Titel: Vidale Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 12 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Halloween 2024 Erstellt: 31.10.2024 Disclaimer: # "Ruby Gloom" ist eine TV-Serie von Nelvana TV. Hinweis: ~ Detorix und Artemis spielen in "Zonenrandzombie" und "Friede, Freude, Eierkuchen" mit. ~ Thekla Anuphobis dreht in "Zonenrandzombie" ihre Zigarillos. ~ HM1 Heinzelmann Version 1 und Friedensstifter sind exklusive Produkte der Daimonen-Welt ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* ~~>* Vidale Es war ein Abenteuer. Die Vorfreude prickelte wie überschäumende Brause durch den ganzen Körper. Man wollte kichern und prusten, dem Kribbeln Ausdruck verleihen. Das hätte jedoch dem würdevollen Auftritt geschadet. "Wohlan!" ~~>* Detorix stellte den Kürbisauflauf auf den Tisch, prüfte anschließend die grinsenden Kekse auf ihren Härtegrad. Geothermische Küchen-Freunde, Herd und Ofen, nichts übertraf das! Zufrieden mit dem Resultat seiner Bemühungen war er gewillt, sogar ein wenig gute Laune zu entwickeln. "Halloween" entsprach nämlich eigentlich nicht seinem Gusto. Zu viel Idiotie (von "Schabernack" konnte man kaum noch sprechen), Plastikmüll und Fressalien minderer Qualität! Zugegeben, HIER würde niemand Toilettenpapier verteilen oder das hübsche Backsteinhäuschen mit irgendwas bewerfen. In diesem Moment betrat sein Mitbewohner, dick vermummt und von Regentropfen gesprenkelt, das Häuschen zwischen zwei Hochhäusern. "Oooh, das riecht aber fein!" Artemis, Artemiii ausgesprochen, zupfte sich die Kapuze der gesteppten Jacke vom Kopf, rieb sich über das Gesicht. Klar, aufgrund eines hervorstechenden Merkmals konnte sie ihn frontal nicht von Feuchtigkeit abschirmen. "Häng' deine Jacke auf und wasch' dir die Hände." Wies Detorix streng an, scheuchte Artemis in den ersten Stock, wo seine Kleidung dank Geothermie Dampf-gereinigt schnell trocknen konnte. Nicht wenige Augenblicke später hüpfte Artemis strahlend die Treppe herunter. Detorix ersparte sich ob der Begeisterung jedes Kopfschütteln. Zu seiner angenehmen Überraschung trug Artemis einen mausgrauen Jogginganzug. Im Unterschied zur Außentemperatur, die äußerst ungemütlich genannt werden konnte, herrschte im Backsteinhäuschen ein sehr angenehmes Klima. Was unter anderem daran lag, dass es sich auf einer Bruchstelle zwischen den Welten befand. Über Generationen hinweg hatte man das Vorteilhafte mit dem Nützlichen verbunden. "Ich glaube, ihnen gefällt's." Heischte Artemis um Beifall, wippte auf die Zehenspitzen und zurück, die Hände hinter den Rücken verschränkt. Detorix warf einen Blick in die Dunkelheit hinaus, wo der uralte Strauchdaimon und ein gerettetes Apfelbäumchen Hof hielten. Sie waren von Artemis mit Hingabe dekoriert worden, Bänder, Anhänger, Schleifen, kleine Zierkürbisse und Heidepflanzen. "Ja, wirklich nett." Brummte Detorix, der vor Artemis' Unterbringung nie auf den Gedanken verfallen war, den alten Strauchdaimon, der das Haus zusammenhielt und beschützte, mit Zierrat zu schmücken. Sie waren schließlich Profis hier, "Leuchtturm und Seenotrettung" quasi, denn das machte das Hüten der Bruchstelle aus. Kein schlichtes, einfach zu beherrschendes Tor, keine klar umrissene Grenze. Selbstverständlich ging Detorix auch einer anderen Beschäftigung nach: er war Szenarize, Spezi in Bürokratisch. Für das Finanzamt auf dieser Seite führte er ein Büro für Ordnungsberatung. Artemis äugte zu ihm hinüber, wippte weiterhin. Dabei sah das Erfinder-Einhorn gewohnt umwerfend aus, trotz mausgrauem Jogginganzug. Detorix war wirklich dankbar, dass er ABSOLUT unempfänglich für die optischen Qualitäten seines Mitbewohners war, der auf jedem Roman-Cover als "Sexgott" hätte dienen können. Sah man großzügig über die pinkfarbene Haut und die weiße Mähne hinweg, mit denen man Plastik-Viecher an kleine Mädchen vertickte. Er seufzte lautlos. "Wenn du den Tisch deckst, hole ich das Omniskop." Bot er an. Quasi Kondensstreifen ziehend zischte Artemis freudestrahlend um den großen Holztisch. Das Omniskop wanderte unterdessen vom Büro im ersten Stock hinunter ins Erdgeschoss. Detorix legte Wert auf Standards: beim Essen wurde nicht fern gesehen (in welche Dimension auch immer) oder telefoniert. Andererseits HATTE er zu den grinsenden Kürbissen Popcorn ploppen lassen. Artemis nahm artig Platz und blickte erwartungsvoll zu ihm hinüber. "Schön. Danke." Brummte Detorix und schöpfte Auflauf in tiefe Teller. Man konnte wirklich nicht leugnen, dass er sich an die Gesellschaft des Erfinder-Einhorns gewöhnt hatte. Zudem genoss er mal wieder die Erinnerung an Spezl Heuseidls ausgesprochen geistlose Miene, als er dem Deppen bescheinigt habe, es GÄBE kein Szenario-Problem mit der wandelnden Erotik-Katastrophe, weil das Szenario LÄNGST lief! ~~>* Horror-Filme schieden definitiv aus. Detorix kannte sein Erfinder-Einhorn gut genug, um dessen mitfühlendes Wesen nicht mit derlei zu belasten. Vor allem nicht, weil sie sich ein Schlafzimmer teilten und das ängstliche Geschniefe IHN auch um die wohlverdiente Nachtruhe gebracht hätte. Grusel wäre eventuell tolerierbar, wenn es auf Kindergarten-Niveau blieb und ein gutes Ende geboten wurde. Sein Taschentuch-Vorrat nahm aus Erfahrung mittlerweile die Größe einer Umzugskiste an, da Artemis nicht nur schreckhaft, sondern auch äußerst nah am Wasser gebaut war. Andererseits konnte seine Begeisterungsfähigkeit ebenfalls nahezu grenzenlos genannt werden. Deshalb musste man darauf achten, dass Erfindungen nicht in das "Hoppla"-Stadium gelangten. Eine Auflage, die Detorix zu erfüllen hatte, wollte er, dass Artemis ihn hin und wieder in die Menschenwelt begleitete. "Oooohhh!" Kommentierte Artemis gerade, der Schaukelstuhl wippte aufgeregt, während er vor Spannung das Einfahren einer weiteren Handvoll Popcorn vergaß. Detorix schmunzelte. Er konnte sich gut vorstellen, wie eine Menge Daimonenkinder es ihm gleich taten. »Schön.« Dachte er, gönnte sich selbst ein Pfefferminz-Bonbon. Ruby Gloom und ihre Freunde wirbelten mit munterer Musik auf dem Omniskop, alles ein bisschen Gothic, vor allem aber gemütstauglich. Der Kauf der DVDs hatte sich gelohnt. ~~>* Schneller als der Schall. Flotter als jedes Blinzeln mit Wimpernschlag. Selbst Detorix zuckte zusammen, als ein Zittern durch das Backsteinhäuschen lief. Artemis kullerte aus dem Schaukelstuhl, wandte sich ihm mit schreckensbleichem Gesicht zu. "Ich hab' nichts gemacht!" "Ich weiß." Antwortete Detorix mit grimmiger Miene, erhob sich und nahm seinen Seebärenkurzmantel vom Garderobenhaken, topfte sich den Bowler auf. "Bin gleich zurück." Versprach er, nahm aus der Fenstertruhe die Laterne mit dem Elmsfeuer. Dann trat er vor die Tür, um sie aufzuhängen und den Strauchdaimon zu beruhigen. ~~>* Es handelte sich um einen Automatismus, der wie ein Reflex funktionierte: schlagartig blockierten alle Tore zur Menschenwelt. An den Bruchstellen begleitete die Blockade ein Beben, das in der Atmosphäre vibrierte. Keine Vorwarnung. Keine Übung. Eine Sicherheitsvorkehrung, die keine Kompromisse zuließ. ~~>* Der Strauchdaimon raschelte mit Ästen und den verbliebenen Blättern, schüttelte sich und die Dekoration durch. Detorix knurrte. "Nein, mir gefällt's auch nicht." Gab er unwillig zu. Was konnte passiert sein? Zumindest die Laterne mit dem Elmsfeuer brannte für die gestrandeten Daimonen wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Als er das Backsteinhäuschen wieder betrat und sich angesichts der Temperaturen entpuppte, bemerkte er wohlwollend, dass Artemis sich nützlich gemacht hatte. Das Omniskop zeigte keine Störung mehr an, sondern fing Impulse auf. Das Popcorn kühlte auf der Anrichte, während Artemis eine Stadtkarte ausrollte. "Oje, oje, oje!" Wisperte er dabei unglücklich, warf Detorix einen trauerumflorten Blick aus pinkfarbenen, sehr seelenvollen Augen zu. "Was ist los?!" Erkundigte der sich alarmiert und fahndete nach einem Pfefferminz-Bonbon in seiner Hosentasche. "Das wird dir nicht gefallen. Du wirst das gar nicht mögen." Artemis wrang nervös die Hände, wirkte dabei wie immer extrem anziehend. Oder verführerisch, aber Detorix blieb in dieser Hinsicht unbeugsam. Er warf einen alarmierten Blick auf ein Bildschnipsel. Die Bruchstellen-Hütenden pflegten ein Netzwerk für Informationen auf dieser Seite, das sich in Teilen an menschlicher Technik bediente. "...stimmt. Das gefällt mir absolut nicht." ~~>* Wahrscheinlich waren es die Seismographen gewesen. Die riesige Kreatur, tatsächlich mit gewaltigen Schwingen und einem länglichen Schnabel ausgestattet, zuckte noch. Ihr unkontrollierter Absturz hatte eine riesige Schneise in die Vegetation und den Boden gepflügt. Sie war dem Tod geweiht. In den Fokus von Daimonen-Insektenaugen stolperten vier Gestalten, nahmen eine fünfte auf, die sich mühsam aufzurichten versuchte. Sie fassten sie unter, rannten und schleuderten sie...ins Unsichtbare. Unterdessen kollabierte final das riesige Tier. "Sieht schon ein wenig wie ein Flug-Drache aus." Kommentierte Detorix geistesabwesend, während er Artemis ein weiteres Stofftaschentuch reichte. "Das ist so furchtbar!" Schniefte das Erfinder-Einhorn kläglich. "Ja." Detorix kraulte die weiße Mähne, was Artemis häufig ein wenig zu trösten versprach. Mehr hatten die Daimonen vor Ort nicht tun können. Das Wesen, das auf dem vermeintlichen Flug-Drachen gereist war, konnte in der eigenen Dimension den Sturz vielleicht überstehen. In der Menschenwelt jedoch, unter diesen Druckverhältnissen, würde es rasch ein Ende nehmen wie das gewaltige Tier. Er grummelte unwillig, als er sich an Dinosaurier und entsprechende Verfilmungen erinnert sah. »Abgeschmackter Unsinn!« Derart riesige Wesen konnten unter dem gegenwärtigen Druck auf der Erdoberfläche solche Größe gar nicht erreichen. Das sah man schon an den Kadavern von Walen an Stränden, deren Eigengewicht sie zum Tod verurteilte. Es gab physikalische Gründe für die Größenbeschränkung von Landtieren. Detorix seufzte, kraulte Artemis' Mähne und beäugte die Nachrichten aus dem versteckten Notfallnetz. "Ich lasse besser die Käfer aufsteigen." Es würde eine lange Nacht werden. ~~>* Artemis schlief zusammengerollt im Schaukelstuhl, heimlich mit einer entsprechenden Droge im dritten Kakao betäubt. Detorix machte diesbezüglich Notwehr geltend. Das Erfinder-Einhorn war schlichtweg nicht zu bewegen gewesen, ins Bett zu gehen, wollte unbedingt helfen. Leider gab es nichts, was man hätte unternehmen können. Nach und nach öffnete sich die Tore wieder, während die Bruchstellen-Hütenden rätselten, in welcher Reihenfolge die Sperre sich selbst aufhob. Freiwillige hatten geholfen, die jüngst spektakulär verstorbene Kreatur so zu tarnen, dass sie menschlichen Forschenden nicht ins Auge fiel. Man hätte viel zu "szenieren" gehabt, um unerwünschte Nachwirkungen zu vermeiden! Detorix warf einen Blick auf den Vorhang, der den üblichen Weg in die Daimonen-Welt verbarg. »Nicht gut.