinauf zu ihrem Besitzer, der einen schwarzen Rollkragenpullover unter einem schwarzen Wollsakko trug, außerdem einen Becher mit Kaffee sowie einen Porzellanuntersetzer mit Wasser. "Die Katzen haben sicher Durst", ein warmes Lächeln strahlte in einem freundlichen Gesicht mit Dreitagebart und kohlrabenschwarzen Augen unter dichten Wimpern. Schwarze, ein wenig wüste Locken umrahmten einen kantigen Kopf. "Danke schön", brachte Marius endlich hervor, der sich beim Starren ertappte. Irgendwie erinnerte ihn der Unbekannte an einen Schauspieler, auch wenn es nur eine vage Ähnlichkeit war. Er beugte sich vor, um Anais und Iris auf den Boden zu setzen, die sich ohne Furcht über das Wasser hermachten. "Keine Angst", beruhigte der Fremde jovial, "ich habe einen Wasserfilter, sonst schmeckt man ja doch den Kalk." Marius nickte dankbar, setzte sich aufrecht hin. "Darf ich?", höflich deutete der Fremde auf den freien Platz neben Marius. "Natürlich", beeilte sich Marius, schob seinen Parka auf den anderen Platz neben sich, hob dankbar den Plastikbecher an. "Sie sind Herr Neithold, oder?", der Fremde zwinkerte, streichelte Anais (oder Iris) über den Kopf, "was für schöne Katzen. Wie alt sind sie denn?" Marius rechnete, "etwas über sieben Monate. Sie heißen Anais und Iris." Sie schienen, zu seiner Überraschung, von dem Unbekannten durchaus angetan, oder vielleicht auch nur von den Jeanshosen, an denen sie sich reiben konnten. "Ah, wie unhöflich!", eine Stirn wurde geschlagen, dann streckte sich Marius eine Hand mit Ringen entgegen, "mein Name ist Grünberg. Istvan von Grünberg. Ich arbeite hier als Übersetzer." Marius schüttelte höflich die dargebotene, warme Hand mit dem kräftigen Druck. Er war überrascht, einen Übersetzer hier zu finden. Istvan nahm eine Katze hoch auf seinen Schoß, kümmerte sich nicht um Katzenhaare auf seinem Wollsakko. Er sagte etwas, das Marius nicht verstand. Sein irritierter Blick traf den prüfenden des Übersetzers. Der lächelte langsam, holte dann einen Zettel aus seiner Sakkotasche. Es war der Zettel, den der Unbekannte auf der Fußmatte bei sich getragen hatte. Plötzlich drängte sich Marius ein Verdacht auf: er war von diesem Herrn von Grünberg geprüft worden! "Um welche Sprache handelt es sich?", erkundigte er sich kühl. Istvan lächelte und formulierte wieder einen Satz, den Marius weder verstand, noch einordnen konnte, "Mordwinisch. Die Sprache wird in einer der russischen Teilrepubliken gesprochen. Die Notizen auf dem Zettel haben mich darauf gebracht", erklärte der Übersetzer. Marius konnte sich nicht erinnern, jemals von dieser Sprache gehört zu haben. Allerdings hatte er auch bisher kein ausgesprochenes Interesse an einzelnen, russischen Teilrepubliken an den Tag gelegt. "Ist mir nicht bekannt", brummte er und warf einen ärgerlichen Blick auf seine Katzen, die für seinen Geschmack zu freundlich zu diesem hinterhältigen Aushorcher waren! Wie konnte jemand annehmen, er habe irgendwas getan, um in eine solche Geschichte verwickelt zu sein?! "Ich nehme an, man wird Sie noch wegen der Notizen befragen", von seinem Unbehagen unbeeindruckt zupfte Istvan einen Gummi aus seiner Tasche und ließ die Katzen nach dem dünnen Band haschen. »Schmeichler!«, dachte Marius ungewohnt eifersüchtig und erschreckte sich selbst mit der Heftigkeit seiner stummen Reaktion. Der Mann tat zweifellos nur seine Pflicht, warum also gereizt sein?! Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf Zehen und Fingerspitzen. Das sollte den Kopf entspannen und Migräne vorbeugen. "Ich bin überrascht, dass es Übersetzer bei der Polizei gibt", bemühte er sich um leichte Konversation. Istvan sah hoch, denn inzwischen hockte er neben der Sitzbank, um Anais und Iris zu necken, die den Schrecken und die unbequeme Unterbringung in den Parkataschen vergessen zu haben schienen. "Oh, wir sind sogar zu dritt", lächelte er freundlich, "ich bin spezialisiert auf osteuropäische Fremdsprachen, natürlich auch Europa. Ein Kollege deckt Afrika ab und eine Kollegin ist Ostasien-Expertin. Wir gehören sozusagen zum technischen Spezialpersonal." "Gibt es auch da Schichtdienst?", Marius zog eine konzentrierte Linie zwischen seinen Augenbrauen, "oder mussten Sie extra wegen dieser Sache kommen?" Der Übersetzer schnappte sich kurzerhand Marius' Hausdamen, ließ sich neben ihm nieder und kraulte die Katzen vertraulich. "Wir haben keinen Schichtdienst", erklärte Istvan schmunzelnd, "ich bin allerdings alarmiert worden, weil die Möglichkeit besteht, dass man diese beiden Männer fasst." Die Erwähnung jagte Schauer über Marius' Rücken, er fröstelte plötzlich, zerdrückte den Plastikbecher in seinen Händen. "Das hoffe ich doch sehr!", murmelte er heiser. Die Vorstellung, allein in seiner Wohnung zu sein, mit einer zerstörten Tür und einem nicht mehr unbekannten Fluchtweg, behagte ihm gar nicht. Etwas piepte aufdringlich. Istvan setzte sich auf, summte und wippte mit den Beinen, um die verärgerten Katzen abzulenken, die diese Störung ihres Spiels gar nicht goutierten. Er zog einen zylindrischen Gegenstand aus der Gesäßtasche und studierte eine kleine Anzeige. »Meine Güte, die Dinger sind antik!«, registrierte Marius geistesabwesend. "Ah! Begleiten Sie mich bitte? Die Kollegen wollen das Protokoll aufnehmen", der Übersetzer erhob sich, die Katzen nonchalant auf seine Schultern gesetzt. Marius sammelte seine Habseligkeiten ein, entledigte sich des Plastikbechers und las den Porzellanuntersetzer vom Boden auf. Er war nicht sicher, ob er wirklich so rasch nach Hause wollte. Das Erstellen des Protokolls zog sich in die Länge, denn Marius musste sämtliche Eindrücke und Details seiner Flucht erklären, dann wurde er aufgefordert, zu den rätselhaften Notizen auf dem Zettel des noch immer unbekannten Mannes auf seiner Fußmatte Stellung zu nehmen. Erneut zeigte sich eine tiefe Falte auf Marius' Stirn. Die Übersetzung las sich für ihn wie eine Wegbeschreibung für jemanden, der mit Straßennamen nicht allzu viel anzufangen wusste. Schließlich gab er seine Einschätzung bekannt. "Ich glaube, es gibt mehrere Möglichkeiten, wo der Mann gestartet sein könnte, aber die Beschreibung sagt nicht genau, welches Haus gemeint ist", wies er auf einen wichtigen Punkt hin, "wir haben in dem Gebäudekarree mehrere Eingänge. Er könnte sich auch im Haus geirrt haben", denn es war Marius wichtig, erneut zu betonen, dass er den fremden Mann noch nie zuvor gesehen hatte und vermutete, dass der gewaltsame Einbruch in seine Wohnung mit dem Unbekannten zusammenhing. Mit der Zusicherung, dass er erreichbar bleiben würde, durfte sich Marius endlich als entlassen betrachten. Man hatte die beiden Einbrecher bisher nicht aufgreifen können, was ihn nicht gerade zuversichtlich stimmte. "Ich wohne in der Gegend", Istvan von Grünberg spazierte neben ihm durch das verschachtelte Gebäude, hielt Anais (oder Iris?) auf dem Arm und streichelte ihr schönes, kurzes Fell, "meine fahrbare Schuhschachtel steht im Parkhaus. Möchten Sie mitfahren?" "Das wäre sehr nett, danke schön", nahm Marius die Offerte an. Mit zwei Katzen ohne Korb in den öffentlichen Verkehrsmitteln, das erschien ihm nicht gerade ein erfreuliches Programm, doch angesichts der 'fahrenden Schuhschachtel' beschlichen ihn Zweifel. "Ähem, die Katzen sind noch nie in einem Auto gefahren", wagte er den ersten Vorstoß und starrte auf den eindeutig nicht mehr neuen Smart. Der Kleinwagen wirkte mit zwei verschiedenfarbigen Türen und einen gelben Kotflügel so, als habe man ihn aus Überresten anderer Modelle zusammengesetzt. "Ist schon ein wenig älter, habe ihn gebraucht gekauft", Istvan tätschelte im Besitzerstolz das Wagendach, rieb sich dann nachdenklich über das Kinn mit dem Dreitagebart. Ein Katzentransportsitz musste her! "Augenblick!", Istvan kreiselte um sein Transportmittel und öffnete den Kofferraum, "hinten können wir Ihre Umhängetasche verstauen." Zu Marius' Erleichterung entsprach das buntscheckige Äußere nicht dem inneren Zustand des Wagens. Abgesehen von einem klappbaren Transportkorb, der geschickt befestigt worden war, fand sich kein überflüssiger Ballast. Artig vertraute Marius seine Umhängetasche dem Inneren an, warf dann einen ratlosen Blick auf seine Katzen. "Am Besten", Istvan kraulte durch seine schwarzen Locken, "Sie ziehen Ihren Parka aus, dann haben wir es gleich!" Gehorsam schälte sich Marius aus seinem Parka, reichte ihn in das Innere des Wagens, wo Istvan bereits auf dem Fahrersitz herumkletterte. Geschickt klappte er nun die Kapuze des Parka über die Kopfstütze des Soziussitzes, verknotete dann die Ärmel auf dem Parkarücken, sodass die großen Taschen näher aneinander geführt wurden. "Wenn ich nun um die Katzen bitten dürfte?", forderte er Marius zwinkernd auf, der zwei sehr muntere Katzendamen einsammelte und nacheinander in das Wageninnere reichte. Ohne Hektik beförderte Istvan Anais und Iris in die Parkataschen, zog sich dann zurück. "Das müsste für die kurze Strecke eigentlich reichen", verkündete er aufgeräumt, "wollen wir?" Marius wollte. Er begab sich in das erstaunlich geräumige Innere des Kleinwagens und registrierte die vorherrschende Ordnung. Es gefiel ihm. Als sie aus dem Parkhaus an die Oberfläche gelangten, war es bereits stockfinster. Die Straßenbeleuchtung kämpfte sich durch eine trübe, kalte Nebelsuppe. Unwillkürlich schauderte Marius, obwohl die Heizung funktionierte und die Nähe des Chauffeurs auch ein übriges dazu tat, dass er eigentlich nicht hätte frieren müssen. Istvan fuhr sicher, in einer gelassenen Weise, die nicht darauf bestand, jeden Meter zu erkämpfen. Marius neben ihm betätigte sich als Uhu, drehte immer wieder den Kopf, um sich davon zu überzeugen, dass Anais und Iris artig in seinen Parkataschen ausharrten. In seinem Magen grummelte es klagend. Das Frühstück war lange vorbei, das Mittagessen am Einbruch gescheitert. Argwöhnisch warf er einen Seitenblick auf seinen Begleiter, ob der etwa die verräterischen Geräusche vernommen hatte, doch Istvan konzentrierte sich auf die Straße, forcierte kein Gespräch. Mehr durch Glück fand sich ein Parkplatz in der Nähe des Gebäudekarrees. Marius stieg aus, beugte sich dann wieder über den Sitz, um sich von Istvan erst die Katzen nacheinander und dann seinen Parka reichen zu lassen. Eilig warf er sich in die wärmende Hülle, verstaute seine schimpfenden Begleiterinnen und folgte Istvan zum Kofferraum, um seine Umhängetasche in Empfang zu nehmen. "Ich begleite Sie",verkündete der Übersetzer munter, in einem Tonfall, der Widerspruch verbat. Angesichts der Dunkelheit verzichtete Marius auf eine Einrede und ging voran. Istvan folgte ihm, sah sich immer wieder um, als sie durch den Innenbereich marschierten. Vor der Rückseite des Gebäudes, in dem sich Marius' Wohnung befand, blieb der Übersetzer stehen und wies auf den Notausstieg per Rettungsleiter. Jemand war so umsichtig gewesen, sie wieder einzuziehen, sodass man keinen unerwünschten Besuch anzog. "Da oben ist es?", erkundigte sich Istvan interessiert,"erster Stock?" "Genau", bestätigte ihm Marius, liebkoste zwei neugierige Katzenköpfchen, deren Besitzerinnen mit herrlich dunkelblauen Augen in die Höhe spähten. Sie umrundeten das Gebäude und betraten das Treppenhaus. Istvan studierte die Haustür eingehend, enthielt sich aber eines Kommentars. Hatten der Fremde und später die Einbrecher irgendwo geklingelt? Oder war es recht einfach, die Tür so zu präparieren, dass sie nicht fest in das Schloss einschnappte, sondern aufgehalten wurde? Hatte man sich mit Nachschlüsseln Zutritt verschafft? Zögerlich stieg Marius in den ersten Stock, starrte dann im grellen Schein der Treppenbeleuchtung auf seine Wohnungstür. Das Schloss war brutal herausgebrochen worden, auch der Rahmen hatte gelitten. Nun klebte ein polizeiliches Siegel darüber, verhinderte mit weiteren oben und unten, dass man sich unbemerkt einschleichen konnte. "Oha", murmelte er bekümmert. "Darf ich?", freundlich, aber bestimmt schob Istvan sich an ihm vorbei, zückte ein Taschenmesser und zerteilte geübt die Siegel, "ich habe das mit den Kollegen schon abgesprochen." Über die Schulter lächelte er Marius beruhigend an, "Sie müssen ja wieder in Ihre eigenen vier Wände kommen." "Ja", Marius übernahm zögerlich die Führung, lud Istvan mit einer höflichen Geste ein, ihm zu folgen. Er ging dann in die Hocke, um Anais und Iris abzusetzen, die eilig in Richtung Badezimmer flitzten. Resigniert studierte er das zerstörte Schloss, strich mit den Fingerspitzen über die Splitter. Eine Hand legte sich beruhigend auf seine Schulter, gemildert durch die Polsterung des Parkas, "vielleicht rufen Sie schon mal Ihren Vermieter an. Der muss den Schaden ersetzen." "Das bedeutet wohl", Marius erhob sich langsam, "dass ich morgen nicht arbeiten gehen kann, sondern auf einen Handwerker warten muss." "Das wäre in jedem Fall richtig", empfahl Istvan, sah sich aufmerksam um, "haben Sie einen schweren Stuhl? Den sollten Sie hinter die Tür stellen, um nicht überrascht zu werden." "Oh...ja...", Marius kehrte in die Gegenwart zurück. Er war Gastgeber und musste sich dieser Aufgabe besinnen, "wollen Sie nicht ablegen?" "Danke schön", Istvan lächelte, wickelte sich aus seinem Wollsakko und vertraute es dem Garderobenständer an. "Darf ich...?", mit einem zweifellos patentierten Hundeblick erbat er sich Pardon, bereits wissbegierig durch die kleine Wohnung zu streifen. Marius ließ ihn gewähren, begab sich in die Küche, um per Mobiltelefon seinem Vermieter, einer großen Gesellschaft, mitzuteilen, dass dringend eine Reparatur erforderlich wurde. Er konnte mit beklommenem Gefühl bloß hoffen, dass sich am nächsten Tag rasch ein Handwerker fand, der die Schäden beheben konnte. "Ich glaube, der Stuhl hier ist geeignet", leichtfüßig pirschte sich Istvan heran, apportierte bereits einen der beiden Barhocker aus der Küche, um ihn neben der Eingangstür abzustellen. Marius folgte ihm in die Diele, erhob keinen Widerspruch. Er hatte wirklich keine große Auswahl an Stühlen zu bieten. "Ah!", schon wieder stand Istvan vor ihm, lächelte abgelenkt, weil Anais und Iris mit den Pfoten seine Jeans malträtierten. "Entschuldigung!", brachte Marius peinlich berührt hervor, angelte die anhänglichen Katzen, "normalerweise tun sie das nicht!" "Oh, solange sie keine Krallen benutzen", winkte Istvan großmütig ab, hatte inzwischen auch seinen Tascheninhalt sortiert, "hier!", fächerte er seine Gaben auf, "das ist meine Visitenkarte. Meine Mobiltelefonnummer, die Nummer von meinem Piepser und natürlich meine Büronummer. Das hier ist eine Karte vom Weißen Ring, ein Verband, der sich um die Opfer von Verbrechen kümmert." "Danke", Marius blickte unbeholfen auf die Visitenkarten. Seine beiden Hände waren von Anais und Iris belegt, es blieb ihm lediglich noch der Mund, um irgendetwas in Empfang zu nehmen. Istvan betrachtete seine Situation amüsiert und grinste breit, bevor er die freie Hand ausstreckte und nacheinander die Katzen entgegennahm, um sie auf den Boden zu entlassen. "Also", nahm er einen erneuten Anlauf, "die Karten hier sollten Sie in Ihrer Nähe aufbewahren. Wenn Ihnen etwas auffällt, rufen Sie uns einfach an, nur keine Scheu", er zwinkerte. "Danke schön", wiederholte Marius, fühlte sich aber bei dem Gedanken, ganz allein mit seinen ungewohnten Problemen auszuharren, nicht wohl. Unterdessen schlüpfte Istvan bereits wieder in sein Wollsakko. "Ah!", er fingerte ein kleines Kästchen aus einer Tasche, "das möchte ich Ihnen geben, nur zur Sicherheit", er beugte sich vor, bis seine Locken beinahe Marius' Schläfe streiften, erklärte eifrig das Kästchen, "das ist ein Personenalarm. Wenn Sie hier an der Schlaufe ziehen, wird ein sehr lauter Alarmton ausgelöst. Sie sollten eine Taschenlampe, Ihr Mobiltelefon und den Alarm in Reichweite behalten, zumindest so lange, bis die Tür wieder repariert worden ist." NUN fühlte sich Marius gar nicht mehr der Lage gewachsen, aber er setzte ein tapferes Lächeln auf und wiederholte seinen Dank. Istvan zwinkerte, schüttelte Marius' ausgestreckte Hand herzlich und verabschiedete sich trotz des lautstarken Katzenprotestes. Artig klemmte Marius anschließend den Barhocker schräg vor die Tür und hoffte, dass wenigstens das Poltern ihn wecken würde. Was nun als nächstes tun? Er kontrollierte gedankenverloren den Akkustand seines Mobiltelefons und entsann sich, dass er den wöchentlichen Anruf bei seiner Mutter verpasst hatte. "Sollte ich lieber gleich erledigen", murmelte er schicksalsergeben, flankiert von Anais und Iris, "dann gibt's endlich Abendessen!" Dabei wurde ihm bewusst, dass sämtliche seiner Messer eingezogen worden waren und sich noch auf dem Präsidium befanden, damit nach Fingerabdrücken gesucht werden konnte. So langsam verabschiedete sich auch sein gewöhnlich unerschütterlicher Stoizismus. Ob seine Pechsträhne nun ein Ende hatte? "Kein Grund zur Besorgnis", stellte er laut fest, hielt inne, um nicht über die sehr anhänglichen Katzen zu stolpern. Er hatte Werkzeug und Gabeln, Verhungern drohte also nicht! Solcherart aufgemuntert versprach er sich und seinem protestierenden Magen ein üppiges Abendessen, und zwar als Belohnung, wenn er sich dem Tadel seiner Mutter ausgesetzt hatte. Wacker näherte er sich also seinem blinkenden Anrufbeantworter, eigens angeschafft, um den lästigen Werbeanrufern unseriöser Drückerkolonnen Einhalt zu gebieten. Ein kleines Lämpchen signalisierte ihm, dass in der Tat jemand Nachrichten hinterlassen hatte. Man musste nicht prophetisch begabt sein, um einen Absender zu benennen. "Marius, mein Lieber, es ist jetzt 17.05 Uhr. Du hast dich nicht gemeldet. Ich möchte dich bitten, doch vor der Tagesschau anzurufen, sonst störst du deinen Vater bei seinem Krimi. Deine Mutter, es ist jetzt 17:06 Uhr!", jede Silbe bekleidete einen unausgesprochenen Vorwurf. Er hatte nicht nur den 17.00 Uhr-Pflichtanruf versäumt, nein, jetzt drohte sogar noch die Gedankenlosigkeit, nach der magischen Bannmeile von 20.00 Uhr zu stören! "Nun ja, bevor sie die Polizei alarmiert, weil ich mich gar nicht melde", wollte er sich in das Unvermeidliche einer sanften Standpauke schicken, da bedeutete ihm das altertümliche Gerät, es sei noch eine weitere Nachricht vorhanden. Marius runzelte überrascht die Stirn, drückte dann ein zierliches Knöpfchen, um seine Neugierde zu befriedigen. Zunächst hörte er nur ein ihm unverständliches Wort, bevor eine raue Stimme mit starkem Akzent drohte, es sei noch nicht vorbei. Er lehnte sich gegen die Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Anais und Iris hockten auf seinen Zehen und blinzelten ihn aufmerksam von unten an. Auch sie waren wohl gespannt, wie sein nächster Schritt aussah, und nicht nur, weil sie gerade recht bequem hockten! "Fein!", stellte Marius in einem Tonfall fest, der das genaue Gegenteil vermuten ließ, "Houston, wir haben ein Problem." Er gedachte allerdings, sein Problem nächstenliebend auch anderen anzutragen, angefangen mit Herrn von Grünberg, der so freigiebig mit Visitenkarten und Kontaktmöglichkeiten gewesen war. "Anais! Iris!", kommandierte er entschlossen, "ich benötige die Karten und das Mobiltelefon!" Marius führte also eine kleine Parade durch seine Wohnung, um das gewünschte einzusammeln und eingedenk versprengter Erinnerungen an diverse Filme die Vorhänge zuzuziehen und die Rollläden herunterzulassen, dann hockte er sich bequem neben seinen Anrufbeantworter auf den Boden, breitete die Visitenkarten aus, hob sich anhängliche Katzen auf den Schoß und wählte die Mobilfunknummer des Übersetzers an. Zu seiner Verwunderung meldete sich Istvan sofort und bestand darauf, die Aufnahme des Anrufs anzuhören. So bestätigte sich auch Marius' Vermutung, dass das ihm unverständliche Wort eine Beleidigung war, die der Übersetzer leicht dolmetschen konnte, nicht, dass es einer Dechiffrierung bedurft hätte. Istvan trug Marius auf, die Kassette aufzubewahren und am nächsten Tag ins Polizeipräsidium zu bringen, wenn er hoffentlich sein Besteck auslösen konnte. Vielleicht wäre es ja erforderlich, anhand eines Stimmmusters die beiden Einbrecher zu identifizieren. "Mich treibt eher die Frage um, ob ich heute Nacht hier sicher bin!", kam Marius energisch auf den für ihn vordringlichsten Punkt. Er ging keineswegs fehl in der Annahme, dass es nicht gelungen war, die beiden Männer aufzustöbern. "Das glaube ich eigentlich schon", Istvans gelassene Antwort verärgerte Marius aus ihm unerfindlichen Gründen, "Sie werden nicht wagen, innerhalb eines Tages zweimal zu erscheinen. Aber die Kollegen haben schon die Streife auf die Wohngegend ausgedehnt, und ich werde gleich die Information über das Tonband mit der Drohung weitergeben. Es würde sich aber lohnen, darüber nachzudenken, warum diese Leute vermuten, dass Sie etwas wissen! Über den Unbekannten, meine ich." Nun wurde es Marius aber zu bunt. Betont frostig erwiderte er, "Herr von Grünberg, ich darf Ihnen versichern, dass mir dieser Fremde völlig unbekannt ist und ich ÜBERHAUPT keine Vorstellung davon habe, warum diese Leute mich heimsuchen!" Er setzte noch zu einem eisigen Gruß an, doch Istvan unterbrach ihn unhöflich, mit einem amüsierten Lachen, "ich habe vollkommen verstanden, Herr Neithold. Machen Sie sich keine Sorgen, heute Nacht wird bestimmt nichts passieren." »Gefühlloses Ekelpaket!