Titel: Eis-Gefährten Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Fan Fiction zu "Yuri on ice!!" FSK: ab 16 Kategorie: Seifenoper Erstellt: 25.07.2017 Disclaimer: alle Rechte obliegen den Inhabern der TV-Serie "Yuri on ice!!!" Hinweise: Freie Erfindung nach dem Ende der ersten Staffel von "Yuri on ice!!!", ausgestrahlt Oktober bis Dezember 2016. Die Veranstaltungen stimmen nicht exakt mit dem Terminplan der Internationalen Eislaufunion ISU überein, auch hat die Universiade nicht 2016 stattgefunden (aber es ist eben eine "fiktive" Serie). Zur besseren Unterscheidung wird der titelgebende "Yuri" hier in der Hepburn-Umschrift seines japanischen Namens "Yuuri" genannt (um Konfusionen mit dem "russischen" Yuri zu vermeiden). Ebenso wird die Schreibweise "Victor" verwendet, auch wenn es eine eher ungewöhnliche Übersetzung für einen russischen Vornamen darstellt, doch die Macher/innen der Serie verwenden diese Schreibweise offiziell. Vermutlich gefällt ihnen auch das Wortspiel "Vict/uuri", was ja wie victory klingt ^__~ *~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~**~#~* Eis-Gefährten Kapitel 1- Grand Prix-Finale, Bankett in Barcelona, Spanien 2016 Yuri Plisetsky, frisch gebackener Goldmedaillengewinner der Grand Prix-Saison 2016, 15 Jahre jung, in seiner ersten Saison als "Senior" und ebenfalls aktueller Weltrekordler, was das Ergebnis in einem Kür-Programm betraf, starrte finstersten Blicks durch den schützenden Vorhang seines fast schulterlangen, hellblonden Ponys in den Bankettsaal. Er verabscheute den lächerlichen "Konfirmanden"-Anzug, den er zu tragen gezwungen war, die unkleidsame Krawatte, den Geräuschpegel um sich herum und eigentlich so ziemlich alles in Sichtweite. Die Fäuste geballt, die Zähne zusammengebissen schwankte er zwischen einem Wutausbruch, der einen passenden Aufhänger erhoffte, und dem frustrierten vorzeitigen Abgang, mit dem lahmen Hinweis auf sein jugendliches Alter. Nicht, dass das eine Rolle spielte, denn bereits in der letzten Saison hatte er in Sotschi als Junior-Goldmedaillengewinner bis zum bitteren Ende ausgeharrt. Was einen mittleren Eklat einschloss, der weniger seiner Anwesenheit als den Aktionen des "Katsudon" geschuldet gewesen war! Seine Zähne knirschten hörbar bei dem Gedanken an den "anderen" Yuuri. "Katsudon", der "Schweinefleisch-Eintopf"-Liebhaber! Glücklicherweise befand sich dieser jedoch mit seinem "Coach" Victor Nikiforov in sicherer Entfernung. Es bestand daher keine akute Gefahr, dass ihm sein kurzsichtiger, dusseliger Dummschädel vom Stängel geschraubt wurde! "Was für eine finstere Miene", bemerkte eine sonore Stimme hinter ihm. Üblicherweise hätte Yuri nun ungeniert mit einer gegrollten Beleidigung reagiert, möglichst in der Muttersprache des Sprechers. Entgegen seiner üblicherweise gepflegten Maulfaulheit zeichnete er sich auf diesem speziellen Gebiet als polyglott und verblüffend eloquent aus. Doch bei dem Sprecher handelte sich um Otabek Altin, seinen erst kürzlich gewonnenen...Freund? Mitverschwörer im Mindesten, dezent angestoßen durch einen unerlaubten Nachtclub-Besuch, nicht zu vergessen die erzwungene Einbeziehung in sein skandalöses "Exhibition"-Programm, das so gar nicht dem erwarteten, üblichen Vortrag anderer Präsentationen zuvor entsprach. Nun, konkret ermittelt währte ihre Freundschaft die atemberaubende Zeitspanne von vier Tagen, kalendarisch gemessen. Na ja, Komplizenschaft wenigstens, falls er sich durch seinen Egoismus bereits jede Sympathie beim Kasachen verscherzt hatte. "Pah!", schnaubte Yuri deshalb lediglich, registrierte wachsam, dass Otabek seiner Begleitung schon verlustig gegangen war. Vermutlich mussten sie auch die Wogen glätten. Der zwei Jahre und fünf Monate ältere Eiskunstläufer aus Kasachstan wirkte gewohnt selbstbeherrscht in einem Smoking mit dekorativer Bauchbinde in den Landesfarben, die seine schmale Hüfte und die breiten Schultern effektvoll in Szene setzte. Ausgenommen das Alter zeichnete er sich auch durch einen Vorsprung von fünf Zentimetern Körpergröße aus und die Seniorität in der obersten Liga der Eiskunstläufer, denn bereits im Vorjahr hatte er sich bis in die finale Runde durchgebissen. "Meine Gratulation, auch zu deinem Weltrekord", höflich und ganz offiziell streckte Otabek die Rechte aus, hielt sich artig an die Anstandsregeln. Yuri, der sie vor vier Tagen das erste Mal geschüttelt hatte, vermisste die halbfingrigen Lederhandschuhe, die der Ältere bei ihrem Ausflug auf dem Motorrad getragen hatte. Otabek wirkte auf subtile Weise "zivilisierter" in diesem Aufzug, was Yuri zu seiner eigenen Überraschung verstimmte. "Danke auch", knurrte er, drückte die Hand betont fest, um sie dann grimmig freizugeben, "aber nicht mehr der Erwähnung wert." Die wie stark getuscht wirkenden Augenbrauen des Kasachen zuckten kurz in die Höhe, ein geradezu beeindruckender Gefühlsausbruch, denn üblicherweise zeichnete sich Otabek Altin durch das sprichwörtliche Pokerface aus. "Tatsächlich?", antwortete er nun ruhig, "sind ein Weltrekord und der Sieg im Grand Prix-Finale so unbedeutend?" Ein weiteres, frustriertes Aufschnauben ließ Yuris lange Ponyfransen kurz tanzen, offenbarte die leuchtend grünen Katzenaugen. Die dünnen Lippen in dem feingeschnittenen Gesicht verzogen sich in gewohntem Missmut, dann aber traf Otabek ein laserscharfer, kalkulierender Blick, eine eindeutige Prüfung. Es ließ vergessen, dass man einen 15-jährigen Jugendlichen vor sich hatte, der nun zu erwägen schien, ob ihre jüngst besiegelte Freundschaft vertrauliche Offenbarungen einschließen konnte. Otabek folgte Yuris Blickrichtung auf das sich verdichtende Gewimmel der Eiskunstlaufenden, Eistanzenden, des Trainings- oder Begleitpersonals und der eilig dazwischen herumflitzenden Servicekräfte des Veranstalters. Die unverzichtbare Presse nutzte auch die Gelegenheit, bevor sie hinaus gebeten werden würde: hier ein Interview, da eine kurze Aufnahme, dort ein Bild. "Goldmedaille, ja, aber was ist eine Saison wert ohne den legendären Victor Nikiforov?", hörte er Yuris leise Stimme, spöttisch, jede Silbe betonend, als kopiere er einen der bekannten Kommentatoren und Kritiker, "der von allen schmerzlich vermisst wird? Der Titel wurde errungen mit nur 0,12 Punkten Distanz vor Yuuri Katsuki! Wir erinnern uns, das war der mit deutlichem Abstand Letztplatzierte des letzten Grand Prix-Finales, vor dieser Saison eher als Eintagsfliege in der Serie eingestuft, der bei seinem diesjährigen Kurzprogramm auch noch aufs Eis langte!" Einen Seitenblick riskierend registrierte Otabek trotz des blonden Haarvorhangs die bittere Miene des Jüngeren, der sich selbst so unbarmherzig aufs Korn nahm. "Ah, nicht zu vergessen, dass der erwartete Champion JJ", hier würgte Yuri förmlich, "völlig von der Rolle war, Chris, DAS Sexsymbol aus der Schweiz, in dieser Saison ohne seinen Gegenpart Victor, beinahe lethargisch und gelangweilt, im Feld noch ein Neuling aus Thailand, der mit seinem Programm die technischen Anforderungen nicht überstrapazierte. Wirklich, ein billiger Sieg." Man hätte beleidigt sein müssen. Otabek schwieg einen langen Moment, verfolgte, wie Victor geübt mit der Presse flirtete und artig den Funktionären versprach, seinen Schützling Yuuri im Auge zu behalten, damit sich ähnliche Eskapaden wie im Vorjahr nicht wiederholten. Damals hatte der angetrunkene Yuuri nämlich einen Tanz-Wettbewerb inszeniert, der darin gipfelte, dass er sich mit Christophe Giacometti eine halbnackte Poledance-Einlage geliefert hatte, inspiriert von dem ehemaligen Nachtclub, in den sich die Veranstaltung verlagert hatte. Eine weitere Traube von Begeisterten gruppierte sich um Jean-Jacques Leroy, dem selbst proklamierten "King JJ". Trotz ungewohntem Einbruch beim Kurzprogramm hatte er es bis zur Bronzemedaille geschafft und wurde nicht müde zu betonen, dass sein Programm und seine gekoppelten Vierfach-Sprünge weltmeisterlich waren, selbst Victor ausstachen! Jean-Jacques "Le Roi/The King" Leroy aus Kanada, ältester Spross einer Eiskunstlauf begeisterten Familie, von seinen Eltern, ehemaligen Profis, betreut, mit jüngeren Geschwistern, die ebenfalls auf denselben Pfaden wandelten. Quasi eine Dynastie des Spitzensports. Tatsächlich, das musste man eingestehen, hätte er bei einem perfekt dargebotenen Kurzprogramm aufgrund der Anzahl, Dichte und Komplexität eine Rekordpunktzahl erreichen können. Konnte sie sogar noch, betrachtete man die großen Wettbewerbe bis zum Saisonende, vorführen. Auch für ihn war es die erste Saison in dieser Elite. Er galt schon jetzt als ernsthafter Anwärter für die Nachfolge der Eiskunstlauflegende Victor Nikiforov, allerdings auch als Vertreter einer neuen Generation, was sein gesamtes Konzept betraf: Rockmusik statt Klassik, Tätowierungen, eigene Choreographie, dazu noch eine nahezu perfekte Selbstvermarktung, die ihm auch jenseits der Menschen mit Eiskunstlauf-Enthusiasmus Fans und Verehrung einbrachte. Mit seinen 19 Jahren und 1,78m Gardemaß, einem sehr athletischen Auftreten und entsprechendem Selbstbewusstsein konnte er trotzdem auch noch das Image eines "Underdogs" verbinden, der sich entgegen der zahlreichen Widerstände nach oben gekämpft hatte. Seine Herangehensweise hatte ihm nämlich jahrelang die Absage verschiedener prominenter Coachs eingebracht. Die hielten gleichberechtigte Mitbestimmung ihrer "Schützlinge" (vor allem aufgrund der Jugend derselben) für inakzeptabel. Sein Triumphzug im ersten Jahr der Seniorenklasse der Eiskunstläufer barg entsprechend genug Konfliktpotential, nicht nur in Anbetracht der Tradition. Nein, auch sein selbstbewusstes, sich betont abgrenzendes Verhalten hielt andere Eiskunstläufer auf Distanz. Andererseits, das konnte niemand bestreiten, handelte es sich bei dieser Disziplin wohl kaum um einen Mannschaftssport. Jeder war (und musste) sich letztendlich selbst der Nächste sein und bleiben. Deshalb konnte es nicht verwundern, dass der junge Russe den selbst proklamierten "King" mit solcher Wut beobachtete und offenbar keinen anderen als ernsthafte Gefahr für einen kometenhaften Einstieg in SEINE erste Seniorensaison betrachtete. "Ich zumindest habe mein Bestes gegeben", bemerkte Otabek schließlich in das spannungsreiche Schweigen hinein. Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie Yuri sich eilig auf die dünnen Lippen biss, um eine Replik zu unterdrücken. "Du siehst das anders?", blieb der Kasache gewohnt ruhig, wandte sich Yuri zu. Wieder traf ihn aus den grünen Katzenaugen ein bis ins Mark prüfender Blick. Otabek wich nicht aus, hielt seine tiefschwarzen Augen unerschrocken auf das blasse Gesicht des Jüngeren gerichtet. Yuri straffte seine biegsame, schmale Gestalt, reckte das Kinn. Er war herausgefordert, sich zu offenbaren oder wie üblich bärbeißig zuzuschnappen, mit Beleidigungen garniert. "Da ist noch Luft nach oben", urteilte er entschlossen, "das Programm muss mehr auf deine Stärken ausgerichtet werden. Du hast Wumms, das soll man auch sehen." "Wumms?", Otabek hakte nach, obwohl er durchaus eine Vorstellung davon hatte, was Yuri meinte. Der seufzte übertrieben, vermisste mal wieder seine Kapuze, die ihn abzuschirmen pflegte, oder die Jackentaschen, in denen man weniger auffällig die Fäuste ballen konnte, wenn es einem beliebte. "Kraft, Entschlossenheit, Absprungstärke. Rohe Power. Nicht so viel Ballett-Schnickschnack! Weniger Gedöns!", knurrte er grimmig. Otabek spürte ein Lächeln in seinen Mundwinkeln zucken. Ja, er war tatsächlich weniger gelenkig als die Konkurrenz. Sein Ausflug in die Ballett-Welt vor fünf Jahren, grundlegende Basis für die Ausbildung in Russland, hatte ihm einen persönlichen Tiefschlag versetzt. Er war nicht nur in die Anfängerklasse zurückgestuft, sondern kurz darauf ganz ausgemustert worden, im Vergleich zu dem ebenfalls zu diesem Zeitpunkt neu aufgenommenen Yuri eine totale Niete. Das hatte er ja selbst gesehen, konnte es nicht abstreiten. Doch trotz einer Odyssee über verschiedene Trainingszentren von Russland nach Amerika und schließlich Kanada hatte er nicht aufgesteckt, sondern auf seine Überzeugung vertraut. Dabei war ihm auch jetzt bewusst, dass er die klassische Eleganz ausgebildeter Balletteleven vermissen ließ, was seine Chancen durchaus minderte, ganz vorne zu landen. Zumindest bis zur letzten Saison und seinem diesjährigen Sieg bei der NHK-Trophy in Japan. Es MUSSTE nicht immer die artifizielle Kunst des Balletts sein, zumindest nicht mehr. Das hatte sein zweites Jahr in der Seniorenliga bewiesen, obwohl man ihn schon abgeschrieben hatte. Allerdings, der Bronzerang bei den letzten Weltmeisterschaften, 17 Jahre jung, im direkten Vergleich mit den Veteranen Victor Nikiforov und Christophe Giacometti, DAS konnte man nicht einfach abtun. Deshalb hatte man ihn in dieser Saison auch für die Grand Prix-Serie vorgesehen, konnte seine Leistungen nicht länger ignorieren. Für sein Heimatland Kasachstan stellt das schon jetzt eine Sensation dar, endlich zu den hochmodernen Sportstadien auch die weltweit erfolgreichen Sportler präsentieren zu können. Auch wenn es natürlich noch schöner gewesen wäre, wenn er in seiner Heimat selbst an einem Spitzenstandort hätte trainieren und diese Erfolge erarbeiten können, statt ins Ausland an diverse Akademien ziehen zu müssen. Otabek schmunzelte über die Ironie der Situation, denn ausgerechnet der Meisterschüler der Balletteleven, seine damalige Nemesis Yuri Plisetsky, hielt ihm nun diesen Vortrag zum "Ballettgedöns". Unter der Saison hatte man dem jungen Russen den Spitznamen "Primadonna" verliehen, da er instruiert, geformt, ja, geschleift wurde von der ehemaligen Primadonna des Bolschoi-Theaters, Lilia Baranovskaya. Inzwischen wurde es etwas lebhafter im dem weitläufigen Bankettsaal, fröhliche Frauenstimmen mischten sich in die Kakophonie. Automatisch schob Yuri die Schultern hoch, überblickte das Gewimmel und wich unwillkürlich tiefer zurück in die bescheidene Nische. Es stand zwar nicht zu befürchten, dass sein berüchtigter Fan-Zirkel, die "Yuri-Angel", ihm hier auch auflauern würde, aber auch andere Belästigungen waren nicht auszuschließen. "He!", wandte er sich Otabek zu, "wenn du keine Lust darauf hast, dass dir die Weiber an der Figur hängen, tauchst du jetzt besser ab." Otabek erkannte den gewohnten Yuri-Jargon, grob, provozierend, schnoddernd. "Was droht mir denn?", erkundigte er sich gelassen. Immerhin war dies seine erste Grand Prix-Saison, während Yuri ihm als Junioren-Preisträger des letzten Jahres diese Erfahrung schon voraus hatte. Ganz zu schweigen von der persönlichen Zeugenschaft über die skandalösen Vorgänge um den japanischen Champion Yuuri Katsuki! "Nahkampf senkrecht!", Yuri fauchte nun geradezu, "die Furien schmeißen sich dir an den Hals! Wollen angeblich tanzen, aber jeder Griff ist erlaubt! Total irre! Würg!" Seine eindeutige Geste entlockte Otabek ein Schmunzeln. "Lach nich!", knurrte Yuri zu ihm hoch, "ich muss mit den Tussis hausen! Wenn mal gerade kein Eishockey-Esel in der Nähe ist, schnappen die sich alles, was nicht sofort auf den Bäumen ist!" Der Kasache sah sich nach seiner Begleitung um. Wahlweise sein Coach oder die Verbandsfunktionärin beaufsichtigten ihn, doch im Moment waren sie nicht in Sichtweite. "Willst du gehen? Damit wir uns noch ein wenig unterhalten können?", wandte er sich Yuri zu. Der blitzte ihn an, abwägend. "...in Ordnung", entschied er schließlich. "Dann rasch!", kommandierte Otabek, sich wachsam umblickend. Sie mussten das Gewimmel ausnutzen, sich zur Garderobe unauffällig durchschlagen und über einen Nebenausgang verschwinden, wenn sie mal unter sich sein wollten. *~#~* Für Otabek Altin stand fest, dass sie sich tarnen mussten, wollten sie sich unerkannt auf die Straßen Barcelonas wagen. Ihm selbst drohte kein Ungemach, aber Yuris weibliche Fans konnte man durchaus mit "gemeingefährlich" charakterisieren. Es verblüffte ihn immer wieder, wie sehr doch die Einschätzungen diesbezüglich auseinandergingen. Yuri Plisetsky, keineswegs der Kleinste in der diesjährigen Saison, wohl aber der Jüngste, wurde als "Fairy", als "Kätzchen" oder als "Punk" verniedlicht. Was den Kasachen verwunderte, denn ein Blick in die grünen Katzenaugen verriet (ohne dass man den Russen farbenprächtig fluchen hörte), dass nichts unzutreffender sein konnte. Zugegeben, Yuri war schmal gebaut, ungeheuer gelenkig und verfügte dank des unbarmherzigen Balletttrainings über eine fast katzenhafte Geschmeidigkeit in jeder Bewegung. Seine hellblonden, schulterlangen Haare mit der blassen Haut im Kontrast zu den grünen Katzenaugen verliehen ihm eine durchaus ätherische Anmutung. Außerdem mochte er, wie man wusste, sibirische Tiger bzw. ihre Abbildungen. Sein Budget reichte jedoch bloß zu Artikeln mit Nieten oder dem charakteristischen Muster von Leopardenfell(!), was selbstredend der "King" nutzte, ihn zu verspotten, ihn sogar einmal mit einer Verbeugung und spöttischem "Ladies first" bloßzustellen. Man musste sich ernsthaft darüber wundern, mit welcher Disziplin Yuri Plisetsky mörderische Neigungen in Richtung des Kanadiers unterdrückte. Vermutlich, in einem seltenen, stillen Moment, bedauerte "King JJ" seine Gesten durchaus, denn Yuri hatte ihn bei der Präsentation unmissverständlich in den Schatten gestellt, nicht nur durch die Vorführung selbst, sondern auch durch die Bugwellen an Verärgerung, die er ausgelöst hatte. Otabek Altin selbst wäre nie eingefallen, den jungen Russen derart unzutreffend einzuschätzen. Er KANNTE das russische Trainingsprogramm, die gnadenlosen Auswahlverfahren, den quasi militärischen Drill. Wenn man seit frühester Kindheit (und hier wurde über Erstklässler gesprochen) ernsthaft trainierte, regelmäßig "durchgesiebt" wurde, in Wohnheimen oft fern von Familie und Freunden lebte, mit striktem Gehorsam, einer brutalen Hackordnung und unerbittlichen Härte, dann erntete man bei den wenigen, die nicht unter dem ständigen Leistungsdruck, Verletzungen, psychischen Problemen oder der Konkurrenz zerbrachen, eine stählerne, mitleidlose Haltung. Nicht umsonst hieß es, dass Diamanten aus simplem Kohlenstoff nur unter großem Druck entstanden! Ja, man KONNTE "Elfe" gelten lassen, wenn man sich erinnerte, dass ursprünglich damit "Alben" gemeint waren, bösartige, unmenschliche Kreaturen, denen man noch heute den Begriff "Albtraum" verdankte. Auch "Katze" passte, stellte man sich darunter die Sorte vor, die noch vor Kontaktaufnahme grundsätzlich mit aufgestelltem Fell fauchend, beißend und spuckend reagierte, mit ausgefahrenen Krallen auf die Schwachstellen abzielte, und wenn das alles nicht helfen sollte, einen noch giftig anpisste. Selbst für "Punk" gab es noch gewisse Parallelen, von den Accessoires abgesehen, die eben auch darauf hinwiesen, dass "Punk" etwas mit "Abgrenzung und bescheidenen Mitteln" zu tun hatte. Hier galt das strikte Reglement des Militärs auch für Angehörige der Sportakademien: sie wurden äußerst knapp gehalten. Bloß keinen Luxus, kaum Privatsphäre und immer die unausgesprochene Prägung, dass sie Befehlsempfänger und kein Individuum mit ausgeprägtem Mitspracherecht zu sein hatten, zumindest, solange sie dieser Institution angehörten. Auch das Auftreten nach außen hatte korrekt und makellos zu sein. Eingestanden, in dieser Hinsicht zeichnete sich Yuri Plisetsky auch als rebellisch aus, ganz anders als Victor Nikiforov. Was den Kasachen reizte, seine Neugierde über die gewohnte Zurückhaltung anderen Eiskunstläufern im Wettbewerb gegenüber anfeuerte. Aus dem "Soldaten", diesem zehnjährigen, zierlichen, so zerbrechlich wirkenden Ballettschüler war ein Krieger in eigener Sache geworden. Oder vielleicht hielt es der junge Russe auch für nicht mehr notwendig, sich zu verstellen, sein Selbst zu unterdrücken. In diesen Augenblicken wirkte er keineswegs wie ein Jugendlicher oder gar ein Kind. Unwillkürlich fühlte er sich angesprochen, diesen Yuri Plisetsky zu unterstützen, sich vielleicht indirekt auch ein wenig dafür zu rächen, wie man ihm vor fünf Jahren jeglichen Erfolg abgesprochen hatte. Er wollte mehr erfahren, eine Verbindung vertiefen, die er mehr ahnte, als direkt benennen konnte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, derart spektakulär ins Rampenlicht zu rücken, zum Protagonisten in Yuris "Madness"-Vorstellung zu werden. Man konnte von Glück sagen, dass er "nur" für seine quasi erzwungene Beteiligung (Zugang zum Eis erhielten ausschließlich die akkreditierten Sportler) gerügt worden war. (Und nicht etwa für unerlaubtes Ausrücken, unerlaubten Nachtclubbesuch, unerlaubten Einsatz als Gast-DJ, unerlaubte Musikversorgung eines Konkurrenten...). Andererseits ließ die Deutlichkeit, mit der seine Beteiligung bei diesem "schockierenden" Auftritt verurteilt wurde, keine Missverständnisse aufkommen. Ja, es WAR etwas gewagt, dem 15-jährigen Yuri die Handschuhe abzuziehen, und zwar mit den Zähnen und mit einer Hand, wie in einem Stripplokal, um dann anschließend in einer angedeuteten Geste auf ihn zu feuern, der da UNVERKENNBAR recht entblößt und Sexappeal verströmend aufs Eis sank. Trotzdem hatte er sich nicht verweigern können, weil sein jüngst gewonnener Freund ihm durch die Nachtszene von Barcelona gefolgt war, sich sogar schon in sein "Kostüm" geworfen hatte, ihn zu beeindrucken, für sich zu gewinnen, auf eine höchst eigene, grimmige, direkte, beinahe unverschämte Weise. Außerdem, so empfand es zumindest der Kasache mit Alters- und Erfahrungsvorsprung, konnte niemandem entgehen, dass Yuri eine andere Art von Sexappeal verkörperte als die beiden "Spezialisten". Victor Nikiforov flirtete, verführte mit einer Vorstellung, einer Phantasie. Christophe Giacometti lockte mit der Umsetzung, ganz real, einladend, greifbar. Der "russische Punk" hingegen spuckte einem ansatzlos ins Gesicht, dass er selbstredend sexy war, ABER sich niemand erdreisten sollte, ihm auch nur auf Armeslänge zu nahe zu kommen! Gucken, ja, anquatschen oder angrapschen, NEIN! Dass Yuris Präsentation noch ein Nachspiel haben würde, war ebenso gewiss. Warum also noch mehr potentiellen Ärger riskieren? Otabek schlüpfte geschickt an den Wänden entlang bis zum Foyer, den jüngeren Russen in seinem Windschatten. Weil seine Neugierde noch längst nicht gestillt war. Weil Yuri Plisetsky als menschliche Katastrophe galt, grob, abweisend, ungehobelt, unerträglich selbstbezogen. Weil er selbst glaubte, hinter diese abschreckende Fassade blicken zu können. Möglicherweise auch, weil selbst wilde, beißende, spuckende, kratzende, fauchende Streuner für sich gewonnen werden konnten. An der Garderobe ließ sich Otabek seine leichte Trainingsjacke reichen, schwarz, fast knielang, vollkommen unpassend zum feinen Zwirn, allerdings federleicht und rollbar, was sich im Handgepäck gut machte. Yuri schlüpfte in die Blousonjacke der offiziellen Trainingsanzüge seines russischen Teams. Taschen, ja, aber keine Kapuze! Und dieser blöde Anzug...! Unterdessen zupfte Otabek das Stofftuch heraus, das er üblicherweise als Gesichtsschutz auf dem Motorrad zu tragen pflegte. Er faltete es zu einem Dreieck, trat hinter Yuri, der ihn alarmiert musterte, bereits das Fell aufstellte und justierte das Stoffdreieck geschickt, die hellblonden Haare zu verstecken, um den Stoff abschließend im Nacken zu verknoten. Dann wickelte er den weißen Wollschal, eine Anleihe an vornehme Auftritte, um Yuris Schultern, sodass schließlich nur noch die Nasenspitze und die bezwingend grünen Katzenaugen zu sehen waren. Zufrieden nickte der Kasache knapp, "das sollte genügen, bis wir aus der unmittelbaren Umgebung heraus sind." Yuri knurrte vernehmlich, verzichtete aber auf jede Kritik. Gemeinsam mischten sie sich unter die Passanten, wachsam auf etwaige Entzückensschreie oder plötzliche Bewegungen achtend. Trotz der Kälte, durchaus üblich im Dezember in Katalonien, füllten sich Plätze, Restaurants, Bars und Gassen. Sonntagabend, da wollte man noch vor Wochenbeginn Freunde und Verwandte treffen, sich austauschen, Lokalitäten wechseln. In Vorbereitung auf das in elf Tagen anstehende Weihnachtsfest hatte sich die gesamte Stadt schon festlich geschmückt und herausgeputzt. Das gefiel selbstredend auch dem touristischen Besuch, der über Kreuzfahrtschiffe oder per Flugzeug anreisend die zahlreichen Sehenswürdigkeiten inspizierte, welche er meist durch Smartphones "filterte". Otabek, der sich für seinen freien Tag über die Stadt orientierte hatte, um bei seinem Ausflug mit dem geliehenen Motorrad keine Schwierigkeiten zu erleiden, steuerte die Standseilbahn an, damit sie den Hausberg Barcelonas, Montjuic, rasch erreichen konnten. Yuri blieb eng an seiner Seite, noch vermummt, allein die grünen Katzenaugen blickten sich wachsam um. Da auf dem Berg selbst unzählige Attraktionen zum Verweilen einluden, konnte man sich aber auch gut ergehen, ohne in Gewühl zu geraten. Man schlenderten gemächlich umher, bewunderten die Aussicht auf das glitzernde Meer und die bunt beleuchtete Metropole. Sie schwiegen einhellig, ohne dass eine bedrückende Spannung aufkam, zu belangloser Konversation drängte. "Letztes Jahr hatte ich keine Chance, mir etwas anzusehen", bemerkte der junge Russe schließlich, löste den weißen Wollschal und reichte ihn seinem Besitzer, der ihn sich selbst lose um den Nacken legte. Otabek, der genüsslich durchatmete, denn die abendliche Luft war sehr klar, mit einer salzigen Note vom Meer her, nickte beifällig, "ja, es bleibt nicht viel Zeit, sich mal umzusehen." Von Müßiggang war ihr Leben ganz sicher nicht geprägt. "Was hast du jetzt vor?", erkundigte sich Otabek ruhig, "nach dem Rekord und Gold?" Der Jüngere an seiner Seite fauchte verächtlich, die Katzenaugen verdunkelten sich zornig. "Noch mehr draufpacken!", knurrte er grimmig, die Fäuste geballt, "kann mich ja leider nicht darauf verlassen, dass Katsudon diesem eingebildeten Affenarschangeber von JJ bei der Vier-Kontinente-Meisterschaft einen Dämpfer verpasst!" Er wandte sich dem Kasachen zu, funkelte hoch. "Du hast diesen Kotzbrocken ja erlebt! Aufgeblasen, arrogant, wichtigtuerisch! Der glaubt ja tatsächlich, aus seinem Hintern scheint die Sonne! Wenn ICH mit einer berühmten Rockband zusammenarbeiten würde, dann käme nicht so ein bräsiger Lahmarsch-Pop heraus!" Wie Otabek zutreffend einschätzte, war Jean-Jacques Leroy, "King JJ", der Erzfeind. DER Gegner. "Ist allerdings schwierig, ihn zu schlagen. Sein Programm hat die Höchstpunktzahl", wies er gefasst auf das größte Hindernis hin. "Weiß ich!", grollte Yuri finster, "deshalb brauche ich mehr Rotationen und Sprünge mit größerer Punktzahl. Der Kerl gehört einfach eingenordet!" Nachdenklich studierte Otabek die blasse, entschlossene Miene seines jüngeren Begleiters. "Bis zu den Weltmeisterschaften ist es nicht mehr lange hin." "Das muss langen!", die Fäuste geballt zischte Yuri die Silben, "mir steht sein King-Scheiß Oberkante Unterlippe! Von diesem Blödarsch lass ich mich nicht noch mal vorführen!" Ein sehr ambitioniertes Ziel, denn bereits beim Cup of China und beim Cup of Russia hatte Jean-Jacques Yuri auf den zweiten Platz verwiesen und ihn vor aller Welt mit dem blöden Katzenohr-Haarreifen brüskiert! Unseligerweise garantierte selbst eine fehlerlose Kür und ein ebensolches Kurzprogramm nicht, den selbst proklamierten "König" zu schlagen. "Der Kotzbrocken ist erst in dieser Saison dabei", überlegte Yuri entschlossen, "dem muss beizukommen sein! Wenn ich den schon sehe und seine dämliche Ische!!" Otabek lächelte verhalten, was Yuri veranlasste, ihn unvermittelt vorne an der langen Trainingsjacke zu packen. "Was ist so lustig?!", polterte er erbost, seine auferlegte Zurückhaltung vergessend. "Dass du ihn so wichtig nimmst", antwortete Otabek unbeeindruckt, aber treffsicher. Yuri fauchte empört, verzichtete jedoch auf jegliche Beschimpfung. Allerdings verzog er das Gesicht verärgert. "Ich kann ihn einfach nicht ausstehen", grummelte er schließlich, gab Otabeks Trainingsjacke frei und entfernte sich einige Schritte. Man konnte durchaus zutreffend vermuten, dass es nicht bloß die Wut über die herablassenden Kommentare und Aktionen war, die Yuri anfeuerte, dem Kanadier seinen Triumphzug zu vermiesen. Nein, ein gewisser Anteil an Neid war nicht zu leugnen, auch wenn Yuri sich eher die Zunge abgebissen als es zugegeben hätte. Neben der bereits bekannten, rebellischen Attitüde (und dem ärgerlicherweise nicht abzustreitenden Erfolgen) hatte Jean-Jacques Leroy dem Juniorenweltmeister und aktuellen Senioren-Grand Prix-Goldmedaillengewinner Yuri Plisetsky etwas voraus: JJ entschied selbst über Musik und Programm, war immer Herr seiner Auftritte. Zuvor hatten ihn verschiedene bekannte Coachs zurückgewiesen, sein Verlangen nach eigenen Ideen und Mitspracherecht abgetan. Nun mussten sie sich alle fehlende Voraussicht bescheinigen, aber JETZT brauchte er ihre Unterstützung nicht mehr! Freiheiten, die der junge Russe sehr gern auch für sich selbst reklamiert hätte, doch bis jetzt war es ihm lediglich gelungen, Victor Nikiforov zu einer Choreographie zu bewegen. Zugegeben, er HATTE (im Gegensatz zu JJ) mit diesem Kurzprogramm Victors langjährigen Rekord überflügelt, aber räumte ihm das mehr Rechte ein? Oder blieb er bloß die Marionette, an deren Fäden andere zogen? "Wenn der Blödmann wenigstens mal zuhören würde!", hörte Otabek Yuri schimpfen, "dann könnte man ihm ja unter die Nase reiben, dass er es versaut hat, weil er kalte Füße hatte, seine dusselige Kuh von Verlobter heiraten zu müssen! Aber der Arsch kriegt ja nichts mit!!" "Meinst du?", Otabek ließ seine Arme kreisen, lockerte die Schultern. Natürlich war es sehr unfein von JJ gewesen, in ihr vergnügliches Abendessen zu platzen, bei der Ankündigung von Victors "Verlobung" mit Yuuri Katsuki prompt durch die Gegend zu dröhnen, ER werde selbstverständlich die Goldmedaille gewinnen und seine Verlobte heiraten (da müsse sich Victor auf eine längere Verlobungszeit einrichten...). Nun wandte sich Yuri ihm wieder zu, immer noch ungehalten. "Na ja, hat ihn schon angepisst, dass Victor ihn nicht mal mit seinem Knackarsch angeschaut hat." In der Tat bemühte sich "King JJ" um jede Gelegenheit zur Provokation des Titelrekordhalters, doch Victor Nikiforov verstand es geschickt, ihn zu übersehen und seine Aufmerksamkeit gänzlich anderen Dingen oder Personen zuzuwenden. Was die bemerkenswerte Kehrseite betraf, so lieferten sich Victor und Christophe ein sehr hartes Rennen, urteilte man nach den Kommentaren ihrer Fans. Ausgesprochen appetitliche Nebenwirkungen des jahrzehntelangen Trainings zeitigten sich hier. "Schätze, er hat uns beide auf der Rechnung", stellte Yuri gerade bedächtig fest, während es in den grünen Katzenaugen blitzte. "Da gebührt dir der Vortritt", der Kasache verneigte sich leicht. "Abwarten!", wies Yuri dieses Urteil zurück, "er hat dich auch extra vor uns allen in der Lobby angepflaumt." Er lächelte, auf eine frostige, unzweifelhaft boshafte Weise. "Was ist schon ein König ohne bewunderndes Fußvolk?", formulierte er rhetorisch, merklich zufrieden mit einer Methode, den Erzfeind aus dem Konzept zu bringen, nun, abgesehen von einer Anhebung der Schwierigkeitsskala des eigenen Programms. "Wir können ihn alle zusammen in die Zange nehmen!", entwarf Yuri in grimmiger Vorfreude eine Perspektive, "beeilen muss er sich auch." Otabek initiierte einen Schlendergang, um in aufwärmender Bewegung zu bleiben. "Weshalb?", hakte er nach. Yuri schloss zu ihm auf, die Fäuste in die Blousonjackentaschen gestopft, "wegen Victor natürlich. Ah, hast du das noch nicht gehört?" Der Ältere signalisierte nonverbal gespannte Aufmerksamkeit. Neben ihm seufzte sein jüngerer Begleiter frustriert. "Victor steigt bei den russischen Meisterschaften wieder ein. Gleichzeitig wird er aber Katsudons 'Coach' bleiben, was natürlich DIE Schlagzeile ist. Da stinkt sogar 'King JJs'-Drama nicht gegen an." Womit der versierte Victor seinem frechen Herausforderer erneut geschickt den Wind aus den Segeln genommen und sich selbst den Platz im Rampenlicht erobert hatte. "Ist er Victor nicht gewachsen?", lud Otabek zu Vertraulichkeiten ein, eigentlich weniger eine Frage als eine Feststellung. Victor Nikiforov galt unbestritten als lebende Legende. Seit zwanzig Jahren betrieb der noch 27-jährige das Eiskunstlaufen, seine Titel und Medaillen zierten ganze Wände. Niemand vor ihm konnte von sich behaupten, fünfmal hintereinander Weltmeistertitel, die Europäischen Meisterschaften und in Serie Gold bei der Grand Prix-Serie zu gewinnen. Als Juniorenweltmeister hatte er selbst in seinem Debütjahr in der Seniorenriege alle deklassiert. Er wählte seine Choreographie, die Musik, seine Kostüme bald selbst aus, verabschiedete sich auch (ohne erkennbare Trauer) von seinen hüftlangen, flachsblonden Haaren, die zu seiner hellen Haut und den blauen Augen den perfekten Rahmen boten. Wer sonst wagte es, das verblassende Flachsblond mit einer silbergrauen Tönung zu "veredeln"? Unzählige Poster, Bilder, Videos und Artikel präsentierten über die Jahre seine Entwicklung, verschafften ihm Wohlstand und Sponsoring-Verträge. Seine Schlittschuhe mit den goldschimmernden Kufen waren speziell angefertigt, seine Anzüge auf Maß geschnitten. Ja, selbst ein "König" hätte keine Chance, diese Legende nachhaltig zu beschneiden. Victor Nikiforov war schlichtweg ein Ausnahmetalent, ein Genie auf den Kufen, und, ganz nebenbei, noch eine Augenweide. Der zwölf Jahre jüngere Mannschaftskamerad Yuri Plisetsky hingegen schnaubte grimmig. "Der ist ein verdrehter, nerviger, alter Sack!" Ein Urteil, was man vermutlich nur sehr selten mit Victor Nikiforov in Verbindung brachte. Otabek betrachtete das feingeschnittene Profil seines Begleiters, ohne den gewohnten hellblonden Haarvorhang fast schutzlos wirkend. Yuri seufzte verärgert, rollte mit den schmächtigen Schultern. "Blöderweise ist er ein verdammt genialer Choreograph, hat Jahre Erfahrung auf dem Buckel und ist absolut gnadenlos, wenn er was will. Er kann mit seinen Kräften haushalten. Das Publikum liebt ihn. Die würden ihm alles durchgehen lassen." "Wird ihn denn nicht die Doppelbelastung als Trainer und Eisläufer benachteiligen?", warf Otabek aufmerksam ein. Er hatte noch nie davon gehört, dass ein aktiver Eiskunstläufer gleichzeitig auch noch einen Konkurrenten trainierte. "Pah!", grollte Yuri, die Fäuste ballend, "er und Katsudon sind ein Kopf und ein Arsch! Da haben sich zwei Idioten getroffen! Glaub bloß nicht die Show a la 'ich bin ein bebrillter Warmduscher und absolut handzahm, dazu total schüchtern'!" Otabek grinste, was Yuri so aus dem Konzept brachte, dass er stolperte. Üblicherweise verbarg der Kasache seine Emotionen gründlich, ließ sich nur selten seine Gemütsverfassung anmerken. "Die Bilder waren doch recht eindeutig", erläuterte er seine profunde Erheiterung und referierte auf die Schnappschüsse vom Bankett im Vorjahr, die er vor vier Tagen gesehen hatte. Alkohol veränderte die Menschen, häufig zu ihrem Nachteil, aber wer wie Yuuri Katsuki los tanzte, intime Kenntnisse über Pole-Dance bewies und sich halbnackt produzierte, um vor versammelter Mannschaft den Titelrekordhalter Victor Nikiforov in offenkundiger Absicht auf nicht mehr besonders viel Tuch- und entschieden mehr Hautfühlung eindeutig anzugehen, der konnte sich nicht ewig hinter einer gesellschaftlich erwarteten Maske verbergen. Dieses "stille" Wasser musste mit dem Marianengraben vergleichbar sein. Ob dieser Kontrast zwischen äußerer Erscheinung und verborgener Leidenschaft Victor Nikiforov neugierig gemacht hatte? "Katsudon IST ein Idiot!", stellte Yuri kategorisch fest, "aber wenn er Dr. Jekyll im Schrank lässt und Mr. Hyde raus, dann quillt ihm der Ehrgeiz aus jeder Pore! Er ist stur, zäh und natürlich absolut nervig! Zusammen sind die beiden UNERTRÄGLICH!" Er schnaubte. "Der Typ ist erst übers Ballett zum Eislauf gekommen. Die ganze Blase in seinem Heimatkaff steht hinter ihm, und ich sage dir, die sind genauso bekloppt! Seine Bude war ZUGEPFLASTERT mit allem möglichen Klimbim von Victor, Poster, Figuren und anderem Mist! Er ist BESESSEN von Eislauf und von Victor und von Essen, was perfekt zu Victor passt! DAS sind nämlich auch SEINE drei Top-Interessen! Sie kleben ständig aneinander, puschen sich gegenseitig. Nicht zum Aushalten!!" "Das wird dann wohl eine harte Saison werden", kommentierte Otabek gefasst, "vielleicht die letzte Möglichkeit, Victor auszustechen." Yuri knurrte abschätzig. "Ich geb's nicht gern zu", stellte er richtig, "aber dazu müsste man schon sämtliche seiner Erfolge in den Schatten stellen. Victor WIRKT nur so lieb und nett, mit seiner dauernden Flirterei, den flotten Sprüchen und der Strahlemann-Nummer. Er setzt IMMER seinen Willen durch, kreist bloß ums Eis. Sein Kopf ist wie ein Computer, er kennt jede Wertung, jede Kombination, jede Abfolge. Deshalb hält's ja auch nur Makkachin mit ihm aus." "Makkachin?", Otabek stutzte, führte sie langsam zur Station der Hafenseilbahn. Mit den schicken Gondeln wollten sie über den alten Hafen hinunter in den angesagten Stadtteil La Barceloneta fahren, um sich dann gemächlich wieder am Strand entlang zu ihrem Hotel zu bewegen. "Sein Riesen-Pudel!", Yuri verdrehte die Katzenaugen, "er hat einen Pudel-Tick. Aber außer einem Hund würde es sich wohl keiner gefallen lassen, dass es immer nur ums Eine geht." Doch Yuuri Katsuki hatte unzweifelhaft den Schlüssel gefunden, um den Elfenbeinturm des Genies Victor Nikiforov zu betreten und ihn für sich zu gewinnen. Bis dato war es niemandem gelungen, dem begehrten und umschwärmten Junggesellen einen Ring anzustecken und ihn an sich zu binden. Ganz zu schweigen von Victors ungeniertem Bekenntnis, man sei verlobt und wolle, sobald Yuuri Katsuki seine Goldmedaille erringe, auch heiraten! "Katsuki ist also auch motiviert, eine Goldmedaille zu gewinnen..." "Darauf kann man sich nicht verlassen!", brummte Yuri abwinkend, "dazu hat er noch zu viel bei seinen Sprüngen aufzuholen. Ich musste es ihm noch im Frühjahr zeigen, obwohl der Depp fünf Jahre in Detroit bei Celestino Chaldini trainiert hat!" "Zumindest lernt er schnell", gab Otabek Contra, denn es überraschte durchaus, dass es Yuuri Katsuki im vorigen Jahr ins Grand Prix-Finale geschafft hatte, ohne dafür tatsächlich in seinen Sprungtechniken gerüstet zu sein. Sie gesellten sich zu den anderen Wartenden, bestiegen die Gondel. Ohne eine bewusste Vereinbarung schwiegen sie beide, genossen die gemütliche Fahrt, das sanfte Herunterschweben in die Altstadt, umgeben von einem babylonischen Sprachgewirr. Unaufgefordert schnappte sich Yuri den tiefen Saum von Otabeks leichter Trainingsjacke, um im Gewühl nicht von diesem getrennt zu werden. Als sie endlich durch die langen Gassen den Strand erreichten, registrierten sie beide erleichtert die Weite dort, ohne einschränkende, hohe Mauern oder geschäftiges Treiben um sie herum. Yuris grüne Katzenaugen blickten finster auf die entfernten Wellenkämme mit glitzerndem Zuckerguss, die Fäuste sichtbar in den Taschen geballt. "Tatsache ist", grummelte er grimmig, "dass Katsudon für die Vier-Kontinente-Meisterschaft sein Programm noch aufstocken muss, um Kotzbrocken-JJ auszustechen. Die Brillenschlange hat zwar ordentlich Dampf", das Eingeständnis fiel ihm sichtlich schwer, "aber er steht sich selbst oft im Weg, weißt du? Gerade weil er so ehrgeizig ist, hat er es letztes Jahr verbockt." "Nun, es gibt ja auch noch Leo", warf Otabek die verbale Angel aus. Gemeint war damit der 19-jährige Leo de La Iglesia, der für die USA antrat und seinen Schwerpunkt auf die Musik legte. "Ach, den großen Künstler?!", schnaubte Yuri verdrießlich, "der ist so ein Sensibelchen, dass er gegen JJ keine Chance hat." "Bei Skate America hat er Gold gewonnen", erinnerte der Kasache ruhig, ohne hervorzuheben, dass er selbst bei diesem Turnier den Silberrang erreicht hatte. Für den zarten Leo de la Iglesia, einen Zentimeter kleiner als Otabek, ein Heimspiel, obwohl man sicher nicht von einem Heimvorteil sprechen konnte, denn final entschieden nicht das Publikum, sondern das Preisgericht über die Punktzahlen. "Das war Anfang der Saison, und zwei Wochen später ist er total eingebrochen!", wischte Yuri selbstbewusst diesen Einwand weg, da er beim Cup of China schließlich teilgenommen und zum ersten Mal gegen diesen widerwärtig arroganten JJ den Kürzen gezogen hatte! "Was ist mit Guang-Hong?", der Köder tanzte. Yuri biss mit größter Selbstverständlichkeit an. "Ist nicht dein Ernst!", schüttelte er den Kopf, schenkte Otabek einen spöttischen Seitenblick, "das chinesische Küken?! Der Möchtegern-Gangster?! Selten so gelacht!" Der Kasache verzog keine Miene, obwohl er Yuris hartes Urteil nachvollziehen konnte. Der gerade 17-jährige Chinese war ebenfalls in der ersten Saison in der Grand Prix-Serie dabei, wirkte viel kindlicher als Yuri, was nicht zuletzt auch daran lag, dass er gerade mal 1,60m maß. Sein Programm, eine dramatische Verfolgungsjagd als ehrliche Krimineller, wirkte bemüht. Neben Otabek winkte Yuri lässig ab. "Die zwei Kuscheltiere können gemeinsam einen Streichelzoo aufmachen, aber für die Spitze fehlt ihnen der Killerinstinkt." "Phichit ist da schon weiter", lockte Otabek weitere Vertraulichkeiten an. Der junge Thai hatte es vollbracht, den Cup of China zu gewinnen, mit sehr populären Musiktiteln und einer hinreißenden Show, die seine Vorzüge bestens in Szene setzte. "Na ja, als Entertainer kann er JJ das Wasser reichen", gab Yuri zu, "seine Achillesferse ist jedoch der Anspruch, vom Publikum geliebt zu werden. Außerdem ist er technisch noch längst nicht so weit, dass er JJ schlagen könnte. Perspektivisch ist er besser in einer Eisrevue aufgehoben." "Bleibt noch Seung Gil", beendete der Kasache die Aufzählung möglicher Kandidaten für die ersten Ränge der Vier-Kontinente-Meisterschaften. "Hast du seine Sprüche gehört?", Yuri lachte verächtlich, "die größere erotische Ausstrahlung?! Vollkommen lächerlich! Der Typ ist ein eiskalter Fisch, steif und verkrampft. Den können sie als Aufziehmännchen rausschicken, mehr ist nicht drin." Otabek löste seinen Wollschal, legte ihn beiläufig um Yuris Schultern, denn nun verdichtete sich das Passantenaufkommen und sie näherten sich ihrem Hotel. "Er wirkt aber auf Damen, habe ich gehört", referierte er auf den 20-jährigen Südkoreaner. "Haha!", lachte Yuri heraus, bevor er sich maskierte, "genau auf die blöden Weiber, die 'mysteriös' denken, obwohl der Typ bloß maulfaul und nicht sonderlich helle ist! Die dusselige Italienerin hat ihn im Aufzug angequatscht, da hat er schon den Stoffel gegeben. Trotzdem glauben sie noch, er wäre bloß die Sorte 'starker, sensibler Typ in Schwierigkeiten', der als Prinz wachgeküsst werden muss. So schwachsinnig wie bei der Vampir-Werwolf-Story!" Otabek warf seinem jüngeren Begleiter einen fragenden Blick zu. "Na, der Twilight-Schmonzes!", half Yuri augenrollend aus, leicht gedämpft durch den Wollschal, "hast du das etwa verpasst?! Mann, du Glücklicher!! Mila hat sich den Scheiß zigmal reingezogen und mich damit genervt!" "Sollte ich diese Bildungslücke besser schließen?", erkundigte sich Otabek aufmerksam. Die grünen Katzenaugen funkelten ihn an, dann hörte er ein amüsiertes Prusten. "Kumpel, wie du dabei ernst bleiben kannst!", kicherte Yuri, wirkte für diese wenigen Wimpernschläge wie ein normaler Jugendlicher. Otabek schmunzelte dezent. "Dann konzentriere ich mich wohl besser auf mein Programm", verkündete er. Sofort schaltete der junge Russe wieder um, seine Körpersprache wurde angespannt, alert, kontrolliert. "Da ist noch mehr drin!", nickte er, "an Chris bist du schon vorbeigezogen. Allerdings läuft der zum Ende der Saison immer zu Hochtouren auf, und er ist sehr routiniert. Wenn er es nicht vermasselt, könnte es eng werden." Christophe Giacometti, der Dauerzweite in der Rivalität mit Victor, 25 Jahre alt, hatte in dieser Saison anklingen lassen, dass er ohne Victor weniger Elan verspüre, obwohl es eigentlich DIE Gelegenheit sein sollte, endlich die Spitze zu erobern. Doch trotz eines nicht zu verkennenden Ehrgeizes schien ihm sein Gegenpart Victor in direkter Konfrontation tatsächlich zu fehlen. Nach Victor stellte er den Ältesten in der Spitzengruppe und fiel mit seinem eindeutig lasziven, sehr erotischen Programm aus dem Rahmen, den selbst Yuuri Katsuki nicht sprengen konnte. Während Victor denn ewigen Flirt mit Esprit verkörperte, eine reizvolle, beinahe intellektuelle Verführung, bot Christophe das Kontrastprogramm: zerwuschelter Lockenschopf, Dreitagebart, offensive Körpersprache, die von sexueller Lust kündete, wirkte, als sei ihr Urheber gerade erst aus dem Lotterbett geglitten, auf der Pirsch für ein weiteres, unverkennbar physisches Intermezzo. Ihre ausmodellierten Körper glichen einander, doch Chris ging kaum als "jugendfrei" durch, so eindeutig, wenn auch keineswegs vulgär waren Gestik und Auftreten. Ohne Victor, der leicht ätherisch eher die romantisch-dramatische Vorstellungskraft bediente, mit einer Idee lockte und weniger ihrer praktischen Umsetzung, fand sich kein Antagonist im Teilnehmerfeld, der diesen auch für das Publikum reizvollen Kontrast aufbieten konnte. Mochte Yuuri Katsuki auch mit "Eros" Punkte sammeln, so lag der Schwerpunkt seiner "Verführung" auf einer eher passiven, weichen, beinahe femininen Komponente. Otabek war sich durchaus bewusst, dass sein geringer Punktevorsprung beim Grand Prix-Finale auch daher rührte, dass Chris ungewohnt bei einem Sprung gepatzt hatte. Darauf konnte er sich wohl kaum für die zwei anstehenden, großen Turniere verlassen. "Die anderen können auch noch nachziehen", bemerkte er nachdenklich, in der Hauptsache jedoch, um Yuris Ausführungen zu hören. Der zupfte gerade den Schal zurecht, sodass nur noch die grünen Katzenaugen in die Nacht funkeln konnten. "Für die Europäischen Meisterschaften? Wohl kaum!", winkte er entschieden ab, "dazu müsste man den bekloppten Italiener erst mal chirurgisch vom Rockzipfel seiner jüngeren Zwillingsschwester entfernen. Der Tscheche ist ganz ordentlich, aber zu nett. Und der schöne Schorsch, du liebe Güte!" Bei diesem letzten, ausgesprochen hämischen Urteil über den Teamkollegen wandte Otabek den Kopf, studierte beiläufig Yuris Körpersprache. "War er nicht Dritter beim Grand Prix in Frankreich?", erinnerte er. "Pffff!", ätzte Yuri, "das war ja, mal Chris ausgenommen, eine ziemlich maue Truppe. Nein, den schönen Schorsch kannste streichen! Der ganze Primaballerina-Diva-Scheiß hat sein bisschen Verstand total vernebelt. Außerdem hat er einen total lächerlichen Weiber-Tick!" Georgi Popovich, im selben Alter