« Konstatierte er müde. Die Daimonen-Käfer waren aufgestiegen und ausgeschwärmt, hatten ihm Eindrücke von der Stadt vermittelt. Laufband-Nachrichten, Medien-Meldungen, Kameras: nichts ließ erkennen, dass etwas Außergewöhnliches passiert war. Nun, abgesehen von den üblichen Verdächtigen an Halloween, was es nicht gerade einfacher gestaltete. Nämlich herauszufinden, ob fremde Kreaturen aus fremden Dimensionen über "Risse" in die Menschenwelt gelangt waren. ~~>* "Wenn man Satelliten nutzen würde, könnte man bestimmt etwas herausfinden." Die Augen reibend bemühte sich Artemis um einen hilfreichen Beitrag. Detorix nippte an einem Kaffee mit Zucker in Teer-Qualität. "Allerdings müssten wir wissen, wie wir diese fremden Wesen erkennen können. Es wäre vermutlich auch keine gute Idee, wenn Menschen auf sie aufmerksam würden, weil sie herausfinden, dass diese Informationen gesammelt werden." Gab er höflich, aber mit jahrzehntelanger Einsicht in die menschliche Natur an sich zurück. "Oh. Stimmt." Geknickt senkte Artemis Horn und Haupt. Müde kraulte Detorix die weiße Mähne. "Selbstverständlich müssen wir uns auf die Spur begeben. Ich fürchte nur, dass ich Verstärkung anfordern muss." Das war ihm gar kein Vergnügen. ~~>* Erst gegen Mittag wurde die Sperre hinter dem Vorhang aufgelöst. Selbst der Strauchdaimon im Hof schüttelte sich erleichtert aus. »Zu lange.« Dachte Detorix, hängte sich seine Tasche um, topfte einen Borsalino auf. »Viel zu lange.« Gerade fünf Minuten vorher war die Blockade an der Bruchstelle aufgehoben worden, wo die gewaltige Kreatur ihren finalen Irrflug mit einem spektakulären Absturz beschlossen hatte. Das verhieß wirklich nichts Gutes! ~~>* Thekla Anuphobis, Vorstehende des Friedensgerichts, beäugte Detorix missmutig. Das konnte niemanden unberührt lassen, denn sie verfügte über acht Augenpaare. Wenn sie starrte, FÜHLTE man sich seziert. Mit einer Klaue winkte sie ihrem Gerichts-Typse, der seine Hämmerchen ablegte und nach der Vespertüte griff. "Auf ein Wort, Szenarize Detorix." Kommandierte sie. Dass es mehr als ein Wort sein würde, stand außer Frage. Durch das Hinterzimmer ging es auf die Galerie, wo ein Zigarillo einen Kringel den beiden Sonnen entgegen trudelte. "Es ist GANZ sicher keine von diesen katastrophalen Erfindungen gewesen?" Ein gewisses Misstrauen konnte man nicht verdenken. Die Vorstehende des Friedensgerichts kannte Artemis' "Karriere" bis in die letzte der unzähligen Täfelchen, die "Vorkommnisse" reportierten. "Definitiv keine Erfindung." Bekräftigte Detorix entschieden, blinzelte in einen angenehmen Mittag, der sich sehr vom ersten November in der Menschenwelt unterschied. "Ich habe ein Protokoll aus dem Bruchstellen-Hütenden-Netzwerk mitgebracht." Vier Augenpaare rollten. "Die Kurzfassung, bitte." Der Zigarillo reduzierte sich rapide. "Offenkundig ist abhängig von der Schwere der Anomalie zwischen den Welten die Blockade zurückgenommen worden. Nichts und niemand hat versucht, unsere Welt zu besuchen." "Spekulationen über die Ursache?" Thekla Anuphobis dampfte förmlich Rauchwolken. Ihr behagte die Lage gar nicht. Damit befand sich die Vorstehende des Friedensgerichts in mannigfacher Gesellschaft. Detorix drehte sich aus den Wolken, holte tief Luft. "In den Archiven sucht man noch. Der Strauchdaimon glaubt, dass in seiner Jugend, -ungefähr zehntes Jahrhundert-, mal so eine Erschütterung vorkam. An den Bruchstellen, die große Anomalien aufweisen, könnte es auch zwischen der Menschenwelt und anderen Welten ähnliche Bruchstellen geben. Wir kennen sie bloß nicht." "Ach du großer M, Zeichen von intelligentem Leben?" Schnaubte die Vorstehende des Friedensgerichts sarkastisch. Es schien kaum verwunderlich, dass andere Welten/Dimensionen/Was auch immer davon Abstand nahmen (und erhebliche Barrieren aufbauten), Brücken zur Menschenwelt zu schlagen. "Wenn man diesen Vorfall mit dem 'Flugdrachen' zugrunde legt, könnte es auch an mangelnder Kompatibilität liegen." Ein weiterer Zigarillo wurde in Flammen gesetzt. Es wurde ernst. "So, Detorix, raus mit der Sprache: warum soll ich diesen notorischen Unruhestifter aus der Überwachung entlassen?!" ~~>* Man durfte nicht den Mut verlieren! Schließlich handelte es sich um ein Abenteuer. Auch wenn, so im Nachhinein betrachtet, eine Umhängetasche mit Proviant eine gute Idee gewesen wäre. ~~>* Detorix blieb am Eingang des Höhlensystems stehen, räusperte sich. "Hallo? Ich suche den Spuren lesenden Chise!" Seine Stimme prallte mit Echi von den Wänden des Höhlensystems ab. Als Antwort schoss eine Wolke von Daimonen-Faltern über ihn hinaus, vollführte interessante Flugmanöver im Schwarm, deren Inhalt er nicht deuten konnte. Als er blinzelte, lehnte unweit des Eingangs eine Gestalt mit verschränkten Armen an einer Steinwand. "Nanu, Besuch?" Die Stimme klang sanft, mit einem Vibrato wie von einem gewaltigen Gong. Detorix justierte seinen Borsalino. "Szenarize Detorix." Stellte er sich vor, studierte sein Gegenüber. "Ich bin Chise." Bestätigte die Gestalt seine Befürchtungen, zwinkerte mit violetten, stark leuchtenden Mandelaugen. "Jetzt musst du 'oh, großer M' stöhnen." Wies Chise ihn grinsend auf die Konventionen hin. Grimmig knurrend verzichtete Detorix auf derlei nutzlose Entgleisungen. "Ich benötige deine Hilfe, um Spuren zu finden. In der Menschenwelt." Chise lupfte graziös ein Handgelenk. Daran saß eine grobe Kordel. "Dummerweise stehe ich gerade unter Arrest. Mal wieder." Was ihn nicht im Geringsten zu inkommodieren schien. Detorix kramte aus seiner Tasche ein kleines Siegel hervor, berührte die grobe Kordel kurz. Sie zerfaserte zu Staub. Eine Augenbraue lupfte sich interessiert. "Wir müssen sofort los." ~~>* Detorix schob den Vorhang beiseite, gestikulierte Chise, ihm zu folgen. Artemis, der artig "Stallwache" gehalten hatte, erhob sich höflich. Chises Augen leuchteten den gesamten Raum violett aus. "Großer M, das ist ja mal ein Einhorn!" Gurrte er in genau der Stimmlage, die Artemis hastig in größte Distanz scheuchte. "Schluss mit dem Unsinn." Donnerte Detorix, eine Hand hart auf die Schultern des Spurenlesenden gelegt. Chise lachte leise, entschlüpfte mühelos dem harten Griff, streckte Artemis einladend die Rechte mit violetten Krallen entgegen. "Hallo, ich bin Chise." Tapfer wagte Artemis sich heran, schüttelte schüchtern die Hand. "Artemis. Und ich habe für Sex gar nichts übrig!" Grinsend zwinkerte Chise, schüttelte seine rostbraunen Dreadlocks aus. "Ja, davon hörte ich." Ein aufreizender Blick streifte Detorix, der grimmig Artemis' Notizen überflog. "Wir sollten das restliche Tageslicht nutzen." Verkündete er. "Du ziehst dir am Besten was über. Ist kalt hier." ~~>* Artemis warf Detorix einen fragenden Blick zu. Der zuckte knapp die breiten Schultern, rückte den Bowler zurecht. Sie hatten vereinbart, zunächst in konzentrischen Kreisen um das Backsteinhäuschen ihre Suche zu beginnen. Der Suchkreis konnte anschließend radial ausgeweitet werden. Während Artemis einen Kapuzenmantel trug und einen Überzieher über seinem Horn, beides Spezialanfertigungen, die ihn für menschliche Augen "unsichtbar" machten, paradierte Chise in größter Selbstverständlichkeit sichtbar vor ihnen. SEHR sichtbar. Detorix, der sich nur einen kurzen Überblick über die Vita ihres Spezialisten verschafft hatte, seufzte inwendig. Normalerweise musste er lediglich Artemis vor Schwierigkeiten bewahren, aber nun hatte er noch einen zweiten Unruhestifter unter seiner Aufsicht! Der regelmäßig und wiederholt unter Arrest gestellt wurde. Wegen fortgesetzter Notwehrmaßnahmen. Anders ausgedrückt: es machte den Eindruck, dass Chise häufig in Auseinandersetzungen verwickelt wurde, bei denen seine menschlichen Gegenüber schmerzhafte Korrekturen unangebrachter Auffassungen über ihre Mit-Lebewesen ernteten. Chise wirkte menschlich genug, durchaus. Zugegeben, die Augen...gut, die Krallen, richtig! Abgesehen davon... Abgesehen davon kleidete sich Chise wie ein Steampunk-Fan. Halbhohe Schnürstiefel, robuste Hosen mit hoher Taille, Hemd, Weste, Jacke mit kurzen Schößen, ein kompliziert gebundenes Schaltuch als Vorgänger der Krawatte, darüber ein Staubmantel. Ein Homburger topfte auf den rostbraunen Dreadlocks. Die Augen verschwanden hinter einer Sonnenbrille mit runden Gläsern. Ja, man konnte sie für Überbleibsel der Halloween-Partys am Vorabend halten. Wenn Chise dieses Auftreten in der Menschenwelt nicht grundsätzlich gepflegt hätte. Detorix ersparte sich Kritik. Niemand wusste, wie genau man Kreaturen aus fremden Dimensionen aufspüren sollte, wenn man nicht gerade über sie stolperte. Chise konnte Spuren lesen, fand mühelos unterirdische Ströme, ganz gleich, ob flüssig oder gasförmig. Eine merkwürdige Ausprägung der Eigenschaften seiner Vorfahren. ~~>* Detorix studierte kurz seine Karte. Die Daimonen-Käfer hatten in der Nacht zuvor nichts Bemerkenswertes finden können, aber sie wussten schließlich auch nicht, nach was GENAU sie Ausschau halten sollten. Es dämmerte und nieselte vor sich hin. Eine Theorie besagte, dass sich Bruchstellen so wie Blitze verhielten, man also nicht vorhersagen konnte, wo genau die Bruchlinien verlaufen würden. Kannte man die Bruchstellen zwischen Daimonen-Welt und Menschenwelt, bedeutete das noch nicht, präzise Bruchstellen zwischen der Menschenwelt und sonstigen Dimensionen vorhersagen zu können. Artemis wartete geduldig, schnüffelte unterdrückt. Automatisch griff Detorix nach einem Stofftaschentuch. "Hier. Nimm auch ein Bonbon." "Danke schön." Schnurrte Artemis, trompetete gedämpft und mümmelte gehorsam. Chise gluckste amüsiert, zwinkerte auf Detorix' giftigen Blick hin unbeeindruckt. "Das ist verflixt unbefriedigend." Stellte Detorix fest, stapfte in die nächste, größere Runde. War ein konzentrisches, systematisches Vorgehen vielleicht die falsche Herangehensweise? Zumindest wollte er sich nicht der Nachlässigkeit zeihen lassen! Leider, man konnte es nicht negieren, sah es ärgerlicherweise danach aus, als wäre ein Impuls aus SEINEM Revier gekommen, hätte die weltenweite Blockade ausgelöst! Chise wandte sich herum, schnupperte. Er spazierte los, die Arme leicht ausgebreitet, die Handflächen nach unten gerichtet, als könne er damit sondieren. Detorix nahm mit Artemis im Schlepptau die Verfolgung auf. ~~>* Es war nur ein kurzes Kopfschütteln, kaum merklich. Detorix begriff die Geste, drückte Artemis sein Mobiltelefon in die Hand. "Warte hier auf uns." Ordnete er an, sah sich prüfend um. Sie befanden sich gerade an einer der kleinen Hinterhof-/Stichgassen. Vorne, an der breiten Straße, prangte Leuchtreklame in den ungemütlichen Abenddunst. Er heftete sich an Chises Schnürstiefelfersen, der scheinbar ohne große Mühe in einen Hinterhof eindrang. Detorix seufzte, als er hinter Containern und Kisten neben Chise stehen blieb. "Fastfood." Stellte Chise fest, ging in die Hocke, blickte sich um. "Sie sind dem Geruch gefolgt. Etwa fünfzig Meter." Unterdessen lichtete Detorix die sechs ärmlichen Kreaturen ab. Sie mochten gerade mal einen Meter hoch sein, humanoid, spärlich mit Kittelhemden bekleidet. Nach menschlichen Maßstäben nicht sehr attraktiv im Äußeren. Waren sie intelligent gewesen? Wurden sie vermisst? Offenkundig hatten sie aus den kleinen Pappkartons und Fettpapier-Päckchen die unverkäufliche Restware gepult und verkostet. Leider ein fataler Fehlgriff. "Ist das Portal...oder was auch immer noch offen?" Erkundigte er sich bei Chise, der seiner unsichtbaren Fährte gefolgt war. "Nein. Es ist kalt dort. Wie ein Vakuum." Bemühte Chise sich um einen verständlichen Vergleich. Detorix schnaubte, stellte die breiten Schultern aus. "Warte bitte bei Artemis auf mich. Ich bringe es zu Ende." Damit niemand auf die Spuren der bemitleidenswerten Kreaturen stoßen konnte. ~~>* Nach diesem bedrückenden Ereignis verfasste Detorix einen Bericht, stopfte ihn in die Rohrpostanlage und setzte Eintopf auf. Für ihn Nervennahrung in schlechten Zeiten. Artemis, der ahnte, dass etwas nicht stimmte, kauerte