«, schnaubte Marius stumm, durchaus empört. Er beendete das Gespräch sehr knapp und knurrte laut, doch Anais und Iris würden seinen Ausfall sicherlich nicht preisgeben. Für ihn war diese ganze Episode beängstigend, außerdem hatte er keine Erfahrung im Umgang mit der Polizei. Sein gesamtes Leben stand Kopf, und dieser seltsame Vogel ging leichthin darüber hinweg! In dieser überaus agitierten Stimmung teilte er sich auch seiner Mutter mit, ohne Rücksicht auf die fortgeschrittene Stunde. Was konnte so ein Fernsehkrimi schon bieten, wenn das reale Leben solche Kapriolen schlug? Endlich aller Pflichten ledig beschloss Marius trotzig, dass er sich eine Backofen-Lasagne verdient hatte, servierte auch seinen tapferen Damen ein zusätzliches Nachthupferl. Solcherart gestärkt fühlte sich Marius konzertierter Aktionen mächtig. Zunächst speicherte er Istvans Rufnummern in seinem Mobiltelefon, das danach sofort der Steckdose zwecks Ladung anvertraut wurde. Anschließend marschierte er mit Anais und Iris auf den Fersen durch die Wohnung, um potentielle Einbrecher abzuschrecken. Er sah aus praktischen Gründen, Einbrecher brachten zweifellos eine Taschenlampe mit!, davon ab, die Sparbirne aus der Dielenlampe zu drehen, verteilte aber rund um den blockierenden Barhocker Murmeln, die sich in einer der Kisten gefunden hatten, die er seit Jahren nicht auspacken wollte. Nachdem er das Bad aufgesucht und sich für die Nacht präpariert hatte, klemmte er in den Türrahmen zum Schlafzimmer auch noch einen Besen ein. Mit dem Taschenalarm in Reichweite, dem Telefon auf dem Kopfkissen und zwei tapferen Katzendamen zu Füßen, so befand Marius, konnte ihm kein Übel mehr drohen. ~o~ Am nächsten Morgen beeilte sich Marius, den Hindernisparcours zu beseitigen, bevor er nach einem deftigen Frühstück den ersten Anruf in Angriff nahm, ausführlich, denn er wollte sich das Wohlwollen seiner Kolleginnen erhalten. Er schilderte die Ereignisse des Wochenendes, die darin gipfelten, dass er unerwartet erneut mindestens einen Urlaubstag opfern musste. Angesichts der spannenden Entwicklung, die zu allerlei Spekulationen einlud, wurde ihm großmütig vergeben, nachdem er sich bereit erklärt hatte, bei Neuigkeiten sofort anzurufen. Der nächste Anruf galt der Hausverwaltung, die sich früh an einem Montagmorgen nicht sonderlich erbaut darüber zeigte, dass eine Wohnungstür ersetzt werden musste. Marius drängte unerschrocken auf einen Rückruf, sobald ein Handwerksunternehmen beauftragt worden war. In seinen düsteren Visionen sah er kommen, dass Kostenvoranschläge und Begutachtungen den Ersatz des demolierten Schlosses verzögern würden. Sodann, als sich endlich eine blasse Sonne miesepetrig am Himmel blicken ließ, marschierte das Defilee der wissbegierigen Nachbarschaft auf, die sich aus erster Hand erkundigen wollte, welche unglaublichen Ereignisse die sakrosankte Ruhe im Haus gestört hatten. Folglich hatte Marius so viel Gesellschaft, dass er sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen konnte. Endlich erschien auch ein Handwerker, breitbeinig wie ein Jockey, stark untersetzt und mit einem Meister Eder-Blick, einen Stift hinter das linke Ohr geklemmt. Marius' Herz sank, denn abgesehen von einem Zollstock und einen Block, der aus der Vordertasche einer Latzhose gezogen wurde, schien sich kein beeindruckendes Werkzeug oder gar ein neuer Schließzylinder in Reichweite zu finden. Nach angestrengten Kalkulationen und einem Kommentar über die ausgesprochen miese Qualität der Eingangstür wurde Marius ungerührt in Kenntnis gesetzt, dass mit einem Einbau am nächsten Tag gerechnet werden könnte, natürlich nur unter der Voraussetzung, dass rechtzeitig eine Auftragserteilung durch die Hausverwaltung vorlag. Mit einem tapferen Lächeln akzeptierte Marius dieses Expertenurteil, verzichtete auf Klagen oder Beschwerden. Eine weitere Nacht ohne sichere Tür, die im Übrigen ja gar nicht so viel Schutz geboten hatte!, konnte er verkraften, vor allem im Bewusstsein, dass das Haus nun einem Bienenkorb glich, weil alle auf der Lauer lagen, um keinen Besuch zu verpassen, der sich ja als getarnter Spitzbube entpuppen könnte! Sofort, nachdem 'Meister Eder' munter schnaufend wie ein Dampfross das Gebäude verlassen hatte, informierte Marius artig die Hausverwaltung und bat um eine schnelle Auftragserteilung, dann kroch er erneut telefonisch zu Kreuze, um einen weiteren Tag Urlaub zu beantragen, konnte, sehr zur Enttäuschung der Kolleginnen, keine bahnbrechenden, neuen Erkenntnisse zum Besten geben. Einigermaßen erschöpft, obwohl er doch den ganzen Tag eigentlich nichts Produktives getan hatte, gönnte sich Marius eine Tomatensuppe mit Reis, die eher einem Eintopf glich, bevor er die 'Einbruchfallen' zusammenstellte und sich für einen gemütlichen Tagesausklang in seinen Lesesessel zurückzog. Er schwebte gerade nahe einem Schwarzen Loch, das als Beschleunigung für Dimensionsreisen genutzt wurde, als ihn die Haustürklingel hochschrecken ließ. Wer konnte das um diese Uhrzeit sein?! Einer seiner Skatbrüder, denen er doch abgesagt hatte? "Ja?", erkundigte er sich höflich durch die Gegensprechanlage. "Istvan von Grünberg hier! Guten Abend! Darf ich näher treten?", trällerte es ihm munter entgegen, ein wenig blechern durch das Echo. Verblüfft drückte Marius den Summer, sah sich hastig um, ob seine vier Wände einem strengen Blick standhalten konnten. Unterdessen stürmte der Übersetzer schwungvoll in den ersten Stock hinauf, lächelte Marius an, der in seiner lädierten Tür stand und durchaus verwirrt war, was den Zweck des überraschenden Besuchs betraf. Gab es etwa Neuigkeiten? Dennoch hielt er seine Zunge im Zaum, half Istvan aufmerksam aus dessen Wollmantel und ignorierte das anerkennende Grinsen, was die Schüssel voller Murmeln anging. Er führte Istvan ins Wohnzimmer, wo Anais und Iris die Abwesenheit ihres Mitbewohners genutzt hatten, um auf dem Sofa herumzuklettern. Sie begrüßten Istvan enthusiastisch. Marius zog einen Flunsch. "Oh, das Poster sieht aber übel aus!", der Übersetzer fühlte sich wie zu Hause, studierte den durchsiebten Elvis mit aufgestützten Ellenbogen. Bekümmert gruppierte sich Marius neben ihn. "Eine Schande!", stellte er deprimiert fest und beugte sich vor, um das Poster behutsam von der Wand zu nehmen. Sie wies einige sehr hässliche Löcher auf. "Tja, die Messer werden sicher noch eine Weile bei der KTU sein", Istvan pflückte eine Katze von seinem Fuß, nahm sie auf den Arm und kraulte fleißig, um den Schnurrmotor auf Touren zu bringen, "müsste man zugipsen, die Löcher", teilte er sich dann Marius mit, der dem Jaulen der zweiten Katzendame nachgab und sich fragte, wer hier wohl wen 'hielt'. "Oh", brummte er und grübelte angestrengt darüber nach, wann er zum letzten Mal in seinem kleinen Haushalt handwerklich tätig gewesen war. An so etwas wie Gips oder Spachtelmasse konnte er sich nicht erinnern. Überhaupt musste Marius eingestehen, dass er allen handwerklichen Herausforderungen, die über die einfache Montage der Regale eines schwedischen Möbelhauses hinausgingen, sehr skeptisch gegenüberstand. "Ich glaube, ich habe keinen Gips mehr", antwortete er rasch, weil ihm Istvans aufmerksamer Blick auffiel, "ich muss wohl in den Baumarkt radeln." Keine erfreuliche Aussicht, bedachte man die Entfernung. "Du liest wohl sehr gern, wie?", der Übersetzer spazierte katzenbewehrt durch das Wohnzimmer, studierte ungeniert die Buchrücken. Marius spürte, wie ihm Farbe in die Wangen stieg. Bücher waren etwas Intimes, Privates! "Ich nehme an, es gibt noch keinen Fahndungserfolg?", er wollte Istvan von seiner Bücherwand weglotsen und gestikulierte einladend Richtung Sofa, doch sein unerwarteter Gast schien blind gegen diese Offerte. "Gibt es noch ein anderes Poster als Ersatz?", die schwarzen Augen bohrten sich neugierig in Marius' Gesicht, als suchten sie nach etwas. »Hmm!«, dachte Marius kritisch. Konnte der Übersetzer etwa als Ermittler seine Glaubwürdigkeit prüfen wollen? »Ich gucke wahrscheinlich zu viele schlechte Krimis«, unterstellte er sich abwinkend. Da Istvan aber so viel Interesse zeigte, bequemte sich Marius, seine Katze abzusetzen und eine große Mappe hervorzuholen, in der er Poster aufbewahrte. Gemeinsam blätterten sie in der ansehnlichen Auswahl. Welches Motiv eignete sich, die Nachfolge anzutreten? "Man könnte es auf Spanplatte ziehen lassen und versiegeln", kommentierte Istvan aufmerksam, widmete sich dem Angebot, als gelte es, gemeinsam Gardinen auszusuchen. "Wirklich? Und wo?", Marius signalisierte Interesse, um seine Irritation zu verbergen, "darf ich vielleicht Kaffee anbieten? Oder Tee? Wasser?", ergänzte er, da sein unerwarteter Gast keine Anstalten unternahm, sich schnell zu verabschieden. "Im Baumarkt, da, wo sie auch die Wandfarben zusammenmischen", plauderte Istvan, "darf ich helfen? Vielleicht den Teebeutel füllen?" Marius schnaubte über das freche Grinsen, erstaunte sich selbst, weil er doch üblicherweise eine phlegmatische Gutmütigkeit an den Tag legte. Trotzdem hinderte er seinen Besucher nicht daran, ihm in die kleine Küche zu folgen. "Wie wäre es, wenn wir zusammen zum Baumarkt fahren? Ich habe auch noch Einiges zu besorgen", Istvan lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Kühlschrank, zwinkerte. »Er sieht wie ein modischer Verseschmied aus«, bemerkte Marius, »immer schwarz gekleidet, Rollkragenpullover und Sakko!« Aber man musste zugeben, dass dieser Aufzug sehr gut mit Augen und Haarfarbe korrespondierte. "Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten", antwortete er, pflückte den Verbund zusammengetüdelter Teebeutel aus der Kanne und versenkte ihn im Ausguss zum Abtropfen. "Ach, woher denn!", Istvan spielte Katzenschaukel, hob abwechselnd einen Fuß, um je eine Katze in die Luft zu heben, "es ist mir ein Vergnügen!" "Ja, dann", Marius nahm das zerkratzte Tablett mit den Teebechern, Zucker und dem Karton Milch, um in sein Wohnzimmer zurückzukehren. Natürlich war es eine Versuchung, mit dem Auto transportiert zu werden, zog man das Schmuddelwetter und die Strecke in Betracht, außerdem würde das Poster auf der Spanplatte recht unhandlich zu befördern sein. "Also abgemacht?", Istvan faltete sich anmutig auf dem Sofa zusammen, lächelte Marius prüfend an. "Ja. Vielen Dank!", musste der sich geschlagen geben. Ein innerer Schweinehund hatte eben oft die besseren Argumente und den längeren Atem. "Morgen Abend? Die haben bis 20 Uhr offen!", eifrig schmiedete der Übersetzer Pläne, nippte dabei an seinem gesüßten und mit Milch vermählten Tee. Marius folgte seinem Beispiel und schätzte das voraussichtliche Arbeitsende des Handwerkers ab sowie die Zeit, die er benötigen würde, um mit dem Fahrrad bis zum Präsidium zu gelangen. Die von ihm vorgeschlagene Uhrzeit konvenierte Istvan, doch etwas anderes schien dessen Konzentration zu zerstreuen. "Darf ich um etwas bitten?", platzte er schließlich heraus, als Marius gerade die verschmähten Poster in der Mappe verstaute. "Natürlich", erwiderte Marius in reflexartiger Höflichkeit, lupfte eine Augenbraue. "Können wir uns vielleicht mit Vornamen ansprechen?", Istvan setzte ein schurkisch-verschmitztes Grinsen auf, "so förmlich müssen wir doch nicht mehr sein, oder?" Beinahe unmöglich, diese Bitte abzulehnen, das wusste Marius. Er hatte selbst den Eindruck, dass es sehr gestelzt klang, wenn er immer wieder "Herr von Grünberg" einstreute. "Ich habe nichts dagegen", erklärte er, ließ seinen Teebecher sanft gegen Istvans klingen, "Marius." "Istvan", schmunzelte der Übersetzer und deutete eine Verbeugung an. Für einen langen Augenblick trat eine Gesprächspause ein. »Was nun?«, Marius verspürte einen leichten Anflug von Nervosität, immerhin hatten sie gerade die geschäftliche Grenze überschritten, konnten einander Privates anvertrauen. Bevor das Schweigen eine ungemütliche Note annahm, erkundigte er sich hastig, "welche Sprachen sind denn dein Aufgabengebiet?" Der Übersetzer leerte seinen Teebecher rasch, lehnte sich dann bequem zurück, zwei ausgesprochen treulose Katzendamen auf dem Schoß, die um die Wette schnurrten. "Oh, ich bin für Europa zuständig", erklärte Istvan leichthin, "bis Asien. Na ja, ich kann auch für Amerika einspringen, aber Europa ist mein Fachgebiet. Meine beiden Kollegen übernehmen Afrika und Asien." Marius staunte, "ganz Europa? Alle Sprachen?!" Das konnte wohl nur ein Missverständnis sein! "Genau", Istvan feixte nun eindeutig, amüsiert über Marius' fassungslosen Gesichtsausdruck, "wenn man die ersten zehn Sprachen mal beherrscht, ist der ganze Rest gar nicht mehr so schwierig." »HÄ?!«, reagierte Marius' innere Stimme baff und ärgerlich, denn das konnte unmöglich wahr sein. Zumindest, wenn man sich gerade mal mit Englisch und einigen Brocken Französisch über Wasser hielt! "Ich habe eine Begabung für Sprachen und bin erblich vorbelastet", mit einem Schulterzucken streifte Istvan seine Pose ab, wurde charmant-ernst, "mein Großvater und mein Vater sind in diplomatischen Diensten durch die Welt gereist, sodass ich ebenfalls ein wenig herumgekommen bin. Da bleibt eben immer etwas hängen." "Unglaublich", murmelte Marius schließlich, korrigierte sich dann eilig, um nicht skeptisch zu klingen, "ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man so einfach fremde Sprachen lernt. Meine Begabung auf diesem Gebiet ist eher bescheiden." Istvan lächelte sonnig, "alles nur eine Frage der Übung. Nach einer Weile entdeckt man dann die sprachlichen Verwandtschaften und kann sich durchhangeln." "Aber", Marius zögerte, denn er hatte mit einer Frage herausplatzen wollen, die durchaus persönlich war. "Ja?", Istvan pflückte Anais, die auf der Sofalehne spaziert war und nun auf seine Schulter klettern wollte, herunter. "Nun ja", Marius nahm einen Schluck Tee, um Mut zu fassen, "ich frage mich nur, bei dieser außergewöhnlichen Begabung, warum nicht auch im konsularischen Dienst arbeiten?" "Gute Frage!", der Übersetzer zwinkerte vertraulich, "die Antwort ist einfach: ich möchte gern an einem Platz leben und nicht mehr ständig durch die Welt ziehen." »Aha!«, dechiffrierte Marius selbstgewiss, »der Liebe wegen sesshaft geworden!« Sein Gesichtsausdruck musste ihn verraten haben, denn Istvan lachte auf, "nein, ich bin nicht so romantisch veranlagt, dass ich aus Liebe mein Wanderleben aufgegeben habe! Ich mag einfach diese Stadt hier, die Möglichkeiten, die sich bieten. Wenn ich reisen will, kann ich das von hier aus prima tun und komme durch meine Arbeit mit so vielen Nationalitäten in Kontakt, dass ich auch nicht aus der Übung komme. Eigentlich ein Traumberuf." »Upps!«, kommentierte Marius' innere Stimme das voll getroffene Fettnäpfchen und ermahnte sich streng, nicht mehr übereilte Schlüsse zu ziehen. "Und du?", der Übersetzer schenkte Marius unaufgefordert Tee nach und maß abgezirkelt Zucker und Milch ab. "Oh, nun ja", Marius zuckte mit den Schultern, "nach der Bundeswehr habe ich mich beworben und bin genommen worden. Diplomverwaltungswirt", ergänzte er zum besseren Verständnis. "Magst du den Publikumskontakt?", Istvans kohlrabenschwarze Augen fokussierten sich auf diese einschüchternd intensive Weise auf Marius' Gesicht. "Oh, sicher. Es ist sehr abwechslungsreich", nickte Marius. In der Tat hatte er nichts gegen seine Arbeit einzuwenden. Die Routine der Tätigkeiten wurde durch die Kundschaft unterbrochen, die immer wieder das Team herausforderte. Außerdem war nichts so beständig wie die Reformen des öffentlichen Dienstes. "Dann haben wir wohl beide gemeinsam, dass wir das Leben hier in dieser Stadt mögen", Istvan erhob lächelnd seinen Teebecher für einen Toast. Marius tat es ihm nach, entspannte sich langsam. Auch wenn er noch nicht genau einordnen konnte, warum Istvan seine Gesellschaft suchte, so hatte er doch das Gefühl, dass sie einander sympathisch werden könnten. ~o~ Nachdem sie dem Tee den Garaus bereitet hatten, über dies und das gesprochen hatten, was die Gemüter bewegte, schlug Istvan vor, dass er das Poster bereits jetzt mit zu seinem Wagen nehmen sollte, dann bliebe Marius der Fahrradtransport erspart. Der pflichtete diesem vernünftigen Vorschlag bei und demonstrierte Istvan, bevor der sich zu seinem Wagen aufmachte, die recht eigenwilligen Sicherheitsvorkehrungen. Istvan lobte ihn lachend für den Erfindungsreichtum und verabschiedete sich dann bis zum nächsten Abend. Marius rüstete seine 'Selbstverteidigungsanlagen' hoch und diskutierte anschließend mit seinen Hausgenossinnen seine Eindrücke von Istvan. Sie waren offenkundig von dem polyglotten Übersetzer stark eingenommen. Er selbst fand, dass entgegen des ersten, reservierten Eindrucks, dieser Typ wirklich ein 'Freund und Helfer' war. Am nächsten Morgen frühstückte Marius gewohnt zeitig, denn er wollte den zweiten, unfreiwilligen Urlaubstag für einen gründlichen Wohnungsputz nutzen. Schlussendlich würde er auch noch die Spuren des Handwerkers beseitigen müssen, der endlich die Schäden an der Wohnungstür beseitigte. Marius hatte sich richtig in Schweiß gebracht, als der Doppelgänger von Meister Eder gegen Mittag erschien, doch dann ging der zügig ans Werk, natürlich weder lautlos noch sonderlich reinlich, allerdings der Arbeit geschuldet. Marius tollte mit Anais und Iris im Wohnzimmer herum, übertönte das Geräusch des Bohrers mit der unvergleichlichen Stimme des King und fühlte sich beschwingt. Die Pechsträhne musste ein Ende gefunden haben! Nun, mit einer Tür, die ihren Zweck wieder erfüllte, stieg auch Marius' Laune. Er rüstete sich für einen Abstecher in die unbekannten Gefilde des Baumarkts aus und verabschiedete sich von den dösenden Katzen. Glücklicherweise belästigte ihn nur ein dünner Sprühregen, als er Richtung Präsidium strampelte, vorschriftsmäßig beleuchtet. Beim Pförtner wartete er, um Istvan per Haustelefon benachrichtigen zu lassen. Er musste nicht lange ausharren. Der Übersetzer hopste schwungvoll die Treppen hinunter, begrüßte ihn wie einen langjährigen Freund, bedeutete ihm, an der Ausfahrt in der Haltebucht zu warten, denn auch für das Parkhaus galten strenge Sicherheitsvorschriften. Einige Minuten später fuhr Istvan vor, winkte Marius herein. Im Inneren des Smart lief ein Klassiksender, der gerade Barmusik spielte. Istvan pilotierte souverän durch den dichten Feierabendverkehr. Er summte leise mit, lächelte vor sich hin. Marius war dankbar, dass ihm kein Gespräch aufgezwungen wurde, denn er genoss den ungewohnten Luxus, die weihnachtlich ausgeleuchtete Stadt bequem zu studieren, ohne selbst auf den Verkehr achten zu müssen. Zu seiner Überraschung war der große Parkplatz des Baumarkts sehr gut besucht. Glücklicherweise fand sich für das kleine Auto jedoch mühelos noch ein Eckchen, sodass sie bewaffnet mit Marius' Poster in den grell ausgeleuchteten Eingang gingen. Im Inneren übernahm Istvan die Führung. Er steuerte zielsicher die Servicetheke an, wo er ihr Anliegen schilderte. Marius zahlte klaglos, denn hier galt Vorkasse und versprach, sich in der nächsten Stunde zur Abholung wieder einzufinden, dann marschierte er hinter Istvan her, der für die hässlichen Stichwunden in der Wand eine schnell härtende Gipspaste in einer Tube empfahl. Ohne eigene intime Kenntnisse beugte sich Marius dem Expertenurteil, tappte anschließend in Istvans Kielwasser durch die gewaltigen Regallandschaften, die mehrere Meter über ihnen bis zum Dach ragten. Der Übersetzer wählte eine Sparglühbirne aus, dazu noch allerlei Kleinkram wie Nägel oder Kabelbinder. Außerdem benötigte der Smart ganz dringend einen neuen Eiskratzer. Als der Rundgang beendet war, spürte Marius tatsächlich seine Füße. Einkaufen war wirklich anstrengend! Umso glücklicher konnte er mit seinem neuen Wandschmuck und der Tube in der Tasche den Baumarkt verlassen. Gerade vertrauten sie das mit Pappe gepolsterte Poster auf Spanplatte dem Smart an, als Marius ein lautstarkes Grollen vernahm. Es war jedoch kein Gewitter im Anzug, sondern eine sehr bodenständige Alarmmeldung: Istvans Magen führte Beschwerde. "Entschuldigung, er ist ein wenig vorlaut!", lachte der Übersetzer, "ich habe seit dem Frühstück bloß eine Tafel Schokolade gegessen. Das nimmt er mir wohl krumm." Marius blickte sich um und sah einen fahrbaren Imbiss direkt neben dem Baumarkt, "darf ich dich als Dank denn einladen? Riechen tut es zumindest gut", wies er mit dem Kopf in Richtung des Imbiss. "Das wäre prima!", Istvan war sofort Feuer und Flamme. Sie traten zusammen unter das aufgespannte Stoffdach und reihten sich ein, um Curry-Bratwurst und Pommes frites zu ordern. Ein zünftiges Abendbrot, bedachte man die Umgebung. Da die Stehtische belagert waren, transportierten sie ihre wertvolle Ware zum Smart, an den man sich auch gut anlehnen konnte. Gegen die frische Kühle der einsetzenden Nacht dampfte die Seelenkost anheimelnd an. Istvan fischte in seiner Sakkotasche und beförderte eine Verpackung ins Licht der Parkplatzbeleuchtung. Marius, dessen Einschätzung offenkundig gefragt war, studierte mit vollen Backen die Aufschrift. Es handelte sich um die zerdrückte Umverpackung einer Zartbitterschokolade, die mit einer scharfen Chili- und einer Sauerkirsch-Mischung gefüllt worden war. Laut Hersteller stellte diese ungewöhnliche Kombination eine angenehm fruchtig-feurige Geschmacksexplosion dar. »So kann man das Verursachen von Karies auch veredeln«, schmunzelte Marius. "Magst du so etwas?", Istvan tupfte sich bereits die Lippen sorgfältig mit der Serviette ab. "Nicht sonderlich", gestand Marius ein, "ich habe nicht den Hang, mir masochistisch die Zunge abzufackeln mit scharfen Dingen." Istvan zwinkerte, "dann bist du eher ein süßer Typ?" "Pikant", korrigierte Marius grinsend, "ich werde eher bei Kartoffelchips schwach als bei Schokolade. Muss wohl an meinen Genen liegen." Nun lachte Istvan, "das große Kartoffelbauer-Erbe der Pfalz?" "Exakt", Marius wischte sich ebenfalls den Mund, sammelte die Überreste ihrer Mahlzeit ein und entsorgte sie samt der Schokoladenverpackung. Obwohl ihm durchaus bewusst war, dass es gerade der Höhe der Zeit entsprach, kontrastreich Nahrungsmittel zu kombinieren, Gegensätzliches zu verbinden, verspürte er kein Verlangen danach, sich durch Schmerz abzuhärten, und Schärfe war nichts anderes. Er wollte Istvan überreden, ihn beim Präsidium herauszulassen, immerhin stand sein Fahrrad dort noch, doch der winkte ab. Erst musste das Bild sicher abgeliefert werden! Überhaupt, wie wäre es, wenn er ihn morgen Früh abholen würde, dann könne er doch vom Präsidium aus zum Bürgeramt fahren? Marius gab sich schließlich geschlagen. Außerdem, warum sollte er nicht auch den Experten damit betrauen, die Einstiche in der Wand zuzuspachteln, wenn er derartig bestürmt wurde? Während Marius also Tee aufsetzte, versuchte sich Istvan unter strenger Aufsicht von Anais und Iris an der Wand. Das Resultat konnte sich sehen lassen, befand er schließlich. Sein Gastgeber korrigierte ihn grinsend, sehen lassen ganz sicher nicht, immerhin musste der King wieder an exponierter Stelle residieren. Amüsiert lenkte Istvan ein und hielt die Spanplatte mit dem Poster artig 'da ein bisschen höher, ein wenig nach links', bis Marius' Anweisungen verebbten, weil der mit der Position zufrieden war und sich an die Befestigung machte. Nachdem sie gemütlich den Tee getrunken hatten, verabschiedete sich Istvan gut gelaunt mit dem Versprechen, Marius zeitig aus dem Bett zu klingeln. "Da sieht man mal wieder, dass alles zwei Seiten hat, sogar ein Unglück", stellte Marius für seine Katzendamen fest. Er war gespannt, ob sich wirklich eine Freundschaft aus dieser unerwarteten Bekanntschaft ergeben würde. ~o~ Kapitel 3 - Flucht in den Tango Am nächsten Morgen stand Istvan wie verabredet auf der Matte, um Marius abzuholen. Sie verabschiedeten sich voneinander mit dem gegenseitigen Versprechen, sich über neue Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Marius, dessen erster Arbeitstag in der Woche nun begann, konnte nicht allzu viel Zeit auf Sorgen oder andere Dinge verschwenden, denn der Alltag holte ihn rasch ein. Außerdem wollte jeder erfahren, was ihm seit der letzten Begegnung widerfahren war. Zu seiner Erleichterung kam es nicht zu weiteren unliebsamen Überraschungen, auch Anais und Iris zeigten sich mustergültig, wenn er sie das Haus hüten ließ. Am Freitagabend bowlte Marius wie gewohnt mit seinen Freunden, tauschte sogar Vorschläge und Anregungen für eine kleine Weihnachtsfeier aus, ohne sich unangenehm an den Auftakt seiner Pechsträhne zu erinnern. Mit der Frühpost am Samstag wartete eine weniger erfreuliche Aufgabe auf ihn: die Versicherung der Hausverwaltung, die für den Schaden Ersatz leisten musste, wollte eine exakte Schilderung der Umstände haben. Mehrere Seiten Fragebogen beanspruchten Marius' Zeit, sodass er sich später als gewohnt auf den Weg zum Einkaufen machte. Da er nur einige Kleinigkeiten besorgen wollte, entschied er sich, sein Fahrrad im Schuppen zu lassen und zu Fuß zu gehen. So konnte er auch ein wenig die Verärgerung über den komplizierten Fragebogen abstreifen. Marius hatte gerade eine Grünfläche zwischen einem benachbarten Häuserblock durchquert, als ihm im Augenwinkel auffiel, wie sich zwei Männer aus einem Hauseingang lösten, eigentlich nichts Ungewöhnliches, doch er war alarmiert, ohne genau bestimmen zu können, was ihn so beunruhigte. Er nutzte die spiegelnde Fläche einer Konditorei, um sich einen exakten Blick zu verschaffen und erschrak: das waren die beiden Einbrecher! Was tun?! Hier befand er sich noch unter Menschen, sodass die Chancen, dass sie ihn attackierten, nicht groß waren, doch das konnte sich schnell ändern. Kurzentschlossen betrat Marius die Konditorei, reihte sich artig ein und zückte gleichzeitig sein Mobiltelefon. Durch die Dekoration einigermaßen verdeckt wählte er Istvans Nummer an. Der meldete sich sofort. Flüsternd schilderte Marius ihm hastig, wo er sich befand und von wem er verfolgt wurde. Istvan gab ihm eine Wegbeschreibung durch, dort werde er für den Zugriff sorgen. In diesem Augenblick betraten die beiden Männer die Konditorei. Marius' Herz raste, er konnte sich kaum auf das Angebot konzentrieren, fürchtete jeden Moment, dass man ihm wie in einem schlechten Kriminalstück eine Pistole in den Rücken pressen würde. Er bestellte mit trockener Kehle zwei Stück Frankfurter Kranz zum Mitnehmen, beäugte im Widerschein der gläsernen Theke jede Bewegung seiner Verfolger. Sie standen nun, da man sie bereits laut aufgefordert hatte, artig in der Reihe der Wartenden. Marius bezahlte, nahm seinen kleinen Karton und gab vor, sich für die Angebote des kleinen Cafés zu interessieren. So konnte er sich zwischen den Tischen durch zum zweiten Ausgang schlängeln, ohne direkt an den Männern vorbeilaufen zu müssen. Draußen, die Knie zittrig, atmete Marius tief durch, bevor er begann, Haken zu schlagen. Zum Glück war er mit der Gegend gut vertraut und kannte sich mit Passagen, Schleichwegen und freien Hinterhöfen aus, aber er wusste, dass es unsinnig wäre, sich in Sicherheit zu wiegen: sie würden ihm auflauern, wenn nicht bei dieser Gelegenheit, dann bei einer anderen. Tatsächlich folgten ihm die Männer mit einigem Abstand, inzwischen deutlich gehetzt, weil sie ihr Opfer mehr als einmal aus der Sichtweite verloren hatten. Für Marius wurde es nun schwieriger, denn in diesem Viertel wusste er nicht so detailliert Bescheid. Ihm blieb nur, auf Istvans Voraussicht zu vertrauen. In der Nähe des Bahnhofs herrschte viel Verkehr, es wimmelte von Flanierenden. Marius mischte sich unter sie und suchte nach dem verborgenen Eingang des Treffpunkts, den Istvan ihm genannt hatte. Gegenüber dem populären 'Angeldust' sollte eine schmale Stiege hoch führen zum 'Adonis'. Hastig überquerte er die Straße, fand zwischen den Gemüsekisten eines Obsthandels die gefliesten Treppen und kletterte in den ersten Stock. Dort wartete eine mit Putten beklebte, in Altgold dekorierte Tür auf ihn, die ungeachtet ihrer massiven Stärke sehr vornehm wirkte. Nach einem Moment erschrockenen Überlegens erkannte Marius die dezent gehaltene Klingel und betätigte sie. Zunächst ereignete sich nichts weiter, dann jedoch erklang ein tiefes Summen, dass Marius an einen Vibrationsalarm erinnerte, und die schwere Tür schwang erstaunlich leicht in den Raum. Durch massive Glastüren, die wie ein Windfang eingerichtet waren, konnte er eine Tanzbar erkennen, an den Seiten Nischen zum Sitzen arrangiert, während sich in der Mitte des langgestreckten Saals Paare bewegten. Am Kopfende ahnte man den Service-Bereich mit Bar und Toiletten. Jemand hüstelte, der Concierge. Marius blickte ihn ratlos an, denn er hatte noch nie zuvor eine solche Lokalität betreten und war mit den Gepflogenheiten nicht vertraut. "Ihre Garderobe, mein Herr", vornehm näselte der vierschrötige Mann, in eine Phantasieuniform gekleidet und gestikulierte sparsam in Richtung einer hohen Reihe eng gedrängter Schließfächer, wie man sie von Bahnhöfen kannte. "Ja, natürlich!", haspelte sich Marius durch die unangenehme Situation, räumte eilends Brieftasche und Mobiltelefon in seine Hosentaschen, bevor er seinen Parka, die Kuchenschachtel und die leere Einkaufstasche einschloss. Nach einem prüfenden Blick durfte er die 'Schleusen' passieren, betrat die Tanzbar und sah sich suchend um. Die wenigsten Nischen waren belegt, doch allzu tief konnte er nicht in den kahlen Raum blicken, weil die Beleuchtung gedämpft, sogar diffus war. Hier kamen die Gäste nicht her, um zu schwatzen oder zu speisen, das merkte er sofort: wer hier einkehrte, wollte tanzen. Keine Showtänze mit Glamour und Glitter, sondern die ernsthafte, konzentrierte Weise, eine beinahe beängstigende Versunkenheit verströmend. Es war durchaus eine Erleichterung, dass er mit seinem legeren Pullover mit den amerikanischen Raglanärmeln und der einfachen Stoffhose nicht unpassend gekleidet war. »Herrlich!