wie Christophe Giacometti, verstand sich selbst als Nummer 2 im russischen Team, was eher der Einbildung als den Ergebnissen der Saison entsprang. Sein Programm, den "Liebesverrat" thematisierend, wirkte im Teilnehmerfeld aufgrund seiner Kostümierung und des Makeups durchaus exotisch, was Yuri zu weiteren Offenbarungen veranlasste. "Ich würde mich nie in diesen lächerlichen Fetzen stecken lassen!", grollte er, "die alberne Nummer als Hexe! All dieser aufgeblasene Zirkus, weil ihn seine Schnepfe für nen Eishockey-Crack abserviert hat. Da kommt's mir hoch!" "Besser nicht hier", bemerkte Otabek trocken, was ihm einen scharfen, aber anerkennenden Seitenblick eintrug. Die Hände tief in die Blousonjackentaschen vergraben explorierte Yuri weiter das Thema. "Ehrlich, macht so einen Aufstand, dabei weiß doch jeder, wie der Hase läuft: die Hühner suchen sich Puck-Schubser, weil die gewohnt sind, das Maul zu halten. Wenn der Typ länger vor dem Spiegel herummacht als seine Ische, dann ist sowieso Hopfen und Malz verloren! Ohnehin sollte man nicht da pissen, wo man isst. Der reinste Inzucht-Verein." Was sich zweifellos auf den gemeinsamen Trainingsort bezog, denn Eiskunstlauf, Eistanz und Eishockey teilte sich die Sportfläche. Man trainierte, lebte und lernte in Gemeinschaftsunterkünften, zumindest, was St. Petersburg, seinen Trainingsstandort, betraf. "Emil war im Kurzprogramm doch recht gut?", wandte Otabek ein, der sich nicht weiter über Georgi oder Eishockey-Spieler verbreiten wollte, beides keine erfreulichen Themen. Der Tscheche war in seinem Alter, überragte ihn jedoch um 15cm und konnte von seiner Statur durchaus Christophe Giacometti das Wasser reichen. Er galt als leutselig, kontaktfreudig und offen. "Hat noch nicht genügend hochwertige Sprünge im Repertoire", widersprach Yuri, "außerdem ist er noch zu unsicher, lässt sich leicht beeinflussen. Wirkt auf mich nicht übertrieben ehrgeizig." "Und Michele?" Yuri schüttelte bloß den Kopf, wollte sein abschätziges Urteil über den 22-jährigen Italiener nicht ergänzen. Tatsächlich trat Michele Crispino immer mit seiner jüngeren Zwillingsschwester Sara auf. Beide trainierten zusammen, reisten gemeinsam, feuerten sich gegenseitig an. Diese Unzertrennlichkeit forderte deshalb Spott heraus, weil Michele Sara eifersüchtig bewachte, ständig "Verehrer" in ihrer Nähe vermutete und sie nicht aus den Augen ließ. Weiblichen Raffinessen war er jedoch nicht gewachsen, weshalb sich Sara durchaus ihre Freiheit erkämpfte. Es schien zweifelhaft, dass Michele auch fähig war, auf eigenen Füßen zu stehen. Inzwischen hatte ihr Weg sie in unmittelbare Nähe ihres Hotels geführt. Dort warteten, trotz vorgerückter Stunde, immer noch Fangruppen und Medien. Durch die Wollmaschen vernahm Otabek einen leisen Fluch. Er hakte Yuri unter, der sich spontan widersetzen wollte, einem Abwehrreflex folgend. "Ich habe eine Idee!", raunte der Kasache seinem jüngeren Begleiter zu, dirigierte sie vor die geschmückte Eingangsfront eines hell beleuchteten Restaurants. Otabek pflückte rasch seinen Schal von Yuris Schultern und streifte ihm auch sein schwarzes Tuch vom Schopf. Der junge Russe funkelte alarmiert, wartete jedoch ab, wie sich das Vorhaben gestaltete. "Dein Telefon!", streckte Otabek die Hand aus, nahm das ihm widerwillig gereichte Gerät entgegen, das mit einem prägnanten Tigeraufdruck seinen Besitzer unmissverständlich proklamierte. Er nickte Yuri kurz zu, trat trotz der Flanierenden einige Schritte zurück und knipste rasch Bilder zur Auswahl, dann kehrte er wieder an Yuris Seite zurück, reichte das Telefon seinem Besitzer und verkleidete die hellblonden Haare eilig mit seinem schwarzen Tuch. "Und?!", knurrte Yuri halb erwartungs-, halb vorwurfsvoll. "Jetzt", den Schal geschickt drapierend gab Otabek die Richtung vor, "laufen wir zurück. Du veröffentlichst das Bild. Deine Fans erkennen den Ort wieder. Sie nehmen die Spur auf und wir den Seiteneingang." Ein widerwilliges, schmallippiges Lächeln konnte gerade noch unter dem Schal erahnt werden. Yuri benutzte sein Telefon sehr häufig, aber weniger, um sich wie Phichit digital zu vermarkten und ein "öffentliches Leben" zu führen, sondern um die Blogs, Nachrichten und Auftritte der Konkurrenz zu verfolgen. Er wusste wohl, dass das, was man preisgab, anderen zum Vorteil gereichen konnte, was es selbst tunlichst zu vermeiden galt. In Sichtweite des Hotels bezogen sie eine Nische, dann loggte sich Yuri in einem Fanforum mit einem Alias ein und lud das Bild hoch. Wenige Sekunden später konnten sie Unruhe beobachten, gefolgt von einem hektischen Sprint in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Trubel zog die Aufmerksamkeiten auf sich, weshalb es ihnen selbst gelang, unbemerkt in die Lobby einzutreten. Sie durchquerten sie, die Schlüsselkarten für die Hotelzimmer sichtbar in den Händen, damit der allgegenwärtige Sicherheitsdienst sie nicht aufhielt. Im Aufzug schenkten sie sich ein triumphierendes Lächeln, ergänzt von der Daumenhoch-Geste. "Willst du gleich in deine Bude?", erkundigte sich Yuri, als sie das Geschoss erreichten, wo die Eiskunstlauf-Riege untergebracht waren. "Ich habe es nicht eilig", antwortete Otabek, denn am morgigen Tag würden sie abreisen. Ein Wiedersehen gäbe es erst im neuen Jahr im März, bei den Weltmeisterschaften. "Dann komm, quatschen wir noch ein wenig!", ging Yuri voran, "keine Angst, das Zimmer ist nicht so ein Saustall wie bei den Weibern." "Das hatte ich auch nicht angenommen", verkündete Otabek würdevoll, denn er wusste, dass Yuri sich das Zimmer mit dem russischen Cheftrainer, Yakov Feltsman, teilte. Ein scharfer Blick aus den grünen Katzenaugen sezierte ihn förmlich, doch Otabek bestand auch diese Prüfung. Tatsächlich war das nüchtern gehaltene Zweibettzimmer nicht von seiner eigenen Unterbringung zu unterscheiden. Rollkoffer jeweils am Fußende (Yuris selbstverständlich mit Leopardenmuster-Aufdruck), die Betten gemacht, alles unbehaust wirkend. "Möchte nicht wissen, wie es bei den Tussis jetzt aussieht", lud Yuri mit einer Geste ein, es sich auf seinem Bett bequem zu machen, "ist sonst immer ein totales Durcheinander. Überall liegt Kram herum, Klamotten, Kriegsbemalung, Schnickschnack! Das reinste Minenfeld!" "Du wohnst im Internat, nicht wahr?", Otabek ließ sich gewandt nieder, nachdem er sich seiner Regenjacke und auch des Smokingoberteils entledigt hatte. "Pff!", Yuri rollte den Schal auf und faltete das Tuch, "Wohnheim trifft es eher. Alles ziemlich heruntergekommen, hat sich in den fünf Jahren, als du im Sommercamp da warst, nicht verändert. Allerdings musste ich das letzte halbe Jahr beim Raffzahn hausen." "Raffzahn?", Otabek zog die wie getuscht wirkenden Augenbrauen fragend zusammen. "Die Baranovskaya", dolmetschte Yuri ungerührt, "hat darauf bestanden. Sie ist Yakovs Ex. Kannst du dir das vorstellen?! Mit den beiden in einer Bude?!" Er schüttelte sich demonstrativ und zog eine Grimasse. Dass er derart ungebührlich von der ehemaligen Primaballerina und gefragten Choreographin des weltberühmten Bolschoi sprach, überraschte den Kasachen. Es musste immerhin ein unerhörtes Privileg darstellen, von ihr betreut zu werden. Seine Verwunderung entging Yuri nicht, obwohl die geübte, stoische Miene des Kasachen nichts zu verraten schien. Allerdings hatte sein Gegenüber eine unerbittliche, harte und gnadenlose "Schule" absolviert und registrierte Nuancen in Körpersprache und Atmosphäre. Er lächelte schmallippig und ohne jedes Amüsement. "Was habe ich es gut getroffen, wie?", schnurrte er mit ätzendem Unterton, "aber der Hungerhaken hat ganz sicher nicht aus altruistischen Motiven den Job übernommen. Yakov ist nicht aus Fürsorge bei ihr zu Kreuze gekrochen." Otabek studierte die feingeschnittenen Züge des Jüngeren. Mit seiner ätherisch-schmal anmutenden Gestalt, der bleichen Haut und den hellblonden, schulterlangen Haaren wirkte er in trügerischer Weise wie ein exotischer Naturgeist. Dieser Jugendliche, den er vor fünf Jahren das erste Mal gesehen hatte, zerbrechlich, zart, hatte damals die Augen eines Soldaten gehabt. Nun konnte man den Krieger erkennen. Dieser 15-jährige Junge hatte sich an die Spitze gekämpft. Sein raubeiniges, schroffes Verhalten täuschte darüber hinweg, welch scharfer Verstand hinter dem langen, hellblonden Pony arbeitete. "Es geht um Victor", vermutete Otabek laut. Yuri lächelte ihm angesäuert zu. "Wen sonst?!", knurrte er, "deshalb ist der Alte auch so übellaunig. Mein Weltrekord im Kurzprogramm beruht auf Victors Choreographie. Katsudon war nahe dran, wenn er nicht aufs Eis gelangt hätte, AUCH mit Victors Choreographie. Weltrekord bei der Kür, Katsudon, mit Victors Betreuung. Nur knapper Vorsprung, obwohl er seine Ex bemüht hat, die auf Victor auch nicht gut zu sprechen ist, weil er seinen Kram selbst macht und alle Angebote ihrerseits 'überhört' hat." Er schnaubte. "Aber der feine Herr Nikiforov überhört sowieso gern Dinge, die ihm nicht passen. Vor zwei Jahren hat er mir versprochen, für mein Debüt das Programm zu entwerfen! Und dann haut er zu Katsudon ab!", empört ballte er die Fäuste. "Wie hast du ihn dazu gebracht, dir das zu versprechen? Er macht doch nie was für andere?" Zumindest hatte Otabek bis zu dieser Saison nicht davon gehört, dass Victor Nikiforov sich so für andere Eiskunstläufer einsetzte. Yuri grimassierte grimmig. "Ach, das war bloß, weil ich Sprünge eingebaut habe, die ich noch nicht machen durfte!", er rollte mit den Katzenaugen, "Yakov hat herumgemeckert, dabei hatte ICH ja wohl allen Grund dazu, mit der bescheuerten Topffrisur und dem albernen Hosenmatz-Aufzug! Victor hat sich von den Zuschauerrängen eingemischt. Da habe ich eben die Gelegenheit genutzt! Weiß ja schließlich jeder, dass der spinnerte Kerl ständig gewinnt!" Der junge Russe grollte weiter, "dann, letzte Juniorenweltmeisterschaften, da war ich zwischendrin sogar gewachsen, hab trotzdem abgeräumt, obwohl beide herumgenörgelt haben. Ich hab ihn ständig daran erinnert, was er versprochen hat. Bloß wegen dieses dämlichen Tanzwettstreits beim Bankett...!! Ich meine, vorher hat er Katsudon nicht mal wahrgenommen!!" Zumindest war Yuri keine besondere Aufmerksamkeit gegenüber dem Japaner aufgefallen. Allerdings hatte sich das Nervenbündel häufig auf die Toiletten verzogen, während Victor ständig im Rampenlicht stand und kaum Privatsphäre für sich reklamieren konnte. Er selbst HATTE diesen Yuuri Katsuki jedoch registriert, nicht nur wegen der Namensähnlichkeit. Was ihm aber aufgestoßen war, und es immer noch tat!, konnte darunter subsumiert werden, dass Yuuri Katsuki sich hinter einer Maske versteckte, die ihn wortwörtlich zu Fall brachte. Weil der ehrgeizig, egoistisch und eigensinnig war, obwohl er entsprechend der gesellschaftlichen Erwartungshaltung bescheiden, zurückgenommen und reserviert sein sollte. Hätte Katsudon nicht so viel Champagner auf nüchternen Magen getankt...!! Yuri knurrte in Erinnerung laut. "Kaum hat der feine Herr Nikiforov den fünften Weltmeistertitel ergattert, schon ist er nicht mal einen Monat später in Japan, will Trainer spielen! Aber ein Ehrenwort ist ein Ehrenwort!" Deshalb war er ihm gefolgt, um sich für sein Debüt die beste Kurzprogrammchoreographie abzuholen! "Hat Coach Feltsman dich tatsächlich abfliegen lassen?" Otabek erstaunte dies, denn nach den letzten, wütenden Einlassungen des russischen Trainers, der Victor jedwede Eignung als Trainer absprach, konnte man kaum davon ausgehen, dass hier noch freundschaftliche Gefühle vorherrschten. "Iwo!", winkte Yuri ab, "aber wenn Victor abhauen kann, kann ich das auch. Hatte ja noch die Akkreditierungen, war ja auch schon vorher mal in Japan. Bloß dieses Kaff!! Bis ich das mal gefunden hatte!" Also war der Minderjährige unbegleitet mit mutmaßlich dezenten Verdrehungen der Wahrheit einfach hinterher gereist! "Ganz schön teuer, musste ja bar bezahlen", verriet Yuri ihm, "aber wenigstens hat die Reiseagentur alles organisiert. Da brauchte ich bloß den Meister zu kopieren, der diese Nummer auch schon abgezogen hatte." "Und dann hast du bei Katsuki gewohnt?" "Sicher", bestätigte Yuri ungerührt, "die Flugtickets gingen an meine Reserven! Außerdem wäre es ja wohl total unfair gewesen, wenn nur ER mit Victor trainiert, oder?!" Otabek runzelte die Stirn. "Gibt es da eigentlich ein Leistungszentrum? Ich habe noch nie davon gehört." Falls ja, warum hatte Yuuri Katsuki dann fünf Jahre in Detroit verbracht? Er selbst hatte sich dort auch für eine Zeitspanne aufgehalten, bevor er nach Kanada weitergezogen war, immer mit dem unveränderten Ziel, sich zu verbessern, zur Elite aufzusteigen, auch wenn er nicht über die offenbar zwingende Gelenkigkeit der Ballett-Eleven verfügte. "Von wegen!", winkte Yuri ab, "in dem Kaff gibt es eine falsche Ninja-Burg, einen einfachen Eislaufring und die heißen Quellen, dazu ein wenig Fischfang. Und sonst rein gar nichts." Ja, Yuuri Katsuki musste in die Welt ziehen, um herauszufinden, wie die besten Eiskunstläufer trainierten. Yuri blickte für einen langen Augenblick konzentriert in die Ferne. Was er dort sah, schien ihm nicht zu gefallen. Er seufzte frustriert. "Der Alte und der Raffzahn sind auf dem Kriegspfad, weil Victor zwar zurückkommt, aber trotzdem für Katsudon als Trainer agiert. Er macht also weiter sein Zeug, und sie haben das Nachsehen. Aber verweigern können sie ihm nichts, dazu ist er zu populär, hat zu viel gewonnen. Das gibt nur Stress! Lohnt sich wahrscheinlich nicht mal, Makkachin durch die Quarantäne zu schleusen." "Du glaubst, sie werden nicht in St. Petersburg mit euch trainieren?", dechiffrierte Otabek die düsteren Zukunftsaussichten. "Bis zum ersten großen Krach!", schnaubte Yuri, "Victor ist zwar geschickt darin, alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, aber der Alte weiß ja, worauf es hinausläuft: wenn Victor erfolgreicher ist und seine Karriere beendet, wird ER der neue Anziehungspunkt für Talente sein." "Dann bist du in der Saison nicht zu beneiden", stellte Otabek ruhig fest. Yuri grinste spöttisch. "Hast du nicht behauptet, du beneidest mich ohnehin nicht?", erinnerte er schelmisch. "Jetzt noch weniger", versetzte der Kasache würdevoll, die dunklen Augen humorvoll funkelnd. "Willst du mich denn nicht schlagen?!", die grünen Katzenaugen lauerten. Otabek lächelte zurückhaltend, "ich will mein Bestes geben. Wenn es reicht, dich zu übertrumpfen, ist mir das auch recht." "Pah!", Yuri versetzte ihm einen Faustschlag gegen den Oberarm, "wir werden ja bei den Weltmeisterschaften sehen, wer mehr raushaut!" "Das werden wir", bekräftigte Otabek und streckte ihm die Rechte entgegen. Yuri zögerte einen Augenblick, dann schlug er ein und schüttelte sie entschlossen. "Ich werde alles nutzen, was ich habe!", verkündete er, "ab jetzt muss ich auch nicht mehr beim Raffzahn hausen!" Er legte den Kopf schief und grimassierte. "Wenn ich mehr Punkte bekommen will, muss ich mehr Sprünge und mehr Rotationen aufbieten. Ergo: endlich wieder anständig essen!" "Halten sie dich so knapp?", erkundigte sich der Kasache mitfühlend, überrascht, dass Yuri seine Hand noch nicht freigegeben hatte. Die feinen Gesichtszüge verhärteten sich blitzartig. "Ich bewege mich am Limit. Und der Hungerhaken zählt jeden Bissen mit. Einfach grässlich! Allerdings ist es auch ein Spiel auf Zeit." Damit löste er ihre Hände, legte jedoch die Handfläche auf Otabeks. Obwohl sie fünf Zentimeter und fast zweieinhalb Lebensjahre trennten, reichten die Fingerkuppen genau heran. Anders als Otabeks kräftige Hände zeichneten sich Yuris durch eine schmalere Handfläche und lange Finger aus. Der verstand diesen wortlosen Abgleich. Dieser hatte ihn nämlich in seiner Kindheit die Zukunft als potentieller Eishockey-Profi gekostet: prognostisch eine zu geringe Körpergröße. "Ich kann etwa Victors Größe erreichen", erläuterte Yuri leise, "leider kommt das Wachstum bei mir in heftigen Schüben. Wenn ich jetzt draufpacke, muss ich vielleicht schon bald die Quittung kassieren." Otabek hob den angewinkelten Arm, um leicht in einer martialisch anmutenden Geste gegen Yuris reflexartig angezogenen Arm in Höhe des Brustkorbs zu schlagen, "du schaffst das." "Klar schaffe ich das!" Sie grinsten beide wild ob der großspurigen Interaktion. Otabek erhob sich, sammelte seine Habseligkeiten ein, "ich sollte langsam auf mein Zimmer gehen. Wir sehen uns morgen ja beim Frühstück noch mal." Yuri löste sich ebenfalls von der Matratze. "Bloß werden wir da keine ruhige Minute haben!", prophezeite er grimmig. Der Kasache kräuselte die Mundwinkel, sich an der Zimmertür zu ihm umdrehend, "das kann uns nicht aufhalten." "Nein", lächelte Yuri verschwörerisch und verabschiedete seinen neugewonnenen Freund auf den Flur. *~#~* Nein, die Stimmung am russischen Frühstückstisch konnte wohl niemand als übertrieben euphorisch beschreiben. Yuri ignorierte die frostigen Blicke der ehemaligen Primaballerina, die sich an Kaffee und einer Banane 'labte' und überhörte gekonnt das Geplapper seiner Sitznachbarin Mila, die vom Bankett und der späteren Feier berichtete. Der russische Cheftrainer, Yakov Feltsman, bemühte sich unterdessen, eine Blickrichtung ganz sicher NICHT einzunehmen, denn in dieser Achse konnte der Frühstücksgast beobachten, wie munter und nur dezent übernächtigt die russische Eiskunstlauflegende Victor Nikiforov mit seinem Schützling/Partner/Verlobten/In-spe-Konkurrenten Yuuri Katsuki interagierte. Der Eros-Modus blieb ausgeschaltet, wie gewöhnlich wirkte Yuuri Katsuki etwas dröge und langweilig mit der blauen, halbgerahmten Brille und den ins Gesicht fallenden, schwarzen Strähnen. Victor störte sich offenkundig nicht daran, er flirtete und plauderte, suchte Körperkontakt, ganz auf den jüngeren Japaner ausgerichtet. Man konnte nur vermuten, welche Pläne er bereits für die nächste Saison ausheckte. Ebenso lebhaft ging es am "nordeuropäischen" Tisch zu. Michele Crispino kabbelte sich mit dem gutmütigen Emil Nekola, während Sara Crispino mit einer Teamkollegin Erfolge des gestrigen Abends austauschte. Die Stimmung hob sich, als Phichit mit seinem italienischen Trainer dazustieß, wie gewohnt Bilder mit dem Telefon schoss, lachte und gestikulierte. Ja, der gestrige Tanz nach dem Bankett konnte als Erfolg verzeichnet werden, obwohl es keine Wiederholung der nicht jugendfreien Eskapaden des Vorjahres gegeben hatte. Phichit erwies sich wie auch Emil als guter Tänzer auf dem glatten Parkett. Keine Dame blieb ohne Aufforderung, selbst der grummelig-eifersüchtige Michele musste sich mitreißen lassen. Was Yuuri und Victor betraf: sie nutzten ebenfalls das schwungvolle Getümmel, fanden sich plötzlich Rücken an Rücken, klatschten gegenseitig ab und tanzten miteinander, so eingespielt, mit galantem Führungswechsel, dass niemand "Skandal" schrie, sondern sie bewunderte für ihre Harmonie. Yuri erhob sich, getarnt durch Phichits Runde durch den Saal, bis der sich bei Yuuri an den Tisch setzte, marschierte zum Büfett hinüber, das warnend-befehlende "Yuri Plisetsky!" in den Ohren. Aber er hatte seinen Entschluss gefasst und war nicht bereit, weiterhin zu hungern, wenn ihn das der zusätzlichen Kräfte und Energie beraubte, die er für höher bewertete Elemente benötigte. Mochte Otabek ihn auch für einen Soldaten gehalten haben: jetzt war er längst ein Kämpfer für die eigene Sache! "Guten Morgen", hörte er die sonore Stimme des Kasachen. Während sich die kleine Abordnung freie Plätze suchte, orientierte sich Otabek ebenfalls am weitläufigen Büfett. "Morgen", antwortete Yuri kurz, löffelte sich entschlossen Kohlenhydrate und Eiweißlieferanten in seine Schüssel, "hast mit mir gestern die bessere Wahl getroffen. Mila schnattert mir seit dem Aufstehen schon die Ohren voll, wie oft sie mit wem getanzt hat! Weiber!" Otabek schmunzelte verhalten, versorgte sich ebenfalls mit einem Tablett, das er systematisch bestückte. "Möglicherweise hilft es ihnen beim Stressabbau", vermutete er, entschied sich für Tee statt Kaffee. "Pah!", knurrte Yuri, nicht willig, bis zur Rückkehr an seinen Platz mit dem Speisen zu warten, "da kommt bei mir erst Stress auf!" Mit dem Rücken zu den übrigen Frühstücksgästen leistete sich Otabek ein amüsiertes Grinsen. "Dann hast DU wohl mit mir gestern die bessere Wahl getroffen", stellte er fest. Yuri, gerade kauend, funkelte ihn herausfordernd an, verzichtete jedoch auf eine bissige Replik. Da er mit dem Rücken zu den Tischen lehnte und nicht gesonnen war, sich von Otabek so schnell zu verabschieden, registrierte er auch weitere Spätankömmlinge: der lärmende JJ mit seiner Entourage, die glücklicherweise in heilsamer Entfernung ihren Tisch bezogen und die bescheidene Schweizer Crew, die sich zu Yuuri, Victor und Phichit gesellte, um die freien Plätze zu nutzen. Otabek behielt die Kanadier im Auge, denn es schien ihm ratsam, den aufgekratzten JJ nicht auf seinen jüngeren russischen Freund treffen zu lassen, um Unfreundlichkeiten vorzubeugen. Höflich traten sie beiseite, als der jugendlich wirkende, sehr attraktive Schweizer Funktionär ein Tablett bestückte, was wohl Christophe und dessen untersetzten, kahlköpfigen Trainer mitversorgen sollte. "Dem werden wahrscheinlich auch die Zehen wehtun", bemerkte Yuri spöttisch, denn JEDES weibliche Wesen legte es darauf an, mit dem Sexsymbol schlechthin einen sehr langsamen Schieber aufs Parkett zu legen, wie Mila ihm mehrfach ins Ohr getrötet hatte. Besonders die japanische Ex-Ballerina, die Katsudon in Form brachte, Minako Okukawa. Der Kasache folgte seinem Blick, doch nichts wies darauf hin, dass der Schweizer sich nicht ganz wohl befand. "Schon bemerkenswert", raunte Yuri mit einem hintergründigen Lächeln auf den schmalen Lippen, "dass ein Funktionär EXAKT die Frühstücksgewohnheiten eines Eiskunstläufers kennt." Der attraktive Mann, wie üblich im Anzug, nahm artig neben Christophe Platz, immer zurückhaltend, im Hintergrund, aufmerksam, assistierend, beispringend. Wie man hörte, hatte er ebenfalls eine Profisportlerkarriere angestrebt, war jedoch zu den administrativen Aufgaben gewechselt. Otabek beließ es bei einem kurzen Aufblitzen in den schwarzen Augen. Ja, wenn man die beiden Männer so nebeneinander sah, konnte man eine intime Vertrautheit spüren, im Mindesten eine Freundschaft, die sehr diskret gelebt wurde. Wie ironisch wäre der Gedanke, dass das begehrte Sexsymbol sich längst in festen Händen befand? "Alles Show", stellte Yuri neben ihm leise fest, seine Schüssel blitzblank geleert, "Scharaden, Spiegelfechtereien, Ablenkungen, Schall und Rauch, wie auf der Bühne eines Illusionisten. Man darf nichts glauben." Den Kopf leicht neigend, um die Distanz zu verringern, raunte Otabek sonor, "ich glaube. Ich glaube an mich." Yuri wandte sich ihm zu, die grünen Katzenaugen sezierten ihn förmlich. "Dann pass gut auf dich auf, mein Freund. Das ist kein Spiel." Ein knappes Nicken zum Abschied, schon ließ ihn der jüngere Russe allein, kehrte an seinen Platz zurück, um desinteressiert Vorhaltungen an sich abprallen zu lassen. Otabek schüttelte den leichten Schauder ab, der ihm über den Rücken gekrochen war. Vielleicht war doch etwas dran, Yuri Plisetsky als "russian fairy" zu betiteln, wenn man die Ursprünge der "Elfen" nicht vergaß... *~#~* Kapitel 2 - Getrennte Titelwettkämpfe Der Jahreswechsel verlief unspektakulär, man konnte sich ein kurzes Durchatmen gönnen, bevor die nächsten drei Monate mit Wettkämpfen anstanden. Victor hatte sich zusammen mit Yuuri einen gemeinsamen Kanal eingerichtet, der Neuigkeiten und Bilder veröffentlichte, in geschickter Vermarktung an ihrem Sportler- und Alltagsleben teilhaben ließ. Dort konnte man dann Schnappschüsse betrachten, die die beiden zum Neujahr in traditionellen japanischen Kostümen (trotz dichtem Schneetreiben) im örtlichen Schrein zeigten, anschließend bei einer lebhaften Schneeballschlacht mit Nachbarskindern. Victor warb ungeniert für die heißen Quellen, futterte sich durch die Lokalitäten der Umgebung, strahlte in alle Kameras, schnurrte einfache japanische Phrasen, gewann sämtliche Herzen. Wen das noch nicht überzeugte, der wurde mit Riesen-Pudel Makkachin eingefangen, der wie sein Herrchen Charme versprühte, selbstredend ohne dessen sorgsam kalkuliertes Drehbuch. Aber auch Yuuri Katsuki, der ehemalige "Katsudon-Liebhaber", verwandelte sich auf subtile Weise. Er wirkte weniger fahrig, verkrampft, sich selbst kontrollierend. Das nahm sich auch schwierig aus neben jemandem wie Victor, der ungeniert Aufmerksamkeit und Zuwendung einforderte! Weg vom einzelgängerischen Eigenbrödler enthüllte er die Körpersprache, die er so perfekt in den langen Jahren des Balletttrainings geübt hatte. Natürlich wollte er mehr, musste mehr erreichen, denn Victor wünschte nun mal, eine Goldmedaille zu küssen. Aber in dieser Saison hatte er endlich akzeptiert, die Person zu sein, die er nun mal war. Nun warteten alle gespannt darauf, wie Yuuri sich bei der Vier-Kontinente-Meisterschaft präsentieren würde. Ob er einen Weg fand, innerhalb von zwei Monaten Programm und Durchführung so zu steigern, dass er selbst "King JJ" in den Schatten stellen und das begehrte Gold erobern konnte? Phichit, Thailands Nationalheld, dokumentierte wie immer lebhaft und fröhlich das chinesische Neujahrsfest, ließ sich beim Training knipsen, grüßte seine Freunde, strahlte vor Begeisterung aus jedem (nicht vorhandenen) Knopfloch seiner Trainingsklamotten. Er wollte unterhalten, anstecken, Fröhlichkeit und Zuversicht verströmen. Guang-Hong und Leo, trotz des Altersunterschieds von eineinhalb Jahren eng befreundet, hielten sich mit ihren "öffentlichen" Auftritten zurück. Vergleichbar zart und zierlich hatten sie daran zu knabbern, dass die erste Saison der Elite-Liga sich gar nicht so leicht ausnahm. Sie entschieden, sich zur Feier von Guang-Hongs 18. Geburtstag in Hongkong zu treffen, der auf den ersten Samstag des neuen Jahres fiel. Da konnte man auch gleich für das bevorstehende chinesische Neujahrsfest Wünsche anmelden und neue Kräfte sammeln! "King JJ" ließ sich wie gewohnt in seiner kanadischen Heimat feiern. Seine Erfolge, von den eigenen Eltern betreut, setzten auch die Funktionäre unter Zugzwang, denn solche Konstellationen sah man nicht gern. Obwohl er die Statuten keineswegs verletzte, wirkte sein Auftreten mit Rock-Attitüde nicht unbedingt einnehmend, was die Offiziellen betraf. Bei aller Athletik und technischer Herausforderung sollte es jedoch um eine inzwischen tradierte Kunstform gehen, um Eleganz, ja, um Ballett auf Kufen, mit entsprechendem ästhetischen Anspruch! Was man ganz sicher nicht fördern wollte, war die "gewöhnliche", rummelplatzartige Qualität von Revuen, die um die Welt zogen, mit Populär-Musik-Untermalung, schrillen Kostümen, Gaukelei und niedrigerem Niveau, das nur auf Schauwerte beim (ungebildeten) Publikum abzielte! Hier bildeten sich jedoch auch Fronten, denn schließlich ging es auch bei diesem Sport um Sponsoring, Einschaltquoten, Nachwuchs, öffentliches Interesse. Das wiederum schloss den Kreis zu Jean-Jacques Leroy, den man erst "abgebürstet" hatte, weil er nach eigenen Vorstellungen seinen Sport leben wollte und nun zähneknirschend akzeptieren musste, dass er TROTZDEM nicht nur stur durchgehalten, sondern auch Erfolge vorzuweisen hatte. Besonders fleißig und in offizieller Mission unterwegs erwies sich der Tscheche Emil Nikola. Zahlreiche kurze Einspieler stimmten die Interessierten auf die Europäischen Meisterschaften in Tschechien ein, denn dort, in Ostrava, würde am letzten Januarwochenende der "Endspurt" in die zweite Saisonhälfte einen ersten Höhepunkt erleben. Selbstverständlich galt Yuri Plisetsky dank seines Goldmedaillengewinns bei der Grand Prix-Serie als Favorit. Hinter vorgehaltener Hand wurde jedoch gemunkelt, dass der tatsächlich hochklassige "Event" vor der alljährlichen Weltmeisterschaft die Vier-Kontinente-Meisterschaft sei. Dort träten die führenden Eiskunstläufer geballt an, Jean-Jacques Leroy, Yuuri Katsuki, Otabek Altin, Phichit Chulanont und auch Leo de la Iglesia. Man erwartete, dass in Ostrava der Senior im Feld, Christophe Giacometti, seine Erfahrung ausspielen würde, und, ja, Emil Nikola, für den Gastgeber im Rennen, würde sich sicherlich auch von seiner besten Seite zeigen. Trotzdem. Würden die Verfolger des russischen "Eistigers" ihr Programm noch aufstocken können? Reichte die knapp einmonatige Trainingszeit seit dem Grand Prix-Finale dazu aus? Wie würden die Programme sich ausnehmen im Vergleich zu "King JJ"s Vorgabe, eine fehlerfreie Umsetzung erwartend? Somit war das Podium eigentlich schon gesetzt, nur wer sich auf welchem Platz einfinden würde, blieb noch offen. Sicher, auch aus dem übrigen Teilnehmerfeld konnte noch der ein oder andere die Gelegenheit nutzen und sich ins rechte Licht setzen, aber ernsthafte Zweifel an den Qualitäten der drei Grand Prix-Teilnehmer gab es kaum. *~#~* Otabek verfolgte die stockende Übertragung der beiden Durchgänge über das Internet, wie vermutlich auch die gesamte Konkurrenz aus dem Feld, denn man wollte sich selbstredend auf den neuesten Stand bringen. Die ersten beiden Tage dienten allen Teilnehmenden der gesamten Veranstaltung zum freien Training. Die Herren würden erst am Donnerstag und Freitag ihren Einsatz haben, wobei von den 36 angemeldeten Startern nur die besten 24 nach dem Kurzprogramm ihre Kür zeigen durften. Wie gewohnt würde die Reihenfolge ausgelost werden, und von den Bestplatzierten erwartete man am Sonntagnachmittag auch eine Vorführung, die "Exhibition", bevor das gewohnte Bankett die Meisterschaft abschloss. Aus dem russischen Lager hatte es seit dem Abflug aus Barcelona keine Bilder oder Veröffentlichungen gegeben. Man munkelte sogar, dass der Coach ein explizites Verbot verhängt hatte. Zaungäste oder Fans wurden nicht geduldet, die Anlage abgeschirmt. Yuri hatte Otabek dennoch kurze Textmeldungen zukommen lassen. Offenbar herrschte die von ihm angedeutete angespannte und missmutige Stimmung noch immer in St. Petersburg. Victor Nikiforovs Ankündigung hatte ihren Schatten geworfen und ließ sich nicht einfach wegwischen. Was die "russian fairy" nicht anfocht, wie Otabek schmunzelnd registrierte. Es gab ein festes Ziel, der Weg dahin war bekannt und Yuri Plisetsky würde den Teufel tun, sich aufhalten zu lassen! Mochten die Europäischen Meisterschaften auch in dieser Saison ohne den überlebensgroßen Victor Nikiforov als eher nachrangig eingestuft werden, ER hatte nicht die Absicht, sich in seinem ersten Seniorenjahr die Butter vom Brot nehmen zu lassen! Die Nummer 2 im russischen Team, Georgi Popovich, von Yuri spöttisch "der schöne Schorsch" genannt, fand sich ebenso im Teilnehmerfeld wie auch der Italiener Michele Crispino. Ihr Programm blieb fehlerfrei, konnte jedoch die Punktzahl von Yuri auf keinen Fall angreifen. Nun wartete man gespannt darauf, ob Christophe Giacometti seinem anspruchsvollen Programm noch etwas hinzufügen würde. Nach dem Kurzprogramm, dass Yuri makellos und ohne jede Änderung absolviert hatte, führte er erwartungsgemäß vor Chris, der sich seinerseits keine Blöße gegeben hatte. Dritter im Bunde, glückstrahlend, Liebling des heimischen Publikums, Emil Nikola. Die Kür würde entscheiden, würde möglicherweise auch enthüllen, was in zwei Monaten bei den Weltmeisterschaften zu erwarten stand. Angefeuert vom Publikum gelang es Emil, seine futuristisch angehauchte Kür nahezu fehlerfrei zu präsentieren. Anders als in der Grand Prix-Serie konnte er nun zeigen, welches Potential in ihm steckte. Für Christophe Giacometti stellte seine Kür das möglicherweise letzte Ticket für eine Goldmedaille bei den Europäischen Meisterschaften dar. Der ewige Zweite hinter Victor musste diese Gelegenheit eigentlich nutzen, denn es stand nicht zu erwarten, dass er bei den Weltmeisterschaften die Spitze erklimmen konnte. Doch was reichte aus, um Yuris Kür, die als letzte zu sehen sein würde, auszustechen? Chris beließ die zweite Hälfte seines Programms in der vorgesehenen Form, schraubte jedoch in der ersten Hälfte durch leicht veränderte Sprünge und Figuren die Punktzahlen höher. Er konnte diese Leistung bewältigen, ohne sich für die zweite Hälfte völlig auszupowern und durch Fehler Einbußen zu erleiden. Otabek atmete unwillkürlich tief durch, als Yuri das Eis als Letzter betrat. In dem auffälligen Kostüm, auf dem Flammen zu lodern schienen, mit den Federn an den Schuhen, die hellblonden Haare streng aus dem Gesicht gebunden, wirkte der junge Russe distanziert und zu allem entschlossen. Seine berühmte Choreographin war nicht mehr im Tross dabei, was einige Kommentare dazu veranlasste, auf eine mögliche Missstimmung im russischen Lager hinzuweisen. Yuris Kurzprogramm hatte ihm einen neuen Weltrekord bei der Punktzahl eingebracht und damit auch den hauchdünnen Sieg vor Yuuri Katsuki. Seine Kür war herausfordernd und anspruchsvoll, mit hohem Tempo und man konnte kaum glauben, dass der zierliche Jugendliche am Ende noch auf den Kufen stand. Wie sollte man sich hier steigern? Otabek fragte sich selbst zusätzlich, ob Yuri, der "sibirische Eistiger", taktisch planvoll vorgehen und noch nicht alles enthüllen würde, was er bei den Weltmeisterschaften umzusetzen gedachte. Wie alle anderen hielt er den Atem an, als Yuri jeden Sprung mit der höchstmöglichen Umdrehung und Ausführung ansteuerte. Und stand. Am Ende sackte er vornüber auf das Eis, der gesamte Körper zitternd, weil er sich bis ans Limit verausgabt hatte, doch es konnte kein Zweifel bestehen: Yuri Plisetsky hatte einen weiteren Weltrekord mit seiner Kür eingestellt. Nerven aus Drahtseilen bewiesen, einen eisernen, unbeugsamen Willen. Er lächelte höflich auf dem Podest, als man ihm die Goldmedaille umhängte, doch wer in seinen feingeschnittenen Zügen las, konnte mühelos entziffern: das ist noch längst nicht das Ende! Als Otabek Gratulationen verschickte, sehr beeindruckt von der Leistung seines jüngeren Freundes, erhielt er eine dementsprechende Replik: [Jetzt bist du dran! Hau sie weg!] *~#~* Alle zwei Jahre fand die Universiade statt, die "Olympischen Spiele" der Studierenden. Wenn Almaty der Gastgeber war, konnte Otabek Altin als "kasachischer Held" durch seine Erfolge in den letzten beiden Saisons nicht außen vor bleiben! Otabek wusste, dass man ihm zu einem Studium verholfen hatte (mit zusätzlichem Unterricht und viel Entgegenkommen bei der Ableistung seiner Prüfungen), damit er hier seine Medaillenchancen wahrnahm. Obgleich er nicht im selben Maß wie Emil Nikola eingespannt wurde, sollte er doch bei kurzen Einspielungen sein Heimatland vertreten und auch dem eigenen Publikum die Begeisterung eingeben, sich als Gastgeber zu bewähren, damit man für die hochmodernen Sportstätten in Zukunft endlich auch "bedeutendere" Spiele empfangen konnte! Also stellte er das Trainingsumfeld vor, die Sehenswürdigkeiten, den Alltag der Eiskunstlaufenden, garniert mit sorgsam ausgewählten persönlichen Informationen, die seiner gewohnten Zurückhaltung nicht entsprachen, aber für die emotionale Bindung mit dem Publikum sorgen sollten. Obwohl er durchaus Kameras gewohnt war (welche Eiskunstlaufenden nicht?), empfand Otabek seine gewünschte Medienpräsenz als anstrengend. Kein Zweifel, ein zweiter "King JJ" würde aus ihm ganz sicher nicht werden! Am Wochenende nach den Europäischen Meisterschaften mussten die studierenden Eiskunstlaufenden ihre Leistungen präsentieren. Allerdings war das Feld der Konkurrenz aus der Grand Prix-Serie deutlich ausgedünnt. Es galt eben Alters- und Leistungsgrenzen zu beachten. Außerdem absolvierten einige kein Studium oder konzentrierten sich auf die nächsten beiden anstehenden Termine, nämlich die Vier-Kontinente-Meisterschaften in vierzehn Tagen in Südkorea und eine Woche später die 8. Asiatischen Winterspiele in Japan. Der härteste Konkurrent, Jean-Jacques Leroy, war bei keiner Universität eingeschrieben, um sich ganz auf sein zweites Jahr in der höchsten Elite der Eiskunstlaufenden zu konzentrieren. Yuuri und Christophe hatten ihr jeweiliges Studium abgeschlossen, auch Georgi Popovich schied aus. Guang-Hong und Yuri erfüllten die Kriterien (noch) nicht. Übrig blieben also Phichit aus Thailand, Michele aus Italien, Emil aus Tschechien, Leo aus Amerika und Seung Gil aus Südkorea, die Otabek als bis dato erfolgreichste Mitbewerbende um die Medaillenränge einschätzte. Phichit hatte sich im Laufe der Saison erheblich gesteigert, während Leo zurückgefallen war. Seung Gil konnte mit seiner Kür einfach nicht mithalten, sie überzeugte nicht. Otabek wusste, was von ihm erhofft, nein, erwartet wurde. Das machte es nicht unbedingt einfacher, andererseits glaubte er an sich. Ja, sein gesamtes Programm reichte nicht aus, JJ, Yuri oder Yuuri zu übertrumpfen. Hier und da konnte er noch ein wenig "schrauben", doch im Großen und Ganzen war es nicht möglich, die Punktzahl so enorm zu steigern, also blieb ihm, die Ausführung zu meistern, sich möglichst wenige Abzüge zuschulden kommen zu lassen. Zumindest einen unerbittlichen Unterstützer wusste er schon hinter sich: [Sieh bloß zu, dass du Gold holst, denn das Blingbling fehlt dir noch!] *~#~* Otabek lächelte gewohnt zurückhaltend in die Kameras, als er sich aufrichtete, den tobenden Applaus hörte. Nicht allzu viele Studierende konnte sein Heimatland in der Universiade aufbieten, und ihm war nun ein historischer Erfolg gelungen. Artig lupfte er die Goldmedaille und den obligatorischen Blumenstrauß, rollte schelmisch die Mundwinkel ein und zwinkerte keck. Ja, in St. Petersburg, wo man abgeschottet pausenlos trainierte, saß bestimmt gerade ein hellblonder Widerborst auf einem abgeschabten Stapelstuhl, verfolgte die TV-Übertragung und sah ihm zu. Blingbling, bitte schön! *~#~* Ein Jahr vor den Olympischen Winterspielen rüstete sich Gangneung als Gastgeber diverser Einzelveranstaltungen schon einmal. So sollte selbstverständlich auch die mit Spannung erwartete Vier-Kontinente-Meisterschaft stattfinden, um Organisation, Abwicklung, Sportstätten und auch Publikumsbegeisterung einer Generalprobe zu unterziehen. Für den Lokalmatador Seung Gil Lee die letzte Möglichkeit, seine eher durchwachsene Saison ein wenig aufzuhübschen, denn seinen entschlossenen Ankündigungen war er leider nicht gerecht geworden. Obwohl er vorgab, sich nicht um Publikumsreaktionen und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu kümmern, denn es zählte ja nur das Urteil der Jury, konnte ihm doch nicht verborgen bleiben, dass die Sympathien anderweitig verteilt wurden, sah man mal von einigen Damen ab. Wie diese aufdringliche Italienerin, die ihm ständig unaufgefordert Nachrichten schickte! Gegen den Entertainer Phichit aus Thailand zogen allerdings (fast) alle den Kürzeren, ausgenommen "King JJ". Kurz vor den Weltmeisterschaften traf sich in Gangneung also die Elite, lediglich Yuri und Chris blieben außen vor, der konkurrierenden Europäischen Meisterschaft geschuldet. Auch Victor reiste wieder mit Yuuri an, erntete Sympathiepunkte, zog Blicke auf sich und beteuerte seine Absicht, tatsächlich in der kommenden Saison als Athlet und auch als Trainer arbeiten zu wollen. Den Beobachtern konnte nicht entgehen, dass Yuuri Katsuki angespannt wirkte, doch anders als in der letzten Saison nicht wachsweiß, zittrig und eingeschüchtert von den eigenen Erwartungen. Man staunte noch immer darüber, wie es dem "Amateur-Coach" Victor Nikiforov gelungen war, durch bloße Anwesenheit, simple Gesten der Verbundenheit und Aufmunterung diese nervösen Anwandlungen auszutreiben. Victor strahlte unverändert Zuversicht aus, herzte seinen japanischen "Schützling" ungeniert und plauderte ebenso unbefangen mit alten und neuen Bekannten aus dem Spitzensport. Nur ein Yuri Plisetsky konnte da zynisch in seiner E-Mail tippen, wie clever und versiert sich der feine Herr Nikiforov wieder ins Rampenlicht rangierte. Otabek verließ den Terminal, auf dem er Yuris Nachrichten in seinem elektronischen Briefkasten empfangen hatte. Ihm war durchaus bewusst, dass er keine Aussichten hatte, sich bei diesen Meisterschaften an die Spitze zu setzen. Wenn JJ sein Programm in gewohnt atemberaubender Selbstsicherheit absolvierte, konnte er nichts bestellen. Das Einzige, was blieb, war, die Hürden so hoch zu stecken, dass man dem Kanadier schon entlocken konnte, ob er für die Weltmeisterschaften in einem Monat sein Programm noch aufwerten wollte. Doch würde es ihnen im Schwarm gelingen, ihn in die Enge zu treiben? *~#~* Yuri zog sich geräuschvoll einen der einfachen Hocker heran, ignorierte betont seine Kameradinnen, die schon eifrig diskutierten, was auf dem Fernseher übertragen wurde. Seine betont gelangweilte Lässigkeit sollte verbergen, dass er überpünktlich erschien, um nicht den ersten Auftritt im Kurzprogramm zu verpassen. Otabek Altin, den Goldmedaillisten der Universade, hatte nämlich das Los-Pech ereilt: er musste als erster aufs Eis. Technisch gesehen waren die Konditionen keineswegs schlecht, doch die meisten Eiskunstlaufenden verwünschten den Auftakt. Das Publikum noch unruhig, die Jury mutmaßlich strenger, die Aufmerksamkeit noch ganz fokussiert, nein, das wollte man wirklich vermeiden! Der junge Russe mutmaßte aber hinter seinem hellblonden Pony getarnt, dass sein kasachischer Freund diesen Umständen keine besondere Bedeutung beimaß. Jemand musste starten, sonst konnte man ja nicht anfangen. So einfach verhielt es sich eben. Es wurde schlagartig sehr ruhig, kein Gekicher und Gepruste mehr, als Yakov Feltsman eintrat, sich einen Platz an einem Tisch direkt vor der Übertragungsfläche wählte und einen dicken Block mit Kugelschreibern deponierte. Seine gewohnt bärbeißig-grimmige Miene wirkte wie gemeißelt. Er war hier, um den Feind zu studieren, sich nicht das kleinste Detail entgehen zu lassen. Die ungemütliche Atmosphäre spiegelte die Stimmung des gesamten Teams wider. Sie standen unter Erfolgsdruck, und Victor Nikiforovs elegant-versierte Paraden auf jede Attacke trugen nicht dazu bei, für die Zukunft rosige Hoffnungen zu hegen. Yuri konzentrierte seinen Blick auf den Fernseher. Er wusste bereits, dass Otabek sein Kurzprogramm unverändert laufen würde, technisch möglichst sauber. Die zwölf Tage seit dem Ende der Universiade waren bis zum Bersten angefüllt gewesen mit Presseterminen, diversen Auftritten und Aufzeichnungen, wo der "strahlende Held" seine Dankbarkeit zu bekunden hatte, weil die Nation ihn unterstützte. Die Euphorie musste genutzt werden, das war ein ungeschriebener Bestandteil seiner Förderung: der Held dient dem Volk, zuvorderst dessen Anführern. Als Otabek auf die Eisfläche glitt, brandete zumindest schon einmal Applaus auf. Seine Miene blieb wie gewohnt gefasst, Ausdruck seiner Konzentration. Tausende Kilometer entfernt lümmelte sich sein jüngerer Freund entschieden hin, um zu demonstrieren, dass ihn GAR NICHTS beeindrucken konnte. Es galt zu verhindern, dass man ihm ein spezielles Interesse an dem Kasachen unterstellte. Der Ausflug der "russian fairy" auf dem Sozius in Barcelona hatte bereits zu ernsten Verstimmungen geführt. Yuri hatte demonstrativ abgewinkt, man habe eben einen kurzen Abstecher in den berühmten Park machen wollen. Außerdem könne man sich schließlich auf Russisch unterhalten und im Übrigen sei dieser Altin ja auch mal in Sommercamp gewesen. Schlimmer noch war dann die heimliche Zusammenarbeit für Yuris Abschlusspräsentation gewesen, nicht nur die Musik zu wechseln, sondern ganz frech den Konkurrenten IN seine Vorführung einzuspannen. In einer Art und Weise, die den Atem stocken ließ! Für einen 15-jährigen als unangemessen erotisch und provozierend galt. Da half es auch nicht, auf die Begeisterung des Publikums hinzuweisen, die "historische Verbundenheit" beider Nationen, die Konter-Möglichkeit zu Victor Nikiforovs genialem Coup, gemeinsam mit Yuuri Katsuki aufzulaufen, in seinem Vorjahresprogramm, das nach einem Partner schrie, der nun endlich gefunden war, die wehmütige Sehnsucht ein so verliebtes Happyend bekam. Trotzdem. Allzu enge Freundschaften waren gar nicht gern gesehen, quasi als Fraternisieren mit dem Gegner gebrandmarkt. Wohin das führte, sah man jetzt ja deutlich: Victor hatte die Seiten gewechselt! Aber Konkurrenz blieb Konkurrenz, und wer das nicht unmissverständlich begriff und lebte, der würde sich nicht halten! So ungern Yuri sich das eingestand: diese grundsätzliche Regel schien nicht mehr zu gelten. Obwohl er Victor Nikiforov für tot erklärte, ihm provozierend verübelte, seine Zielstrebigkeit weggeworfen zu haben für einen albernen Ring und einen verschrobenen Japaner, musste man doch konstatieren, dass bisher die prophezeite Katastrophe nicht eingetreten war. Er selbst empfand Otabek Altin, einen Mitstreiter um zahlreiche Titel und Siege, NICHT als Rivalen, den man auskontern musste. Keineswegs aus Geringschätzung oder Überlegensheitsvermutung, nein, Otabek konnte durchaus, mit einem anderen Programm, die Spitze attackieren! Vielmehr wollte einfach nicht die grimmige Entschlossenheit aufkommen, mit der er "King JJ" einzunorden beabsichtigte. Wettstreit, ja, natürlich, doch auf einer anderen emotionalen Basis. Er WÜNSCHTE, dass Otabek Erfolg hatte, jeden Sprung perfektionierte, seine Elemente auf Hochglanz poliert aufs Eis brachte! Um selbst daran zu wachsen, Grenzen zu überwinden. Was es nun leider mit sich brachte, dass man den feinen Herrn Nikiforov nicht mehr in Grund und Boden verdammen konnte! Unverständlicherweise brachte Katsudon diese Saite zum Klingen, und offenbar wollte Victor danach tanzen, singen und laufen. Eigentlich eine Gemeinheit, ihm eine derartige Erkenntnis aufzunötigen! Grund genug, ihm bei der nächsten Begegnung ordentlich die Meinung zu geigen! Yuri lächelte verhalten, sicher abgeschirmt hinter seinem hellblonden Schopf, als Otabek sich artig grüßend aus dem Oval verabschiedete. Ein solider Auftakt, trotz der Herausforderungen der letzten Tage! Jetzt musste man sich die Verfolgertruppe aufmerksam anschauen! *~#~* Otabek hatte die Gelegenheit genutzt, sich rasch umzukleiden, um dann zu den Bildschirmen zurückzukehren, die in den Aufwärmräumen auf die Eiskunstlaufenden warteten und ihren Wettkampf übertrugen. Seung Gil war eine achtbare Umsetzung seines Kurzprogramms gelungen, auch wenn der proklamierte Anspruch nicht in dieser Saison erreicht werden würde. Im Mittelfeld der 36 Teilnehmer gewann Phichit mit seinem hinreißenden Auftritt sofort die Herzen des Publikums, man klatschte, trampelte und wippte mit, voller Begeisterung, die Halle tobte. Überraschenderweise gelang es dem direkt danach startenden Amerikaner Leo, auf dieser Euphorie aufzubauen und seine Darbietung ebenfalls gut zu präsentieren. Er feuerte Guang-Hong an, den Kleinsten in ihrer Spitzengruppe, dessen Sprünge zwar saßen, doch dessen Übergänge noch Verbesserungspotential aufwiesen. "King JJ" war sehr zufrieden bereits mit seinem Tross abgezogen. Er führte mit der Wertung seines Kurzprogramms, ohne dieses verändert zu haben und fühlte sich sicher, dass keiner der folgenden Teilnehmer ihn noch gefährden konnte. Ohnehin schien es kaum möglich, das jeweilige Kurzprogramm durch die strenge Reglementierung noch übermäßig anzupassen, denn es bestand eben auch die Gefahr, sich zu verzetteln und durch Fehler die eigene Wertung stärker zu reduzieren, als die Änderungen Vorteile gebracht hätten. Das Los für den letzten Auftritt des Kurzprogramms hatte Yuuri Katsuki gezogen. Otabek registrierte, wie Phichit neben ihm die Daumen drückte, aber auch die Freunde Guang-Hong und Leo fieberten mit. Man musste nicht unterstellen, dass sie jeden angefeuert hätten, der dem aufgeblasenen "King JJ" ein wenig Luft abließ. Offenbar hatte Yuuri selbst ihre Unterstützung gewonnen. Der stand bereits auf dem Eis, während man noch eilig Präsente aufklaubte, hielt Victors Hände. Fast Stirn an Stirn standen sie dort, der attraktive "Amateur-Coach" im maßgeschneiderten Anzug, der helle Teint rosig angehaucht ob der Kälte, und der vier Jahre jüngere Japaner in Victors ehemaligem Kostüm. Ein Nasenkuss, ein Lächeln, dann lösten sich ihre Hände voneinander und Yuuri glitt zügig zu seinem Startpunkt. Otabek kannte das Kurzprogramm bereits, doch versetzte ihn diese Version wie auch die Umstehenden in Erstaunen. Als habe man einen Hebel umgelegt, verwandelte sich der etwas dröge wirkende Yuuri in eine lockende Versuchung, mit jeder Geste, jedem Blick, jedem aufreizenden Element. Unverkennbar entstammte seine Kunstfertigkeit, die atemberaubend natürlich wirkte, dem Ballett. Bis in die äußersten Extremitäten kontrolliert legte er einen Auftritt hin, der den Atem stocken ließ. Obgleich er nur für den EINEN gedacht war, schlug er sie alle in den Bann. Kurzsichtig blinzelnd steuerte Yuuri anschließend seinen Trainer an, der ihn sofort umarmte und sicher zur Bank führte, wo sie auf die letzte Jury-Wertung des Tages warteten. Tatsächlich waren alle gespannt, denn Yuuri hatte sich keinen Fehltritt geleistet. Wie hoch würde die Jury die künstlerische Note ansetzen? Konnte es ihm wirklich gelingen, den "King" einzuholen? *~#~* [Du warst gut gestern. Phichit hat nur einen kleinen Vorsprung, das kannst du aufholen. Bin gespannt, ob Katsudon was draufpacken kann. Das blöde Gesicht von "King Affenarsch" hätte ich gern gesehen, als er den Punktestand erfahren hat. Wirst du dir heute die Gegend ansehen?] Da es zwischen dem Kurzprogramm und der Kür einen für die Herren freien Tag gab und er nicht verpflichtet war, wie die anderen Nationen jeweils die Damen oder die Paare zu unterstützen, konnte Otabek sich etwas Freizeit gönnen. Er antwortete rasch auf Yuris Nachricht und entschied, einen kleinen Bummel durch die nähere Umgebung zu unternehmen. So konnte man sich ja auch schon mal einen Überblick verschaffen, bevor es im nächsten Jahr zur Winterolympiade richtig voll werden würde! *~#~* Yuri dehnte und streckte sich, während er die Übertragung der Kür am Sonntag aus dem Hintergrund verfolgte. Zwar waren nach dem Kurzprogramm 12 Eiskunstlaufende weniger im Feld, doch die Kür dauerte länger, weshalb sich die zeitlichen Dimensionen keineswegs reduzierten. Wie erwartet fanden sich die Teilnehmer der Grand Prix-Serie an der Spitze. Weder Otabek noch Leo oder Guang-Hong hatten ihr jeweiliges Programm verändert. Somit konnten sie den selbstsicher auftretenden Jean-Jacques nicht gefährden, der seinerseits die eigene Kür fehlerfrei absolviert hatte und das Klassement anführte. Jeweils sechs Vierfach-Sprünge, das brachte ein immenses Punktekontingent mit sich. Phichit leistete sich keine Schwäche und vertraute auf seine Unterhaltungsqualitäten, blieb ihm somit auf den Fersen. Der Einzige, der den "King" noch vom Thron stoßen könnte, war das notorische Nervenbündel Yuuri Katsuki. Die Arme vor der Brust verschränkt belauerte der junge Russe den Bildschirm. Vorne saß wie vor zwei Tagen Yakov Feltsman in kriegerischer Stimmung. Man KONNTE nicht darauf vertrauen, dass Victor Nikiforov sich an die Erwartungen hielt! Immer bestand der Kerl darauf, eine Überraschung aus dem Ärmel zu ziehen! Yuri argwöhnte Ähnliches, doch konnte Katsudon das überhaupt umsetzen? Zugegeben, die Heulboje verfügte über eine ausgezeichnete Kondition, aber gewöhnlich hatte er sich selbst bis zur Programmhälfte das Bein schon gestellt, da nützte auch die zweite Luft nichts mehr. Wie am Vortag steckten der Japaner und sein Trainer die Köpfe zusammen, hielten sich an den Händen. Yuri ertappte sich dabei, dass er die Fäuste ballte. »Komm schon, alter Sack, was hast du ausgeheckt?!