im Schaukelstuhl, während Chise durch die Notizen blätterte, die Karte studierte. "Ich denke, es waren unterschiedliche Dimensionen." Bemerkte er schließlich. Detorix knurrte warnend, wusste jedoch, dass Chise sich davon nicht beeindrucken ließ. "Diese fliegende Riesen-Kreatur und die sechs Wesen, die wir gefunden haben." Chise tippte mit einer Kralle auf den Hinterhof einer Franchise-Fastfood-Kette. Artemis schniefte erschrocken. "Vermutlich Salz. Ja, das wäre wahrscheinlich. Wie bei Schnecken auch." Intervenierend reichte Detorix Artemis einen Keks, kraulte dessen weiße Mähne. "Diskretion wäre hilfreich." Lächelnd deutete Chise eine Verbeugung an. "Ganz schlechte Manieren, ja, ich weiß. Bitte um Nachsicht." "Sie sind tot? Sechs Wesen?" Piepte Artemis erschüttert. Automatisch kramte Detorix weitere Stofftaschentuchstapel hervor. "Das hier ist definitiv auf vielerlei Weise kein gesundheitsförderlicher Ort." Bemerkte Chise spöttisch. Das Erfinder-Einhorn schniefte, tupfte sich Augen und Nase ab. "Das heißt, dass sie nichts wussten, oder? Dass diese Bruchstellen nicht bekannt waren, richtig? Wie sind sie entstanden?" Mit einem schiefen Lächeln ließ sich Chise nieder, durchaus überrascht von dieser gefassten Reaktion. Seine strahlenden Augen fielen mit violettem Leuchten auf die Karte. "Wenn es nach dem Ende der Spur geht..." Detorix und Artemis warteten ungeduldig auf die Folgerung. Chise zupfte an seinen rostbraunen Dreadlocks. "Dann waren es keine Bruchstellen wie hier, also permanente Anomalien. Sondern eher temporäre Risse. Die wieder, nun, geflickt wurden, ausgeglichen quasi. Theoretisch müsste ein Ereignis einen Riss ausgelöst haben, der zeitweise diese Verschiebungen verursacht hat. Bis der ausgewogene Zustand wieder erreicht wurde." ~~>* Nach einem üppigen Abendessen aus Eintopf, Keksen und Pudding verordnete Detorix Artemis Bettruhe. Er selbst stellte zum Nachziehen fürs Frühstück einen Auflauf in den geothermischen Ofen, gesellte sich zu Chise. Der nippte an einer sämigen Trinkschokolade, leckte sich graziös den Kakaoschnurrbart ab. "Wirst du mit mir die gesamte Peripherie abgehen, um sicher zu sein, dass es keine Risse mehr gibt?" Erkundigte Detorix sich. Wenn die Theorie korrekt war, würden sich die Risse wieder geschlossen haben. Lediglich "Kälte" zurücklassen, die Chise erkennen konnte. Möglicherweise blieb ihnen die Ursache verborgen. "Wenn du nicht auf Spür-Hamster zurückgreifen möchtest?" Grinste Chise entspannt, zwinkerte. Detorix grummelte, denn Spür-Hamster durften in der Menschenwelt nicht eingesetzt werden. Leider! Außerdem bezweifelte er, dass sie auf fremde Kreaturen "geeicht" werden konnten. "Ich bezweifle, dass die sechs Pechvögel die Ursache waren. Ich will sicher gehen, dass ich nichts übersehen habe. Dass sich da draußen nicht irgendwas unabsichtlich oder mit Vorsatz herumtreibt. Wenn WIR uns hier nicht einmischen sollen, gibt es keinen Grund, warum ANDERE das dürfen sollen." Stellte er energisch fest. Zudem war ihm der aktuelle Zustand der Unkenntnis zu unordentlich, zu unhygienisch. Er mochte es gern aufgeräumt, logisch, konsequent. Chise lachte leise, sein gewohntes Großer-Gong-Nachhall-Lachen. "Ja, ich vermutete schon, dass du mit einfachen Antworten nicht zufrieden bist." ~~>* Chise kehrte am Morgen pünktlich zum Frühstück durch den Vorhang zurück. Offenkundig wollte er sich Detorix' kulinarische Köstlichkeiten nicht entgehen lassen. Artemis wirkte noch ein wenig geknickt, schien jedoch bereit, ihre Suche begleiten zu wollen. Chise vermutete, dass Detorix dem Erfinder-Einhorn auch zugesagt hatte, die fehlenden Ruby Gloom-Folgen vorführen zu wollen. Er trat in den Hof, um sich mit dem Strauchdaimon auszutauschen. Es schien, als sei jede Gefahr gebannt, läge nichts mehr in der Luft. Oder im Boden. Trotzdem musste man das Rätsel lösen, keine Frage. Wie weit reichte schließlich der eigene "Radar"? ~~>* "Hier?" Detorix zog eine Augenbraue hoch. Sie hatten vier "ehemalige" Risse identifiziert, glücklicherweise ohne Spuren von versehentlich verirrten Spazierenden aus fremden Dimensionen. Chise blickte sich um, ignorierte geübt die neugierigen Blicke. Seine Steampunk-Aufmachung wirkte wie ein Magnet. Zum Teil auch für dumme Kommentare. Was erklärte, warum Chise sich immer wieder unter "Arrest" befand. Detorix vermutete, dass Chise durchaus Auseinandersetzungen provozierte, indem er sich exponierte. Dass seine Gegenüber ordentlich "auf die Mütze" bekamen, wunderte ihn weniger. Schließlich hatte er ob der werten Erzeugenden seines Spuren-Lesenden eine gewisse Vermutung. Chise drehte sich langsam um die eigene Achse. "Wir müssen da hinein." Stellte er fest, die leuchtenden Mandelaugen in die entgegengesetzte Richtung gewandt. Hätte Detorix noch über "Dachbegrünung" verfügt, wären ihm wohl die Haare zu Berge gestanden. "Möchtest du mich schonend darauf vorbereiten, dass hier irgendwas heraus gekommen ist und durch die Stadt marschiert?" Erkundigte er sich gallig. Chise justierte die Sonnenbrille, um die Strahlkraft seiner Augen zu dämpfen. "Es wäre gut, wenn Artemis hier aufpasst." Wich er einer direkten Antwort aus, steuerte das Gebäude an. Detorix schnaubte hörbar, warf Artemis einen prüfenden Blick zu. Das Erfinder-Einhorn, in der eigenen "Tarn-Uniform" für menschliche Blicke unsichtbar, nickte eifrig, fühlte sich als wichtiger Bestandteil ihrer Expedition. Grummelnd stapfte Detorix durch die Sicherheitsschranken. ~~>* "Natürlich." Grollte er im ersten Stock, starrte finster auf eine unscheinbare Wand zwischen hohen Regalen. Selbstverständlich musste sich ein Portal zwischen der Menschenwelt und einer Was-auch-immer-Dimension in einer LEIHBÜCHEREI befinden! Klar, wo sonst kulminierten sich die verrücktesten Ideen auf einem Haufen?! Gut, Antiquariate waren in früheren Zeiten heiße Tipps gewesen, aber der Moderne zum Opfer gefallen. Chise ging in die Hocke, durch Detorix im schmalen Gang zwischen den Regalen abgeschirmt. "Kalt." Stellte er fest, schauderte. "Klinisch rein. Leer." Die Worte schien er eher zu sich selbst zu sprechen. Vorsichtig ließ er eine Handfläche vom Industrieteppichboden nach oben entlang der Wand wandern, umklammerte mit der anderen Hand etwas, das Detorix nicht erkennen konnte. Er richtete sich auf, die Miene sorgenvoll. "Das ist nicht gut..." Begann er, als ein erschrockener Aufschrei sogar in die Heiligen Hallen der Leihbücherei drang. ~~>* Artemis schniefte, verschreckt, untröstlich und in eine Decke gewickelt. Detorix reichte ihm zur seelischen Stärkung Kakao, in dem aufgelöste Marshmallows sich eng an eng schmiegten. »Widerlich!« Kommentierte sein Geschmackssinn unzensiert. Detorix ignorierte die eigene Empfindlichkeit. Erst musste das Erfinder-Einhorn ausreichend beruhigt werden, um sachdienliche Hinweise in Erfahrung zu bringen. Die widerwärtigen Marshmallows wurden nur für solche Notfälle in seinem Vorrat geduldet. Chise entpuppte sich zu Hemd und Hosen, nahm Artemis gegenüber Platz. Erstaunlicherweise kam von ihm kein Vorwurf, dass er, statt die Verfolgung aufzunehmen, die Menge um Artemis zerstreut hatte. Indem er vorgab, sie kämen gerade von einem Cosplay und selbstredend sei das komplette Einhorn bloß ein Show-Effekt! Detorix in seiner eher unauffälligen Aufmachung (bis auf den Bowler) musste sich als Dr. Watson titulieren lassen (ohne Schnurrbart), was ihm SEHR gegen den Strich ging. Die säuerliche Miene "verkleidete" ihn jedoch ausreichend, um Kritik im Keim zu ersticken. "Wieso denkst du, dass es kein Mensch war?" Detorix reichte Kekse an, warf ein altmodisches Aufzeichnungsgerät an. Sich trötend die Nase freimachend nippte Artemis an seinem Becher, bevor er anmutig die Glieder entfaltete. "Ich schätze, weil er versucht hat, mich zu hypnotisieren." ~~>* Die fremde Gestalt war nach Artemis' Einschätzung etwa so groß wie Chise, hatte einen Plastik-Überzug getragen, wie man ihn bei Festivals als (lächerlichen) Regenschutz bekam. Ein spitzes Gesicht, sehr blass, dunkle Augen unter zarten Augenbrauen, jung wirkend. Eine Person, die nicht bemerkt hatte, dass Menschen Artemis in seiner Tarn-Aufmachung nicht sehen konnten. Eine Person, die ihm befahl, ihn über Nacht mit nach Hause zu nehmen und zu vergessen, dass es sie gab. Als er nach dem Plastik-Überzug griff, war sie erschrocken, hatte ihn abzuwehren versucht. Im Handgemenge, während Artemis dafür plädierte, sich zu beruhigen, weil man helfen wolle, war seine Tarnung aufgeflogen. Und wie das so ist, bei Einhörnern, gleich in welchen Welten... Detorix tröstete Artemis, der mal wieder den Stofftaschentuchstapel reduzierte. Ja, hätte er getan, was diese seltsame Gestalt ihm aufgetragen hätte... "Das ist kein Problem." Bemerkte Chise, der schweigend gelauscht hatte, tippte mit einer Kralle auf die Karte. "Er wird wiederkommen. Weil er es nicht weiß." Zwei Augenpaare folgten ihm, als er sich erhob, streckte und reckte. "Pardon?" Hakte Detorix misstrauisch nach. Chise zwinkerte gut gelaunt. "Na, Artemis' Freund. Er muss wiederkommen, weil er nach Hause möchte. Und ich bin mir sicher, dass er diese Welt hier gar nicht so gut kennt, wie er meint." "Aha?" Detorix lupfte eine Augenbraue. "Wir können ihm morgen eine Falle stellen." Plante Chise aufgeräumt, löste ein Band aus seinen rostbraunen Dreadlocks. ~~>* "Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir." Bemerkte Chise, während er sich gegen den Nieselregen wappnete. Artemis, der das Backsteinhäuschen "hüten" sollte, zog die Nase kraus. "Ich hätte nicht gedacht, dass es so unterhaltsam ist. Und so kontrovers." Detorix justierte seinen Bowler. "Wir werden uns in kein Lager schlagen, also sollten keine literarischen Kämpfe ausbrechen." Bemerkte er säuerlich. Sein rasch aufgefrischtes Wissen brachte ihm Lektüre in Erinnerung, die er als überzogen-aufgedreht eher enervierend fand. Möglicherweise konnte man sich auf Ruby Gloom einigen, um SEINE Nerven zu schonen?! Er konsultierte seine Taschenuhr. "Wir sollten uns auf den Weg machen." Wenn Chise richtig lag, müsste sich ihr flüchtiger Schützling gerade an seine waghalsige Rückkehr begeben. ~~>* Sonntags war die Leihbücherei geschlossen. Niemand da, den man hypnotisieren konnte. Der dritte Tag. Die passende Uhrzeit. Das "Fenster". Detorix stand im Schatten eines Gebäudeüberhangs und wartete. Wenn man WUSSTE, was man suchte, stellte sich das als schon sehr viel leichter heraus. Er konnte eine schmale Gestalt ausmachen, die verstohlen zum Eingang huschte. In den Sicherheitsschranken unruhig hopste. Doch die Glastüren öffneten sich (selbstverständlich) nicht. Hände hoben sich, legten sich zögerlich auf das Glas. Auf die Markierungen, die Kollisionen vermeiden sollten. "Bedauerlicherweise ist sonntags aus der eigenen Vorstellungswelt Vergnügen zu ziehen." Bemerkte er entschieden, stellte sich in den Fluchtweg. Die schmale Gestalt, die mit Artemis ein Handgemenge ausgetragen hatte, wirbelte herum. Im Zwielicht der Straßenbeleuchtung konnte Detorix erkennen, dass Chises Mutmaßungen zutrafen. "Warum begleitest du mich nicht und wir unterhalten uns über unterschiedliche Welten, hm?" Schlug Detorix vor. Man optionierte für die Flucht. Detorix schleuderte Glitzer-Pulver aus seinem Reservoir auf die fliehende Gestalt. So konnte man sie mühelos ausmachen und verfolgen. Er setzte sich in einen gemäßigten Trab. Der Fliehende hetzte hektisch weiter, zögerte, den abgeschrankten Parkplatz zwischen Hochhäusern