«, seufzte Marius, der sich nur ungern im obligatorischen Tanzkurs hatte blicken lassen. Es war ihm eine Pflichtübung gewesen, kein besonderes Vergnügen. Wo befand sich Istvan?! »Und warum müssen wir uns hier treffen?« Langsam schob sich Marius an der Peripherie der Paare oder auch Solo-Tanzenden vorbei. Er registrierte, dass es keine jungen Erwachsenen gab, allerdings durchaus gleichgeschlechtliche Paare. Es war eine ihm fremde Welt, und er bewegte sich auf Zehenspitzen, um niemanden durch einen Verstoß gegen die ihm unbekannte Etikette zu verletzen. Aus den Paaren materialisierte sich wie bei einem Zaubertrick plötzlich Istvan vor ihm, fasste ihn rasch an einer Hand und führte ihn zum Kopfende des Saals. "Gut gemacht!", raunte der Übersetzer ihm zu, "darf ich bitten?" Es war nur eine Formalie, wie Marius begriff, denn schon wurde er geschickt über das abgenutzte Parkett dirigiert. "Warum hier?! Wo sind die Polizisten?", er neigte sich vor, flüsterte Istvan die Fragen drängend zu, während er auf seine Füße schielte. "Alles in Ordnung", beruhigte Istvan, zog ihn unaufgefordert in eine enge Umarmung, verwandelte den Tanz in einen intimen Austausch. Obwohl sie einige Stoffschichten trennten, war sich Marius der ausströmenden Körperwärme durchaus bewusst, und der Tatsache, dass er nicht mit einer Frau tanzte, sondern ein anderer Mann mit ihm. Ein leises Piepen erklang in der Nähe. Istvan lächelte, atmete tief durch, was Marius bewies, dass sein Helfer keineswegs so entspannt der Situation gegenüberstand. "Alle sind in Position", wisperte er, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich. Marius erstarrte, wäre beinahe auf Istvans Füße gestiegen, doch der schmiegte ihre Hüften aneinander, legte die Wange auf Marius und initiierte eine Drehung. "Sind sie das?", zischte er in Marius' Ohr, der vorübergehend die Atmung eingestellt hatte. Durch das ewige Dämmerlicht der Tanzbar konnte Marius kaum erahnen, was sich in der Einlasskabine tat, aber er erkannte Gestalt und Bekleidung. "Ja!", krächzte er zurück, verstärkte unwillkürlich seinen Griff um das eigene Handgelenk, da seine Arme auf Istvans Schultern ruhten. "Drehen!", kommandierte der leise, sodass er selbst den Windfang ins Visier nehmen konnte, denn außer Marius wusste ja niemand so genau, wie die Einbrecher tatsächlich aussahen. Das Herz klopfte Marius bis zum Hals, sein Magen grollte, in seinen Schläfen und hinter seinen Augen trommelte sein Puls. Seine Hände wurden klamm-feucht vor Aufregung. Ob sie ihn ohne seine Jacke gleich erkannten? Warum konnte er nicht einfach weglaufen und die Polizei alarmieren?! Seine Nervosität steigerte sich rapide. Er fürchtete eine handgreifliche Auseinandersetzung und wünschte sich verzweifelt, er wäre diesen Leuten nie begegnet. "Sie haben dich erkannt", stellte Istvan mit ruhigem Tonfall fest. Sofort wich Marius zurück, wollte sich zum Gehen umkehren, doch ihre Tanzbewegung hatte sie in eine Reihe anderer Paare geschoben, die unbeeindruckt ihrem Effet folgten, lediglich Kollisionen verhinderten. Sein auffordernder, panischer Blick traf die kohlrabenschwarzen Augen, die erst über seine Schulter flogen, dann wieder sein Gesicht fokussierten. "Keine Angst", Istvan lächelte dezent, dann spürte Marius unerwartet zupackende Finger in seinem Nacken, die seinen Kopf dirigierten. Ungläubig blinzelte er, doch das änderte nichts am Geschehen: um seine Ermahnung zu ersticken, vielleicht aber auch als Tarnung, wie konnte es anders sein?!, küsste ihn Istvan, allerdings nicht wie bei einem Filmkuss, der viel vorgab, aber tatsächlich wenig mehr als eine Illusion war, nein, es war kein keuscher, prüfender Kuss, sondern ein leidenschaftlicher, ungezügelter, fordernder Kuss, der sich stahl, was Marius in seiner Verblüffung nicht verteidigte. Wie betäubt, von elektrischen Gewittern erschüttert ließ er sich anschließend an der Hand führen, neben die Bar, wo dezent beleuchtet Toiletten untergebracht waren. »Er hat mich geküsst.« »Er hat mich GEKÜSST.« »Er hat MICH geküsst.« In Marius' ohnehin mitgenommenem Verstand verschwand die Angst vor den Verfolgern, vor der unbekannten Situation, vor der Hilflosigkeit, denn es herrschte nur noch eine Frage über all seine Gedanken: warum?! Istvan selbst war ihm keine Hilfe. Der eilte durch die Herrentoilette, murmelte einem Pärchen, das sich hingebungsvoll die Mandeln massierte zu, es werde gleich eine Polizeikontrolle geben und lotste sich mit Marius durch den Notausgang. Dort warteten einige Polizisten sowie ein müde wirkender Mann in Zivil. "Geht weiter, sodass sie euch sehen", erteilte der eine Anweisung. Das war nicht schwierig zu bewerkstelligen, denn der Notausgang führte auf das offene Parkdeck eines nicht mehr allzu neuen Parkhauses. "Nur die Ruhe", knurrte Istvan leise, "wir gehen einfach weiter. Sie müssen reagieren, das ist wichtig, sonst reicht es nicht für eine Festnahme." Marius taumelte einfach hinter ihm her, fror ohne seinen Parka, spürte fremden Speichel auf seinen Lippen. Er konnte sich schon nicht mehr entsinnen, wann er das letzte Mal geküsst worden war oder von wem. Auch wenn er keine besonderen Einwände gegen zwischenmenschlichen Kontakt hatte, so suchte er ihn auch selten. »Irgendwie«, er blickte auf das Ajourmuster des schwarzen Rollkragenpullovers, den Istvan trug, »hat sich das verflüchtigt.« Er hatte sich sein Leben bequem eingerichtet und keinen Verlust verspürt oder den Wunsch, es sich allzu sehr zu verkomplizieren. »Tarnung!«, dachte er sich, als hinter ihnen beängstigend laut das Geräusch der schweren Tür erklang, die den Notausgang blockiert hatte, »alles nur gespielt.« Genau, so musste es sein! Er hörte Rufe hinter sich und wandte sich herum, sah die beiden Männer, die hinter ihm herlaufen wollten, offenkundig verärgert. Istvan beschleunigte, die Verfolger rannten. Da kam bereits ein Kommando, die Aufforderung, sie mögen sofort stehen bleiben. Marius' Häscher erkannten, dass sie von mehreren Polizeibeamten umzingelt waren, doch hinderte sie das nicht daran, einen Ausbruchsversuch zu starten. "Und das", Istvan drückte Marius' Hand, "ist Widerstand gegen die Staatsgewalt plus tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten. Damit ist die Festnahme möglich." Neben ihm lehnte sich Marius an ein Auto an, schwach in den Knien. Sofort ertönte die Alarmanlage, was ihn hektisch zurückschrecken ließ. Istvan lachte, wohl eher der Erleichterung als Erheiterung zuzuschreiben, hakte Marius unter. "Jetzt ist alles in Ordnung! Lass uns vorne reingehen, damit wir unsere Sachen aus dem Spind holen können." Seinem schockierten Begleiter war alles recht, solange er sich bald irgendwo hinsetzen und Ordnung in seine wirren Gedanken bringen konnte. ~o~ Marius saß zwar, aber die Freude darüber hatte sich längst verabschiedet. Es war später Nachmittag, das diffuse Licht wich der einsetzenden Dämmerung. Er starrte seit gefühlten Ewigkeiten auf eine vierspurige Straße, auf eine breite Fensterbank gekauert. Zumindest aber hatte er die fiebrige Verwirrung abgeschüttelt, die ihn noch vor einiger Zeit geplagt hatte. Gleich nach der Festnahme waren sie in die Tanzbar zurückgekehrt, hatten aus den Schließfächern ihre Habseligkeiten eingesammelt. Unaufgefordert hatte ihm Istvan das Kuchenpaket im Karton abgenommen, geschnuppert und ihm einen erlesenen Geschmack attestiert. Betäubt antwortete ihm Marius, dass er in die Konditorei geflüchtet sei und sich keinen anderen Ausweg habe einfallen lassen können, als eben etwas zu kaufen. Überhaupt, sein Wochenendeinkauf! Istvan leitete ihn durch zwei Hinterhöfe mit schweren Toren auf eine andere Straße, erläuterte ihm dabei leutselig, dass er so schnell den Zugriff organisieren konnte, weil sich auf der Rückseite der Gebäude in der nächsten Straße das Polizeirevier des Stadtteils befand. Die Kollegen hatten traditionell für ihre Arbeit das unterste Kellerdeck des Parkhauses reserviert, sodass sich genügend Einsatzkräfte fanden, ihm auszuhelfen. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass man endlich die Identität des fremden Mannes herausfand, denn seit Tagen gab die russische Botschaft schon keine Rückmeldung, ob der alte Mann auf Marius' Fußmatte einer ihrer Staatsbürger gewesen war! Trotz dieser munteren Erklärung und der Zusicherung, er werde nach seinem Protokoll ganz sicher in der Nähe einkaufen können, fragte sich Marius doch, was sein aufgekratzter Retter an diesem Ort getan hatte, denn es war ihm keineswegs entgangen, dass der bullige Concierge Istvan wie einen Bekannten behandelt hatte. In der Tat war das Protokoll flink aufgesetzt und von ihm unterzeichnet worden, dann hatte Istvan, der bei der Befragung der beiden Einbrecher dolmetschen sollte, ihn eindringlich gebeten, nach seinem Einkauf in den Nachbarstraßen doch wieder hierher zurückzukommen, damit er ihn nach Hause fahren könne. Obwohl Marius länger zum Einkaufen benötigte, da er sich in dem Viertel nicht auskannte und auch in den Regalen suchen musste, wartete er nun seit geraumer Zeit auf Istvan, ignorierte seinen knurrenden Magen, dem der Ausfall des Mittagsessens gar nicht konvenierte. In Istvans kleinem Büro gab es wenig Ablenkung. Rollcontainer und Schränke waren abgeschlossen, die Schreibtischplatte blank und den kleinen Bildschirm zierte eine unkleidsame Staubschicht. Kein Buch, das sich Marius zur Zerstreuung ausborgen konnte, keine Unterhaltung! So hatte er nun ausgiebig Zeit, seine Zusage zu überdenken und sich allerlei Fragen zu stellen. Wieso hatte Istvan ihn geküsst? War das ein Signal? Oder wollte er wirklich...? Marius konnte lediglich sagen, dass ihm dieser Kuss keineswegs missfallen hatte, aber ein Kuss war eben nie nur ein Kuss, er hatte IMMER eine Bedeutung, und diese Bedeutung zu entschlüsseln, darin bestand für ihn das Problem. Er schreckte zusammen, als Istvan in sein Büro platzte, die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ und sich lächelnd auf seinen Schreibtisch hockte. "Wenigstens einen Erfolg haben wir: da die beiden Burschen kein Wort sagen wollen, haben die Kollegen ihnen die Taschen geleert und konnten das Hotel ausfindig machen, wo sie abgestiegen sind. Siehe da, es finden sich Papiere!" "Das ist gut, nicht wahr? Ein Erfolg?", Marius stellte sich auf die Beine, ein wenig unsicher, wie er sich Istvan gegenüber verhalten sollte. Der war jedoch in voller Fahrt und zeigte keine Anzeichen, sich des Kusses zu entsinnen, "stimmt, denn ich habe mit den Kollegen die Papiere gesichtet und konnte schon einen Teil übersetzen, sodass wir nun endlich die Chance haben, eine Verbindung zu dem alten Mann herzustellen. Das hilft dann auch sicher weiter, das Puzzle zusammenzufügen", ergänzte er nach einem kleinen Zögern. Marius, der eine gewisse Nervosität einfach nicht abschütteln konnte, dechiffrierte diese Pause als einen Hinweis darauf, dass Istvan ihm etwas verschwieg. »Nun ja, ich bin ja ein Zeuge, das könnte es erklären«, Marius redete sich gut zu, diese Vermutung nicht über Gebühr zu gewichten. "Ich möchte ja nicht drängeln", neigte er zur Eile, "aber können wir vielleicht jetzt den Kuchen essen und dann nach Hause gehen? Ich wollte Anais und Iris eigentlich nicht so lange allein lassen." "Oh, na sicher! Ich habe heute bloß wieder meine Schokoladenration aus dem Automaten in der Cafeteria gehabt. Ich könnte ganz dringend etwas Süßes brauchen!", Istvan strahlte förmlich und öffnete selbst den kleinen Kühlschrank, den man in jedes Büro integriert hatte. "Heureka", murmelte Marius leise. Er wollte gehen und mutmaßte angesichts der ausbleibenden Reaktion oder einer Erklärung für den Kuss, dass es offenkundig etwas Flüchtiges, Kurzweiliges gewesen war. Sein musste. Denn Istvan erwähnte den Kuss nicht mehr. In der Cafeteria herrschte ein reges Kommen und Gehen, hauptsächlich an der gewaltigen Automatenfront. »Kein Wunder!«, dachte Marius, der sich fremd vorkam, »wenn hier rund um die Uhr Betrieb herrscht.« Istvan transportierte Milchkaffee mit Zuckertüten in Halbliter-Pappbechern herbei und einigermaßen saubere Gabeln, die zwar für den Frankfurter Kranz zu groß wirkten, aber die beste Alternative darstellten. Schweigend verzehrten sie ihren Anteil, zweifellos sehr unterschiedlichen Gedanken nachhängend, wie Marius vermutete, denn das verzückte Grinsen des Übersetzers deutete für ihn daraufhin, dass der wirklich großen Hunger gehabt haben musste und nun mit ausgesuchtem Appetit den Gaumenschmaus verspachtelte. Ja, sogar die Gabel wurde sorgfältig abgeleckt! Er selbst wollte einfach nur noch nach Hause, diese seltsame Geschichte hinter sich bringen. Dass das gar nicht so einfach werden würde, selbst nach der Festnahme der beiden Einbrecher, erläuterte ihm Istvan auf der Heimfahrt. Zwar könnte man nun die Identität des Fremden aufklären, aber es müssten ja die strafrechtlichen Aspekte bedacht werden. Einmal war da die Anzeige wegen des Einbruchs und der Sachbeschädigung. Die war strafrechtlich und auch zivilrechtlich wegen des Schadenersatzes relevant. Zweifellos würde sich nach der positiven Identifizierung der Einbrecher die Versicherung seiner Hausverwaltung melden, denn der Schadenersatz musste von den beiden Verursachern ja eingefordert werden. »Das Thema«, seufzte Marius, »ist wohl noch lange nicht abgeschlossen!« "Aber nach was haben all diese Leute denn gesucht?", langsam kam sein Verstand wieder in Tritt. Er warf einen prüfenden Blick auf Istvans Profil, "kann ich denn sicher sein, weil die beiden jetzt gefasst worden sind? Oder wird es andere geben, die mich auch verfolgen? Überhaupt", redete er sich in ungewohnte Rage angesichts der Hilflosigkeit seiner Situation, "was haben sie bei mir gesucht? Es wurde ja nichts durchwühlt, sodass ich annehmen muss, dass sie hinter mir her sind!" "Hmmm", brummte der sonst so munter dahinplaudernde Istvan einsilbig. "Da ist doch etwas, das du mir verschweigst, nicht wahr?", unbarmherzig brachte Marius alles aufs Tapet, das ihn allein geplagt hatte. Er registrierte genau, wie für einen Moment Istvans Lippen so fest aufeinander gepresst wurden, dass sie blutleer wirkten. »So sehr musst du verhindern, dass dir etwas entschlüpft?!«, Marius war nicht erbaut und auch besorgt. "Ich nehme an, dass du aus ermittlungstaktischen Gründen dazu nichts sagen darfst", zitierte er Kriminalstücke bissig und richtete den Blick starr vor sich aus dem Fenster. Natürlich war es nicht Istvans Verschulden, im Gegenteil, der hatte sich für ihn eingesetzt und ihm geholfen, als er in der Klemme steckte! Doch Marius' Nerven wedelten mit der Roten Karte. Sie wollten diese scheußliche Angelegenheit, die mit einem stockbesoffenen Nikolaus ihren Anfang genommen hatte, ad acta legen und mit dem normalen Alltag weitermachen! Einsilbig sagten sie einander Lebewohl, nachdem Istvan zuvorkommend einen Teil der Einkäufe in Marius' Wohnung transportiert hatte. Die Stimmung zwischen ihnen war beklommen, und Marius fragte sich, kurz bevor er in den Schlaf fiel, ob das bereits der Beginn des Abschieds war, das flüchtige Ende einer ebenso flüchtigen Bekanntschaft. ~o~ Am nächsten Tag, dem dritten Advent, holte Marius das nach, was er sich bereits am Vortag hatte gönnen wollen: einen gemütlich-faulen Spätherbsttag! Er frühstückte spät, recht opulent für seine Verhältnisse, räumte ein wenig auf und spielte mit den Katzendamen, die ihm seine lange Absenz am Vortag nicht nachtrugen, bevor er es sich in seinem Lesesessel gemütlich machte und schmökerte, ausgerüstet mit einigen trockenen Keksen und einer Kanne Früchtetee. Die Zeit verstrich, es regnete in Strömen, das Tageslicht konnte man nur hinter den tiefhängenden Wolken vermuten. Marius ignorierte die Welt draußen, befand sich ganz in anderen Dimensionen. Gegen Abend, als ihn erneut die Flüssigkeitsmenge aus seinem Lesesessel hochtrieb, um einen Abstecher in die traurige Realität mit ihren Bedürfnissen zu unternehmen, nutzte er auch die Gelegenheit, bei seinen Eltern den wöchentlichen Pflichtanruf zu absolvieren. Obwohl noch eine Woche Zeit vor ihnen lag, bestand seine Mutter darauf, die Reisevorbereitungen im Detail durchzugehen. Zum ersten Mal seit seinem Auszug musste man sich schließlich auf Veränderungen einstellen! Marius schmunzelte heimlich und hoffte, dass seine Mutter sein Amüsement nicht in der Stimme hörte. Er vermied krampfhaft die Vorstellung, was seine Mutter wohl unternommen hätte, wäre er mit einer Freundin eingetroffen! Nun waren es zumindest zwei Freundinnen, aber nicht von der Sorte, die eine künftige Schwiegermutter zur Rotation zwangen. Wieder und wieder redete er seiner Mutter wie einem kranken Gaul zu, es würde sich schon alles finden, die kleinen Katzen seien sehr anstellig, stubenrein und überhaupt sehr manierlich. Auch eine Bahn- und anschließende Busfahrt über Land würden sie unversehrt überstehen! Dabei verschwieg Marius die Heldentat, sich mit zwei kleinen Katzen in den Taschen seines Parkas an einer Notleiter bis zum Erdgeschoss herabzulassen und dann durch die Gegend zu flitzen. Er hatte alles sorgfältig geplant und sogar Tante Mechthild um Rat ersucht, die ihm barsch erklärt hatte, selbst ihre Katzen, die nicht zu Zuchtzwecken Verwendung fänden, seien robust und könnten sich hervorragend anpassen! Eine Zugfahrt?! Pillepalle! Endlich wurde er entlassen, die strengen Ermahnungen schon vergessen, bevor der Hörer auf der Gabel landete. Marius zog feierlich ins Bad, um seine beiden Gesellschafterinnen mit einer Fellpflege zu bedenken, bevor sie Reißaus nahmen, als er sich ein Schaumbad einließ. Drei eingestäubte Teelichter angezündet und strategisch verteilt, schon konnte er sich in die köstliche Umarmung des warmen Wassers begeben, Schaum und Seifenblasen pusten und entspannen. »Spätestens im neuen Jahr«, ermunterte er sich schläfrig, »wird alles wieder in Ordnung sein.« Denn eigentlich liebte er sein geregeltes, ganz normal-unspektakuläres Leben sehr. ~o~ Die letzte Woche vor dem Weihnachtsfest verlief ohne besondere Ereignisse. Er verabschiedete sich montags von seinen Skatbrüdern und -schwestern mit einem kleinen Umtrunk, man würde sich erst im neuen Jahr in gewohnter Frische wiedersehen. Das letzte Mal gebowlt wurde freitags, wo eine kleine Feier mit einer kurzen Ehrung der Jahresleistungen die Saison krönte. Ansonsten herrschte der übliche Alarm: der Einzelhandel beklagten den geringen Konsum, Vertretende der Parteien schwadronierten über gefühlte Einkommenseinbußen, die Statistik-Unternehmen bemühten Umfragen zur Spenden- und Verschenklaune der Menschen, die Lebensmittelgeschäfte erlebten einen Ansturm, als stünde eine Hungersnot bevor. Istvan meldete sich nicht. Marius packte also am Samstagmorgen sein Reisegepäck zusammen, zog Stecker aus den Dosen, ließ alle Rollläden herunter und drehte die Hauptwasserhähne zu. Seine kleine Reisegesellschaft bestand aus Anais und Iris, einer Umhängetasche mit Wäsche, Kulturbeutel und Lesefutter und einem Trolley. Der enthielt Katzenstreu und -proviant sowie die Katzentoilette selbst, die er wie beim ersten Transport so umgebaut hatte, dass sie als Reiseunterkunft mit dem Lieblingskissen der Katzen dienen konnte. Er hoffte, dass Tante Mechthild recht behielt, die ihm signalisiert hatte, dass Katzen nicht ohne große Not auf ihrem Schlafplatz urinierten. IHRE Katzen würden ihm unzweifelhaft zu verstehen geben, wann eine Toilette gewünscht war! Gerade wollte er mit seinem kleinen 'Umzug' beginnen, als sein Mobiltelefon in der Manteltasche zu lärmen begann. Marius zog eine Grimasse, Anais und Iris maunzten ungeduldig. "Marius?" "Istvan?", Marius spürte, wie sein Herz vor Überraschung einen Schlag verfehlte, sich ein seltsames Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. War etwas geschehen? "Hörst du mich? Tut mir leid, hier ist es sehr laut", dröhnte Istvans Stimme in sein Ohr, vermischt mit lebhaften Hintergrundgeräuschen. "Was ist los?", Marius sprach unwillkürlich lauter. "Ich bin am Flughafen. Mein Vater hat mich nach Tallinn bestellt, für die Weihnachtstage." "Oh...", kommentierte Marius eloquent. "Ich wünsche dir daher jetzt Frohe Feiertage. Und grüße Anais und Iris von mir, ja? Ich bringe euch etwas Hübsches mit!" DAS klang nun wieder sehr nach dem charmant-schurkisch flirtenden Istvan! "Danke", brüllte Marius gegen den Lärm an, "ich fahre für ein paar Tage zu meinen Eltern! Schick mir doch eine Nachricht, wenn du wieder hier bist!" "Abgemacht!", Istvan lachte, sagte etwas in einer Sprache, die Marius nicht geläufig war, oder sprach er zu einer anderen Person?, denn da kicherte doch unverkennbar eine Frau!, und verabschiedete sich mit Grüßen an die unbekannten Eltern seines Freundes. Marius erwiderte steif die Höflichkeit und ärgerte sich über diesen unnötigen Anfall von Eifersucht. »Ich mag es einfach nicht, wenn man telefoniert und gleichzeitig noch mit jemandem redet. Das ist einfach respektlos und unhöflich!«, argumentierte er vor sich selbst, doch seine seltsame Launenhaftigkeit erschreckte ihn. Es war wirklich höchste Zeit, sich zu erholen! ~o~ Tante Mechthild hatte ihm nicht zu viel versprochen: Anais und Iris verhielten sich während der Reise wirklich vorbildlich. Sie warteten artig im umgebauten 'Katzentransporter', bis er seine Reisetasche in der oberen Gepäckaufbewahrung verstaut und den Trolley eingekeilt hatte, sodass keine Fluchtgefahr bestand, dann äugten sie neugierig hinaus. Der Zug füllte sich zuerst stark, doch sobald die ländliche Peripherie erreicht war, verteilten sich die Reisenden, sodass Marius den Korb auf den freien Sitz neben sich abstellen konnte. Anais und Iris schlüpften wagemutig heraus und ließen sich nacheinander von Marius anheben, um das vorbeiziehende Panorama zu betrachten. Es war offenkundig nicht nach ihrem Geschmack, denn sie zogen es vor, sich auf Marius' Stoffhose einzurollen und behaglich zu schnurren, als er sie aufmerksam kraulte. Die Fahrgeräusche lullten alle drei ein, sodass sie beinahe hektisch am Zielbahnhof zusammenschreckten. Die Katzen huschten in Höchstgeschwindigkeit in das 'Körbchen', Marius wickelte sich in seinen Wollmantel, warf sich die Reisetasche quer über den Rücken, angelte den Trolley heran und spurtete mit dem Katzenkorb als Standarte vor sich zur Tür, um keuchend auf dem Bahnsteig innezuhalten. Die erste Station war geschafft! »So fühlen sich wahrscheinlich auch Eltern, die mit ihren Kindern verreisen!«, ging ihm durch den Kopf und der Gedanke ließ ihn schaudern. Vielleicht lernte man ja rasch, solche Beinahe-Katastrophen zu meistern, aber seine Nerven mochten dieser Hoffnung nicht ganz trauen. Er zuckelte also den Bahnsteig entlang, holperte und polterte mühsam eine steile Treppe hinab, um nach einem ungemütlichen Tunnel eine ebenso steile Treppe wieder zu erklimmen und durch den verlassenen Bahnhof zu ächzen. Vor dem Bahnhof befand sich seit Ewigkeiten schon der Busbahnhof für die Überlandtouren. Es begann natürlich zu nieseln, verbunden mit einer widerlich kalten Brise. »Willkommen daheim!