« Dass Victor Nikiforov sich ohne Gegenwehr ausbooten ließ, war schlichtweg nicht vorstellbar. Yuuri lief zu seinem nach ihm betitelten Programm, sicher, ohne Zögern, beinahe wie im Rausch, in einem einzigen Fluss. Hunderte Kilometer entfernt fluchte der "andere" Yuri anerkennend zwischen den Zähnen hindurch. Kleine Veränderungen, die das Punktekonto leicht anhoben, dann die zweite Hälfte und in der Summe setzte Yuuri sicher SECHS vierfach gesprungene Elemente!! Heftig nach Atem ringend, auf Victor ausgerichtet, den er nur erahnen konnte ohne Brille, hielt sich der Japaner zittrig auf den Beinen, glitt stockend auf die Bande zu, merklich angeschlagen von seiner herausragenden Leistung. Aber es gab keinen vernünftigen Zweifel mehr: Yuuri Katsuki griff den führenden Jean-Jacques Leroy an! Die Kameras fingen ein, wie Victor den jüngeren Japaner stützte, ihn dann umarmte, fest umschlang, ohne sein gewohnt exaltiertes Juchzen und Jauchzen, sein lebhaftes Gebaren, das stets die gesamte Welt einlud, sich mit ihm zu freuen. Man hielt den Atem an. Auch Yuri wartete ungeduldig mit geballten Fäusten. Dann das Resultat: Yuuri Katsuki hatte seinen Weltrekord für die Kür selbst gebrochen. Er hatte damit den Punktevorsprung des Kanadiers vom Kurzprogramm wettgemacht. Plus einige Wertungspunkte mehr. *~#~* Otabek lächelte unwillkürlich, als die Übertragung zeigte, wie Victor Yuuri gerade genug freigab, ihm etwas ins Ohr zu wispern, woraufhin der Japaner die Hände vors Gesicht schlug, ihm Tränen aus den Augen perlten, die Victors teuren Anzug tränkten. Endlich hatte Yuuri Katsuki das ersehnte Gold gewonnen. Die Freunde des gemeinsamen Paella-Vertilgens in Barcelona wussten, welche Konsequenz sich anschließen würde. *~#~* Yakov Feltsman verzichtete darauf, sich die Präsentation zum Abschluss des Wettkampfes anzusehen. Seine frostige Miene nach der abschließenden Wertung der Herren warnte jeden Betrachter vor, sich bloß schleunigst zu entfernen, zumindest jedoch keine Ansprache zu riskieren. Victor Nikiforov hatte mal wieder einen Coup gelandet. "Diese Heulsuse!", murmelte Yuri, der gern auch eine Aufnahme des "King" gesehen hätte, nämlich, wie diesem angesichts der Silbermedaille die Gesichtszüge entgleisten! Andererseits war Katsudons Kür auch eine Kriegserklärung für die Weltmeisterschaften. Wer ernsthaft Medaillenränge erreichen wollte, MUSSTE sechs vierfache Sprungelemente in der zweiten Hälfte der Kür aufbieten. Auf dem Bildschirm strömten inzwischen ganz ungewohnt alle Teilnehmer der Kür auf die Eisfläche, nicht nur die Sieger, die in der Regel ihr Programm noch mal darboten. In den Trainingsanzügen mit Landesfarben liefen sie auf, darunter sogar einige Trainer, legten kleine Figuren hin, alles orchestriert in bunter Abfolge durch einen K-Popsong. Man wähnte sich in einer hochklassigen Eisrevue, wobei dort selten so ausgelassen gelacht, Hand in Hand gelaufen und fröhlich gewinkt wurde. "Phichit", vermutete Yuri zutreffend. Irgendwie hatte der Thai sie alle überredet, bei dieser Choreographie mitzuwirken! Zum Abschluss wurden sogar Banner enthüllt, Dank an das Publikum und der Wunsch, sich in einem Jahr voller Freude und Begeisterung wieder hier zu sehen! DAs Publikum jedenfalls liebten diese Vorführung, niemand saß mehr, alle klatschten und jubelten, genau die Bilder, die sich das Olympische Komitee erhoffte. Yuri entdeckte Otabek im Getümmel, der erst Yuuri, dann Victor mit einer leichten Verbeugung die Hand schüttelte. Selbst beim undankbaren vierten Platz zeigte der Kasache noch Größe. Seine gesamte Haltung flößte Yuri großen Respekt und heimliche Bewunderung ein. "Verdammt!", murmelte er leise, "schätze, ich muss für den Moment netter zu Katsudon sein." Immerhin hatte der seine kühnsten Erwartungen übertroffen. JETZT galt es, sich selbst an die Spitze zu setzen! *~#~* [Hast du gefragt, was Victor Katsudon ins Futter gemischt hat?] Otabek schmunzelte in sich hinein, bevor er wahrheitsgetreu antwortete, er habe den beiden für ihren zukünftigen gemeinsamen Lebensweg alles Gute gewünscht, auf Russisch, um etwaigen Ohrenzeugen im Getümmel auf der Eisfläche nicht ungehörig Informationen zu vermitteln, die sie nichts angingen. Victor Nikiforov, das berühmt-berüchtigte Flirt-Gute Laune-Männchen, hatte ihm ein ungewohnt stilles Lächeln geschenkt, ganz ohne Triumph oder Euphorie. Im Gegensatz zur vorangegangenen Saison HATTE er sich wirklich verändert, zumindest, wenn er sich nicht im Fokus von Kameralinsen wähnte. Ohne Zweifel würde er seine Ankündigung nun in die Tat umsetzen, Yuuri Katsuki zu "heiraten". Obgleich Otabek nicht sicher war, wie genau sich das legal bewerkstelligen ließ, wünschte er doch, dass es den beiden gelingen mochte, ein Zusammenleben als Paar zu etablieren. Auf eine subtile Weise befruchteten sie sich gegenseitig, forderten sich heraus, unterstützen einander jedoch auch, förderten das jeweilige Fortkommen. Auch wenn er die grantigen Einlassungen seines jüngeren, russischen Freundes durchaus nachvollziehen konnte, hegte er selbst keinen Groll gegen die beiden Konkurrenten. Man konnte nur neidlos und voller Respekt anerkennen, dass Yuuri Katsuki die Latte enorm hochgeschraubt hatte, um die ersehnte Goldmedaille zu gewinnen, sie dem Mann zu widmen, den die ganze (Eiskunstlauf-)Welt begehrte, um ihn für sich einzunehmen. Endgültig. Das konnte nur imponieren, selbst wenn man nun auf verlorenem Posten stand, was die Asiatischen Winterspiele in einer Woche und die abschließenden Weltmeisterschaften betraf. *~#~* Exakt eine Woche später trafen sich die meisten der Teilnehmer der Vier-Kontinente-Meisterschaft in Sapporo wieder, zumindest die asiatischen Vertreter. Leo bedauerte sehr, Guang-Hong nicht begleiten zu können, um ihm die Daumen zu drücken, doch der gerade volljährige Chinese versprach hoch und heilig, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Bilder und Botschaften zu senden, auch rund um die Uhr (was seinen Betreuern gar nicht gefiel, die ihm prompt ein Limit setzten und sein Mobiltelefon einkassierten). King JJ rauschte ebenfalls zurück nach Kanada, deutlich bedient, was seine großen Ambitionen betraf. Zwar hatte er nun zwei Goldmedaillen in der Grand Prix-Serie in dieser Saison eingesackt, doch der rauschende Durchmarsch mit Deklassierung der Konkurrenz war ihm misslungen. Es MUSSTE der Weltmeistertitel her, diese Scharte auszuwetzen! Jeweils sechs Vierfach-Sprünge erledigte er ja quasi im Schlaf, doch dieser heimtückische Japaner samt seinem notorischen Möchtegern-Coach Victor spielten nicht fair, sondern steigerten die Anforderungen! Eine Revanche war angezeigt, aber hallo! Otabek, der als einziger Vertreter seines Landes nominiert worden war (weil auch sonst keiner die Qualifikationshürden genommen hatte), verband mit Sapporo durchaus positive Erinnerungen, hatte er doch hier in dieser Saison schon die NHK-Trophy gewonnen. Andererseits, da konnten ihn prüfende Blicke noch so oft durchbohren: mit seinem gegenwärtigen Programm waren Medaillen schwer zu gewinnen, selbst wenn Yuuri Katsuki, Japans Phoenix aus der Asche, nicht auf dem gleichen Level wie bei der Vier-Kontinente-Meisterschaft agierte, denn es gab ja ausreichend Konkurrenz durch den begnadeten Entertainer Phichit aus Thailand, Publikumsliebling rund um den Globus. Guang-Hong rutschte auf der "niedliches Küken"-Schiene mit. Obwohl sie nun beide gleichaltrig waren, konnte der sich durch Zuspruch auch noch steigern. Nicht zu vergessen Seung Gil aus Südkorea, der technisch durchaus mithalten konnte, aber beim künstlerischen Aspekt seiner Darbietungen bisher keine Meriten einstrich. Außerdem hieß es, dass Japan auch eine weitere künftige Medaillenhoffnung nominiert hatte, einen großen (nun, tatsächlich erheblich kleineren) Bewunderer und Fan von Yuuki Katsuki, nämlich den 17-jährigen Kenjiro Minami, der noch fünf Zentimeter kürzer als Guang-Hong war! Sie alle sahen hier ihre Chance, auch wenn das Bewerberfeld sehr viel umfangreicher war. Weder King JJ noch Christophe Giacometti oder Yuri Plisetsky konnten antreten, somit sollte Edelmetall nicht von vornherein verloren sein. Otabek nutzte die Gegebenheiten vor Ort, um zu trainieren. Er brauchte Ausdauer und Kraft. Innerhalb einer Woche die Rotation eines Sprung oder mehrerer Sprünge aufzustocken, nach dem anstrengenden Terminplan, das erschien ihm unmöglich. Zwar konnte er sowohl Kurzprogramm als auch Kür im Schlaf abspulen, was durch die Routine eine solide Sicherheit mit sich brachte, doch darin lag eben auch das Hindernis, etwas grundsätzlich zu verändern. In Gedanken spielte er seine wenigen Möglichkeiten durch, übte auf dem "Trockenen", ob möglicherweise doch... aber das würde er, nahm er sich vor, intuitiv entscheiden. Wenn Puste und Kraft, Dynamik und Gefühl dafür votierten, ginge er das Risiko ein, zumindest einen Sprung und eine Kombination mit mehr Rotation auszuführen. Yuuri Katsuki erschien nicht nur mit Victor, sondern einem gewaltigen Fan-Club, seiner halben Heimatstadt und diversen hocherfreuten Funktionären im Schlepptau. Sein Lächeln hinter der halbgerahmten Brille wirkte dementsprechend leicht gequält. Genau DIE Konstellation, die ihn früher immer mit ausfransendem Nervenkostüm in ein entsprechendes Bündel verwandelt hatte, inklusive Totalabsturz. Selbstverständlich erwartete man von ihm, dem Lokalmatador, dass ER einen Titel abräumte! Andererseits, und der Kasache konnte es nur anerkennend bewundern, hatte Yuuri die lebende Legende Victor Nikiforov auf seiner Seite, der es wie kein anderer verstand, alle Aufmerksamkeit auf sich zu konzentrieren, geschickt abzulenken, mit dem Publikum zu flirten und gleichzeitig auch noch für das Thermalbad seines Lebensgefährten zu werben! Hatte man noch die wüste Schimpfkanonade von Yakov Feltsman im Ohr, der Victor jegliche Coach-Eigenschaften absprach, konnte man hier genau ermessen, wie fürsorglich der Russe seinen Schützling aus der Schusslinie des geballten öffentlichen Interesses bugsierte, ohne dass dies vor Vollendung offenkundig wurde. Phichit trat hingegen so unbeeindruckt und fröhlich wie immer auf, begrüßte Yuuri unbefangen, denn sie waren seit den Trainingsjahren in Detroit als Außenseiter sehr gute Freunde geworden. Natürlich begeisterte er sich für das zweite Paar Ringe an den bis dato freien Fingern, schmaler, feiner, mit ziselisierter Musterung. Golden, selbstredend. Kein Zweifel, Victor hatte sein Versprechen eingelöst, offenbar so viel Vertrauen in seinen japanischen Freund gehabt, die Ringe schon in Auftrag zu geben, sodass er sie direkt nach der Goldmedaillenverleihung ihrem Zweck zuführen konnte. Wie Otabek auch nutzte er die Gelegenheit der Trainingsräume, die für das Publikum abgeschirmt waren, dehnte und streckte sich so gelenkig, dass Otabek unmissverständlich an die Balletteinheiten erinnert wurde, die ihm so gar nicht gelingen wollten. "Sag mal", gewohnt zögerlich adressierte ihn der ältere Japaner, jenseits der Eisfläche noch immer zurückhaltend, "wie hast du das gemacht bei der Universiade?" Otabek begriff ohne ausschweifende Erläuterungen: wie hielt man dem gewaltigen Erwartungsdruck stand? Bedächtig wischte er sich mit einem Handtuch Transpiration von Gesicht und Nacken. "Ich konzentriere mich auf mich selbst, auf das, was ich abrufen kann. Es kommt, wie es kommt. Ich kann nur meine Leistung beeinflussen, nicht die aller anderen, auch nicht die Entscheidungen der Jury." Ihm war durchaus bewusst, dass es fast anmaßend oder arrogant klang, einfach die Umgebung aus der Wahrnehmung auszuschalten, aber er war eben nicht Seung Gil, der lauthals verkündete, auf ihn hätten Publikumsbekundungen keinen Einfluss. Nein, es verhielt sich einfach anders: wenn er auf der Eisfläche stand, fühlte er sich wie in einer eigenen Dimension. Dort maß er sich mit sich selbst, den eigenen Erwartungen, den Möglichkeiten, aber auch den Einschränkungen. Diese Dimension gab ihn erst wieder frei, wenn er seinen Durchlauf abgeschlossen hatte. Dann erst hörte er das Publikum, registrierte seine Umgebung wieder. Nicht einfach zu beschreiben, diese Empfindungen, doch sie ermöglichten ihm, den Druck der anderen zu separieren, sich nicht selbst aus dem Konzept zu bringen. Neben ihm, in einem übergelenkigen Spagat, stöhnte Yuuri Richtung Bodenmatte. "Das kriege ich nicht hin!", bekannte er kläglich. "Oh, Schatz, ich finde, du machst das sehr gut!", trällerte Victor, der sich auf lautlosen Sohlen angeschlichen hatte, "äußerst geschmeidig!" Er nickte Otabek mit seinem gewohnt strahlenden Lächeln zu, bevor er neben Yuuri in die Hocke ging, der trotz Spagat noch die Arme unter der Stirn gekreuzt hatte und sich ein wenig länger seinem Elend hingeben wollte. "Wenn du dich jetzt rasch umziehst, gehen wir alle zusammen essen!", Victors Rechte, an der der Ring in der Deckenbeleuchtung funkelte, streichelte sanft über Yuuris schwarze Strähnen, "wir machen einen Nudelsuppen-Wettstreit, ja? Dann in die heißen Quellen, fein, oder?! Vielleicht schneit es sogar noch ein wenig, das wäre toll!" Elastisch richtete sich der Russe auf, wandte sich Otabek zu, der aufmerksam etwas Distanz zwischen sie gebracht hatte, um nicht die Privatkommunikation des Pärchens ungebührlich zu belauschen. "Otabek, willst du nicht mitkommen, hm? Als Einstimmung für morgen wird das bestimmt prima! Keine Angst, wir gehen alle schön brav zeitig zu Bett!" Dabei zwinkerte Victor ihm mit seinem patentierten Flirtlächeln zu, die Linke beiläufig ausgestreckt, damit Yuuri sich vom Fußboden Richtung Vertikale aufrichten konnte. "Ich nehme die Einladung gern an", antwortete der Kasache ernsthaft, obwohl er sich üblicherweise etwas zurückhielt, was Verbrüderungen mit der Konkurrenz betraf. Nicht, dass man ihm etwas unterstellte, aber es gab eben gewisse Aspekte, die er zu beachten hatte, unter anderem die Distanz zu alkoholbedingten Eskapaden, die sich Victor als Coach in Peking geleistet hatte, als es ihm gelang, Yuuris früheren Coach, "Ciao-Ciao" Chaldini, unter den Tisch zu trinken. Andererseits stand nicht zu befürchten, dass Victor sich noch einmal zu einem solchen Wettstreit hinreißen ließe, er HATTE ja inzwischen jeden ausgestochen, der in Yuuris Achtung als Profi seiner Position als absolute Nummer 1 gefährlich werden konnte. Zumindest vermutete Otabek, dass dies ein wesentlicher Antrieb für Victors Verhalten gewesen war, was der Einschätzung von Yuri Plisetsky entsprach, der "den alten Sack" für "verdammt durchtrieben" hielt. Es konnte dementsprechend nicht schaden, das eigene Bild aus nächster Nähe etwas abzurunden. Nur zur Sicherheit. *~#~* Yuri nutzte wie gewöhnlich Phichits Mitteilungsdrang, sich auf den neuesten Stand zu bringen, ohne dass man ihn dabei ertappen konnte, denn die Zeitverschiebung zwischen St. Petersburg und Sapporo nahm sich doch beträchtlich aus. Wie immer hielt der Thai launig-geschickt als Chronist seine alltäglichen Erlebnisse fest: Nudelsuppen-Festessen in großer Runde! Schnaubend registrierte Yuri, dass Victor ungeniert Händchen mit Yuuri hielt, wobei man jeweils ein Pendant der beiden Ringpaare bewundern konnte, während er mit Yuuris Ballettlehrerin angeregt plauderte, die offenbar, die schmallippige Grimasse der Baranovskaya im Gedächtnis, eine ernsthafte Konkurrenz darstellte. Was für Yuri auch einen Teil des Ehrgeizes erklärte, mit dem ihm die ehemalige Primaballerina des Bolschoi zugesetzt hatte. Guang-Hong steckte das Haupt zusammen mit einem noch kleineren Japaner, dessen seltsam gefärbte Haare irgendwie nach "Küken" schrien. "Wer ist denn der Erpel?", wunderte sich Yuri, der sein Gedächtnis durchforstete, ob hier eine potentielle Konkurrenz drohte. Auch aus Yuuris Heimatstadt schien man angereist zu sein, denn auf den "Saal"-Schnappschüssen konnte man die Betreiber des Eispalastes samt ihren verdrehten Drillingen erkennen und im Hintergrund Otabek Altin, der sich ernsthaft mit Yuuris älterer Schwester zu unterhalten schien. Nur Seung Gil aus der Favoritentruppe fehlte, aber das wunderte Yuri nicht sonderlich. »Was diskutieren die da?«, fragte er sich, denn Mari Katsuki agierte üblicherweise eher zurückhaltend-gelassen, nahm man ihre eigentümliche Begeisterung für eine dubiose Popband aus, die Yuri den ärgerlichen Spitznamen "Yurio" verschafft hatte. Dabei sah er diesem "Yurio"-Bubi überhaupt nicht ähnlich! Vom sich anschließenden Thermalbad bei leichtem Flockenfall gab es, wie Phichit beklagte, keine Bilder, weil man dies nicht gestattete, da musste eben eine Außenaufnahme genügen. Man habe sich jedenfalls gut erholt und viel Spaß gehabt! "Noch!", grummelte Yuri im fernen St. Petersburg und kappte grimmig die Verbindung. *~#~* Yuuri schlug sich erstaunlich wacker im Kurzprogramm trotz der enormen Erwartungshaltungen, insbesondere auch der eigenen. Dieses Mal konnte er keinen neuen Rekord aufstellen, im Gegenteil, ihm unterlief derselbe Patzer wie beim Grand Prix-Finale in Barcelona, wieder ging eine Hand stützend zum Eis. Das verschaffte dem furios auftrumpfenden Phichit einen kleinen Vorsprung, gefolgt von Otabek, bevor sich hinter Yuuri Seung Gil und Guang-Hong einreihten. Das restliche Teilnehmerfeld konnte schon aufgrund der geringeren technischen Punktezahl nicht die Spitze attackieren. Von der Kür würde nun abhängen, wer eine Medaille gewinnen konnte. Bei derart geringen Punkteabständen kochte auch die Stimmung in der Halle. Alle fieberten mit, schwangen Fähnchen und Plakate, klatschten und jubelten. Otabek beobachtete Victor, der nicht etwa auf Yuuri einredete wie auf einen lahmenden Gaul, sondern ihn an der Bande von hinten umarmte, etwas wisperte, was ihnen beiden ein leises Lachen entlockte, bevor er Yuuri freigab, der zügig und beschwingt zugleich über das Eis glitt. Man musste nun damit rechnen, dass Yuuri in dieser Verfassung seine weltmeisterliche Kür durchaus wiederholen konnte. *~#~* [Reife Leistung! Hab dir ja gesagt, du kannst mehr! Gut, Katsudon hatte die Nase vorn, aber nur um Nasenhaaresbreite! Phichit schafft es nicht bis zum Saisonende, sein Repertoire aufzustocken. Gibt's eigentlich noch ne Steigerung von "Held", du Held?] Otabek schmunzelte im Separee, vor fremden Blicken abgeschirmt, bevor er rasch antwortete, sich dann abmeldete und seine Reisetasche aufsammelte. Silber darin, das sich beinahe wie Gold anfühlte, weil er auf sein Gefühl vertraut hatte und für seine Risikobereitschaft belohnt worden war! *~#~* "Yuri! Du hast Post!", Mila Babicheva rammte die einfache Holztür auf, sparte sich ein Klopfen, denn immerhin hatte sie ja durch das Türblatt dröhnend ihre Mission angekündigt. "Was soll der Radau, Baba?!", fauchte Yuri grimmig, denn er schätzte es gar nicht, wenn sich seine Teamkollegin ständig in sein bescheidenes, aber konsequent aufgeräumtes Zimmer einlud, als sei es IHR Refugium! "Post, Geburtstagskind!, grinste sie, ein kleines Paket schüttelnd, das zahlreiche Aufkleber aufwies und offenbar mindestens einmal vom russischen Zoll inspiziert worden war. Eine dünne Augenbraue lupfend knurrte Yuri betont gelangweilt, "aha." Sein Desinteresse schreckte natürlich nicht ab, denn unaufgefordert ließ sich Mila auf sein Bett plumpsen, das Paket demonstrativ absetzend. Yuri ignorierte ihre Neugierde, bürstete weiter mit strategischer Finesse das langhaarige Fell der Perserkatze aus, die sich auf seinem Schoß niedergelassen hatte. "Na, bist du nicht bald fertig mit Diva?", erkundigte sich die Eiskunstläuferin zwitschernd. "Hält dich keiner auf, kannst gern verduften, Baba!", knurrte Yuri bissig zurück. Hier ging es um einen Wettstreit von "wer kann länger?!", nämlich Geduld aufweisen. ER hatte davon TONNEN! Äußerlich zumindest ließ er sich nichts anmerken, arbeitete sich systematisch durch das Katzenfell, pflückte lose Katzenwollbälle aus der Bürste, um sie säuberlich auf einer Zeitungsseite zu sammeln. Die Katze (er nannte sie NIE "Diva", hielt einen Namen ohnehin für Quatsch, weil die Katze grundsätzlich nicht hörte, wenn man sie rief) ließ sich nur von ihm das Fell bürsten, die Krallen stutzen und die Zähne inspizieren. Während sie tagsüber in den Zimmern der Mädchen herumstrich und sich dort damit amüsierte, das vorherrschende Chaos noch zu vergrößern, schlich sie sich abends zu ihm, um zu übernachten. Unzweifelhaft hatte die Katze mal jemandem gehört, der sie gepflegt hatte, denn sie war Frischfutter gewöhnt, geimpft, entwurmt und sterilisiert, aber sie hatten diese Person nicht auffinden können und sie deshalb bei sich behalten, was gewisse Heimlichtuereien einschloss, bis man sich von der Trainer- und Betreuerriege damit abgefunden hatte. Das Katzenklo allerdings, darauf hatte Yuri bestanden, befand sich in der Mädchentoilette. Mädels gehen bei Mädels, klare Sache! Er zupfte weitere Knäuel loser, aber anhänglicher Katzenhaare aus der Bürste, während er in Gedanken überschlug, wer ihm wohl anlässlich seines 16. Geburtstags (und das auch noch an Aschermittwoch, wie Baba natürlich NICHT auslassen konnte zu erwähnen!) ein Päckchen sandte. Mit seinem Großvater Nikolai hatte er am Morgen telefonieren dürfen, sich neben den Glückwünschen auch die Ermunterung abgeholt, in vier Wochen als Senior die Welt ordentlich in Ehrfurcht zu versetzen. Nach dem unnachahmlichen Victor Nikiforov könnte er als zweiter Juniorenweltmeister in die Annalen eingehen, der in seinem ersten Seniorenjahr auch direkt den Weltmeistertitel erreichte! Zugegeben, dazu würde es notwendig werden, Angeberaffenarschkotzbrocken JJ zu übertreffen, aber das war durchaus möglich! Also, woher stammte das kleine Paket? Doch nicht etwa von Victor und seinem Katsudon?! Oder von der komischen "Icecastle"-Madonna Yuko, die ihm immer mal wieder unaufgefordert Neuigkeiten aus Hasetsu schickte? Natürlich, seine berühmt-berüchtigten Fans, die Yuri-Angel, konnten ihm etwas zugedenken, doch diese Sendungen landeten zwingend bei der Verbandsvertretung, die die Öffentlichkeitskontakte überwachte. Yuri angelte sich die Zange, um nacheinander die Tatzen samt Krallen zu inspizieren. Die Katze ließ es sich gewohnt langmütig gefallen, was alle erstaunte. Ihn selbst nicht sonderlich, auch wenn er von seinem früheren Leben in der ländlichen Peripherie von Moskau eher freilebende Katzen gewöhnt war, die sich selbst versorgen mussten. Nun, er behandelte sie nicht wie ein Kuscheltier oder Spielzeug, sondern wie ein gewöhnliches Lebewesen, für das man Verantwortung trug, weil man es in die eigene Wohnung genommen hatte. Man raufte sich eben zusammen und schränkte einander nach Möglichkeit nicht ein! Mila gab es schließlich mit einem frustrierten Seufzer auf, federte betont energisch von der Matratze, was Yuri ein Knurren entlockte, der nicht wollte, dass sich die Ausbeute von der Zeitungsseite auf seine Tagesdecke verteilte. Sie rauschte ab, als er das Gebiss der Katze inspizierte, ohne dabei gebissen oder gekratzt zu werden. "So", adressierte er endlich die vierbeinige Mitbewohnerin, "fertig!" Sie gab einen zufriedenen Schnaufer von sich, erhob sich graziös von seinem Schoß, sprang herunter und spazierte bis zu seiner Zimmertür, wo sie selbstverständlich erwartete, von ihm herausgelassen zu werden. Das Zeitungspapier faltend heftete sich Yuri an ihre samtigen Fersen, um die Ausbeute im Kellergeschoss dem alten Ofen anzuvertrauen. Dieser existierte noch immer, ein Vermächtnis aus früheren Zeiten, wo sich St. Petersburg in schwarzen Rauch einhüllte, wenn es eisig kalt war. Zurückgekehrt in sein spartanisches Zimmer widmete sich Yuri seinem Präsent. Das Paket war wirklich klein, ein Würfel quasi, so beklebt mit Zollstreifen, Aufklebern und anderem, dass man die Pappe gar nicht mehr erkennen konnte. Der Absender entlockte ihm ein hoffnungsfrohes Lächeln: Kasachstan, Almaty. Otabek! Geschickt löste er die klebrigen Überreste diverser Inspektionen. Eine kleine Karte fiel ihm entgegen. [Herzlichen Glückwunsch zu deinem 16. Geburtstag und alles Gute, mein Freund!] Yuri schmunzelte, entrollte dann das Präsent. Zunächst nahm es sich wie eine sehr eng gerollte Stoffbahn aus seidiger Kunstfaser aus, mit einem noch nicht erkennbaren Muster. Als er jedoch alles glatt gestrichen auf seiner Matratze betrachtete, konnte er einen hingerissenen Juchzer nicht ganz unterdrücken. Vor ihm lag eine ärmellose Weste mit Kapuze aus Fallschirmspringerseide. Mit der Fellzeichnung der sibirischen Tiger! Offenbar ein Einzelstück, denn Yuri fand keine Etiketten oder Einnäher. Die federleichte Weste war sauber verarbeitet, allein der Reißverschluss aus Kunststoff machte ihr geringes Gewicht aus. Er schlüpfte hinein, sah an sich herunter, bewunderte die Harmonie seiner hellen Haut mit der ungewöhnlichen Musterung. Wo hatte Otabek dieses Kleidungsstück her?! Er selbst hatte sich bei jeder Gelegenheit umgesehen, etwas Entsprechendes zu finden und war doch immer nur auf den gewöhnlichen Leopardenmusterdruck gestoßen! Oh, es war einfach prächtig! Und so leicht! Der grimmig-übellaunige "russian punk" Yuri Plisetsky flitzte strahlend zum Computerterminal, um stehenden Fußes eine Dankes-E-Mail abzusetzen! *~#~* Kapitel 3 - Weltmeisterschaft 2017, Helsinki Die Weltmeisterschaften der Saison 2016/2017 fanden als großes Abschlussereignis in Finnland, Helsinki, statt. Letztes März-Wochenende, Donnerstag Kurzprogramm, Samstag Kür, Sonntag Bankett. Dieses Mal herrschte große Spannung vor, denn unerwarteterweise hatte sich die Saison ohne Victor Nikiforov als offener Wettbewerb zwischen verschiedenen aufstrebenden Talenten entpuppt. Vom Veteranen Christophe Giacometti aus der Schweiz war bekannt, dass der im Laufe der Saison zum Höhepunkt auflief. Yuuri Katsuki, im Vorjahr nach dem Grand Prix-Fiasko nicht mal dabei, nun als Asiatischer Winterspielgewinner und Silbermedaillengewinner, dazu noch Vier-Kontinente-Sieger, ein geradezu kometenhafter Aufstieg, durchaus in Schlagdistanz. Aus Kanada der notorische Jean-Jacques Leroy, selbsternannter "King", der endlich den Beweis antreten musste/wollte, dass zwei Goldmedaillen in der Grand Prix-Serie NICHT die Höhepunkte seines ersten Jahres in der Seniorenklasse darstellten. Yuri Plisetsky, Juniorenweltmeister des Vorjahres, Europäischer Meister, Grand Prix-Sieger, auf den Spuren des legendären Victor Nikiforov, Weltrekordhalter. Im Verfolgerfeld dicht dabei Universiaden-Sieger Otabek Altin und Phichit Chulanont mit gewissen Chancen, außerdem noch Leo de la Iglesia aus Amerika und Seung Gil Lee aus Südkorea, der zumindest technisch die Spitzengruppe angreifen konnte. Otabek hoffte, seinen ambitionierten Auftritt bei den Asiatischen Winterspielen wiederholen zu können. Ja, er hatte Yuuri nicht übertrumpfen können, das stimmte, aber er wollte wenigstens noch einmal sein Bestes geben, sich gebührend verabschieden. Für die nächste Saison, das stand fest, wäre eine Steigerung notwendig, sich bei den Spitzensportlern auch im dritten Jahr etablieren zu können. Nicht zu vergessen die Olympischen Spiele, für die das neue Programm auch geeignet sein musste! Er war durchaus neugierig darauf, was seine Konkurrenten noch auf das Eis zaubern würden, zum Beispiel Jean-Jacques, für den es ein Schock gewesen sein musste, hinter Yuuri zurückzubleiben. Würde er statt sechs Vierfachsprüngen ihre Anzahl vielleicht erhöhen? Klappte das überhaupt mit seinem Programm? Und Yuri? Nach der ungewohnt euphorischen E-Mail als Dankeschön für das Geburtstagsgeschenk hatte er recht wenig von seinem jüngeren russischen Freund gehört. Sehr viel mehr von sich reden machte allerdings die noch ungewohnte Verbindung Victor-Yuuri, zu Victuuri abgekürzt. Zugegeben, man kannte Victor nicht nur als einen genialen Eiskunstläufer, Choreographen und flirtenden Charmeur, aber auch als Geschäftsmann in eigener Sache schien er mit allen Wassern gewaschen. Er trat als Werbepartner bereits für seine neue Wahlheimat Japan in Fernsehspots des dortigen Fernsehens auf, beteuerte seine Absicht, in der kommenden Saison wieder als Aktiver UND als Trainer anzutreten und willigte ein, für diverse Fanartikel zu posieren. Deshalb gab es tatsächlich eine Produktion von Ganzkörperkissenbezügen mit Victor, Christophe, Jean-Jacques und Yuuri käuflich zu erwerben! "In bed with Victor" erhielt da eine ganz neue Bedeutung... Otabek hatte diese für ihn kuriose Entwicklung mit einer dezent gelupften Augenbraue kommentiert, denn man war tatsächlich auch an SEINEN Verband herangetreten, um ihn für entsprechende Artikel zu gewinnen (was abgeschmettert worden war, da man derartige Produkte für Entgleisungen hielt). Ein frech zwinkernder Victor jedoch, der mit seinem Ganzkörperkissenpendant leger auf einem Futon lümmelte: die Werbeanzeige allein spülte schon Geld in die Kassen! Grundsätzlich, das verblüffte Otabek durchaus, schienen Victors Erscheinen in Japan und Yuuris unerwarteter Erfolg seltsame kommerzielle Blüten zu treiben, von gewaltigen Fan-Clubs ganz zu schweigen! Neid stellte sich da bei ihm ganz sicher nicht ein, denn er vermutete, dass es eine Menge Arbeit war, dieses Image stets und ständig zu pflegen, quasi im Fokus der Öffentlichkeit zu leben und gleichzeitig noch Spitzensport zu betreiben. Selbst Victor Nikiforov mit seiner langjährigen Routine konnte das nicht so einfach wegstecken, argwöhnte er. Der Kasache trat zum Auslosen und beim öffentlichen Training an, in der Hoffnung, auf Yuri zu treffen, doch das Los-Pech verhinderte eine Begegnung. Ihm schwante jedoch, dass etwas nicht stimmte, denn bei aller Geheimniskrämerei nahm es sich doch ungewöhnlich aus, dass Yuri kaum zu sehen war. Einen Teil der Antwort erhielt Otabek am Donnerstag, Antritt der Herren zum Kurzprogramm. Alle Grand Prix-Teilnehmer hatten sich für die Weltmeisterschaft qualifiziert, sodass trotz der Konzentration eine freundschaftliche Atmosphäre vorherrschte, während man sich aufwärmte und die Konkurrenz bei ihrer Darbietung auf den Bildschirmen verfolgte. Aus der Spitzengruppe mit dem aktuellen Weltrekord musste Yuri früh antreten. In Victor Nikiforovs ehemaligem Kostüm, halb durchscheinend, weiß mit Glitzersteinapplikation gehalten, die hellblonden Haare im Nacken zusammengefasst, wirkte Yuri ätherisch, als er seinen Startpunkt auf dem Eis einnahm. Unwillkürlich zogen sich Otabeks getuschte Augenbrauen zusammen. War Yuri nicht etwas bleich? Und seine Körperspannung schien weniger energiegeladen als losgelöst? Zur Verblüffung aller senkten sich die fahlen Augenlider, und Yuri absolvierte sein gesamtes Kurzprogramm mit geschlossenen Augen! Wie in einem fiebrigen Rausch glitt er dahin, ohne Fehler, ganz sicher, doch auch ein wenig unheimlich. Oder überheblich? Blinzelnd, als müsse er sich mühsam in eine Wirklichkeit einfinden, ohne jedes Lächeln, erwies er nach dem Schlusspunkt seine Referenz, verließ zügig die Eisfläche. Technisch makellos, kein Zweifel, aber höchst riskant, dieser Auftritt! Man kreidete ihm jedoch dieses ungewöhnliche Gebaren nicht durch Punktabzüge an, sondern bestätigte wohlwollend seine Leistung mit entsprechender Punktzahl. Otabek blinzelte kaum, studierte die Kamerabilder, das fahle Gesicht neben dem finster dreinblickenden Coach Yakov Feltsman. Plötzlich begriff er, was ihn so irritiert hatte. *~#~* Sie hatten es alle in die engere Auswahl der Kür am Samstag geschafft. Wie gewöhnlich war es Phichit, der durch seine multimediale Präsenz die Kollegen einlud, sich doch am freien Freitag ein wenig gemeinsam umzusehen in der finnischen Hauptstadt. Vielleicht zusammen etwas essen? Yuuri und Victor waren sofort mit von der Partie. Dazu kamen Victors große (wenn auch körperlich eher kleine) Bewunderer Leo und Guang-Hong. Christophe schloss sich selbstverständlich auch an, lud Emil und Michele ein. Otabek hoffte, Yuri zu treffen, doch von russischer Seite stieß niemand zu der kleinen "Touristentruppe". Auch auf seine telefonische Kurznachricht zu Yuris Befinden erhielt er keine Antwort. Andererseits konnte man nicht behaupten, dass er sich nicht amüsiert hätte, auch wenn man ihm das selten vom Gesicht ablas. Phichit vermochte alles und jeden in ein fröhliches Gespräch zu ziehen, Christophe neckte Victor gern (sie waren die Ältesten in der Gruppe), Yuuri sonnte sich in der offenen Bewunderung der Freunde Leo und Guang-Hong, während Emil überaus gutmütig Micheles Klagen ertrug, der an Phantomschmerzen laborierte, weil seine Zwillingsschwester nicht mitkommen wollte, sondern sich auf ihre Kür konzentrierte. Da er es nicht unbedingt gewöhnt war, das große Wort zu führen, hörte Otabek zumeist zu, tat dann und wann seine Einschätzung auf Nachfrage kund und fühlte sich erstmalig in seiner Seniorenlaufbahn nicht als Außenseiter. Bisher hatte er es (wie weiterhin Seung Gil und Jean-Jacques) durchaus vermieden, seinen Mitbewerbern um Titel und Medaillen zu nahe zu kommen, persönlich zu vertraut zu werden. Es widersprach schlichtweg den prägenden Vorgaben des Einzelkämpfertums, des unbedingten Willens, sich gegen alle anderen durchzusetzen, sie zu übertrumpfen. Sie waren schließlich keine Kameraden! (Was ihn, den früh Aussortierten, immer an den Eishockeyspielern gereizt hatte.) Dass der Ehrgeiz nicht darunter litt, sich gut zu verstehen, konnte man jedoch an Victor und Christophe beobachten. Mehr als ein Jahrzehnt Konkurrenten, allzu häufig mit dem besseren Ende für Victor, verstanden sie einander doch, neckten sich ein wenig, begegneten sich mit großem Respekt vor der jeweiligen Leistung und, in diesem privaten Rahmen, durchaus mit einer gehörigen Prise Selbstironie. Selbst Victors ungewöhnliche Entscheidung, als Sportler und Trainer auftreten zu wollen, wurde unverblümt thematisiert. Allein schon die Terminkoordination, würde das nicht schwierig? Hatte der Verband schon zugestimmt? Was war an den Gerüchten dran, dass Victor mit Yuuri eine eigene Vermarktungsagentur gründen wollte? Hin und wieder, Otabek achtete darauf, konnte man hinter der launig-flirtend-munteren Fassade von Victor Nikiforov aufblitzen sehen, dass entgegen seines Rufs als etwas schusseliges, aber überaus liebenswertes Genie ein scharfer Verstand am Werke war, ein Geschäftsmann in eigener Sache, der die "Regeln" seines Metiers beherrschte. Der Kasache konnte sich vorstellen, was sein jüngerer russischer Freund griesgrämig angedeutet hatte: Victor Nikiforov verfügte über einen eisernen Willen und entsprechendes Durchsetzungsvermögen. Man durfte auch nicht vergessen, dass er vor Yuri dieselbe, vielleicht sogar noch härtere russische "Schule" absolviert hatte. Dennoch. Auch wenn er sich um Yuri sorgte, ging Otabek am Freitagabend mit dem ungewohnten Gefühl zu Bett, ausgerechnet im Kreis seiner gefährlichsten Konkurrenten freundschaftlich angenommen worden zu sein. *~#~* Die Ergebnisse des Kurzprogramms bestimmten Teilnahme und Reihenfolge der Auftritte für die Kür am Samstag. Otabek war es gelungen, sich vor Phichit einzureihen. Durchaus noch in Schlagdistanz befand sich Christophe auf Rang Vier. Yuuri saß Jean-Jacques im Nacken, der, seiner unbekümmerten Miene nach zu urteilen, auf seine Kür setzte, seinerseits Yuri kritisch beäugte. Für Spannung war dementsprechend gesorgt. Mit einem hauchdünnen Vorsprung verabschiedete sich Otabek nach seiner Kür vom Publikum, das alle Auftritte euphorisch begleitete, aufmunternd klatschte, wenn jemand stürzte, freigiebig Blumen, Stofftiere und Süßigkeiten aufs Eis beförderte, sodass die zahlreichen Mädchen Einiges aufzulesen hatten. Er begab sich in die kleine, offene Lounge, wo die Spitzenreiter warten sollten, schüttelte Leo die Hand, den er mit seinem Ergebnis dort ablöste. Der zierliche Amerikaner wirkte durchaus zufrieden mit seiner Leistung und lächelte ihn fröhlich an. Christophe legte sich ordentlich ins Zeug, das konnte man nicht abstreiten. Er hatte seine Kür noch mal aufgestockt seit den Europäischen Meisterschaften. Erhitzt, aber auch gelöst gesellte er sich zu ihnen, verabschiedete Emil, der ihn kurz umarmte. Trotz des Altersunterschieds verstanden sich die beiden jungen Männer gut. Nach dem gemeinsamen Ausflug am Vortag hatten sie auch festgestellt, dass sie beide gerne kraxelten, was sie verband. Eine ähnliche Statur, ausgeprägte Muskelstränge und SEHR appetitliche Kehrseiten: die Kameras lichteten die beiden gemeinsam überaus bereitwillig ab. Phichit wippte neben Otabek nervös auf und nieder, denn nun war sein Freund Yuuri an der Reihe, sich zu beweisen. Würde er noch mal wie bei der Vier-Kontinente-Meisterschaft mit einer atemberaubenden Kür auf den letzten Metern Jean-Jacques Leroy distanzieren? Auf dem Eis bewies Yuuri, dass er gereift war, in einer einzigen Saison eine bemerkenswerte Wandlung durchlaufen hatte. Sein Programm spiegelte es wider, von der zögerlichen Unsicherheit bis zum Erblühen seiner tatsächlichen Fähigkeiten, vom Kopisten des genialen Victor Nikiforov samt dessen kennzeichnendem Sprung zu eigenen Qualitäten, eingeschlossen seinem Durchhaltevermögen. Er stellte unter Beweis, was Victors Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: seine Bewegungen schienen die Musik selbst zu erzeugen, nicht etwa umgekehrt. Phichit jubelte laut mit, als Yuuri, von Victor eng im Arm gehalten, schließlich die Wertungsbox verlassen durfte. Die Freunde umarmten sich herzlich, dann gesellte sich Yuuri zu Otabek und Christophe. Die Anhänger des "King" feuerten ihn lautstark an, denn Jean-Jacques Leroy musste sich nun beweisen, wollte er Yuuri von der momentanen Spitze vertreiben. Er selbst stand auch unter Zugzwang, ENDLICH Gold zu holen, immerhin hatte er ja großspurig angekündigt, aus seiner Verlobung dann eine Ehe zu machen! Es galt auch zu beweisen, dass ER der würdige Nachfolger von Victor Nikiforov war, die neue Generation! Gekommen, um zu bleiben! Vorgewarnt von der Vier-Kontinente-Meisterschaft gab er sich keine Blöße, nutzte seine Sprungkraft, um energisch zu demonstrieren, dass er auch die Ausdauer besaß, die man an Yuuri Katsuki so bewunderte. Otabek verabschiedete sich mit Händedruck von seinen Mitstreitern, verließ die Lounge, als Jean-Jacques dort Einzug hielt, strahlend, da es ihm gelungen war, Yuuri zu übertrumpfen, wenn auch, zugegeben, nur um ganze zwei Punkte. Der letzte Auftritt gehörte dem Führenden des Kurzprogramms, Yuri Plisetsky. Im Aufwärmraum hatte man ihn nicht zu sehen bekommen, auch im Hotel blieb der junge Russe unsichtbar. Sich zu den anderen gesellend studierte Otabek besorgt den Auftritt seines Freundes. Yuri bewegte sich wie aufgezogen, nicht geschmeidig wie üblich. Seine Miene blieb maskenhaft starr, während er die überaus anstrengende Kür absolvierte, fehlerfrei, aber steif. Keuchend kippte er schließlich vornüber, wirkte ausgepumpt. Während die Mädchen noch allerlei Gut vom Eis klaubten, ging eines neben ihm in die Hocke, reichte ihm scheu eine kleine Flasche, die der bleiche Russe ansetzte und mühsam leerte. Unbeholfen kam er schließlich wieder auf die Beine, wirkte zittrig, hielt auf die Bande zu. Hatte er sich übernommen? Was stimmte nicht? Als Yuri sich vorbeugte, die Kufenschützer anzulegen, verließen ihn, von den Kameras eingefangen, tatsächlich die Kräfte. Es war Victor, der ihn abfing, behutsam absetzte, seinen jüngeren Landsmann gegen sich lehnte und ihn erneut zur Flaschenkost nötigte, dabei leise auf ihn einsprach. Nach bangen Augenblicken gelang es schließlich, Yuri wieder auf die Beine zu stellen, der in die Wertungsbox stakste, wirkte, als würde er gleich in Ohnmacht fallen, fahlbleich, merklich zitternd. Ein knapper Vorsprung rettete ihm Bronze, doch statt in die Lounge hieß es für ihn, von Victor unerbittlich untergefasst aus dem Fokus der Kameras zu verschwinden, hinter die Kulissen. Während man noch eifrig auf der Eisfläche das obligatorische Treppchen richtete, Stoffbahnen ausrollte, über den Videowürfel die jeweilige Kür vorspielte, die den drei Medaillisten zum Sieg verholfen hatte, diskutierten die Eiskunstläufer um Otabek herum erschrocken bis besorgt Yuris Auftritt. War er krank? Oder hatte er sich bloß etwas überanstrengt? Trotzdem, erstaunlich, dass er seine Kür ohne Stürze absolviert hatte! Dann, Victor, der ihm half! Wie nett, dabei schien es immer so, als wären die beiden Katz und Hund! Otabek verfolgte auf dem Videowürfel Yuris Kür angespannt, fand seine Vermutung bestätigt. Beunruhigt fragte er sich, ob dieser überhaupt seine Medaille entgegennehmen konnte. Tatsächlich, nach einer etwas längeren Unterbrechung, zelebrierte man die feierliche Auszeichnung der Bestleistungen ohne Zwischenfälle. Jean-Jacques jubelte ausgelassen, verteilte Küsschen an die Fans und signalisierte neben seinen berühmten Handzeichen auch zwei verschränkte Ringe, also die Umsetzung seines Versprechens an seine Verlobte, die im Publikum förmlich zerfloss. Yuuri lächelte zwar, blickte aber immer wieder an JJ vorbei zu seinem "Namensvetter", der furchtbar blass mit zusammengepressten Lippen Hände schüttelte, Medaille und Blumenstrauß empfing, aber so wirkte, als halte er sich nur sehr mühsam aufrecht. Bei der Präsentation wurde Yuri Plisetsky dann tatsächlich entschuldigt, auf ärztliches Anraten hin. So lag eine gewisse Trübung auf der Weltmeisterschaft der Saison 2016/2017. *~#~* "Guten Morgen." Otabek blickte höflich auf, als sich die gleichaltrige russische Eiskunstläuferin Mila Babicheva neben ihm am Büfett einreihte, um sich Frühstück zu beschaffen. "Guten Morgen", antwortete der Kasache höflich, trat zurück, ihr den Vortritt lassend. Ein Lächeln breitete sich auf den hübschen, geschickt von Makeup betonten Zügen aus. "Ich dachte mir, dass du ein früher Vogel bist", offenbarte sie ohne Scheu, "wie wär's, wenn wir nach dem Essen einen kleinen Spaziergang unternehmen? Außer", sie zwinkerte betont, "du möchtest mich gern auf einem Stahlross entführen?" Damit spielte sie offenkundig auf den Ausflug mit Yuri auf dem Sozius in Barcelona an, der für Aufsehen in den sozialen Medien gesorgt hatte. "Es ist mir ein Vergnügen, dich zu begleiten", gab Otabek gelassen zurück, "allerdings steht mir hier nur Schusters Rappen zur Verfügung." "Macht gar nichts!", hakte sich die Russin frech bei ihm unter, gelenkig ihren Teller ausbalancierend, "mir geht's um deine Gesellschaft, nicht das Fortbewegungsmittel." Otabek deutete eine förmliche Verneigung an. War dies seine Chance zu erfahren, wie es wirklich um Yuri stand? *~#~* Während sich der Frühstückssalon rasch füllte, schlüpften sie hinaus, sich nach raschem Umkleiden im Foyer zu treffen. Wie nicht anders zu erwarten erschien Mila keineswegs im gewöhnlichen Sportlerinnen-Outfit mit Blouson in Nationalfarben, sondern wie zum Ausgehen selbst gerüstet mit einem knielangen Swinger aus karmesinrotem Wollstoff und hochgeschnürten Stiefelchen, eine bestickte Handtasche am Unterarm baumelnd. Sie wusste selbstverständlich Staat zu machen, wenn sie zu promenieren beschloss! In zutreffender Vermutung und durch das Training in gesellschaftlichen Umgangsformen geschult war Otabek in eine schlichte, schwarze Stoffhose geschlüpft, hatte sich einen honigfarbenen Rollkragenpullover übergezogen und seine schwarze Lederjacke zum Einsatz gebracht. Knöchelhohe Bikerstiefel komplettierten sein Räuberzivil. Höflich bot er Mila seinen Arm an, woraufhin sie sich mit zuckersüßem Lächeln einhängte. "Möchtest du eine bestimmte Route einschlagen?", erkundigte Otabek sich artig. "Oh, einfach der Nase nach, meinst du nicht? Ich habe kein bestimmtes Ziel", verkündete sie amüsiert, seufzte dann grundehrlich auf, "echt, das ist SO EINE WOHLTUENDE Abwechslung, mal wie eine Dame behandelt zu werden!" Otabek schmunzelte innerlich. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Yuri allein bei der Aufforderung, sich derart zu befleißigen, in blumige Schimpftiraden ausbrechen würde. Sie gingen schweigend einige Schritte, bevor Mila das Wort an ihn richtete. "Ich habe gehört, dass du mal bei uns trainiert hast?" "Das stimmt", bestätigte der Kasache höflich, "allerdings nur sehr kurz während eines Sommercamps vor etwas mehr als fünf Jahren. Ich habe leider den Anforderungen nicht genügt." Man musste nichts beschönigen. "Ha! Da werden sich jetzt einige aber umgucken!", lachte Mila neben ihm auf, "zu schade, dass ich damals nicht da war! Ich hätte gern mit dir trainiert." Otabek überging gelassen den flirtenden Tonfall, konzentrierte sich darauf, das Gespräch zu entwickeln. "Nun, ich habe an verschiedenen Orten meine Ausbildung fortgesetzt und bin erst zur letzten Saison wieder in meine Heimat zurückgekehrt." Mila wandte sich zu ihm herum. "Du warst in Amerika und in Kanada, oder?! Oh, ich beneide dich! Das war bestimmt aufregend, richtig?" Mit einem dezenten Kringeln der Mundwinkel sah sich Otabek genötigt, den Enthusiasmus etwas zu dämpfen. "Ich muss leider gestehen, dass nach der Eingewöhnungsphase die Unterschiede rasch verschwinden", er deutete ein leichtes Schulterzucken an, "Eisfläche, kleine Sporträume, karge Unterbringung, Training." "Baaahhh!", die Russin versetzte ihm einen spielerischen Knuff, schmollte, "da gehen meine Illusionen hin!" "Ich bedaure", deutete Otabek eine leichte Verneigung an, lächelte verhalten. "Ach, nicht so schlimm!", seufzte Mila grimmig, "ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl! So gesehen ist es schon herrlich, einfach auszubüchsen und sich ein wenig umzuschauen, oder?" Dabei zwinkerte sie ihm unternehmungslustig zu. Otabek nickte leicht. Sie löste ihren Arm von seinem und ergriff einfach seine Hand, verschränkte ihre Finger miteinander. "War übrigens sehr nett von dir!", wandte sie sich zu ihm herum, "Yuratschka diese Weste zum Geburtstag zu schenken! Er hat sich gefreut wie ein Schneekönig!" Sie blieb abrupt stehen, was Otabek ebenfalls zu einer Vollbremsung veranlasste, löste ihre Hand von seiner und kramte in der Handtasche nach dem unvermeidlichen Smartphone. "Aber verrat mich nicht!", deutete sie mit einem Zeigefinger an den geschminkten Lippen an, präsentierte ihm einen Schnappschuss, der zweifelsohne eine Rarität darstellte: Yuri mit Weste und einer langhaarigen Katze auf dem Schoß beinahe fötal für ein Nickerchen zusammengerollt. "Unsere beiden Kratzbürsten", grinste Mila, "er würde mich erwürgen, wenn er wüsste, dass ich ihn geknipst habe!" Offenbar ein seltener Triumph, wie Otabek konstatierte. "Es freut mich, dass sie ihm gefällt", kommentierte er brav, "seiner Katze offenbar auch." "Ach, das ist gar nicht seine Katze", verstaute Mila wieder das Gerät in ihrer Tasche und okkupierte ungezwungen Otabeks Rechte, "sie ist uns irgendwie zugelaufen. Yuratschka ist aber der Einzige, den sie zur Pflege an sich heranlässt, das kleine Biest. Na ja, gleich und gleich gesellt sich gern!" Otabek schmunzelte dezent, dann wagte er sich entschlossen in das Minenfeld vor, denn er wusste wohl, dass die Einladung der Russin nicht einer Laune entsprungen war. "Wie geht es Yuri?" Mila bot ihm ihr Profil, schwenkte ihre Hände leicht, spazierte einige Schritte, bevor sie ihm antwortete. "Als ich ging, haben sie ihm gerade eine Infusion gelegt. Das Fieber ist nicht mehr so hoch, und die Schmerzmittel zeigen auch Wirkung." Der Kasache spürte, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. Er registrierte auch den prüfenden Blick der Russin an seiner Seite. "Coach Yakov war dagegen, dass er gestern aufs Eis ging, aber unser Yuratschka ist stur wie ein alter Holzbock. Kampflos aufgeben, niemals! Tja", ihre Stimme klang nun rauer, hatte den spielerischen Tonfall verloren. "Ist das immer so?", formulierte Otabek bedächtig seine Vermutung, "wenn er einen Wachstumsschub hat?" Nun war es an ihm, das attraktive Profil seiner Begleiterin zu studieren. "Als Junior war es mal ähnlich", antwortete Mila ihm schließlich ernst, "aber da konnten wir ihm Schmerzmittel geben, weil keine Wettkämpfe anstanden. Dieses Mal ist es schlimmer, und der freche Bengel weiß einfach nicht, wann er mal nachgeben muss!" Dieses Urteil schleuderte sie mit solchem Ingrimm hervor, dass Otabek ihre Anteilnahme nicht verkennen konnte. "Ich wusste nicht, dass es so arg sein kann", bekannte er. "Na ja!", ein säuerliches Grinsen verunzierte Milas Züge, "er meint, es sei wie das Rheuma seines Opas. Eben Gliederreißen, wie auf der Streckbank. Sonniger Humor, der Kerl!" Etwas energischer schritt sie nun aus, ihr Händedruck fest. "Er kann nichts bei sich behalten, weißt du?", erläuterte sie dabei ernst, "also zehrt er von den bisschen Reserven, die vom Wachstumsschub noch übrig sind. Also quasi von nichts." Kein Wunder, dass sein Auftritt so merkwürdig gewirkt hatte. Victor Nikiforov wusste Bescheid, denn nicht umsonst hatte er das Mädchen mit der Flasche aufs Eis geschickt. "Seine Familie wird sich nach den Fernsehbildern sicher sorgen", legte der Kasache einen Köder aus. Mila schwieg, bestimmte die Richtung ihres gemeinsamen Spaziergangs. Otabek wartete geduldig, ließ sich dirigieren. Er konnte nicht erwarten, dass sie ihm in allen Belangen entgegenkam, das war ihm bewusst. Unversehens näherten sie sich einem Spielplatz, der zu dieser frühen Stunde am Sonntagmorgen noch keinen kleinen Besuch beherbergte. Die Russin steuerte eine der Schaukeln an, ließ sich in der Schlinge nieder und stemmte die Stiefelchen in die dämpfenden Schnitzel, die man ausgestreut hatte. Artig nahm Otabek hinter ihr Aufstellung, sorgte für Anschub. "Na los, mach mit!", forderte ihn Mila auf, ihre Handtasche umklammernd, einen immer höheren Radius anstrebend. Warum nicht? Der Kasache wählte die benachbarte Schlinge und stieß sich mit müheloser Eleganz vom nachfedernden Boden ab. Asynchron näherten sie sich nun dem Himmel, bis Mila die Hand ausstreckte, ihm anbot. Er griff zu, was ihre gegenläufigen Pendelbewegungen abstimmte, bis sie nur noch in einem dezenten Schwung schaukelten. "Yuratschka hat keine Freunde", stellte sie ruhig fest, schenkte Otabek einen bekräftigenden Blick, "so etwas entspricht nicht unserem Training. Auf dem Eis muss man allein kämpfen. Im Leben muss man für seinen Erfolg allein kämpfen." Mit dieser Philosophie war Otabek durchaus vertraut. Mila schenkte ihm ein schiefes Lächeln. "Aber mit dir ist das anders, und ich kann verstehen, warum das so ist." Eine sanfte Zärtlichkeit lag in ihrem Blick, mit einer Ahnung von Wehmut. Den Blick geradeaus gerichtet straffte sie ihre Haltung wieder, hatte ihre Entscheidung getroffen. "Yuratschka hat nur seinen Großvater, Nikolai. Er ist krank und lebt in der Nähe von Moskau", sie schnaubte, "was bedeutet, dass sie sich nur treffen können, wenn wir in Moskau antreten oder wenn zufällig etwas Geld übrig ist, um die Reise zu bezahlen." Sie bedachte den Kasachen mit einem spöttischen Auflachen. "Nun ja, im Prinzip sind wir ja alle Waisen, nicht wahr? Wer kann schon bei seiner Familie sein?!" Otabek drückte behutsam ihre Hand. Über das attraktive Gesicht der Eiskunstläuferin huschte wieder dieses zärtliche, jedoch traurige Lächeln. "Er liebt seinen Großvater, lässt nichts auf ihn kommen. Keiner kann bessere Piroshki machen! Niemand glaubt so unerschütterlich an ihn!" Was die Frage aufwarf, wie es um den Rest der Familie bestellt war. Ihre Handtasche freigebend strich sich Mila durchs Haar. "Der Großvater IST seine ganze Familie. Er spricht nur über ihn, über sonst niemanden." Erneut fokussierte sich ein beinahe schon sezierender Blick auf Otabeks schwarze Augen. Er erwiderte ihn unverwandt. "Es wird nicht darüber geredet", Mila sprach bedächtig, jedes Wort erwägend, "aber es heißt, dass Yuratschkas Mutter ein Filmsternchen war, das sich mit dem Falschen eingelassen hat. Deshalb verfügt der Großvater über das alleinige Sorgerecht." Otabek erhob sich aus der Schaukel, verbeugte sich und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. "Ich danke dir für dein Vertrauen", bekundete er aufrichtig. Mila lächelte versonnen zu ihm hoch. "Wirklich schade, dass du nur einen kurzen Sommer bei uns warst." Er quittierte diese Anmerkung mit einem Lächeln, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Es war kein ernstgemeinter Flirtversuch, das spürte er. Unterdessen schlüpfte Mila aus der Schaukel, justierte rasch Mantel und Tasche, denn das äußere Erscheinungsbild musste stets bedacht werden! Aufmerksam reichte Otabek den Arm, damit sie sich bei ihm unterhaken konnte. In gemeinschaftlicher Versonnenheit verließen sie den Spielplatz, kehrten auf die Promenade zurück. "Ist das nicht komisch?", ergriff Mila das Wort, "es kommt mir so vor, als seien wir aus der Zeit gefallen! Eine Saison beendet, und morgen", sie schnalzte vernehmlich mit der Zunge, "schon wieder rein, mitten in die nächste!" Ja, tatsächlich schien dieser Tag aus dem Rahmen zu fallen, im Niemandsland zu stehen, entschleunigt, mit einer ganz eigenen Atmosphäre. "In Detroit wurde es mit der Ruhe im Auge des Tornados verglichen", bemerkte Otabek leise. Zu seinem Glück war er jedoch bisher nicht in einen derartigen Wirbelsturm bei seinen Aufenthalten auf dem nordamerikanischen Kontinent geraten. "Klingt unheimlich", stellte Mila fest und schüttelte sich demonstrativ, "als ob die Luft viel dünner wäre, oder?" Otabek, der sich nicht als Meteorologe verstand und über die Druckverhältnisse dies- und jenseits eines Wirbelsturms nicht unterrichtet war, verlegte sich auf ein vages Brummen. Es wurde nicht gerügt, was ihm bewies, dass seine Begleiterin in männlicher Einsilbigkeit erfahren war und sie nicht als grundsätzlichen Affront auffasste. Allerdings registrierte er einen Stimmungsumschwung. "Sag mal?", schon wurde er herumgewirbelt, "kannst du eigentlich tanzen? Gerade nämlich habe ich mächtig Lust auf Musicals, auf Revue! Singin' in the rain!", verkündete die Russin kriegerisch. Der Kasache wich jedoch nicht verschreckt aus ihrem Griff, sondern blieb souverän-gelassen wie stets. "Nun, mit Musik stehe ich gern zur Verfügung", antwortete er höflich. "Wirklich?! Oh, phantastisch! AMAZING!", kopierte Mila Victors Lieblingsvokabel, nahm Otabeks Rechte und beschleunigte den Rückweg zum Hotel. Ein attraktiver Mann, der seinen rechten von seinem linken Fuß unterscheiden konnte, Manieren bewies UND tanzen wollte: DAS musste genutzt werden! *~#~* Otabek nickte leicht, als Mila ihm mit dem Zeigefinger an den Lippen signalisierte, er möge leise hineinschlüpfen. Nur ein kleiner Spalt zwischen den Vorhängen ließ eine Orientierung in dem Hotelzimmer zu, doch der Kasache war mit den Konventionen vertraut und lief nicht Gefahr, durch Ungeschicklichkeit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Lautlos näherte er sich dem zweiten Bett, wo eine Kanüle mit einem improvisierten Infusionsständer durchscheinende Flüssigkeit Richtung Matratze tropfte. Er durfte selbstredend nicht hier sein, aber Mila, die Yuri entgegen aller Behauptungen eine Freundin WAR, hatte ihm angeboten, einen heimlichen Besuch zu arrangieren, sonst würde ohne Zweifel geraume Zeit vergehen, bis sich die Freunde wieder persönlich begegnen konnten. "Wenn das nicht Fred Astaire ist!", hörte er eine raue Stimme mühsam flüstern. Schmunzelnd näherte sich der Kasache, beugte sich über das Bett. Offenbar hatte es sich selbst bis zu Yuri herumgesprochen, dass er in einem der Trainingsräume mit Mila eine flotte Sohle aufs Parkett gelegt hatte. Trotz des vorherrschenden Zwielichts konnte er erkennen, wie eingefallen die feinen Züge des jüngeren Russen wirkten. Auch die dunklen Augenringe sprachen Bände. "Wie fühlst du dich?" Yuri schnaubte matt. Seine Rechte klopfte mühsam auf die Matratze, die nonverbale Aufforderung, sich hinzusetzen. Otabek kam ihr nach. Aus einem Impuls heraus strich er Yuris hellblonde Strähnen aus dem Gesicht, streifte dabei die glühende Haut. Also immer noch Fieber! "Wie viele Zentimeter hast du schon zugelegt?", erkundigte er sich leise, fasste nach den kalten Wickeln, die in einer Schüssel bereit lagen. "...hab nicht mehr gemessen", murmelte Yuri mit schwerer Zunge. "Hoffentlich passt du noch in deine Weste", getarnt von seiner sonoren Stimme tupfte Otabek Tränen aus den Augenwinkeln, dem Fieber geschuldet, das die grünen Katzenaugen glasig polierte. "... danke...", brachte Yuri angestrengt hervor, blinzelte heftig. Otabek vermutete, dass dem Schmerzmittel noch etwas anderes beigemischt worden war, denn Yuri wirkte benommen und schläfrig, aber er kämpfte verzweifelt dagegen an, wollte sich sogar aufsetzen. Nicht, dass es ihm tatsächlich gelingen konnte. "Wollte mit dir feiern!", knurrte Yuri, unverkennbar wütend auf sich selbst und die nicht zu verhehlende, körperliche Schwäche. "Das holen wir nach, mein Freund", versprach Otabek entschieden, während er Yuri behutsam an den Schultern wieder auf die Matratze bugsierte, "mein Wort darauf." Yuri fokussierte ihn angestrengt, "vergiss es nicht!" "Nein", einen weiteren Wickel austauschend strich Otabek leicht über die seidigen Strähnen. Auf ihn wirkte Yuri gerade wie ein kleines Kind, das sich verzweifelt gegen das Einschlafen wehrte, aber todmüde war und sich erholen musste. Er summte leise in Basstönen, eine beruhigend-monotone Abfolge, wechselte erneut den kühlenden Wickel. Yuri schlief bereits betäubt, keineswegs ein Dornröschen, vielmehr zerbrechlich-ausgezehrt anmutend. Otabek erhob sich vorsichtig von der Bettkante. Allzu lange durfte er nicht bleiben, denn es bestand die Gefahr, dass man zurückkam, vor dem Bankett noch mal nach dem Rechten sehen wollte. Impulsiv beugte er sich herab und küsste die fiebrige Hitze verströmende Stirn. "Bis bald, mein Freund", wisperte er, bevor er lautlos das Hotelzimmer verließ. *~#~* Das Bankett diente nicht nur dazu, sich zum Saisonabschluss noch einmal auszutauschen, sondern läutete auch, zumindest verbal, die nächste, die olympische Saison ein. Wobei man es sich von Seiten des Verbands nicht nehmen ließ, auf die Regularien erneut hinzuweisen. Besonders die Nummer 501 zur Bekleidung wurde betont: zurückhaltend, würdevoll, dem sportlichen Charakter entsprechend. Keinesfalls sollten sich Teile lösen, auch Accessoires waren sanktioniert. Ebenfalls würde man streng durchgreifen, sollte die Kostümierung in übertriebener Weise nackte Haut entblößen oder über die notwendige künstlerische Unterstreichung des Programms hinausgehen. Selbstredend verstanden alle die Andeutungen. Gerade bei den Herren würde in einem derart hochklassigen Feld der Konkurrenz ein Punktabzug sehr schmerzhafte Auswirkungen auf das Fortkommen haben. Die Intention war klar: Revue- oder gar Burlesque-Charakter sollte kein Programm aufweisen. Die Werbeaktionen, durchaus zulässig, wenn sie außerhalb eines sportlichen Wettkampfs stattfanden, bei denen in aufreizender Semi-Bekleidung dramatisch über das Eis gerutscht wurde, durften nicht Fuß fassen. Gerade die Show-Elemente erfreuten sich jedoch beim Publikum und bei Sponsoring durchaus großer Beliebtheit. Nun, man war entschlossen, auf den Spitzensport alles Augenmerk zu legen. Wer sich Aufmerksamkeit heischend anderweitig produzieren wollte, sollte eben gleich zu Privatunternehmen wechseln! Für Gesprächsstoff war deshalb gesorgt. Auch diskutierte man schon die Schwerpunkte der kommenden Saison, was bestimmte Sprünge betraf. Abwechselung musste her, keine Frage, aber das Reglement gab einen sehr engen Rahmen vor, der nicht allzu viel Spiel ließ, zumindest dann nicht, wenn man an die Spitze wollte. Am nächsten Morgen jedenfalls zerstreuten sich die Eiskunstlaufenden samt Entourage wieder in alle Ecken der Welt. Es galt, sich auf die nächste Saison vorzubereiten! *~#~* Kapitel 4 - Olympisches Programm Yuris düstere Prophezeiungen erwiesen sich bereits im Frühsommer als zutreffend. Victor Nikiforov unternahm keinerlei Bestrebungen, wieder in St. Petersburg ansässig zu werden. Vielmehr gelang es ihm, seinen Einfluss so geltend zu machen, dass die beiden betroffenen Verbände sich einigen mussten, ihn nicht nur als aktiven Sportler für Russland zu akzeptieren, der in Japan trainierte, sondern auch als Trainer für einen japanischen Eiskunstläufer. Man musste nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, die Missstimmung im russischen Team zu erahnen. Cheftrainer Yakov Feltsman wusste, dass er nur auf dem Papier als Trainer für die lebende Legende Victor figurieren würde. Nicht, dass er seinen schwierigen Schützling zuvor hätte besonders dirigieren können, doch nun wurde es für jeden augenfällig. Victor hingegen drehte in Japan so richtig auf: das Fernsehen begleitete ihn auf Gastronomie-Tour, die Merchandising-Verträge wurden ausgebaut (mit Victor unter die Dusche, mit Victors Lieblings-Vesper unterwegs...). Daneben warb er unermüdlich für das nun gar nicht mehr so verschlafene Hasetsu, was die winzige Touristikbranche erfreute. Semi-private Schnappschüsse verrieten auch ein privates Glück: Trainieren mit Yuuri Katsuki, Herumtollen mit den Nachbarskindern, Familienschmaus im Tatami-Zimmer, Strandspaziergang mit Makkachin und Yuuri, Hand in Hand. Zwischen all diesen umtriebigen Aktionen planten sie auch gemeinsam ihr jeweiliges Programm, eingeschlossen Choreographie und musikalische Untermalung. Eigentlich ein Unding, wo tobte da der harte Wettkampf, die Konkurrenz?! Nun, das jeweilige Programm blieb selbstverständlich bis zum ersten offiziellen Auftritt vertraulich, was auch für all die anderen Eiskunstlaufenden galt. Selbst der notorische JJ, in den Vorbereitungen für eine sommerliche Märchenhochzeit steckend, ließ nicht verlauten, was er sich ausdachte, um in der olympischen Saison alle anderen wegzuputzen und sich als ungekrönter Herrscher zu präsentieren. Einen Mitstreiter verloren sie doch, denn dem Italiener Michele Crispino wollte die Trennung von seiner Zwillingsschwester so gar nicht gelingen. Es lief nichts zusammen im Training, weshalb man, nur der Probe halber, ihm anbot, es doch mit einer Juniorin im Eistanz zu versuchen. Zur Verblüffung des Trainerstabs erwies sich diese ganz neue Aufgabe als Katalysator für die Verlustängste des jungen Mannes, der sich mit Verve gleich ins Zeug legte. Kein leichter Umstieg, zweifelsohne, doch mit einer Partnerin auf dem Eis zu stehen, Teil eines Teams zu sein, das bot genau die Sicherheit, die Michele benötigte, um als Mensch und Athlet zu wachsen. Otabek wartete einigermaßen besorgt auf die erste Rückmeldung seines jüngeren russischen Freundes. Wie erging es ihm nach dem Wachstumsschub? Konnte er die körperlichen Veränderungen kompensieren? Yuri laborierte ganze zwei Monate mit den beträchtlichen Auswirkungen seines Wachstumsschubs. Die Yuri-Angels, denen es gelang, heimliche Schnappschüsse aufzunehmen, konnten ihre Besorgnis untermauern, denn der 16-Jährige wirkte ausgemergelt, die Glieder lang, Schultern und Taille noch immer zerbrechlich schmal. Ganze 10 Zentimeter überragte er nun seinen kasachischen Freund. [Darf jetzt wenigstens wieder reinhauen!], ließ er ihn gewohnt direkt wissen, [konnte ja kaum was bei mir behalten. Falls du mal ne Diät suchst: die hier wirkt.] Galgenhumor, keine Frage. Andererseits konnte man sich auch auf die unbedingte Entschlossenheit des Russen verlassen. Zwar hatte er nur sehr eingeschränkt überhaupt trainieren können, dafür jedoch die Zwangspause genutzt, seine schulischen Verpflichtungen zu erfüllen. Auch Otabek konnte davon ein (eher schrilles) Liedchen pfeifen: all die terminlichen Versäumnisse von Hausarbeiten, Prüfungen, Zwischenabschlüssen mussten nun aufgeholt werden. In einem gesunden Körper musste schließlich ein entsprechender Geist wohnen, da gab es keine Rücksichtnahme! Yuri beklagte sich unterdessen bei seinem Freund, er sei die Einschränkungen, was seine "Figur" auf dem Eis darzustellen habe, wirklich leid! Die "Unschuld" habe er ja wenigstens abgehakt mit dem "Agape"-Programm, aber immer nur Prinz oder Soldat, wie im klassischen Ballett, das sei fad und hänge ihm zum Halse heraus! Otabek konnte das durchaus nachvollziehen, musste seinerseits jedoch entgegnen, dass ER nun mal an bestimmte Konventionen und Regeln gebunden war, mit anderen Worten: Heldendarsteller, aus dem Volk, selbstredend, denn es war ihm auferlegt, eine positiv besetzte Figur abzugeben, nicht zu elitär, selbstverständlich. Vor allem in einem olympischen Programm stand es außer Frage, sich etwa als Bösewicht (oder Hexe) zu gerieren! Was, zumindest in Otabeks Augen, den Vorteil hatte, dass er nicht wie Gregori ein lächerliches Kostüm mit grässlichem Makeup zur Schau zu stellen gezwungen war. [Trotzdem!], begehrte Yuri auf und unterbreitete Otabek ein waghalsiges Angebot. *~#~* Otabek ließ die kräftigen Hände geschmeidig über die Tastatur gleiten, schubste die Maus, lauschte konzentriert, während er die Zeitanzeige nicht aus den Augen ließ. Er HATTE sich ködern lassen, die Herausforderung angenommen, denn wenn es ihm gelang, Yuris Aufgabe zu bestehen, würde er im Gegenzug für die eigene Kür eine wertvolle Hilfestellung erhalten. Quid pro quo, von dem niemand etwas wissen durfte, bis ein Eingreifen unmöglich wurde, weil die Meldefristen anstanden. Aber wenn es Yuri tatsächlich gelang...!! Otabek schloss die Augen, imaginierte sich die kryptischen Abkürzungen mit ihrer gestoppten Zeit zur symphonischen Untermalung in seinen Kopfhörern. Er beneidete stumm Victor und Yuuri, die in Japan gemeinsam tüfteln und trainieren konnten. Wie gern hätte er sich in Person mit Yuri ausgetauscht! *~#~* Die Regeln des Verbands verlangten mathematische Rechenspiele, um bei einer entsprechend fehlerfreien Ausführung hohe Punktzahlen in der Wertung zu erreichen. Die Mindestanforderungen waren schon hoch, sodass man insbesondere beim Kurzprogramm auf bewährte Grundabläufe zurückgriff, die man dann ausfeilte. Allerdings, das hatte die vergangene Saison ja bewiesen, musste mehr als eine Schippe draufgelegt werden. Für die Kür musste man wohl an das erlaubte Maximum von acht Sprüngen gehen, dazu das Repertoire von Toeloop, Loop, Flip, Axel, Salchow und Lutz mit vier Umdrehungen präsentieren. Ganz zu schweigen von den vorgegebenen Schrittfolgen, den Kombinationen und den Drehungen! Während man den Terminplan aufstellte und die Anmeldungen sortierte, trainierte unter ungewöhnlich verschwiegenen Umständen die Elite der Eiskunstlaufenden, feilte an der Technik und gab keinen Hinweis auf das jeweilige Programm preis. Sie waren zwar alle vorqualifiziert, was die Grand Prix-Serie betraf, doch in den nationalen Entscheidungen, die terminlich der Grand Prix-Serie vorgelagert waren, würde zum ersten Mal die Konkurrenz erblicken, was man sich ausgedacht hatte. Mit großer Spannung wurde die russische Meisterschaft erwartet, denn hier trafen mit Victor Nikiforov und Yuri Plisetsky zwei Champions aufeinander. Wer würde wohl den ersten Sieg erringen? *~#~* Otabek hoffte, dass die Satellitenübertragung nicht abriss, damit er die jeweilige Premiere des Kurzprogramms verfolgen konnte. Wie der Cup of Russia auch wurde die nationale Meisterschaft in Moskau ausgetragen. Er kannte Yuris Kurzprogramm bereits, basierend auf Sergej Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini. Yuri schlüpfte dabei in die zwiespältige Rolle des vermeintlichen Teufels, der dem Geigenvirtuosen die Seele abhandeln wollte. Die Choreographie war sehr anspruchsvoll, enthielt alle sechs Sprünge in vierfacher Drehung. Sein Kostüm hatte man betont schlicht gestaltet, allein der schwärzliche Stoff schimmerte rötlich, ein körpernaher Anzug, der Yuris schlanke, biegsame Gestalt nur noch stärker betonte. Victor dagegen hatte ein anderes Thema für sein Kurzprogramm gewählt, eine flotte Mischung aus Musikstücken der Goldenen Zwanziger. Man wähnte sich beinahe in den Tanzschuppen mit Flapper-Girls. Er selbst trug wie ein Flaneur in warmem Honigton gehalten die mit hohem Bund geschnittenen Bundfaltenhosen, Hemd und Gilet, dazu Einstecktuch und gebundenen Schal, die silbergrau getönten Haare entsprechend geölt und in kleine Wellen gelegt. Seine blauen Augen funkelten, ein spitzbübisches Lächeln tanzte auf seinen Lippen, man konnte die wilde Lebensfreude förmlich greifen! Auch er meisterte die sechs notwendigen Sprünge in vierfacher Drehung, blieb geschmeidig und gleichzeitig elegant. Ein interessanter Kontrast zwischen dämonischem Versucher und amüsierfreudigem Müßiggänger, dazu ein Altersunterschied von 12 Jahren, bei zwei hochklassigen Kurzprogrammen, die jeweils ohne Makel vorgetragen wurden! Victor rettete einen winzigen Punktevorsprung zur Kür. In der Ferne konnte Otabek es kaum erwarten, diese endlich zu sehen, in voller Länge, mit seiner symphonischen Untermalung. Würde Yuri schon aufs Ganze gehen? Sie hatten beide mit ihren Trainern einen Handel abgeschlossen: das Kurzprogramm würden sie klaglos übernehmen, wenn sie bei der Kür freie Hand bekämen. Eigentlich recht unverschämt, denn bisher hatten sie sich artig (oder auch nur zwangsläufig) den Entscheidungen der Funktionäre und Trainer gebeugt. Nun, in diesem Jahr, konnte man es riskieren, weil man als Sportler just so erfolgreich war, Olympia bevorstand, die Konkurrenz aus verschiedenen Gründen im eigenen Land nicht heranreichte, dass man Forderungen stellen konnte. Yuri glitt in geschmeidiger Mühelosigkeit aufs Eis, frenetisch angefeuert von seinem notorischen Fan-Club. Er trug ein in unterschiedlichen grünen Schlieren gehaltenes Kostüm, ohne jeden Schmuck, ohne Zierrat. Die hellblonden Haare waren wie beim Kurzprogramm im Nacken strikt zusammengefasst, präsentierten die spitzen Gesichtszüge und die bezwingend grünen Katzenaugen. Otabek atmete vor Anspannung tief durch. Nur Yuri, der Trainer und die Jury wussten, dass sie gleich eine Premiere bewundern durften. *~#~* Yuri verbeugte sich geschmeidig, hütete sich, seinen Triumph zu zeigen, obwohl er am Liebsten in wildes Geheul ausgebrochen wäre. Er verließ zügig das Eis, genoss das Getöse des Publikums, das er zuvor in den Bann geschlagen hatte. Die Kulisse tobte förmlich noch immer. Kein Wunder. Otabek Altin, der Tonkünstler, hatte zu seiner Choreographie die Musik geschaffen, eine Symphonie des Meeres: Rauschen, rollende Wellen, von Streichinstrumenten erzeugt, die Rufe von Walen, Möwengeschrei, eine Harfe, die Sonnenlicht auf den Wogen glitzern ließ. Man konnte es mit jeder Faser spüren, den Film, den dieser Soundtrack vor dem inneren Auge zeichnete! Yuri selbst bewegte sich gleitend, fließend, in hohem Tempo, wie ein Meeresbewohner, floh scheinbar vor Fressfeinden, katapultierte sich spielerisch wie ein Delfin aus dem Wasser, glitt durch Seetangwälder, flitzte um Korallenbänke herum. Vor allem aber zeigte er erstmalig den Axel mit fünffacher Umdrehung. *~#~* Victor winkte lächelnd in das heimische Publikum, warf Kusshändchen, verlängerte seine Rolle als Conferencier auf dem Rummelplatz noch ein wenig. Vornehm mit Frack, gestärktem Hemd, "Kummerbund" und Fliege verkörperte er den lockenden Reiz einer scheinbar magischen, leicht verruchten, Abenteuer versprechenden Halbwelt, die er präsentiert hatte. Auch seine musikalische Untermalung verwendete zahlreiche Versatzstücke, die das Auditorium zwischen Elefanten hindurch an Feuerschluckern, Artistik, Clowns und anderen Künsten führten, für Zuckerwatte und Liebesapfel warben. Karussellmusik, Drehorgel, spannungsreicher Tusch für den Messerwerfer oder die Seiltänzerin, dazu Hau-den-Lukas, ein abwechslungsreiches Programm. Er hatte nicht erwartet, dass Yuri ebenfalls eine symphonische Präsentation wählen würde. An der Bande empfing ihn sein geliebter Lebenspartner Yuuri, ordentlich ausstaffiert mit Sakko und Rollkragenpullover, also der genau richtigen Mischung zwischen leger und formell. Er lächelte hinter der halbrahmigen Brille mit polierten Augen, zog ihn dann an sich und hielt ihn für einen langen Moment fest. Der Russe erwiderte die Umarmung ebenso entschlossen, ohne einen Anflug der Exaltiertheit, die er früher gepflegt hatte. Als sie sich voneinander lösten, Yuuri vor ihm gelenkig in die Hocke ging, um die Kufenschützer zu applizieren, schenkten sie einander einen zärtlich-vertrauten Blick. Ja, Victor hatte seine Kür perfekt umgesetzt, man liebte ihn noch immer, doch dieses Mal würde er nicht als Sieger vom Eis gehen. *~#~* Artig senkte Yuri das Haupt, schüttelte die Hand, nahm das obligatorische Bukett entgegen. Er lächelte kämpferisch hoch in die Ränge des Stadions. Aber er wollte nicht überheblich sein, nicht so arrogant wie Affenarschangeber JJ! Victor reichte ihm die Hand, verbeugte sich dann knapp vor ihm, durchaus elegant anzusehen. Yuri flüsterte, "nun, Vitya, wie gefällt dir MEIN Traum?" Sich aufrichtend funkelten Victors blaue Augen amüsiert, denn entgegen seiner gern gepflegten Behauptung, er habe nun mal ein schwaches Gedächtnis, erinnerte er sich sehr wohl an seine Worte beim letzten Grand Prix-Finale. Seinen Kosenamen benutzte der freche Bengel auch nicht von ungefähr. "Amazing!", gurrte er deshalb herausfordernd, "lass dich nicht aufhalten!" Weil er nun mal Victor Nikoforov WAR (und um dem Lauser Kontra zu bieten!), zog er Yuri ungeniert in eine wilde Umarmung, die das Publikum stürmisch begrüßte. Dass Yuri bloß enerviert aufschnaubte, aber keinen kindlichen Tobsuchtsanfall auslebte, verbuchte Victor als sehr vielversprechend für die charakterliche Entwicklung seines jungen Landsmanns. *~#~* Natürlich sprach sich die Sensation wie ein Lauffeuer herum: Yuri Plisetsky hatte den Axel mit fünffacher Umdrehung gesprungen! Perfekt in der Ausführung. Sein Kurzprogramm nahm sich schon anspruchsvoll aus, aber die Kür...!! Nicht zu toppen, wenn ihm kein Fehler unterlief! Selbst der geniale Victor Nikiforov hatte sich vor ihm verneigt. Wie sollte man da noch kontern?! Schlimmer noch, Yuri blieb gewohnt einsilbig gegenüber der Presse, stolzierte keineswegs wie ein eitler Pfau in sicherer Überlegenheit herum, sondern fokussierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf die anstehenden Wettbewerbe. Die Saison war schließlich lang, es war neben den drei großen Titeln auch noch olympisches Gold zu vergeben. Wie wunderbar wäre es wohl, sich ALLE zu sichern? *~#~* Die Fachwelt überschlug sich, man verglich natürlich die beiden russischen Eiskunstläufer miteinander. Victor Nikiforov hatte auch nach seinem Start als Senior mit langen Haaren alles auf den Kopf gestellt, würde Yuri Plisetsky dasselbe gelingen, eine Generation später? Otabek, der wie alle anderen auch die Verlautbarungen verfolgte, dem Freund stolz gratuliert hatte, konnte darüber nur den Kopf schütteln. Yuri war definitiv keine Zweitausgabe oder Wiederholung von Victor! Ja, auch Yuris hellblonder Schopf reichte nun bis über die Schultern, doch im Gegensatz zu Victor hing stets sein Pony im Gesicht, verbarg so die bezwingend grünen Katzenaugen. Wirkte der jüngere Victor liebreizend-charmant mit seinen blauen Strahleaugen und der einladenden, werbenden Attitüde, so signalisierte Yuri mit jedem sezierend-taxierenden Blick abweisende Vorsicht und eine eingebaute Grimmigkeit, die die schmalen Lippen noch betonten. Selbst ihre Gestalt wies deutliche Unterschiede auf: der 16-jährige Victor verfügte über eine attraktive Figur, doch die breiten Schultern verrieten schon, dass er einen sehr athletischen Körperbau haben würde, wie sich nun ja auch zeigte. Yuri dagegen war trotz des schmerzhaften Wachstumsschubs schmal in Schultern und Hüften, sehnig bis knochig, was die langen Arme und Beine noch betonte. Man konnte kaum glauben, dass es ihm dennoch gelang, sich derart hoch in die Luft zu katapultieren und blitzartig um die eigene Achse zu rotieren. Über eine nahezu perfekte Körperkontrolle verfügten beide, auch die Anmut und Grazie des jahrelangen Balletttrainings konnte man nicht negieren. Aber Yuri war immer noch die wilde, misstrauische, übellaunige Katze, auch wenn er sich dies, nun im Fokus aller Aufmerksamkeit, sehr viel seltener anmerken ließ. Die Termine für die Grand Prix-Serie standen, wie immer mit Wettbewerben in Kanada und Nordamerika im Oktober, dann im November geballt Russland, China, Japan und Frankreich. Das Grand Prix-Finale selbst würde in diesem Jahr am zweiten Dezemberwochenende in Nagoya ausgetragen werden. Zu seinem Leidwesen war Otabek in keinem gemeinsamen Wettbewerb mit Yuri ausgelost worden, denn selbst wenn er den Kürzeren gezogen hätte, so wäre es doch eine Gelegenheit gewesen, den Freund wieder einmal in Person zu sprechen, sich ohne den Filter von Kameraaugen zu betrachten, wie sich der jüngere Russe verändert hatte. Aber auch Victor und Yuuri trennte die Auslosung, was in ihrem Fall jedoch recht praktisch war, da es Victor nicht zwang, sich blitzartig von der Coach-Position in die Sportlerposition zu begeben. Wie alle anderen auch studierte Otabek Altin die jeweiligen Programme der Konkurrenz anhand der Videoaufzeichnungen bei den nationalen Wettbewerben. Selbstredend musste man davon ausgehen, dass nicht jeder alles gleich zeigte, denn die Elite hatte regelmäßig von Mitbewerbern der eigenen Nation selten etwas zu befürchten. Es wäre aber fahrlässig gewesen, sich nicht schlau zu machen und systematisch das,Teilnehmerfeld auszuloten. In Vorausschau auf die olympischen Spiele hatten die meisten Eiskunstlaufenden zumindest einen Part ihres Programms von gewissen kulturellen, historischen oder nationalen Prägungen beeinflussen lassen, verständlicherweise. Yuuri Katsuki, Victors japanischer Lebensgefährte, zeigte in seinem Kurzprogramm eine reduzierte Samurai-Kostümierung, begleitet von traditionellen Musikinstrumenten und gewaltigen Trommeln, was zu seinem Auftritt passte. Die sinfonische Ausgestaltung erinnerte an Spielfilmhandlungen, Vorbereitung, letzte, lyrische Worte für einen Haiku, Abschied und Aufbruch, Aufeinandertreffen der gegnerischen Parteien, final das Kampfgeschehen. Seine Kür hingegen entsprach seiner persönlichen und keineswegs mehr heimlichen Vorliebe für den Tanz: eine Mischung aus Carmen und Matador, mal weiblich, mal männlich, mit Bandoneon-Einsatz, der Anzug schlicht und schwarz, lediglich dunkelrote Bommeln am Taillenbund. Der Takt wechselte, Tango, Samba, Rumba, Chachacha, mal dramatisch, mal verspielt. Dazu war es Victor gelungen, seinem Schützling alle sechs Sprünge im Repertoire beizubringen, in entsprechender Ausführung, dazu sicher gestanden. Yuuris Forte zeigte sich jedoch immer noch in den Schrittsequenzen, die er wie kein anderer im Teilnehmerfeld elegant und mühelos variieren konnte. Für Choreographie und Musikzusammenstellung zeichneten sich beide Männer verantwortlich. Yuuris Leidenschaft für den Paartanz zeigte sich jedoch nicht nur auf dem Eis. Er absolvierte auch entsprechende Einlagen zum eigenen Vergnügen mit dem sichtlich hingerissenen Victor, der ungerührt ob der Reaktionen der Presse antwortete, habe man erst mal erlebt, wie erfüllend es sei, zu zweit zu tanzen, wolle man darauf nicht mehr verzichten. Außerdem sei es ein herrlicher Zeitvertreib im Sommer, wenn die älteren Leute aus der Nachbarschaft tatsächlich noch einen handbetriebenen Plattenspieler auffuhren, man sich vor dem offenen Platz der (nachgebauten) Ninjaburg im Schatten der Zierkirschbäume traf und dort in der abkühlenden Abendluft das Leben genoss. Die Nachbarschaft war schon daran gewöhnt, dass der exotische Familienzugang der Katsukis gern Gesellschaft hatte und dafür sorgte, dass der eigenbrödlerische Sohn der Familie nun auch Anschluss fand. Zudem waren die beiden Männer schmuck anzuschauen, wie sie sich so harmonisch und voller Pep bewegten! Otabek konstatierte beim erstmaligen Studium des Programms, dass zumindest für die Vier-Kontinente-Meisterschaft mit einer Wiederholung des Vorjahresergebnisses gerechnet werden musste. Yuuri Katsuki bewies, dass er keine Eintagsfliege darstellte, seinen Ruf als Nervenbündel und Spätzünder abgestreift hatte. Phichit Chulanont aus Thailand offenbarte seine Leidenschaft für Musicals, wie zuvor schon bei seinem ersten Seniorenjahr. Er wählte sich aus "Anna und der König" entsprechende Sequenzen, sowohl für das Kurzprogramm als auch die Kür, vertraute Melodien, die eingängig zum Mitsingen einluden, Sympathien schufen. Sein optisches Erscheinungsbild trug selbstverständlich auch dazu bei, einmal in einem eher traditionell anmutenden Kostüm, dann wieder in einer Revue-Variante eines Paradeanzugs des Viktorianischen Zeitalters. Auch seine Leistungskurve zeigte steil nach oben unter dem Training von Ciao Ciao Chaldini, selbst wenn man ahnen konnte, dass noch nicht alle Sprünge perfekt saßen. Seinem Charme jedoch konnte sich niemand entziehen. Guang-Hong Ji erwies sich bei den nationalen Vorentscheidungen in China als sehr viel besser beraten als in der Vorsaison. Sein Kurzprogramm als stilisierter Kämpfer aus der Zeit der vier streitenden Reiche mit entsprechender musikalischer Untermalung passte viel besser zu seinem unverändert zierlichen Erscheinungsbild. Auch an seiner Technik hatte man gefeilt, denn seiner leichten Gestalt kam der Trend zu vierfach ausgeführten Rotationen bei den Sprüngen entgegen. Für die Kür hatte man sich dann etwas Humorvolles einfallen lassen, nämlich Auszüge aus der verfilmten, sehr bekannten Reihe "Chinese Ghost Story". Als verschreckter Steuergehilfe über Land in entsprechendem Kostüm irrte er in Tempelruinen umher, sich vor den verführerischen Geistwesen in Sicherheit zu bringen. Gekonnt mischten sich die anspruchsvollen Sprungelemente mit slapstickartigen Einlagen, bewies Guang-Hong mit großen Kulleraugen und mimischer Ausdrucksfähigkeit sein Talent zu komödiantischen Darstellung. So brachte er sich in ernstzunehmende Konkurrenz mit Phichit, was den schieren Unterhaltungswert betraf. Seung Gil Lee aus Südkorea setzte ebenfalls auf nationale Aspekte, wenn auch in weniger gefälligerer Weise. Auch sein Kurzprogramm erinnerte in historischer Referenz an einen Kämpfer gegen die Besetzung der Heimat, jedoch agierte dieser Held auf schwankenden Planken, nämlich zur See. Seine Kür nahm dagegen die Gegenwart in den Fokus, die große Bedeutung elektronischer Spiel-Epen, wo er sich in einen Helden aus eben einem solchen Titel verwandelte und zur düster-endzeitlichen Musik des Computerspiels auflief. Das passte zumindest zu seinem gewöhnlich emotionslosen Mienenspiel besser als romantisch-erotische Fehlversuche der letzten Saison. Obwohl auch sein Programm insgesamt hohe Wertungen durch den technischen Anspruch erwarten ließ, blieb für Otabek die Frage offen, wie nervenstark der Koreaner inzwischen auftreten konnte. Ähnlich wie Yuuri Katsuki schien der eigene Ehrgeiz hin und wieder zwischen die Beine zu geraten und zum Stolpern zu verführen. Leo de la Iglesia, inzwischen 20 Jahre alt, der feinfühlige Vertreter der USA und enger Freund von Guang-Hong, verlegte sich auf ein weniger patriotisches Programm. Sein Kurzprogramm bediente sich einer selbst komponierten und eigenhändig am Klavier eingespielten Variation des Gospelklassikers "Oh happy day", die er mit schlichtem weißen Hemd und roter Hose durchaus technisch herausfordernd darbot. Seine Kür ließ dann die Hippie-Bewegung aufleben, verwendete Versatzstücke aus dem Musical "Hair" und warb unverwandt offen für Frieden und gegenseitige Akzeptanz. Ebenso wie Yuuri Katsuki verfügte Leo de la Iglesia über die Fähigkeit, allein mit seiner Körpersprache schon Musik zu erzeugen, selbst wenn man keinen einzigen Ton hörte. In regenbogenbuntem Aufzug auftretend lag sein Schwerpunkt weniger bei technischen Höchstleistungen als der künstlerischen Note. Emil Nekola, 19 Jahre jung und ein großgewachsener Eiskunstläufer, richtete seinen Fokus unzweideutig auf die Athletik: hohe, kraftvolle Sprünge, Tempo, Abwechslung. Sein Kurzprogramm nutzte tatsächlich das bekannte "Bond"-Motiv aus der entsprechenden Filmreihe, ließ ihn im Smoking rasant durch verschiedene bedrohliche Szenarien gleiten, die er selbstredend überstand und frech ins Publikum zwinkern konnte. Die Kür bediente sich dann bei einem weiteren Hobby des umtriebigen Tschechen: Surfen! Mit entsprechender Untermalung glaubte man, ihn tatsächlich statt über Eis über Wellen gleiten zu sehen, braun gebrannt, im stilisierten Neoprenanzug, gut gelaunt, die global bekannte Surfergeste zeigend. Eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz für den Schweizer Christophe Giacometti, der eine entsprechende Statur aufwies. Was sollte der Dauerrivale von Victor Nikiforov aufbieten, stets auf seine erotische Ausstrahlung reduziert? Nun, für das Kurzprogramm blieb Chris seinem Image treu, wählte Ray Charles' "Night time is the right time" aus, mit einer perfekt abgestimmten Choreographie, die vom augenzwinkernden Verführer mit lässig aufgeknöpftem Hemd zu genau dem aufforderten, was man zu Zweit so phantastisch erleben konnte. Dabei unterstrich seine Aufmachung die blauen Augen, die dunkelblonden Locken, den gepflegten Dreitagebart und selbstredend die Figur, die jeden Stripper in den Schatten stellte. Das notwendige Fünkchen Selbstironie inbegriffen verzauberte er dabei das Publikum. Einen Überraschungscoup leistete er sich jedoch mit seiner Kür, nämlich einer Hommage an Pharrell Williams "Happy", ließ den verliebten Animationscharakter Gru aufleben, der akrobatisch-glückselig förmlich auf Wolke 7 über das Eis schwebte. Damit setzte Chris ein deutliches Ausrufezeichen, denn an seiner sportlichen Klasse gab es nichts zu rütteln. Nun bewies er, dass er mehr sein konnte als der erotische Verführer. Blieb der selbsternannte "König", JJ, frisch verheiratet und noch immer überzeugt, dass man sich nicht an die alten Regeln über Gebühr anpassen musste, wollte man nach vorne gehen. Keine Einzelmeinung, doch noch überwogen die Traditionalisten im Verband. Sein Kurzprogramm huldigte seiner Majestät in einer "Anthem", die er selbst mit Anleihen bei Jimmy Hendrix spickte, rockig gegen den Strich gebürstet. Auch sein Anzug zeigte entsprechende Anleihen auf, schwarze Lederweste mit (künstlichem) Hermelinbesatz, diverser Blingbling zu Netzeinsätzen in Hose und anstelle der Ärmel. Für seine Kür kam ebenfalls eine eigene Rockmelodie zum Einsatz, Marke "Stadion" mit Bombast und dezent angeraut, wie es sich für den "Leader of the pack" gehörte. Dazu trat er in Reminiszenz zur Comicfigur "Wolverine" mit Koteletten, Tolle, Cargos, Doppelrippunterhemd und Karo-Flanell auf, aggressiv-selbstbewusst, nicht unterzukriegen. Obwohl er sich sichtlich bemühte, schien es ihm nicht möglich, Yuris Rotation zu erreichen, auch wenn er wie im Vorjahr alle sechs Sprungvarianten tadellos beherrschte. So viel zu den anderen. Wie würde er in dieser Saison sein Heimatland Kasachstan vertreten? Otabek hatte wie vereinbart für das Kurzprogramm auf eine klassische Variante zurückgegriffen, nämlich Khatchaturians "Gayne", den Säbeltanz, eine furiose Steigerung von Tempo und Rhythmus, was seiner Leistungskraft entgegenkam und die Konkurrenz beeindrucken musste. Dazu konnte er auch ein leicht verändertes Kostüm des Vorjahres nutzen, musste sich nicht in erhebliche Ausgaben stürzen. Für die Kür bewies er ebensolche schlichte Bescheidenheit: halbärmliges, weißes T-Shirt zu leicht gekrempelten Bluejeans (mit angefügten Bändern zum Fixieren unter den Sohlen), um die Stirn eine rote Bandana, die perfekte Hillbilly-Aufmachung für seine Adaption verschiedener Volkslieder auf Rock'n'Roll-Basis. Otabek war fasziniert vom Balkan-Pop und hatte als heimlicher Tonkünstler und offizieller "DJ Beka" seine Chance genutzt, die vielen Volkstraditionen seiner Heimat, die zum Teil sehr unterschiedlich waren, für eine flotte, wilde, ungezähmte Variante zu vermischen, exotisch und faszinierend, für ihn selbst vertraut und gleichzeitig zeitgemäß. Da er wie gewohnt und von ihm verlangt positiv besetzte Charaktere aufs Eis brachte, konnte man sich nicht allzu sehr an seiner "Rebell"-Kür stören, denn die Jugend seiner relativ jungen Heimat verlangte es wie überall nach mehr persönlicher Freiheit und einer Lösung von althergebrachten Feindbildern sowie dem Ausbruch aus der muffigen Enge der Welt seiner Eltern. Wie Yuri ihm vorgeschlagen hatte, setzte er auf sein "Wumms", auf seine Sprungkraft, sein Durchhaltevermögen und seine besondere Begabung, kombinierte Sprünge aneinanderzureihen wie Perlen auf einer Kette. Ja, ihm ging die beinahe unheimliche Beweglichkeit der Ballettschüler ab, aber das KONNTE nicht die einzige Möglichkeit sein, in diesem Sport zu reüssieren! *~#~* Kapitel 5 - Grand Prix-Finale in Nagoya Die sechs Finalisten nach engen