und Einkaufsmärkten zu überqueren. Dort wartete Chise, schob die Sonnenbrille auf seinen Homburger. Seine Augen leuchteten wie violette Scheinwerfer. Verstört kreiselte der Fremdling, schoss dann auf die Ausfahrt zu. Chise nahm die Verfolgung auf, leichtfüßig und blitzschnell. Detorix entschied, dass er besser seine "Netzkanone" zum Einsatz brachte. Er mochte keine Dauerläufe. Alles lief wie vorgesehen ab. Bis auf den Leihwagen, der im hohen Tempo die Ausfahrt passierte. ~~>* "Chise!" Hörte Detorix sich schreien, beschleunigte, die Netzkanone vergessend. Der Spurenlesende musste sich im letzten Moment wie ein Geschoss in die Fluchtrichtung des Fahrzeugs katapultiert haben, um ihren Welten-Touristen aus der Gefahrenzone zu befördern. Tatsächlich rappelte man sich auf. Die Insassen des Leihwagens, der einen deutlichen Eindruck von Chises Aufprall erlitten hatte, bremsten hörbar. Und beschleunigten heftig. Detorix erreichte Chise, griff in seinen Werkzeuggürtel und feuerte ein Signal ab. "Großer M!" Wisperte er erschüttert, suchte nach Atemzügen, wusste nicht, wo er anfassen sollte. Der Fremde taumelte, tapste auf ihn zu. "...das wollte ich um keinen Preis..." Formulierte eine heisere Stimme in altmodischer Diktion mit einem unerklärlichen Akzent. Detorix schälte sich aus seinem Seebärenkurzmantel, deckte Chise zu, blickte sich eilig um. Zu seiner Erleichterung hörte er das Sausen schwerer Schwingen. "Lauf nicht mehr weg. Wir wollen dir helfen, verflixt!" Donnerte Detorix aufgewühlt, schüttelte eilig Leucht-Käfer aus einem Behälter seines Werkzeuggürtels. Sie illuminierten die Unfallstelle, damit aus der Daimonen-Welt Hilfe kommen konnte. ~~>* Der Einsatz der Netzkanone wurde nicht benötigt. Nachdem eine gewaltige Harpyie ein Transporttrapez mit Chise angehoben hatte, sauste sie durch das Notfallportal in die Daimonen-Welt, begleitet von zwei Daimonen-Medis. Die Torwachen, die herbeigeeilt waren, überzeugten sich davon, dass Szenarize Detorix die Situation im Griff hatte. Vor allem ein mageres Handgelenk, an dem er den Fremdwelt-Gestrandeten strammen Schritts zum Backsteinhäuschen führte. Man stolperte neben ihm her, das Haupt gesenkt, möglicherweise auch dem einsetzenden Regen geschuldet. Artemis, der sie besorgt neben dem Strauchdaimon erwartet hatte, erkannte den Flüchtigen. "Oh! Aber...wo ist Chise?" Traf das Erfinder-Einhorn sofort den Nerv. Detorix verriegelte demonstrativ die Tür, schälte sich aus seinem Seebärenkurzmantel und topfte den Bowler auf die Garderobe. Den Werkzeuggürtel legte er auf die Fenstertruhe. "Artemis, ich verlasse mich darauf, dass du unseren Gast beaufsichtigst. Ich muss Einiges klären." Hastig seinen Borsalino greifend marschierte Detorix durch den Vorhang. ~~>* Nach einem kurzen Abstecher ins Medi-Zentrum suchte Detorix schicksalsergeben und pflichtbewusst die Vorstehende des Friedensgerichts auf. Keine Frage, ein Notfallportal zur Menschenwelt, eine herein rauschende Harpyie: sein letztes "Abenteuer" sicherte ihm alle Aufmerksamkeit! Thekla Anuphobis wirkte keineswegs erfreut von der jüngsten Entwicklung. Eilige Rauchwölkchen schwebten über ihrem Haupt, während der Gerichts-Typse artig auf das Zeichen wartete, Protokolle zu hämmern. "Korrigiere mich bitte, wenn ich falsch liege: üblicherweise pflegt Chise vor einem Arrest in besserem Zustand zurückzukehren." Der gallige Ton veranlasste Detorix, die Schultern breiter auszustellen. Tatsächlich deutete nichts darauf hin, dass Chise bisherige Auseinandersetzungen lädiert beendet hatte. "Das war ein Unfall." "Und du kannst alles erklären, selbstredend. Was ich DRINGEND empfehle." Nun wurde sie richtiggehend giftig! Detorix straffte seine Haltung, funkelte entschlossen zurück. Plattitüden zu kritisieren war eine Sache, SEIN Arbeitsethos in Frage zu stellen, EINE GANZ ANDERE Angelegenheit! "Ich kann einen Teil erklären. Für andere Aspekte benötigen wir Chises Gespür für Spuren." Antwortete er beherrscht. Plötzlich fegte die Vorstehende des Friedensgerichts herum. "Moment mal! Hast du dieses ALIEN etwa beim Einhorn gelassen?!" ~~>* Es war mehr Zeit verstrichen als Detorix erwartet hatte. Artemis saß auf der Sitzbank, blätterte durch spinnwebfeine Seiten. Erfreut richtete er seinen pinkfarbenen Blick auf Detorix. "Da bist du ja wieder!" Wisperte er, gestikulierte zum Schaukelstuhl. Dort, in eine Decke gewickelt, schlief augenscheinlich der Welten-Reisende. Detorix schnaubte müde. "Es geht Chise schon besser." Flüsterte Artemis hoffnungsvoll, dirigierte Detorix zur Fensterfläche in den Hof. "Hat unser Gast dir Schwierigkeiten gemacht?" Erkundigte sich Detorix, der sehr viel mehr Vertrauen in Artemis hatte als die Vorstehende des Friedensgerichts. Schließlich konnte NIEMAND (außer ihm) Artemis' waidwunden Kätzchen-Welpen-Seehundbaby-Blick widerstehen! "Gar nicht. Sein Name lautet Vidale. Weil er vollkommen durchnässt war, habe ich erst mal seine Kleider zum Dampftrocknen einkassiert und ihm unsere Dusche erklärt." Artemis zog auf niedlich-sexy Art die perfekte Nase kraus. "Ein bisschen knifflig wurde es beim Essen. Ich habe ihm eine ganze Dose Sauerkraut warm gemacht. Ich hoffe, du bist nicht böse? Es scheint das Einzige zu sein, das er verträgt." Mit hochgezogenen Augenbrauen versicherte Detorix, dass er eine Dose Sauerkraut (leider gab es keine frische Abfüllung in Vorratsgläser mehr im Umkreis) durchaus verschmerzen könnte. "Er versteht also Menschensprache? Ich meine, die Version hier?" Artemis nickte eifrig, zögerte mit weiteren Mitteilungen. Ermattet nach einem sehr ereignisreichen und nicht durchweg erbaulichen Tag seufzte Detorix vernehmlich. "Bitte, Artemis, vertraue mir auch die schlechten Nachrichten an." Sein ironischer Ton verfing wie gewohnt nicht beim Erfinder-Einhorn. "Also, schlechte Nachrichten...es ist nicht gerade schlecht, möchte ich meinen. Eher verwunderlich. Zumindest ein wenig. Das liegt allerdings auch in der eigenen Perspektive, nicht wahr? Mich persönlich inkommodiert es ja gar nicht..." Detorix klemmte Artemis' perfekte Nasenspitze zwischen seinen Fingerkuppen ein. "Geschätzter Freund, die Einzelheiten in einfacher Sprache. Für mich." Dabei funkelte er besonders grimmig in die pinkfarbenen Augen, bevor er die Nasenspitze aus seinem Griff entließ. Artemis schniefte gekränkt, ließ sich durch das Kraulen seiner weißen Mähne versöhnen. "Ich erwähnte die Dusche, nicht wahr? Also, ich vermute, Vidale ist so ein bisschen wie die Ex-Engel. In der Daimonen-Welt. Nicht direkt ein ER. Oder eine Sie. Oder Varianten." "Aha." Quittierte Detorix diese Offenbarung. Möglicherweise gäbe es sprachliche Ungenauigkeiten, doch darüber hinaus kümmerten ihn derlei Erscheinungsbilder recht wenig. Ausgenommen, in seiner Gegenwart kam es zu reproduktiven Aktionen, was er GAR NICHT goutierte! Artemis, der erleichtert die erste Hürde genommen hatte, wagte ein zögerliches Lächeln. "Da gibt es noch etwas." Setzte das Erfinder-Einhorn behutsam an, hoffte auf eine ebenso milde Reaktion. Detorix fahndete in seiner Hosentasche nach einem kräftigenden Pfefferminz-Bonbon, musste jedoch eine besorgniserregende Ebbe registrieren. Großer M, wie sollte er nun seine Nerven stärken?! Da Artemis die Situation richtig deutete, gestikulierte das Einhorn Detorix, ihm zu folgen, um am Herd/Ofen eine Tasse Tee und einige Kekse zu bekommen. Sogar ein Auflauf a la Medusa war gerichtet worden, was Detorix überraschte. Das Einhorn bewies Qualitäten, die er gar nicht hoch genug schätzen konnte! "Du erinnerst dich sicher an das Plakat? Ich dachte mir, ich informiere mich ein wenig, weißt du? Jane-iten, die Epoche, die Erzählungen. Über die Aero-Flott konnte ich bei der Collectio Einiges ausleihen." Detorix zerkaute besorgt einen Keks. Wenn das Erfinder-Einhorn sich mit der gewohnten Begeisterungsfähigkeit und allem Enthusiasmus, der synaptisch möglich war, in eine Sache stürzte, musste man die Ohren anklappen! Sicherheitshalber auch alle anderen Extremitäten. Man konnte nicht anführen, dass Artemis nachlässig war, wenn er sich interessierte! Fans und Nerds konnten von ihm lernen! "Ich wollte Vidale ein wenig aufmuntern, weil er..." Artemis zögerte, überlegte. Die deutsche Sprache war diesbezüglich nicht sonderlich hilfreich, wenn ER oder SIE aus optischen Gründen ausfielen, ES aber als nachgeordnet eingestufte Lebewesen oder Gegenstände umfasste. "Weil Vidale...?" Half Detorix aus, der die Fettnäpfchen-Vermeidungstaktik identifizierte. "Weil Vidale so hungrig war, aber wir keine Idee hatten, was Vidale vertragen könnte. Deshalb haben wir ein wenig gesprochen, über die Veranstaltung und die Romane." Detorix wartete geduldig auf das "dicke Ende". Artemis schenkte ihm einen belämmerten Blick. "Ich habe die Tafeln mit der Übersetzung liegen gelassen. Original und Daimonisch. Ich fürchte, Vidale ist ZIEMLICH sprachbegabt. Polyglott, mehr oder weniger." Als Reaktion seufzte Detorix. Natürlich, zu allem Ungemach hatten sie auch noch gegen eine strenge Auflage vom Großen M verstoßen! ~~>* Detorix ließ Vidale in Gesellschaft einer prächtigen Lampe mit Daimonen-Käfern als Bewohnende im Schaukelstuhl ruhen. Wenn der bloße Verzehr einer Menge Sauerkraut ein Schlafkoma auslöste, sah er sich nicht zu drastischen Sicherungsmaßnahmen genötigt. Nach leidlicher Nachtruhe erhob er sich, um die Dampfreinigung und eine Dusche zu absolvieren. Das belebte die matten Geister! Anschließend begutachtete er die Kleidungsstücke. "Du liebe Zeit." Murmelte er. In dieser durchaus aufsehenerregenden Aufmachung konnte Vidale nicht in der menschlichen Öffentlichkeit auftreten! Zudem rief er sich andere Parallelen zwischen Ex-Engeln und ihrem sonderbaren Gast in Erinnerung. »Das kann ja heiter werden.« Keineswegs sonnigen Gemüts begab Detorix sich ins Erdgeschoss, sortierte die rapide wachsende Sammlung an Erkenntnissen über das ungewöhnliche Ereignis und die offenkundig einzige überlebende Person beiseite. Vidale schreckte erst hoch, als Artemis fröhlich summend den Tisch für das Frühstück deckte. Aus Erfahrung wusste das Erfinder-Einhorn, dass für Detorix ein Tag ohne ordnungsgemäße Mahlzeit nach dem Aufstehen schon im Ansatz verleidet war! "Guten Morgen! Ich bitte um Verzeihung für mein Erscheinungsbild!" Wisperte Vidale heiser und entfaltete sich aus dem Schaukelstuhl. Sein Daimonisch klang so wie eine Variante des englischen Originals aus dem sehr frühen 19. Jahrhundert. Exakt den Tafeln der bilingualen Übersetzung entsprechend. »Wenigstens verbeugt er sich nicht. Oder knickst.