«, spottete Marius und flüchtete unter ein Vordach. In der nächsten halben Stunde würde er nur ankommenden und abfahrenden Bussen zusehen, bis endlich der Bus kam, den er besteigen musste. Selbstverständlich kam der Bus verspätet an, was Marius nicht weiter wunderte, der sich noch zu gut an seine Jugend erinnerte. Sobald es regnete, schienen alle Regeln für die Autofahrt außer Kraft gesetzt. In zwei Anläufen erklomm er die zwei Stufen und besetzte eine ganze Bank, eine Hand auf dem 'Katzentransporter, mit der anderen hielt er seine Reisetasche und den Trolley fest. Glücklicherweise waren nur wenige Reisende unterwegs, sodass sich die Beschwerden über sein den Gang blockierendes Gepäck in Grenzen hielten. Dann, als der Regen gerade zu einer Dusche anwuchs, erreichte der Bus den kleinen Ort, dem Marius vor so vielen Jahren mit Begeisterung den Rücken gekehrt hatte. Mühsam beförderte er sein Gepäck und die Katzen aus dem Bus, der mit einem pneumatischen Schnaufer die Türen hinter ihm schloss und stöhnend-stinkend die nächste Ortschaft ansteuerte. Marius justierte sein Gepäck neu, verwünschte den Regen, der ihn bald bis auf die Haut durchnässt haben würde, marschierte mit gesteigertem Tempo vom Dorfplatz bergauf in die Straße, in der seine Eltern wohnten. Ein Empfangskomitee hatte er nicht gerade erwartet, aber die Atmosphäre hier hatte die gleiche, bedrückende Reglosigkeit an sich, die er immer schon gehasst hatte. Als ob einem der Atem stockte, man gar nichts mehr hörte, jedes Haus sich wegduckte, die Zeit einfach nicht vergehen wollte! "Ich bin definitiv ein Stadtmensch", vertraute er Anais und Iris an, hörte den Widerhall seiner Stimme, obwohl er gar nicht laut gesprochen hatte. Es war einfach nur grabesstill! Die Begrüßung bei seinen Eltern verlief gewohnt ungelenk. Er war da, was nett war und erwartet wurde, aber er tropfte die Diele voll, was sogleich beendet werden musste. Marius ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, stellte seine Schuhe auf eine ausgebreitete Zeitung, hängte seinen Mantel auf und kümmerte sich zunächst um seine beiden Begleiterinnen. Die mochten den griesgrämigen Dackel seines Vaters gar nicht und fauchten ärgerlich, als er frech seine Nase in den 'Katzentransporter' steckte. Wütendes Gebell, protestierendes Fauchen, sofort war der Teufel los! »Und Friede auf Erden!«, dachte Marius und verdrehte die Augen, bevor er sich mit den Katzen in sein altes Zimmer verzog. ~o~ Es gab gute Gründe, warum Marius für die Weihnachtstage bei seinen Eltern nicht viel übrig hatte: es blieb schlichtweg außer Essen nichts weiter zu tun! Er konnte sich gar nicht entsinnen, wie er es früher ausgehalten hatte, aber nun waren Anais und Iris seine besten Verbündeten gegen die erstickende Langeweile. Nachdem er sämtliche kleinen Reparaturen, die seine Mutter aufgezählt und sein Vater brummend bestritten hatte, erledigte, stahl sich Marius mit seinen Katzen vor die Tür. Sie brauchten frische Luft und dringend einen Tapetenwechsel! Da Anais und Iris nicht dazu neigten, allzu neugierig herumzuflitzen, Unbekanntes zu fressen oder sich in fremde Gebüsche zu wagen, fürchtete er nicht, dass dieser Ausflug seinen 'Hauskatzen' schlecht bekam. Am zweiten Weihnachtstag machte sich Marius dann auf den Heimweg, erstaunlich erfrischt, was seine gegenwärtige Situation betraf: er wollte nicht auf dem Land leben, und die Beziehung seiner Eltern erschien ihm auch nicht erstrebenswert. Dieser ständige Kleinkrieg, den sie austrugen, war ihm unangenehm. Er vermutete, dass seine Eltern einfach aus Gewohnheit zusammenlebten, verstärkt durch eine gemeinsame Geschichte, die sie verpflichtete. »Wahrscheinlich bin ich immer noch zu blauäugig«, schalt er sich selbst, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, sein Leben auf diese Weise zu verbringen. Die Heimreise verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle, auch wenn er sich eingestehen musste, dass er von einer Routine kilometerweit entfernt war. Anais und Iris begrüßten seine Wohnung mit euphorischem Gesang, tobten wie Wildfänge durch jeden Raum und ließen sich schließlich auf dem Sofa nieder, ineinander gerollt, um ein glückliches Schläfchen zu halten. Marius lächelte über die unverstellte Freude seiner beiden Gesellschafterinnen und teilte ihre Begeisterung: er hatte bis zu diesem Augenblick sein Heimweh tapfer unterdrückt. Die nächsten beiden Tage, die letzten Werktage des alten Jahres, verbrachte er als Vorbild und Zwangsurlauber an seiner Dienststelle, doch es gab recht wenig Kundenverkehr, sodass er die Gelegenheit nutzte, auszumisten, sauberzumachen, Akten nach ihrer Aufbewahrungsfrist zu beschriften und in den Keller zu verbringen. Der Freitag kam ihm seltsam leer vor, da für dieses Mal das Bowlen entfiel. Kurzentschlossen verordnete er sich einen gemütlichen Gruselabend mit Popcorn aus der Pfanne und alten SciFi-Filmen, die eher zum Lachen reizten, aber eine anheimelnde Nostalgie verströmten. Anais und Iris teilten seine Hingabe für die cineastische Kunst vergangener Jahre nicht, sondern verschliefen die Vorstellung, nachdem sie mit einigen Popcorn-Resten Katzenfußball gespielt hatten. Marius wollte sich gerade zu Bett begeben, als er hörte, wie sein Anrufbeantworter reagierte. »Einer dieser lästigen Werbeanrufe!«, ärgerte er sich, schwor sich erneut, wie viele andere enervierte Mitmenschen auch, auf GAR KEINEN FALL mehr Geschäfte mit einem Unternehmen abzuwickeln, das alle auf diese Weise behelligten, doch die Stimme auf dem Band belog nicht über angeblich besonders günstige Telekommunikationsverträge oder unbedingt notwendige Umstellungsarbeiten. Sie klang ein wenig erschöpft, aber fröhlich und bat darum, sich doch am nächsten Tag zu melden, damit die versprochenen Geschenke aus Estland übergeben werden konnten. "Istvan!", platzte Marius heraus, griff eilig nach dem Hörer, um selbst für den Anrufbeantworter einzuspringen und verschluckte sich in seiner Hast an der Zahnpasta. Er hustete vernehmlich, was am anderen Ende der Leitung für Verwirrung sorgte. "Ich bin's!", brachte er endlich heraus, "seit wann bist du schon wieder hier?" "Marius? So spät noch wach? Ich wollte dich nicht stören", verkündetet Istvan mit der üblichen Unlogik, denn sonst hätte er wohl auf einen Anruf um diese Uhrzeit verzichtet. "Wollte gerade schlafen gehen", bügelte der die unbekümmerte Frage ab, lächelte aber trotz Schaumbart und Kratzen in der Kehle, "du bist heute gelandet?" "Vor zwei Stunden", Istvan klang aufgekratzt, "allerdings hat es eine Weile gedauert, bis ich mein Gepäck wieder hatte, und der Rückweg war auch nicht so einfach, weil ich mit der S-Bahn fahren wollte. Lauter Baustellen, ein Zug ausgefallen, eine richtige Katastrophe!" Marius war mit diesen Ungelegenheiten durchaus vertraut und gab brummende Töne des Mitgefühls von sich. "Also, hast du morgen schon etwas vor? Nach dem Einkaufen, meine ich? Wollen wir vielleicht zusammen Mittagessen?", es klang, als hätte Istvan mehrere Tassen Kaffee zu viel genossen, denn seine Fragen prasselten auf Marius ein wie Hagelschläge, nun, wohlmeinende Hagelschläge. "Mittagessen klingt gut. Wir können bei mir kochen, wenn es dich nicht stört", offerierte Marius, der keine große Lust hatte, sich an einem Samstag nach dem Einkaufsmarathon aufzubrezeln. Außerdem befürchtete er aus Erfahrung, dass auch dieser letzte Samstag des alten Jahres wieder in einen Nahkampf beim Einkaufen ausarten würde, so, als gäbe es im neuen Jahr nichts mehr zu essen. "Fein!", begeisterte sich Istvan, "mach dich auch auf eine Überraschung gefasst! Wird dir gefallen!" "Aha", bemerkte Marius ratlos, aber erstaunlich zuversichtlich gestimmt. Sie vereinbarten, dass sie gemeinsam etwas in den Ofen schieben wollten, was recht zügig zu bewerkstelligen war und keine größeren, kulinarischen Fertigkeiten verlangte. Nachdem sie einander eine gute Nacht gewünscht hatten, kehrte Marius noch einmal in sein Badezimmer zurück, um den eingetrockneten Zahnpastaschaum abzuspülen und sich kritisch im Spiegel zu betrachten. Was konnte das für eine Überraschung sein? "Vielleicht bekomme ich ja endlich meine Messer wieder?", hoffte er, betont zurückhaltend. Warum sollte sich Istvan auch sonst eine große Mühe bereiten? Sie waren ja eigentlich nur Freunde aus einer prekären Situation heraus und seit dem Film mit dem rasenden Bombenbus wusste man, dass aus solchen Beziehungen nichts werden konnte! ~o~ Marius hatte gerade sein Frühstück beendet und das Geschirr gespült, als es an der Wohnungstür klingelte. Die Arme noch bis zum Ellenbogen feucht angelte er nach einem Handtuch, trocknete sich eilig ab, warf das Handtuch über eine Schulter und folgte seinen eifrigen Damen zur Tür. Man musste kein Hellseher sein, um zu erraten, wer sich wohl davor befand und beschwingt vor sich hin summte. "Eure Haustür schließt nicht richtig", informierte er Marius aufgekratzt, der mit einem Morgengruß konterte. Istvan strahlte, wirkte sehr gut erholt und keineswegs von einer anstrengenden Rückreise gezeichnet. "Ich bin früher gekommen, damit wir gemeinsam einkaufen", erklärte er sein unzeitiges Erscheinen treuherzig, wickelte sich aus seinem Wollmantel und präsentierte einen ungewöhnlichen Stoffschal darunter, "den habe ich mir selbst geschenkt!" "Außergewöhnlich", komplimentierte Marius, der befand, dass das komplizierte Muster aus schwarzen und silbernen Fäden, mutmaßlich handgewebt, seinem Träger durchaus schmeichelte, "bitte komm doch herein! Ich räume gerade noch das Geschirr weg." Marius überließ es seinen Katzen, den von ihnen offenkundig hochgeschätzten Gast ins Wohnzimmer zu geleiten. »Komisch!«, dachte er verblüfft, »obwohl wir ja nicht gerade in gehobener Stimmung voneinander geschieden sind, fühlt sich alles unverändert an.« So, als seien sie beste Freunde. Er schüttelte diese merkwürdigen Eindrücke hastig ab und gesellte sich zu Istvan und den Katzen in das Wohnzimmer. Dort leerte der Übersetzer gerade seinen Rucksack aus. "Ah, hier habe ich etwas für meine beiden hübschen Damen!", Istvan wechselte in eine Sprache, die Marius nicht verstand, plauderte auf Anais und Iris ein, die ein Katzenspielzeug aus Holz bekamen, mit dem man ordentlich kämpfen konnte, wenn es erst befestigt war, dazu einen flauschigen, gut waschbaren Ball und eine Dose einer Fischspezialität aus Estland, eigens für die Katzen transportiert. "Vielen Dank", antwortete Marius für die Katzenbande, die bereits begeistert mit ihren Geschenken tobte, "du wirst sie gar nicht mehr loswerden." Zugegeben, die letzte Bemerkung war ein kleines bisschen gehässig, da Marius sich fragte, ob Istvan gegen Katzenhaare auf seiner schwarzen, dezent glänzenden Hose wirklich unempfindlich war. "Ah, für dich habe ich natürlich auch etwas!", wie bei einer Wundertüte holte Istvan für den perplexen Marius ein sorgsam zusammengefaltetes Hemd heraus, ein leichter Leinenstoff, leger geschnitten im Stil eines seiner Bowlinghemden, dezent mit Notenzeichen bestickt, abgedämpftes Schwarz kontrastierte mit dem Elfenbein des Stoffs. Marius brachte keinen Ton heraus. Es war perfekt. Das perfekte Hemd. Der King hätte es zweifellos getragen. Es hatte Klasse, Stil, das gewisse Etwas. "Sieht so aus, als würde es dir gefallen", schmunzelte Istvan amüsiert und stellte weitere Mitbringsel auf: eine Flasche Likör und das berühmte Marzipan der alten Hansestadt. "Ich-ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", stotterte Marius überwältigt. Wie hatte er Istvan bloß für einen flüchtigen Bekannten in seinem Leben halten können, wenn der sich solche Mühe gab, ihm etwas Gutes zu tun?! "Oh, dein Gesichtsausdruck reicht mir völlig!", zwinkerte der Übersetzer keck, erhob sich dann und klopfte Marius wohlwollend auf die Schulter, "was meinst du, wollen wir uns auf den Weg machen? Ist bestimmt sehr voll heute." Nur widerwillig löste Marius die Hände von seinem neuen Hemd, nickte geistesabwesend. Deutlich sichtbar hängte er es an die Außenseite seines Kleiderschrankes, dann musste er sich sputen, denn Istvan verkündete, er wolle pünktlich um Zwölf die Ergebnisse ihres Kochunternehmens verkosten! ~o~ Erstaunlicherweise fand es Marius gar nicht so lästig, mit Istvan einzukaufen, der ihm munter von seinem Aufenthalt in Tallinn erzählte und unbeabsichtigt auch aufklärte, warum er sich damals, als die Einbrecher Marius verfolgt hatten, in dem Viertel herumgetrieben hatte. Er musste ja Delikatessen für seinen Vater kaufen, damit der zum Weihnachtsfest auch etwas Vertrautes zu schmausen hatte! Istvan schien das Einkaufen in der Menge der hysterischen, genervten Eltern, langsamen "Best-Ager" und angestrengten Angestellten nicht als quälend zu empfinden. Er beratschlagte sich stattdessen ernsthaft mit Marius darüber, wie sie die Fertigmischung für einen Pizzateig am Besten belegen sollten, was man über den Erfolg eines bestimmten Waschmittels sagen konnte und dass bestimmte Schokoladensorten ab der Pubertät einfach nicht mehr so schmeckten, wie man es in Erinnerung hatte. Endlich konnten sie ihre Eroberungen bezahlen und marschierten, die Last gerecht verteilt, durch einen nieselregnerischen, trüben Tag zu Marius' Wohnung zurück. Der bedankte sich gerade zum wiederholten Mal für die unerwarteten Geschenke. Wie konnte er die großzügige Geste erwidern? Istvan lachte, als Marius ihm gestehen musste, dass das einzige Souvenir aus seiner Heimat in entsetzlicher Langeweile bestand, die Glücksgefühle auslöste, wenn man endlich dem Dorf den Rücken kehren konnte. Er erbat sich die Gunst, dass Marius ihn am Abend begleitete, ohne das Ziel ihrer Exkursion zu kennen. Derart ohne wirkungsvolle Verteidigung musste Marius natürlich zusagen, sorgte sich aber nicht darum. Die Pizza wurde tatsächlich ein Erfolg, und er konnte sich mit Istvan richtig unterhalten, über Bücher und öffentliche Leihbüchereien, über miese Typen, die Bücher mit Nikotinfingern lasen oder sie markierten! Marius gewann den Eindruck, dass Istvan es vermied, allein in seiner Einzimmerwohnung zu bleiben und eigentlich ständig auf Achse war, obwohl er sich ja von dem Wanderleben der Diplomaten verabschiedet hatte. Sie unternahmen einen Verdauungsspaziergang, der sie, natürlich zufällig, an der Konditorei vorbeiführte, wo Marius damals den Frankfurter Kranz erstanden hatte. Der stets 'süße' Istvan konnte wohl kaum an diesem Tempel der Leckereien vorbeigeführt werden, wenn er mit leuchtend kohlrabenschwarzen Augen förmlich in der Auslage klebte! Es war richtig drollig, befand Marius, dass ein erwachsener Mann, Istvan war gerade mal zwei Jahre jünger!, so sehr auf Süßigkeiten stand! Oder vielmehr auf die pikante Mischung zwischen herb und süß! Folgerichtig lud er den Übersetzer ein, doch Kaffee und Kuchen in dem kleinen, ein wenig plüschig wirkenden Café neben der Konditorei zu probieren, eine kleine Revanche immerhin, als Dank für das herrliche Bowlinghemd. Es dämmerte bereits, als sie in Marius' Wohnung zurückkehrten. Istvan wollte sich einstweilen verabschieden, um gegen zehn Uhr wieder auf der Matte zu stehen, dann sollte Marius sein Badezeug gepackt haben und bereit sein für ein außergewöhnliches Erlebnis. Marius stutzte zwar, aber er erhob keine Einwände. Dazu war er viel zu neugierig darauf, was Istvan nun ausgeheckt hatte. Er wollte sich lieber nicht eingestehen, wie sehr er diese Abwechslung aus seinem ruhigen, gemächlichen Alltag genoss! ~o~ Pünktlich um zehn Uhr hatte Marius eine lange Badehose, ein großes Handtuch, Badeschlappen und eine Badekappe eingepackt, dazu Duschgel und Shampoo. Fertig zum Abflug wartete er auf Istvan, der einmal klingelte, vor der Haustür wartete. Marius hopste beschwingt die Stufen hinunter, ließ sich von Istvan an der Hand durch den leichten Regen zu dessen Smart führen. "Gehen wir schwimmen?", erkundigte er sich im Auto neugierig, entspannte sich bei der leichten Jazzmusik, die aus dem Radio erklang. "Mehr als das", Istvan pilotierte geschickt, "wird dir gefallen!" Die Route führte sie hinaus aus der Stadt, in das Umland, nur von den Leuchten der Autobahn geleitet. Außerhalb eines recht mondänen Wohnviertels einer Kleinstadt im benachbarten Mittelgebirge folgte Istvan der Streckenführung der Wegweiser. "Ein Thermalbad", Istvan lächelte im Schein der Innenbeleuchtung, "heute gibt es aber auch etwas Besonderes!" "Wirklich?", Marius stieg aus, betrachtete die elegant beleuchtete Anlage. Natürlich gab es eine Außenanlage mit verschiedenen Becken, Fontänen, dazu verschiedene Kuppeln und eine große Haupthalle. Alles wirkte organisch, ohne Kanten oder Ecken. "Gehen wir hinein!", Istvan zog Marius hinter sich her, sehr munter und aufgekratzt. "Schön", murmelte Marius konziliant, bestaunte die schwimmenden Laternen in den Außenbecken, die zusätzlich zu Leuchtgirlanden ausgesetzt worden waren. In der Tat musste es mehr als ein nächtliches Schwimmen sein, das man hier zelebrierte. Am Eingang zeigte Istvan nicht nur Eintrittskarten, sondern auch eine besondere Einladung vor, dirigierte Marius vor sich her in die Umkleidekabinen. Es gab eine große Gemeinschaftskabine und verschiedene Einzelkabinen mit großzügigen Spinden. Marius hatte sich kaum die Badehose mit dem gerade geschnittenen Beinansatz übergestreift, da zog ihn Istvan bereits an einer Hand hinter sich her. "Moment!", protestierte er und stemmte die nackten Fersen in die Fliesen, "ich habe das Armband noch nicht befestigt!" Er hatte zwar auf die Badeschlappen verzichtet, weil Istvan ohne sie unterwegs war, aber Ordnung musste schließlich sein. "Oh, ich helfe dir!", vertraulich steckte Istvan den Kopf mit ihm zusammen, fädelte unaufgefordert das Band in den Verschluss ein. Kaum war der Schlüssel zum Spind auf diese Weise verstaut, marschierte der Übersetzer schon wieder voran, sein Handtuch lässig über die Schulter geworfen. Marius ertappte sich dabei, dass er Istvan betrachtete. Die Badehose war knapp, aber nicht unangemessen offenbarend geschnitten. Unter dem ewigen Schwarz der Hosen und Rollkragenpullover verbarg sich ein erstaunlich muskulöser Körper, helle Haut unter einem nennenswerten Haarteppich. Insgesamt, so urteilte Marius, wirkte sein eifriger Begleiter maskulin und sehr attraktiv, außerdem die zerzausten Locken und der Dreitagebart: beinahe zu passend für einen Frauenschwarm. »Wie ein Coverboy von einem dieser Liebesromane!«, dachte Marius ein bisschen boshaft. Die Rache folgte auf dem Fuße, denn Istvan absolvierte einen leichten Tanzschritt, zupfte Marius das Handtuch von der Schulter und schubste ihn unter die Dusche. Marius schluckte vor Schreck Wasser und schwang drohend die Faust. Istvan lachte und bewies Marius mit einem Zwinkern, dass dessen Starren ihm nicht entgangen war. Nach einer Dusche gesellten sie sich zu den anderen Gästen unter die größte der Thermalkuppeln. Auch hier, in dem großen Becken, das in warme goldene und blaue Farbtöne getaucht war, schwammen kleine Laternen auf dem Wasser. Sanfte Melodien schwebten durch die Kuppel, keine abgetrennten Lieder, sondern ein gemächliches An- und Absteigen von Tonfolgen, deren Echo sich in der Kuppel geschickt brach. "Schön", pflichtete Marius Istvans Ankündigung bei, die geschmackvollen Arrangements von Wasser, Licht und Akustik sagten ihm sehr zu. Eine beschwingt-sinnliche Atmosphäre erfüllte die gesamte Anlage. "Lass uns zuerst nach draußen schwimmen!", schlug Istvan vor, stopfte seine wilde Lockenpracht unvollkommen unter eine, selbstverständlich!, schwarze Badekappe. Marius folgte ihm willig. In den Außenbecken, die von einer ordentlich gepflegten, an Zen-Gärten erinnernden Landschaftsgestaltung umgeben waren, befand sich außer ihnen niemand. Kein Wunder, denn es regnete leicht und die Luft war eisig, sodass Dampfwolken über dem glitzernden Wasser schwebten. Istvan kletterte als Erster aus dem Becken, um sich im Regen zu drehen und dann lachend wieder zurück in das warme Thermalwasser zu springen. Marius bewegte sich nicht so selbstbewusst, aber er nutzte die Gelegenheit, sich trotz des aufsteigenden Dampfes umzusehen. Eine beinahe märchenhafte Atmosphäre bildete sich, die Laternen schienen in der Luft zu driften. Bald konnte man kaum noch Details der künstlichen Landschaft erkennen. "Komm wieder rein!", rief Istvan, "es wird zu kalt!" Das traf natürlich zu, aber Marius ließ sich nicht antreiben: wie in einem Traum verwandelte sich alles um ihn herum und er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass ihm diese 'fremde Welt' sehr zusagte. »Vielleicht«, amüsierte er sich über sich selbst, »bin ich doch ein klein wenig romantisch veranlagt!« Ein Gong ertönte, ein warmer, dunkler Klang, erinnerte an geheimnisvolle Tempel in östlichen Gefilden, die ein Abenteuer einläuten konnten. "Es geht los!", Istvan streckte auffordernd die Hand nach Marius aus, der nachgab und wieder in das herrlich warme Wasser glitt. "Was geht denn los?", erkundigte er sich neugierig. Der Übersetzer zwinkerte bloß Perlen aus seinen Wimpern, verschränkte ihre Finger ineinander und bahnte sich stromlinienförmig einen Weg nach innen, in die verbundenen Thermalkuppeln. "Geheimniskrämer!", beschwerte sich Marius und zupfte mit der freien Hand am straffen Bund seiner Badekappe. Unbequem und lästig, aber man musste eben Rücksicht nehmen! "..Unterwassermusik...", war das einzige Wort, das er auffangen konnte, weil Istvan ihn in eine der schneckenhausartig gedrehten Kuppel führte, mit einem kreiselnden Strömungslauf und Massageduschen, die in einem bestimmten Rhythmus aktiviert wurden. Istvan schob ihn auf den höchsten Punkt des gewundenen Schneckenhauses, von dem man recht gut den Eingang in das kleine Separee überblicken konnte, zeigte seinem ungeduldigen Begleiter, wie man sich bequem an den Haltestangen einhaken konnte und sich von der Strömung massieren lassen. Von einem warmen Glühen der eingebauten Lampen umhüllt fragte sich Marius, wie diese Unterwassermusik wohl klingen mochte? Wie bei Sanifair-Toiletten? Keineswegs. Es begann langsam, beinahe unmerklich, getarnt von wachsenden Wellenbergen, aber dann spürte es Marius, konnte kaum glauben, wie sehr sich die Vehemenz steigerte: niedrigfrequente Impulse wanderten durch das Wasser, hallten in jedem einzelnen Knochen wider. Es fühlte sich beinahe so an, als sei man von Lautsprecherboxen umgeben, die in tiefen Basstönen schwangen. Diese Unterwassermusik ging wirklich durch Mark und Bein. Marius keuchte, während alles in seinem Körper pulsierte, ihn durchklopfte und erzittern ließ. Sein Herz raste, konnte nicht anders, musste sich diesem gewaltigen Sturm ergeben. Um ihn herum brodelte der Strömungskanal, riss ihm die Füße unter dem Leib weg. Istvan schien mit dieser Reaktion vertraut, denn er fing Marius mit einem Arm ab, bevor der unfreiwillig Wasser schlucken musste, drängte ihn an die Haltestangen zwischen seine Arme. So, auf kurze Distanz, konnte Marius kaum verbergen, welche unterschiedlichen Emotionen ihn durchliefen. Da war Schrecken, aber auch eine archaische Erregung, als lausche er Kriegstrommeln und alten Luren, als sei er in einem Hexenkessel gefangen und müsse sich kämpfend befreien, an die dunkle Oberfläche außerhalb des rot-goldenen Scheins brechen. Er schnappte nach Luft, das Prasseln der Wasserteilchen kombiniert mit der niedrigen Frequenz raubte ihm den Atem. Da es außerhalb des Wassers erstaunlich ruhig zuging, die Unterwassermusik keinen Einfluss auszuüben schien, wollte er sich lösen, aus dem Schneckenhaus treiben lassen, um irgendwo an Land zu robben. Hauptsache raus! Immer höher blubberte das Wasser, tobte wie ein Geysir vor dem Ausbruch, sprühte seine Ladung überall hin. Marius' fiebriger Blick traf Istvans entschlossenes Gesicht. Nur der Übersetzer stand ihm im Weg, hinderte ihn daran, wieder Ruhe in seinen Leib und sein aufgewühltes Gemüt zu bringen! Als er sich an ihm vorbeischieben wollte, die Hände auf dessen Oberarme legte, um die freie Passage zu erzwingen, schnellte Istvan vor. Kein Protest konnte entschlüpfen, kein Widerstand sich formieren: er küsste Marius leidenschaftlich, ausgehungert, begehrlich. Der pulsierende Wahnsinn, der Marius anfeuerte, musste auch seinen Begleiter erfasst haben! Denn wie konnte man sich sonst erklären, dass Istvan der reißenden Strömung trotzte, wie angewurzelt stand, während seine Arme Marius umschlangen, ihn nicht fahren lassen wollten? Marius stellte fest, dass selbst dieser verblüffende Effekt durch die Unterwassermusik noch in den Schatten gestellt werden konnte: zum ersten Mal in seinem Leben wurde er bei einem Kuss ohnmächtig. ~o~ Kapitel 4 - Aus der Zauber? Die sanften, leicht verspielten Melodien holten Marius zurück in eine ruhige, abgedunkelte Grotte, durch deren künstliche Öffnungen silbriges Licht einströmte, das wohl an Vollmondnächte erinnern sollte. Er trieb im Wasser, die Glieder spannungslos knapp unter der Wasseroberfläche. Jemand hatte einen kräftigen Arm unter seine Achseln geschoben und stützte ihn. "Geht es dir besser?", Istvans Stimme an seinem Ohr klang sanft, sogar zärtlich, aber die Vibrationen im nackten Brustkorb direkt an seinem Rücken lösten bei Marius erneut Herzklopfen aus. Er wollte die Lider senken, sich schlafend stellen, einfach genießen, was ihn da so prickelnd in Aufregung versetzte, doch er war schließlich erwachsen, ein Realist. Man musste sich bescheiden, konnte nicht in Gesellschaft eines anderen so flüchtigen, ja kindlichen Vergnügungen nachgeben! Widerwillig zwang er seine Beine, sich bis zum Grund zu senken, damit er stehen konnte. "Es geht mir gut", antwortete er pflichtschuldig. Als er sich herumwandte, aus der Umarmung löste, konnte er den kohlrabenschwarzen Augen für einen Moment Bedauern lesen. Trotzdem wich er Istvans Blick nicht aus, spürte erneut diese seltsame, beinahe meditative Versenkung, die ihn Raum und Zeit vergessen ließ. "Wann", er räusperte sich, denn seine Kehle war rau, "wann beginnt die nächste Vorstellung?" ~o~ Istvan erklärte ihm, dass es von Elf bis Mitternacht zwei fünfminütige 'Unterwasserkonzerte' gab, die besonders therapeutischen Nutzen hatten. Es ging nicht darum, das Gehör zu erfreuen, sondern hartnäckige Verspannungen, auch seelische, aufzurütteln und aufzulösen. Tatsächlich fühlte sich Marius angenehm erwärmt, geschmeidig und entspannt. Da er auch die zweite Runde mitmachen wollte, lotste Istvan ihn zunächst aus dem Wasser, bevor sie sich Kiemen und Schwimmhäute aneignen konnten. Unter Wärmestrahlern ruhten sie auf bequemen Liegestühlen, schwiegen und warteten auf den zweiten Gongschlag. Als der ertönte, tauchten sie beide im größten Becken, suchten sich hinter den drei gewaltigen Massageduschen, die wie ein Wasserfall aus dem Nichts auf die einsetzenden Wellen herabprasselten, einen festen Griff an der umlaufenden Haltestange. Wieder rasten peitschende Impulse durch ihre Körper, doch sie widerstanden der Versuchung, sahen einander blinzelnd in die Augen, wollten immer noch eine weitere Sekunde herauskitzeln, bis die Spannung, das Herzrasen unerträglich wurden. Marius ließ sich in eine einarmige Umklammerung ziehen, erwiderte Istvans gierige Küsse ebenso ungestüm und ungezügelt. Manieren, Vernunft, Contenance: das alles hatte hier keinen Bestand! Um- und verschlingen war die Devise! ~o~ Wohlig erschöpft nach einer ausgiebigen Dusche döste Marius auf dem Beifahrersitz. Jetzt wäre Schlaf in einem kuschelig warmen Bett perfekt! Vage dämmerte ihm, dass er möglicherweise nicht auf der Höhe der Situation war, doch sein Verstand konnte den Nebel nicht durchdringen, den Erschöpfung und Hormontaumel verursacht hatten. Wie selbstverständlich nahm er Istvan mit in seine Wohnung, teilte ihm schon mit Lidern auf Halbmast einen Pyjama zu und kroch unter seine Decke. Dass sich der Übersetzer an ihn schmiegte, bemerkte er schon nicht mehr. ~o~ Marius erwachte, weil irgendwelche gehirnamputierten Spaßvögel vorzeitig Silvesterfeuerwerk abbrannten. Mit einem unwirschen Brummen stemmte er sich, die Augen noch geschlossen, in eine sitzende Haltung, fischte blindlings nach der kleinen Klemmleuchte. Die unzeitigen Knallfrösche gerieten sofort in Vergessenheit, als er den Lockenschopf auf seinem Kopfkissen identifizierte. Er rieb sich mit beiden Händen kräftig über das Gesicht, doch das Resultat blieb das Gleiche: neben ihm schlief Istvan tief und fest. Dessen Anwesenheit wurde gerechtfertigt durch die einsetzende Erinnerung. "...oh....", stellte Marius fest und spürte, wie er dunkelrot anlief. »Da habe ich mich ja zu etwas hinreißen lassen«, kommentierte er schließlich stumm seine eigene Vorstellung vor einigen Stunden, und doch, er betrachtete Istvans schlafendes Gesicht eingehend, wusste er, dass er jeden Kuss nach dem ersten gewollt hatte. Er hatte es genossen, die kraftvollen Hände auf seiner Haut zu spüren, die bedenkenlose Leidenschaft, die sie geteilt hatten. Es war ein Wettstreit gewesen, wer den anderen becircen konnte, ihn so verzaubern, dass alle Schranken fielen, Vernunft und Hemmungen in Vergessenheit gerieten. Marius rutschte wieder tiefer unter die Decke, löschte das Licht. Es war Silvester, Feiertag, keine Notwendigkeit, zeitig aus dem Bett zu fallen. Überhaupt, dazu hätte er über seinen Logiergast steigen müssen! Die sich ausbreitende Wärme lullte ihn wieder ein, sodass er auch die Frage vergaß, die ihn einige Minuten lang beschäftigt hatte: war es nur ein flüchtiger Zauber? ~o~ Als Marius das zweite Mal an diesem Morgen seinen Träumen entsagen musste, zeichneten sich pelzige Pfoten dafür verantwortlich. "...nein...", knurrte er schläfrig, "ichhabeuchgesagt, nichtmeinBett!" Die Pfoten tippten nun energischer über seinen Hinterkopf, begleitet von einem entrüsteten Maunzen. "Ichbinschonwach!", log Marius ungeniert, schüttelte sich, um die Katzen auf Distanz zu halten und wollte aus seinem Bett taumeln. Auf Autopilot. Dummerweise hatte er seinem inneren Navigationssystem vorenthalten, dass es noch einen Bettgefährten einzukalkulieren galt. In der Folge rappelte sich Marius zwar hoch, stolperte aber über Istvan, der aus seinem Dornröschenschlaf hochschreckte und den allgemeinen Tumult noch potenzierte. Endlich gelang es, alle beteiligten Glieder zu ordnen und zu eruieren, was die Ursache für das Spektakel war: die Zimmertür war geschlossen! "Ach so!", grummelte Marius, der auf der Bettkante saß und sich die Tolle zu kämmen versuchte, erhob sich und gab den Weg in die restliche Wohnung frei. Noch waren die Katzen nicht geübt genug, sich selbst den Weg in die Unabhängigkeit zu bahnen, also musste er seinen Pflichten nachkommen. Istvan ließ sich wieder auf den Rücken sinken. "Lohnt es sich aufzustehen?", erkundigte er sich, ein Gähnen unterdrückend. Marius, der ohnehin in der Senkrechten war, zog den Rollladen hoch und studierte die Welt außerhalb des Fensters. Sie war trübe und sehr nass. "Nö", lautete seine knappe Replik, bevor er sich wieder unter die Decke verkroch. "Gute Idee!", pflichtete ihm Istvan bei, rückte wieder auf das gemeinsame Kopfkissen und klappte die Lider herab. Man konnte ja nie wissen, wann man den Schönheitsschlaf benötigte. ~o~ Anais und Iris ließen einige Zeit verstreichen, bevor sie darauf bestanden, dass zumindest ihr Frühstück serviert wurde, also mussten sich Istvan und Marius auch der grauen Realität stellen. Sie taten es schweigend, bei einem bescheidenen Frühstück, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Marius mutmaßte, dass Istvan sicherlich für den Silvester-Countdown eine Verabredung hatte, zu einer Party ging oder etwas dergleichen. Er selbst hatte sich seit Jahren von allen Festivitäten ferngehalten. Dieses Mal wollte er besonders darauf achten, wie seine Hausgenossinnen auf den Lärm reagierten, da er gelesen hatte, dass Haustiere den ganzen Trubel als sehr belastend empfanden. Istvan drehte Kringel in eine bereits naturlockige Strähne, sandte unter den dichten Wimpern immer wieder prüfende Blicke auf die andere Seite des kleinen Küchentresens. Er war sich nicht sicher, und das verstimmte ihn, aber letztendlich gab es nur einen einzigen Weg, die Wahrheit zu ermitteln: man musste den Sprung in das kalte Wasser wagen! Langsam streckte er die Hand hinüber, legte sie um Marius' Wange, der eher überrascht als ablehnend wirkte. Auch wenn ihm das Herz bis zum Hals klopfte, meisterte Istvan die Herausforderung, einfach zu fragen, "ich möchte mit dir schlafen. Willst du?" Marius' Unterkiefer klappte herab, doch zunächst blieben Worte aus. Istvan hätte diese Reaktion bestimmt besser verstanden, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass noch niemand Marius auf diese Weise zu Intimitäten eingeladen hatte. So sah er bloß einen ratlosen, etwas bedröppelt blickenden, jungen Mann vor sich. Marius dagegen erlebte einen innerlichen Super-GAU mit Schweißausbruch, Herzrhythmusstörungen und Schwindelgefühl: was sollte er bloß tun?! Es gab so vieles vorab abzuklären, abzuwägen, abzustimmen! Wenn sie doch nur wieder wie gestern im Wasser wären, wo alle Zweifel und Bedenken davongespült worden waren! Istvans Hand lag noch immer sanft auf seiner Wange, er konnte die Fingerspitzen so spüren, als gingen von ihnen winzige, elektrische Ladungen aus. Ein seltsamer Tunnelblick erfasste Marius, das Feld beschränkte sich auf die Lippen, leicht geöffnet, als könnten sie ihn jeden Moment zu überzeugen versuchen, leise Worte raunen. Blinzelnd kämpfte er gegen das Schwindelgefühl an, umklammerte Istvans Ellenbogen haltsuchend, vergaß zu atmen. Die Lider flatterten, er senkte sie, um sich eine Auszeit zu verschaffen, wieder seine Fassung zu gewinnen. Wie Wüstenwind streifte ihn Istvans Atem, brannte sengend glühende Lücken in den Verteidigungsschild, der kühle Zurückhaltung installieren wollte. Der Kuss kam wie eine Erlösung, begleitet vom trommelnden Herzschlag. Ächzend rang Marius nach Luft, taumelte sogar. Er ließ sich in die enge Umarmung dirigieren, schlang die eigenen Arme fest um den Nacken des Übersetzers und vergrub das Gesicht auf dessen Schulter, kopierte unwissentlich dessen Pose. Kein weiteres Wort fiel, eine Bestätigung war entbehrlich. Marius folgte Istvan willig in sein Schlafzimmer, schlug die Decke auf, während der die Vorhänge zuzog. Sie wandten sich einander zu, ließen Fingerspitzen wie Kundschafter über unbekannte Gefilden gleiten, bis die Distanz unerträglich wurde, bezwungen werden musste! Die Augen geschlossen küssten sie einander, leidenschaftlich, aber ohne einen Kampf um die Vorherrschaft, ohne Gewaltanwendung. Zwar dürstete es sie nach der Liebkosung des anderen, doch stärker noch regierte die Bereitschaft, dem anderen ein Wohlgefühl zu verschaffen. Geduldig und zärtlich wurde die textile Hülle abgepflückt, dann kletterte Marius ins Bett, stützte Istvan, der sich auf ihn kuschelte, eine enorme Hitze verbreitete. Von den Küssen konnte Marius zehren, so bedeutsam und freigiebig wurden sie ausgetauscht. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Berührung so sinnlich, so erhebend empfunden zu haben. Alle Vorbehalte und Unsicherheiten lösten sich auf angesichts dieser überzeugenden, emotionalen Wetterlage: alles WIRD gut. Dass sie einander hielten, mit Küssen bedachten, streichelten, verwöhnten. Nicht einmal die verlorene Decke, unter der gedämpft zwei neugierige Katzendamen die urplötzlich eintretende Dunkelheit beklagten, noch das Fischen nach Zellstofftüchern aus einem Kartonspender beeinträchtigte diese Feststellung. ALLES war gut. ~o~ Nach einer Siesta teilten sich Marius und Istvan stumm eine Dusche, doch es war kein verlegenes, ratloses oder gar beklommenes Schweigen, nein, die Notwendigkeit, sich verbal austauschen zu müssen, bestand einfach nicht. Vielleicht riet ihnen auch der Instinkt, nicht in Worte zu fassen, was sie bewegte, denn nichts konnte leichter eine aufkeimende Zuneigung torpedieren als Missverständnisse aufgrund übertriebener Mitteilsamkeit. Gegen Abend, nach einer kleinen Rauferei mit Anais und Iris, die Bewegung für angebracht hielten, hieß es, Pläne für den letzten Abend des alten Jahres zu schmieden. Marius bekannte, dass er eigentlich vorgehabt hatte, den Abend allein ausklingen zu lassen, nicht einmal Sekt lagerte kühl. Istvan zwinkerte. Wenn Marius gewillt sei, mit ihm einen kurzen Spaziergang zu unternehmen, so könnte man den Piccolo, der seit einiger Zeit im Kühlschrank ein trauriges Dasein fristete, gemeinsam leeren. Durchaus neugierig auf die Unterkunft seines Freundes stimmte Marius natürlich der Promenade zu. Es nieselte zwar unfreundlich vor sich hin, aber sie waren schließlich nicht aus Zucker gemacht! Außerdem konnte er nicht widerstehen, vom Studium der Wohnung auf den Charakter und die Eigenheiten des Besitzers zu schließen, oder vielmehr, sich zu Rückschlüssen verführen zu lassen. Nebeneinander, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, die Kragen hochgeklappt, spazierten sie durch die abendlichen Straßen. Istvans Einzimmerwohnung lag nicht allzu weit entfernt, sodass auch die Witterung wenig Einfluss auf sie hatte. Ein Hochhaus der mittleren Klasse, nicht mehr ganz neu, für eine große Gesellschaft errichtet und vor einiger Zeit für den freien Mietermarkt eröffnet, war das Ziel. Marius hatte eine gewisse Reserve gegenüber diesen vertikalen Mietskasernen, doch das Haus machte einen gepflegten Eindruck: keine verstreuten Werbezettel im Flur, kein Briefkasten demoliert oder überquellend, keine Schmierereien auf der Klingelleiste. Istvan schloss die Haustür auf und ging voran zu den zwei Aufzügen. Automatisch, einer Angewohnheit folgend, die Marius niemals mehr richtig abgestreift hatte, kontrollierte er Baujahr und TÜV-Siegel im Aufzug, nachdem er schon einen Blick auf Notausgangsbeschilderung und den in Hüfthöhe montierten Feuerlöscher geworfen hatte. An Istvans amüsiertem Grinsen konnte er erkennen, dass seine 'Studie' nicht unbemerkt geblieben war. "Sicherheitsbeauftragter", erklärte er mit einem verlegenen Schulterzucken. Der Übersetzer erwiderte nichts, schmunzelte aber verstärkte Grübchen in den Dreitagebart. »Komisch«, Marius staunte über sich selbst, »wieso hat mich das eigentlich nicht gestört?« Bisher hatte er, wenn auch in grauer Vorzeit, nur Küsse mit Frauen ausgetauscht, weiche Haut, oftmals mit Kosmetik behandelte Lippen, alles zart und seidig. »Ist es seinetwegen?«, stutzte er, »oder bin ich bloß besonders unsensibel?« Das Ergründen der tieferen Bedeutung seiner fehlenden Ablehnung der Bartstoppeln wurde verschoben, denn der Aufzug entließ sie mit einer Ansage des Stockwerks. Auch hier war der Flur zu den einzelnen Wohnungen sauber und wirkte recht gut erhalten. Eine Fußmatte mit einem grinsenden Gesicht lag vor Istvans Wohnungstür. Die Aufforderung, die darunter stand, konnte sich Marius nicht übersetzen, sodass er ratsuchend den Freund ansah, der bereits den Wohnungsschlüssel einsteckte und die Beleuchtung aktivierte. "Oh, das ist Ungarisch", erklärte Istvan, "das heißt 'Willkommen!'. Habe ich aus einem Urlaub mitgebracht." »Meine Fresse!«, dachte Marius, schwieg aber diplomatisch. Polyglott zu sein war ja recht beneidenswert, aber manchmal auch ein wenig einschüchternd für die Umgebung. Er schüttelte wie aufgefordert seinen Mantel von den Schultern und vertraute ihn der Hakenleiste an der Wand hinter der Tür an. Das Einzimmerappartement beherbergte zur Rechten eine kleine Küchenzeile, die sich an die Tür zum Badezimmer anschloss, auf der linken Seite ein Schlafsofa und Regale, die als Raumteiler dienten. Überall stapelten sich Umzugskisten, nur teilweise durch eine abenteuerliche Vorhangskonstruktion verdeckt, die auch einen rollbaren Kleiderständer verbarg. "Chaotisch, nicht wahr?", Istvan beugte sich bereits über seinen kleinen Kühlschrank, "aber wenigstens die Aussicht ist klasse." Marius trat ans Fenster und pflichtete seinem Gastgeber stillschweigend bei. Ihn irritierte lediglich der vorgehangene Balkon, denn selbst hinter dem dreifach verglasten Fenster konnte er die Windzüge spüren. Kein Mensch konnte so einen Balkon nutzen. "Ich sollte eigentlich mal auspacken", Istvan hatte den Piccolo geborgen und lehnte sich mit verschmitztem Lächeln an die Küchenzeile, "aber ich kann mich einfach nicht dazu aufraffen, dabei wohne ich hier schon seit fast zwei Jahren." Die Versuchung war zu groß, um ihr zu widerstehen: Marius MUSSTE Istvan einfach ungläubig anglotzen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie man zwei Jahre lang in einer Art ungeordnetem Camping hausen konnte! "Ich bin nicht oft zu Hause", beantwortete der Übersetzer unbekümmert die unausgesprochene Frage, "bei den Bücherkisten erinnert mich das immer an früher. Irgendwie scheint es wie bei den Schatzsuchern zu sein", versicherte er treuherzig. Marius hatte nicht die Absicht, in den Kisten zu stöbern, aber er konnte doch nicht umhin, einen Blick auf die Regale zu werfen. Nur die wenigsten Buchrücken erklärten sich ihm. Es waren von der Nutzung gezeichnete Bücher, in Sprachen, die er nicht zuordnen konnte, ein wildes Durcheinander. "Magst du Müsliriegel?", hinter ihm kramte Istvan in einem Küchenschrank herum. "Äh...", Marius zögerte. Für gepresstes Körnerfutter hatte er nicht sonderlich viel übrig, wollte mit seiner Ablehnung aber niemanden vor den Kopf stoßen. "Hmmm...", prüfend prügelte Istvan mit einem der Riegel gegen die Küchenzeile. Der Packungsinhalt verbog sich nicht einmal. "Briketts", lautete sein Urteil, "ich kann mich nicht mal erinnern, warum ich das Zeug gekauft habe. Oder wann", ergänzte er nach einem kritischen Blick auf das Haltbarkeitsdatum. Um weitere ernährungstechnische Katastrophen auszuschließen, meldete sich Marius zu Wort, "wir könnten Waffeln machen. Bei mir." "Das", Istvan strahlte ihn erwartungsvoll an, "klingt nach einer ausgezeichneten Idee!" »Puha!«, pflichtete sein Gast heimlich bei, »sieht wirklich nicht so aus, als würde hier jemand richtig wohnen!« Nachdem sie die Müsliriegel einer im Spalier stehenden und hochumzäunten Mülltonne anvertraut hatten, schlenderten sie mit dem Piccolo in Istvans Manteltasche wieder zurück zu Marius' Wohnung. Anais und Iris hatten die Abwesenheit des Hausherren genutzt, um ausgiebig mit den Katzenbällen auf dem Sofa im Wohnzimmer herumzutollen, sodass sie nun schläfrig vor sich hin dösten und die Rückkehrer nicht euphorisch begrüßten. Die beiden nahmen jedoch keinen Anstoß daran, sondern begaben sich in Marius' Küche, um den Piccolo in Marius' ordentlich gefülltem Kühlschrank zu verstauen und sich dann mit der Herstellung von Waffeln zu beschäftigen. Das ging nicht ohne Klecksen und Spritzen, aber ihre Stimmung war heiter, aus dem alten Radiokassettendeck klangen Motown-Hits und Marius vergaß sich sogar so weit, dass er einfach mitsang. Istvan brummte mit, bestrich die abkühlenden Waffeln mit Brombeermarmelade und streute Puderzucker als Krönung darüber. Er lobte Marius' gut organisierten Haushalt, der Anzeichen von Verlegenheit offenbarte, deshalb Istvan kommandierte, sich um den Tee zu kümmern, während er schon mal die benutzten Kochutensilien einweichte. Zu Ostfriesentee mit Milch und Zucker, nicht ganz authentisch, aber dafür lecker!, gab es nun die Waffeln, puderzucker- und marmeladebeschmierte Oberlippen und übermütiges Gelächter. Anais und Iris hatten ihr kleines Formtief überwunden und nahmen ebenfalls in der Küche an der impromptu-Feier teil. Sie strichen auch neckend um besockte Knöchel, hockten sich auffordernd auf jeden verfügbaren Spann, damit man sie spielerisch in die Höhe beförderte. Selbst das Geschirrspülen von Hand machte da gute Laune. Um sich die Zeit bis zum Jahreswechsel zu vertreiben, schlug Istvan nach einem neugierigen Studium von Marius' heimlichen Schätzen vor, doch das Original von H. G. Wells 'Der Krieg der Welten' in der Fassung von Orson Welles anzuhören. Je eine Katze auf dem Schoß lehnten sie neben einander auf dem Sofa, lauschten dem Hörspiel, das wie eine altertümliche Reportage aufgemacht worden war, lediglich von einer einzigen Kerze beleuchtet. Auf eine sehr nostalgische Weise war es anheimelnd-gruselig. Rechtzeitig vor dem Jahreswechsel endete das Hörspiel, die Marsianer waren erledigt, nun musste der Piccolo geöffnet werden. Gerecht auf zwei Gläser verteilt stießen Marius und Istvan auf das neue Jahr an und betrachteten das Feuerwerk draußen, das in einiger Entfernung gezündet wurde. "Hier ist nicht so viel los", entschuldigte sich Marius, "die halbe Gegend ist entweder im Urlaub oder auf Festen woanders. Da gibt es kein großes Feuerwerk." "Stört mich nicht", gab Istvan frank zurück, schließlich bekam man oft genug Feuerwerke zu sehen. Auch war es von Vorteil, dass kein allzu großes Getöse losbrach, denn man konnte ja nicht einschätzen, wie die beiden Katzen darauf reagierten. Nachdem vor dem Fenster kein Spektakel mehr geboten wurde, entschuldigte sich Istvan kurz auf die Toilette. Marius spülte die Gläser ab, stellte die Flasche zum Glasmüll, den er am übernächsten Tag auf dem Weg zur Arbeit entsorgen wollte und versank in Gedanken. Er hatte den Jahreswechsel oft genügsam zu Hause verbracht, wenn es ihm gelungen war, Einladungen über seine Bekannten vom Skat oder Bowling abzuwimmeln. Vertieft in eine spannende Handlung von fernen, imaginären Orten, warm eingekuschelt und abgelenkt hatte er sich eine private Flucht aus der Realität gegönnt. Er hatte eigentlich nichts übrig für Knallfrösche anzünden, Bleigießen oder was auch immer man so am Neujahrsabend zu unternehmen pflegte, sodass er in seiner eigenen Vorliebe keinen Nachteil sah. Aber dieses Jahr war es anders, weil jemand ihm Gesellschaft leistete und Marius sich schmerzlich eingestehen musste, dass er keine Ahnung davon hatte, wie man Zeit gemeinsam verbrachte. Spielte man Gesellschaftsspiele? Musste man etwas unternehmen? Fernsehen wäre langweilig, ausgenommen spezielle Sendungen, aber er interessierte sich nicht sonderlich für Fußball oder andere Sportarten, sah nicht oft fern, hatte deshalb keine Vorstellung davon, was gerade en vogue war. »Er wird sich mit mir langweilen!«, seufzte Marius stumm, verabscheute den Druck, sich etwas einfallen lassen zu müssen, um seinen Gast zu unterhalten. Ihm hätte es schon gereicht, wenn Istvan einfach nur da gewesen wäre, ohne große Anstrengungen. Besagter Gast hockte sich vor ihn hin, fasste Marius' Hände, der erschrocken bemerkte, dass er wohl eine ganze Weile nicht in dieser Dimension geweilt hatte. "Entschuldigung, was hast du gesagt?", platzte er hastig heraus, lief rot an vor Scham, sich eine solche Blöße gegeben zu haben. Istvan lächelte, "ich habe nichts gesagt." "...oh...", murmelte Marius und biss sich auf die Unterlippe. Wie peinlich! "Möchtest du, dass ich gehe?", erkundigte sich Istvan leise. Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, aber Marius meinte, eine gewisse Enttäuschung zu hören. "Möchtest du nach Hause?", fragte er unsicher zurück. Er begriff einfach nicht, wie er Istvan einschätzen sollte. Wurde es dem in seiner Gesellschaft schon zu viel? Oder war etwas anderes gemeint, dass er ohne Erklärung selbst erkennen sollte?! "Ich möchte gern in deinem Bett schlafen. Mit dir", die kohlrabenschwarzen Augen funkelten im Kerzenschein, um die Lippen spielte in den Schatten des Dreitagebarts ein zärtliches Lächeln. "Dann gehe ich kurz noch ins Badezimmer. Mach es dir bequem, ja?", Marius federte eilig hoch, um zu verbergen, wie sehr ihm diese Aussicht gefiel. Das war eigentlich schon verwirrend, gestand er sich ein, als er sich das Gesicht wusch und die Zähne hingebungsvoll schrubbte. Warum verlangte es ihn so sehr nach Istvans Nähe? Der war immerhin ein Mann! Obwohl das, man musste ehrlich sein, bisher keine außerordentliche Rolle gespielt hatte. "Was soll das?!", tadelte er sich selbst im Spiegel. Das sah ihm nicht ähnlich, so schwere Gedanken zu wälzen, wenn das Leben doch weiterging. Warum sich den Kopf zerbrechen? Man musste es ohnehin nehmen, wie es kam! Marius hatte das immer schon so gehalten, war sicher bis zu diesem sehr zufriedenstellenden Punkt in seinem Leben angelangt, sodass er weitere Erwägungen streng verbannte. In seinem Schlafzimmer kroch er im Halbdunkel zu Istvan unter die Decke, ließ sich erneut küssen, streicheln, mit Zärtlichkeiten verwöhnen. Da mussten selbst die hartnäckigsten Zukunftsüberlegungen weichen. ~o~ Am Neujahrstag lag die gesamte Stadt in einem tiefen Nebel, der sich wie ein Leichentuch über jede Aktivität legte. Kein Geräusch drang von draußen herein, sodass die beiden Schläfer nur das hungrige Lärmen der Katzen aus ihrem Schlummer jagte. Marius brummte im Halbschlaf etwas vor sich hin, rollte unter der Decke hervor und tapste blindlings Richtung Küche, um dort automatisch nach dem Katzenfutter zu greifen. Erst anhand der schnurrenden Katzen, die dankbar um seine nackten Beine strichen, wurde ihm bewusst, dass er a la nude in der Küche herumwerkelte. Es bestand zwar überhaupt keine Gefahr, in unschicklicher Weise die Nachbarschaft zu schockieren, aber der Umstand sorgte dafür, dass Marius' Verstand wehmütig den Schlaf verabschiedete. Was tun? Frühstücken, natürlich, aber jetzt? Und Istvan? Den wirren Schopf zu einer groben Tolle kämmend bewegte sich Marius wieder in sein Schlafzimmer. Istvan hatte den Kopf in eine Hand gestützt und studierte ihn unverwandt, dann ließ er sich geschmeidig auf den Rücken sinken, die Lider auf Halbmast, eine Geste der Verführung. Der solcherart Eingeladene sackte auf der Bettkante zusammen und runzelte die Stirn. "Meine Füße sind eiskalt", knurrte er müde. Auf seinem Kopfkissen lachte ein spottender Mund amüsiert. "Hab dich gewarnt", gab Marius zu Protokoll, als er sich wieder unter die Decke rollte und rächend die Beine zum Gast hin ausstreckte. Allerdings kannte Istvan ein Programm, dass müde Männer schnell munter machte und Eisbeine rasch auftaute. Das Bettzeug ein wenig in Mitleidenschaft gezogen ob der kleinen Balgerei, die den Intimitäten vorausging, erhoben sich eine Stunde später zwei aufgewärmte und muntere Männer. Dieses Mal führte kein Weg am Frühstück vorbei, denn die ausgehungerten Wölfe über dem Gürteläquator hatten ein Machtwort gesprochen. Es war schon später Nachmittag, als sie sich langsam voneinander verabschiedeten. Istvan versprach, sich mit Marius zu treffen, damit sie die Leihbücherei gemeinsam unsicher machen konnten. »Erstaunlich!