Entscheidungen für das Grand Prix-Finale am zweiten Dezemberwochenende in Nagoya standen fest. Yuri hatte die Goldmedaille bei Skate America und Trophee de France gewonnen, führte somit die Liste unangefochten an. Obwohl es Gerüchte gab, er sei magersüchtig (was die russische Seite sofort mit einer regelmäßigen Veröffentlichung aller Gesundheitsdaten konterte, die zwar belegten, dass ein Anatom an Yuri seine helle Freude hätte, weil man jede Rippe abzählen konnte und er auch kaum noch ausreichend Körperfett aufwies), ließ sich doch belegen, dass er zumindest trotz seines geringen Gewichts nicht hungerte oder unter Ausfallerscheinungen litt. Man spekulierte indessen, die Spätfolgen seines schmerzhaften Wachstumsschubs würden ihn schon noch einholen und dann wäre es ihm nicht mehr möglich, in so häufiger Rotation die Sprünge scheinbar mühelos zu meistern. Dennoch zweifelte niemand an, dass er auch den Grand Prix für sich entscheiden würde, eine fehlerfreie, vollständige Präsentation seines Programms vorausgesetzt. Victor folgte mit einem Sieg beim Cup of Russia und einem zweiten Platz bei der Trophee de France, wo er Yuri erneut den Vortritt lassen musste. Einen Sieg konnte auch Yuuri verzeichnen, bei Skate Canada, dazu den dritten Platz beim Cup of China. Christophe, ebenfalls ein Veteran, hatte hinter Yuri und Victor den dritten Platz bei der Trophee de France erkämpft und einen zweiten Platz beim Cup of China. Der Cup of China ging an JJ, während er bei NHK in Japan schockierend nur Platz drei erreichte. Dort wiederum hatte sich Otabek den Sieg geholt, nachdem er hinter Yuuri bei Skate Canada einen zweiten Platz erreicht hatte. Die Ergebnisliste täuschte allerdings darüber hinweg, wie knapp die Einzelergebnisse der unterschiedlichen Wettbewerbe gewesen waren. Die nächste Generation, Leo, Guang-Hong, Emil und auch Seung Gil lagen nicht weit hinter den jeweiligen Finalisten, manchmal fehlte nur ein Quäntchen Glück und etwas mehr Erfahrung. Aber sie hatten auch ihren Spaß, wie man sehen konnte, nachdem Guang-Hong überraschend bei Skate America den zweiten Platz errungen hatte und der Drittplatzierte, Emil Nekola, ihn grinsend in die Luft warf und danach zur Erklärung verkündete, er sei einfach so vergnügt, weil Guang-Hong ihnen versprochen hätte, gemeinsam zum Abschluss eine gewaltige Pizza essen zu gehen! Das schloss auch Leo ein, der zwar gar nicht antrat, aber den Freund durch seine Anwesenheit unterstützen wollte. So strahlten drei spitzbübische Gesichter später in die Objektive des jeweiligen Smartphones, die Backen prall, sichtlich mit der Welt im Einklang! Sie würden schon noch aufholen und trotz der Strapazen, die ihnen das Training aufnötigte, nicht ALLES im Leben aufs Eis setzen. *~#~* Otabek wartete in einer kleinen Einkaufspassage in der Nähe des Hotels. Seine lediglich mittelgroße Statur (wenngleich auch wohlproportioniert mit breiten Schultern) fiel in der hüftlangen Regenjacke, die er über seinen Mannschaftsblouson gezogen hatte, nicht sonderlich auf. Unter Kapuze und hohem Kragen lugte ein Zipfelchen des Tuchs heraus, das Yuri ihm zu seinem 19. Geburtstag Ende Oktober geschenkt hatte. Eigentlich eher Yuris Stil, mit lachenden Totenköpfen auf schwarzem Grund, von silbrig schimmernden Fäden durchsetzt, doch die moderne Kunststofffaser erwies sich als äußerst robust und atmungsaktiv, sodass er das Präsent gern trug, wenn er auf seinem Motorrad unterwegs war. Seit seinem erneuten Erfolg beim NHK, dem Grand Prix-Wettbewerb in Japan, plagte ihn ein ähnliches Problem wie auch Yuri: Fans. Hauptsächlich weibliche. Obwohl er sich selbst als nicht besonders auf- oder gefällig einstufte, schien er eine merkwürdige Faszination auf junge Frauen und Mädchen auszuüben, die ihm eher suspekt und verstärkt hinderlich war. Er mochte es, sich unerkannt in den Orten zu bewegen, an die ihn sein Sport führte. Es war ein besonderes Privileg, reisen zu dürfen, ohne Überwachung oder Einschränkung in andere Lebenswelten Einblick zu erhalten. Das wurde jedoch erheblich behindert, wenn er angehalten, geknipst, um Fotos oder Autogramme gebeten wurde. Für Yuri nahm sich die Situation wohl noch viel schlimmer aus. Seine "Angels" galten in der Fanszene als recht militant und erschreckend erfinderisch, ihrem Idol stets und ständig an den Hacken zu kleben. Selbst Victor Nikiforov, der ja nun über Jahrzehnte Erfahrung mit Fan-Verehrung verfügte, wandte sich da mit Grausen und einer gewissen Beklemmung ab. Es musste auch noch Gelegenheiten geben, einfach nur Mensch zu sein! Das wollte auch Otabek gerade, vor allem Freund sein, sich endlich direkt mit Yuri austauschen, der schnurstracks durch einen Nebeneingang ins Hotel gelotst worden war und sich quasi nur unter "Begleitschutz" von Offiziellen zwischen Hotel und Trainingsräumen bewegen konnte. Würde es ihm dennoch gelingen, für ein Gespräch unter Freunden auszurücken? Der Kasache studierte gerade zur Ablenkung das aus Plastilin gefertigte Speisenangebot eines winzigen Restaurants im Schaufenster, als neben ihm ein Stoffbeutel auf die Bodenfliesen fiel. Artig ging er in die Hocke, das Sturzgut aufzulesen, nahm in der spiegelnden Fläche einen vertraut wirkenden, karmesinroten Swinger wahr, schwarze Leggings und ebensolche Schlüpfboots. Sein Kopf schnellte hoch, blickte hinter einem aufgeplusterten, schwarzen Strickschal in grüne Katzenaugen. Er lächelte und wisperte, "hallo, mein Freund." Yuri zwinkerte, justierte eine verspiegelte Brille vor seinen Augen, sodass man von seiner Mimik gar nichts mehr erkennen konnte. Der hellblonde Schopf war in einer ausladenden, schwarzen Mütze verstaut, die selbst die dünnen Augenbrauen überwucherte. Gemeinsam schlenderten sie scheinbar ziellos durch die Einkaufspassage, aber peinlich genau darauf achtend, ob sich etwa Verfolgende an ihre Fersen hefteten oder sich andere verdächtige Beobachtungen machen ließen. Einen vertraulichen Rippenstoß später, vom unwirtlichen Wetter mit Schneegraupel getarnt, marschierten sie durch schmale Gassen eines Wohnviertels. Es wäre natürlich schön gewesen, die Burg zu sehen oder den großen Park, ja, selbst den beleuchteten Turm, doch hier lieferten sie sich der Gefahr der Entdeckung aus. Dann doch lieber in der Umgebung bleiben und sich auf einem Kinderspielplatz niederlassen, der keinen kleinen Besuch aufwies! Aus den Augenwinkeln heraus hatte Otabek Yuri schon studiert. In Milas Mantel (daran konnte kein Zweifel bestehen) wirkte er sehr schmal, und der Abstand zu den knochigen Kniescheiben bewies, dass er tatsächlich einen Größenvorsprung absolviert hatte, denn üblicherweise sollte der Swinger diese züchtig bedecken. Aber dem Kasachen erschien es nicht so, als müsse er nun ganze zehn Zentimeter aufblicken, nein, er fühlte sich immer noch auf Augenhöhe. Ob Yuri das auch so empfand? "Wann musst du zurück sein?", lautete jedoch seine erste Frage. Was sie ganz und gar nicht brauchten, war eine hysterische Suchaktion, weil irgendwer im falschen Moment etwas wollte, sie nicht vorfand und nach ihnen fahnden ließ. Yuri seufzte und fingerte sein Mobiltelefon heraus, wie gewohnt mit dem Tiger-Aufdruck. "Halbe Stunde, etwa", grollte er, pflückte die verspiegelte Brille vom Nasenrücken, um sie auf der ausladenden Wollmütze zu justieren. Auch der voluminöse Schal mit seinen zahlreichen Umwicklungen wurde entschlossen unter das spitze Kinn geklemmt, damit man sein Gesicht erkennen konnte. "Hab gehört, dass du meinetwegen Ärger hattest!", die Fäuste in den Swingertaschen ballten sich. Otabek schob sich die Kapuze in den Nacken, ignorierte die lästige Witterung souverän. "Eher eine Verwarnung", relativierte er beruhigend. Tatsächlich hatte er sich im Beisein seines Trainers und einer Betreuerin eine harsche Anfuhr abholen müssen von Funktionären, schweigend, mit gesenktem Kopf, weil man doch herausgefunden hatte, dass "DJ Beka", der Yuris Kür komponiert hatte, niemand anders als IHR Eiskunstläufer Otabek Altin sei! Es spielte keine Rolle, dass es keine finanziellen Vereinbarungen gegeben hatte, nein, er war ohne Wissen und Zustimmung einfach eine Kollaboration mit einem Konkurrenten eingegangen! Aber ganz so einfach gestaltete es sich auch nicht, den "Held von Kasachstan" zu degradieren, denn im olympischen Jahr konnte man es sich nicht erlauben, ihn zu sehr einzuschränken oder aber offenkundig gegen den russischen Verband zu opponieren. Also musste "Hausarrest" im Studentenwohnheim reichen. Nicht mal die gelegentlichen Einsätze als DJ in den wenigen Clubs in Almaty konnten sie ganz unterbinden, ohne dass es unangenehme Nachfragen gab. Mit diesen Konsequenzen hatte Otabek selbstredend gerechnet, er wusste um seine Möglichkeiten und Grenzen. "Der Coach war auch sauer", Yuri lupfte die noch immer schmalen Schultern kurz an, schnaubte dann, "als hätten wir nicht andere Probleme." Otabek studierte seinen jüngeren Freund aufmerksam. Die spitzen Züge in dem blassen Gesicht wirkten angespannt. "Willst du es mir erzählen?", erkundigte er sich behutsam, immerhin handelte es sich um Interna des russischen Teams. Yuri schabte mit den Sohlen der Schlupfboots über den Boden, schnaufte kurz durch, als müsse er sich einer sehr lästigen, aber notwendigen Aufgabe stellen. Als er den Kopf wieder zu Otabek wandte, wirkte er jedoch keineswegs übellaunig-verdrießlich, sondern ernst. "Na ja, wenn du's hören willst", wieder ballten sich die Fäuste im Swinger. "Bitte", nickte der Kasache aufmerksam. "Tja, also", Yuri schlenderte zu einem Spielgerät mit bunten Farben, lehnte sich rücklings dagegen, "nach dem Aufruhr ums Pizza-Essen bei Skate America hat der Coach mich doch wieder zum Essengehen raus gelassen." Es hatte nämlich, nicht nur wegen der Gerüchte um Yuris mögliche Magersucht, einige Rückfragen gegeben, warum der Sieger sich offenbar zu fein war, mit den anderen jungen Männern (Guang-Hong, Emil und Leo) die Veranstaltung gemeinsam ausklingen zu lassen. Die "Yuri Angels" steuerten ein kurzes Video dazu bei, in welchem Coach Feltsman Yuri anknurrte, der habe Stubenarrest, weshalb ihr geliebter Yuri gar nicht mitgehen KONNTE! Was wiederum zur Frage führte, weshalb man ihn so ausgrenzte und ein falsches Bild in der "Öffentlichkeit" entstand, nicht zu vergessen zu seiner zerbrechlichen Gesundheit! Von diesen Vorkommnissen hatte Yuri Otabek knapp in Emails berichtet, damit der nicht etwa auch Sorgen um ihn hegte! "Also hat Victor mich mit Katsudon, Chris, dessen Freund und Phichit zum Abendessen geschleift, Frankreich-Nahost-Fusion- Cuisine, oder so ähnlich. Während Katsudon dann Phichit unterhalten hat, haben der alte Sack und Chris miteinander geschwatzt. Ging um Touristik, Hotels, Imagewerbung, solche Dinge. Chris' Familie führt in Zürich ein Hotel. Er hat auch etwas in der Richtung studiert." Otabek ahnte, in welche Richtung sich diese Enthüllung entwickelte, schwieg jedoch. "Sie haben Französisch palavert, dachten wohl, ich mampfe bloß muffelig vor mich hin", Yuri zog eine geringschätzige Grimasse, "aber ich hab schon mitgekriegt, um was es ging. Dann hat der feine Herr Nikiforov angefangen, von den Kindern in Katsudons Heimatkaff zu schwärmen, wie viel Spaß es macht, mal nicht in kleinen Trainingsräumen Stunden bei der selbstquälerischen Körperverletzung zu verbringen!" Die grünen Katzenaugen fixierten die schwarzen des Kasachen. "Ich vermute", Yuri atmete tief durch, wisperte die Worte dann nur, "dass Victor mit Katsudon nach dieser Saison aufhört und Chris wird es ihm gleichtun." Was, betrachtete man Victor Nikiforovs Alter (und Spitzensportjahre entsprachen nach offizieller Lesart Hundejahren!), nicht gänzlich unerwartet kommen konnte. Yuri bot Otabek sein feingeschnittenes Profil. "Klar, Victor ist ein nerviger, alter Sack, und zusammen mit Katsudon absolut unerträglich, aber", wieder zog er die schmalen Schultern zusammen, "bisher war sein Einfluss auch ziemlich hilfreich." Damit drehte er sich zu Otabek herum. "Er wird nicht nach St. Petersburg zurückkommen. Russland den Rücken kehren." Die dünnen Lippen kräuselten sich in einem bitteren Lächeln. "Was vielleicht auch besser ist. Wir haben schon Listen mit hohen Häusern bekommen." Die getuschten Augenbrauen des Kasachen zuckten kurz, dann verriet sein Mienenspiel gewohnt wenig über die Gedanken, die er hegte. Otabek verstand die verschlüsselte Botschaft durchaus. Listen von hohen Häusern entsprachen nicht etwa einer Tourismus-Besuchsempfehlung, sondern sollten den Empfangenden übermitteln, dass sie von einem entsprechenden Hausdach die Abkürzung zur Straße im freien Fall nehmen würden. "Vom legendären Star zum perversen Vaterlandsverräter ist es nicht weit", murmelte Yuri grimmig. "Weiß er von diesen Listen?" Yuri zuckte mit den Schultern, schenkte seinem älteren Freund einen verärgert-hilflosen Blick. "Hast du schon mal versucht, mit dem feinen Herrn Nikiforov ein ernsthaftes Gespräch zu führen?! Der plappert dich schwindlig, lenkt ab, weicht aus, kaspert herum. Vergiss es! Ich habe keine Ahnung, was in seinem Quasselschädel vorgeht, aber", die Katzenaugen funkelten zornig, "solche Aktionen KOTZEN mich an!" Wütend stieß er Atemwolken aus. "Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht sein Fan! Dass er sich ausgerechnet in so einen verklemmten Brillenfuzzie mit Persönlichkeitsspaltung verknallen muss, ist auch eine Zumutung, aber", Yuri fauchte die leere Luft an, bevor er Otabek einen herausfordernd-geschlagenen Blick schenkte, "aber er lacht zum ersten Mal richtig." Beinahe unbehaglich lupfte er erneut die schmalen Schultern. "Er tut zwar immer so jovial, schwatzt mit jedem, ist aufgekratzt wie ein Duracell-Häschen auf Starkstrom, doch so richtig nahe kommt ihm niemand. Glaub bloß nicht", blitzte er Otabek an, "dass Victor Nikiforov sich jemals getraut hätte, in Barcelona wie Katsudon loszutanzen! Oh nein, dazu ist er viel zu vorsichtig, zu sehr darauf bedacht, sich nicht angreifbar zu machen! Da kommt so ein bebrillter Dödel in Unterhosen, wirft sich ihm an den Hals...!!" Der Russe knurrte vernehmlich, es klang nach aufgebrachtem Streuner mit ausgefahrenen Krallen und Giftzähnen. Otabek schmunzelte minimal. "Victor Nikiforov ist also glücklich mit Yuuri Katsuki in Japan", stellte er mit sonorer Stimme fest. Yuri schob die dünne Unterlippe trotzig vor, doch seine Katzenaugen blieben nachdenklich. "Der alte Depp hat sogar Bilder rumgezeigt", grollte er, "nicht die von ihrem Internetauftritt. Einfach nur Schnappschüsse, in dem öden Kaff da, mit Katsudons beklopptem Anhang! Irgendwie haben sie ihn sogar adoptiert, aber das kam mir komisch vor, also habe ich es vielleicht nicht richtig verstanden", schloss er betont distanziert, hätte er seinem kasachischen Freund nicht das Profil geboten, wo ausnahmsweise der fehlende Haarvorhang keinen Sichtschutz bot. Otabek konnte sich vorstellen, dass sich die angespannte Atmosphäre im russischen Trainingslager noch verschlechtert hatte, auch den Druck, der nun auf Yuri lastete, möglichst vollständig das nicht mehr akzeptable Vorbild Victor Nikiforov überlagern zu müssen, obwohl sein jüngerer Freund diesbezüglich wohl eine vehemente Gegenrede gehalten hätte. "Wahrscheinlich werden sie es bei den Europäischen Meisterschaften verkünden", brummte Yuri gerade, schenkte ihm einen ärgerlichen Blick, "sozusagen eine Abschiedstournee daraus machen! Dabei war Victor GENAU der Typ, für den es doch nie was außer dem Eis gegeben hat!" Mit einem frechen Lächeln relativierte Otabek diese Behauptung. "Du meinst, außer Essen, seinem Pudel, dem perfekten Outfit, und nun auch noch..." Unwirsch dichtete ihm Yuri mit der rechten Handfläche den Mund ab. "Ja, schon kapiert! Dumpfbacke Katsudon ist LEIDER auch ein beschissen guter Tänzer, hat trotz seiner Besessenheit tatsächlich Freunde und kriegt mehr auf die Reihe, als man ihm ansieht! Verstanden, okay?!" Otabek zwinkerte amüsiert, pflückte dann den Knebel von seinem Mund. Yuris schmale Hände fühlten sich steif und kalt an, deshalb begann er ohne bewussten Entschluss, sie behutsam zu reiben und Wärme in das sehnige Fleisch zu massieren. "Es GIBT ein Leben nach dem Eis", stellte er sanft fest. "Pah!", Yuri fauchte, "für MICH nicht! Wenn man nicht ALLES gibt, dann ist es doch sinnlos!" "Ich denke", Otabek hauchte kurz auf die geballten Fäuste in seinen großen Händen, "dass das Leben unendlich viel zu bieten hat. Man muss nur im rechten Moment hinschauen." Wie es Victor getan hatte. Oder Yuuri Katsuki vor Jahren. Oder er selbst, in dem Sommercamp, als ihm so vernichtend nahegelegt wurde, wie aussichtslos seine Anstrengungen sein würden. "Ha! HA!", schnaubte Yuri und entzog ihm energisch seine Hände, "ich werde dich daran erinnern, wenn MILA bei DIR hinschaut!" Der Kasache lupfte eine getuschte Augenbraue fragend. Sein jüngerer Gegenüber triumphierte, wenn auch mit einem Hauch Verlegenheit über den Verrat vertraulicher Erkenntnisse. "Hast bei der Baba mächtig Eindruck geschunden! Also pass bloß auf, die vertrimmt ihre Kerle regelmäßig!" "Als wir uns zuletzt unterhielten, versicherte sie mir, es sei lediglich einmal in gerechtfertigtem Meinungsaustausch vorgekommen und sie werde keine Gewohnheit daraus machen", konterte Otabek unbeeindruckt. Zu seiner Überraschung konnte er in den grünen Katzenaugen Verunsicherung aufblitzen sehen. "Darauf würde ich nicht wetten!", schnarrte Yuri schließlich nach einem ungewohnten Moment des Zögerns, "außerdem hat sie einen miesen Geschmack, lacht sich immer wieder debile Puckschubser an!" "Gegen die ich selbstverständlich den Kürzeren ziehe", nickte der Kasache in ungezogener Liebenswürdigkeit. Yuri studierte ihn perplex. Zugegeben, Otabek hielt sich mit humorvollen Kommentaren stets zurück, sparte an Worten, wahrte Distanz, aber das Image des coolen, wortkargen Einzelgängers, der emotionsfrei nur seinem eigenen Pfad folgte, entsprach nicht seiner Persönlichkeit. Er war vorsichtig, aus Erfahrung, aus Überlegung, was nicht bedeutete, dass er gegenüber echten Freunden die Zugbrücke zu seinen Gedanken und Gefühlen ebenfalls hochgezogen hielt. "Also", Yuri rang sichtlich mit sich, bevor er ihm wieder unverwandt ins Gesicht sah, "wenn du sie magst, sie ist schon in Ordnung. Hin und wieder." Dieses Eingeständnis kostete ihn Mühe, denn es war ja so viel leichter, sich hinter Trotz, Ablehnung und abweisenden Sticheleien zu verstecken, um sich nicht angreifbar zu machen. "Es ist sehr nett von ihr, dir den Mantel auszuleihen", stellte Otabek richtig, "ich hege nicht die Absicht, ihrer Vorliebe für Eishockeyspieler einen Dämpfer zu versetzen." Sie musterten einander einen Augenblick aufmerksam, lauschten auf all die Zwischentöne ihrer Konversation. Ein maulender Ton machte sich bemerkbar. Es schien eine hochverdichtete Schimpftirade zu sein. "Mist!", murmelte Yuri, fingerte sein Mobiltelefon heraus, "ich muss zurück." Otabek ging neben ihm in die Hocke, denn etwas hatte sich auch aus der Tasche gelöst und war neben Yuris Schlupfboots auf die Platten gefallen. "Deine Karte", er federte hoch, die Akkreditierung, die alle Zugangsberechtigungen, Zimmerkarte und so weiter gespeichert enthielt, samt ihres Schlüsselbands an den Besitzer zurückzuerstatten. Und stutzte. Yuri grinste frech, "da staunst du, was?!" Schon baumelte ein kleiner Anhänger vor den schwarzen Augen. "Gab's am Flughafen zu kaufen! Gestatten, die Chibi-Version von Otabek Altin! Und natürlich sein Teddybär!" Der Kasache beäugte die kleine, flache Figur kritisch. Nun, sie wies schon gewisse Ähnlichkeiten auf und trug dazu noch seine Aufmachung für die Kür. Auf der Rückseite befand sich ein verstimmt blickender Bär mit bemerkenswert buschigen Augenbrauen, der sein Kostüm aus dem Kurzprogramm des Vorjahres präsentierte. "Die Baba hat sich auch einen gekauft!", feixte ihn Yuri spitzbübisch an. Otabek gab Karte samt Anhänger zurück. "Hat sie auch die Versionen von dir und Victor gekauft?" "Wa-wwas?!" Der Kasache schlug die Kapuze über den Kopf, um sein Schmunzeln zu verbergen. Tonlos fauchend verpuppte sich Yuri nun auch, seinem Beispiel folgend, Schal über die Nasenspitze, verspiegelte Brille auf dem Nasenrücken. Otabek stellte den Arm aus, damit sich Yuri einhaken konnte, wenn er wollte, immerhin deutete sein Swinger an, dass er möglicherweise eine Dame darstellte. Grummelnd leistete der schließlich der unausgesprochenen Aufforderung Folge. "Ob JJ sich auch mit solchen netten Figuren eingedeckt hat?" Hin und wieder konnte Otabek nicht davon lassen, seinen jüngeren Freund ein wenig zu necken. "Pah! Sähe dem eitlen Fatzke ähnlich, dabei waren die total daneben! Wieso sie mir immer die doofen Katzenohren verpassen...!!" Neben ihm lächelte Otabek in den hochgestellten Kragen, was Yuri offenbar nicht entging. "Ja, jetzt lachst du noch, Kamerad!", schimpfte er, "aber warte mal ab, wenn du die Comics siehst! Ha!" "Comics?" Zu Otabeks Verwunderung folgte nicht sofort eine Breitseite, die ihn argumentatorisch ins Jenseits befördern sollte. Vielmehr zog Yuri neben ihm den Kopf ein, murmelte Unverständliches in den voluminösen Schal. "Verzeihung, ich verstehe nicht?" Höflichkeit und Manieren konnten eine tödliche Waffe darstellen, wenn man sie mit einem inquisitorischen Blick begleitete. "Comics eben. Bildgeschichten", zischte es in Rückwärtsverteidigung jenseits der aufgeplusterten Maschenreihen, "Erfindungen halt." "Über uns?", der Kasache runzelte dezent die Stirn. Wer zeichnete denn Geschichten über Eiskunstläufer?! Ohne Musik, ohne die Bewegungen musste das doch fürchterlich fade sein! "Na ja, viel über Victor und Katsudon. Mit Schweinkram." "Schweinkram?", echote der ältere Eiskunstläufer flach. Neben ihm stieß Yuri ein ungeduldiges Fauchen aus. "Eben, was sie so tun! Zusammen! Du weißt schon, Bienchen, Blümchen...!!" Ah... Otabek meinte sich vage daran zu erinnern, dass in Japan sehr viel über Maskottchen und Zeichnungen im Alltag erklärt wurde, dass man sehr gern Bildergeschichten blätterte. Persönlich hatte er bisher jedoch keine Gelegenheit gefunden, sich auf diesem Gebiet zu informieren. Ihn zog es eher, nun ja, zur Musik hin. "Woher weißt du das?" Yuri an seinem Arm beschleunigte leicht, sie näherten sich wieder der Einkaufspassage. "Victor hat's mir erzählt! Fand manches 'echt süß', zum Valentinstag und so, der alte Spinner! Aber es kommt noch schlimmer!" Die Stimme des jüngeren Russen nahm einen hohlen Klang an, gepaart mit einem unverfälschten Schaudern. "Er hat sogar behauptet, also, dass es da Sachen mit uns gibt! Dir und mir! Total unverschämt, so was!" "Wirklich?" Otabek begriff im selben Augenblick, dass er nicht das geforderte Entsetzen in seine Frage gelegt hatte, denn abrupt blieb Yuri stehen, direkt vor ihm, rupfte sich sogar die Brille vom Nasenrücken. "Denk bloß nich, dass ich übertreibe!", zischte er Otabek an, "die haben uns sogar mit JJ gepaart! Damit meine ich pornomäßig!" Da ihm nun alles aus dem Gesicht fiel (auch wenn er sich hütete, diese Aussage zu IMAGINIEREN), zeigte sich Yuri gnädig, tippte ihm mit der freien Hand vor die Brust, "siehste, JETZT lachst du nicht mehr!" Schon schraubte er die Brille als Visier wieder an ihre Stelle, fasste Otabeks Rechte und schlängelte sich durch die Menschenmenge. Sie waren schließlich spät dran, und er wollte sich keinen weiteren Stubenarrest einhandeln! *~#~* Zur Vorbereitung wurden Trainingsräume zur Verfügung gestellt, denn für die anderen Wettbewerbe blieb die Eisfläche reserviert. JJ, der wie gewohnt in seinem eigenen Königreich lebte, die Ohren zugedübelt mit Kopfhörern und von der Familie förmlich umzingelt, absolvierte seine Übungen, ausreichend distanziert von den anderen fünf Finalisten. Chris schwatzte munter mit Victor, neben dem sich Yuuri dehnte, im üblichen Nerd-Look, zottelige Ponyfransen, Brille und schlichtem Trainingsanzug. Otabek, der sich ebenfalls ein Eckchen gesucht hatte, registrierte die nonverbale Kommunikation zwischen den beiden unterschiedlichen Männern, die an jedem Ringfinger ein Zeichen ihrer Verbundenheit präsentierten. Tatsächlich, keine aufgedrehte Leutseligkeit auf Seiten Victors, keine verdruckste Nervosität bei Yuuri. Hin und wieder ein Lächeln, beiläufige Assistenz, dazu kleine Gesten, vertrauter Körperkontakt. Aber auch der Schweizer schien verändert, nicht nur, weil er noch die Brille trug, die er sonst zwecks Imagepflege verbannte. Das demonstrativ aus jedem Knopfloch quellende Sexgott-Charisma fehlte. Seine Körpersprache war ungezwungen, die natürliche Erotik zwar vorhanden, doch nicht in den Vordergrund gerückt, demonstrativ betont. "Hab's dir gesagt!", raunte Yuri ihm zu, den drei älteren Eiskunstläufern den Rücken zuwendend, damit ihm nicht etwa von den Lippen noch seine Äußerung abgelesen werden konnte. Er dehnte und streckte sich wie ein Gummiband, tatsächlich erschreckend dünn mit seinen langen Gliedern und dem eher zarten Knochenbau. "Was ist?", suchte er in Otabeks Gesicht nach einer Antwort, warum sich für einen Augenblick dessen wie getuscht wirkende Augenbrauen zusammengezogen hatten. "Wenn wir Mila mitnehmen, darfst du dann auswärts mit mir essen?" Für einen Moment konnte er Verwunderung in den spitzen Gesichtszügen lesen, dann seufzte der junge Russe mit verdrehten Katzenaugen. "Hör mal, ich geh gern mit dir essen, sogar mit der Baba dabei", er verpasste Otabek einen Rippenstoß, "aber guck nicht so, als würde ich gleich umfallen, ja? Ich werde schon noch was zusetzen, keine Sorge!" Otabek sortierte zwar artig seine Gesichtszüge, aber überzeugt war er keineswegs. Im direkten Vergleich mit ihnen allen wirkte Yuri überschlank, beinahe ätherisch. Man konnte kaum glauben, dass diese Sehnen ausreichten, ihn so hoch in die Luft zu katapultieren, denn irgendwelche Muskelmasse ließ sich gar nicht erst entdecken. Allein sein unbezwingbarer Wille sprang dort in die Bresche, wo der Körper selbst nicht genügte, die geforderte Leistung zu erbringen. Der Kasache ahnte durchaus die strenge Verwarnung, die ihn erreichen würde, wenn er erneut "fraternisierte", aber er war entschlossen, Yuris Appetit zu wecken. Selbst wenn das bedeutete, sich konspirativ an Victor und Yuuri zu wenden, deren Heimvorteil man nutzen konnte. *~#~* Die tatsächliche Gruppe erwies sich dann als noch größer, denn Victor lud Chris ein, Mila bat Sara Crispino hinzu, während Yuuri wohl kaum seine Schwester Mari und die ehemalige Primaballerina Minako außen vor lassen konnte, die extra vorzeitig angereist waren, um ihn zu unterstützen. So kam es, dass Minako sofort Chris' Arm nahm, während sein großgewachsener Begleiter höflich Mari das Geleit anbot. Otabek fand sich in Milas Griff, sodass Sara neben Yuri einscherte. Victor stopfte ungeniert Yuuris Hand in seine Manteltasche, ging mit diesem vorneweg, denn sie hatten die Reservierung für die kleine Gruppe übernommen. Die Idylle währte allerdings nicht lange, dann hatten sich die lebhafte Sara und Yuri bereits in den Haaren, wenngleich vorerst noch metaphorisch. "Yuri!", schimpfte Mila hinter den beiden, was keinerlei Eindruck auf die Kontrahenten machte. "Worum geht es?", erkundigte sich Otabek, den es etwas überraschte, wie forsch Yuri mit der Italienerin umging, obwohl er doch sonst auf maulfaule Abwehr schaltete, wenn man sich ihm näherte. "Wahrscheinlich um die Anhänger!", mutmaßte Mila grimmig, ließ dann aus ihrer Handtasche eine Schlüsselfigur baumeln, "die gab's am Flughafen. Ich hab Sara einen von Seung Gil mitgebracht." Was nun das erboste Geschrei erklärte. "Ist er nicht! Das ist ekelhaft!" Weitere Schmähungen folgten auf Italienisch, die schwarzen Haare flogen förmlich mit den ruppigen Gesten. "Geschmackssache, im wahrsten Sinne des Wortes!", konterte Yuri ungeniert aus dem Schatten seiner Kapuze, "kannst du gern überprüfen!" "Yuri Plisetsky!", fauchte Mila, löste sich mit einem entschuldigenden Blick aus Otabeks artigem Geleit, eilte der aufgebrachten Freundin nach, "du bist so ein Idiot!" "Pah! Kann ich was dafür, wenn sie die Wahrheit nicht verträgt?!", schnaubte Yuri unbeeindruckt, ließ sich leicht zurückfallen, um neben Otabek in Schritt zu fallen. Dem entging keineswegs das sehr zufriedene Lächeln, das im Triumph über das blasse Gesicht huschte. "Geschmackssache?", gab der Kasache das Stichwort und mutmaßte völlig zu recht, dass sein jüngerer Freund sich gerade rühmte, gleich ZWEI Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben. Oder vielmehr die Konkurrenz in die Flucht. "Ach!", winkte er ab, stopfte die Fäuste in die Blousonjackentaschen, "von dem depperten Seung Gil gibt's auch einen Anhänger, und hinten drauf ist sein Spitz. Oder was auch immer für ein Viech das sein soll. ICH habe lediglich angemerkt, dass das Reiseproviant ist. Weiß doch jeder, dass in Korea Hundefleisch gegen die Hitze gegessen wird." Ganz zu schweigen davon, dass er die Begeisterung für den Südkoreaner ob seiner distanziert-kalkulierenden Art überhaupt nicht nachvollziehen konnte. "So, so", kommentierte Otabek ungewohnt ausschweifend, versteckte wie gewohnt ein Schmunzeln hinter seiner gefassten Mimik. Schon schmeichelhaft, wie der unwirsche, übellaunige, kratzbürstige Yuri Plisetsky um seine Gesellschaft kämpfte! *~#~* Ein wirklich denkwürdiger Abend in dem kleinen Nebenraum, wo man auf Tatamimatten eng beieinander saß, leichten Gerichten, vor allem aber wärmender Nudelsuppe zusprach und die eigene Lieblingsspeise vehement gegen die Favoriten der anderen verteidigte. Yuri verkündete die ultimative Wahrheit zu Piroshki: sein Großvater Nikolai machte die besten. Punkt. Victor sprang seinem Lebensgefährten bei, der für die Katsudon der Familie Katsuki warb. Seine Schwester hingegen ließ wissen, sie liebe Import-Bier, deutsches Helles, am Besten frisch gezapft! Die Runde staunte. Chris beendete die Verblüffung galant mit der Bekenntnis, er hege eine gewisse Schwäche für Schokolade, eine Disziplin, in der sich die Schweizer durchaus weltweit hervortaten. "Süßkram!", nicht Yuris Wahl, doch Chris' Freund erläuterte nachsichtig, es gebe auch andere Mischungen, mit Meersalz oder Kaffee, die ihm vielleicht eher zusagten, woraufhin Mila spitz bemerkte, an Yuri seien derlei Köstlichkeiten verschwendet, da er ein ganz schlechter Futterverwerter sei und alles nur durch ihn hindurch fiele. "Und du nimmst jedes Gramm mit, Baba!", fauchte er zurück, die Backen aufblasend. Otabek schnappte vorausschauend einen Hosenbund, während Sara Mila an der Schulter herunterdrückte. "Am Besten ist doch immer noch unser Kaffee! Schwarz, stark, kleine Tasse! Nicht dieses Zeug, was in den Ketten ausgeschenkt wird!" Minako mischte sich ein, sie bevorzuge eindeutig Pflaumenschnaps, japanischen Pflaumenschnaps, einzigartig in der Welt. Um weiteren Auseinandersetzungen vorzubeugen lachte Victor fröhlich in die Runde und erklärte, am Besten sei es doch, alles ausprobieren zu können, was man wolle! So sei für jeden etwas dabei! JETZT wolle er gern eine japanische Tradition pflegen, damit sie bestens gelaunt zu Bett gehen könnten: Karaoke! *~#~* Chris summte "Happy" vor sich hin, zwinkerte Yuri zu, der ärgerlich an seinem Zopfgummi zupfte. War das blöde Ding etwa ausgeleiert?! Sie sollten für ihr Kurzprogramm alle unter Strom stehen, keine Frage, denn es würde so eng zugehen wie selten, aber der Vorabend wirkte einfach noch nach. Victor richtete Yuuris Pseudo-Samurai-Aufmachung, lächelte ihn dabei stillvergnügt an. Yuuri wiederum strich sanft durch die silbrig getönten Strähnen, blinzelte etwas kurzsichtig. Sie hatten bei der Karaoke-Sause tatsächlich mit viel Elan "The time of my life" geschmettert, nur der Enge des Separees geschuldet auf Tanzeinlagen verzichtet. Wie auch immer man dazu stand: zwischen diesen beiden stimmte die Chemie einfach. JJ ignorierte das Fußvolk wie gewöhnlich, die Ohren durchgespült mit Rock, der durch seine auffälligen Kopfhörer pulsierte. Sein wölfisches Grinsen prahlte Selbstsicherheit in den Rund. Unterdessen zerrte Yuri erneut, und der Gummi gab schließlich ausgeleiert nach. Einen nicht druckreifen, aber sehr blumigen Fluch zischend ging Yuri bei seiner Tasche in die Hocke, fahndete nach Ersatz. "Darf ich?" Otabek trat hinter ihn, abwartend, ob es gestattet werden würde, die hellblonden Strähnen zusammenzufassen und zu bändigen. "Mmh!", grummelte der Russe leise, ließ aber zu, dass die großen Hände geschickt das seidige Fluchtgut stellten und mittels Ersatzgummi fixierten. "Danke", kommentierte er brummig, kam aus der Hocke wieder hoch, sein Kostüm zurecht zupfend. Er registrierte ein Schmunzeln, nur Sekundenbruchteile, dann verschwand es wieder hinter der gewohnt stoischen Miene des Kasachen. »Duuuuu!!!«, hätte Yuri am Liebsten gepoltert, denn so ganz hatte er noch nicht verwunden, dass Otabek ihn quasi gezwungen hatte, beim Karaoke mitzumachen! Yuri wusste, dass er keine Singstimme hatte, vollkommen ungeübt war (kollernde Wutanfälle mal ausgenommen), deshalb lehnte er konsequent jeden Versuch ab, sich coram publico mit Intonationsversuchen der Lächerlichkeit preiszugeben! Bloß dass Otabek, nun ja, Bobby McFerrins "Don't worry, be happy" ausgesucht hatte, mit melodiösem Tenor in tieferer Lage den Text gesprochen und ihn dazu genötigt hatte, im Refrain einzustimmen! Was auch noch Spaß gemacht hatte! Wie sollte er da den verdrießlichen Grimmbart geben?! Das Schlimme an Otabek Altin war, dass er so nett war. Rücksichtsvoll. Nachsichtig. Yuri seufzte frustriert. Einen Freund konnte man nicht anpfeifen, wenn der dafür sorgte, dass man einen Abend lang nicht als Rumpelstilzchen außen vor gelassen wurde! Unterdessen beugte sich der Kasache zu ihm und raunte sanft, "davai, Yuri." Yuri hob den rechten Arm angewinkelt vor die schmächtige Brust, schlug damit vor Otabeks gegengleichen, ließ die Zähne aufblitzen, "davai!" *~#~* Yuris Programm war technisch nicht zu schlagen, wenn er sich keinen Fehler leistete und weiterhin mit äußerster Körperbeherrschung auf dem Eis auftrat. Für die übrigen fünf Finalisten stellte sich also die Frage, wer hinter dem jungen Russen auf das Treppchen kam. Wie viel konnte man noch herauskitzeln? Am Sonntag jedenfalls stand ein atemberaubend enges Endergebnis fest. Den Zweitplatzierten trennten gerade mal 15 Punkte vom Letzten! So eine Leistungsdichte war außergewöhnlich, und eigentlich konnte man niemanden, ungeachtet der Reihenfolge der Platzierung, als Verlierer bezeichnen, nicht auf diesem Niveau. Yuri hatte sich keinen Patzer geleistet, sondern sogar im Kurzprogramm den Axel mit fünf Umdrehungen präsentiert. Dem schlauen Fuchs Victor war es gelungen, durch kleine Veränderungen noch auf den zweiten Platz zu kommen, sehr knapp vor Yuuri Katsuki, der wie im Vorjahr noch einmal über sich hinausgewachsen war. Chris schob sich vor JJ, den gerade mal einen Punkt von Otabek trennte. Man sollte sich eigentlich gedemütigt fühlen, nach dem 4. Platz im Vorjahr nun auf den letzten Platz abgerutscht, aber Otabek fand, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte. Ohne Ausrutscher, entsprechend den Vorgaben, so absolvierte er sein Programm. Vielleicht hatte seine künstlerische Note nicht ganz so bei dem ein oder anderen in der Jury eingeschlagen wie die Intentionen der anderen, aber das zählte eben zu dem Part der Benotung, der sich dem Zugriff entzog, der die Unberechenbarkeit ausmachte. Er suchte sich mit Chris ein Plätzchen bei den Zuschauenden. Es hieß, dass die Hälfte von Yuuris Heimatstadt mit Bussen angereist war, um ihn zu unterstützen. Die andere Hälfte klebte an der Mattscheibe. Ob sie wohl wussten, was Yuri vermutet hatte, dass es der letzte große Auftritt vor heimischem Publikum sein würde? Allerdings, wenn man die Banner, Fähnchen und Fächer betrachtete, die da geschwenkt wurden, fragte man sich, ob nicht auch Victor bereits "vereinnahmt" worden war. Zumindest sein Werben um wohlwollende Akzeptanz schien Früchte getragen zu haben. Eingedenk des strengen Reglements in diesem olympischen Jahr durften Victor und Yuuri nicht gemeinsam aufs Eis, um die "Präsentation" zu absolvieren. Was würden sie nun darbieten? Nun, ein Schelm wie Victor nutzte die Regeln zu seinen Gunsten: jeweils in ihrem formelleren Kostüm, also im Anzug, glitten sie auf die Eisfläche, hörten beide den Rumba-Rhythmus, wenn auch mit anderer Melodie, liefen so, als sei der Partner vorhanden, nicht zeitversetzt auftrumpfend! Obwohl der jeweils andere hinter der Bande verharren musste, konzentrierte sich die Körpersprache ganz auf den Gefährten, spiegelversetzt umworben, beschmeichelt, mit Sprüngen becirct. Eindeutiger hätte keine Antwort auf die Frage lauten können, wie genau diese beiden zueinander standen. Das Publikum tobte, zeigte sich vernarrt in sie, die so viel Spaß miteinander hatten und andere an ihrem Glück teilhaben ließen. Für Yuri zweifelsohne schwierig, direkt danach auftreten zu müssen. Die hellblonden Haare offen auf den Schultern, eine schlichte Hemdbluse und eine schwarze Kunstlederhose tragend, wirkte Yuri keineswegs wie ein Punk. Was würde jetzt wohl kommen?! Brav die Regeln beachtend war seine Aufmachung zurückhaltend, kein Vergleich zum "Madness"-Auftritt des Vorjahres. Doch dann ertönte die Musik, und Jim Morrison mit seinen Doors machte sich auf, zur anderen Seite durchzubrechen! *~#~* Im Vorfeld hatte man immer mal wieder zynisch bemerkt, dass ein Streichholz keine Erotik aufkommen lasse, was ungeniert auf Yuris dünne, schmale Gestalt anspielte, die sich deutlich von der Konkurrenz unterschied. Die verschleppte Melodik von "Break on through to the other side", das sich rauschhaft steigernde Programm mit Sprüngen und engen Kreiseln, die laszive Überantwortung in einen psychedelischen Trancezustand, die offenen Haare, die Gestik, all das trug perfekt dazu bei, die reduzierten Erwartungen zu unterlaufen. Um sie rechts mit Höchstgeschwindigkeit zu überholen. Verdammt viel Sexappeal für einen klapperdürren Noch-16-jährigen! "...wow...", fasste Chris treffend diese Überraschung für Konkurrenz und Publikum zusammen. Yuri Plisetsky war die unangefochtene Nummer 1 auf dem Eis in dieser Saison und teuflisch perfid darin, die Regeln zu seinen Gunsten auszulegen. *~#~* Zum zweiten Mal hintereinander hatte Yuri Plisetsky in einem engen Wettstreit den Grand Prix gewonnen und mit seiner Präsentation zum Abschluss für Gesprächsstoff gesorgt. Was sich auch beim Bankett am Sonntagabend zeigte, im Hotel veranstaltet, mit Büfett und Stehtischen, locker choreographiert. Man fragte sich nämlich schon, wie es dem "russian punk" gelungen war, den Coach zu überzeugen, ihn mit solch einem Stück auftreten zu lassen. Keine Frage, seine Bewegungen liefen synchron mit der Musik, die Elemente zeigten sich hochklassig, der Anspruch nahm sich gewaltig aus, aber sollte man wirklich ignorieren, was zur Fama des Stücks gehört? Für Yuri die Einladung, knurrig zu kontern, er stehe ja wohl weder für Alkohol noch Drogen zur Verfügung, wie aus seinem veröffentlichten Bulletin jeder nachlesen könne. Was andere Freizeitaktivitäten beträfe, hier funkelten die grünen Katzenaugen herausfordernd, sei sein Stundenplan bereits von Training, Schule und Wettbewerben vollkommen in Beschlag genommen. Das schloss keineswegs aus, dass man eben auf dem Eis wie ein Derwisch im Rausch der Musik tanzte, lief, kreiselte und sprang! "Pah!", fauchte er Otabek zu, "nur, weil ich nach der Jahrtausendwende geboren bin, heißt das doch nicht, dass ich total doof bin! Die finden es normal, dass wir zu Stücken von Typen laufen, die seit zwei- oder dreihundert Jahren die Segel gestrichen haben, machen aber einen Aufstand bei so einem Titel!" Otabek verkniff sich ein Schmunzeln. Beinahe konnte man dem jüngeren Russen abnehmen, er habe so gar keine Absichten gehabt, alle ein wenig zu triezen. Beinahe. "Coach Feltsman kannte deine Musikauswahl schon?", hakte er deshalb nach. Yuri, wie immer mit Haarvorhang in der Öffentlichkeit und der geliebten Tigerfellzeichnungweste samt Kapuze unter seinem Anzug, zwinkerte kaum merklich. "Möglicherweise hatte er etwas wenig Zeit, sich damit zu beschäftigen", gestand der Russe ein. Im Fahrwasser des Ärgers über die nicht abgesprochene "Kollaboration" mit Otabek Altin zur Kür konnte man ein Stück (ohne Songtext) schon unterschmuggeln, wenn es vergleichbar "harmlos" klingende Autoren und Billboard-Einträge hatte. Es würde vermutlich kein zweites Mal funktionieren. Allerdings durfte man auch Yakov Feltsman nicht unterschätzen, der durchaus kontroverse Öffentlichkeitswirkung nicht ablehnte, wenn es einen Vorteil versprach. "Hat's dir gefallen?" Kurz kämmte Yuri einen Ponyvorhang hinter das Ohr, um den Freund zu betrachten. Der lächelte dezent, aber hintergründig. "Sex, Drugs and Rock'n'Roll überlässt du also JJ?", retournierte er mit sonorer Stimme. Neben ihm schnaubte der Jugendliche vernehmlich. "Ich hab ja wohl nicht so einen beschränkten Horizont wie die arrogante Matschbirne da! Wird sich ärgern, dass er sich nicht die Grand Prix-Daten auf den Arsch tätowieren lassen kann, der Blödmann!" "Nun, für die olympischen Ringe...", bemerkte Otabek leise, offenbarte seinen trockenen Humor "Ha!", die grünen Katzenaugen glitzerten grimmig, "da muss er erst an mir vorbei!" Keine Frage, dass hier noch immer Animositäten auf kleiner Flamme köchelten, die jederzeit zu einem Inferno werden konnten. "Aber", Yuri nippte an seinem verdünnten Apfelsaft, duckte sich rasch hinter die breiten Schultern von Otabek, um nicht von munter schwatzenden Eisläuferinnen angesprochen zu werden. Nur wegen der blöden Katzenohren auf diesem lächerlichen Schlüsselanhänger glaubten die Weiber alle, er sei handzahm und wolle sich mit ihnen abgeben!! Der Kasache warf artig einen großen Schatten, schirmte den jüngeren Freund ab. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sie sich hier nahe einer Fensterfront bei langen Vorhängen etwas Privatsphäre gesichert hatten, ohne dass man sie dauernd ansprach. "Aber?", signalisierte er leise mit seiner Nachfrage, dass die unmittelbare Gefahr nicht mehr drohte. "Na ja", Yuri kämmte wieder Strähnen aus seinem spitzen Gesicht, "er ist so groß wie ich, aber der reinste Hulk." Zur Unterstreichung stellte er die schmächtigen Schultern auf und markierte wenig überzeugend den Muskelprotz. "Selbst bei seiner Sprungkraft wird er keine fünf Umdrehungen schaffen. Zu groß, zu schwer." Otabeks getuscht wirkende Augenbrauen zogen sich konzentriert zusammen. "Meinst du?", blickte kurz an sich selbst herab. Zehn Zentimeter kleiner, aber von athletischer Gestalt... "Denke schon", keine kratzbürstige Retourkutsche, weil man die Äußerung anzweifelte, sondern die seltene Gelegenheit zum vertraulichen Austausch, die sie heimlich pflegten. Obwohl sie unerbittliche Rivalen zu sein hatten. "Sieh mal", Yuri warf misstrauische Blicke um sich, ob auch niemand in Lauschweite verharrte, "Victor und Chris sind im Moment die Größten, perfekt austrainiert. Aber trotzdem ist es ihnen in der letzten Dekade nicht gelungen, die Sprünge weiterzuentwickeln. Der Rotationsmoment ist sehr kurz, man muss Höhe und Energie haben, gleichzeitig aber enorme Geschwindigkeit. Mit einer kleineren, schmaleren Silhouette ist das möglich. Guang-Hong und Leo könnten es packen. Für Emil und Seung Gil sehe ich da allerdings schwarz, keine Chance." Nachdenklich nippte Otabek nun an seinem Eiskaffee. "Da ist was dran", nickte er schließlich, "welche Alternativen bleiben uns Hulks denn da?" "DU bist kein Hulk!", knurrte Yuri prompt, "und mit deiner Körpergröße im grünen Bereich!" "Aber ich kann nicht so flink fünfmal um die eigene Achse rotieren", erinnerte Otabek sanft. Ein verärgerter Blick des Russen streifte ihn, weil er dessen Versuche, ihn von der gnadenlosen Analyse auszunehmen, durchkreuzt hatte. "Das ist ja nicht die einzige Möglichkeit, hohe Punktwertungen zu erreichen!", stellte Yuri bissig fest, presste dann aber die dünnen Lippen zusammen. Wollte ihm wohl nicht ins Gesicht sagen, dass er tatsächlich ohne das jahrelange Balletttraining einfach nicht in der Lage war, dem jüngeren Russen in neue Leistungshöhen zu folgen, mutmaßte Otabek. "Außerdem", zum ersten Mal erlebte er Yuri sich unbehaglich fühlend, in zappeliger Körpersprache, den Blickkontakt verweigernd, "außerdem", erneut atmete der Russe tief durch, beugte sich dann nahe zu ihm, wisperte kaum hörbar, "kann es schnell mit dem Fünffachen vorbei sein", federte eilig zurück, lautstark verwässerten Apfelsaft schlürfend. Otabek kommentierte diese Offenbarung nicht, touchierte aber sanft mit dem Ellenbogen Yuris, der ihm so viel Vertrauen in seine Verschwiegenheit und sein Urteilsvermögen entgegenbrachte. Ja, möglicherweise würde auch Yuri nicht allzu lange diese Leistung bringen können. So schmal und zart, wie er sich im Moment zeigte, konnte sich eine Veränderung seines Gewichts, seiner Statur erheblich auswirken. Von Verletzungen mal ganz abgesehen. Außerdem waren die Belastungen für die Gelenke enorm, trotz des geringen Körpergewichts. "Nun", Otabek stieß mit seinem Glas behutsam gegen Yuris, "dann werden wir andere Wege finden." Ein entschlossener Toast, ein gutes Motto für die drei vollgepackten Monate des kommenden Frühjahrs. *~#~* Erneut stand ein Jahreswechsel an. Wieder gab es fröhliche Bilder der Spitzensportler, von Weihnachts-/Geburtstagsfeiern im Kreise der Lieben, von Schrein- und Tempelbesuchen oder dem Time Square beim Runterzählen. Was nicht bedeutete, dass die Ergebnisse des Grand Prix-Finales nicht erheblichen Einfluss auf Training und Programm hatten! Konnte irgendjemand einen Sprung in fünffacher Rotation meistern außer Yuri Plisetsky? Wie konnte dessen Vorsprung eingeholt werden durch kombinierte Sprünge oder das Aufwerten von anderen Elementen? Man grübelte, rechnete, testete, feilte, verwarf... Traditionell in der dritten Januarwoche starteten die Europäischen Meisterschaften, dieses Mal ausgetragen in Moskau. Es stand zu erwarten, dass es eine Wiederholung der nationalen Meisterschaften geben würde, denn immerhin waren mit Yuri und Victor zwei herausragende Leistungsträger vertreten. Gewiss, Christophe Giacometti aus der Schweiz konnte noch mithalten, aber danach wurde die Luft recht dünn, selbst für Emil Nekola, der eine durchaus gesteigerte Bandbreite zum Vorjahr aufbot. Auch der Nachwuchs war nicht zu verachten, doch bei den gewohnt 36 Teilnehmenden für das Kurzprogramm schien keine Überraschung in petto zu sein. Kein Juniorenweltmeister, der wie Yuri im Vorjahr ungeniert an die Spitze drängte, kein Spätzünder wie Yuuri Katsuki, der im Herbst seiner Eiskunstläuferkarriere noch mal einen gewaltigen Schub für sich reklamieren konnte. Otabek, der in Almaty trainierte, wusste, dass für Yuri selbst allein die Möglichkeit zählte, den geliebten Großvater wiederzusehen. Seine digitalen Nachrichten tanzten förmlich vor Vorfreude. Dass er selbstredend vor den Augen des Großvaters eine unvergleichliche Darbietung abliefern würde, stand gar nicht erst zur Debatte. Ob Victor, den Yuuri Katsuki begleitete, gleich schon die Katze aus dem Sack ließ, was sein Karriereende betraf, juckte ihn kein bisschen! Der Kasache schmunzelte und hoffte, Yuri werde ihm bei ihrem Wiedersehen in Südkorea anlässlich der Olympischen Spiele mehr zu berichten haben. *~#~* In der folgenden Woche standen die Vier-Kontinente-Meisterschaften in Taipeh an, wohin Silbermedaillengewinner Victor Nikiforov nun wieder als Trainer seinen geliebten und häufig geherzten Yuuri Katsuki begleitete. Dort traf sich auch, wie im Vorjahr bereits gemunkelt, die Gruppe der hochklassigen Eiskunstläufer viel geballter als beim Wettbewerb der Europäer in der Vorwoche. Kein Wunder, zu Yuuri gesellten sich auch die üblichen Verdächtigen für die Medaillen: JJ, Phichit, Guang-Hong, Leo, Otabek und Seung Gil. Während Victor und Christophe nur kleine Veränderungen in ihrer Kür vorgenommen hatten, um näher an Yuri heranzurücken, der mit seinen beiden fünffachen Axeln nicht zu überholen war, spekulierte man nun gespannt, wie sich die anderen Teilnehmenden verhalten würden, denn ab der zweiten Februarwoche ging es schließlich um olympische Ehren für alle Wintersportler! Auch Otabek hatte sein gesamtes Programm einer strengen Überprüfung unterzogen. Wo konnte man noch etwas herausquetschen? Nun, JJ hatte ihn gerade mal mit einem Punkt mehr übertroffen, das konnte man auch unter "Geschmackssache" abhaken. Gäbe es denn die Möglichkeit, sich stärker abzusetzen? Keinen Zweifel hegte er daran, dass Yuuris Programm noch mal frisiert worden war. Wenn Victor selbst feilte, dann würde er niemals seinen Lebenspartner außen vor lassen. Schließlich entschied der Kasache, sein Kurzprogramm nicht mehr zu verändern, um nicht etwa durch Fehler Punkte einzubüßen. Bei der Kür bot sich noch die Gelegenheit, durch kaskadierende, verbundene Sprünge etwas herauszuholen, wenn er sie wirklich fehlerfrei absolvierte, sonst zählte jeder Sprung nämlich nur für sich selbst. Als hätte es sich schon lange eingebürgert, trafen sich die Spitzensportler (minus JJ und den weiterhin ungeselligen Seung Gil) am Vorabend in einem Restaurant, tauschten Geschichten und Bilder aus, lachten und entspannten sich gemeinsam. Yuuri hatte zusätzlich noch Kenjiro Minami im Schlepptau, der sofort mit Guang-Hong und Leo den Kopf zusammensteckte. Otabek registrierte bei Victor ein versonnenes Lächeln. Nein, in den Jahren vorher hätte man sich bestimmt nicht so eng zusammengeschlossen, so fröhlich und unbeschwert am Vorabend eines Wettbewerbs getafelt! Bedauerte er wohl, dass es das letzte Mal sein würde? Immerhin hatte Yuri ihm gesteckt, dass sie sich in Moskau nicht "von der Truppe" entfernt hatten, eingedenk auch der Anfeindungen bezüglich Victors Entscheidungen für seinen weiteren Lebensweg. Da zwinkerte der Russe schon und setzte die gewohnte Strahlemiene auf, ließ sich die neuesten Spielereien auf den Smartphones vorführen. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt für Wehmut eingetroffen! *~#~* Erst nach der letzten Kür standen die Ergebnisse der Vier-Kontinente-Meisterschaften Ende Januar 2018 in Taipeh fest, denn so eng lag ein Klassement selten beieinander. Yuuri Katsuki war es um Haaresbreite gelungen, sich noch mal Gold zu sichern. Geradezu unglaublich nahm sich Guang-Hongs zweiter Platz aus, der zwar kleine Fehler einbaute, aber tatsächlich einen fünffachen Axel in der Kür zeigte! Otabek schob sich, erneut Geschmackssache, vor den erbosten JJ, der sich darüber ärgerte, dass seine Verbesserungen auf die Verbesserungen der Konkurrenz trafen! Unfair! Phichit und Leo folgten, durchaus zufrieden mit ihrem Ergebnis. Seung Gil enttäuschte erneut, war allerdings auch, wie später mitgeteilt wurde, durch eine Entzündung am linken Knöchel eingeschränkt. Viel Zeit zur Regeneration blieb allerdings nicht, denn Pyeongchang rief, das olympische Feuer wurde entzündet! *~#~* Im olympischen Dorf nahm es sich viel leichter aus, ohne gemeingefährliche Fans unterwegs zu sein, denn aufgrund der Sicherheitslage wurde durchaus streng kontrolliert, wer Zutritt erhielt. Der Terminkalender für die Eiskunstsparten war gefüllt, Einzel, Paar, Tanz, Mannschaft, zum Abschluss noch eine Showveranstaltung, und man reiste selbstredend mit der gesamten Truppe an. Die Einzel der Männer erfolgten am Donnerstag und Freitag, man hatte also durchaus Zeit zu trainieren, anzufeuern oder an Hausarbeiten zu sitzen. Otabek traf Yuri regelmäßig entweder vor den "Kommunikationsplätzen", wo der jüngere Russe grimmig seine Schulverpflichtungen virtuell ablieferte oder in einem etwas versteckteren Winkel der Unterkünfte, ganz altmodisch Papier mit Bleistift verwüstend. Da er ähnlich verpflichtet war, leisteten sie einander Gesellschaft, ohne das fleißige Schweigen als belastend zu empfinden. In dem ganzen Trubel, von Übungseinheiten und der Order zum Anfeuern unterbrochen, tat es gut, mal nicht herumgehetzt und beschallt zu werden! Nun, letzteres trat nicht immer ein, da Yuri den etwas älteren Kasachen bedrängte, ihn doch an seinen Fähigkeiten als Tonkünstler teilhaben zu lassen. Otabek war nie so unhöflich, in Gesellschaft den Kopfhörer aufzutopfen, aber er pflegte durchaus häufig (so lange es jedenfalls die Akkuleistung zuließ) Musik abzuspielen. Nun, Geräuschsequenzen zumindest. "Warum studierst du nicht was in dieser Richtung?", hakte Yuri folgerichtig ungeniert nach. Ihn faszinierte die Fähigkeit des Kasachen, Stimmungen zu erzeugen, Geräusche so zu verwandeln, dass sie wie ein Soundtrack den Film des eigenen Lebens unterlegten. Otabek erwog seine Antwort einen Moment konzentriert. "Diese Möglichkeit hat sich nicht angeboten. Auch die entsprechende Zeit, und", er rollte leicht die Mundwinkel ein, "leider beherrsche ich auch kein einziges Instrument. Ohne Software könnte ich nichts bewerkstelligen. Selbst beim Notenlesen habe ich Defizite." "Pah!", wischte Yuri diese nicht unwesentlichen Argumente beiseite, "du machst ja wohl richtige Musik, oder?! Ich wette, du könntest auch in Nullkommanichts ein Instrument erlernen! Zum Komponieren braucht man das auch nicht!" Der Kasache schmunzelte innerlich über diese Lorbeeren. "Ich fürchte", korrigierte er Yuris Auffassung sonor, "die Hürden sind diesbezüglich doch recht hoch. Außerdem weiß man nicht, wozu ein BWL-Studium noch in Zukunft nützlich sein könnte." Zugegeben, dass Niveau entsprach nicht dem internationalen Standard, auch widmete er sich dieser Aufgabe eher aus Pflichtgefühl heraus, nicht aus Begeisterung. Doch betriebswirtschaftliche Kenntnisse konnten immerhin der Familie später einmal dienlich sein. Zudem, da biss die Maus keinen Faden ab, war Dankbarkeit für diese Chance angezeigt. Niemand in seiner großen Familie hatte bisher das Privileg innegehabt, studieren zu können. "Trotzdem!", schnaubte Yuri schmollend, denn ER hätte es wohl nicht vollbracht, die Kür mit dem Geräuschteppich perfekt austariert zu unterlegen. Otabek lächelte dezent, beugte sich zu Yuris blondem Haupt und wisperte vertraulich. "Ich höre sogar Musik, wenn keine da ist. Alles ist Musik." Den Kopf umwendend funkelten ihn grüne Katzenaugen kriegerisch an. "Deshalb sag ich ja, es ist Verschwendung! So bekommt keiner mit, was für ein cooler Typ du bist!" Der Kasache zwinkerte nach einem Augenblick der Verblüffung über diese leidenschaftliche Anklage. "Ah nein?" Nun, zumindest eine Person schien ja von ihm durchaus angetan zu sein, oder nicht? Yuri knuffte ihn recht rustikal in die Seite, fauchend, aber die Verstimmung hielt nicht lange vor. Kurze Zeit später schon verlangte er energisch Otabeks Gesellschaft in einem kleinen Trainingsraum, damit nicht zu viel "überflüssiger Schulquatsch" seinen gesunden Menschenverstand zersetzte! *~#~* Es stand eigentlich außer Zweifel, dass das olympische Gold im Herren-Einzel der Senioren auch an Yuri Plisetsky ging. Grand Prix-Sieger, Europäischer Meister. Schließlich hatte er trotz seiner noch 16 Jahre bereits bewiesen, dass er über ein sehr robustes Nervenkostüm verfügte, sogar die Frechheit besaß, den erst in dieser Saison von ihm etablierten fünffachen Axel in Kombination vorzuführen! Somit drehte sich die Frage lediglich darum, wer hinter ihm auf das Treppchen steigen durfte. Victor Nikiforov und Christophe Giacometti verfügten bereits über olympische Erfahrungen, sodass sie weniger als die anderen Finalisten aus der Ruhe zu bringen waren. Andererseits konnten diese ohne Vorbelastung auflaufen. Entscheidend war, was man sich noch ausgedacht hatte, die Konkurrenz nach den beiden Wettbewerben und der Grand Prix-Serie zu distanzieren und ob man es auch fehlerfrei aufs Eis brachte. Victor präsentierte sich in makelloser Perfektion, unternahm jedoch auch keinen Versuch, einen seiner Sprünge oder gar eine Kombination mit fünffacher Umdrehung versehen zu wollen. Yuuri versuchte in der Kür eine weitere Rotation, musste sich jedoch mit der Hand abfangen, was ihm Abzüge einbrachte und die grummelige Erkenntnis, dass es trotz nunmehr gleicher Körpergröße wohl einer etwas anderen Statur bedurfte, diese Herausforderung zu meistern. Chris ließ sich nicht beirren, ebenso wenig Phichit oder Leo. Guang-Hong konnte sein Husarenstück nicht wiederholen, schlug sich jedoch wacker. Seung Gil, noch gehandicapt, hatte ohnehin keine Chance auf einen vorderen Rang. Jean-Jacques Leroy, King JJ, der diese Saison mindestens als gebraucht einschätzen musste nach der bisherigen Ausbeute und keineswegs "herrschte", wie er es sich wünschte, wusste seinen ärgsten Konkurrenten weniger in dem ätherisch-schmalen Yuri, sondern in dem zwar kleineren, aber ebenso trainierten Otabek Altin. Gut, der Tscheche, der Nekola, der machte schon was her, hatte aber nicht den Geltungsanspruch, den er sich selbst verordnete. Blieb der Kasache, ungesellig, schweigend, selten lächelnd, unprätentiös, aber mit einem unheimlich guten Gespür für die musikalische Gestaltung seiner Programme (wenn man ihn ließ), machte ihm sogar mit seinem Turk-Asia-Wasauchimmer-Folkore-Rock die Eis(tanz)fläche streitig! Selbstverständlich war er bei den Sprüngen überlegen, klare Sache! Oder auch nicht. Unseligerweise hatte dieser Altin ja bewiesen, dass er über Sprungkraft, Ausdauer und Selbstbeherrschung verfügte! Null Charisma, keine Frage, keine "Sex, Drugs, Rock'n'Roll"-Ausstrahlung, nicht mal ne Freundin! Trotzdem. Der Kerl war an ihm vorbeigezogen bei den Vier-Kontinente-Meisterschaften, einfach unerhört! Weshalb es zwingend erforderlich war, so viel reinzuwürgen in die Kür, wie man nur konnte, um das Wertungskonto üppig auszupolstern! *~#~* Otabek belastete sich nicht mit JJs Darbietung, sondern dehnte und streckte sich ein letztes Mal, überprüfte den Sitz seines Kostüms, atmete kontrolliert durch. Nach dem Kurzprogramm lagen die ärgsten Konkurrenten der bisherigen Saison, Chris, Yuuri und JJ bereits hinter ihm, wenn auch um wenige Punkte. Das war durchaus schon als ein Erfolg zu verzeichnen. Zügig glitt er nach JJs Kür aufs Eis, diesem nur kurz der Höflichkeit geschuldet zunickend. Er gab nichts auf das triumphierende Mienenspiel des Kanadiers, da dieser grundsätzlich in die Gegend zu feixen schien. Wenn die Musik aus der Anlage einsetzte, dann hörte er sie nicht mehr. Nein, in seinem Inneren lauschte er einer ganz eigenen "Abspielstation", bewegte sich danach, sprang, wirbelte, kreiselte. Die zahlreichen Trainingssequenzen sorgten für eine große Sicherheit bei den einzelnen Elementen. Nun ging es um die Übergänge, die kontrollierte Atmung, die Konzentration bis zum letzten Augenblick. Erst wenn er dann stand, in der finalen Pose, seinen eigenen rauen Atemzügen lauschte, hörte er die Welt um sich herum tatsächlich wieder, kehrte aus seiner Variante einer meditativen Versenkung zurück. *~#~* Victors Kür zeichnete sich durch seine verzaubernde Eleganz aus, fast wie ein magischer Bann. Er konnte Yuri nicht schlagen, aber den Abstand so gering wie möglich halten, das schien ihm durchaus ein großes Anliegen zu sein. Zudem, man munkelte es hier und da, war es eine der letzten Gelegenheiten, die Legende als aktiven Sportler zu sehen, denn mutmaßlich, die Gerüchte brodelten, würde dies seine letzte Saison sein! Neckend warf der ältere Russe seinem Landsmann eine Kusshand zu, als sie sich auf der Eisfläche ablösten. Yuri neigte bloß knapp den Kopf, bereits hochkonzentriert. Früher hätte man erwartet, ihn die Zunge blecken zu sehen, aber mit solchen Albernheiten wie Victors frechen Provokationen schien er sich nicht aufhalten zu wollen. Während noch die Wertungen für Victor zusammengezählt wurden, der wie gewohnt Yuuri eng umschlungen hielt, beobachtete Otabek seinen Freund auf dem Eis. Seine Züge wirkten etwas spitzer als zuvor, vielleicht hatte man aber auch dezent mit Makeup Schatten geworfen, um ihn exotischer erscheinen zu lassen, wie einen elfenhaften Wassergeist, in dem changierenden Kostüm, das keinen Zweifel daran ließ, wie schmal der Jugendliche war. Lange, dünne Glieder, das hellblonde Haar am Oberkopf zusammengebunden, das Gesicht eine Maske. Ohne es sich bewusst zu sein spannte Otabek die Muskeln an, atmete schneller, die Fäuste geballt. Yuri lief in einer anderen Sphäre, so geschmeidig, ohne Ansätze bei jedem Sprung, eins mit dem Soundtrack, den er für ihn gebastelt hatte, pfeilschnell, atemberaubend, faszinierend. Man konnte tatsächlich vergessen, dass es sich um einen Hochleistungssport handelte. Man bestaunte dieses fremdartige Lebewesen, wähnte sich in seiner unbekannten Wasserwelt, folgte ihm durch Tangwälder, über Seegras, hörte bei seinen Kapriolen über die Wasserfläche das Kreischen von Möwen. Niemand, das war eindeutig, konnte Yuri Plisetsky in dieser Form den Sieg streitig machen. *~#~* Kapitel 6 - Was nützt alles Gold? Die Siegerehrung erfolgte zügig, es waren auch Übertragungsrechte der olympischen Sendestation zu beachten. Medaillen, Blumenstrauß, winken, lächeln, Hände schütteln. Victor drückte Yuri kurz an sich, der entsprechend eine Grimasse über diese Überschwänglichkeit zog. Doch das war immer noch besser, als den depperten JJ auszuhalten, der auf seiner Bronzemedaille herumkaute und posierte! Otabek, der sehr knapp hinter JJ auf dem undankbaren vierten Platz gelandet war, schlängelte sich durch die Grüppchen hindurch, seinem Freund ebenfalls zu gratulieren. Der schien, nach zahlreichen fremden Händen, die artig geschüttelt werden mussten, endlich die Muße zu haben, sein unverzichtbares Smartphone zu zücken. Der Cheftrainer, Yakov Feltsman, fasste ebenfalls nach dem Gerät, beugte sich zu dem ihn nun überragenden Jugendlichen in vertrauliche Nähe, murmelte etwas. Das vorfreudige Strahlen blätterte vor Otabeks Augen in Zeitraffer von Yuris blassem Gesicht. Die Goldmedaille, die er am Schlaufenband in der freien Hand getragen hatte, schlug auf dem Boden auf. Feltsman fasste, erstaunlich behutsam, nach einer knochigen Schulter über dem obligatorischen Mannschaftsdress, doch mit einer Ausweichbewegung, als habe ihn ein Blitzschlag getroffen, zuckte der Jugendliche zurück, wandte sich dann ab und bahnte sich im Laufschritt einen Weg durch das Gewühl. Der Kasache, der sich beeilt hatte, zur Gruppe zu stoßen, fischte die Goldmedaille vom Boden auf, las in den ernsten, bekümmerten Gesichtern, was er befürchtet hatte. "Herr Feltsman, ich passe auf ihn auf!", raunte er eilig auf Russisch, "bitte sagen Sie, dass es ein Versehen war!" Damit signalisierte er zu den Offiziellen, denen keineswegs entgangen war, dass die Medaille recht würdelos dem Erdmittelpunkt nähergekommen war. Das konnte zu ernstlichen Verstimmungen führen, doch damit wollte sich Otabek jetzt nicht aufhalten. Er folgte Yuris Spur hastig, ließ sich nicht abschütteln, auch wenn er den jungen Russen kaum in der Menge ausmachen konnte, hin und wieder lediglich den hellblonden Zopf wippen sah. Wohin würde Yuri sich wohl wenden? Zum Wasser, entschied der Kasache, raus aus dem olympischen Dorf, weg von den Menschen. Schließlich fand er seinen Freund tatsächlich, an einem Schutzgatter stehend, blicklos, starr, während ein breiter Kanal zu ihren Füßen gluckerte und gluckste. Durch den Schnee war die Luft frisch, jedoch auch schneidend kalt. Otabek wartete einige Augenblicke, bis er sicher war, dass Yuri ihn zumindest registriert hatte und keine Anstalten unternahm, auch seine Gesellschaft zu verschmähen. "Mein Beileid zu deinem großen Verlust", er verneigte sich förmlich, lauerte auf eine Reaktion. Es kam keine. "Ich kann mir vorstellen, dass es für deine Familie jetzt das Wichtigste ist, einen so hochgeschätzten Mann würdig zu verabschieden", formulierte er bedächtig, jedes Wort akzentuierend. Ja, eine gewisse Gemeinheit konnte man nicht negieren, diesen Stachel in das ohnehin waidwunde Fleisch zu treiben. Er glaubte, in Yuris Profil ein winziges Zucken zu entdecken. "Es ist sehr schade, dass ich nun keine Gelegenheit mehr haben werde, ihm persönlich zu begegnen und seine unnachahmlichen Piroshki zu kosten, wie du mir angeboten hast." Otabek hörte seinen Herzschlag in seinen Ohren trommeln. Es war grausam, und er konnte nur hoffen, dass dieses bittere Mittel durch den Zweck geheiligt wurde. Langsam wandte sich Yuri ihm zu, starrte ihn an. Die grünen Katzenaugen blinzelten, beschlugen dann. Hastig riss der Russe beide Hände wie Siegel vor den Mund, um einen animalischen Aufschrei zu dämpfen. Ohne Zögern schnellte Otabek vor, riss Yuri in seine Arme, umklammerte ihn so fest, dass es sie beide schmerzte. Er hörte das Knirschen des gepolsterten Stoffs, als Yuri in den Kragen seines Trainingsanzugs biss, das gequälte Schluchzen zu ersticken. Was ihm nicht gelingen konnte. Sein Kummer war so elementar, so herzzerreißend, so verzweifelt, dass Otabek selbst Tränen aus den Augenwinkeln blinzelte. "Es tut mir leid", raunte er mit eingeschnürter Kehle immer wieder auf Kasachisch, "es tut mir so leid." *~#~* Sie waren beide durchgefroren, als Yuri nicht mehr schluchzen konnte, das letzte, elende Röcheln und Stöhnen abebbte. Vorsichtig schob Otabek den Freund etwas von sich, griff dann nach frischem Schnee auf einem Stützpfeiler, verteilte die auftauende Flüssigkeit über Yuris fleckiges Gesicht, um zumindest ein wenig die Optik zu verbessern, dann löste er den strengen Zopf, fächerte die hellblonden Haare in die gewohnte Abschirmfrisur, damit niemand hinter dem Ponyvisier die entzündeten Katzenaugen sah. Yuri selbst haschte etwas Schnee, schob ihn sich in den Mund und spuckte dann aus, vermutlich, Otabek wollte jedoch darauf keine großen Gedanken verschwenden, Flusen und Stofffäden aus seinem lädierten Kragen, in den sich der Russe förmlich verbissen hatte. Er okkupierte Yuris eiskalte Hand und dirigierte sie rasch zurück zum olympischen Dorf. Glücklicherweise hatten sie beide ihre jeweilige Akkreditierung an der Trainingsjacke verankert, sodass keine ausufernden Diskussionen notwendig wurden, ihnen Zutritt zu verschaffen. Ohne Widerstand bugsierte er Yuri nicht nur in seine Unterkunft, sondern auch direkt unter die Dusche. Dass der junge Russe noch nicht zähneklappernd schlotterte, war offenbar den Nachwirkungen des Schocks zu verdanken. Er deponierte einige seiner Kleidungsstücke vor der schmalen Duschkabine, bevor er seine Trainingsjacke auszog, den angerichteten Schaden kurz begutachtete, dann ein verwaschenes Flanellhemd überstreifte und das Zimmer verließ. Auf diesen sollte nicht gespeist werden, Tee und Kaffee waren jedoch erlaubt, deshalb gab es in jedem Geschoss einen kleinen, offenen Raum mit Getränkeautomaten sowie Wasserkocher und gesponserte Kaffeeautomaten. Otabek brühte in einer gekennzeichneten Thermoskanne Tee auf, sammelte Tütenzucker ein. Mochte Yuri auch kein Süßzahn sein, hier zählte die schnelle Energie! Als er zurück in sein Zimmer kam, hatte sich Yuri bereits in seine Kleider gewunden, die Hosenbeine erwartungsgemäß mit Hochwasser, was die Strümpfe in voller Länge entblößte. An den Schultern des Sweatshirts konnte man ebenfalls ihre unterschiedliche Statur ermessen, da ohne den unnützen Stauraum auch die Handgelenke deutlich herausgeragt hätten. Ohne Federlesens schob Otabek Yuri zu seinem Bett, schlug es auf und nötigte ihn, sich dort niederzulassen, die Decke um die Schultern gelegt. Da man die Sportler häufig außerhalb wähnte, waren die Zimmer nicht bemerkenswert beheizt. Er schenkte Tee aus, rührte ungefragt Zucker hinein und drückte Yuri die Tasse zwischen die verkrampften Hände. Aus der Nasszelle entführte er anschließend den kleinen Föhn, stöpselte die Nachttischlampe aus und kämmte sanft durch die weichen, hellblonden Strähnen, um sie zu trocknen. Yuri nippte unterdessen stumm an seinem Tee, vorsichtig, denn dieser war noch sehr heiß. Als der Kasache seine Nebentätigkeit als Figaro abgeschlossen hatte und sich neben ihm auf der Matratze niederließ, blickte er zum ersten Mal in dessen Gesicht. Otabek erwiderte den unglücklichen Blick ohne Verlegenheit, erstattete dann den entführten Haargummi von seinem Handgelenk dem Besitzer, der einige Strähnen im Nacken auffädelte, bevor er die Teetasse wieder vom Boden aufklaubte. "Ich sollte mich nicht melden, weißt du?", wisperte Yuri schließlich mit belegter Stimme, auf seine Hände und die Tasse starrend, "musste ihm versprechen, dass ich mich ganz auf den Wettbewerb konzentriere. 'So eine Chance', hat er gesagt, 'die kommt vielleicht nicht wieder'. Sieger bei Olympia, das beeindruckt die Leute." Der Russe würgte an einem Schluchzen, das er diszipliniert herunterschluckte, "Yakov sagt, er sagt, dass schon vor zwei Tagen...", Yuri atmete hastig durch, legte den Kopf in den Nacken, um Haltung zu erzwingen, "er musste schwören, mir nichts zu erzählen, falls..." Otabek legte behutsam einen Arm um die schmalen, knochigen Schultern. "...ich wusste nicht, dass es so...so schlecht stand..." Zweifelsohne hatte der alte Mann auch zu verhindern gewusst, dass man seinen Enkel damit belastete. Otabek war mit diesem Ehrenkodex durchaus vertraut. Für einen Soldaten war Schwäche nie angezeigt, galt es immer und stets, die Form zu wahren, die Pflicht zu erfüllen, die Sache über sich selbst zu stellen. Es bedurfte innerer Größe, sich aus diesem gefährlichen Geflecht zu lösen, denn "die Sache" verklebte sich mit "der Wahrheit", eine Konstellation, die die Vielschichtigkeit des Daseins negierte. "Es tut mir leid", raunte er tröstend, "ich hätte mich gern mit deinem Großvater bekannt gemacht. Wenn ich dir helfen kann, sag es mir bitte." Yuri drehte den Teebecher in seinen Händen, den Kopf gesenkt, nahm dann einen hastigen Schluck. "...würdig verabschieden", wiederholte er Otabeks Worte am Kanal, "ich weiß nicht, ob Vorkehrungen getroffen wurden." Diese Feststellung bedurfte keines Kommentars, denn langsam hangelte er sich an dieser Notleine zurück in eine Realität, die so unerwartet heftig zugeschlagen hatte. "Ich muss zurück. Bevor...", Yuri richtete sich auf, die dünnen Lippen zusammengepresst, aber konzentriert durch den hellblonden Pony blickend, "ich muss mit Yakov sprechen, damit er mich fliegen lässt." Otabek fing die Decke ein, die der junge Russe abstreifte, sich erhob. "Ich muss mich kümmern, damit es ein ehrenvoller Abschied wird", verkündete er entschlossen. "Dann begleite ich dich noch bis zu deinem Zimmer", auch der Kasache kam auf die Beine, nahm den Teebecher entgegen. Etwas zu tun, das würde helfen. Zumindest für eine Weile. Wie angekündigt verabschiedete er Yuri vor dessen Quartier, studierte einen Augenblick die schmale Gestalt in seinen zu kurzen Kleidern, die angespannten Züge in dem bleichen Gesicht. Unerwartet schlang Yuri ihm die Arme um den Hals und wisperte erstickt, "ich wollte dich so unbedingt vorstellen..." Otabek erwiderte den Druck entschlossen, gab den Freund dann frei, damit dieser mit abgewandtem Gesicht in sein Zimmer eintreten konnte. Er erhaschte noch den Anblick des Handrückens, der hastig über die Augenpartie wischte. "Bis bald", verabschiedete er sich leise, dann machte er kehrt, darauf hoffend, dass Yuri nicht den Mut verlor. *~#~* "Guten Morgen." Otabek wandte sich höflich herum, automatisch von der Saftbar zurücktretend, denn es galt immer, den Damen den Vortritt zu lassen, zumindest als Kavalier und Gentleman. "Guten Morgen", antwortete er artig, studierte die von dezenter Traurigkeit geprägte Miene der russischen Eiskunstläuferin, "darf ich dir etwas abfüllen?" Mila lächelte, legte den Kopf schief. "Verflixt, du machst es mir wirklich schwer, meinen niederen Instinkten zu widerstehen!", wisperte sie keck, "aber ich werde tapfer sein und mich mit einem Apfel-Karottensaft begnügen." Der Kasache nickte erneut knapp, stellte das eigene Glas zur Seite, um rasch das Gewünschte zu präparieren. "Bist du so nett, mir Gesellschaft zu leisten?" Es gab keinen Grund, diese Einladung auszuschlagen, denn es war noch sehr früh und die Gerüchteküche würde den jeweiligen Ruf nicht ungebührlich beeinträchtigen. "Danke, gern", antwortete Otabek also, nahm beide Gläser und schloss sich Mila an. Sie wählte eine etwas abgesonderte Ecke im Frühstückssaal, schmunzelte versonnen, als Otabek ihr sogar aufmerksam den Stuhl zurechtrückte. "Was möchtest du vom Büfett haben?", erkundigte sich der Kasache zuvorkommend. Einen Augenblick länger als notwendig betrachtete Mila den gleichaltrigen Sportler, seufzte unterdrückt und gab eine Bestellung auf. Wirklich, wenn sie nicht wüsste, dass er Yuratschkas bester Freund war...!! Aber so war das nun mal. Ganz gleich, wie anstrengend, bissig, frech und kratzbürstig der Bengel sich aufführte, sie hatte ihn ins Herz geschlossen. Da musste man eben auch verzichten. Vielleicht, möglicherweise, gab es doch so etwas wie eine göttliche Gerechtigkeit, die diese gute Tat belohnte und ihr einen Mann über den Weg laufen ließ, der ebenfalls solche Tugenden verinnerlicht hatte wie der Kasache! Als Otabek mit einem Tablett für ihr gemeinsames Frühstück zurückkehrte, hatte sie die Anflüge von Melancholie entschieden abgestreift und flirtete ihn entschlossen an. "Vielen Dank, mein Lieber! Wenn ich nicht das Übergepäck schon mit Medaillen ausgereizt hätte, würde ich dich glatt entführen!" Sich niederlassend lächelte Otabek gewohnt zurückhaltend, nur ein dezentes Kräuseln der Mundwinkel. Allerdings funkelten die tiefschwarzen Augen amüsiert. Mila nahm einige Bissen, bevor sie das Gespräch belebte. "Yuratschka ist gut angekommen", ließ sie Otabek wissen, "nachher kann ich dir deine Kleider zurückgeben. Im Foyer allerdings", sie verdrehte ausdrucksvoll die Augen, "no hankypanky, ladies!" Damit spielte sie auf die "Hausregel" an, die es untersagte, dass sich jeweils das eine Geschlecht beim anderen in der Unterkunft "herumtrieb". "Vielen Dank für deine Mühe", Otabek neigte erneut höflich das Haupt. "Nein, ich danke DIR", Mila reichte über den Tisch, fasste Otabeks Rechte und drückte sie fest, "danke, dass du dich um Yuratschka gekümmert hast", sie zog eine unglückliche Grimasse, "ohne deinen Einfluss, das Gespräch mit dem Bengel, wäre es wohl schwierig gewesen." Sie atmete tief durch, um den Kloß in der Kehle zu vertreiben. "Er war so ruhig und gefasst, als du ihn abgeliefert hast..." Otabek hielt einen Dank für unangebracht, ebenso die hohe Einschätzung seines Beitrags, denn er HATTE schließlich gezielt Provokationen geäußert und Yuri nicht gerade geschont. "Ich habe nichts Besonderes geleistet", korrigierte er deshalb sonor, "ich habe als sein Freund gesprochen." "Eben!", Mila erhob sich leicht, überwand die Distanz und küsste den überrumpelten Kasachen sanft auf die Wange, "Yuratschka hat so sehr einen Freund gebraucht, und du warst da." Nun erkannte Otabek an dem ernsthaften Blick, dass es lächerlich anmutete, sich weiterhin steif zu sträuben, Dank anzunehmen, auch wenn er sich selbst nicht als sonderlich verdienstvoll einstufte. Die junge Russin gab seine Hand wieder frei, lächelte ihn an, mit der seltsamen Traurigkeit in den Augen. "Sei bitte auch weiterhin sein Freund, Otabek. Damit er nicht den Glauben verliert." *~#~* Yuri kehrte, obwohl er als Goldmedaillengewinner zweifelsohne zu den herausragenden Persönlichkeiten gehörte, die man zur Abschlussfeier gern in den Fokus der Kameras genommen hätte, nicht mehr zurück. Selbstredend hatte sich herumgesprochen, dass er ein enges Familienmitglied verloren hatte, was die ungewöhnliche Reaktion nach der feierlichen Auszeichnung erklärte und Sanktionen ausschloss. Otabek nutzte die Gelegenheit bis zum Abflug, Erkundigungen einzuziehen, wie es seinem jüngeren Freund wohl ergehen mochte. Von Mila erfuhr er lediglich noch, dass Yuri erklärt habe, er wolle sich selbstverständlich um alles kümmern, ein Mann, ein Wort! Es gab dann schließlich in einer eher lokalen Zeitung einen Artikel zu lesen, vom Trauerzug, mit einem Männerchor, mehreren gelesenen Messen, einem üppigen Leichenschmaus. Und von dem Sarg, in dessen Holz man alle von Yuri jemals gewonnenen Medaillen eingearbeitet hatte. Dazu den Schnappschuss der Trauergemeinde, Yuri, schmal, ganz in Schwarz gekleidet, die Haare streng zurückgebunden, eine kostspielige, aber würdige Verabschiedung in dem kleinen Ort in Moskaus ärmlicher Peripherie, geprägt von postsowjetischer Tristesse. War Yuri nun auf sich allein gestellt? Wie verkraftete er diesen Verlust, nachdem er dieses letzte Ehrengeleit absolviert hatte? Otabek sorgte sich, doch auf seine Versuche, Yuri digital zu erreichen, erhielt er keine Antwort. *~#~* Kurz nach dem Erlöschen der olympischen Flamme am Monatsersten vollendete Yuri erneut ein Lebensjahr, wurde 17. Vermutlich würde der junge Russe keineswegs in Feierstimmung sein, sich vielleicht ins Training flüchten, denn zum Ende des Monats folgte der letzte Saisonhöhepunkt, die Weltmeisterschaften in Mailand, dennoch weigerte sich Otabek, einfach aufzustecken, sich zurückzuziehen. Wie im Vorjahr schickte er ein sehr kleines Päckchen nach St. Petersburg mit den besten Glückwünschen und der Hoffnung, den Freund in Kürze wiederzusehen. Eine Replik erhielt er nicht. *~#~* Dieses Mal musste man nicht auf die Spatzen verweisen, die es von den Dächern pfiffen: Victor, Yuuri und Christophe verkündeten bei der ersten Pressekonferenz vor dem freien Training in aufgeräumter, geradezu entspannter Stimmung, dass dies der letzte Wettkampf, die letzte Saison für sie sei. Man wolle sich auf ein neues, anderes Leben konzentrieren, das Eis nicht ganz verlassen, aber nun auf einer anderen Basis darüber gleiten. Während Yuuri in gesellschaftlicher Erwartungshaltung betont bescheiden verkündete, er habe noch viel zu lernen und wolle sich dieser Aufgabe widmen, bekannte Victor frisch von der Leber weg, er beabsichtige, in Zukunft als Choreograph und Berater zu fungieren. Außerdem sei er gern als Werbeträger unterwegs, falls sich also Interessenten finden sollten...? So hatte er gleich die Sympathien wieder auf seine Seite gezogen, sorgte für gute Laune und weniger Abschiedsschmerz und Melancholie. Keine Frage, dass er sich ein Leben neben und nach dem Eis vorstellen konnte! Das selbstredend in Japan, Hasetsu, mit seinem geliebten Yuuri und all den wundervollen Menschen dort! Christophe grinste bei dieser euphorischen Deklaration neuer Heimatliebe und murmelte, man müsse die Leute bedauern, die nun ständig unter Victors Charmeattacken zu leiden hätten! Er selbst wollte ganz unspektakulär in den Familienbetrieb einsteigen, das elterliche Hotel in Zürich. Über Besuch und Gäste freue man sich sehr! Schon zwinkerte er mit Schwerenöter-Augenaufschlag in die Kameralinsen. Wenn die "ältere Garde" abtrat, dann sollte das die jüngere Generation selbstredend anfeuern! Allerdings, und das wussten alle auch, man konnte keine Wunder erwarten. Die vergangenen Wettbewerbe hatten schließlich gezeigt, dass die Steigerungsfähigkeit der Leistungen in den Programmen endlich war. Stellte sich nur die Frage, ob Yuri Plisetsky, der dominierende Eiskunstläufer der Saison, trotz des privaten Schicksalsschlags unbeirrt die Spitze verteidigen konnte. *~#~* Aus dem russischen Lager in St. Petersburg war nichts zu erfahren gewesen und auch bei der Anreise nach Mailand schirmte das Team sich ab. Nicht mal die notorischen "Angel" der Yuri-Fanfraktion konnten verifizierte Neuigkeiten aufbieten. Otabek verfügte jedoch über einen unschlagbaren Vorteil, nämlich eine Verbündete, die ihn auf dem Laufenden hielt, soweit sich die Möglichkeit bot. Yuris Schweigen hatte ihn beunruhigt, auch wenn er sich selbst zur Geduld anhielt und vor Augen führte, dass der junge Russe trauerte, vielleicht Abstand brauchte, selbst von Menschen, die es gut mit ihm meinten. Oder vielleicht gerade deshalb. Mila ließ ihn jedoch wissen, dass Yuri sich über sein Geschenk durchaus gefreut hatte. Die halbfingrigen Handschuhe mit den applizierten Schneeleoparden, Wappentier von Almaty, in einer cartoonartigen Version, konnte man über die normalen Handschuhe streifen. Sie waren Unikate, mit Signatur der jungen Künstlerin, die ihm einen erheblichen Rabatt eingeräumt hatte, weil es Prestige brachte, vom mehrfachen Goldmedaillengewinner getragen zu werden. Was die Funkstille betraf, so handelte es sich erneut um disziplinarische Maßnahmen. Sie hoffe darauf, dass es ihm gelänge, Yuri positiv zu beeinflussen! Das klang nicht gerade erfreulich, konstatierte Otabek für sich selbst. Glücklicherweise wurde er mit Yuri in eine Trainingsgruppe eingeteilt, die das Eis zum Einlaufen nutzen konnte. Im Hotel war es unmöglich gewesen, den Freund zu treffen. Stubenarrest? Unmöglich schien das nicht, denn nicht mal zur Pressekonferenz trat Yuri selbst an, nein, Coach Feltsman knurrte gewohnt übellaunig seine Antworten in die Mikrofone. Deshalb sah sich Otabek auch beunruhigt um, als die anderen vier Eiskunstläufer bereits erste Sprünge erprobten. Nicht mal beim Aufwärmen hatte er Yuri gesehen! Dann, verspätet, schob sich doch eine Gestalt im russischen Trainingsdress aufs Eis, glitt träge dahin, blieb einfach stehen... Otabek rauschte heran. Der hellblonde Schopf konnte nur Yuri gehören! Warum der ihm aber nicht entgegenkam, obwohl er doch wissen musste, dass sie beide hier trainierten...?! Er bremste abrupt vor dem jungen Russen, der nicht mal den Blick vom Eis hob, bemerkte die aufgeschrammten Fingerknöchel, eine verkrustete Stelle im blonden Schopf, wo offenbar Strähnen herausgerissen waren. Ohne darüber nachzudenken hob Otabek die Rechte, kämmte Haare aus dem bleichen Gesicht. Die grünen Katzenaugen blickten ins Leere, unter dem rechten ein farbenprächtiger Bluterguss, lange Kratzer entlang der eingefallenen Wange bis zur Kieferlinie. Hinter sich hörte er Ermahnungen, sie sollten schließlich trainieren, nicht im Weg stehen! Aber Yuri erweckte nicht den Eindruck, als kümmere ihn irgendwas, als wisse er, warum er hier sei. Kurzentschlossen löste Otabek den winzigen Musikabspieler von seiner Jacke, wählte Menüpunkte aus, befestigte diesen dann an Yuris Trikot und stöpselte ihm ungefragt die Kopfhörer ins Ohr. "Folge mir, Yuri!", raunte er eindringlich auf Russisch in das fahle Gesicht, dann wandte er sich ab, um eine Routine zu absolvieren, die aus verschiedenen Elementen und Kombinationen bestand. Er hatte sie selbst konzipiert, damit er bei der gewohnten Konkurrenz mit fünf weiteren Mitstreitern auf der Eisfläche ein Maximum an Übung mit einem Minimum an Ausweichmanövern und Störungen verbinden konnte. Die Musik selbst musste er nicht hören, sie erklang in seinem Inneren, führte ihn zuverlässig. Als ein blecherner Gong das Ende ihrer Übungseinheit verkündete, streckte er die Hand hinter sich aus, hoffend. Einige bange Herzschläge später schob sich eine kalte Hand in seine. *~#~* Coach Feltsman drehte sich betont weg, sie zu übersehen, als sie die Kufenschützer justierten. Also unterlag Yuri mutmaßlich noch Disziplinierungsmaßnahmen, weshalb es notwendig wurde, ihn zu entführen, schloss der Kasache pfeilschnell. Gegenwehr stand nicht zu erwarten, Yuri agierte folgsam und leblos wie ein Aufziehpüppchen ohne eigenen Antrieb. Man musste jedoch nicht nur der strengen Aufsicht entwischen, sondern auch wohlmeinender Konkurrenz, neugierigen Medien und nicht zuletzt dem umtriebigen Fanclub! Vom Hotel zum "Stadio del Ghiaccio Agora" gab es einen eigenen Transfer, in so einer großen Metropole zwingend erforderlich. Otabek hatte sich wie üblich orientiert. Straßen mit Blumennamen, die Heimat der Eishockeyspieler, Bus- und Tramverbindungen: verloren gehen konnte man nicht. Aus den Katakomben heraus musste man lediglich in die nahen Grünanlagen verschwinden, dabei gut getarnt, um eventuell Interessierte von der eigenen Spur abzulenken. In der Umkleide entrollte er also seine patentierte, dünne Kapuzenjacke, streifte sie Yuri über das verräterische Trainingsdress. Die eigene Jacke drehte er auf links, sodass das unspezifische Futter nicht die Landesfarben enthüllte. Das praktische Allzwecktuch, das Yuri ihm geschenkt hatte, als Kopfbedeckung umfunktioniert, den filzigen Wollschal um Yuris Hals gewunden, sodass man zwischen Kapuze und Maschengewöll nicht mal mehr die Ahnung der hellblonden Haare entdecken konnte,das musste reichen, ihre Flucht zu tarnen! Die Taschen raffend schloss er sich nicht etwa den übrigen Athleten als Nachzügler zum Bustransfer an, sondern bog, Yuri im Windschatten wissend, auf halber Strecke ab, wo Lieferanten allerlei hin und her bewegten und zwar zwischen den Kleintransporten am nicht vom Publikum frequentierten Andienungsparkplatz. Das Glück war ihnen hold, denn die Witterung lud nicht gerade zum Verweilen ein, auch wenn sich die Regenwolken erleichtert verflüchtigt hatten. Aufs Geratewohl wählte Otabek Straßen aus, bis sie in sicherer Entfernung an einen kleinen Platz kamen, der von mehrgeschossigen Häusern eingerahmt wurde. Der in die Jahre gekommene Brunnen sprudelte nicht, nass genug war es schließlich noch, sodass man auf dem niedrigen Brunnenrand Platz nehmen konnte. Yuri stopfte die Fäuste in die Jackentaschen, kauerte leicht eingerollt, den Blick auf seine Schuhspitzen gesenkt, modische Sneaker, aber zweifelsohne Fälschungen und für Regentage gar nicht geeignet. "Du weißt schon, dass ich unter Arrest stehe?", krächzte er schließlich mit flacher Stimme. "Das Zimmer wird sich selbst hüten müssen", konterte der Kasache sonor. Ihn sorgte die Teilnahmslosigkeit seines Freundes. "Wird dem Coach schwer fallen, noch eine Sanktion zu verhängen", bemerkte der Russe matt. Keine Spur seiner gewohnten, zornigen Lebhaftigkeit. Otabek wartete ab, auch wenn es ihn Nerven kostete, nicht sofort nachzufragen, alles aufzudecken, was Yuri offenbar völlig aus der Spur geworfen hatte. "...die Baba...", nahm Yuri nach langen Augenblicken den vereinsamten Gesprächsfaden auf, "hat dir geschrieben, oder? Auch wegen der Handschuhe?" Er seufzte leise. "Kein Computer, kein Handy. Deine Sachen darf ich auch nicht anziehen. Konnte mich nicht melden, deshalb...", stückelte er Satzfragmente zusammen, als koste es ihn Mühe, sich überhaupt auf Erklärungen zu besinnen. Wieder verstrichen gefühlte Ewigkeiten, bis Yuri Otabek erlöste, das Schweigen brach. "War ein Glück, dass ich alles mit Passworten geschützt habe", vertraute er seinen Zehen an, krumm wie ein Fragezeichen hockend, "diese Yuko hat mir nämlich immer was geschickt. Erinnerst du dich, die Mutter von den durchgeknallten Drillingen?!" Otabek bemühte sich um ruhige Atmung. »Kommen lassen!«, ermahnte er sich selbst. "Diese Pressekonferenz heute Morgen", es schien, als spräche Yuri lediglich mit sich selbst, "war nur die halbe Wahrheit. Katsudon und Victor haben nämlich schon eine ehemalige Pension bezogen, die sie aufhübschen wollen,damit Talente zu ihnen kommen, bei ihnen trainieren. Mit Unterstützung dieser Ex-Primaballerina-Schnapsdrossel. Wenn Yakov das spitzkriegt..." Der Kasache begriff durchaus. Die Konstellation bot große Chancen. Die lebende Eiskunstlauflegende Victor Nikiforov, die weltberühmte frühere Primaballerina und ebenfalls ein japanischer Titelträger, dazu eine gewisse Abgeschiedenheit, die vorhandene Infrastruktur, eine familiäre Atmosphäre: das WAR Konkurrenz. Yuuri Katsuki verfügte über Ehrgeiz und Entschlossenheit. Was Victor möglicherweise an Trainereigenschaften abging, konnte er ergänzen. Wieder verstummte Yuri, als hätte er den Faden verloren. Und auch sich selbst. Einer Eingebung folgend erhob Otabek sich, überwand die kurze Distanz und umarmte den jüngeren Russen. Beinahe erwartete er ein reflexartiges Zurückweichen, eine Zurechtweisung, eine spöttische Abwehr, doch Yuri blieb stumm, ließ sich halten, über den eingerollten Rücken streichen, so knochig und schmal wie gewohnt. Dann, zögerlich, löste er die Fäuste aus der Jackentasche, legte die dünnen Arme um Otabeks breite Schultern. Dieser hörte die gepressten Atemzüge, spürte, dass der Jüngere mit sich rang, sich zwang, die Fassung zu bewahren, Haltung zu zeigen. Endlich wisperte Yuri rau an Otabeks Ohr, "die Katze ist fort." *~#~* Otabek wich keinen Millimeter, hielt die magere Gestalt entschlossen in seiner festen Umarmung. Er musste nicht nachfragen, nein, der angespannte Körper verriet ihm genug, um davon auszugehen, dass Yuri ihm alles erzählen würde, weil es dann vielleicht ein wenig leichter auszuhalten war. "Die Katze ist tagsüber im Wohnheim unterwegs, aber nachts kommt sie zu mir. Zum Schlafen. Ist ja aufgeräumt und ruhig", wisperte der Russe mit flacher Stimme, "vor...fünf Tagen...kam sie nicht. Hab sie gesucht, könnte sich ja irgendwo eingesperrt haben." Er räusperte sich erstickt, "aber keine Spur. Im ganzen Haus nicht. Nach dem Unterricht haben wir alle gesucht, sogar ums Haus herum, wieder nichts." Die Fingerkuppen auf Otabeks Schultern bohrten sich stärker in seine Sehnen. "Jemand hörte, wie sich ein paar Puckschubser lustig machten. Hab sie zur Rede gestellt!" Er stieß ein heiseres Auflachen bar jeder Freude aus. "Sehr dezidierter Meinungsaustausch! Sie haben uns ziemlich schnell getrennt." Was für den Kasachen erklärte, weshalb sein jüngerer Freund diverse Verletzungen aufwies. Yuri atmete unterdessen tief durch, um Anlauf zu nehmen. "Es gab wohl irgendwelche lächerlichen Eifersüchteleien mit den Mädchen. Da haben die Typen dann, um das Konto auszugleichen", er würgte leicht, "die Katze geschnappt, in einen Karton gesperrt, sind eine halbe Stunde herumgekurvt und haben ihn weggeschmissen auf einen Unrathaufen. Einfach so." Ein Zittern durchlief ihn, und unwillkürlich presste Otabek Yuri enger an sich. "Die Katze", er räusperte sich erneut, "die Katze geht nie raus. Offene Türen, Fenster, kein Problem. Sie hat Angst, nicht im Haus zu sein. War immer ein Drama, wenn wir mal zum Tierarzt mussten." Yuris Hände auf Otabeks breiten Schultern verkrampften sich zu Fäusten. "Nachts friert es, außerdem hat es heftig geregnet. Die Katze ist eine Züchtung mit langem Fell, muss gepflegt werden. Ein Salontiger eben", den Kopf in den Nacken legend schnappte Yuri nach Luft. Haltung bewahren! Distanz! Sachlich bleiben! "Alle", krächzte er Richtung Himmel, "wussten das. Draußen hat sie keine Chance. Die Baba ist zwar sofort los, um zu suchen, aber es wurde schon dunkel. Und da waren große Ratten und streunende Hunde. Eben ein Dreckloch." Er ließ die Stirn wieder langsam auf Otabeks Schulter sinken. "Ich war so wütend. So ungeheuer wütend. Die haben's noch nicht mal kapiert..." Der Kasache löste einen Arm, um langsam über das verkrümmte Rückgrat zu streichen, wieder und wieder. "...zwei wurden nach Hause geschickt. Yakov hat darauf bestanden. Es gab zwar von ihrem Coach Proteste", Yuri räusperte sich erneut, "aber ich bin ja nun mal so wichtig, bringe Erfolge und Medaillen. Da können sie nicht mithalten." Er richtete sich ein wenig auf, entschlüpfte Otabeks Aufmerksamkeiten jedoch nicht. "Natürlich werde ich auch bestraft. Tja, wie sagte der Coach so schön: 'alles für die Katz?!'" Nun war es an Otabek, einen tiefen Luftzug zu holen. "Es tut mir leid", raunte er sonor an Wollschal und Kapuze. Die Katze war eben nicht irgendeine Katze, auch wenn Yuri sich so abgeklärt gab. Nur von ihm hatte sie sich pflegen lassen, nur bei ihm geschlafen. Otabek entsann sich noch genau des Schnappschusses von Mila, die beiden "müden Wildkatzen" aneinander gekuschelt im Schlaf. Er wusste es besser, als vage Hoffnung zu verkünden, vielleicht fände sie sich wieder ein, hätte jemand sie aufgelesen. In jeder Metropole gab es Gevierte, wo man sich besser nur mit Knüppel hinbegab, weil dort keine andere Regel als das Überleben um jeden Preis galt. "Wo haben sie dich noch verletzt?", konzentrierte er sich also auf die Gegenwart. "...paar blaue Flecke, halb so wild. Bin ja nicht aus Zucker", murmelte Yuri matt. Daraufhin löste sich Otabek, wich zurück, was den jüngeren Russen zwang, sein Gewicht nach hinten zu verlagern, aufrechter zu sitzen. Der Kasache wickelte den verfilzten Wollschal ab und schob behutsam die Kapuze hinunter, kämmte dann sehr sanft die hellblonden Haare hinter die Ohren und inspizierte, gründlicher als zuvor, die Spuren, die der "Meinungsaustausch" hinterlassen hatte. In den grünen Katzenaugen konnte er eine gewisse Unruhe lesen. Kein Wunder, war Yuri doch gewöhnt, sich hinter seinem Pony gründlich zu verbergen, in Vorwärtsverteidigung durch Übellaunigkeit Abstand zu wahren. "Willst du mir den Rest auch erzählen?" *~#~* Hellseherische Fähigkeiten mussten nicht bemüht werden. Yuri hatte schon vor seinem Geburtstag unter Sanktionen gestanden, folglich war die Angelegenheit mit der Katze nur der letzte Punkt einer längeren Kette an Auseinandersetzungen. Allerdings war es nicht angezeigt, dies bei einsetzendem Nieselregen und fortschreitendem Nachmittag in Angriff zu nehmen. Die Tourismussaison stand noch nicht vor der Tür, deshalb mussten sie eine Weile laufen, bis sie eine der unverwüstlichen Ketten fanden, in denen man sich ein Eckchen suchen, heiße Schokolade (kein Kakao) nippen konnte, von der allgegenwärtigen, aufgekratzten Lärmkulisse junger Leute gut getarnt eine Verschnaufpause einlegte. Yuri drehte seine große Tasse langsam in den Händen, hatte lediglich den Wollwust etwas gelöst, blieb jedoch hinsichtlich der Kapuze entschieden für eine Verhüllung. "Das, was du damals gesagt hast, von dem würdigen Abschied", nahm er Anlauf, "das ging mir nicht aus dem Kopf. Ich musste also zurück, nach Hause, mich darum kümmern, dass Großvater...", er seufzte, "ich bin nach Moskau geflogen und gleich weitergefahren, dahin, wo wir wohnen, außerhalb der Stadt. Aber als ich ankam, war das Haus ausgeräumt, das Auto weg..." Yuri ballte die Fäuste. Es dauerte eine Weile, bis er die Hände wieder öffnen konnte, um einen kräftigen Schluck der sich abkühlenden Schokolade zu nehmen. "...ich glaube nicht, dass ich es dir hier erzählen kann", bekannte er leise. Otabek, der Yuri selten so aufgewühlt gesehen hatte, nickte knapp. Nachdem sie schweigend ihre Tassen bis zur Neige geleert hatten, pflückte Otabek aus seiner Trainingstasche den winzigen Musikabspieler, reichte Yuri die Kopfhörer und wählte selbst die entsprechende Liste aus. Er steckte das Gerät an die Kapuzenjacke, nahm dann Yuris freie Hand, die keine Tasche schleppte, in Verwahrung. Ihm war gleich, ob man schaute (wobei es aufgrund der allgemeinen wetterbedingten Verpuppung nichts zu sehen gab), er verspürte auch keine Verlegenheit. Wenn er sich nicht verkalkuliert hatte, würde die Liste Yuri unterhalten, bis sie das Hotel erreichten. Dann würden sie sich einen Platz suchen, wo sie ihr Gespräch fortsetzen konnten. *~#~* Vielleicht war es Glück, dass sie unbehelligt nach Vorzeigen ihrer Akkreditierung und der Schlüsselkarten ins Haus kamen, die Trainingstaschen im jeweiligen Zimmer abstellten und sich auf einem der verborgenen Notbalkone trafen, eigentlich Zuflucht der geächteten Raucher. Der Wind pfiff ungemütlich, es dunkelte, aber hier fühlte man sich tatsächlich isoliert vom Rest der Welt, trotzdem nicht allein, da man sich die enge Nische teilte. "Das war wirklich ungewöhnlich", referierte Yuri nachdenklich zu Otabeks Musikauswahl. Die, das gestand der zu, weniger aus Songs bestand, sondern sich als symphonische Dichtung mit Umgebungsgeräuschen, Verfremdungseffekten und eigentümlicher Verwendung von Instrumenten entpuppte. "Es erinnert mich an die Stadt bei Nacht. Wenn man hoch über den Dächern alles beobachtet. Lichter, den Verkehr, die Reklametafeln. Und gleichzeitig bemerkt man, wie viele Tiere auch dort leben", erläuterte Otabek seine Komposition. Er beabsichtigte, eine gewisse Stimmung zu erzeugen, wenn er an seiner Tonkunst feilte. Dazu bedurfte es manchmal keines Gesangs, keiner herkömmlichen Instrumente. Kriterium blieb allein die Übereinstimmung mit der "Musik", die er im Inneren hörte. "Die Baba wird vor Neid platzen, wenn sie erfährt, dass ich deine geheimen Soundtracks hören durfte!" Der Schatten eines Lächelns huschte über Yuris bleiches, von den Verletzungen gezeichnetes Gesicht. Etwas verlegen ergänzte er, die Schultern hochziehend, "sie mag dich nämlich. Ziemlich, sogar." "Das ist sehr nett von ihr", antwortete Otabek ebenso beherrscht wie entschieden. "Eigentlich ist die Baba ganz in Ordnung", murmelte Yuri, bedachte ihn mit einem nervösen Seitenblick, "auch wenn sie bei ihren Kerlen bisher einen lausigen Geschmack bewiesen hat. Nicht, dass es jetzt viele waren!" Otabek konnte ein dezentes Schmunzeln nicht ganz unterdrücken. Es gab selten Augenblicke, in denen man Yuri anmerkte, dass er gerade mal 17 Jahre alt war, ein Jugendlicher mit den entsprechenden Unsicherheiten und Zweifeln. "Ich schätze die mir von ihr entgegengebrachte Freundschaft sehr", richtete er sich auf den jüngeren Russen aus, ohne Umschweife, in direkter Körpersprache, "ich hoffe, dass sie einen würdigen Gefährten findet." Eine Rolle, in der er sich nicht wiederfinden würde. Yuri beäugte ihn angespannt, offenbar in Sorge, er hätte durch seine Äußerungen möglicherweise die Kameradin in ein unvorteilhaftes Licht gerückt. Dann seufzte er, die Schultern sackten herab. "Das wäre in Ordnung gewesen, von meiner Seite aus", bemerkte er leise. Der Kasache vermutete, dass es sich umgekehrt ähnlich verhielt. Die gleichaltrige Russin hatte sich zurückgenommen, das wusste er wohl, konnte es in der Atmosphäre lesen, wenn sie sich unterhielten. Man hätte allerdings geschmeichelt sein müssen, dass sich gleich zwei Personen so sehr um die eigene bemühten, doch Otabek verabschiedete derlei Eitelkeiten rasch. Hochmut kam schließlich vor dem Fall, und Stürze hatte er schon genug hinter sich! Eine Weile standen sie still auf dem kleinen Balkon, Seite an Seite, Schulter an Schulter. Geduldig wartete Otabek darauf, dass Yuri den Gesprächsfaden dort anknüpfte, wo er in der Filiale abgerissen war. "Er hat mir nichts gesagt. Darüber, wie...schlecht es stand", Yuri stopfte die Fäuste in seine Trainingsjacke, bot Otabek sein Profil, von den hellblonden Haaren umflattert, "keiner durfte es genau wissen." Die dünnen Lippen pressten sich zu farblosen Strichen. "'Rheuma, Yuratschka, da kneift's überall!'", zitierte er, 'so ist das als alter Mann eben! Wirst du auch noch merken!'" Otabek studierte aus den Augenwinkeln heraus das bleiche Profil, das minimale Zucken der Sehnen, Anzeichen der nervlichen Anspannung. "Dabei war er gar nicht so alt!", schnaubte der Russe im Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen, "bloß Jahre in der petrochemischen Verarbeitung! Weiß der Teufel, was sie sich da alles eingefangen haben!" Er zog die geballten Fäuste aus den Jackentaschen, stützte sie auf die Balkoneinfassung. "'Ah, kann nicht mit dem Auto kommen, bin ganz krumm! Ich guck dir zu, also schneid vor den Kameras bloß keine Grimassen, hörst du, Junior?!'" Ein wehmütiges Lächeln huschte über Yuris Gesicht, dann atmete er tief durch. "Das war gelogen. Er hatte Krebs, der sich durch den ganzen Körper gefressen hat. Das Auto war längst verkauft, auch das Haus verpfändet. Am Ende konnte er sich bloß noch die Gemeindeschwester mit den Spritzen leisten, Morphium oder so was. Er ist in unserem ausgeräumten Haus elend verreckt." Nun sickerten Tränen aus den Augenwinkeln über die eingefallenen Wangen, aber Yuri verbat sich durch konzentrierte Atemzüge jedes Schluchzen. "...also", er räusperte sich, wischte mit einer geballten Faust über die Augen, "also, ich komme an, und nichts ist mehr da. Sie haben ihn in einen alten Eiskeller gelegt, in der Nähe der Kirche beim Friedhof." Feine Linien gruben sich in sein Gesicht. "Ich bin direkt zum Popen gegangen, damit sie ihn waschen, ihm einen schicken, neuen Anzug und hochglanzpolierte Schuhe anziehen. Ein feines Hemd mit einer schwarzen Fliege, weil er Krawatten hasst. Dazu einen prächtigen Sarg." Erneut atmete er bis tief in die Zehenspitzen durch. Haltung! "Dann bin ich rüber zum Dorfvorsteher, ein alter Freund meines Großvaters. Der hat die Papiere, ein paar Fotos und all meine Medaillen in Sicherheit gebracht, als sie das Haus ausgeräumt haben. Wäre vermutlich ohnehin nur auf der Müllkippe gelandet. Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, für die Trauerfeier und die Messe. Er hat mir erzählt", Yuri biss sich auf die dünnen Lippen, schluckte hörbar, "dass der sture, alte Mann aus Aberglauben nichts vorbereitet hat. Damit er durchhält, bis ich zurückkomme, nach der Saison. Mit meinen vier Goldmedaillen..." Otabek löste sich, griff einfach zu, zwang Yuri in eine Umarmung. Es war nicht nötig, hier tapfer und distanziert zu wirken, nicht zwischen ihnen. Der Russe schluchzte tatsächlich ein paar Mal auf, dann beruhigte er sich entschlossen wieder, aber er entschlüpfte Otabeks Armen nicht, sondern wisperte an dessen Schulter. "Ich war echt wütend auf ihn. Wenn er nur etwas gesagt hätte... aber 'die Pflicht geht vor, das weiß jeder Soldat!' Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich diesen Satz gehasst habe!" Der Kasache streichelte gründlich über das knochige Rückgrat, immer wieder. "Ich hab's ihm sogar gesagt. Als ich aus der Stadt zurückkam, wo ich alles an Bargeld lockergemacht habe, was ich bekommen konnte" , Yuri fauchte gequält, "hab mich zu ihm gesetzt in der Kapelle, wo sie ihn aufgebahrt hatten, während nebenan die Medaillen in den Sarg eingepasst wurden. 'Warum bist du so halsstarrig, verdammt?! Was nützt mir der ganze Tand, wenn du nicht da bist und mir zusiehst, Großvater?! Jetzt guck dir das an! Kein Auto, kein Haus, beinahe hättest du hier sogar ohne Zähne liegen müssen! Was sollen da die Nachbarn denken, hm?!'" Yuri würgte am Kloß in seinem Hals, gewann diesen Kampf jedoch. "Natürlich dauerte alles etwas länger. Der Dorfvorsteher ließ mich bei sich übernachten, erzählte mir, dass Großvater wegen der hohen Behandlungskosten nach und nach alles verkaufen oder verpfänden musste, bis nichts mehr da war. Unterdessen war der Coach sauer, weil ich zu lange weg war, nicht trainierte, auf seine Anrufe nicht reagierte." Eine Zwickmühle, wie Otabek durchaus verstand, immerhin hatte Yuri olympisches Gold gewonnen, stand aber nicht publikums- und medienwirksam zur Verfügung, wo man ohnehin mit Kritik und Vorwürfen zu kämpfen hatte, besonders wegen der aufgedeckten Dopingpraktiken, auch im Wintersport. "Es wurde dann noch etwas schlimmer", Yuri grub die Fingerkuppen in Otabeks Schulterblätter. "Die Beisetzung, Leichenschmaus, das hatte ja geklappt. Mit Bargeld lässt sich eben alles ermöglichen!", versetzte er bitter, "aber dann tauchte sie auf. Meine Mutter." Otabek stutzte und konnte aufgrund ihrer körperlichen Nähe diese Überraschung nicht ganz vor Yuri verbergen. Der knurrte. "Ich dachte, sie wäre nur aus Höflichkeit da, hat sich ja nie mehr gemeldet, aber von wegen! Die ganze Zeit hätte sie sich um Kontakt bemüht, aber der Großvater hätte es kategorisch verweigert! Nur, weil sie einmal einen 'Fehler' gemacht habe, sei er unversöhnlich gewesen und habe ihr gedroht, sie solle es nicht wagen, sich mir zu nähern! Ich wollte mir diesen Mist nicht anhören, hab ihr gesagt, sie kann gern wieder verschwinden. Aber so einfach ist das nicht..." Die Bitterkeit in Yuris Stimme sorgte Otabek. "Natürlich ging's ums Geld. Sie hat keins, ihr aktueller Stecher gibt nichts für ihre Familie, die ihm scheißegal ist, also muss ich sehen, wo ich bleibe. Überhaupt, so viel Geld auszugeben für die Beerdigung!" Yuri atmete verkrampft durch. "Ehrlich, ich war kurz davor, ihr Eine zu scheuern! Ja, vielleicht hat Großvater sie verstoßen, war grausam und hartleibig, aber er hat mich NIE wie einen 'Fehler' behandelt, sondern sich um mich gekümmert! Es ist ganz allein meine Sache, wie ich wenigstens zum Schluss etwas zurückgebe..." Der Kasache drückte den jüngeren Freund ein wenig fester. Wahrscheinlich hätte man auf jedem Grab "zu spät" eingravieren können. Immer blieb das erstickende Gefühl, nicht genug gesagt, getan, gezeigt, vermittelt zu haben, besonders, wenn man einen anderen Menschen mochte. Unterdessen richtete sich Yuri leicht auf, hob den Kopf von Otabeks breiter Schulter. "Sie hat mir das mit dem Geld gesagt, weil ich ja noch minderjährig bin und die vom Großvater erzwungene Vormundschaft mit seinem Tod erloschen ist, sodass sie jetzt für mich verantwortlich ist." Er schnaubte. "Was sie natürlich nicht wollte. Zumindest nicht, wenn sie mich alimentieren müsste. Gegen ein paar medienwirksame Bilder hätte sie aber nichts gehabt!" Yuri entschlüpfte behutsam, als wolle er ihn keinesfalls mit dieser Geste beleidigen, aus Otabeks Umarmung, blickte ihm dann mit geröteten Augen ins Gesicht. "Also musste ich mit ihr nach Moskau. Coach Feltsman hat sich breitschlagen lassen, für mich die Verantwortung zu übernehmen, bis ich volljährig bin." Was beide Parteien, wie Otabek nicht zu unrecht vermutete, in eine wenig erquickliche Lage brachte. Eine Verbindung, den Notwendigkeiten geschuldet, auch wenn er dem Cheftrainer nicht absprach, dass er Yuri nicht nur als einen nützlichen Spitzensportler betrachtete, sondern als einen vertrauten und geschätzten Jugendlichen. Der Russe wischte einige hellblonde Strähnen hinter die Ohren. "Yakov war nicht erbaut, als sie in Moskau landeten und er mit diesem Papierkram behelligt wurde. Außerdem hatte ich mich ja nicht gemeldet, deshalb gab's schon die ersten Strafen", Yuri zog eine Grimasse, "was mir nicht sonderlich viel ausgemacht hat. Dann kam ja mein Geburtstag rasch, und ich sollte irgendeine pompöse Party feiern, mit Sponsoren, Presse, VIP, all dieses Gesocks, aber das wollte ich partout nicht. Schon wieder Ärger, Verlängerung meiner Bestrafung, nur Schule, Training, Schlafen, sonst nichts weiter. Und dann lief es einfach nicht mehr." Er wandte Otabek sein Profil zu, blickte ins Ungefähre der Dunkelheit des Abends. "Es war ein wenig wie vorhin. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich auf dem Eis tun sollte. Warum ich wieder und wieder diesen ganzen Zirkus abspulen soll. Wozu auch? Selbst wenn ich bei jedem Wettbewerb in der Saison Gold hole, was soll das noch bringen?" Otabek nickte langsam. "Ich verstehe. Du hast über eine Menge Dinge nachzudenken", formulierte er bedächtig. Auch wenn Yuri das vehement bestritt, so würden auch die Vorwürfe seiner Mutter nicht ohne Folgen bleiben, kratzten doch am Bild des geliebten Großvaters. "Pff!", schnaubte Yuri verächtlich, doch dieses Urteil betraf ausschließlich sich selbst, "dumm nur, dass ich mich im Kreis drehe! Dabei soll ich doch am Sonntag alles eingetütet haben!" Der Kasache hob die Rechte und kämmte einige hellblonde Strähnen aus Yuris Gesicht. "Die Antwort findet sich, wenn ihre Zeit gekommen ist", stellte er ruhig fest. Der jüngere Russe lupfte eine kritische Augenbraue. "Du bist schon ein merkwürdiger Geselle, weißt du das?" Nun lächelte Otabek tatsächlich leicht. "Hin und wieder ist das auch anderen aufgefallen", antwortete er sanft. Die grünen Katzenaugen studierten ihn prüfend, suchend. Was wusste er eigentlich von seinem kasachischen Freund? "Gehen wir jetzt besser rein", schlug dieser vor, "Coach Feltsman kann uns nur eine gewisse Weile übersehen." Yuri nickte knapp, schüttelte sich dann die tarnenden Strähnen wieder in das lädierte Gesicht. "Trotzdem!", erklärte er grimmig, "ich werde dich trotzdem treffen." Auch Otabek beabsichtigte, es umgekehrt genauso einzurichten. *~#~* Kapitel 7 - Verbündete Wie in jedem Jahr standen die Einzelwettbewerbe der Herren fest: Donnerstag Kurzprogramm mit 36 Teilnehmenden, dann Samstag die Kür mit den besten 24 Teilnehmenden, Sonntag Bankett mit allen. Die Zeit davor gliederte sich in zugewiesene Trainingszeit auf dem Eis, "Trockentraining" und eine gewisse Freizeit. Dass Yuris Freizeit keine sein würde, sondern als Strafmaßnahme erneut in Selbststudium bestand, erwartete Otabek nicht anders. Andererseits bot es ihm die Gelegenheit, ohne Publikum mit Yuri Zeit zu verbringen, selbst wenn sie sich über Bücher und Hefte beugen mussten. Man konnte sich aber auch ohne Auditorium und lästige Zuschauende austauschen. Er selbst hatte Yuri angehalten, bei den Trainingseinheiten eine überdimensionierte Wollmütze aufzusetzen, um einen Teil der Wunden unter Maschen und losen, hellblonden Strähnen zu verbergen. Spekulationen und mediale Aufmerksamkeit hätten den Druck auf den Russen nur noch erhöht, obwohl es wegen der Erwartungshaltung aller davon schon reichlich auszuhalten gab. Im Beisein Dritter gab sich Yuri wortkarg bis muffelig, distanziert und abweisend. "Ich will kein Mitleid!", hatte er sogar Victor zugezischt, der sich mit ihm unterhalten wollte, dem älteren Russen brüsk den Rücken gekehrt, bevor dieser Anstalten unternehmen konnte, den Trainingsraum zu durchqueren. Glücklicherweise schien der nicht nachtragend zu sein und verstand womöglich mehr, als er sich gewöhnlich anmerken ließ. Otabek ertappte Yuri dabei, wie dieser immer wieder ins Leere starrte, einfror, sich nicht rührte, mit den Gedanken weit weg. Oder jeden gefährlichen Gedanken vermeidend. Er konnte das Dilemma seines jüngeren Freundes gut nachvollziehen. Hier gab es keine Befehle zu befolgen, kein Prestigeduell, kein Übertrumpfen eines Rivalen. Es ging schlicht um die eigenen Erwartungen an das Leben. Welche Alternativen boten sich? In dieser Hinsicht konnte Otabek die Sorgen verstehen. Yuri hatte kein Zuhause mehr. Keine Zuflucht. Keine liebende Familie. Seine einzige Heimat war nun das Wohnheim, die Unterstützung, die man ihm gewährte, gründete darauf, dass er Spitzenleistungen erzielte. Gab es einen Plan B? Oder musste man ohne Rücksicht auf Verluste so lange weitermachen, bis nichts mehr ging? Einen "alternativlosen" Weg bis zum bitteren Ende beschreiten? Wie sollte man sich motivieren? Wie aus dem eigenen Inneren die Kraft schöpfen, auf diesem Niveau Leistungen zu erbringen? Zwar musste Yuri dies für sich selbst entscheiden, doch stand es seinem besten Freund ja wohl offen, ihm entsprechend zu assistieren, nicht wahr? Bevor sie sich am Abend trennen mussten, steckte er Yuri deshalb seinen Musikabspieler zu, eine besondere Liste bereits voreingestellt. Die grünen Katzenaugen musterten ihn für einen Augenblick kritisch, dann ließ der jüngere Russe das Gerät an der eigenen Person verschwinden. »Ich glaube. Ich vertraue. Auf mich.« *~#~* "Ah, Otabek, mein Held, wünsch mir Glück!" Bevor der Kasache artig Luft schöpfen konnte, dieser Aufforderung nachzukommen, hing Mila schon um seinen Hals und drückte ihn. Mittwoch, Damen-Kurzprogramm. Diese Aktion während des Frühstücks rief einige Aufmerksamkeit hervor, Kichern und Tuscheln. Otabek spürte, wie ein kompaktes Bündel an seinem Rücken entlang rutschte, bis der Gummi der Trainingshosen bremste. So, so, Taschenspielertricks beherrschte die Dame auch! Er löste sich brav, nahm ihre Rechte und hauchte mit einer Verbeugung einen Kuss auf den Handrücken. "Gutes Gelingen!", er zwinkerte, "und Erfolg den Tüchtigen!" Mila absolvierte einen Tusch mit den dichten Wimpern, raunte ihm dann verschwörerisch zu, "ich will auch Bescheid wissen!" Unmerklich nickend gab Otabek ihre Hand wieder frei. Ihm eine Kusshand zuwerfend entfernte sich die Russin an "ihren" Tisch, wo Coach Feltsman mit grantigem Blick sein Team beaufsichtigte, KEINEN Blick auf den "Seniorentisch" warf, wo Victor ungeniert mit Yuuri flirtete, was Chris spöttisch kommentierte und damit seinen eigenen Trainer in Nöte brachte. Nun, wenigstens füßelte der Schweizer nicht mit dem attraktiven Funktionär, der ihm wie ein Schatten folgte! Von Yuri gab es keine Spur, aber damit war auch nicht zu rechnen, wenn der strenge Stubenarrest fortgesetzt werden würde. Nun, man würde schon eine Gelegenheit finden, sich auszutauschen! *~#~* Die anderen Mannschaftskameraden anzufeuern war Pflichtprogramm, weshalb Yuri sich auch auf den Rängen zeigte, tarnend maskiert, um die Spuren seiner Auseinandersetzung zu verbergen. Der Coach hatte "Zimmertraining" verfügt, weshalb es der erste "Ausflug" aus seiner Unterkunft an diesem Tag war. Für den folgenden Tag, das Kurzprogramm der Herren, strahlte der Coach keine bemerkenswerte Zuversicht aus, im Gegenteil. Yuri konnte es ihm nicht verdenken. Wäre da nicht Otabek... *~#~* "Wenigstens ist es keine Besenkammer", bemerkte Mila zynisch, als sie sich zu dritt bei frostigen Temperaturen auf einen Notbalkon quetschten. Gedämpft klangen die abendlichen Großstadtgeräusche zu ihnen hinauf. "Wenn du lieber deinen Schönheitsschlaf antreten willst...", stichelte Yuri herausfordernd. In ihrer Streitlust hätte man sie wirklich für Geschwister halten können. Otabek reduzierte die Spannung, indem er simpel eine Tüte mit italienischem Kaffeegebäck aus seiner Trainingsjacke zog, sie öffnete und den Inhalt offerierte. Der Duft von Mandeln und Schokoladensplittern beruhigte nicht nur die Lage, sondern auch die Nerven. "Ich wollt sie nicht mitbringen!", kaute Yuri trotz seiner deklarierten Verachtung für "Süßkram". "Hättest dich halt nicht erwischen lassen sollen!", konterte Mila, ebenfalls knuspernd. Der Kasache schmunzelte dezent, gab weiterhin unerschrocken den Prellbock zwischen den beiden Teamkameraden. "Danke, dass ihr euch die Stücke angehört habt", formulierte er gelassen. Yuri verschmähte einen weiteren Keks, um sich trotz der Enge ganz auf den Kasachen auszurichten. "Erzähl mir davon, ja? Vor allem von der Nummer 1!", forderte er nachdrücklich. "Ja, bitte! Es ging mir den ganzen Morgen im Kopf herum!", unterstützte Mila sein Verlangen. "Nun, ich möchte euch nicht langweilen, weil es etwas länger zurückliegt", warnte Otabek höflich vor. "Quatsch! Du langweilst mich nie!", fauchte Yuri empört, packte sogar Otabeks Trainingsjacke, "wen's nicht interessiert, der kann ja verduften!" Kriegerisches Funkeln, beiderseitiges Knurren. Otabek nahm die Kekstüte zur Hilfe, bot demonstrativ Nervenzehrung an. Man griff zu, erneut, signalisierend, dass man nur deshalb Frieden hielt, weil man sich nicht um die Erzählung bringen wollte. "Das Stück Nummer 1 ist das erste, das ich mit dem Computer kreiert habe", Otabek lächelte zurückhaltend, "vor mehr als sieben Jahren, als alles auf der Kippe stand." Er räusperte sich verhalten. "Dort, wo meine Familie lebt, gibt es kein Eisstadion. Wenn es regnete und das Wasser gefror, sind wir auf dem alten Betonfundament einer abgerissenen Fabrikhalle herumgerutscht. Nicht in Schlittschuhen, sondern auf Holzkufen, die wir uns unter die Schuhe gebunden haben." "Holzkufen?!", wiederholte Yuri ungläubig. "Ja", Otabek lächelte zurückhaltend über die Fassungslosigkeit in den grünen Katzenaugen, "aus sehr altem Obstbaumholz, poliert, sehr hart. Wir haben mit Regenschirmen und Stöcken eine riesige Schraubenmutter herumgeschubst und uns vorgestellt, wir wären große Eishockeyspieler." Mila kaute an einem weiteren Keks, sehr nachdenklich. "Es gab damals wie überall vermutlich verschiedene Sichtungsprogramme für den Nachwuchs, damit man sich für große, internationale Wettbewerbe qualifizieren konnte. Ganz nach der alten Regel, dass die größten Zuschauermagneten einheimische Sportler sind. Ich ging gerade in die erste Klasse und war sehr stolz, dass mich die Scouts zu Hause besuchen wollten." Er lächelte über sich selbst. "Nun ja, wir hatten die Vorstellung, dass Eishockeyspieler ins Ausland reisen durften, dann in Amerika berühmt werden, viel Geld verdienen, ein großes Haus und Autos haben. Und niemand darf ihnen verbieten, so viel Schokolade zu essen, wie sie möchten." Die Russin lachte leise. "Meine Familie war sehr aufgeregt, denn es wäre ein Privileg, gefördert zu werden. Das würde allen helfen, vielleicht käme man sogar an Devisen heran", Otabek zuckte lässig mit den Schultern, "wobei ich eingestandenermaßen Schokolade für wichtiger als die mir unbekannten Devisen hielt. Tja, aber dann sagten sie uns, dass ich nicht groß genug werden würde, um ein kräftiger Eishockeyspieler zu sein." Er präsentierte seine starke Rechte. "Doch bei meinem Geschick mit den Holzkufen könne ich Eiskunstläufer sein." In den grünen Katzenaugen konnte er Wiedererkennen aufblitzen sehen. Kein Zweifel, auch Yuri hatte man entsprechend "aufgestöbert". "Wir wussten nichts über Eiskunstlauf. Trotzdem sollte ich es versuchen. Also bin ich mit den Scouts direkt nach Almaty gegangen, in ein Schulwohnheim. Allerdings gab es keine Trainer, sodass ich mit den Turnerinnen und alten Übungsvideos angefangen habe. Glücklicherweise konnte ich mich dann auch in meinen ersten richtigen Schlittschuhen unfallfrei bewegen. Es lief gar nicht so schlecht, wie wir fanden." Er gestattete sich einen kleinen Seufzer. "Dann, nach sechs Jahren endlich, konnten meine Betreuer den Verband überzeugen, eine Auslandsreise zu gestatten. Zu einem Sommercamp in Russland." Otabek zog kurz die wie getuscht wirkenden Augenbrauen zusammen. "Bis dahin war ich eigentlich der Überzeugung, ganz passabel zu laufen, aber mein Absturz bei den Ballettübungen, das war ein Schlag ins Kontor." Yuri griff energisch in die Kekstüte und drängte Otabek förmlich ein Gebäckstück auf. "Das Ballettgedöns ist NICHT die einzige Methode!", donnerte er grimmig, vermutlich auch zu einem gewissen Teil verärgert darüber, damals nicht die Möglichkeit erkannt zu haben, einen Freund zu gewinnen. Der Kasache mümmelte rasch und schluckte brav. "Nun, damals war es für alle ein Schock. Hatte ich die Hälfte meines Lebens damit verbracht, mir vergeblich Hoffnung auf Erfolg zu machen? Was sollte ich jetzt tun?" Otabek blickte nun ernst, durchaus ein wenig angespannt. "Es ging zum Rapport zurück nach Almaty. Wir fühlten uns wie geprügelte Hunde. Ich bereitete mich darauf vor, dass ich als Versager nach Hause geschickt werden würde." Eine düstere Aussicht, die sie alle erlebt hatten. "Aber ich war noch nicht fertig mit dem Eis. Ich hatte noch nicht alles gezeigt und ausgedrückt, was mir wichtig war. Ich wollte nicht aufgeben, noch nicht, deshalb überlegte ich angestrengt, wie ich die Funktionäre überzeugen konnte, mich weiterhin zu unterstützen. Ich dachte mir, dass ich das, was ich fühle, was ich in mir höre, für sie begreifbar machen muss. Da kam ich auf die Idee mit der Musik." Die Miene des Kasachen zeichnete sich weicher, gelassener. "Auf verschlungenen Wegen hatte eine Software für Instrumentalmusik auf dem Computer den Weg zu uns gefunden. Ich testete alle Effekte, arbeitete mit Melodieversatzstücken, die gesamte Nacht durch. Am nächsten Tag bat ich dann darum, meine Leistungen auf dem Eis präsentieren zu dürfen. So hat Stück Nummer 1 mir geholfen, bis hierher zu kommen." *~#~* Tatsächlich verfügte Stück Nummer 1 über einen pulsierenden, treibenden Unterbau, beinahe so bedrohlich wie eine Haifischflosse in Strandnähe. Eine fröhliche, dynamische Melodie tarnte diese subversive Wirkung auf das Auditorium zunächst, doch die Unruhe griff über, man konnte nicht mehr stillsitzen, wollte sich bewegen, den eigenen Puls dem des Stückes angleichen. Unwillkürlich atmete man schneller, wach, aufgeputscht. Otabek nutzte seine erste Komposition immer, wenn er sich daran erinnern wollte, warum er auf dem Eis stand, warum es noch nicht genügte, dass es noch immer etwas auszudrücken galt. Aus diesem Grund hatte er Yuri auch genötigt, sich seine Liste anzuhören, ein gesamtes Trainingsprogramm, über die Jahre zusammengestellt. Für die Atmosphäre, die eigene Stimmung. Vielleicht, so hoffte er, würde Yuri damit auch seine persönliche Antwort finden. Dass es noch längst nicht vorbei war. *~#~* "Puh!", schnaubte Mila Otabek zu, die wie gewohnt die relative Intimität des Frühstücksbüfetts nutzte, "Katerstimmung heute Morgen! Unser Widerborst ist gerade besonders unerträglich." Der Kasache, der sich artig zugewandt hatte, zog die Augenbrauen zusammen. "Frag mich bloß nicht, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen ist!", schimpfte sie gedämpft, "er keilt nach allen Seiten aus, der Lümmel!" Das klang wirklich nicht vielversprechend für Yuris recht frühen Einsatz im Kurzprogramm der 36 Qualifizierten. Otabek fühlte sich durchaus zu einem gewissen Anteil verantwortlich, immerhin hatte er Yuri ja Persönliches erzählt und vorgeführt, um ihm Anstöße zu geben, wie es weitergehen konnte. Möglicherweise nicht der richtige Zeitpunkt für die notwendige Kontemplation. Er beugte sich zu Mila, die gerade grimmig Kakaopulver über ihren Frühstücksbrei streute. "Darf ich dich um einen großen Gefallen ersuchen?" *~#~* "Was?! Darf ich nicht mal schlecht schlafen?!" Schon während ihm dieser patzige Kommentar herausrutschte, konnte Otabek erkennen, dass Yuri über sich selbst erschrak, denn so eine Äußerung entsprach ganz sicher nicht der Begrüßung unter Freunden. Otabek schwieg standhaft, ohne zu weichen, studierte die bleiche Miene, die noch immer unter dem hellblonden Haarvorhang unerquickliche Anzeichen körperlicher Auseinandersetzungen präsentierte. Yuri presste die dünnen Lippen zusammen, ballte die Fäuste, den Blick gesenkt. Er war angespannt, seine brüsken Gesten wirkten fahrig. Zweifellos die schlechtesten Voraussetzungen für sein Kurzprogramm! "Bitte setz dich", dirigierte Otabek schließlich einen Hocker vor sich, "ich mache dir die Haare." Einen Augenblick zögernd kam der jüngere Russe der Aufforderung nach, trotzig die Arme vor der mageren Brust verschränkend. Sehr sanft sortierte der Kasache die seidigen Strähnen, achtete auf die verkrusteten Partien, wo Strähnen abgerissen worden waren. Dann, mit großem Geschick, wand er das Multifunktionstuch, das Yuri ihm geschenkt hatte, mit den Totenköpfen und Silberfäden, um Yuris Kopf, verknotete es im Nacken, sodass es wie ein Kopftuch wirkte. "Aber...!", wollte Yuri Einwände erheben, doch Otabek gemahnte mit einem erhobenen Finger auf den dünnen Lippen des Jüngeren Schweigen. Aus einer kleinen Tasche entnahm er diverse Stifte, Pinsel und eine Puderfarbpalette. Yuris dünne Augenbrauen wanderten in die Höhe. Bevor er jedoch spöttisch eine Frage formulieren konnte, hob Otabek sanft seinen Kopf an und machte sich ans Werk. "Keine Angst, du wirst nicht wie Gregori enden", zwinkerte er ihm zu, "ich habe mal eine Zeitlang bei Akrobaten und Artisten trainiert. Dabei ist etwas hängen geblieben." Damit operierte er konzentriert, die hässlichen Spuren der Misshandlung mit künstlerischer Note zu tarnen, um Yuris Ähnlichkeit mit einem diabolischen Seelenkäufer zu betonen. Als er von Yuri wegtrat, damit dieser sich im umlaufenden Spiegel betrachten konnte, staunten nicht nur die anderen Eiskunstlaufenden, die angesichts Yuris gewittriger Stimmung großen Abstand gewahrt hatten. Yuri blinzelte, beugte sich vor, betrachtete seine infernalische Erscheinung. "Bist ne richtige Wundertüte, was?", kommentierte er schließlich, aber ohne Verve. Er erhob sich, wischte das "Arbeitswerkzeug" zurück in die kleine Tasche und knurrte, "geb sie nachher der Baba zurück." "Vielen Dank", Otabek nickte ernsthaft. Die grünen Katzenaugen blitzten, "du wirst mir zuschauen, oder?!" "Ich sehe dir immer zu", antwortete der Kasache sonor. Wäre Yuri nicht so übernächtigt und versiert geschminkt gewesen, hätte man eine gewisse Röte auf den Wangen registriert. "Wir sind noch nicht fertig miteinander!", fauchte der jüngere Russe etwas beschämt. "Gut", Otabek machte Platz, hob aber den rechten Arm gewinkelt an, "davai, mein Freund." In gegengleicher Geste stieß Yuri mit seinem rechten Arm gegen den sehr viel muskulöseren des älteren Kasachen, "dito, Altin!" Erst als Yuri längst mit seiner "Gruppe" den Umkleideraum verlassen hatte, atmete Otabek tief durch. Ob das wohl gutgehen würde? *~#~* "He, Yuratschka, du bist echt unmöglich!", schimpfte Mila, durchaus berechtigt, denn ohne viel Federlesens plumpste betont ungraziös der aktuell Führende in der Herrenwertung neben ihr auf einen Sitz, ließ mit der Linken das geborgten Täschchen mit den Schminkutensilien in ihren Schoß fallen, währen die Rechte Reste von Banane in bereits pralle Backen stopfte. Dazu war zu bemerken, dass noch rechts und links aus den Hosentaschen ebenfalls wie Revolver am Gürtel Bananen ragten. Außerdem hatte Yuri sich zwar umgezogen, jedoch Kopf- und Gesichtsmaskerade beibehalten, was seinem missmutigen Malmen eine bedrohliche Komponente verlieh. Andererseits sah er sich entschuldigt, da er zum Frühstück nichts heruntergebracht sowie kaum geschlafen hatte. Trotzdem stand auf seinem Fleißkärtchen die höchste Punktzahl! "Herrje!", mit der Souveränität einer Adoptivschwester packte Mila zu, das spitze Kinn in ihrer Gewalt, während sie Yuris Gesicht studierte. "Lssds!", schimpfte er und schluckte energisch. "Otabek Altin steckt voller verborgener Talente", bemerkte Mila versonnen, unbeeindruckt von der Zappelei. "Lass dich nachher von mir abschminken, ja? Mit Wasser und Seife allein funktioniert das nicht!", ermahnte sie streng. "Pah!", fauchte Yuri vergrätzt, dem Zugriff entschlüpfend, "lass mich in Ruhe, Baba!" Doch die ältere Russin ging nicht weiter auf seine Frechheiten ein, sondern richtete sich demonstrativ wieder zur Eisfläche hin aus. Bald würde der Held von Kasachstan dort auftreten, dieser junge Mann voller erstaunlicher Geheimnisse und Fähigkeiten. »Schade!«, dachte sie, einen Seitenblick riskierend, wo Yuri ungeachtet möglicher sehr unvorteilhafter Schnappschüsse eilig seine Bananenrationen vertilgte, die grünen Katzenaugen unverwandt auf die Arena ausgerichtet. Aber sie wusste auch, dass es bei Freundschaft bleiben würde. Leider, leider, denn Otabek Altin war definitiv ein besonderer Mann! Sie zuckte zusammen, als Yuri urplötzlich neben ihr in die Höhe schnellte, die Hände wie Trichter um den Mund formte und aus Leibeskräften "davai, Altin!!" brüllte. Der Kasache, im Einlauf auf seine Startposition, hob den rechten Arm kurz, die Faust geballt. »Ich sollte bei den Pfadfinderinnen eine Ehrenmedaille beantragen!«, seufzte Mila innerlich. *~#~* "Ich erwarte, dass du mich auch anfeuerst", verkündete Mila beim Frühstück am nächsten Morgen. Der gestrige Abend war ohne eine weitere Begegnung mit dem Kasachen verlaufen, da Coach Feltsman in polternden Brummtönen seinen Missmut über die unerlaubte Kollaboration ausgedrückt hatte. Das "geschmacklose" Kopftuch (Yuri hatte wie ein Dampfkessel gezischt!!) habe er genau erkannt! Überhaupt, was sollte diese Kriegsbemalung?! Die war nicht abgesprochen! Zutreffend, allerdings hatte sie Yuri auch nicht geschadet, was seine Wertung betraf. Yuri hatte sich nach seinem Auftritt eingestanden, dass sein fremdartiges, maliziöses Spiegelbild kombiniert mit der Erinnerung an Otabeks treibendes Stück Nummer 1, die seltsame Unruhe, die es auslöste, ihn aufgestachelt hatten. Die wirren Albträume, die ihm den Schlaf vergällt hatten, seine aufkeimende Panik, plötzlich von den seltsamen Zuständen vollständiger Apathie auf dem Eis überfallen zu werden, waren hinter diese Emotionen zurückgetreten. Nicht nur Victor in seiner Kür-Kostümierung war ein Zauberer, nein, Otabek verfügte über ein magisches Talent, ihn zu verwandeln! Eigentlich ein grässlicher Gedanke, denn Yuri verabscheute übertriebene Abhängigkeit. Bloß bei Otabek wäre es gar nicht mal SOOO fürchterlich. Eine Erkenntnis, die ihn erschreckte, deshalb kauerte er auch an ihrem Frühstückstisch und wagte nicht mal, sich wie Mila ungeniert am Büfett anzupirschen, um Otabek ins Gespräch zu ziehen. Er MUSSTE sich endlich sortieren, wieder Ordnung in seine Gedanken und Gefühle bringen! Unterdessen versicherte Otabek artig, er werde sich auf den Rängen einen Platz suchen, Milas Kür anzufeuern. Vorher blieb ihm ausreichend Zeit zum Training, denn die Russin würde entsprechend ihrer Wertung als Vorletzte antreten. Mila warf einen Blick quer durch den Saal und bemerkte halb amüsiert, halb verärgert, wie Yuri sich eilig aus ihrem Fokus wegduckte. "Möchtest du ihm nicht manchmal gern vors Schienbein treten?", erkundigte sie sich mit einem übertriebenen Seufzer, zupfte dann aus dem Ausschnitt ihrer Trainingsjacke das Multifunktionstuch, "hier, frisch gewaschen. Und, danke." Otabek schmunzelte minimal, verneigte sich knapp. "Danke schön. Kann ich morgen erneut mit deiner Unterstützung rechnen?" Die Russin lupfte eine bewegliche Augenbraue kritisch. "Herrje, was muss ICH tun, damit du dich um mich und meine Aufmachung bemühst?!", kokettierte sie herausfordernd. Ganz Kavalier antwortete der Kasache sanft, "ich sehe nichts, was einer Veränderung bedarf." Nun seufzte Mila vernehmlich. "Langsam glaube ich, dass Gentlemen der Gesundheit abträglich sind!", knurrte sie, "ich bin nicht abgehärtet genug gegen Komplimente." Ihr gegenüber leistete sich Otabek ein winziges Lächeln. "Und dabei habe ich bloß eine Tatsache festgestellt", neckte er leise. Die Eiskunstläuferin schnaubte undamenhaft, die Arme hochwerfend. "Schon gut, ich gebe mich geschlagen!" Leiser fügte sie hinzu, "leider ist der Coach wegen unserer Zusammenarbeit gestern etwas angefressen und hat Yuri Zimmertraining verpasst. Er darf auch nicht zum Anfeuern mitkommen." Was bedeutete, dass es schwierig werden würde, die Freunde vor Samstag noch einmal zusammenzuführen. *~#~* Yuri kauerte auf einem Hocker, bereits in seinem in verschiedenen Grüntönen gehaltenen Kostüm, die hellblonden Haare wirr, die dünnen Glieder eng angezogen, die eigenen, spitzen Knie umarmend. Wie erwartet würde er für seine Kür als letzter mit der höchsten Punktwertung aus dem Kurzprogramm aufs Eis treten. Im Umkleideraum sammelten sich die übrigen Kandidaten für höhere Weihen, dehnten sich, wärmten sich auf, schwatzen. Oder turtelten ungeniert, wie Victor und Yuuri, die immer mehr einem Ehepaar ähnelten. Der jüngere Russe zuckte aus seiner kompakten Form zusammen, als sich kräftige Hände sehr sanft auf seine knochigen Schultern legten. Im umlaufenden Spiegel blickte der Kasache besorgt, bereits umgezogen in Jeans, Hemd, das rote Tuch lässig um die Stirn geknotet, allein die Trainingsjacke störte noch. Otabek ließ seine Hände einen Moment länger auf den verkrampften Schultern ruhen, dann zog er sie langsam zurück und zupfte aus seiner Jackentasche einen grünen Stoffschal aus federleichtem Leinengewebe. Wie zwei Tage zuvor, nur dieses Mal mit hochkarätigen Zuschauenden in der Nähe, fädelte er sanft die hellblonden, etwas klebrigen Strähnen aus dem Gesicht, fasste sie zusammen, um dann mit dem Schal das Haupt zu bedecken und die langen Enden als Zipfel zu verknoten, die verspielt über Yuris Rücken tanzten. Der nicht mehr zu Boden blicken konnte und fahlbleich mit merklichen Augenringen eine fatale Erscheinung bot. Langsam die Knie senkend und die Füße absetzend entfaltete der Jüngere sich, kramte die bereits bekannte Utensilientasche seiner Teamkollegin hervor. Otabek trat um ihn herum, beugte sich dann herunter, um nach kurzer Bestandsaufnahme an sein Werk zu gehen. "Oh, darf ich ein Bild machen, ja?!" Phichit wuchs förmlich neben ihnen aus dem Linoleum, strahlte gewinnend. Bevor Yuri eine scharfe Zurechtweisung bellen konnte, antwortete der Kasache. "Bitte nicht. Das würde uns in Schwierigkeiten bringen." Der junge Thai seufzte, nickte dann aber. "Und wenn es fertig ist? Dann ja, oder? Oh, Yurio, deine Fans werden es lieben! Otabek, ich wusste gar nicht, dass du als Maskenbildner tätig bist! Oder heißt das Makeup-Artist?" Yuris Unruhe spürend strich Otabek hauchzart über Schal und Schopf. "Zu viel der Ehre. Wie wäre es unterdessen mit einem Bild von Victor und Yuuri?" Die Ablenkung funktionierte für den Moment, doch da tönte JJ bereits in die Runde. "Was denn, Prinzesschen, hattest du schlaflose Nächte und musst jetzt die Augenringe abdecken lassen?" Der Kasache verstand durchaus den unflätigen Fluch, doch bevor Handgreiflichkeiten ausbrachen, hatte sich Chris nonchalant an JJ vorbeigeschoben, verdeckte diesen völlig und lehnte sich neben Yuri an. "Tatsächlich, Phichit hat recht! Du machst deine Sache ausgezeichnet, Otabek! Wie ein Profi." "Engagier ihn doch für den nächsten Kindergeburtstag!", ätzte JJ, der sich nicht entsprechend beachtet fand und wegen des knappen Vorsprungs von Otabek ohnehin schlecht auf ihn zu sprechen war. Der Schweizer ignorierte den Kanadier jedoch selbstsicher und touchierte ein Schalende. "Echt schick, genau die Farbe von Yurios Augen getroffen! Wo hast du den her?" Otabek, der unterdessen sein Werk vollendet hatte und mit ausdrucksloser Miene bei Yuri um Geduld bat, richtete sich auf, sammelte Milas Leihgaben artig ein. "Von einem Wochenmarkt hier in der Nähe. Musste mir ein wenig die Beine vertreten." Chris seufzte. "Wenn ICH das hier mache, komme ich nicht unter zehn Tüten zurück!", gestand er selbstironisch, "Mailand ist absolutes Gift für jede Brieftasche!" Der Kasache schmunzelte, denn in eine solche Versuchung kam er mangels ausreichender Barschaft selten. Yuri studierte unterdessen sein exotisches Erscheinungsbild. Abklingende Hämatome und die dunklen Schatten um seine Augen waren perfekt getarnt. Dezent verfremdet wirkte er nun tatsächlich wie ein Wassergeist. "Sieht wirklich klasse aus!" Chris löste sich, klopfte Otabek ungezwungen auf die Schulter. "Nun, dann bringen wir uns mal in Schwung, was?" Auch die anderen konzentrierten sich nun verstärkt auf das Aufwärmen und Lockern, gingen mit Musik in den Ohren noch mal ihre Kür durch. Selbst Yuri erhob sich, begann, systematisch seine langen Glieder zu dehnen, elastisch wie eine Feder. Neben ihm absolvierte Otabek ein paar Sprünge aus der Hocke, einfache Übungen, um sich geschmeidig zu fühlen, im Anschluss. Er spürte, dass Yuri keineswegs in Bestform war, sondern vor allem mit dem Kopf nicht bei der Sache. "Wie machst du das?", hörte er ihn verstohlen wispern, "so ruhig zu sein?" Otabek dirigierte Yuri behutsam vor sich, mit dem Rücken zu den anderen, sodass er sprechen konnte, ohne allzu große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während er Yuris verspannte Schultermuskulatur massierte. "Wenn ich auf dem Eis bin, gibt es nur mich. Die Welt und ihre Ansprüche müssen warten." Yuri schnaubte unterdrückt, zweifelnd. "Hast du wieder geträumt und schlecht geschlafen?" Der jüngere Russe wrang die Hände, bog die Finger in erschreckende Winkel. "Ich kann mich nicht erinnern, aber wenn ich aufwache, bin ich voller Unruhe... und Kummer." Ihn an den Schultern behutsam zu sich drehend studierte Otabek mit tiefschwarzen Augen das exotische und dennoch vertraute Gesicht. "Auf dem Eis kannst du das nicht lösen. Aber du kannst ein Kapitel abschließen. Dann wird auch die Zeit kommen, wo du die Antworten erkennst, die du brauchst." Yuri blinzelte, zog dann eine halb spöttische, halb hilflose Grimasse. "Was denn, hast du auch bei einem Glückskeks-Bäcker gelernt?" Man hätte es als Affront auffassen können, der Kasache lächelte jedoch dezent. "...so ähnlich", gab er geheimnisvoll zurück. Vor ihm sackten die knochigen Schultern des Freundes herunter. Die zehn Zentimeter Vorsprung, bemerkte Otabek, fielen für ihn gar nicht ins Gewicht. Sie waren weiterhin "auf Augenhöhe", wenn auch nicht unbedingt in physischer Hinsicht. "Wenn es dich verfolgt, sei schneller, spring höher, schlag Haken!", raunte er Yuri aufmunternd zu. "Du sagst das, als wäre es ganz einfach!", beklagte Yuri sich murmelnd. "Das ist es auch", bekräftigte Otabek sonor, flüsterte, "du hast es doch schon mehrfach bewiesen." In diesem Augenblick ertönte wieder ein wohlklingendes Signal, dass sich die nächste Gruppe auf ihren unmittelbar bevorstehenden Einsatz vorbereiten sollte. Der Kasache wusste wohl, dass Worte nicht genügten und es wunderte ihn auch gar nicht, dass Yuris Kopf gefüllt war von den Ereignissen des letzten Monats. Hier jedoch konnte er einfach nicht mehr ausrichten, was ihm selbst missfiel. "Ich werde dir zusehen, Yuri." Der jüngere Russe nickte abgehackt, die dünnen Lippen aufeinander pressend. Otabek hob den rechten Arm angewinkelt, auffordernd, dass Yuri die Geste erwiderte, martialisch dagegen schlug, "davai, mein Freund." *~#~* Es war ein kleiner Triumph, JJ hinter sich zu lassen, aber Otabek wusste auch, dass er mit einer Medaille nicht zu rechnen hatte. Artig schüttelte er Victor die Hand, der ihn nach seiner frenetisch bejubelten Kür aus dem Spitzenreiter-Separee ablöste. Der ältere Russe nahm jedoch nicht nur seine Hand, sondern zog ihn auch in eine robuste Umarmung, sehr zur Gaudi der Fans, die Einblick nehmen konnten. "Danke, dass du Yuratschka beistehst!", hörte Otabek, dann stand er schon wieder solitär, von einem verschwörerischen Zwinkern entlassen, immerhin musste Victor nun Yuuri herzen! Die beiden hielten einander so verliebt, dass man zweifeln konnte, ob sie sich noch erinnerten, wo sie sich befanden. Otabek hörte Chris' eindringliches Räuspern, akkompagniert von einem chauvinistischen Pfiff. Das sollte wohl als Warnung reichen! Yuri befand sich bereits auf dem Eis. Man jubelte, immerhin konnte er es nun schaffen, in einer Saison alle großen Wettbewerbe als Sieger mit Gold zu gewinnen. Verblüfft registrierte der Kasache, dass sich Yuri, offenbar in Umgehung des strafenden Verbots, doch die halbfingrigen Handschuhe mit dem Schneeleoparden-Emblem übergestreift hatte. »Bitte!«, dachte er angespannt, »bitte glaub an dich!