« Dachte Detorix zynisch, der dringend eines Kaffees bedurfte. "Ich begleite dich ins Badezimmer, ja? Da kannst du dich frisch machen. Vielleicht auch umziehen?" Gewohnt freundlich sprang Artemis ein, strahlte aufmunternd in die großen, schwarzen Augen in einem blassen, spitzen Gesicht. "Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr verbunden." Nun verneigte sich Vidale doch leicht, was in dem schlammfarbenen Jogginganzug aus Artemis' Bestand äußerst seltsam anmutete. Artemis tänzelte anmutig die Treppe hinauf, gefolgt von einem steif staksenden, etwas wacklig wirkenden Vidale. Detorix seufzte, kramte sein Notizbuch heraus. Für die klapperdürre Gestalt mussten andere Kleider her! ~~>* Chise schmunzelte, als Detorix ihm grimmig die letzten Entwicklungen mitteilte. Dank Artemis' mitfühlendem Wesen wussten sie in DAIMONISCH (!), dass Vidale tatsächlich durch einen sich alle drei Tage offenbarenden Spalt in der Leihbücherei an der plakatierten Veranstaltung teilgenommen hatte. Jane Austens Werke, ihr Humor, ihr Einfluss auf eine neue Literaturgattung, Strömungen im Regency, ihr beständiger Ruhm und Epigonen durch die folgenden Jahrhunderte. Was vornehme Lackschuhe, bestickte Strümpfe mit Halteband, Kniehosen, Hemd, Weste, Frack mit gestärkten Schößen, Hemdkragen und kompliziert gebundenes Halstuch sowie die Windstoß-Frisur und diversen Rüschenbesatz erklärten. "Korinther", auch wenn Vidale die Gestalt eines Zahnstochers aufwies, wie Detorix grollend konstatierte. Lediglich die Zusammensetzung auf stofflicher Ebene stellte sie vor Rätsel. Die hinter anderen wesentlichen Erkenntnissen zurückstehen mussten. Offenbar war ihr seltsamer Besuch regelmäßig in die Leihbücherei entwischt, immer nur für sehr kurze Zeit, hatte dort erst Bilderbücher, dann andere für sich entdeckt. Bis Jane Austen und ihre Werke in Vidales Leben traten! Welche Erleuchtung! Welche Parallelität! Selbstverständlich kannte er die Originale auswendig, verschlang alles, was auch nur ansatzweise im Zusammenhang stand. Nun, am Halloween-Donnerstag, bot sich die Möglichkeit, andere JANE-ITEN zu treffen! Tollkühn, ein solches Abenteuer! Herausgeputzt ("dashing" hätte sich ein vornehmer Korinther wohl verbeten) nahm Vidale teil, konnte der Leidenschaft frönen, ohne dekuvriert zu werden! "Und dann schien es eine Art Alarm gegeben zu haben, fast am Ende der Veranstaltung. Alle mussten das Gebäude verlassen." Detorix verzog die Miene. "Unser seltsamer Gast aus einer noch seltsameren Welt reagierte so, wie das wohl jenseits der Leihbücherei-Wand üblich ist: eine Erscheinung ansprechen und höflich, aber bestimmt eine Dienstleistung verlangen." Chise, der amüsiert gelauscht hatte und offenbar nicht sonderlich unter einem gebrochenen Oberschenkelknochen litt, setzte sich auf. "Das klingt tatsächlich ein wenig seltsam." Bestätigte er. Detorix schnaubte. "Oh, es kommt noch besser, und ich freue mich jetzt schon darauf, der Vorstehenden des Friedensgerichts diese Entwicklung zu erläutern!" Chise spitzte die tatsächlich spitz zulaufenden Ohren zwischen den rostbraunen Dreadlocks. "DIR wird es vielleicht zusagen, abgesehen vom Mangel an Dampf!" Knurrte Detorix grollend und gönnte sich ein Pfefferminz-Bonbon, als überlebensnotwendigen Bedarf in der Manufaktur abgeholt. Der Spurenlesende nahm diese ironische Anspielung sportlich, denn Chise erkannte, dass Detorix tatsächlich erschüttert vom Resultat ihres Plans war. Unterdessen kramte Detorix in seiner Tasche, blätterte Papier auf. "Ich habe mal was vorbereitet..." ~~>* Detorix' Lektionen zu Bürokratisch (und zur Vermeidung von Hopplas) hatten Wirkung gezeigt: Artemis ließ die Unterhaltung mit Vidale aufzeichnen. Man musste sich zugegeben durch eine SEHR elaborierte Vorlesung eines Jane-Iten (und gegen die Vorhaltungen von Bronte-Fans) fräsen, doch in den Passagen dazwischen gab es EINIGES zu erfahren. Das mitfühlende Wesen des Erfinder-Einhorns, Enthusiasmus und das Kurz-Studium tauten den merkwürdigen Fremdwelt-Gestrandeten merklich auf. Chise lauschte konzentriert, etwas blass um die Nase, die Stirn gerunzelt, studierte die Skizzen. Detorix zögerte, denn abgesehen von der Oberschenkelknochenfraktur wurde bei Chise auch eine Gehirnerschütterung angenommen. Er sollte ihn nicht überanstrengen. "Mittwoch." Bemerkte er leise, den violetten Leuchtstrahl seiner Mandelaugen ins Ungefähre gerichtet. "Du glaubst, dass sich der Riss wieder öffnet?" Schöpfte Detorix vorsichtig Hoffnung. Chise seufzte, schloss die Augen. ~~>* Manchmal musste man sich ein Ventil verschaffen, quasi selbständig für einen Ausgleich in der Waagschale des Daseins sorgen. Detorix, der sich äußerst angesäuert fühlte, nach einer weiteren Vorladung beim Friedensgericht ohnehin schlechter Laune war, konsultierte seine daimonischen Mitarbeitenden. Jemand sollte "auf die Mütze" kriegen! Regeln hin oder her, er zweifelte nicht daran, dass der Große M Verständnis zeigen würde. Deshalb zögerte er nicht, eine Anzeige in die Programme der Strafverfolgungsbehörden einzuspeisen, damit IRGENDWER erhebliche Schwierigkeiten dabei bekam, einen merklich zerbeulten, hochpreisigen Leihwagen zu erklären! ~~>* Detorix überreichte Vidale ein in Tuch eingeschlagenes Paket und bat ihn, sich im Badezimmer umzukleiden. Artemis' Jogginganzüge (von den geliebten Arbeitsoveralls abgesehen) schlabberten förmlich um die magere Gestalt herum, mussten aufgewickelt und eingegürtet werden. Das Erfinder-Einhorn wirkte bekümmert, was Detorix veranlasste, schon automatisch den weißen Schopf zu kraulen. "Was ist denn passiert?" Erkundigte er sich beherrscht. Artemis schniefte leicht. "Ach, weißt du...ich wollte Vidale ein bisschen aufheitern." Eine gelupfte Augenbraue genügte, weitere Einlassungen zu fordern. Seufzend schickte Artemis sich drein. "Vidale hat mir ja erzählt, dass er in seiner Dimension nur die CDs zum Abspielen gebracht hat. Oder dieses...nun, System, das für ihn sorgt. Ich dachte mir, es würde ihn erfreuen, mal einen Film zu sehen." Deshalb hatte Artemis fürsorglich im Büro mit Verbindung zu den Segnungen/Flüchen der Menschenwelt einen älteren Spielfilm gestreamt, der zu "Stolz und Vorurteil" einen Beitrag leistete. Zunächst musste er dem verblüfften Vidale erklären, dass dort tatsächlich "richtige" Menschen agierten, keine Avatare. Offenbar kommunizierte er in Gedanken in seiner Welt mit "Wiedergaben" von Intelligenzen? Systemen? Programmen? So ganz sicher waren sie sich darin nicht. Vidale hingegen schien nicht erklären zu können, WIE seine "Systemumgebung" funktionierte. Sie tat es, mit wöchentlichem "Wartungsprogramm" zuverlässig. Beinahe zumindest. In der "Sphäre", in der Vidale sich aufhielt, gab es nur diese "Verkörperungen/Erscheinungen". Chises Einschätzung bezüglich des Grads seiner "Erkenntnis" im Unterschied zu seinem "Wissen" über die Menschenwelt erwies sich als korrekt. Vidale hatte seit dem Donnerstag gestaunt, wie Menschen (und auch Daimonen) tatsächlich lebten. Es verwirrte ihn durchaus. Diese Personen waren...ECHT! Physikalisch leibhaftig, greifbar, gegenständlich! Nun, im Film selbstredend nur zeit- und örtlich versetzt. Diese verstörende Erfahrung wurde jedoch SOFORT und anhaltend überschrieben von großer Bestürzung über die FREIHEITEN, die sich die Adaption nahm! Artemis, der in Blitzgeschwindigkeit das Original gelesen hatte, verlegte sich bald darauf, Vidale zu beruhigen, auf technische Notwendigkeiten hinzuweisen, künstlerische Freiheit zu erklären und schließlich die Gesamtwirkung zu entschuldigen. "Ich glaube ja auch, dass es der Tiefe des Originals nicht gerecht wurde." Gab Artemis zu, knabberte an einem Trost-Keks, den Detorix ihm aufgenötigt hatte. "Wirklich, hätte ich vermutet, dass es Vidale so sehr trifft...!" Unglücklich kauerte er auf der Sitzbank in sich zusammen, senkte das Haupt mit dem bemerkenswerten Einhorn betrübt. "Ich bin nicht sicher, ob Ruby Gloom nicht ähnliche Empfindungen ausgelöst hätte." Detorix kraulte beruhigend die weiße Mähne. "Ich erinnere mich grob, etwas über 'Buchgelehrtheit' im Kontrast zu 'Vernunft' gelesen zu haben." Grummelte er, auf verschiedene Geisteshaltungen in der Regency-Zeit anspielend. Man konnte nicht erwarten, dass durch freie "Übersetzung" von Texten und Hörspielen ein Wesen einer offenbar so sehr anderen Lebenskultur all die "Begleitmusik" durchdrang, die für Menschen in ihrem Alltag selbstverständlich und darum nicht erwähnenswert war! Unseligerweise ahnte er, dass ER sich darüber erhebliche Gedanken würde machen müssen. Da brauchte er sich nicht mal an Chises Mienenspiel zu erinnern! ~~>* Vidale blickte sehr bleich mit großen, dunklen Augen an sich herab. "Was trägst du denn zu Hause gern?" Bemühte Artemis sich freundlich um weitere sachdienliche Hinweise. "Einen Anzug für den gesamten Körper." Antwortete Vidale zögerlich, blickte zum Skizzenblock. "Möchtest du vielleicht ein Abbild sehen?" Bot er leise an, sprach Daimonisch ohne die altmodische Variante der ersten "Übersetzung", die er gelesen hatte. Es WAR ungewohnt, nicht direkt über die Gedanken zu kommunizieren, sondern Geräusche zu benötigen, Gesten, Verkörperungen wie Zeichnungen! Obwohl es Vidale durchaus mit Stolz erfüllte, dass die "Fertigkeiten", die man als "kultiviert ausgebildete Person" beherrschen sollte, zumindest bezüglich seiner Skizzen mit großem Lob bedacht wurden! Zugegeben, Geschick als "Nonesuch/Nonpareil" im Viererzug (mit Pferden) konnte er nicht beweisen, auch nicht die Parforce-Jagd oder Klavier-/Harfenspiel. Bezüglich der Pferde hielt sich Vidales Kummer jedoch in Grenzen, nachdem er im FILM gesehen hatte, wie man mit einer echten Kutsche (wie ungemütlich!) die armen Lebewesen traktiert hatte. SO hatte er sich das nicht vorgestellt. Oder dass es durchaus einen Unterschied gab, was zu tun erlaubt war, da er sich nicht Mann oder Frau zurechnete! Rasch warf Vidale mit einem Bleistift auf das Papier eine Darstellung seines üblichen Anzugs. Hätte sich die Möglichkeit bei der Veranstaltung geboten, wäre es auch ein Einfaches gewesen, jeden Tanz zu absolvieren! Andererseits hatte die Musik (gebundene Geräusche von Instrumenten) im Film auf ihn ganz und gar nicht lieblich gewirkt. "Oh, ich verstehe! So eine Art Weltraumanzug mit vielen Funktionen!" Kommentierte Artemis, lächelte aufmunternd. "Weißt du, hier drinnen genügt leichte Bekleidung." Damit deutete er auf die schlichte Hose und das lose Hemd aus Pflanzenfasern. Komplettiert wurde die Ausstattung aus der Daimonen-Welt mit Sabots. Eine leichte Tönung Richtung Terrakotta ließ Vidale noch blasser, die in "Windstoß"-Frisur gezupften Haare noch dunkler wirken. Für einen Regency-Gentleman hätte er eine sehr attraktive Erscheinung geboten. Vidale lächelte vorsichtig, bleckte kleine, spitz zulaufende Zähne. "Ich verstehe. Vielen Dank." Die Menschenwelt hatte ihn nach seinem erzwungenen Unterschlupf in einer Studierenden-Wohngemeinschaft (dank Hypnose) gelehrt, dass die vagen Ideen, die er sich über die Gegenwart gemacht hatte, nicht im Mindesten an die Realität heranreichten. "Detorix wird sicher auch Bekleidung mitbringen, die du draußen, ich meine, bei den Menschen, tragen kannst." Versicherte Artemis mitfühlend, den Vidales Verlorenheit bekümmerte. Unterdessen faltete sich Vidale im Schaukelstuhl zusammen. "Ich wollte nicht, dass..." Zögernd sortierte er sich, heftete seinen Blick auf Artemis. "Ich nahm an, dass es Sicherheitssysteme gibt. Dass es nicht so viele physische Angelegenheiten zu bedenken gibt. Ich dachte, es wäre ein Abenteuer. Sich mit anderen richtig zu unterhalten. Geräusche dafür zu erzeugen, meine ich." Bekümmert schwieg Vidale. Wie hatte dieses verlockende Abenteuer nur auf so erschreckende Weise schiefgehen können? ~~>* Detorix widmete sich mit grimmigem Elan der Aufgabe, lose Enden zu verknüpfen. Das gestaltete sich zu seinem Leidwesen als deutlich umfangreicher als vermutet. Zunächst vergewisserte er sich persönlich, dass die Mitglieder der Wohngemeinschaft, bei der sich Vidale einquartiert hatte, wirklich keinerlei Erinnerungen an einen Besuch hatten. Unseligerweise musste er allen vier dazu auf dem Campus auflauern, getrennt voneinander! Nach der halsbrecherischen Flucht am Samstag hatte Vidale zudem einen anderen Unterschlupf gefunden, bei einem Mann mittlerer Jahre, alleinstehend und begeisterter Fußball-Fan. Unerfreulicherweise kombiniert