«, dachte Marius verblüfft, »sieht so aus, als würden wir uns öfter sehen.« Mit dieser keineswegs unangenehmen Aussicht absolvierte er auch den Pflichtanruf bei seinen Eltern, ließ sich nicht durch die wehleidigen Vorwürfe seiner Mutter, erst am nächsten Tag ein gutes, neues Jahr zu wünschen, aus der Ruhe bringen. Sie unterstellte ihm selbstverständlich, wie in jedem Jahr, dass er sich auf Festen so sehr amüsiert hatte, dass er seine Eltern darüber vergaß, aber gutmütig wie stets überhörte Marius die versteckten Spitzen. Er konnte wohl kaum erwidern, dass der heimliche Alb-Traum seiner Mutter eingetroffen war und er seine Zeit im Bett verbracht hatte. Mit einem Mann. Froh gestimmt sah Marius dem ersten Arbeitstag des neuen Jahrs ins Auge, ein Mittwoch, der sich aufgrund der Feiertage wie ein Montag anfühlte. Wie in den letzten Tages des alten Jahres auch herrschte wenig Kundenfrequenz, man befand sich wohl noch in Urlaub, immerhin dauerten die Schulferien noch an. Marius verbrachte den Tag beschwingt, steckte damit am Abend auch noch seine beiden Gefährtinnen an, sodass sie den Tag mit Katzenfußball ausklingen ließen. Am nächsten Tag, dem ersten Tag der Woche, in der die größte der Leihbüchereien wieder ihre Tore geöffnet hatte, wartete Marius fröstelnd vor dem Gebäude. Die verabredete Zeit war verstrichen, auf seinem Mobiltelefon befand sich keine Nachricht. Schließlich, er musste wenigstens seine Bücher zurückgeben, begab er sich ins beheizte Innere, schloss artig Mantel und Tasche ein, schmuggelte sein Mobiltelefon auf Vibrationsalarm hinein und wählte eilends die Bücher aus, die er sich zu Gemüte zu führen gedachte. Er wartete bis zum Toresschluss, doch von Istvan keine Meldung. Das Fahrrad beladen wählte er dessen Rufnummer an. Niemand nahm den Anruf entgegen. "Musste wohl arbeiten", enttäuscht, aber verständnisvoll tippte Marius mit klammen Fingern eine Kurznachricht und lud für den Sonntag zum späten Frühstück bei sich ein, dann radelte er heimwärts. ~o~ Auch die nächsten beiden Tage kam keine Nachricht von Istvan. Ein wenig besorgt aber zuversichtlich kaufte Marius am Samstag genug, um die ausgesprochene Frühstückseinladung einhalten zu können, fuhr ansonsten mit seiner gewohnten Routine fort. Er hoffte, immerhin konnte das ja sein!, bei seiner Rückkehr vielleicht eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter vorzufinden, doch er wurde enttäuscht. Am Sonntagmorgen wachte Marius verdrießlich und missgelaunt auf. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er wütend auf Istvan war, der nicht einmal eine kurze Nachricht absetzen konnte! Das passte überhaupt nicht zu ihm, sich wegen einer solchen Kleinigkeit die Laune verderben zu lassen! »Wir schulden einander doch keine Rechenschaft!«, hielt er sich selbst vor, »du weißt genau, dass er einen Job hat, der kurzfristige Änderungen mit sich bringt, also reiß dich gefälligst zusammen! Oder kannst du dich nicht mehr allein amüsieren?!« Der letzte Gedanke machte ihm Angst. Er MUSSTE sich in seiner eigenen Gesellschaft perfekt fühlen, vollkommen, denn sonst, da bedurfte es keiner Hellseherei, würde er irgendwann wie seine Eltern einen Kleinkrieg führen, weil man sich daran gewöhnt hatte, nicht mehr allein zu sein und sogar in Panik verfiel, weil man nicht als Teil eines Paares auftrat! "Auf GAR KEINEN Fall!", verkündete er laut, schleuderte die Bettdecke von sich und sprang elastisch auf die Beine. Ja, vielleicht war er der geborene Junggeselle, aber das hatte ihm bisher nicht geschadet! Seit Jahren an alle Freiheiten und die eigene Entscheidungsgewalt als höchste Autorität gewöhnt musste er sich doch nicht so ins Bockshorn jagen lassen! Energisch marschierte er in sein Badezimmer, im Gefolge Anais und Iris, die diesen Aufruhr mit Spannung beobachteten. Marius stieg unter die Dusche, ließ sich ordentlich malträtieren und schrubbte engagiert Schaum auf seine Haut. ER würde jetzt ein herrlich opulentes Frühstück genießen! Er würde danach nur das tun, was er immer tat und was ihm gefiel und von gar niemandem abhängig sein! ~o~ Als Marius am Montag von seiner Skatrunde zurückkehrte, blinkte der Anrufbeantworter hektisch. Obwohl er die Hoffnung hegte, es könne eine Nachricht von Istvan sein, räumte er zunächst seine Bowlingschuhe weg, duschte und schlüpfte in seinen Schlafanzug, bevor er den Apparat abhörte. Die Nachricht stammte tatsächlich von Istvan. Dessen Stimme klang müde, stockte, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Unerwartet habe er eine Dienstreise antreten müssen, dann habe er beim Einsammeln seines Gepäcks festgestellt, dass sein Mobiltelefon zerbrochen war. Er habe versucht, wenigstens die SIM-Karte zu retten, doch das habe keinen Erfolg gehabt. Anschließend habe er im Internet nach Marius' Telefonnummer gesucht, weil er ja vergessen habe, sich dessen E-Mail-Adresse zu notieren. "Na, kein Wunder!", brummte Marius laut, durchaus mitfühlend. Er hatte von seinem Recht Gebrauch gemacht, seine Rufnummer geheimzuhalten, sodass Istvan sie nicht finden konnte. Ohne den Speicher des Mobiltelefons waren wohl alle aufgeschmissen, die kein handschriftliches Adressbuch führten. Da war es auch verständlich, dass Istvan seine Einladung zum gemeinsamen Frühstück nicht erhalten hatte. Marius erwog für einen Augenblick, Istvan einfach anzurufen, doch dann besann er sich eines Besseren. Hatte der Freund nicht müde und angestrengt geklungen, war vielleicht direkt von seiner Reise zurückkehrt und dementsprechend müde, also am nächsten Tag anrufen und vielleicht eruieren, wie es Istvan nun ging! Bei der Gelegenheit könnte man auch die Einladung zum Treffen in der Leihbücherei am Donnerstag wiederholen. Durchaus erleichtert, was ihn ein wenig ärgerte, denn eigentlich war es ja gar nicht SOOOO bedeutend, kroch Marius in sein Bett und kuschelte sich gemütlich ein. ~o~ Marius wählte in der Mittagspause die dienstliche Rufnummer von Istvan an und ermahnte sich, nach der neuen Mobiltelefonnummer zu fragen, doch niemand nahm ab. »Das ist noch kein Rückschlag!« , so schnell gab Marius natürlich nicht auf. Er rief einfach Istvans Anrufbeantworter zu Hause an, sprach seine Einladung aus und bat höflich um eine Rückmeldung. Zufrieden widmete er sich dann wieder seiner Arbeit, die gar nicht mehr von den Festivitäten der vorangegangenen Wochen kündete. Als er am Abend zu Hause eintraf, flitzten Anais und Iris aufgeregt um ihn herum, drängten ihn laut maunzend, den enervierenden Anrufbeantworter abzuhören. "Schon verstanden!", beruhigte er seine Damen, kraulte die kleinen, pelzigen Köpfchen und zwinkerte in die tiefblauen, großen Augen. Er spulte die Nachricht ab, schälte sich gleichzeitig aus seinem Mantel. Nun klang Istvan wieder gewohnt launig, bedauerte aber, dass er es bis zum Ende der Öffnungszeit nicht schaffen würde. Als Kompensation schlug er vor, sich am Samstag zu treffen, um noch mal das Thermalbad mit der speziellen 'Unterwassermusik' zu besuchen. Da musste er bei Marius natürlich keine Überzeugungsarbeit leisten. Sofort rief er zurück, doch er erwischte erneut den Anrufbeantworter. War Istvan noch im Dienst? Oder unterwegs? »Was soll's«, schickte sich Marius unbekümmert drein. Er hatte seine Zusage gegeben, blieben später nur noch die Details abzustimmen. Er notierte sich gleich auch noch, was er beim samstäglichen Einkauf besorgen würde, denn ohne Zweifel konnte er Istvan überreden, bei ihm zu übernachten und zu frühstücken. Am Mittwoch holte Marius ein beinahe jährlich anzutreffender Ausnahmezustand ein: es stand mal wieder eine Wahl bevor, und wie bei jeder Wahl mussten die Mitarbeitenden der Bürgerämter bei der Durchführung helfen. Also wappnete er sich für einen langen Tag, denn in zwei Schichten wurden die städtischen Mitarbeitenden und Freiwillige abhängig von ihrer Aufgabe am Wahltag geschult. Dieses Mal saß Marius am Eingang eines Bürgerhauses in der Nähe 'seines' Bürgeramtes, um die Schulungsunterlagen auszugeben, die Anwesenheitsliste zu führen und die Einladungen einzusammeln. Eigentlich hätte Marius es bevorzugt zu arbeiten, aber man konnte es sich eben nicht aussuchen. Also kehrte er nach beiden Terminen noch mal zurück an seinen Arbeitsplatz, um die Fälle zu reduzieren, die seine Kolleginnen für ihn angenommen und vorbereitet hatten. Wenigstens musste er nicht als Einziger nach dem üblichen Dienstschluss arbeiten, denn auch andere 'trugen Berge ab'. Entspannt machte er sich per Hollandrad auf den Heimweg, um sich ein luxuriöses Bad zu gönnen, mit Anais und Iris zu spielen und dann mit einer amüsanten Kurzgeschichte von Mars-Vampiren in den Schlaf zu sinken, eben sein gewohnter Alltag. Am folgenden Tag studierte er mit seinen Kolleginnen die Einteilung für den Dienst am Wahltag und natürlich für die Auszählungsprüfung in der Woche danach. Routiniert wurde auch die Proviantverteilung vorgenommen, denn es mussten ja Konzentration und gute Laune aufrechterhalten werden. Marius meldete sich für die Flüssignahrung, denn er wusste, dass seine Kolleginnen am liebsten Kuchen oder kalte Speisen produzierten und dabei nicht nur ihre Geschicklichkeit präsentierten, sondern auch die neu erworbenen Transportboxen. Er konnte jedoch mit seinem Spezial-Kaffee punkten, der sogar koffeintablettenabhängige Medizinstudenten das Fürchten lehren könnte. Außerdem war seine Kreation magenverträglich, wenn auch nicht sonderlich kalorienarm, aber man konnte umso besser auf seine Linie achten, wenn sie ein wenig ausgeprägter war, pflegte Marius mit einem Augenzwinkern zu argumentieren. Er tauschte am Abend seine Bücher in der Leihbücherei aus, versorgte sich schon mal mit genug Leseproviant, um auch den recht langweiligen Wahldienst zu überstehen. Das Bowling am nächsten Tag verlief ganz gut, man feierte einen Geburtstag nach, sodass Marius recht spät wieder bei seiner kleinen Familie eintraf, die nicht Ruhe gab, bis er ausgiebig mit seinen Damen gespielt hatte und atemlos auf seinem Sofa zusammensackte, zwei verschmitzt grinsende Katzen auf dem Schoß. Da lärmte sein Mobiltelefon. Marius ächzte übertrieben ob der zusätzlichen Anstrengung, angelte das Gerät heran und meldete sich höflich. "Wie geht es dir?", lachte Istvan in sein Ohr. Verblüfft bestätigte Marius den ersten Eindruck, dass er guter Dinge sei und sich auf den morgigen Abend freue. Der Anlass des Anrufs offenbarte sich schnell: in Istvans Mini-Küchenzeile waren sogar die Motten ausgezogen, sodass er sich gern zur Einkaufstour am nächsten Tag einladen würde. Marius, auf diese charmant-freche Weise zum Experten für den Einpersonenhaushalt ernannt, akzeptierte die Ehre schmunzelnd, schlug dem Übersetzer vor, doch gleich mit ihm zu frühstücken, bevor man sich in den Großeinkauf stürzte. Und dann könne man ja auch mal wieder zusammen kochen! Istvan stimmte sofort zu und kündigte sich für den nächsten Morgen an, also fegte Marius noch einmal rasch durch seine Wohnung, um sicherzustellen, dass sie sich in präsentablem Zustand befand. Fröhlich rollte er sich in sein Bett und stimmte in das zufriedene Maunzen von Anais und Iris ein, die ihm ein Schlaflied sangen. ~o~ Marius hatte gerade seinen Tresen für das gemeinsame Frühstück gedeckt, als es an seiner Wohnungstür bereits klingelte. "Also, eure Haustür", Istvan schüttelte vernichtend den Kopf, wickelte sich dann aus seinem schwarzen Wollmantel und lupfte die große Bommelmütze, unter der seine wilden Locken explodierten. "Das Frühstück ist serviert", Marius schmunzelte eingedenk seiner Marotte, ständig die Prüfsiegel in Aufzügen zu studieren. Alle hatten wohl Angewohnheiten, die sie nicht so einfach abschütteln konnte. Während sie sich ordentlich für den Tag stärkten, berichtete Istvan von der Reise, die ihn so unvermutet überrascht hatte: eine Kooperation mit dem Zoll, die neuen Grenzen dank der EU-Erweiterungen nach Osten, eine akute Erkrankung der Dolmetscherin, er selbst als alleinstehend, der mal eben einspringen konnte ohne große Hindernisse, das alles hatte für die Verwicklung gesorgt. Istvan gestand auch, dass er sich noch nicht um ein neues Mobiltelefon bemüht hatte, denn er hoffte, sich für ein dienstliches Mobiltelefon zu qualifizieren. Durch eine Twin-Bill-Einrichtung konnte er dann auch privat telefonieren und musste sich nicht ständig um das Gerät bemühen. Marius konnte das nachvollziehen. Ein Gerät zu finden, dessen Tasten man bedienen konnte, ohne gleich mehr als eine zu treffen, ohne überflüssigen Schnickschnack, mit einem Akku, der nicht gleich nach dem Ladegerät schrie: keine einfache Suche. Glücklicherweise war er präsent genug, um Istvan seine E-Mail-Adresse aufzunotieren., damit der Kontakt auch auf alternativen Wegen aufrechterhalten werden konnte. Sie kletterten in Istvans Smart und machten sich auf den Weg zum Supermarkt. Hier war natürlich Hochbetrieb, da auch andere das gleiche Ziel verfolgten. Bewaffnet mit einem jämmerlich quietschenden Einkaufswagen eierten sie durch die Gänge, Marius mit seiner verlässlichen Einkaufsliste ausgerüstet, Istvan mit der Hoffnung, dass Marius ihm schon raten würde, was man an eisernen Reserven im Haus haben sollte, wenn man nicht immer auf die Automaten in der Kantine angewiesen sein wollte. Sie benötigten eineinhalb Stunden, bis sie das stets nach links ausbrechende Einkaufsmonster zu Istvans Smart gelenkt hatten. Gerade, als sie die Einkäufe umfüllten, stieß Istvan einen unverständlichen Fluch aus und zupfte aus der Innentasche seines Sakkos einen altmodischen Piepser. Marius starrte in die kohlrabenschwarzen Augen, die ihn entschuldigend anblickten. Wortlos zückte er sein Mobiltelefon, schaltete es ein und reichte es Istvan weiter, der beiseite trat und fernmündlich kommunizierte. Obwohl er sich wiederholt einredete, jetzt bloß nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen, verabschiedete sich Marius innerlich bereits von der Gemüselasagne, die sie gemeinsam zubereiten wollten. Schließlich durfte er sich auf gar keinen Fall die Enttäuschung ansehen lassen! Istvan reichte ihm sein Mobiltelefon und lehnte sich schwer auf den Rahmen des buntscheckigen Smart. "Kannst du mich trotzdem kurz zu Hause absetzen?", erkundigte sich Marius höflich, angestrengt um einen neutralen Ton bemüht. Es war NICHT Istvans Schuld, so lebte man eben im Dienst der Öffentlichkeit! "Es tut mir wirklich sehr leid!", murmelte Istvan deutlich zerknirscht. "Oh, nicht so schlimm", versicherte Marius eisern, "da kann man nichts machen. Wenn du fertig bist, gib mir einfach Bescheid, dann stelle ich deinen Anteil Lasagne in den Backofen." Istvan zog eine Schnute, "solche Momente sind wirklich, wirklich, wirklich grässlich!" "Ist doch kein Beinbruch", wiederholte Marius tröstend, denn er konnte sich gut vorstellen, dass Istvan die Situation sehr peinlich sein musste. Glücklicherweise reichte die Zeit noch aus, Marius vor seiner Haustür abzusetzen. Als er ausstieg, flehte aus dem Evergreen-Radio noch immer Ben E. King mit den Drifters darum, er möge bitte nicht gehen. Marius schmunzelte über diesen Zufall und nahm die Änderung der großen Pläne nicht mehr krumm, als er seine Einkäufe in seine Wohnung transportierte. Die Chance, dass der Abend ein Erfolg würde, bestand ja noch. Folgerichtig bereitete er die Lasagne allein zu, durchaus gut gelaunt, aß seinen Anteil, als er keine Mitteilung von Istvan erhielt, führte den wöchentlichen Wohnungsputz durch, im danach Anais und Iris über den Tumult durch den verhassten Staubsauger zu versöhnen, indem er mit ihnen ordentlich herumtobte. Es wurde langsam spät und noch immer keine Rückmeldung von Istvan. Langsam verflüchtigte sich Marius' Zuversicht, als der Zeiger der Uhr bedenklich Richtung 23 Uhr rückte. Wie lange hatte das Thermalbad wohl geöffnet? Gab es wieder eine lange Nacht? Er unterdrückte ein Gähnen, tippte mit der Fußspitze gegen seine Tasche und erwog, Istvan anzurufen, um in Erfahrung zu bringen, ob ihre Verabredung noch stand, aber er konnte niemanden erreichen. Gegen Mitternacht, Marius war in seinem Lesesessel eingedöst, lärmte das Telefon. Marius taumelte hoch und nahm den Anruf entgegen. Es war Istvan, der sich leise entschuldigte, die Verabredung absagen zu müssen. Sie konnten es nicht mehr bis zum Ende der Öffnungszeit des Thermalbades schaffen. Marius entschlüpfte ein Seufzer, dann beherrschte er sich und beruhigte Istvan. Wenn der Zeit fand, könne er ja am Sonntag vorbeikommen, dann könnten sie zusammen frühstücken oder Mittag essen. Istvan versprach, sich in jedem Fall zu melden, entschuldigte sich noch einmal bei Marius, der scherzend bemerkte, wenigstens hätten sie keine Lebensmittel gekauft, die leicht verderblich seien oder gekühlt werden müssten. Er hörte Istvan lachen, aber es klang auch ein wenig gequält. »Tja!«, Marius wechselte ins Bad, um sich bettfertig zu machen, »so ist das eben. Ist ja nicht so, als wären wir voneinander abhängig.« Trotzdem fiel er in einen melancholischen Schlaf. ~o~ Am nächsten Morgen war Marius nicht gerade in Hochform, obwohl er sich ermahnte, sich die Absage nicht so zu Herzen zu nehmen. Er verpackte Istvans Anteil an der Lasagne in Alufolie und spulte sein gewohntes Sonntags-Programm ab. »Ich bin viel zu alt, um noch wie ein Verrückter auf einen Telefonanruf zu warten«, beschwor er sich stumm. Außerdem, was würde das schon ändern? Das Thermalbad lief ihnen nicht weg, es gab weitere Wochenenden und möglicherweise schafften sie es ja sogar mal, sich zur selben Zeit in der Leihbücherei am gleichen Tag einzufinden! »Überhaupt!«, er machte es sich in seinem Lesesessel bequem, nachdem er artig die Wäsche gebügelt hatte, »welche Gemeinsamkeiten haben wir denn schon?« Ja, was wusste er eigentlich über Istvans Alltag? Oder der über seinen? Sie waren hauchdünn verbunden durch den mysteriösen Tod des Fremden auf seiner Fußmatte und den anschließenden Einbruch, doch wenn dieser Fall gelöst war, was bliebe dann noch? "Nun", Marius kraulte Anais zwischen den Ohren, während Iris seinen freien Daumen bekaute, "wir haben wohl die Gemeinsamkeit, unsere Arbeit an die erste Stelle zu rücken und das Privatleben danach zu richten." Übertriebene Sehnsucht nach einer eigenen Familie oder wenigstens einer Partnerin konnte er jedenfalls bei sich selbst nicht beobachten. Zugegeben, es wäre wohl ein wenig voreilig, Istvan dieselbe Einstellung zuzuschreiben, aber es konnte doch schon als wahrscheinlich eingeschätzt werden, dass sie beide kein ausgeprägtes Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Gesellschaft hatten. "Oder", das klang weniger schmeichelhaft, "wir konsumieren Nähe wie andere Dinge auch: auf Abruf, wann wir Lust haben und ohne lange Bindungen." Nein, DAS hörte sich gar nicht gut an. »Könnte aber zutreffen«, so ehrlich war Marius doch, auch wenn dieses Verhalten nicht absichtlich geschah. Das rief ihm wieder mal ein Urteil seiner Mutter über die modernen Menschen ins Gedächtnis: immer auf der Suche nach etwas Besserem, nie zufrieden mit dem, was sie hatten. 'Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Bessres findet' schien mittlerweile ein Dauerzustand geworden zu sein. Entweder 'jagte' man das beste Schnäppchen, oder man verweigerte sich radikal, so, wie ihr hoffnungsloser Sohn. "Hmpf!", brummte Marius nun, was er nie tat, wenn sie ihn wieder des Phlegmas bezichtigte. Er wusste einfach nicht, wozu er sich der Anstrengung unterziehen sollte, Kompromisse einzugehen, da er doch keinerlei Bedürfnis nach Kindern verspürte! Statistisch gesehen, das hätte er seiner Frau Mama durchaus entgegnen können, wenn er nicht ein besonders langmütiges Naturell sein Eigen nannte, da redeten Ehepaare heutzutage gerade mal zehn Minuten miteinander, und das dann vermutlich auch noch aneinander vorbei. Entschlossen hakte er diese trügerischen Themen ab. Er verpackte am späten Nachmittag Istvans Lasagne in seine Fahrradtasche und radelte mit seinem treuen Stahlross zu dessen Wohnung. Pro forma klingelte er, doch wie erwartet meldete sich niemand, also nutzte er die moderne Form der Briefkästen, um die Lasagne passgenau einzuparken, mit einer Anweisung über ihre Erhitzung versehen. Mikrowelle war nicht gerade ideal, aber man konnte mit etwas Geschick auch damit noch eine leckere Mahlzeit bekommen. »Er wird sie nötig haben«, dachte Marius mitfühlend wenn auch ein wenig distanziert, denn Istvan hatte offenkundig seit dem Alarmruf am gestrigen Vormittag keine Gelegenheit mehr gehabt, sich in den eigenen vier Wänden einzufinden. "Sei's drum!", stellte Marius halblaut fest und radelte wieder in sein eigenes Reich. Er gönnte sich noch eine Spielrunde mit seinen munteren Gesellschafterinnen, bevor er sich in einen der Leihromane vertiefte. So kam das Leben eben wieder ins Lot. ~o~ Als Marius sich wie gewohnt für den ersten Werktag der Woche fertigmachte, kontrollierte er vorsorglich den Anrufbeantworter, doch es befand sich keine Nachricht darauf. Er machte sich auf den Weg, ging in Gedanken bereits zwei weitere Schulungstage in dieser Woche durch. Als er am Abend vom Skat zurückkehrte, hatte Istvan eine Nachricht hinterlassen. Er bedankte sich für die Lasagne und entschuldigte sich erneut für die Absage ihrer Verabredungen, aber das sei nur aufgeschoben, nicht aufgehoben, ganz bestimmt! Der rührende Enthusiasmus brachte Marius zum Schmunzeln. Er rief bei Istvan an, wo sich der Anrufbeantworter meldete und damit verkündete, dass sein Eigentümer mutmaßlich Augenpflege betrieb. Marius hinterließ die schon zur Gewohnheit gewordene Einladung, sich am Donnerstag mit Istvan in der Leihbücherei zu treffen. Ab dem nächsten Tag wurde Marius' Alltag ein wenig hektisch, denn die bevorstehende Wahl warf ihre Schatten voraus, auch die Verabredung am Donnerstag platzte, aber wenigstens konnte Istvan stolz vermelden, dass er wieder zu einem Mobiltelefon gekommen war. So konnte man sich wieder auf den neuesten Stand bringen! Istvan versprach ihm hoch und heilig, auf jeden Fall aber an diesem Samstag mit ihm schwimmen zu gehen. Marius lächelte, aber die Zweifel hatten sich bereits eingeschlichen. So richtig glaubte er nicht mehr daran, dass sie einander regelmäßig treffen würden. Wahrscheinlich würde ihre Beziehung sich in Wohlgefallen, eine flüchtige Erinnerung auflösen. Der Gedanke erfüllte Marius mit einem gewissen Widerstreben, aber ausgerechnet jetzt hatte er einfach keine Zeit, sich auch noch darum zu kümmern. So, wie er es einschätzte, musste man Beziehungen in eine regelmäßige Gewohnheit verwandeln, damit sie Bestand hatten, doch die einzige Regelmäßigkeit ihrer Verbindung bestand in guten Absichten und deren Scheitern. Was sollte man dagegen tun? Und hätte es überhaupt einen Sinn? Ein wenig grantelig nahm Marius am Sonntag seinen Pflichtanruf bei den Eltern wahr und verbat sich ungewohnt streng jede Anspielung auf seine Situation als hoffnungsloser Junggeselle. Er hatte keinen Anlass, sein Leben zu verändern, besten Dank! Grundsätzlich kam man allein hervorragend klar! So fing auch die neue Woche nicht sonderlich gut an. Seine Gedanken sollten sich eigentlich auf die Wahl richten, seine Arbeit, seinen Alltag, aber immer wieder fragte er sich doch, ob es nicht bedauerlich war, sich von Istvans Nähe zu verabschieden. Aber war das nicht auch eine selbstsüchtige Dummheit? Was bedeutete es schon, ein paar Stunden kuscheln und küssen und kichern und kochen? Da kam man doch darüber hinweg! "Es wäre auch nicht besonders ehrlich", erklärte er Anais und Iris das Ausbleiben des gelegentlichen Besuchers, "denn das hieße ja, Istvan zu einem Objekt herabwürdigen!" Und das gehörte sich nun gar nicht! ~o~ Kapitel 5 - Motown-Klassiker Istvan meldete sich am Samstagnachmittag. Er wollte die immer wieder verschobene Einladung endlich erfüllen. Nun war es an Marius, die Einladung abzulehnen mit dem Hinweis darauf, dass er sich bereits um sechs Uhr in der Frühe in einem Wahllokal einfinden müsste, also war an eine lange Nacht gar nicht zu denken. Später hatte er auch keine Zeit, denn er war einige Stunden auf Abruf befreit, bevor er wieder in die Zentrale musste. Dort wurden dann die abgegebenen Wahlurnen nachgezählt, die Protokolle geprüft. "Ich könnte auch zwischendurch vorbeischauen, wenn du mich anrufst", bemühte sich Istvan um einen Kompromiss, doch Marius lehnte ab, das führe zu nichts, weil er versuchen wolle, ein wenig zumindest zu schlafen, denn die Woche würde sehr anstrengend werden. Istvan wäre in Kürze nur eine schöne Erinnerung, dessen war er sich sicher. So war eben der Lauf des Lebens. Er würde sich arrangieren, man gewöhnte sich ja daran und zehn Minuten am Tag Gespräche, nun ja, das konnte man wohl verschmerzen. Istvan nahm die Absage ruhig hin, versprach aber, er wolle sich wieder melden. »Sicher«, Marius packte den Proviant zusammen und stellte sich den Wecker, »eine Weile werden wir es noch versuchen, und dann verläuft alles im Sande. Nun ja, wir haben ja wirklich nichts gemeinsam.