mit exzessivem "Genuss" der Fernübertragung. Wozu latzte man auch so viele Kröten, wenn nicht für das volle Paket?! Vidale hatte die Dauerberieselung zwecks Gesundheitsgefährdung durch explosive Blutdruckwerte nicht geteilt, sondern sich im Schlafzimmer verkrochen, wo er vor Erschöpfung eingeschlafen war. Trotz der Furcht, nicht mehr den Weg zu dem Gebäude zu finden, in welchem sich der SPALT befand! Immerhin konnte er sich nicht an einen studierenden Menschen "hängen", der diesen Weg einschlug. Das Subjekt zu finden, gestaltete sich für Detorix trotz der Unterstützung seiner Daimonen-Käfer als recht schwierig. Man fuhr zur Arbeit per Pkw, die Spur verlor sich entsprechend. Eine Verwünschung unterdrückend wandte sich Detorix also der Aufgabe zu, für den mageren Vidale weniger auffällige Bekleidung zu erwerben. Noch eine Komplikation, die ihm missfiel, da auch die Lackschuhe ersetzt werden mussten. Nichts ging über Anproben! So musste er sich auf Maße, Vermutungen, das eigene Urteil und Glück verlassen. Bepackt mit Bekleidung für eine Exkursion in die novemberliche Unfreundlichkeit der Witterung gelang es endlich auch, des abgängigen Fußball-Fanatikers habhaft zu werden. Sicherheitshalber sorgte Detorix mit dem Friedensstifter für entsprechende Gedächtnislücken. Die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten würden es ihm zweifelsohne danken! Mit knurrendem Magen, nur leidlich zufriedengestellt kehrte er in das Backsteinhäuschen zurück. ~~>* "Ich räume gleich Platz frei!" Versprach Artemis, der den großen Tisch mit Papierbögen, Notizen und Omniskop recht umfangreich in Beschlag genommen hatte. Detorix entpuppte sich, schnupperte und registrierte die merkliche Abwesenheit des Fremdwelt-Touristen. "Vidale schläft oben im Bürostuhl." Erläuterte das Erfinder-Einhorn, servierte aufmerksam Eintopf. "Im Büro?" Eine Augenbraue lupfend nahm Detorix nach einem Abstecher zur Küchenspüle zwecks Hygiene Platz. Artemis ließ sich ihm gegenüber auf der Sitzbank nieder. Das Erfinder-Einhorn wirkte bekümmert. Detorix gebot seinem lärmenden Magen, sich ruhig zu verhalten. "Willst du mir nicht erzählen, was los ist?" Erkundigte er sich. Nervös schnüffelnd angelte sich Artemis ein Stofftaschentuch. "Ich dachte, es würde Vidale ein bisschen aufmuntern, mir vom Alltag zu erzählen. Dazu habe ich ihm eben auch unsere Welt gezeigt." Was eklatant gegen die Regeln verstieß. Andererseits, wie schlimm konnte es noch kommen?! Detorix seufzte stumm. Schlimmer. Definitiv. ~~>* Entgegen der Tendenz zu Hopplas WAR Artemis ein sehr guter Erfinder. Wenn man das Einhorn nicht verschreckte, belagerte oder anbaggerte. Den tiefen Teller geleert studierte Detorix die Notizen. Zeitabläufe, Kommentare. Daneben aufgefächert lagen Vidales Zeichnungen, wie zu Lehrzwecken mit daimonischen Begriffen ergänzt. Ja, ihr fremder Besuch hatte sich tatsächlich mit Bild-Lexika fremde Sprachen erschlossen, über Hörbücher die Aussprache gelernt und offenkundig wenig Unterschied zwischen literarischer Freiheit und der menschlichen Realität erkannt. Bedienstete blieben meist namenlos, "dienstbare Geister" in den von Vidale (und unzähligen anderen) geliebten Erzählungen. Schließlich drehte es sich um die Gentry, ging es nicht um Milieustudien, die erst Jahre später lesendes und zahlungskräftiges Publikum fanden! In Vidales Wahrnehmung gab es Parallelen zum "System", das wöchentlich gewartet wurde, deshalb unfehlbar für Sicherheit und Wohlergehen sorgte! Wenn das nicht unter "dienstbarer Geist" fiel, was dann?! Andere "Wesen" schienen nur als virtuelle Vertretung, als Avatare, mit Vidale in Kontakt zu stehen. Einem Kontakt über Gedanken, ohne Schrift, ohne Sprache. Detorix fragte sich, ob sie "echt" waren. Oder nur "Hirngespinste". Ob dieses "System" tatsächlich eine Absicht verfolgte, und wenn ja, welche. Wie konnte für die Dauer von ungefähr einem Jahr in menschlicher Zeitrechnung ein Spalt auftreten, den kein anderes "Wesen" kannte? Warum existierte Vidale so solitär, so separat? Wenn man sich die Zeichnungen ansah, von der "Sphäre", von der Behausung, fühlte man sich an Sci-Fi-Filme erinnert, Weltraum-Kapseln, Forschungscamps auf fremden Planeten, mit "Käseglocke" für eine Atmosphäre und dubiosen Versorgungssystemen, reguliert von Software. War Vidale vielleicht ein Klon? Womit verbrachte man seine Zeit in dieser seltsamen "Sphäre"? Soweit es Artemis gelungen war, Vidale Einlassungen zu entlocken, schien man immer wieder ein Protokoll abzuarbeiten, Routinen zu pflegen, ein gleichförmiger, sich ewig repetierender Alltag. Bis zum Auftreten des Spalts. Vidale nahm an, es handle sich um eine Art Training, eine neue Lektion. Erst durch die wagemutige Exkursion durch den Spalt, durch das Betrachten, Begreifen, Lernen erkannte Vidale, dass ein ABENTEUER wartete! Andere Bilder im Kopf, andere Perspektiven, ganz unglaubliche Empfindungen! Detorix schob die Zeichnungen in eine Mappe, blickte auf. Artemis lächelte kläglich. "Denkst du, die beiden Gläser eingelegte Rote Beete waren ein Fehler?" Mit einem Schauder vertrieb Detorix den Gedankenblitz von spitz zulaufenden Zähnen, die mit Rote Beete-Saft verschmiert waren. »Halloween! Verseucht einem den Verstand!« Er streckte die Hand aus, kraulte Artemis' weiße Mähne tröstend. "Nein, das glaube ich nicht." Aber ihm schwante, dass sie noch weitere Schwierigkeiten zu überwinden hatten. ~~>* Nein, Detorix schätzte es gar nicht, noch vor dem Frühstück im Backsteinhäuschen unerwarteten Besuch vorzufinden! Er grollte knurrend einen Gruß, die Augenbrauen gewittrig zusammengezogen. "Ist mit einer Invasion der medizinischen Fakultät zu rechnen?" Erkundigte er sich spitz bei Chise, der offenkundig ungeniert durch die Akten auf dem großen Tisch gegangen war. Chise lächelte. "Davon gehe ich nicht aus." "Schade!" Schnaubte Detorix, registrierte beiläufig an der Garderobe den feuchten Homburger und die Tropfen auf Chises Staubmantel. "Ich bin sicher, es kann bei Bedarf arrangiert werden." Bemerkte Chise ohne den Großer-Gong-Nachhall in der Stimme. Detorix seufzte, setzte Wasser für Kaffee, Tee und Porridge auf. "Warum bist du so früh hier?" Er öffnete den Kühlschrank, stutzte, warf über die Schulter einen prüfenden Blick auf den Spurenlesenden. Chise sortierte Skizzen, Anmerkungen, Notizen und Detorix' Bericht für das Friedensgericht wieder in die große Mappe ein. Seine violett strahlenden Mandelaugen richteten sich auf Detorix. "Mein Arrest ist nur ausgesetzt." Erinnerte er mit einem knappen Lächeln, strich die rostbraunen Dreadlocks über die Schultern. Er erhob sich, das verletzte Bein ein wenig steif entlastend, zog einen Zugbeutel hervor. Dessen Inhalt leerte er auf der Tischplatte aus. "Ist das genug für ein Szenario?" ~~>* Artemis half Vidale dabei, sich in "Menschenkleidung" des 21. Jahrhunderts einzukleiden. "Bitte entschuldige die Umstände." Wisperte Vidale, der bis zum Mittag geschlafen hatte, noch immer desorientiert wirkte. Das Erfinder-Einhorn lächelte aufmunternd, plauderte vertraulich aus, dass Chise gekommen sei, etwas zu essen mitgebracht habe! Sehr beklommen stapfte Vidale ins Erdgeschoss, mühsam mit den Sneakern ringend. "Es tut mir so leid!" Begann er heiser, verneigte sich in Ermangelung von Vorstellungen, wie man nach dem frühen 19. Jahrhundert Demut demonstrierte. "So leicht bin ich nicht umzubringen." Konterte Chise, haschte ungeniert nach Vidales Rechter, führte dessen Fingerspitzen selbst vorgebeugt an die Lippen. DAS hätte man bereits zum Anbruch des Regency als UNMÖGLICH "gotisch" eingestuft!! Dazu zwinkerte Chise unverschämt hoch, nahm Vidale in den violetten Bannstrahl der Mandelaugen. In seiner Steampunk-Aufmachung, bei Tageslicht, wirkte er noch imposanter, auch ohne Staubmantel und Homburger. Vidale, der einen schlichten Pullover über Jeans trug, kam sich spontan "underdressed" vor. Allerdings existierte in Daimonisch kein sprachliches Äquivalent, da sich Daimonen selten über Bekleidungskonventionen Gedanken zu machen pflegten. "Ich freue mich, dich kennenzulernen." Schnurrte Chise mit Großer-Gong-Nachhall-Lachen in der Stimme, nötigte Vidale, am Tisch Platz zu nehmen. "Du hast vielleicht etwas Appetit?" Damit kredenzte er eine große Schade mit säuerlichem Naturjoghurt, garniert mit sehr reifem Schafskäse. ~~>* Obwohl Detorix eine gewisse Unruhe verspürte, nutzte er die Gelegenheit, seine Unterlagen wieder ins Büro zu transportieren und den Vorhang zu durchqueren, um seinen Bericht abzuliefern. Von zufriedenstellend konnte keine Rede sein. Ohne Chises Spürsinn hatte er trotz eines fix modifizierten HM1 keinen ehemaligen Riss identifizieren können. Aufzeichnungen zum Auftreten von Rissen zwischen Menschenwelt und Fremd-Welten waren nicht vorhanden. Selbst mit einem Zeugen/Beweisstück "Vidale" belief sich die Ursachenforschung auf reine Mutmaßungen, basierend auf Skizzen und Artemis' besonderem Talent, Vidale Hinweise zu entlocken. Vidale wiederum schien von sehr wenig, was SEINE Welt ausmachte, ein tieferes Verständnis zu haben! Außerdem missfiel es dem Friedensgericht außerordentlich, dass dieses gestrandete Wesen DAIMONISCH sprechen und lesen konnte, von der Daimonen-Welt Kenntnisse hatte (wenn auch nur über das Omniskop) und mittelbar einen Daimon (Chise) in latente Lebensgefahr gebracht hatte! Dazu kam noch, dass ausgerechnet das notorische Erfinder-Einhorn möglicherweise zu neuen Katastrophen animiert wurde! Detorix konterte diese Prophezeiung als reine Spekulation. Erstens hatte es schon länger keine Hopplas gegeben, zweitens begleitete Artemis ihn immer mal wieder in die Menschenwelt, OHNE DASS sich durch diesen Kontakt gemeingefährliche Inspiration ergab und drittens konnten sie Eingebung in diesem Fall wirklich gut brauchen! ~~>* Artemis verfolgte erleichtert, wie geschmeidig Chise die Unterhaltung lenkte, Vidales Befangenheit rasch überwand. Lebhaft disputierte man gerade die Entwicklung von Regency zum viktorianischen Zeitalter, das den Steampunk inspirierte. Zumindest bezüglich verfügbarer Lektüre herrschte Waffengleichheit. Allerdings, selbst Artemis konnte das nicht entgehen, konnte Vidale noch so versiert und belesen argumentieren: die Welt der Menschen, die Realität, begriff ihr Besuch nicht. Wie auch? Offenkundig lebte Vidale in Gesellschaft mit einem Computerprogramm/System/Protokoll mit projizierter Erscheinung, in der festen Überzeugung, dass es keine Fehler gäbe. Körperlichen Kontakt mit seinesgleichen pflegte man nicht, nur einen seltsamen "Gedankenaustausch". Äußerlich konnte das Erfinder-Einhorn nichts erkennen, was auf Implantate oder andere Hilfsmittel schließen ließ, wie aus dem eigenen Kopf die Gedanken (aka elektrische Spannung) in andere Köpfe kam. Setzte man etwas auf? Gab es besondere Vorrichtungen? Vidale blickte lediglich verwirrt. Artemis verzichtete angesichts des ersten und einzigen Versuchs darauf, Vidale Filmausschnitte vorzuspielen, um die Frage zu erläutern. Wenigstens, oder vielmehr erstaunlich umfassend, frönte Vidale den Speisen, die Chise besorgt hatte, fräste Schneisen in den Joghurt und schwelgte mit merklichen Anzeichen des Genusses. Trotzdem wurde dem Erfinder-Einhorn das Herz schwer, wenn es die Uhrzeit in den Blick nahm. ~~>* Vidale verabschiedete sich mit dem Wunsch, man möge sich doch in der Leihbücherei erneut treffen, drückte Artemis behutsam die Rechte. Dass Körperkontakt für Vidale ungewohnt war, konnte ihnen allen nicht entgangen sein. Artemis zwang sich tapfer zu einer heiteren Miene, suchte Detorix' Blick. Der nickte bloß knapp, stapfte dann voraus in den Hof. Chise verneigte sich galant, um Vidale den Weg zu weisen, der seine vornehme Kleidung teils in einem Beutel, teils kombiniert mit den profanen Stücken der Menschenwelt trug. Das Novemberwetter am späten Nachmittag lud nicht gerade zu einem Spaziergang ein, ersparte ihnen jedoch Fußverkehr und neugierige Blicke. Sie schwiegen bis zum Eingang der Leihbücherei. Ohne Abstimmung begann Chise, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als Steampunk keineswegs verwunderlich. Detorix registrierte, dass der Spurenlesende trotz seines geschädigten Beins keine Anstrengung scheute. »Nicht leicht umzubringen, sehr wahr.« Andererseits konnte niemand sich sicher wähnen, bei so einer kuriosen Kombination im Erbgut... Detorix lupfte höflich seinen Bowler, schälte sich aus dem bewährten Seebärenkurzmantel, apportierte beides. Zwar gab es Garderobenschränke, doch er vermutete, dass sie sich nicht allzu lange in den Heiligen Hallen aufhalten würden. Mit merklicher Erleichterung folgte Vidale ihm die Treppe hoch in den ersten Stock, Fremdsprachen, Englisch, Comics und Literatur... plus kleine Wannen mit Bilderbüchern in Schienbeinhöhe als Verkehrsberuhigungsmaßnahme. Er trat beiseite, als sie den schmalen Gang zwischen den Regalen erreicht hatten. Das Plakat fehlte natürlich, schließlich war die Veranstaltung schon durchgeführt worden. Vidale eilte in den störrischen Sneakern auf die Wand zu. Nichts tat sich. Besorgt hörte Detorix ihn fremde Silben wispern. Ohne eine Veränderung. Verstört wich Vidale einen halben Schritt zurück, hob beide Handflächen der Wand entgegen. Als sie in Kontakt mit der trügerisch banalen Oberfläche kamen, schnappte Vidale nach Luft, taumelte rückwärts. Geistesgegenwärtig stützte Detorix ihn ab, verhinderte einen ungeplanten Zusammenstoß mit der Industrieteppichkante. "Der Spalt ist nicht mehr da, oder?" Erkundigte er sich leise, obwohl in Lauschweite kein Besuch nach Lektüre fahndete. Vidale kehrte sich zu ihm um, fahl-bleich, verstört. "Kann es sein, dass das System 'Unregelmäßigkeiten' gesammelt hat, bis ein kritischer Punkt überschritten wurde? Weil ein Spalt tatsächlich eine Fehlfunktion darstellt?" Stellte er ruhig seine Arbeitshypothese vor. Buffer-Overflow. In Vidales großen, schwarzen Augen flackerte es kurz. Möglicherweise die Erinnerung daran, bei der wöchentlichen Wartung Warnhinweise ignoriert zu haben? "Wir können warten, bis das gewohnte Zeitfenster vorüber ist." Bot Detorix mitfühlend an, gestikulierte aus dem engen Gang zwischen den hohen Regalen zu Sitzgelegenheiten um den Lichthof an der Treppe. Er erwartete jedoch keine Veränderung. "Ich~ich kenne keinen anderen Weg." Wisperte Vidale, zu Detorix' Überraschung in Daimonisch, was ihn hoffen ließ, dass der Schock noch nicht mit voller Härte zugeschlagen hatte. "Komm mit uns." Unerwartet hatte Chise sich angepirscht, streckte die Hand mit den violetten Krallen nach Vidale aus, die Sonnenbrille auf den Homburger geschoben. Seine violett leuchtenden Mandelaugen hielten ihren Fokus auf Vidale. "Dein Abenteuer beginnt jetzt erst richtig." ~~>* Detorix konnte Abenteuer wirklich nicht ausstehen! Vor allem, wenn er genötigt war, auf diesen grässlichen elektrischen Stehrollern steif zu stehen und dem flatternden Staubmantel vor sich folgen zu müssen! Chise hatte das Transportmittel (glücklicherweise zwei unterschiedliche Anbieter) vorgeschlagen und Detorix genötigt, das verhasste Mobiltelefon zum Einsatz zu bringen. Als wäre Chise nicht selbst schon auffällig genug, balancierte der noch frech wie Oscar vor sich Vidale auf dem Stehroller! Selbstverständlich verboten und auch nicht ganz ohne Risiko. Wer wusste schon zu sagen, wann der Schock Vidales Nervenkostüm flattern ließ?! Sie erreichten die Straße zum Backsteinhäuschen, stellten dort (ohne Verkehrsbehinderung) die Transportmittel ab. "Festhalten." Verlangte Chise, nahm trotz seiner Verletzung Vidale mit müheloser Leichtigkeit auf die Arme. Detorix fand das arg kitschig, revidierte seine Meinung jedoch, als er bemerkte, dass Vidale bereits in den komatösen Schlaf gefallen war, der Artemis schon in Sorge versetzt hatte. "Es ist wohl doch besser, wenn ich für morgen Medis organisiere." Brummte er grimmig, öffnete Chise die Türen. Der warf ihm einen ernsten Blick zu. "Bitte überzeuge das Friedensgericht. Wir können Vidale retten." ~~>* Artemis verfolgte sichtlich bekümmert, wie Chise Vidale in eine Decke wickelte, kompakt unter dem Treppenaufgang verstaute und mit einer Lampe samt Daimonen-Käfern versorgte. "Du kennst wohl keinen anderen Weg in Vidales Welt?" Erkundigte er sich, gegen einen erstickenden Klumpen in seinem Hals ankämpfend. Chise blendete einen Teil der Strahlkraft seiner Mandelaugen mit der Sonnenbrille ab. "Ich glaube nicht, dass es ein Portal gibt." Antwortete er leise. "Das hier ist keine gesundheitsförderliche Welt für ihn." ~~>* Detorix grummelte, als er am Morgen die Treppe hinunter stapfte. Gerade mal eine Woche lag zwischen diesem außergewöhnlichen Ereignis und der aktuellen Kalamität. Die nicht besser wurde, weil der Strauchdaimon offenkundig erneut Chises Eindringen nicht verhindert hatte. Auf dem großen Esstisch lag eine kurze Nachricht in Daimonisch, dazu war die Stadtkarte aufgefaltet. Knurrend stapfte Detorix zur Nische unter der Treppe. Vidale musste wohl noch schlafen, ein dürres Bündelchen auf platzsparendem Klappformat. Die leise summende Daimonen-Käfer-Lampe umklammernd, als erinnere sie an die seltsame "Schlafkapsel", die Vidale für Artemis gezeichnet hatte. Neben dem traurigen Häufchen Elend wartete eine Umhängetasche. »Und zweifelsohne hat dieser verdrehte Unruhestifter auch den Kühlschrank bestückt!« ~~>* Die Vorstehende des Friedensgerichts, Thekla Anuphobis, schnaubte, widerstand nur mühsam dem Drang, sich in Rauchwolken zu hüllen. So oft sie auch alle acht Augenpaare durchdringend auf Detorix richtete, ergab sich doch wenig Erfolg bei der nonverbalen Drohung. "Wieso? Was heckt dieser...aus?!" Detorix wusste, dass er nach eigener Wahl diverse Schimpfworte einsetzen konnte, die Thekla Anuphobis nicht aussprach, weil sich das in einer Verhandlung nicht gehörte. Er dachte an Artemis' glückliches Strahlen, als der Vidale den Inhalt der Umhängetasche erklärt und die Bedeutung von "Geschenk" vermittelt hatte. "Ich kann keinen perfiden Plan entdecken." Antwortete er entschlossen. "Was ich vermute, ist eine Parallelität." Hinter dem Friedensgerichtspult schnaubte die Vorstehende hörbar. "Seltsame Bekleidung? Geringer Selbsterhaltungstrieb? Tendenz, mir den Tag zu verleiden?" Schlug sie recht gehässig vor. Detorix blieb ernst. "Eher eine unveränderliche Einzigartigkeit." ~~>* Vidale kannte "Bestandsaufnahmen" der körperlichen Beschaffenheit. Check-Ups, medizinische Untersuchungen. Allerdings musste man sich nicht entkleiden, wurde nicht sanft darüber aufgeklärt, dass in dieser Welt (oder vielmehr auf der Bruchstelle) keine Pflegestation Nägel stutzte und polierte, Nahrungskonzentrate exakt auf den Biorhythmus abgestimmt serviert wurden. Dass das noble geothermische Dampfbad außerhalb des Backsteinhäuschens nicht üblich war, Pflegemittel erworben und höchstpersönlich adaptiert werden mussten. Nicht, dass Vidale nicht darüber gelesen hätte, nein! Nur... "Ich habe verstanden, aber nicht begriffen." Bekannte er gegenüber Artemis, der bei der Untersuchung moralische Unterstützung geleistet hatte, immer wieder Parallelen aus den sechs Romanen erwähnte. Um Vidale zu versichern, dass weniger Ignoranz als fehlendes "Erleben" ihn einschüchterte. "Du musst dich nicht sorgen." Versicherte Artemis zum wiederholten Mal aufmunternd. "Wir lassen uns gemeinsam etwas einfallen! Detorix ist der beste Szenarize!" Vidale, obwohl ungeübt im direkten Kontakt mit anderen Lebewesen, argwöhnte, dass das Erfinder-Einhorn sich selbst zu einem nicht unbeträchtlichen Teil damit aufmuntern wollte. "Ich bin verwirrt." Bekannte Vidale leise, zog die dünnen Beine vor die magere Brust. Ohne Protokoll, ohne Anleitung schien etwas Seltsames vorzugehen. Vielleicht ein Gefühl? ~~>* "Ein Arrest ist ein Arrest." Stellte Thekla Anuphobis fest. "Es wäre lediglich ein zeitlicher Aufschub." Obwohl Detorix hoffte, der verbliebene Rest der Verbannung aus der Menschenwelt würde erlassen. "Was sollte eine Wiederholung verhindern?!" Dabei entfädelte die Vorstehende des Friedensgerichts eine ganze "Verkettung" von Täfelchen. Nein, Chise ließ sich nicht lumpen, was das "Vorkommnis-Register" betraf! Seufzend fingerte Detorix ein weiteres Pfefferminz-Bonbon aus seiner Tasche. "Ich halte es für wahrscheinlich, dass es nicht mehr zu solchen Vorkommnissen kommt." "Aha?! Auf welcher Basis?" Schnappte Thekla Anuphobis, langte nun doch nach den Zigarillos. Sie wollte beim Feilschen, pardon, Verhandeln, Waffengleichheit durch lässliche Konsum-Sünden herstellen. "Auf der Basis, dass er nicht in die Menschenwelt gelangen kann." Antwortete Detorix, hob die Rechte, um einen giftigen Konter abzuwehren. "Vidale wäre in der Menschenwelt allein. Anlass genug, Chises Verhalten zu regulieren." Thekla Anuphobis rollte hinter einer Rauchwolke mit allen acht Augenpaaren. "Darf ich Zweifel hegen?! Hast du eine Vorstellung, wie gerissen-schlitzohrig..." "Zur Hälfte vielleicht. Die andere Hälfte, soweit mir bekannt ist, sucht Gesellschaft und Gemeinschaft." Außerdem war das Gerücht mit der "Kinderfresserei" definitiv Blödsinn! ~~>* Artemis warf Chise einen nervösen Blick zu. "Detorix ist noch nicht zurück. Ich glaube, die Verhandlung dauert noch an." Draußen wirkte es sehr ungemütlich, dunkel und gesättigt mit kaltem, nassen Dunst, der tief in den Straßen lag. Chise streckte die Rechte mit den violetten Krallen nach Vidale aus. "Es ist nicht weit. Bitte, darf ich dich um Begleitung ersuchen?" Er zwinkerte. Vidale ergriff vorsichtig die Hand, rappelte sich auf. Trotz des leckeren Essens (erneut sehr saurer Joghurt und Essiggurken) fühlte er eine beunruhigende Mattigkeit. "Du bist vorsichtig, ja?" Artemis wirkte bekümmert. "Selbstverständlich. Wenn du möchtest, nehme ich ein Mobiltelefon mit." Offerierte Chise zur Beruhigung, legte sich dabei Vidales Hand auf den Unterarm. Der erkannte die Geste von den Zeichnungen, die er studiert hatte, um dem System GENAU zu übermitteln, wie seine Bekleidung als Jane-Ite kreiert werden sollte. Auch wenn er nicht hatte herausfinden können, wie genau Stultz, Weston oder Hoby damals ihre teuren Accessoires angefertigt hatten. Vor der Tür tippte sich Chise mit der freien Hand leicht an den Homburger, grüßte den Strauchdaimon. Der raschelte vergnügt. Die Sonnenbrille auf die Hutkrempe platziert leuchteten seine violetten Mandelaugen durch die Dunstschwaden. "Ich weiß nicht, was ich tun soll." Wisperte Vidale matt, stakste in den wenig geliebten Sneakern. "Artemis hat mir das Konzept von 'Geschenken' und 'Hilfe', von 'Gegenseitigkeit' erklärt, nur..." Müde rieb er sich durch die nicht mehr ganz so stürmische "Windstoß"-Frisur seiner schwarzen Locken. "Ich glaube, dass ich bisher nichts Vergleichbares getan habe." Setzte er nach einigen Schritten seine Einlassung fort. Außerdem fiel es unerklärlich schwer, seine Gedanken zu fassen, als "gegenständlich" zu erkennen, was zuvor eine heitere Vorstellung gewesen war. "Wir sind gleich da." Sanft streichelte Chise mit der freien