« Als er sich so zeitig ins Bett verzog, krochen Anais und Iris besorgt trotz der üblichen Ermahnung zu Marius unter die Decke. Sie fanden, dass ihr Mitbewohner deprimiert wirkte. Dagegen half am Besten, sich einzukuscheln, ein wenig zu schnurren und ein tröstliches Schläfchen zu halten. Dann noch ein zünftiges Frühstück, und die Welt sah gleich wieder besser aus! ~o~ Still und recht reserviert versah Marius seinen Dienst. Er hatte schon eine gewisse Routine, sodass ihn keine Frage aus dem Konzept brachte. Seine Mittagspause fiel kurz aus, auch konnte er nicht gut schlafen, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Nachdem die Wahllokale geschlossen worden waren, dauerte es fast zwei Stunden, bis auch das letzte Ergebnis durchgegeben worden war, dann trafen auch die ersten Protokolle ein, es musste nachgezählt und auf Plausibilität hin geprüft werden. Computerprogramme wurden gefüttert, bevor man sich vertagen konnte, um die Wahlurnen zu öffnen und tatsächlich das amtliche Endergebnis zu ermitteln. Es regnete, als Marius fröstelnd die Zentrale verließ. Er fühlte sich zerschlagen, erhitzt und ein wenig fiebrig, die Augen tränten von der Anstrengung, da hörte er ein vertrautes Lied, einer der bekannten Motown-Klassiker, allerdings in einer jüngeren Fassung. Blinzelnd wandte er sich herum, sah einen buntscheckigen Smart auf dem Parkplatz stehen. Eine Person lehnte sich an. >Don't go (please stay) Don't go (please stay) If I got on my knees and I pleaded with you Not to go but to stay in my ar-arms Would you walk out the door like you did once before? Or would this time be different, would you sta-a-ay? Don't go (please stay) Don't go If I called out your name like a prayer in the night Would you leave me alone with my tears? Knowing i-i, I love you so-o, would you still turn and go? Or would this time be different in some wa-a-ay? Don't go (please stay) (please stay) You took me away from the rest of the world When you taught me to love you like this Now I hang by a thread in the canyon of doom But I still can be saved.. by your kiss If I got on my knees and I pleaded with you Not to go but to stay in my ar-arms Would you walk out the door like you did once before? Or would this time be different, would you sta-a-ay? (don't go) (please stay) (don't go) (please stay) (don't go) (please sta-ay-ay-ay-ay) (ay-ay-ay-ay) (ay-ay-ay-ay)?< James Brown quälte sich verzweifelt durch die flehentliche Bitte und erinnerte Marius an das letzte Mal, als dieses Lied ihre Trennung begleitet hatte. Er atmete tief durch und ging auf Istvan zu, doch was er sagen sollte, wusste er nicht. Es wären wohl auch nur Banalitäten, denn sein Verstand hatte sich erschöpft. Istvan lächelte schief, wirkte nicht sonderlich munter, die Augen umschattet. "Wusstest du, dass Eheleute statistisch gesehen nur zehn Minuten am Tag miteinander sprechen?", krächzte er. Marius antwortete leise, "und dann reden sie auch noch aneinander vorbei." "Ich möchte diese zehn Minuten täglich schaffen", Istvan löste sich von seinem Gefährt, fasste nach Marius' kalten Händen, registrierte den fiebrigen Glanz in dessen Augen. Der war für Widerspruch viel zu müde. Außerdem, zehn Minuten, das bekam man doch hin! "Lade mich ein", flüsterte Istvan beschwörend. Sein Gegenüber nickte matt, brummte beinahe unverständlich eine Offerte, die Nacht bei ihm zu verbringen und taumelte ein wenig. Eigentlich schlief Marius schon im Stehen, dennoch brachte es Istvan fertig, seinen Gastgeber ohne schmerzhafte Kollisionen auf den Soziussitz zu dirigieren und dessen Wohnung anzusteuern. Ungeniert schlang er einen Arm um Marius, der sich dankbar anlehnte, die Lider auf Halbmast. Wer hätte gedacht, dass diese gesamte Geschichte ihn so aufreiben würde? Brav folgte er Istvans Anweisungen, putzte die Zähne, schlüpfte in seinen Schlafanzug und rollte sich unter die Decke, wo er sofort jegliche Tätigkeit einstellte. Der Übersetzer folgte dem Beispiel, kraulte die freudig herumflitzenden Katzen und vertraute ihnen an, dass er mit ihrer Unterstützung rechnete. Marius sei nämlich ein wenig zu langmütig in manchen Dingen, da wäre etwas Anschub vonnöten. Er kletterte ins Bett und streichelte zärtlich über die zerrupfte Tolle. So viele Sprachen, und doch fehlten häufig die richtigen Worte, da konnte er nur hoffen, dass seine Botschaft ihren Adressaten erreichte. ~o~ Marius schreckte stöhnend hoch, als ihn sein Wecker daran erinnerte, dass er sich zum Auszählen melden musste. Mit einem Faustschlag sorgte er nach dem zweiten Blöken des Alarms für Ruhe. Neben ihm verkroch sich ein Lockenhaupt knurrend unter der Bettdecke. Die Augen reibend aktualisierte Marius erst mal seine Einschätzung von der Situation. Er hatte nur vage Erinnerungen daran, wie er nach Hause gekommen war, aber auf irgendeine Weise hatte es mit James Brown zu tun, davon war er überzeugt. Behutsam krabbelte er aus seinem okkupierten Bett, wagte auf wackligen Knien einen Abstecher in die Küche, um Anais und Iris abzuschütteln, die ja frühstücken konnten, während er im Bad den Kampf gegen das morgendliche Grauen aufnahm. Zu seiner Verblüffung thronte eine Wäscheklammer auf seinem Badezimmerspiegel, darunter befand sich ein ausgeschnittenes Stück Zeitung. "Ein Grundriss", entzifferte Marius' Verstand, der erst in Schwung kommen musste, "eine Dreizimmerwohnung in der Nachbarschaft, bezugsfertig", ergänzte er die Information. Auf der Rückseite des Ausschnitts standen bloß zwei Worte zu lesen: "verweile doch!" ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ ~o~ Prolog (Extra nach dem Adventskalender) Istvan preschte mit einem gewagten Sprung aus der Straßenbahn, flitzte, den Rucksack zwecks geringerem Luftwiderstand vor den Leib gepresst, über den Vorplatz des Straßen- und Busbahnhofs und drängelte sich in die dreistöckige Halle des Kopfbahnhofs. Mit dem Strom der Reisenden schlängelte er sich in waghalsigem Tempo die beiden freistehenden Treppen hinunter, bis er auf dem tiefsten Niveau des alten Bahnhofgebäudes die S-Bahngleise erreicht hatte. Einen hektischen Blick später spurtete er den Bahnsteig entlang, um eiligst die S-Bahn zu entern. "Geschafft!", schnaufte der Übersetzer, taumelte in ein offenes Abteil und ließ seinen Rucksack plumpsen. Freitagnachmittag, eine Fortbildung in der Provinz (nach Istvans Maßstäben zumindest) und entsetzlich-unglaubliche Halbstunden-Takte Richtung Heimat! Da DURFTE er die S-Bahn auf gar keinen Fall versäumen! Auf der anderen Seite des Gangs saß in dem spärlich besuchten Waggon bereits ein anderer Mitreisender, der Istvans Auftritt mit Amüsement verfolgte, zumindest glaubte Istvan dies in den den mokierend geschwungenen Mundwinkeln zu lesen, bevor sein Gehirn kurzzeitig jede Tätigkeit einstellte. Dieser junge Mann, der dort anmutig residierte, war geradezu einschüchternd attraktiv, von den weißblonden Strähnen, die zu einem kurzen Zopf im schlanken Nacken zusammengefasst worden waren, über die aparten, dunklen Augenbrauen und die klassischen Gesichtszüge leicht gebräunter Haut, von losen Strähnen sanft umspielt, dominiert von strahlend grünen Augen hinter einer randlosen Brille über einem lächelnd-lockenden Mund! "...meine Güte", murmelte Istvan, als es in seinen Zehen zu prickeln begann, weil sein Kreislauf sich wieder in Erinnerung brachte, dann beendete er seinen peinlichen Auftritt eilig, indem er sich neben seinen Rucksack fallen ließ. In der spiegelnden Fensterscheibe wagte er tollkühn einen Blick auf den anziehenden Passagier, der den Blick wieder auf seine Lektüre gesenkt hatte, anmutig das Kinn in eine aufgestützte Hand gelegt. In den Mundwinkeln zuckte es allerdings immer noch verräterisch, so, als müsse ihr Besitzer mit Vehemenz ein Kichern unterdrücken. »Reife Leistung!«, komplimentierte sich Istvan selbst, nahm es aber nicht sonderlich tragisch. Er war zu erfahren im Fettnäpfchen-Marathon rund um die Welt, um sich von solchen Kleinigkeiten beeindrucken zu lassen. Wie sein Nachbar schälte er sich aus seiner dicken Jacke, erhob sich, um einen kurzen, aber verbissenen Kampf mit den ergonomisch sehr unvorteilhaft angebrachten Kleiderhaken auszufechten. Seine Beharrlichkeit trug den Sieg davon. Istvan lehnte sich gegen seine Jacke an die Scheibe und beobachtete, wie sich über dem spätherbstlichen, bereits von Frost gezeichneten Land langsam die Sonne senkte. In der Ferne konnte er die unvergleichliche Silhouette seiner selbst gewählten Heimat erkennen und Wärme stieg in ihm auf. Rosige, rote, orangefarbene Streifen färbten den Himmel und die vereinzelten Wolken. Die Ausläufer des Mittelgebirges trugen in der Distanz weiße Häubchen, nicht Schnee, aber doch genug Frostzucker, um daran zu erinnern, dass in knapp einem Monat Weihnachten war. Das Rattern der Räder auf den Schienen lullte ihn ein, ließ seine Gedanken wandern, zu dem schönen Fremden, den er ungeniert in der Scheibe beobachten konnte. Waren das wirklich Formeln und Vektor-Grafiken? Gab es jemanden, der aus Vergnügen Fachbücher las, die unangenehm an Mathematik erinnerten? Und was war das? Durch das weiße Hemd schimmerte in Höhe des Herzens etwas Grünes... Istvan strengte sich an, was ihm keine Mühe bereitete, da sein Mitreisender eine wahre Augenweide darbot. Allein das weiße Hemd, mit einer Ahnung von Transparenz, locker über eine fein gestreifte, schwarze Hose gezogen, die eleganten Halbstiefel darunter: kein Modell hätte ihn stärker faszinieren können! »Eine Tätowierung«, legte er sich schließlich bezüglich des grünen Etwas fest, denn eine Halskette schied aus, da deren Anhänger genau zwischen den apart geschwungenen Schlüsselbeinen ruhte. »MMMMJAMMMMMMM!«, ergänzte seine Libido flehentlich, was Istvan durchaus zu unterstützen bereit war. Zu seinem Leidwesen empfand er recht schnell Zuneigung, doch bis zu "glücklich bis ans Ende ihrer Tage" hatte es noch nie gereicht. Als er gerade den Kopf wenden wollte, um einen ersten Konversationsversuch über den Canyon des Gangs hinweg zu wagen, bemerkte er, wie der andere Passagier umblätterte und dabei eine weitere Eigentümlichkeit offenbarte: am Ringfinger der rechten Hand fand sich ein Reif. »Maldito!«, heulte Istvans Libido jaulend auf, während sein Verstand ihn vors metaphysische Schienbein trat, »was hast du denn erwartet?! Dass so ein Schmuckstück noch nicht vergeben ist?!« »Dumm von mir!«, Istvan schüttelte schmunzelnd über sich selbst den Kopf. Eigentlich sollte er es besser wissen, doch die Erkenntnis hinderte ihn grundsätzlich nicht an weiteren Anläufen. Da er nun erkannt hatte, dass der hübsche Unbekannte offenkundig bereits verbändelt war, konnte er ohne Scheu und Hilfe der Fensterscheibe recht interessiert hinüberblicken. Das war in der Tat kein funkelnder Treuereif, der da am Ringfinger prangte, nein, dieses Zeichen der Verbundenheit ging buchstäblich unter die Haut: der Fremde hatte sich einen ziselierten Ring eintätowieren lassen. »Holla!«, dachte Istvan, »der ist aber sehr gründlich vergeben!« Nun fiel seinem Mitreisenden das Starren auf. Er hob den unvergleichlich grünen Blick aus leicht schräg gestellten Katzenaugen, lupfte fragend eine Augenbraue und zwinkerte dann, als Istvans Minimalgeste Richtung Ringfinger wies. Ein charmant-nonchalantes Schulterzucken später vertiefte sich der Fremde wieder lächelnd in sein Buch. Istvan seufzte leise und konzentrierte sich auf die vorbeiziehende Landschaft, von Bäumen gesäumt. Schon bald würden sie die Stadt erreichen. »Schade!«, dachte sich Istvan, aber er erkannte, wann eine Attacke sinnlos war und hoffte mit dem schönen Fremden, dass dessen Glück bis zum Ende der Tage anhielt. DAS konnte einen ja auch mit wohliger Wärme erfüllen, nicht wahr? Die ersten Stadtteile kamen in Sicht, als sein Reisenachbar das Buch zusammenklappte, in einer geschmackvollen Ledertasche verstaute, sich gelenkig in einen daunengefütterten Wintermantel hüllte, der jeden anderen in einen Zwilling des Michelin-Männchens verwandelt hätte. "Eine gute Reise", wünschte er höflich mit samtiger Stimme, zwinkerte Istvan zum Abschied zu, der sich mit einer eleganten Verbeugung im Sitzen revanchierte und "einen schönen Abend" avisierte. Der junge Mann klemmte die Ledertasche unter einen Arm und stieg aus dem Zug. »Ob er wohl erwartet wird?«, Istvan wandte den Kopf und verfluchte stumm die herein drängenden Personen, die ihm die Sicht nahmen. Da erkannte er den weißblonden Schopf wieder, der sich ruckartig herumdrehte, als habe man ihn gerufen. Neugierig stand Istvan auf. DAS konnte er sich einfach nicht entgehen lassen! Er lachte hinter vorgehaltener Hand, als er erkannte, wer das Rennen um die Gunst des attraktiven Fremden gemacht hatte. Ein groß gewachsener Mann mit dunkler Hautfarbe, exotischen Zügen und einem Bürstenschnitt hielt mit gewaltigen Schritten auf den Fremden zu, fasste ihn ansatzlos um die Hüften und zog ihn in die Arme, bevor die beiden einen herzlichen Kuss austauschten. »Haaaaaachhhhhhhhhhhh!«, schmachtete Istvans Libido begeistert angesichts des gegenseitigen Strahlens. Offenkundig hatte sein schöner Mitreisender nicht mit dem Abholer gerechnet, sodass beide einander nun begeistert und vor allem sehr verliebt anstrahlten. Istvan ließ sich wieder auf seinen Platz sinken, bevor die anderen Reisenden den Sicherheitsdienst aktivierten, weil er sich merkwürdig verhielt. Durch das Fenster konnte er im anfahrenden Zug beobachten, wie der große Begleiter die Ledertasche lässig apportierte, einen Arm eng um die Taille des Blonden geschlungen. Der Übersetzer hegte keinen Zweifel, dass die Hand in der Manteltasche verschwand, wo sie bereits festgehalten wurde. "Ein schönes Paar", murmelte Istvan halblaut, seufzte noch einmal, weil es doch gar zu sehr seinen versteckten Sinn für Romantik und Gefühlskitsch ansprach, dann besann er sich auf die Gegenwart. Zwei Stationen weiter würde er aus diesem Zug klettern, in eine sehr schnell getaktete Welt wechseln, wo die Sonne längst untergegangen war. Ein eisiger Wind durch die Häuserschluchten fegte und ihn ein kleines Appartement erwartete, wo noch immer Kisten stapelten, die seit dem letzten Umzug auf einen festen Platz hofften. Nicht zum ersten Mal fragte sich Istvan, ob er vielleicht einen Fehler beging, ob es ihn möglicherweise eines Tages reuen würde, stets seine Arbeit an die erste Stelle zu setzen und seinen Prinzipien (keine Anbändelung im Kollegium oder beim Klientel!) zu beachten. Andererseits, Istvan angelte seine Jacke vom Haken, war er davon überzeugt, dass er mit einem sehr guten Schlachtplan und einer hervorragenden Strategie auch erfolgreich sein konnte! Er musste eben nur wollen! »Ja, wie beim Rauchen. Da kann man auch jederzeit aufhören!«, schnaubte ihm die raue, ärgerliche Stimme seiner Großmutter ins Ohr, die von Männern (und angeheirateten besonders) keine hohe Meinung pflegte und das mit Empirismus begründete. Den Rucksack wie eine Keule geschwungen stürzte sich Istvan kopfüber in das Gewühl der Großstadt. Mit ihrem Pulsschlag in seinem Blut, ihre Geräusche im Ohr, vertraut-aufwühlend zugleich, konnte er allen zu deprimierenden Gedankenspielen davonrennen! ~+~ "Ist nicht wahr", Istvan lugte erneut um die Ecke, aber das Bild hatte sich nicht verändert. Im Flur, auf der angeschraubten Bank, hockte ein junger Mann mit einer leicht zerzausten Tolle, der mit zwei kleinen Katzen spielte. So etwas hatte es hier noch nie gegeben! Istvan spurtete in sein Büro, um sich per Telefon mit dem aktuellen 'Flurfunk' zu versorgen. "Vom Balkon geklettert, mit den Katzen in der Tasche?! Wahnsinn!", kommentierte er und dachte darüber nach, wie er diesen Helden ohne Strumpfhose kennenlernen konnte. Außerdem hatte er eine Schwäche für selbstbewusste Katzen. "Kaffee und Wasser!", entschied er rasch und sprang auf. Bloß schneller sein als die Kollegen! Außerdem kribbelte es in seinen Fingerspitzen, und das bedeutete definitiv etwas Gutes! ~+~ Erster Weihnachtstag Paul stapfte gelassen in den frühen Morgenstunden nach Hause. Er mochte diese Zeit besonders, weil es ruhig war und ihm niemand begegnete, da konnte man auch den Fußmarsch verschmerzen, der für seine körperliche Fitness verantwortlich war. Sein Schichtdienst bei einem großen Energieunternehmen regelte sein Leben, wofür er durchaus dankbar war. Nicht, dass er mit einem strukturierten Tagesablauf Schwierigkeiten gehabt hätte, nein, weit gefehlt! Es verhielt sich lediglich so, dass Paul ein misstrauischer Misanthrop war, der seinen 'lieben Mitmenschen' weitmöglichst aus dem Weg ging. Er hatte nicht grundsätzlich etwas gegen Menschen an sich, doch die meisten Vertretenden dieser Gattung gingen ihm gehörig auf die Nerven. Wäre das Leben als Eremit nicht so entsetzlich unbequem und er selbst eingestandenermaßen kein Survival-Freak, der ausnahmslos jedes Handwerk beherrschte, so hätte er sich durchaus von der 'Herde' absentiert. So aber hatte er der Alternative den Vorzug gegeben, nämlich er selbst zu sein und sich passende Nischen zu suchen, wo er das auch sein konnte, zum Beispiel lieber nachts arbeiten, zwischen zahlreichen Maschinen, in angenehmer Ruhe und tagsüber in seiner kleinen Wohnung wie in einer Trutzburg seine Vorlieben pflegen. Naturgemäß brachte seine Einstellung, verbunden mit einer notorischen Aversion gegen gefühlsduselige Sentimentalitäten und Kitsch, nicht allzu selten andere in den Harnisch. Da Paul sich aber nicht als rüde, rücksichtslos, unhöflich oder unnötig grausam verstand, zog er sich lieber zurück, schwieg oder wich aus, bevor es zu Kollisionen kam. Eine Ausnahme dieser Regel bestand in der steten Auseinandersetzung mit seiner Familie, an die ihn der Anlass gerade erinnerte, während er die grässlich blinkenden Lichter in den Fenstern ignorierte und forsch ausschritt. Paul verabscheute Weihnachten entschieden, genauso wie Ostern. Er hatte nichts gegen das religiöse Fest oder Hasen respektive alte Männer mit Säcken und Engeln im Nachthemd, aber der ganze Klimbim rundherum, der stieß ihn ab. Konsumrausch, Geschenketerror, Sentimentalitäten: Horror pur! Angefangen mit der Unsitte, Briefe mit Wünschen an den Weihnachtsmann zu schreiben über den Lärm-Orkus von 1001 unerträglichsten Weihnachtsliedern zu grauenvollen Zwangsgemeinschaft unter einem nadelnden Baum, 1000-Watt beleuchtet, sodass das Licht der Hoffnung unterging und praktisch die gesamte Bude abgefackelt werden konnte. Als er im Kreise der Lieben mit acht Jahren darauf bestanden hatte, im Austausch für Wohlverhalten und Fleiß einen Vertrag mit dem Weihnachtsmann respektive seiner irdischen gesetzlichen Vertretung, den Eltern nämlich, aufzusetzen, wo genau alle Rechte, Pflichten und die pünktliche, ratenweise Entlohnung in Geschenken aufgeführt wurde, hatten seine Eltern den ersten Schock ihres Lebens erlitten. Im Nachhinein war es nicht verwunderlich, warum sich Paul in dem zarten Alter bereits mit gesetzlichen Vertretern auskannte. Seine Eltern wurden nicht zum ersten Mal von besorgten "Erziehenden" vorgeladen, weil Pauls Verhalten den vorweihnachtlichen Frieden einer Klassengemeinschaft störte. Dabei war er weder laut noch ungezogen, er hatte lediglich seine Beobachtung darüber geäußert, was Weihnachten (und später auch Ostern) ausmachte: den Austausch unnützer, irdischer Güter, verbunden mit der offensichtlichen Verlogenheit, einander zu mögen (obwohl man sich das gesamte Jahr über verleumdete und anfeindete, wie das bei großer Verwandtschaft vorzukommen pflegte) und letztendlich der großen Gala in der Kirche, wo man sich das Jahr über nur zwangsweise blicken ließ, aber nun präsentierte, was man ergattert hatte. Das konnte einem schon den Glauben rauben. Paul, der gern analytisch an die Dinge heranging, fand, dass Glauben ganz nett war, aber einem aufgeklärten Achtjährigen nicht gut zu Gesicht stand. Im Übrigen, so stellte er einige Jahre später rebellisch fest, wolle er keine Geschenke bekommen und auspacken, die seine Situation als Kostgänger und mittelloses, auf die Gnade der Eltern angewiesenes Kind demonstrierten, das sich demütig mit einem Wunschzettel offenbaren musste, wenn es etwas begehrte! Außerdem war es unehrlich, jedes Jahr die hässlichen Ringelsocken von Tante Edeltraud anzunehmen und sie für ihr Engagement bei den Behindertenverbänden zu loben, wenn man die Dinger scheußlich fand, sie gleich in die Mülltonne entsorgte und hoffte, es möge ein Blitz in die entsprechende Fabrikation einschlagen. Da konnte man doch auch offen und ehrlich sagen, sie möge die dämlichen Socken lassen, wo sie waren und gleich die Spendenquittung präsentieren, um ordentlich gelobt zu werden im Kreise der Verwandten. Auf diese Weise könne man sich auch das spätestens am ersten Weihnachtstag einsetzende Getuschel und die kleinen Spitzen, die bei genügend Alkoholzufuhr in heulende Larmoyanz umschlugen, einfach ersparen. Die alljährliche Debatte mit dem entsetzlichen Filius endete schließlich damit, dass Paul sich in der für ihn durchaus glücklichen Rolle des Schwarzen Schafes befand und nur noch in ernsten Krisensituationen kontaktiert wurde. Seine Abwesenheit bei den Familienfesten jedoch, dessen war er sich sicher, sorgte nun zumindest für einigen Gesprächsstoff, bevor man sich wie üblich wieder gehässig gegenseitig an die Kehle sprang. Folglich war Paul zufrieden mit seinem Leben und sah keinen Anlass, am Heiligabend nicht munter seine Schicht anzutreten. Er fand, dass zu einem guten Leben Dinge gehörten, die man nicht kaufen konnte. Je mehr die Welt um ihn herum in einem Kaufrausch und Geschenkewahn versank, umso mehr hielt er von dem Gedanken, dass zu viel irdisches Gut bloß belastete. Zudem, das gab er offen zu, wollte er nie in die Lage kommen, bitten zu müssen, denn dann konnte ihn auch die Höflichkeit nicht zwingen, sich zu bedanken. DAS war die Freiheit, nach der er sich als Kind lange gesehnt und die er mit Beharrlichkeit errungen hatte. Paul bog in die Siedlung ein, eine Ansammlung von Wohnblocks, die eine grüne Oase umschlossen. Es gab mehrere Eingänge zu den einzelnen Häusern, und wie gewohnt blieb er einen Augenblick stehen, um in die Schatten zu lauschen. Vertrauen war gut, Vorsicht war besser, besonders mit einer schweren Stabtaschenlampe gepaart. Als er nichts anderes als den eigenen Pulsschlag hörte, keine verdächtigen Bewegungen registrierte, überquerte er den Platz. An den üppigen Büschen, immergrün und erstaunlich widerstandsfähig, stutzte Paul einen Moment, richtete dann entschlossen den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden. »Wieder diese kurzbeinige Ratte!«, stellte er grimmig fest. Paul hegte keine Aversion gegen Hunde an sich, aber das widerliche Geschöpf, das die ebenso unsägliche Frau Anders durch die Gegend zerrte, hätte er gern einem aufgeschlossenen Chinesen auf den Teller gewünscht. Die kläffende Töle wurde von ihrer zänkischen Besitzerin nie an die Leine genommen oder davon abgehalten, in die Grünanlage zu brezeln. Perfider noch, wenn sie einen Groll hegte, wies Frau Anders ihre höllisch-hündische Inkarnation sogar an, vor einem Fenster oder einen Eingang extra das Geschäft zu erledigen! Außerdem grub das Mistvieh gern die Wurzeln von Büschen aus oder verwüstete knurrend die spärlichen Blumenbeete. Paul bückte sich, um nach dem glitzernden Gegenstand zu greifen, der halb verborgen unter einem Häufchen aufgewühlter Erde hervorschaute. Im Schein der Taschenlampe studierte er seine Entdeckung: ein Schlüssel. Allerdings, das konnte er entziffern, war es kein Haustür- oder Wohnungsschlüssel, den jemand aus der Nachbarschaft verloren hatte, denn die eingeprägte Schrift wies ihn als Eigentum des Bahnhofs aus. "Ein Schließfachschlüssel", stellte Paul fest, während seine grauen Zellen auf Hochtouren rotierten. Unwillkürlich blickte er auf den benachbarten Hauseingang, kaute gedankenverloren auf seiner Unterlippe. Das Richtige tun war einfach. Paul machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wieder durch die Grünanlage. Er verzichtete darauf, sein Mobiltelefon aus dem Rucksack zu fischen, denn er war überzeugt, dass auch in dieser Nacht andere Menschen arbeiteten. ~+~ Zwei Stunden später Es sah nicht so aus, als würde es an diesem Tag überhaupt hell werden, was Paul nicht kümmerte. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn er war in seiner eigenen Gegenwart ebenfalls höflich, streifte den flauschig-warmen Bademantel ab, der die Restwärme der Dusche gespeichert hatte und kroch in sein großes Bett unter die Decke, dann löschte er das Licht und wünschte sich selbst eine gute Nacht. Leider dauerte diese gute Nacht nicht lange an. Mit zerrupftem Schopf, verklebten Augen und von Schlaf geröteten Wangen grub sich Paul aus seiner warmen Oase der Ruhe aus, angelte benommen den Bademantel heran, wickelte sich unbeholfen hinein und taumelte, mit einem Regenschirm bewaffnet, zu seiner Wohnungstür. "Wer ist da?!", krächzte er misstrauisch, hustete und warf einen ärgerlichen Blick auf die Uhr. Es konnte kein Paketdienst sein, denn Paul besaß ein Fach an der Packstation. Die Ablesung war nicht angekündigt worden, es roch auch nicht nach Rauch, sodass man die Feuerwehr erwarten musste und Besuch bekam Paul nie. "Heizungsnotservice, guten Tag! Die Heizung ist ausgefallen, wir müssen die Heizkörper noch entlüften." Paul glotzte unschlüssig auf die Tür. War das eine Falle?! Gut, der junge Mann, der gewinnend in den Türspion lächelte, trug einen blauen Overall mit Firmenlogo und einen Werkzeugkasten, aber das konnten ja alle! Er hätte wohl nicht geöffnet, wenn in diesem Moment nicht der Hausmeister vom Stockwerk darüber die Treppe hinunter geturnt wäre, Mitte sechzig und fit wie ein Turnschuh. "Bei dem müsse se lange schelle! Der schafft nachts!", blökte der Hausmeister Pauls private Lebenssituation durch das Haus, bevor er elastisch im Erdgeschoss verschwand. »Danke auch!«, knurrte Paul, atmete dann tief durch. Es war ja wohl nicht zu umgehen. Er öffnete also und betätigte den Lichtschalter für den kleinen Flur, sodass er einen winzigen Überraschungsmoment gewann, weil der Monteur von der plötzlich einsetzenden Helligkeit geblendet wurde. "Guten Tag", wiederholte der Monteur rasch, blendete ein perfektes Gebiss auf, "Heizungsnotservice, Toivo Jorgensen." Paul trat beiseite, blinzelte die letzten Reste Schlafs aus den Augen. Dieser schlacksige Typ, dessen schwarze Augen, Teint und kräftige Haare förmlich 'indischer Subkontinent!' brüllten, hieß Toivo Jorgensen?! Besagter Mann schlüpfte gerade aus Arbeitsschuhen und sockte dann weiter, "ich fange dann mal an, ja? Sie wollen es sicher schnell wieder warm haben." "Ja, bitte", murmelte Paul, tapste aber hastig hinter Toivo her, der schon das Wohnzimmer erobert hatte und dem Heizkörper zu Leibe rückte. Während es vernehmlich zischte, wandte er den Kopf, um Pauls kleines Aquarium zu komplimentieren. Paul nickte bloß, studierte den gelenkigen Mann, der bestimmt über 1,90m groß war und wartete auf die unvermeidliche Frage, denn in seinem Aquarium hausten keine Fische, sondern anderes Getier, das krabbeln konnte, sich eingraben oder zwischen der üppigen Vegetation verbergen, die ebenfalls sehr lebendig war. Es gab mehr als nur Fische im Wasser, warum sich also darauf beschränken?! Nun klappte Toivo tatsächlich seine lange Gestalt vor dem Aquarium zusammen und studierte interessiert die Vorgänge. Dabei verzichtete er dankenswerterweise darauf, gegen das Glas zu klopfen. Nach Pauls Auffassung sollten solche rüden Gesten mit der Prügelstrafe quittiert werden. "Wirklich sehr schön!", erneut blendete das perfekte Gebiss auf, dann kehrte Toivo zu seiner Arbeit zurück, "tut mir ehrlich sehr leid, Sie zu stören, aber so ist das mit den Feiertagen im Winter und der Heizung: einmal geht immer was kaputt." "Sie stören mich nicht", antwortete Paul, was durchaus keine höfliche Lüge war. Ihm war der Defekt der Heizung gar nicht weiter aufgefallen.Auch wenn er sich nicht um seine tierischen Mitbewohnenden sorgen musste, hielt er es doch für besser, wenn es nicht zu kalt in der Wohnung wurde. "Es ist aber schade für Sie", ergänzte er, "so können Sie nicht mit Ihrer Familie feiern." Toivo erhob sich, grinste, "kein Problem. Mehr Geld beim Schlussverkauf übrig." Er zwinkerte mit langen, sehr dichten Wimpern und marschierte dann aus dem Wohnzimmer, das wieder in der dämmrigen Beleuchtung des Aquariums versank. "Sehr vernünftig", Paul folgte ihm, durchaus überrascht. Seine etwas trügerische Frage war so geschickt mit einer vernünftigen Antwort gekontert worden, dass er nicht umhin konnte, Sympathie für den Monteur zu empfinden. "Ich kann Weihnachten nicht ausstehen. All dieser Geschenkerummel und die vorgetäuschte Harmonie im Kreise der Lieben", provozierte er weiter, während sich Toivo die Heizkörper im Badezimmer und der kleinen Küche vornahm. Paul lehnte mit verschränkten Armen jeweils im Türrahmen und wartete gespannt auf die Antwort. Er wollte seinen unerwartete Besucher nicht triezen, aber es reizte ihn doch herauszufinden, wie dessen Repliken ausfallen würden. "Wenn ich Weihnachten feiere", Toivo löschte das Licht in der Küche, wartete geduldig, bis Paul den Weg freigab, "dann zünde ich eine einzige Kerze an und bitte Gott, dass er den Menschen einen Wunsch erfüllt, die mir im vergangenen Jahr geholfen haben." »Uiiii!«, dachte Paul, stolperte über seine eigenen Füße, als er sein Schlafzimmer betrat. Er war tatsächlich beeindruckt. "Geschenke", Toivo warf einen verschmitzten Blick auf das zerwühlte Bett im Herzen des Schlafzimmers, "mache ich, wenn mir danach ist, ohne Verpflichtung, ohne Zwang. Und feiern natürlich auch." Er lächelte zu Paul hinüber, bevor er sich am Heizkörper zu schaffen machte. "Aber-aber wenn man Geschenke erhält, ist man verpflichtet, sie zu erwidern!", so einfach wollte Paul seinen Posten als advocatus diaboli nicht aufgeben, "man muss mühsam den Gegenwert ermitteln und etwas Passendes besorgen! Noch entsetzlicher, wenn man beschenkt wird, ohne dass man damit gerechnet hat und das Gesicht verliert!" "Hmmmm", kommentierte der Monteur, stützte sich auf einem Knie auf, um wieder in die Höhe zu kommen, "da ist was dran." "Ja, und wenn sich dann einer nicht an die Regeln hält", ereiferte sich Paul, die Fäuste geballt, "zum Beispiel etwas schenkt, obwohl man vereinbart hat, dass nichts geschenkt wird! Oder etwas viel Teureres schenkt!" Toivo rieb sich nachdenklich das Kinn, in dem sich ein verschmitztes Grübchen zeigte. "Jaaa", antwortete er schließlich gedehnt, "das ist wirklich nicht sehr rücksichtsvoll. Damit bereitet man statt einer Freude bloß Kummer, nicht wahr?" Paul nickte so heftig, dass seine Kieferknochen knackten, "genau, GENAU!" "Tja!", Toivo lächelte Paul an, "ich glaube, das beste Geschenk, was man machen kann, ist eine schöne Erinnerung." Damit verließ er Pauls Schlafzimmer und kehrte in den kleinen Flur zurück, wo er in seine Arbeitsschuhe schlüpfte. Paul folgte ihm einigermaßen verwirrt. Es war das erste Mal, dass jemand ihm zugestimmt hatte, ihn nicht wie ein widerliches Insekt betrachtete, dem jegliches menschliches Gefühl abging. "Muss ich etwas unterschreiben?", erkundigte er sich heiser, ein wenig beschämt, weil er so beeindruckt war von dieser ungewohnten Anerkennung. "Nein, der Hausmeister unterschreibt für alle Wohneinheiten", beruhigte der Monteur. "Dann, danke schön für Ihre Dienste und noch frohe Feiertage", Paul lächelte hoch in das freundliche Gesicht. "Es war mir ein Vergnügen", versicherte Toivo, beugte sich blitzartig vor und küsste Paul auf die Stirn. Er zwinkerte verschmitzt, dann war er bereits im dunklen Hausflur verschwunden. Paul schloss sehr langsam, fast betäubt die Wohnungstür. Erst zwei Tage später bemerkte er, dass die Durchschrift des polizeilichen Protokolls zu seinem Schlüsselfund verschwunden war. ~+~ Hauptkommissar Harald Weinrich studierte die Akte und betrachtete interessiert das, was das Kollegium aus dem Schließfach geborgen hatten. "So, so", stellte er befriedigt fest. Langsam ergaben die merkwürdigen Ereignisse, die mit einem toten, russischen Staatsbürger angefangen hatten, ein schlüssiges Bild. Er ergänzte die Berichte, druckte schließlich das letzte Kapitel der Ermittlungen aus, setzte mit Unterschrift und Siegel seine Zeichen, bevor er das Dokument abheftete und sich erhob. Der Inhalt des Schließfachs würde in einer Bank aufbewahrt werden, bis die Eigentumsverhältnisse geklärt waren. Vielleicht würde der russische Staatsschutz sich ja auch für die Vorgänge interessieren, denn der Hauptkommissar vermutete stark, dass es sich bei den gefundenen Banknoten um Schwarzgeld handelte. ~+~ Istvan strahlte, als er sanft den Hörer auf die Gabel gleiten ließ. Er hatte doch gewusst, dass Marius vollkommen unbeteiligt in die unschöne Episode verwickelt worden war! In der Kabine eines internationalen Teleshops in Tallinn ballte er die Faust und stieß sie triumphierend Richtung Decke. Es war einer dieser "YIIIIHAAAAAA!!!"-Momente. ~+~ "SIE!", hörte Toivo hinter sich und zuckte zusammen. Die Stimme kam ihm vage bekannt vor, aber ihr Tonfall ließ schließen, dass der Besitzer überaus ärgerlich war. Er setzte eilig sein harmlosestes Lächeln auf und wandte sich dienstbeflissen herum. »Oha!«, dachte er erschrocken und starrte auf die sehnige Gestalt vor sich, die ihn beleidigt anblitzte, die Hände in die Seiten gestützt, das Sinnbild indignierten Zorns. "Ich sollte Sie anzeigen!", fauchte es ihm wütend entgegen. Toivo erinnerte sich nun: ein flauschiger, roter Bademantel, ein zerstrubbelter Schopf, dunkelblaue Augen und der Geruch von Vanille: Paul Mäurer! "Von wegen schöne Erinnerung!", schnaubte es in Toivos Brusthöhe, "gehören Sie auch zu dieser Bande?!" "Wir unterhalten uns besser draußen", schlug er eilig vor, da sich die wenigen Einkaufenden an diesem letzten Werktag im alten Jahr nach ihnen umwandten. Ein Supermarkt kurz nach acht Uhr war nicht die richtige Lokalität für derartig heikle Gespräche. "Ohne eine SEHR GUTE Erklärung habe ich in Nullkommanichts eine Standleitung zum nächsten Revier!", drohte Paul. Toivo seufzte und sondierte flugs eine erfolgversprechende Taktik, um weiteres Aufsehen zu vermeiden. "Ich kann das erklären", antwortete er beschwichtigend, bemerkte das Publikum und entschloss sich, die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Flink schlang er einen Arm um die zierlichen Hüften und erstickte weitere Drohungen mit einem beherzten Kuss. Zwar spürte er energische Fäuste gegen seine Oberarme schlagen, aber als er sich aufrichtete, zappelte der aufgeregte Paul ohne Bodenkontakt in der Luft und aus den Hieben wurde ein erschrockenes Klammern. "Aufgemerkt!", raunte Toivo leise, funkelte in die dunkelblauen Augen, "wir klären das draußen. Erst einkaufen, an der Kasse zahlen, dann Aussprache. Einverstanden?" "Und wenn ich mich weigere?!", Paul flüsterte fauchend. "Dann", Toivo lächelte, "stecke ich dir meine Zunge in den Hals und mache da weiter, wo wir gerade aufgehört haben." "Dann", kopierte Paul ärgerlich Toivos Ton, "beiße ich sie DIR einfach ab!" "Dann", amüsiert zwinkerte Toivo, "blute ich dich von oben bis unten voll!" "Dann", Paul holte Luft, "dann trete ich dich vors Schienbein!" "Süß!", schnurrte Toivo und grinste, als er die dunkelrote Färbung der Wangen bemerkte. Er ließ Paul auf die Füße hinab, packte unaufgefordert dessen Einkaufskorb, führte die Konversation so fort, als hätte sich hier wirklich unerwartet ein Pärchen getroffen, "fehlt noch was?" Paul schnaubte und streckte wie ein trotziges Kind die Hand aus, "ich trage meinen Korb selbst!" "Aber gern!", Toivo lachte, verbeugte sich frech und reichte den Korb zurück. Hochrot stürmte Paul vor ihm her, sammelte noch zwei Artikel aus den vorbeifliegenden Regalen ein, bevor er einen harten Halt vor der Kasse einlegte. Er würdigte Toivo keines Blickes, aber das Kichern, das sie begleitete, schien ihn noch stärker zu reizen. Toivo legte seine Waren auf das Band und verfolgte mit Seitenblicken, wie Paul seinen Rucksack stopfte und flammende Blitzstrahlen auf ihn abfeuerte. Aber seine Gelassenheit zeitigte Erfolg: Paul versuchte nicht, sich aus dem Staub zu machen. Er war zu neugierig auf die Antworten. Also ging Toivo mit seinen Einkäufen in einem modischen Tragekorb voran, während Paul ihm folgte, misstrauisch äugend, ein unsichtbares Fell gesträubt. "Da vorne ist ein Stehkaffee. Wollen wir nicht etwas frühstücken?", schlug er vor. "Hrmpf!", knurrte Paul auf seinen Fersen, ließ sich aber doch mit heißer Schokolade und einem Streuselkuchen bestechen. Dabei entsann sich Toivo, wie Paul nach eigener Schilderung auf Geschenke und Offerten zu reagieren behauptete. Er musste wohl doch einen Nerv getroffen haben, wenn Paul derart über seinen Schatten sprang. »Ganz abgesehen davon, dass er offenbar seit Ewigkeiten nicht mehr geküsst worden ist!« "Also", er trank sich ebenfalls mit heißer Schokolade Mut an und genoss die Wärme des ökologisch bedenklichen Heizstrahlers, "ich bin wirklich Monteur bei einer Firma, die Heizungen installiert und wartet. Weil ich am Kürzesten im Betrieb angestellt bin, muss ich die Sonderdienste übernehmen." Paul erstach mit heftiger Geste seinen Streuselkuchen, knurrte dabei. Toivo lächelte, pickte in seiner glasierten Hefeschnecke herum und leckte die Vanillepudding-Füllung von der Plastikgabel, "da hat mich kurz vor Weihnachten ein Typ angesprochen und mir zugesagt, ich würde eine Prämie bekommen, wenn ich bei meiner Prüfung in der Wohnanlage auf Hinweise stoßen würde." "Aus Geldgier!", schnappte Paul giftig, allerdings war sein Mund mit Puderzucker eingestäubt, sodass er keinen besonders imponierenden Eindruck bot. "Ich hatte in der Zeitung von der Sache mit dem toten Mann gelesen. In der Wohnung war der Hausmeister bei mir, sodass ich mich nur kurz umsehen konnte. Da war nichts, aber bei dir habe ich den einzigen Hinweis gefunden." Paul funkelte nun, die Unterlippe empört vorgeschoben, die Backen ungünstigerweise vollgepackt. "Ich wusste ja anhand der Kopie, dass der Schlüssel schon bei der Polizei war. Also keine Gefahr, richtig?", Toivo ertränkte die letzten Reste seiner Schnecke mit heißer Schokolade, tupfte sich dann artig die Lippen ab. "Ach was!", zischte Paul, nun eilig die Hamsterbäckchen geleert, "wie hoch war denn der Judaslohn?!" Toivo zuckte mit den Schultern, "sie haben mir tausend Euro versprochen, aber ich habe es nicht genommen. Damit würde ich mich ja strafbar machen." Für einen langen Augenblick war Paul sprachlos, "was ist dann mit der Kopie passiert?! Überhaupt, was für ein Blödsinn ist das, sich erst anheuern lassen und dann abspringen?!" Gekränkt stützte Toivo das Kinn in eine Hand, "sieh mal, wäre ich mit leeren Händen herausgekommen, hätte man beim nächsten Mal vielleicht nicht bloß die Heizung bearbeitet, sondern etwas Schlimmeres getan. Wie hätte ich ohne Beweise zur Polizei gehen können? Was hätte das gebracht?" "Hrmpf!", kommentierte Paul, aber zu Toivos Erleichterung überdachte er wohl die Erklärung und prüfte ihre Stichhaltigkeit. "Was sind das für Leute?", erkundigte er sich schließlich, "Russenmafia?! KGB-Nachfolge?!" "Ich weiß es nicht", gab Toivo zu, "ich will nicht in deren Visier geraten. Wenn sie jetzt aber sehen, dass die Polizei Bescheid weiß, werden sie sich bestimmt zurückziehen. Publikum schadet ja dem Geschäft, würde ich meinen", ergänzte er eilig. "Hmmm", murmelte Paul, tilgte den Schokoladenbart mit der Serviette, "warum hast du dich nicht geweigert?" Ganz zufrieden schien er aber noch nicht. "Wenn mir Typen, die mit starkem Akzent sprechen, genau ankündigen, dass es ein Problem mit einer Heizungsanlage gibt, die meine Firma betreut? Die wissen, wo ich wohne?", Toivo schüttelte bekräftigend den Kopf, "dieser Mann im Nachbarhaus, ist der nicht vor Einbrechern vom Balkon geklettert? Ich wohne im elften Stock!" Paul erwog das Argument, starrte Toivo kritisch an. "Nun gut", erklärte er schließlich, "ich werde das gelten lassen. Aber dein Verhalten eben ist nicht zu entschuldigen!" Toivo bemühte sich zwar angestrengt, nicht zu lachen, aber ein Glucksen entschlüpfte ihm doch. "Tja, ich hatte auch nicht vor, mich zu entschuldigen", bekannte er treuherzig. "WAS?!", Paul wirkte für einen Augenblick, als würde gleich Dampf aus seinen Ohren aufsteigen. "Es hat mir gefallen, dich zu küssen", setzte Toivo noch ein Sahnehäubchen auf seinen Triumph. "Un...Unverschämtheit!", Protestierte Paul, dunkelrot angelaufen, raffte dann seinen Rucksack und flitzte davon. Hinter ihm seufzte Toivo, hob seinen Einkaufskorb auf. Er hatte eine Kerze angezündet und für sich selbst auch einen Wunsch formuliert. Der war noch nicht in Erfüllung gegangen, wie es schien. ~+~ Paul stapfte frierend nach Hause, den Blick auf den Boden gerichtet, der sich als tückisch glatt erwiesen hatte. Dummerweise war er auch noch ausgerutscht und auf den Händen gelandet, um sich abzufangen. Nun prickelten seine aufgeschürften Handteller. Was für ein beschissener Tagesabschluss! "Guten Morgen", Jemand entfaltete sich zu beeindruckender Höhe von einem Iso-Kissen, stellte eine Thermoskanne ab und schüttelte lange Glieder. Paul blinzelte bloß. Er wollte unter die Dusche und in sein Bett. Seine Augen brannten vor Trockenheit, von seiner verletzten Würde ganz zu schweigen. "Warum bist du hier?", erkundigte er sich weniger enerviert als schicksalsergeben. "Ich möchte mir selbst einen Wunsch erfüllen", Toivo blendete sein perfektes Gebiss auf. "Hier?!", bemerkte Paul gehässig, studierte die Camping-Ausrüstung. "Na ja, IN deiner Wohnung wäre es sicher gemütlicher", pflichtete Toivo aufrichtig bei. "Du willst reinkommen?! In meine Wohnung?!", Paul rieb sich verärgert mit einer Hand über die Stirn, wobei er vergaß, dass er sich die Haut aufgeschürft hatte. "Autsch!", registrierte er den akuten Schmerz. "Lass mal sehen", unaufgefordert pflückte Toivo Pauls Handgelenk herunter und beäugte erst die verschrammte Stirn, dann die aufgeschürften Handflächen, "bist du hingefallen? Das sollte man desinfizieren", diagnostizierte er entschieden. Toivo bückte sich, um Kissen und Thermoskanne aufzulesen und unter einen Arm zu klemmen, während seine andere Hand Pauls Handgelenk in der Schraubzwinge der langen, gelenkigen Finger gefangen hielt. "Gehen wir rasch rein, damit ich nachschauen kann, ob Rollsplitt in die Wunden geraten ist", Toivo dirigierte Paul vor sich her, "ich nehme doch mal an, dass deine letzte Tetanusimpfung ein bisschen her ist?" "Ich habe keine Ahnung", murmelte Paul müde, der bloß noch in sein Bett wollte. Jetzt dröhnte ihm auch noch der Schädel, und er sah sich außerstande, sein geliebtes Heim gegen den aufdringlichen Invasoren zu verteidigen. Toivo stellte ungezwungen neben die Thermoskanne seine festen Stiefel, bevor er Paul aus seiner Jacke pellte, der sich vor der Schwierigkeit sah, entweder seine Oberbekleidung mit Dreck und Blut zu beschmutzen, oder sich wie ein Aal zu winden und zu hoffen, dass die Schwerkraft helfend einschritt. "Gucken wir uns die Bescherung mal an", Toivo schob Paul an den Schultern vor sich her, fühlte sich bereits wie zu Hause. Also musste Paul auf der Toilette Platz nehmen, artig Pfötchen geben und sich mit zusammengebissenen Zähnen die Wunden abtupfen lassen. "Muss es wirklich Essig sein?", beklagte er sich jammernd. "Nun, du hast ja kein Desinfektionsmittel. Und keine Pflaster. Oder Verbandszeug." DAS klang eindeutig nach einem Vorwurf, und Paul schnappte zurück, "ich brauche so was normalerweise nicht!" "Eben, deshalb improvisieren wir jetzt", Toivo grinste und befestigte Toilettenpapierstreifen mit Tesafilm, um die Wunden zu verdecken. "Ich will mir das aber nicht auf die Stirn pappen!", protestierte Paul vergeblich. "Aber dein Bettzeug willst du einsauen?!", erkundigte sich Toivo streng, "das vergiss mal gleich wieder." "WAS?!", Paul schnaubte wütend, "du bist hier nicht der Bestimmer!" Schon in dem Augenblick, als ihm dieser hilflos-kindische Protest entschlüpft war, spürte Paul die verflixte Röte in seine Wangen aufsteigen. Seit Jahren hatte er diesen Spruch nicht mehr benutzt. Toivo brach in Gelächter aus, musste sich sogar am Waschbecken festhalten, weil ihn das Vergnügen so schüttelte. "Gemein!", brummte Paul mit abgewandtem Gesicht und weil ja die Dusche mangels Handlungsfähigkeit ausfallen musste, steuerte er den Flur an, "ich will jetzt schlafen, also geh weg." "Och, warum darf ich nicht bei dir schlafen? Wo ich doch die ganze Zeit auf dich gewartet habe! Und extra freigenommen habe ich mir auch noch!", Toivo klebte an seinen Fersen. "Ich habe dich nicht gebeten!", schnaubte Paul, funkelte mit tränenden Augen nach oben, "ich sage auch nicht danke, hörst du?!" "Höre ich", versicherte Toivo, kämmte behutsam eine Strähne aus der verpflasterten Stirn, "aber lass uns das doch später klären. Ich finde, wir sollten jetzt Zähne putzen und uns ein wenig aufs Ohr legen." "Ich brauche meine Tropfen!", fauchte Paul, machte wieder kehrt, um in sein kleines Badezimmer zu flüchten. Dann musste er aber doch Toivos Hilfe in Anspruch nehmen, weil er mit dem improvisierten Verband die dämliche Flasche nicht halten konnte. Es gefiel ihm auch gar nicht, dass Toivo aus seiner Jackentasche eine Zahnbürste zupfte und unter seinem Jogginganzug tatsächlich Pyjamas trug! "Ich hau dir eine Beule so groß wie ein Hühnerei, wenn du was versuchst!", drohte Paul schließlich matt, kletterte unter die Decke, seine treue Stablampe direkt neben sich auf der Matratze. "Ich wünsche dir auch eine gute Nacht und herrliche Träume", feixte Toivo, studierte im Dämmerlicht der Rollladenritzen die schlanke Silhouette neben sich. »So ein Rücken kann wirklich entzücken!«, schmunzelte er und war sich plötzlich sehr sicher, dass jemand oben seinen Wunsch doch gehört hatte. ~+~ Der Montag nach dem letzten Sonntag im Januar, früh am Morgen Istvan blies sich immer wieder auf die kalten Hände, stapfte auf und ab. "Komm schon!", murmelte er leise, den Blick felsenfest auf den Eingang gerichtet, "bitte, ich strenge ich mich wirklich an! Los, Marius, sei ein Schatz und beeil dich, bevor ich meine Zehen nicht mehr spüren kann!" Natürlich fing es dann auch noch an zu regnen, gemeine eisige Nadelstiche! Aber Istvan hatte einen absolut idiotensicheren Plan, er konnte nicht aufgeben! Auf GAR KEINEN FALL! Er ließ also Musik laufen, schlang die Arme eng um den Oberleib und spürte die verflixte Kälte in seinen Körper invahieren. "Bitte, Marius, leg einen Zahn zu!", er hopste auf und nieder, doch den Eingang ließ er nicht aus den Augen. In der Jackentasche knisterte der Zettel leise, auf dem er seine Rede in Stichworten formuliert hatte. ~+~ Etwas später Istvan rollte sich herum, aber es half alles nichts: der verdammte Kaffee wollte einfach den letzten Weg gehen! Seufzend setzte er sich auf, blinzelte und warf einen Blick neben sich. Nur eine verwüstete Tolle lugte hervor. Lächelnd zupfte er behutsam die Decke ein wenig tiefer und studierte, trotz des nachdrücklichen Rufs der Natur, diesen Anblick. Sehr behutsam streichelte er mit einer Fingerspitze über eine Wange. "So süß", murmelte er. Wirklich, Marius sah im Schlaf einfach niedlich aus! Istvan schwang die Beine über die Bettkante, kam in die Höhe und schlich zum Zimmer hinaus, um das Badezimmer aufzusuchen. Hinter ihm huschten zwei kleine Schatten, die anschließend mit großen, blauen Augen fasziniert beobachteten, wie Istvan einen Papierfetzen per Wäscheklammer an den Spiegel heftete. Sie ließen sich bloß zum Schweigen überreden, weil Istvan mit ihnen in dem Karton mit Seidenpapier herumknisterte. Der Übersetzer kletterte wieder unter die Bettdecke, rutschte schön bequem an Marius heran, der tief und fest schlief. Er schmuggelte einen Arm um die ruhende Gestalt, träumte von zehn Minuten anregender Unterhaltung täglich und war sehr froh, weil er die Kartons nicht ausgepackt hatte. ~+~ ENDE ~+~ (Fortsetzungen in »Kernfusion« und »Flügelschlag des Schmetterlings«) Vielen Dank fürs Lesen! kimera