Hand über Vidales Handrücken auf seinem Unterarm. Tatsächlich erreichten sie nach einer Kehre und einer Garagenfront einen übermannshohen Bauzaun aus Brettern mit einer Eisentür. Ein Vorhängeschloss signalisierte neben einem verblichenen Blechschild, dass der Zugang verboten war und das Betreten eine körperliche Gefährdung nach sich ziehen würde. Von welcher Art fehlte jedoch. Chise tippte an einen kleinen Behälter, woraufhin sich freundliche Daimonen-Käfer aufmachten, das Vorhängeschloss zu öffnen. Er ließ die schwere Tür nach innen gleiten, trat über die hohe Schwelle und bot Vidale die Hand, ihm zu folgen. Dann schloss er die Tür von innen. Hinter dem Bauzaun befand sich eine kleine Brache, jedoch so wenig einladend, dass sie selbst im Zwielicht der gedämpften, durch den Dunst zerfasernden Straßenbeleuchtung abschreckend wirkte. Merkwürdig verkümmerte Gräser stießen hier und da durch eine Mondlandschaft. Vidale fasste in die geschenkte Umhängetasche, nahm einen kleinen Leuchtstab heraus. In der schützend und gleichzeitig kunstvoll eingekordelten Glaslampe tänzelten mit beruhigendem Summen daimonische Leuchtkäfer. "Das~das fühlt sich..." Vidale brach ab, bewegte sich langsam über das eingegrenzte Gelände. Chise folgte ihm, beobachtete die schmächtige Gestalt, leuchtete gleichzeitig mit seinen Augen ihren Pfad aus. "Geht es dir etwas besser?" Erkundigte er sich sanft, reduzierte die Distanz. Vidale wandte ihm das bleiche, spitze Gesicht zu. Tränen lösten sich aus den großen, dunklen Augen. Verblüfft tastete Vidale nach seinen Wangen. "Tränen." Bestätigte Chise, entzog seiner Westentasche ein Stofftaschentuch, tupfte sehr sanft die Feuchtigkeit ab. "In dieser Welt hilft es manchmal, sich zu umarmen, wenn der Kummer groß ist. Möchtest du es versuchen?" Erkundigte er sich leise, studierte den Fortgang der Erkenntnis. Er konnte in der Körpersprache erkennen, dass Vidale nicht genau wusste, was zu tun war, deshalb legte er sehr behutsam die dünnen Arme um seinen Nacken, schlang die eigenen um die magere Taille, reduzierte die Distanz. "Du bist nicht allein, mein Freund. Hab Vertrauen, bitte." ~~>* Vidale seufzte. Chise wandte den Kopf, betrachtete ihn aufmerksam. "Ich habe nicht begriffen, warum Artemis mir all die Fragen stellte." Erläuterte er. "Jetzt begreife ich, dass ich bloß zu verstehen glaubte. Aber ich weiß tatsächlich nichts. Kann ich wirklich lernen, in dieser Welt zu leben?" Erkundigte er sich ein wenig bange. Chise drückte sanft die kalte Hand, die er gekapert hatte. "Ganz sicher. Das müssen wir alle, mein Freund. Mit einer Anleitung kommt niemand auf die Welt." Ein Zwinkern dimmte den violetten Bannstrahl kurz. "Selbst Ex-Engeln gelingt es. Auch wenn du darüber nichts wissen darfst." Neckte Chise, ließ sein Großer-Gong-Nachhall-Lachen hören. Vidale versuchte sich an einem schüchternen Lächeln. Er war sich nicht sicher, ob die einzige Person HIER mit dieser Disposition zu sein der Klon-Serie der letzten Engel-Generation vorzuziehen war. In diesen Augenblick der Kontemplation traten fünf Männer, die offenkundig im Dunst aus einem Hauseingang auffächerten. Automatisch schob sich Chise vor Vidale. Sein "Spürsinn" witterte schon, worauf es hinauslief, ganz ohne lächerliches Geplänkel. Gelegenheiten wie diese waren ihm stets willkommen gewesen, auch wenn ein Arrest folgte. Bloß dieses Mal...!! "Zeig mal dein Handy, du Opfer!" Glaubte Vidale zu verstehen, der die Situation als verwirrend einstufte. "Was ist denn los?" Erkundigte er sich bei Chise im georgianischen Englisch. "Morlocks." Antwortete Chise mit einem verärgerten Gesichtsausdruck. Dank umfangreicher Sekundärliteratur übersetzte sich Vidale diese Einstufung als Äquivalent von "Buschräuber, Strauchdiebe, Wegelagerer, Beutelschneider". Chise entzog ihm seine Hand, was Vidale bekümmerte, der sich durch "Begreifen" sehr viel zuversichtlicher gefühlt hatte. "Das ist Unrecht. Ihr solltet mit Anstand leben und euch ans Gesetz halten." Gebot Vidale deshalb, blickte in die Runde der feindseligen Menschen. Verblüfftes Schweigen. "Was für ein Wetter! Gehen wir heim, ja? Ausgeschlafen arbeitet es sich besser." Erstaunlich eloquent zerstreute sich die verhinderte Straßengang, ließ Chise und Vidale zurück. Der Spurenlesende brach nach einem Augenblick in Gelächter aus. Vidale studierte ihn ratlos. "Habe ich etwas falsch gemacht?" Plötzlich kam ihm eine Erinnerung. "Oh, war es ein Verstoß gegen die Etikette? Hätte eine Herausforderung beantwortet werden müssen? Sind Duelle hier nicht verboten?!" Erkundigte er sich hastig. Richtig, es gab ein Protokoll, da waren Ehrenhändel! Wie hatte er das übersehen können? PROTOKOLL war wichtig, Verhaltensregeln die oberste Maxime! Chise ergriff seine kalten Hände, führte sie nacheinander an die Lippen, um die Handrücken mit einem Kuss zu zieren. "Du hast mich gerade vor mir selbst gerettet." Seine Mandelaugen glühten so stark, dass sie wie violette Scheinwerfer den Spätnachmittag erleuchteten. "Wahrhaftig?" Zweifelte Vidale, der nicht wusste, wie er diese Entwicklung begreifen sollte. Außerdem schlich sich schon wieder diese lähmende Mattigkeit an. Chise lächelte. "Oh ja, bei meiner Ehre. Normalerweise hätte ich sie jetzt nämlich nach Strich und Faden verdroschen." ~~>* [Exterritoriales Gelände. Betreten für Unbefugte verboten.] Und für die, die nicht lesen oder verstehen wollten, gab es Daimonen-Wespen. Sie störten sich gar nicht daran, dass auf der kleinen Brache sehr vieles verbuddelt und abgekippt worden war, was üblicherweise menschlicher Gesundheit abträglich wirkte. "Giftmüll-Deponie" wirkte noch euphemistisch. Ebenso abenteuerlich nahm es sich aus, die Eigentumsverhältnisse zu ergründen. Andererseits begriff Detorix eine Herausforderung als sportliches Training seiner Bürokratisch-Finesse! Vidale saß trotz der Kälte dank praktischer, wenn auch schmuckloser Bekleidung auf einer Picknickdecke und studierte den Nachthimmel. Sterne? Oder Satelliten? Flugzeuge? Er hatte Bilder gesehen, Zeichnungen, Schichten von Sphären. Existierten sie wirklich? Waren sie gegenständlich, "begreifbar"? So leicht konnte man sich verirren... Andererseits hatte Detorix ihn auf einen Abstecher zu einem "Flughafen" mitgenommen (sehr anstrengend). Mit einem Fernglas konnte man die Flugmaschinen betrachten, sich selbst überzeugen, dass sie ECHT waren. Vidale zupfte die Wollmütze zurecht. Wenn er nach den Exkursionen mit Detorix und den Lektionen bei Artemis hierher kam, fühlte er sich gleich besser, verschwand die lähmende Mattigkeit »Nicht sonderlich kompartibel. Zumindest nicht für längere Zeit.« Pflegte Detorix zu grollen. Vidale fragte sich, ob es deshalb die "Sphäre" und das "System" gab. Jetzt, wo es zu spät war, er seine "Welt" nicht mehr erreichen konnte. Wieso waren ihm diese Fragen nie früher eingefallen? Er erinnerte sich an die Erzählungen zu den Ex-Engeln in der Daimonen-Welt. Wenigstens schienen die vorher eine Aufgabe gehabt zu haben! Vidale seufzte ob des Mysteriums der eigenen Existenz. Neben sich lagerte er die Umhängetasche mit Proviant (Schafskäse, Mixed Pickles), die Thermoskanne (grüner Tee mit einem Schuss Balsamico) und dem Plüsch-Kronk mit den spitzen Öhrchen. Vor ihm stand der Daimonen-Käfer-Leuchtstab. Hier fühlte Vidale sich wohl, blieb sein Kopf frei. Auf einer Giftmüll-Deponie der Menschenwelt. Kein Portal, keine Bruchstelle. Er konnte in eigenem Tempo seine Gedanken sortieren, nacheinander das Begreifen absolvieren. Hinter ihm wurde die Tür geöffnet. Violettes Leuchten erhellte die Dunkelheit jenseits der Daimonen-Käfer-Beleuchtung. Chise ließ sich lässig neben ihm nieder. "Guten Abend. Ich löse die Vertretung ab." Nickte er lächelnd auf den Plüsch-Kronk, der aus der Umhängetasche spitzte. Vidale war mit dem Konzept von "Stofftieren" oder "Spielzeug" nicht vertraut, aber eine "gegenständliche Repräsentanz von Wohlwollen, Fürsorge und Freundschaft" konnte er gar nicht hoch genug wertschätzen! Außerdem verfügte der Plüsch-Kronk über ein kuschelweiches Fell! "Guten Abend, Chise. Ich habe dich vermisst." Antwortete Vidale, initiierte ungeübt eine Umarmung. "Ich habe dich auch vermisst." Raunte Chise ihm sanft zu, lupfte den Homburger, um seine Stirn an Vidales zu legen. "Jetzt ist mein Arrest abgeschlossen. Wir können nun gemeinsam die Spur zum Glück aufnehmen." Er zwinkerte, ließ sein Großer-Gong-Nachhall-Lachen erklingen. Vidale lächelte scheu, zupfte an den rostbraunen Dreadlocks, die ihn faszinierten. "Glaubst du, wir könnten hier eine Sphäre für uns errichten? Das wäre mir ein herrliches Abenteuer." Chise schmunzelte. Niemand mit Kenntnis über SEINE zwiegespaltene Natur hatte ihm jemals so eine Offerte gemacht. "Oh, ist es ignorant?" Erkundigte sich Vidale bestürzt bei ihm. "Nein." Sanft zupfte Chise an einer schwarzen Locke, studierte Vidales Miene. Trotz der täglichen Bulletins, die er der Daimonen-Medi abgeschwatzt hatte, war er froh, dass Vidale munterer wirkte. "Wir werden vielleicht etwas Geduld aufbringen müssen, weißt du? Ein Plan wäre zum Beispiel nicht schlecht." Oder eine zündende Idee, wie die erforderlichen Mittel gewonnen werden könnten. Inzwischen verdüsterte sich Vidales Miene. "Wie rücksichtslos von mir! Kannst du überhaupt hier länger verweilen? Der Platz ist schädlich, nicht wahr?! Ich möchte um keinen Preis, dass dir ein Leid geschieht!" Dass er auch immer wieder vergaß, dass ER die Ausnahme war, der Fremdkörper, das Unikum! Chise nahm seine Hand, hauchte auf den kalten Rücken einen sanften Kuss. "Für mich besteht keine Gefahr, mein Freund. Ich bin...anders. Ich erkenne, mal von Rasern abgesehen, wenn mir eine Gefahr droht." Ein Zwinkern reduzierte die violette Strahlkraft der Mandelaugen kurz. Vidale drückte die warme Hand mit den violetten Krallen behutsam. "Es ist zwar schwierig, so besonders anders zu sein, aber mit dir zusammen fühle ich mich zuversichtlich." Schüchtern lächelte er. "Artemis glaubt, dass ich über Talente verfüge. Wenn ich sie erkenne und nutze, könnte ich ein Einkommen erzielen." Ein Konzept, das Vidale bis dato fremd gewesen war, da selbst die Gentry in seiner Lieblingslektüre von "Pachten" zehrte. Allerdings hatten ihn schon die Münzeinheiten in vollkommene Verwirrung gestürzt, sodass weitere Erkundigungen zur Ökonomie im chaotischen Hintergrundrauschen bloßer literarischer Atmosphäre untergegangen waren. "Hmm, ich bin sicher, dass du sehr viele Talente hast, schon erkannte und noch verborgene." Raunte Chise mit dem Timbre des Großen-Gong-Nachhalls, lupfte sich mühelos Vidale auf die gekreuzten Beine. Von seinen Verletzungen waren keine Spuren mehr geblieben. "Erzähl' mir ein bisschen von dem, was dir begegnet ist, während wir getrennt waren." Bat er Chise, hielt ihn in lockerer Umarmung. Chise, der sich an "Reports" erinnerte, sammelte eilig seine Gedanken, legte entschlossen los. Vidale lauschte ihm, doch weniger den Worten selbst als seinem eigenen Gespür, seiner Gabe. Natürlich, die Vorstehende des Friedensgerichts hatte es nicht geglaubt. Wie sollten andere auch? Es gab niemanden, der wie er selbst war, niemanden, der wirklich verstand. Zum ersten Mal verspürte Chise darüber keinen wilden Schmerz. Wer könnte auch ahnen, dass die Suche nach einer Antwort, nach Linderung mit einem mageren Wesen aus einer fremden Welt ihren Abschluss fand? JETZT war endlich ein neues Kapitel ihres Abenteuers aufgeschlagen worden! ~~>* Ende ~~>* Vielen Dank fürs Lesen! kimera