« Der Russe lief, als habe er tatsächlich Verfolger im Nacken, sei auf der Flucht, wollte einen Vorsprung herausholen! Der exotische Wassergeist, der dort zur sinfonischen Dichtung seines kasachischen Freundes in enormem Tempo dahinglitt, schlug Kapriolen, kombinierte die Sprünge, höher, schneller, präzise und zugleich elegant. Nicht einzufangen, nicht festzuhalten. Es wunderte nicht, dass Yuri heftig atmete, den Kopf in den Nacken legte und die Lippen zusammenpresste, um einen Schrei zu unterdrücken. Dann, wie ein Blitz, getrieben, huschte er über das Eis der Bande zu, keine Grußrunde, kein Winken, kein Strahlen für Kameras und Videowürfel. Noch bevor er über die Abtrennung preschte, warf er Otabek, der dort mit den Kufenschützern wartete, die Arme um den Hals. Der Kasache griff zu, spürte das ganzkörperliche Zittern, die Wärme, die durch das dünne Kostüm floh. Yuri schluchzte nicht, aber sein Nervenkostüm war deutlich ausgefranst, das konnte Otabek nicht verkennen, also hielt er den Freund fest, bis sich dessen Fassung wieder einstellte. "Du hast es geschafft, Yuri", raunte er sanft, "ich bin stolz auf dich. Das hast du gut gemacht." *~#~* Mit Ärger war zu rechnen, definitiv. Immerhin hatte die ganze Welt bezeugt, dass der alles überragende russische Eiskunstläufer Yuri Plisetsky dem kasachischen Konkurrenten um den Hals gefallen war, sich so zittrig an ihn klammerte, als würde er gleich zusammenbrechen. Die Wertungen wurden schon verkündet, da gelang es Coach Feltsman erst, Yuri grob am Arm in die Wertungsbox zu zerren, wie es sich gehörte und mit dem Verband auch vereinbart war. Der Wassergeist wirkte so klapprig, dass der ältere Mann ihn stützend unter den Ellbogen fassten musste. Kein Lächeln für die Kameras, kein Jubelschrei, kein Triumph, obwohl Yuri in dieser Saison alles gewonnen hatte, was es zu erlangen gab und damit auch Victor Nikiforov erreichte, dem ein solches Kunststück vor vier Jahren ebenfalls gelungen war. Obwohl es den Coach äußerst verdrießlich stimmte, kletterte Yuri auch bei der Siegerehrung noch in seiner Aufmachung (plus Trainingsjacke wegen der Kälte) auf das Treppchen, also geschminkt und mit dem grünen Schal als Kopfbedeckung, der dem unverantwortlichen Bengel leider viel zu gut stand! Yuuri mit Bronze und Victor mit Silber hielten um ihn herum Händchen, bei Yuris schmaler Gestalt keine große Distanz. Anschließend gab es natürlich auch noch die offizielle Verabschiedung der drei Senioren. Chris, der gelöst winkte, flirtete, lachte. Victor, der sich immer mal wieder die Augen wischte, und Yuuri, mit Brille (um nicht über all die Geschenke zu stürzen, die auf dem Eis landeten), der stolz winkte und Victors Rechte keinen Augenblick freigab. Ein feierlicher, aber kein allzu ehrfürchtiger Abschied, aus eigenem Entschluss, nicht etwa der bitteren Erkenntnis geschuldet, dass man aus körperlichen Gründen aufgeben musste. Auf der obligatorischen Pressekonferenz, die Victor natürlich als Werbemöglichkeit für ihre gemeinsamen, zukünftigen Pläne in Japan nutzte, fehlte der Goldmedaillengewinner. Coach Feltsman, der dort thronte, grimmig, grollend, verkündete, dass aufgrund der Belastungen und des Trauerfalls in der Familie dringend Erholung für seinen Eiskunstläufer angezeigt war. Was die nächste Saison bringe, werde man eben im Herbst sehen. Auch wenn sein Ingrimm über Yuris fortgesetztes Missachten seiner Anweisungen anhielt, konnte er doch nicht übersehen, dass die Prügelei mit den Eishockeyspielern einschließlich der Folgen nicht ruchbar geworden war. Trotzdem! *~#~* "Guten Morgen", Mila drückte Otabek einen raschen Kuss auf die Wange, "danke für gestern." Das Büfett war am Morgen nur spärlich besucht, weil die meisten den gestrigen Abend zu gewissen Feierlichkeiten genutzt hatten. Oder nach einer langen Saison mal über den Durst getrunken hatten. "Guten Morgen", antwortete der Kasache höflich, "und ich habe zu danken für deine Unterstützung." Sie lächelte verschmitzt. "Da waren wir wohl beide selbstlos, wie? Nur für diesen frechen Bengel!" Otabek schmunzelte verhalten, füllte wie an den Vortagen zwei Gläser mit Saft ab. "Er schläft übrigens noch. Ich konnte ihm gestern Abend gerade das Gesicht abwischen, da ist er vornüber gekippt und war weg." Unterdessen verteilte Otabek die Last auf ihren Tabletts, die Augenbrauen leicht zusammengezogen. "Ich hoffe, du hast nicht allzu große Ungelegenheit gehabt?", formulierte er bedächtig. Mila lachte leise, stupste ihn spielerisch mit der Schulter an. "Mit Gold im Handgepäck? Das relativiert so Einiges. Außerdem haben sich wohl unsere Oberen gestern gegenseitig feucht ihr Leid geklagt, sodass sie heute Morgen gar nicht ansprechbar sind." Immerhin, man konnte sich an der Hotelbar auf Russisch unterhalten und ohne Ohrenzeugen mal aussprechen, was einem von Sportlern, Medien, Funktionären und anderen so zugemutet wurde! "Und du? Großen Ärger?" Otabek, der ihr artig den Vortritt gelassen hatte, einen freien Tisch zu wählen, lächelte bloß. Natürlich hatte er sich mehrere Vorträge anhören müssen, harsch und dezidiert. Freundschaft hin oder her, wie wirkte das denn auf die anderen?! Fehlte ihm jetzt etwa der Kampfgeist?! Wie sollte man das rechtfertigen?! Es würde natürlich Sanktionen geben. Strafzahlungen für Fehlverhalten in die Verbandskasse von den Prämien, die üblicherweise an den Athleten direkt gingen. Damit war zu rechnen gewesen, doch Otabek verspürte keinerlei Verdruss oder gar Zweifel an seinen Entscheidungen. "Ich denke, er sollte mit dir reden", Mila rührte in ihrem Milchkaffee herum, "er vertraut dir. Irgendwas beschäftigt ihn, und nur weil er gestern quasi ins Schlafkoma aus Erschöpfung gefallen ist, heißt das noch nicht, dass es jetzt in Ordnung ist." Sie betonte den letzten Satz besonders energisch. "Ich weiß nicht, ob wir bis zum Bankett Gelegenheit haben, uns zu treffen", warf Otabek bedächtig ein. Wenn es wieder "Stubenarrest" hieß, wäre es wohl schwierig. Beim Bankett selbst wäre jeder ernsthafte Gesprächsversuch unmöglich, das verstand sich von selbst. "Da wird uns schon was einfallen!", verkündete die Russin kriegerisch, "ich schicke Yuratschka einfach zu dir." "Ah, so früh schon am Flirten, Mila?!", ertönte unerwartet hinter ihnen eine neckende Stimme. Sara Crispino, Milas italienische Freundin und Konkurrentin, schnalzte vernehmlich mit der Zunge. "So, wie ihr die Köpfe zusammensteckt, muss man sich fragen, ob ihr nicht bald beim Paarlauf antretet!" "Höre ich da etwa Eifersucht, oder ist es bloß Neid?", konterte Mila frech. Die Italienerin nahm an ihrem Tisch Platz und schnaubte. "Auf keinen Fall wildere ich da, wo ich esse!", stellte sie lebhaft fest, "oh nein, das bringt nur Ärger! Du wirst schon sehen, Mädchen, nur Scherereien!" Während die beiden Freundinnen sich nun kabbelten, verzehrte Otabek schweigend sein Frühstück und dachte darüber nach, welche Konsequenzen es haben würde, erneut mit Yuri Plisetsky "unerlaubt der Truppe" zu entweichen. *~#~* Der kleine "Kraftraum"-Bereich der hoteleigenen Fitnesssektion war verlassen. Maschinen warten zwischen obligatorischen (künstlichen) Grünpflanzen vergeblich auf notorische Körperoptimierende. Otabek hielt sich von den Geräten fern, auch wenn er ohne eine spezielle Einweisung ihren Gebrauch verstanden hätte, doch diese Art von Luxus gab es selten, deshalb vermied er sie aus Prinzip. Dehn- und Streckübungen, Sprünge, etwas Krafteinsatz mit Hanteln, Balance-Test. Er studierte gerade skeptisch ein Laufband mit allerlei Knöpfen, als sich jemand hastig näherte. "Tschuldige, aber ich musste was essen!" Yuri, die hellblonden Haare wirr herunterhängend, in Trainingsbekleidung mit Handtuch, sah misstrauisch um sich, ob sie tatsächlich allein waren. "Guten Morgen", Otabek lächelte zurückhaltend, "wie geht's dir?" "So lala", winkte der jüngere Russe, deutete eine Grimasse an, bevor er ernster, zerknirschter wirkte, "hör mal, gestern, das tut mir leid, ja? Ich hab nicht nachgedacht. Ich wollte dir keine Scherereien machen." Für Yuris Verhältnisse eine geradezu kniefällige Bitte um Nachsicht. Der Kasache lupfte eine wie getuscht wirkende Augenbraue. "Ich habe keinen Grund zur Klage", antwortete er mit schelmischem Humor. "Na ja, die Baba", Yuri wandte den Kopf ab, eindeutig unbehaglich, "sie nervt immer, ich solle gefälligst mal berücksichtigen, was andere mit mir für Ärger bekommen. Dabei war das echt nicht meine Absicht!", plädierte er zerknirscht. Uneingeladen, dennoch unerschrocken wischte Otabek sanft lange Strähnen aus dem blassen Gesicht, da er nicht länger mit einem Haarvorhang Konversation betreiben wollte. Die grünen Katzenaugen zeigten sich noch umschattet, aber insgesamt konnte man ohne künstliche Tarnung eine Verbesserung des Erscheinungsbildes konstatieren. "Ich bin dir nicht böse", wiederholte er nachdrücklich. Warum auch? Nur wenige konnten wirklich nachvollziehen, unter welchem Druck Yuri mit seinen letzten Reserven gelaufen war. Dass der ihm nach vollbrachter Tat um den Hals fiel, ja, das war einfach verständlich, wenn man die Fakten kannte. "Die Baba sagt, du hättest Zoff mit deinen Leuten", Yuri ließ nicht locker, "also, wenn es hilft, soll ich mich dann bei ihnen entschuldigen? Immerhin kannst du nichts dafür, dass ich..." Otabek legte den Zeigefinger behutsam auf die schmalen Lippen, was den jüngeren Russen aus dem Konzept brachte. "Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen", versicherte er. Yuri zögerte zwar, studierte ihn noch einen Augenblick länger, nickte dann schließlich minimal. Bevor er knurrte, das Handtuch von den Schultern pflückte und achtlos über einen Fahrradlenker drapierte. "Weißt du, was die italienische Hexe zu mir gesagt hat?! Dass du mit der Baba ganz schockierend herumflirtest! Was mir ja egal wäre, aber dann!!", die dünnen Augenbrauen zogen sich gewittrig zusammen, "dann sagt die dumme Pute doch, wie fies das von dir wäre, wo ich doch deine 'Farben' getragen hätte! Angeblich nämlich hätten früher Edeldamen ihren Rittern beim Turnier ein Tuch als Treuebeweis mitgegeben!" Er schäumte. "Natürlich musste diese eingebildete Sumpfralle das noch laut herumposaunen, sodass es alle hören konnten! Weiber! Bloß, weil der dämliche Seung Gil sie nicht mal mit seinem verknöcherten Arsch anschaut!" Otabek lauschte dieser Tirade erst verblüfft, dann mit Schmunzelkringeln in den Mundwinkeln. "Das ist gar nicht komisch!", fauchte Yuri ihn temperamentvoll an, "die tut gerade so, als wärst du so ein aufgeblasener Potenzhengst wie Affenarschangebervollidiot JJ!!" "Mit dem ich nun gar keine Schnittmenge habe", gab der Kasache in würdigem Ernst zurück. "Eben!! Nur, weil die Baba sich immer an dich hängt, muss ihre depperte Busenfreundin doch nicht so einen Scheiß herumquatschen!" Yuri blieb unbeirrt auf Krawallmodus. Nun konnte der ältere Eiskunstläufer sich einen neckenden Nebensatz nicht länger verkneifen. "Ich hoffe doch, dass du ihre fehlgeleiteten Mutmaßungen nicht dadurch bekräftigt hast, indem du ihr heftig widersprochen und meine Tugend beteuert hast?", schnurrte er sonor. Yuri klappte den Mund auf, eine weitere Tirade abzufeuern und schnappte getroffen-beleidigt wieder zu. Demonstrativ verschränkte er die dünnen Arme vor der mageren Brust und bot Otabek ein grimmiges Profil, die Haare schüttelnd, sodass sie den geliebten Sichtschutz bildeten. Der Kasache lachte leise. "Nun", formulierte er besänftigend, "dann danke ich dir, dass du meinen Ruf schützen wolltest und für mich in die Bresche gesprungen bist." "...hinterlistige Weiber...", murmelte Yuri im Rückzugsgefecht, in seiner trotzigen Pose verharrend. Otabek betrachtete ihn eine Weile, registrierte die steigende Unruhe. Offenbar missfiel dem jüngeren Russen die subtile Anspannung, was bedeutete, dass es ihm nicht wie sonst demonstrativ in Szene gesetzt gleichgültig war, was gewisse Personen von ihm hielten. "Konntest du wenigstens besser schlafen?", machte er folgerichtig den ersten Schritt. Yuri kannte bisher nur Konkurrenzsituationen und verfügte über wenig Erfahrungen mit Freunden, wie er wusste. Die Anspannung in der mageren Gestalt verstärkte sich, man konnte es an den knochigen Schultern ablesen, die sich instinktiv schützend hoben. "...dieses Mal schon. War ziemlich erledigt", grummelte Yuri mit noch immer abgewandtem Gesicht. Otabek wartete geduldig. "Die Baba sagt, ich soll mit dir reden", der jüngere Russe wisperte nur noch, ließ unerwartet die gekreuzten Arme heruntersinken, ballte die Fäuste, "weil Freunde sich aussprechen. Aber ich...!" Wütend biss er sich auf die dünne Lippe, was Otabek trotz des eiligen Schwungs der hellblonden Haare zwecks Tarnung bemerkte. Betont selbstherrlich griff er zu, lose Strähnen hinter die Ohrmuschel verbannend, erzwang sich so Blickkontakt. Die grünen Katzenaugen funkelten kriegerisch über diese Eigenmacht und wichen seinem tiefschwarzen Blick aus. "Du willst nicht schlecht angeschrieben sein bei mir", raunte Otabek in vertraulicher Nähe seine Vermutung in ein geneigtes Ohr. An kurzen Zucken der geballten Fäuste erkannte er den Volltreffer seiner Andeutung. "Ich weiß, dass du nicht so ein kleingeistiger Kriecher bist!", begehrte Yuri unerwartet heftig auf, packte Otabek sogar an der Trainingsjacke, "es ist bloß so, dass...!!" Wieder loderte der alte Kampfgeist in den bezwingenden Katzenaugen, dann drehte Yuri erneut den Kopf zur Seite. "Was ist so schlimm, dass du glaubst, ich würde mich von dir abwenden?", fragte Otabek leise. Yuri rang mit sich. Der Kasache hob die Arme, legte seine Hände warm über die kalten des Russen, die noch immer seine Trainingsjacke an der Front bekrallten. "... ich hab... dir nicht alles erzählt... von der Sache mit meiner Mutter." Da Yuri ihm nun das Gesicht zuwandte, aber beharrlich den Blickkontakt verweigerte, hielt Otabek einfach die verkrampften Fäuste. "Und das beschäftigt dich." "...ja..." "Bewirkt es deine Albträume?" "... auch..." Otabek löste seine Hände, doch bevor Yuri erschrocken ob dieser möglichen Zurückweisung reagieren konnte, schlang er einfach die Arme um die überschlanke Gestalt, zog den jüngeren Freund an sich. Trost, Ermunterung, Zuversicht, all das benötigte Yuri ganz offenkundig, doch hatte er nach Otabeks Einschätzung keine Erfahrung darin, solches zu erbitten. Nun, sein Umfeld unterstützte derlei Nöte auch kaum, wie er selbst wusste. Eine Weile lang hielt er Yuri in ihrer stummen Umarmung, spürte, wie die ängstliche Verspannung sich langsam löste. Natürlich, für Yuri bedeutete Körperkontakt nicht selbstverständlich etwas Positives, sondern zunächst einen unerlaubten Eingriff in seine Autonomie und selbstbestimmte Freiheit. "... wir hatten Streit. Einen... bösen Streit", wisperte Yuri schließlich, löste seine Hände von Otabeks Trainingsjacke, um die dünnen Arme um den Nacken des Kasachen zu legen. So wie am Vortag. "Als sie da stand, habe ich sie gleich erkannt. Obwohl ich keine Erinnerungen an sie habe." Yuris raue Stimme setzte die Erläuterung kaum hörbar fort. "Sie war total aufgedonnert. Warum ist sie überhaupt gekommen, die ganze Zeit hat sie sich nie blicken lassen! Und dann kritisiert sie noch alles, mit welchem Recht?! Sie hat mich angegiftet, ich hätte ja keine Ahnung! Wie streng er gewesen sei, wie herrisch! Und dass er der Mutter immer vorgeworfen habe, nur ein Mädchen bekommen zu haben. Dass er sie beide unterdrückt hätte und dass es kein Unfall gewesen sei. Dass die Mutter den Stromschlag in der Wäscherei bekommen hätte, sondern Selbstmord begangen aus Verzweiflung. Dass er mitsamt seiner versoffenen Freunde das vertuscht hätte." An seiner Schulter hörte er Yuri mühsam schlucken. "Ich hab sie angebrüllt, dass sie eine intrigante, versoffene Schlampe sei, die sich bloß rächen wolle. Dass sie ihre Lügen für sich behalten soll, sonst bekäme sie von mir die angeblichen Prügel. Sie hat gekeift, dass ich genauso ein arroganter Scheißkerl wie der Vater sei, ein Frauenhasser und Pharisäer. Also hab ich zurückgebrüllt, dass sie keinen Deut besser sei, die Beine breit zu machen für einen miesen Gangster, der mit Schwarzgeld um sich wirft." Otabek unterdrückte entschlossen jede merkliche Reaktion. "Ich weiß, dass das nicht schlau war!", fauchte Yuri an seiner Schulter, "auch ziemlich mies! Aber-aber ich war so wütend! Warum muss sie alles kaputt machen?!" Er atmete tief durch, ein rasselndes Geräusch in der Kehle verursachend. "Ich hab ihr auch gesagt, dass sie mich gefälligst für volljährig erklären lassen soll, dann müssten wir nie wieder was miteinander zu tun haben. Sie bräuchte gar nicht spekulieren, dass ich mich freikaufen würde, weil ich schon alles ausgegeben hätte." Das war, von einer gewissen Warte her, eine durchaus verständliche Kurzschlussreaktion. Unglückseligerweise allerdings nicht besonders vorausschauend. Der Kasache löste einen Arm und streichelte sanft über das verspannte Rückgrat seines jüngeren Freundes. "Sie hat natürlich erst recht, um sich zu rächen, alles abgelehnt. Nur als ihr klar wurde, dass sie dann für mich zahlen muss, hat sie eingelenkt und den Coach reingezogen." Yuri schnaubte matt. "Weißt du, als Trainer und Sportler war zwischen uns alles klar. Aber jetzt...! Ich brauche keinen Familienersatz, keine Aufsichtsperson! Jetzt ist alles viel schwieriger, das Gerede, der Umgang, einfach alles!" Für eine Weile schwieg Yuri nun, ließ sich halten. Aber die Anspannung verriet, dass er sich noch nicht alles von der Seele geredet hatte. "Ich wollte das nicht erzählen", wisperte er schließlich, "ich will nicht, dass die anderen schlecht von Großvater denken, dass sie blöde Scherze machen, über meine Mutter und den Typen, mit dem sie sich damals eingelassen hat." Otabek kraulte sehr behutsam den zerbrechlich anmutenden Nacken unter den hellblonden Strähnen. "Aber ich bekomme das nicht aus meinem Kopf", bekannte Yuri kläglich, "wir haben nie über das davor gesprochen, über sie oder die Großmutter. Es gab nur uns. Er hat sich um mich gekümmert. Er hat immer für mich die besten Piroshki der Welt gemacht! Das hätte er doch nicht nur, weil ich ein Junge bin! Oder weil er was gutzumachen hatte, richtig?! Oder?!" Aber Yuris gequälter Ausruf galt nicht dem Freund, sondern sich selbst. Allein, die aufgeworfenen Zweifel ließen sich nicht einfach ersticken. "Wen kann ich fragen, was stimmt? Wie soll ich jetzt noch die Wahrheit herausfinden?! Warum-warum musste sie alles kaputt machen?!" Yuri entließ einen gepeinigten Schluchzer, rollte sich förmlich an Otabeks Gestalt ein. Der hielt den schlanken Jugendlichen wie ein Fels in der Brandung, ohne Weichen, ohne Zaudern. Tatsächlich, eine vertrackte Situation. Kein Wunder, dass Yuri mit der ganzen Lage überfordert war, rechnete man auch noch die täglichen Eifersüchteleien und Querelen im Wohnheim dazu! Da grenzte es schon an ein Wunder, wie wacker er trotzdem um den Weltmeistertitel hier gekämpft hatte. "Was kann man tun?", raunte Otabek schließlich sanft. Gab es überhaupt etwas zu tun? "Ich schätze, ich sollte alles abhaken und das Jahr schnell hinter mich bringen, bis ich volljährig bin", grummelte Yuri bitter, "aber irgendwie ist bei mir einfach noch nicht der Groschen gefallen." "Dann ist die Zeit dafür noch nicht reif", antwortete Otabek. An seiner Schulter seufzte Yuri betont. "Ehrlich, bist du irgendwann auch mal nicht so souverän?!" "Häufig", versicherte der Kasache prompt. "Nur wirkt das auf andere oft nicht so", ergänzte er verschmitzt. In ihrer Umarmung schnaubte der jüngere Russe, lachte dann aber leise, noch ein wenig aufgeraut. Er schob sich leicht zurück, um in die tiefschwarzen Augen blicken zu können. "Was würdest du an meiner Stelle tun?" Otabek löste ihre Umarmung und sprang ein paar Mal auf der Stelle. Yuri lupfte trotz Haarvorhang merklich eine Augenbraue. "Zunächst", der Kasache streifte seine Trainingsjacke ab, "den Kreislauf in Schwung bringen, damit das Blut ordentlich im Hirn zirkuliert!" Er tippte sich an die Schläfe. Mit einer Grimasse folgte der jüngere Russe seinem Beispiel, dehnte und streckte dann die überlangen Glieder. "Dann", Otabek ließ die breiten Schultern kreisen, "frage ich mich, ob die Möglichkeit besteht, dass sie die Wahrheit gesprochen hat." Yuri schenkte ihm einen gequälten Blick, bevor er ebenfalls die Arme ausschleuderte. "Kein Mensch ist ein Heiliger. Ohne Fehler, ohne Makel, ohne Irrtümer." Der Kasache absolvierte einige Liegestütze. "Also würde ich mich fragen, ob ich dennoch ein positives, ein liebevolles Andenken wahren kann." Neben ihm folgte Yuri seinem Beispiel, wischte dann ärgerlich die losen Strähnen, die auf dem Boden tanzten, in den Nacken, wickelte sich aus der eigenen Trainingsjacke, um sie neben Otabeks zu deponieren. "Mit der Zeit werden die guten Erinnerungen überwiegen. Also stelle ich mir die Frage, wer ich von jetzt ab sein will." Im Spagat, sich nach allen Seiten ablegend, ließ Yuri gewisse Zeit verstreichen, bis er wieder Blickkontakt suchte und andeutungsweise nickte. Otabek ging neben ihm in die Hocke, kämmte zärtlich hellblonde Strähnen aus dem bleichen Gesicht. "Ich würde mir vornehmen, ganz ich selbst zu sein", ergänzte er lächelnd, "nicht der Sohn oder der Enkel von. Eine ganz eigene Mischung, ein Selbst, dem ich stets im Spiegel begegnen kann, ohne mich abwenden zu müssen." Die grünen Katzenaugen blitzten, dann entzog sich Yuri seinem Fokus, knurrte. "Leicht gesagt, wenn man nicht der 'Fehler' einer dummen Schlampe und eines miesen Gangsters ist!", flüsterte er verbittert. Die Finger unter das spitze Kinn schiebend verlangte Otabek Blickkontakt. "Ich meine, du bist Yuri Plisetsky. Eiskunstläufer. Titelträger. Mein Freund. Ist das nicht bedeutender? Viel wichtiger als der kurze Anfang?" Der jüngere Russe grimassierte, seufzte dann kläglich. "Du kannst mir wohl nicht ein bisschen von deiner Selbstgewissheit borgen?", brummelte er halb scherzhaft, halb unglücklich. "Das muss ich gar nicht", versöhnlich tippte der Kasache ihm auf die Nasenspitze, "du weißt selbst, wer du bist, mein Freund. Vertrau auf dich. Glaub an dich." Er federte hoch, streckte Yuri die Hand hin. Dieser ließ sich tatsächlich auch auf die Beine ziehen. "Danke", murmelte er verlegen, "wirklich, danke. Dass du dir all diesen Mist angehört hast und trotzdem noch hier bist." Otabek, der ihm seine Trainingsjacke reichte, studierte ihn einen längeren Moment sehr ernst. "Ich bin dein Freund, Yuri. Du kannst auf mich zählen. Wir vertrauen einander." Für Otabek eine schlichte Tatsache. Yuri wagte ein scheues Lächeln, strich sich verlegen durch die hellblonden Ponyfransen, die erneut sein Gesicht invahierten, auf ihren gewohnten Platz als Visier beharrten. "Danke." "Gern geschehen." "Und jetzt?" "Jetzt müssen wir uns wohl langsam für das Bankett umziehen", Otabek ließ die eigene Trainingsjacke locker über die Schultern hängen. "Bah, das wird wahrscheinlich ganz unerträglich mit dem Abschiedsgeheul für den alten Sack, Katsudon und Chris!" Otabek schmunzelte. "Übrigens", Yuri schlüpfte wieder in die gewohnte Pose des aggressiven Widerborsts, "ich bin KEIN Weiberhasser! Es wäre bloß alles leichter, wenn sie sich mehr wie Jungs verhalten würden, weißt du?" »DAS«, dachte Otabek, während er mannhaft ein Auflachen unterdrückte, »ist wieder DER Yuri, mit dem wir alle rechnen.« Auch wenn er es sehr zu schätzen wusste, einen intimen Blick hinter die Maske werfen zu dürfen. *~#~* Erwartungsgemäß drehte sich beim Bankett alles um den Abschied der drei Senioren, wobei Yuuri Katsuki gar nicht so lange zu den prägenden Eiskunstläufern der Elite gehört hatte. Andererseits konnte man nicht ignorieren, dass der Spätzünder eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen hatte und eben unzertrennlich an Victor Nikiforovs Seite auftrat, wobei der legendäre Champion die Aufgabe des Klammeräffchens übernahm. Otabek wusste, dass Zurückhaltung und Demut angezeigt waren, wollte er sich nicht erneut erheblicher Kritik aussetzen. Glücklicherweise hatten die Nachwirkungen des feuchten Austausches mit der russischen Betreuungsmannschaft lang genug angehalten, um seinen Besuch des Trainingsraums im Hotel nicht anzweifeln zu lassen. Auch Yuri, der sich eigentlich bester Laune zeigen musste, immerhin hatte er wie auch Mila für das Team jeweils Gold geholt, blieb hinter dem obligatorischen Pony nahezu verborgen, zupfte nur hin und wieder an seinem Anzug herum, der so wirkte, als habe er ihn auch auf der Beerdigung des geliebten Großvaters schon getragen. Das leicht staubige Schwarz zu einem weißen Hemd mit schwarzer Krawatte ließ ihn nur noch bleicher und dünner wirken. Die Stimmungskanonen jedenfalls waren definitiv woanders zu verorten. Phichit glänzte als Entertainer, lieferte sich Stichworte mit dem bestens gelaunten Victor, der seinerseits von Chris immer mal wieder gekontert wurde. Um dieses Epizentrum tummelten sich vor allem die Jüngeren, viele von ihnen bekennende Victor-Fans, die ähnlich wie sein Lebensgefährte von seiner Ausstrahlung und Karriere aufs Eis gelockt worden waren. JJ, der King, der bisher nicht seinen eigenen, sehr hohen Erwartungen gerecht worden war, scharte eine eigene Truppe an Verehrenden und Fans um sich, nicht nur weibliche. Sein Engagement, aus den ausgetretenen Pfaden herauszukommen, neue, andere Wege beschreiten zu wollen, sich als Sportler zu emanzipieren, durchaus auch mit Verweis auf die Zuschauenden, fand ein Echo, das den Funktionären nicht unbedingt gefiel. Andererseits gab es hier auch Fraktionen, die einer moderaten Erneuerung nicht abgeneigt waren, während andere sich wiederum darüber ärgerten, dass der künstlerische Ausdruck immer stärker zurückgedrängt wurde durch die Rekordjagd nach noch mehr Sprüngen mit noch mehr Umdrehungen. Nun, dies war der letzte Tag der alten Saison. Ab dem nächsten begann die neue Saison, zwar ohne Olympia, jedoch mit der Universiade. Ein anderer Sprungstil stand im besonderen Fokus, neue Konkurrenz strengte sich an, in die Elite aufgenommen zu werden. Eine ganz neue Zeitrechnung, wie die Fachmagazine einhellig titelten. Die Welt nach Victor Nikiforov. *~#~* Kapitel 8 - Exil in Almaty Für Otabek Altin unterschied sich der Beginn der Saison 2018/2019 nicht von den Anläufen anderer davor. Zunächst mal hieß es nämlich nach der zügigen Abreise den Jetlag überwinden, verschobene Studienaufgaben nachzuholen und gleichzeitig schon daran zu tüfteln, wie sein neues Programm aussehen sollte. Als Titelverteidiger der letzten Universiade und weiterhin aktiv studierend musste er sich entsprechend ausrichten, um in Russland auftrumpfen zu können. Dabei sollte ihm zupass kommen, wie man nicht müde wurde, ihn streng zu ermahnen, dass der russische Champion, den er doch bitte schön nicht wie ein Grünschnabel ständig umwerben solle, noch Schüler sein würde und deshalb nicht dort an den Start gehen könne. Der Kasache verhielt sich gewohnt diplomatisch, denn offener Protest führte selten zum Erfolg. Auch wenn er nicht die geringste Absicht hatte, den Kontakt zu Yuri Plisetsky abreißen zu lassen. Er konnte den Druck, unter dem auch seine Betreuer litten, durchaus nachvollziehen, auch den starken Wunsch, gegen den übermächtigen Nachbarn immer mal wieder anzutreten und zu gewinnen. Die Erfahrungen seiner Auslandsjahre, seine Jugend, die sich gänzlich nach der Unabhängigkeit abgespielt hatte, hinderten ihn jedoch auch nicht daran, sich ein etwas anderes Herangehen zu wünschen. Auch wenn es utopisch schien, wollte er in erster Linie den Sportler, den Altersgenossen sehen, nicht die Nationalität, die damit verbundene Geschichte sowie wirtschaftliche Verflechtungen und Einflusssphären. Aber er war auch Realist genug, nicht in Konfrontationen zu laufen, die keine Seite gewinnen konnte. Ein spezielles Thema für die anlaufende Saison hatte sich ihm noch nicht präsentiert, er übte jedoch fleißig Sprungsequenzen und Schrittfolgen. Wenn er die zündende Idee fand, würde er auch "seine" Musik hören und ihr entsprechend Kür und vielleicht sogar Kurzprogramm choreographieren! Wenig anders sollte es auch Yuri in St. Petersburg gehen, hoffte er zumindest. In dieser Hinsicht jedoch stellten sich rasch Ernüchterung und dann Sorge ein. Nachdem die äußeren Anzeichen der Auseinandersetzung mit den Eishockeyspielern verheilt waren, wurde selbstverständlich erwartet, dass der unübertroffene Championder Saison für allerlei werbewirksame Auftritte zur Verfügung stand. Mit Victor Nikiforov wäre das kein Problem gewesen, auch wenn der sich durch ein sehr feines, teures Näschen auszeichnete. Yuri Plisetsky jedoch war ein ganz anderes Kaliber. Grundsätzlich lächelte er nicht in irgendwelche Kameras. Bei Interviews antwortete er knapp, verweigerte Auskünfte zu seinem Privatleben und flirtete kein bisschen mit dem Publikum! Er wollte weder die vergangene Saison kommentieren, noch Modetrends, Musikstile, angesagte Bands oder Filmsternchen. Bei den obligatorischen Treffen mit Funktionären, Politikern und anderen Granden der Gesellschaft funkelte er frostig in die jeweilige Linse. Er war nicht wirklich ungezogen, nein, so weit konnte man nicht gehen, aber verschlossen, distanziert und ohne jeden Anflug von Humor oder Charme. Wie bereits von ihm selbst befürchtet, lief es auch innerhalb des Wohnheims keineswegs besser. Er blieb für sich, konzentrierte sich nur auf sein Training, absolvierte ohne Begeisterung die aufgestauten Schulaufgaben und Prüfungen, hielt sich von den meisten anderen jedoch fern. Eben ein arroganter, aufgeblasener Arsch! Davon erfuhr Otabek in der Regel durch die Korrespondenz mit Mila, die weniger häufig "Computerverbot" als Sanktion zu fürchten hatte und sich um Yuri sorgte, der nicht im geringsten Maße entgegenkommend, gefällig agierte. Allein ihm vertraute der jüngere Russe jedoch an, dass hinter seinem scheinbar bockigen, kurzsichtigen Verhalten durchaus eine gewisse Intention steckte. Wirkte er nur abweisend, ja, abschreckend genug, würde man ihn nicht für Dinge einspannen wollen, die er verabscheute. Dann käme auch niemand auf die Idee, diese Vorhaben zu forcieren, jetzt, wo man nicht umständlich erst das Einverständnis des Großvaters einholen musste, sondern schlicht den Coach entsprechend unter Druck setzen konnte. *~#~* [Hi, entschuldige, dass ich mich so spät melde! Wir stecken in Schwierigkeiten. Y. hat bei Werbeaufnahmen Ärger bekommen. Der andere macht deshalb Zirkus. Total dicke Luft. Im Stadion sind bezahlte Schläger aufgetaucht. Echt übel. Bitte melde dich. Mila] [Schlag C. vor, Y. soll hier ein Semester verbringen. Habe vorgefühlt, Kooperation wird unterstützt. Kann jederzeit hier eintreffen. Verband wird Kontakt aufnehmen.] *~#~* Otabek atmete tief durch, während er die Anflugtafel beobachtete. Er hatte all sein diplomatisches Geschick aufgeboten, die Funktionäre zu überzeugen, den amtierenden Champion zu einem Trainingssemester nach Kasachstan einzuladen. Man konnte sich mit dem Renommee schmücken, dass ein Weltmeister hier trainierte, somit die Ansprüche auf höchstem Niveau erfüllt wurden! Nicht zu verachten, wenn man sich um weitere Wettbewerbe verdient machen wollte! Außerdem würde es keine Sprachbarrieren geben, man könne auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit verweisen, den offenen Austausch! Dazu gäbe es Einiges zu lernen, denn aus nächster Nähe sahen die wenigsten einen Titelträger beim Training, dazu noch einen russischen, die in den letzten beiden Saisons so abgeschottet gearbeitet hatten! Weiterhin wäre es doch kein Problem, das eigene Zimmer im Studentenwohnheim mit dem jüngeren Russen zu teilen! Der könne seine Prüfungen an einer der russischen Schulen ablegen, zudem ließe sich ja heute alles über das Internet versenden! Man müsse die Chance nutzen, die sich biete! Glücklicherweise hatte sich die Kontroverse noch nicht herumgesprochen, von der Otabek nur andeutungsweise erfahren hatte. Mit Yuri stand er nicht im Austausch, der erneut Strafmaßnahmen zu erdulden hatte. Endlich erschien die Ankündigung des Landeanflugs auf der Tafel. Äußerlich stoisch, innerlich jedoch aufgewühlt erwartete er den Freund, der zunächst noch am Zoll vorbei musste, was einige Zeit in Anspruch nahm, da auch noch das Gepäck inspiziert wurde, die Schlittschuhe zu erklären waren. Man konnte nur hoffen, dass Yuri sich in Geduld übte! Endlich, als einer der letzten aus dem Linienflug, tauchte der junge Russe auf. Eine verspiegelte Sonnenbrille und der grüne Schal verdeckten das Gesicht, die geliebte Weste mit der Kapuze im Schneetigerstil verbarg die hellblonden Haare. Der Tarnflecken-Parka schlotterte um magere Schultern, die schwarzen Trainingshosen flatterten, lediglich die geschnürten Arbeitsstiefel schienen die zarte, hochgewachsene Gestalt zu erden. Yuri zerrte einen bockenden Rollkoffer mit Leopardenmusterdruck hinter sich her, dazu den Rucksack und die Trainingstasche mit den Schlittschuhen. "Willkommen, mein Freund", artig streckte Otabek die Rechte aus, lächelte verhalten. Die Trainingstasche absetzend zupfte Yuri mit der Rechten den Schal unter sein Kinn, lupfte die verspiegelte Brille vom Nasenrücken und verstaute sie in einer der Parka-Taschen. Das bleiche Gesicht wirkte eingefallen, die grünen Katzenaugen funkelten misstrauisch aus den Augenringen, um die dünnen Lippen kräuselte sich trockene Haut. Die Hand, mit den geliebten, halbfingrigen Handschuhen geschmückt, fühlte sich in Otabeks warmer eiskalt an. "Ich weiß, ich seh beschissen aus!", krächzte der junge Russe rau, "aber danke, dass du mir mal wieder den Arsch rettest. Im wahrsten Sinne des Wortes", ergänzte er bitter. Otabek zog die wie getuscht wirkenden, schwarzen Augenbrauen zusammen. Er konnte diese Anspielung nicht einordnen, was seinem Freund keineswegs entging. "Ich erzähl's dir später", die mageren Schultern sackten herab, verabschiedeten die trotzig-abweisende Pose, "wo müssen wir lang?" Mit einem knappen Nicken pflichtete Otabek dem Vorschlag bei, nahm sich ungefragt der Trainingstasche an und ging voraus. Weit mussten sie nicht laufen, denn er hatte sein Motorrad in der Nähe, jedoch außerhalb des Flughafengeländes abgestellt. Er löste Ketten und Sperren, verteilte dann strategisch Yuris Gepäck mit Spanngurten, wie man sie für Lkw benutzte. Der studierte noch immer durchaus verblüfft das Gefährt. Es wirkte wie eines der schweren Motorräder für Langstrecken, beinahe bullig, doch der Radstand war höher, wie bei einem Geländemotorrad, eine seltsame Konstruktion, dazu noch in mattem Schwarz gehalten, ohne große Verzierungen oder gar Chromdekor. Otabek, der einen zweiten Helm weiterreichte, schmunzelte dezent. Sein Gefährt löste nicht zum ersten Mal Erstaunen aus. Dabei war der originelle Charakter kein Selbstzweck, sondern schlicht den Möglichkeiten (finanziell, technisch) und dem Einsatz geschuldet. "Ich wette, die Mädchen reißen sich darum, mit dir zu fahren", murmelte Yuri schließlich, den Helm justierend und den Hüftgurt seines Rucksacks festzurrend. "Das täten sie vielleicht, wenn es eine deutsche Luxuslimousine wäre", konterte Otabek amüsiert. Sein Motorrad fiel eher in die Kategorie "Arbeitsfahrzeug" und war keinesfalls geeignet, junge Damen in zarten Kleidern zu transportieren. "Dumme Puten!", knurrte Yuri bloß durch sein grünes Schaltuch, stieg artig hinter Otabek auf den Sozius, der als solcher kaum zu erkennen war. Der Kasache versicherte sich, dass sein Freund richtig saß, die Arbeitsstiefel auf den Rasten Platz hatten, dann legte er kurz die Rechte auf Yuris Hände, die seine Körpermitte umklammerten. Durch die halbfingrigen Handschuhe spürte er die Kälte und fragte sich besorgt, ob der jüngere Russe überhaupt noch genug Gefühl in ihnen hatte, um sich richtig festzuhalten. Nun, er würde ohnehin gemächlich fahren, nicht den Hauptverkehr suchen, wo Regeln zwar bekannt, aber eher als optional eingeschätzt wurden, wenn man sich im Recht (und mit entsprechendem Einfluss) wähnte. *~#~* Als sie langsam vor dem mehrgeschossigen Studentenwohnheim einbogen, bot sich ein gewohntes Bild: man saß in kleinen, lockeren Grüppchen herum, schwatzte, rauchte oder tippte auf Smartphones herum. Otabek lenkte sicher im Schritttempo sein beladenes Motorrad zu einem abgeteilten Platz, wo sich andere, sehr unterschiedliche Maschinen bereits tummelten. Hinter ihm kletterte Yuri gelenkig herunter, löste den Helm und streckte die Glieder. "Boah, ich bin ganz verspannt vom Flug!", kommentierte er, aber der Kasache vermutete zutreffend, dass auch ein gewisser Grad an Nervosität diese Verkrampfungen verursachte. Yuris Gepäck aus den Haltegurten lösend sicherte er sein Motorrad mehrfach, bevor er beide Helme und die Spanngurte übernahm, dazu auch Yuris Trainingstasche. "Melden wir dich erst mal an und stellen dein Gepäck ab. Dann führe ich dich herum", schlug er vor. Der jüngere Russe nickte, zupfte mit der freien Hand die Kapuze von seinem hellblonden Schopf. Hinten hielt ein lockerer Zopf im Nacken die Strähnen jenseits der Ohr-Demarkationslinie, vorne schirmte wie gewohnt ein überlangener Pony jeden Einblick ab. Das Studentenwohnheim verfügte über nur wenige Sozialräume, dafür ein Team, das für Ruhe und Ordnung sorgte und darauf achtete, dass kein weibliches Wesen die Schwelle übertrat, um unziemliche Techtelmechtel zu verhindern. Otabek stellte Yuri überall vor, erläuterte ihm auf ihrem Weg nach oben durch das außen liegende Treppenhaus, wo sich was befand und wie die Hausregeln lauteten. Unter anderem, als er seine Zimmertür aufschloss, dass es nur einen Schlüssel gab, weil er den Luxus eines Einzelzimmers genoss. Dass sich leider kein Doppelbett gefunden hatte, weshalb sie sich mit vier Backsteinen, einem Lattenrost und einer zweiten Matratze begnügen mussten. Besagter Lattenrost lehnte gerade aufrecht vor dem Fenster, die Matratzen stapelten sich auf dem einfachen Bett unter dem sorgsam gefalteten Bettzeug. Außer einem offenen Regal gab es kein weiteres Mobiliar in dem ohnehin sehr schmalen Raum. "Ich hätte vielleicht erwähnen sollen, dass mein Zimmer eher karg ist", Otabek platzierte Yuris Trainingstasche mit den Schlittschuhen neben die eigene, "wir können auch eine andere Unterbringung organisieren." Yuri streifte sich den Rucksack vom Rücken, versetzte seinem bockenden Rollkoffer einen leichten Tritt. "Nein, das ist in Ordnung. Bin ja nicht hier als Kritiker von 'Schöner Wohnen'!", knurrte er. Otabek unterdrückte ein Schmunzeln. Zumindest seinen galligen Humor hatte Yuri noch nicht eingebüßt. "Willst du dich erst frischmachen, oder sollen wir gleich die Runde absolvieren und uns danach unterhalten?" "Ziehen wir lieber gleich los!", Yuri seufzte grimmig, "solange ich noch mein Sonntagslächeln aufsetzen kann." Der Kasache ließ seinem jüngeren Freund den Vortritt und wisperte schelmisch im Türsturz, "so was hast du? Tatsächlich?" Ein spitzer Ellenbogen rammte recht kräftig seine Rippen, aber er hörte auch das leise Fauchen, das ein Auflachen tarnen sollte. *~#~* Auch wenn es vielleicht nicht danach aussah, denn Almaty war eine internationale Großstadt, Russisch mit entsprechenden Schriftzeichen amtlich vorgesehen, so galt es doch, gewisse kulturelle Eigenheiten zu beachten, deshalb stellte Otabek den russischen Gaststudenten Yuri Plisetsky überall vor, mit Erläuterung, ließ ihn zahlreiche Hände schütteln und auch einige Begleitdokumente präsentieren. St. Petersburg war sehr weit weg, manche Erinnerung aber noch sehr nahe. Nachdem sie fast eine ganze Stunde mit der Einführung in Yuris neues "Studentenleben" verbracht hatten, rührte Otabek Pulver in zwei Porzellantassen und schenkte heißes Wasser aus einer Thermoskanne ein. Essen war auf den Zimmern nicht erlaubt, aber es gab auf jedem Geschoss einen gewaltigen Heißwasserboiler, an dem man sich Wasser abzapfen konnte. Er reichte Yuri, der sich auf dem Bett niedergelassen hatte, eine Tasse. "Ist das Kaffee?", der jüngere Russe schnupperte argwöhnisch. "Kein Bohnenkaffee", lächelte Otabek dezent, "der ist hier zu teuer. Eine Mischung aus geröstetem Getreide und Wurzeln. Enthält kein Koffein." Yuri wagte einen Schluck, schien zufrieden mit dem Geschmack. "Wir sollten Babas italienischer Busenfreundin etwas davon schicken!", schlug er gehässig vor, "als Dank für ihre blöden Sprüche! Kaffee-Terroristin!" Neben ihm schmunzelte Otabek, der sich ebenfalls an den lebhaften Vortrag zum einzig wahren Kaffee erinnerte, auch an Yuris profunde Verärgerung über die behaupteten Flirts mit Mila Babicheva. Sie nippten eine Weile schweigend, während durch die dünnen Wände rechts und links Gelächter und Fetzen von Unterhaltungen drangen, aber Yuri war durchaus entsprechende Hellhörigkeit gewohnt. "Also", der ältere Kasache zog ein Bein an, richtete sich mit dem gesamten Körper auf Yuri aus, "was ist passiert?" Dieser schnaubte verächtlich, senkte den Kopf leicht, sodass sein Gesicht vollständig hinter den langen, hellblonden Haaren verborgen wurde. "Tja, beinahe alles. Ich wusste ja, dass es schiefgeht! Aber nein...!!" Otabek streckte die Linke aus, um ungeniert den Ponyvorhang zu teilen, hinter je ein Ohr zu verbannen. Die grünen Katzenaugen funkelten herausfordernd, man konnte förmlich die ausgefahrenen Krallen, das gesträubte Fell sehen. Trotzdem attackierte der russische Eistiger nicht, weil die tiefschwarzen Augen besorgt, ernst, aufmerksam blickten. Ohne Vorverurteilung. "Schön!", knurrte Yuri folgerichtig, den Kopf abwendend, wenn schon der gewohnte Sichtschutz nicht gestattet wurde. "Also, ich wurde von einem Scheiß-Termin zum nächsten gereicht, der ganze offizielle Klimbim, dann auch noch der bezahlte Mist, Sponsoring-Zeug. Der Verband braucht schließlich Geld, das Wohnheim könnte auch mal ne Renovierung vertragen, blabla. Ich musste auch in einen Nachtclub, als 'Setting' für Schmuck, Juwelen, Glitzerkram, so Zeug. Die haben sich in das Kostüm vom alten Sack vernarrt, was ich für 'Agape' tragen musste. Ich musste so ein Glitzerding mit durchscheinendem Stoff tragen, posieren, all der Quatsch, dazu garniert noch ein paar dürre Modells, obenrum ausgestopft, gruselig. Im Hintergrund lümmelte so ein schmieriger Typ herum. Du erkennst die Sorte gleich, schmutziges Geld, davon jede Menge, aufgepumpt, aber keine Kultur, ein Maul am Kopp und dauernd herumpöbelnd." Yuri zog eine Grimasse des Abscheus. "Na, jedenfalls machte der Arsch dauernd anzügliche Bemerkungen. Ging ihm wohl nicht schnell genug, die Knipserei. 'Seid ihr bald durch, dass ich die blonde Pussy ficken kann?!'", zitierte der Russe angewidert. "Da ich nun mal die einzige 'Blondine' im Raum war, ist mir der Kragen geplatzt, weil er auch dauernd seine Kronjuwelen durchgezählt hat!" Er schnaubte. "Also habe ich geantwortet, dass der Arschficker sich im Lokus einen runterholen soll." Ein Seitenblick streifte Otabek, durchaus unbehaglich. Zweifelsfrei war es kein Umgangston, den der Kasache gewohnt war oder jemals pflegen würde. Die Haare ausschüttelnd, um sich zu tarnen, zog Yuri die Schultern hoch. "Ja, ich weiß, das war mal wieder gar nicht schlau! Die mussten den Typen aus dem Club schaffen, damit er mir 'nicht mal richtig die Furche pflügt'. Später hieß es dann, irgendwie sei seine Medikation durcheinander geraten. Sollte ja bloß nicht das Gerücht aufkommen, dass der Drecksack auf Jungs steht! Der Verband gab sich damit zufrieden, während ich mir mal wieder einen Vortrag über meine Ausdrucksweise und mein Auftreten anhören musste, aber damit war es natürlich nicht erledigt, weil Gerüchte herumgingen über die Fotosession. Also hat der Arsch Schlägertrupps angeheuert, die mir am Stadion auflauern sollten. Da wurde es dem Coach dann zu bunt. Die anderen Eislaufenden bekamen es auch mit der Angst zu tun, die Polizei kannst du vergessen, also..." Er wischte sich durch die hellblonden Ponysträhnen. "Der alte Sack hat mir angeboten, nach Japan zu kommen, bei ihm zu trainieren, aber Yakov hat das abgelehnt. Geht ja gar nicht, dass die Champions mit fliegenden Fahnen aus St. Petersburg abhauen, das schadet unserem Renommee! Na, ich hätte jetzt auch keine große Lust gehabt, bei den beiden Turteltauben das dritte Rad am Wagen abzugeben." Nun wandte sich Yuri seinem älteren Freund direkt zu, klemmte selbst die langen Haare hinter die Ohren. "Ehrlich, ich bin froh, dass du das Angebot gemacht hast! Aber ich wollte dir wirklich nicht neuen Ärger einbrocken nach dem ganzen Gefasel über Mailand und meine Aktion da!" Was eindeutig auf seine Umarmung nach der weltmeisterlichen Kür bezogen war. Langsam erschien ein Lächeln auf Otabeks Gesicht. "Danke, dass du mir alles erzählt hast. Ich freue mich, dass du hier bist", er zwinkerte, "außerdem bereitest du mir keine Schwierigkeiten. Mach dir darüber also keine Gedanken, ja?" Sofort stellte sich das Fell auf. "Von wegen! Ich krieg schon mit, dass du in den Senkel gestellt wirst, weil ich mich nicht im Griff habe! Weil wir ja Konkurrenten sein müssen! Aber ich will das nicht! Und ich wäre ja ein schöner Freund, wenn ich...!" Otabek stoppte den Ausbruch mit einem Zeigefinger auf Yuris dünne Lippen, während er selbst den anderen Zeigefinger an die eigenen Lippen legte, um auf die Lautstärke hinzuweisen. Grimmig grün funkelnd aus den Katzenaugen ergänzte Yuri sehr viel gedämpfter, "wenn ich das nicht berücksichtigen würde." Der Kasache tippte mit der geballten Faust sanft gegen Yuris spitzes Kinn. "Jetzt sind wir beide hier und können gemeinsam die nächste Saison angehen." Ihm gegenüber nickte Yuri entschlossen, ein feuriges Lächeln auf den blassen Zügen. "Sorgen wir dafür, dass sie sich nass machen!" *~#~* Die ersten Tage gingen sie beide vorsichtig miteinander um, denn es war eine Weile her, dass sie sich ein Zimmer, und besonders ein so kleines, teilen mussten. Es kam ihnen jedoch entgegen, dass sie beide ordentlich waren, wenig Habseligkeiten verstreuen konnten und im Alltag pragmatische Lösungen vorzogen. Trainingsklamotten wurden im Waschraum angefeuchtet, dann spannte man eben Leinen quer durchs Zimmer! Tagsüber wurde der zweite Lattenrost hochgeklappt, da störte er auch nicht. Yuri verzehrte ohne Murren die "Sportkost", die Otabek in der Mensa serviert wurde, regelmäßig eine Art Getreidebrei, Brot, eingemachtes Obst oder Beeren, viel Gemüse, Reis oder Nudeln. Fleisch gab es selten, das war teuer, außerdem musste es ja für alle Studenten reichen! Wenn Otabek Vorlesungen besuchte, nahm Yuri neben ihm Platz, arbeitete gewissenhaft die schriftlichen Aufgaben ab, die dann eingescannt, komprimiert und nach St. Petersburg verschickt wurden. Der Lernstoff war bekannt, auf mündliche Prüfungen legte man keinen besonderen Wert. Die größte Zeitspanne verbrachten sie jedoch beim gemeinsamen Training. Otabek war angenehm davon eingenommen, wie gelassen und sachlich Yuri blieb, keine schneidenden Bemerkungen fallen ließ über die Qualität der Betreuung. Im Gegenteil, der jüngere Russe erklärte geduldig, warum welche Übungen durchgeführt wurden, mit welchen ausgeklügelten Programmen man die Fortschritte der Konkurrenz analysierte und verfolgte. Welche unterschiedlichen Strategien notwendig wurden, abhängig von Statur, Leistungsfähigkeit und Verfassung der jeweiligen Eiskunstlaufenden. Wenn sie dann die Eisfläche betraten, sich mit anderen teilen mussten, sammelten sich staunende, bewundernde Zuschauende hinter den Banden. Kein Wunder, denn Yuri, in schlichtem, aber eng anliegendem Trainingsanzug, der strengen Selbstkontrolle perfekter Körperbeherrschung geschuldet, die hellblonden, langen Haare in einen losen Zopf gefasst, bewegte sich so geschmeidig, als galten bestimmte Naturgesetze für ihn gar nicht. Er selbst beachtete das impromptu-Publikum nicht, sondern studierte die Aufnahmen der Videokamera eingehend, übte Sequenzen wie Bausteine einer zukünftigen Choreographie und diskutierte mit Otabek, welche Möglichkeiten sich ihnen boten, die eigene Leistung noch zu steigern. Der Kasache registrierte erleichtert, dass seine Betreuer Yuris Einfluss nicht als unerwünschte Einmischung betrachteten, sondern in der Tat als einzigartige Möglichkeit, mehr zu erfahren, zu lernen, denn nun hörten sie ja vom Champion selbst Erklärungen dafür, warum Yuuri Katsuki trotz fünf Jahren in Detroit bei Coach Chaldini so leistungsschwach bei den entscheidenden Sprüngen war, weshalb Seung Gil trotz technischer Höchstleistungen einfach nicht ganz nach vorn kommen konnte, warum Phichit keine Gefahr darstellte und wieso Ballettübungen nicht für jeden Athleten die richtige Wahl waren. Niemand, das stand für Otabek fest, der Yuri sonst bei den Wettkämpfen erlebte, als verstockt-aufbrausend-unfreundliche Wildkatze, würde glauben, wie kenntnisreich, erfahren und überlegt der junge Russe hier seinem Beruf nachging, von Disziplin und Durchhaltevermögen ganz zu schweigen. "Wie sagte der dürre Hungerhaken mir noch? 'Was jammerst du, Yuri Plisetsky?! Du spürst deine Zehen doch noch, oder?!'", kopierte der perfekt, aber ätzend die frühere Primaballerina des Bolschoi-Theaters. Otabek lächelte. "Hin und wieder bin ich doch dankbar, dass Ballettübungen bei mir nicht so anschlagen", stellte er mit gravitätischem Ernst fest. Yuri zwinkerte, blies sich lose Strähnen aus dem Gesicht. "Deine Stärken liegen eben woanders. Übrigens, da habe ich etwas gesehen, das wir versuchen müssen..." Schon fand sich Otabek wieder zum Trainingsraum gezogen, wo auf einfachen Matten Sprünge und Übungen absolviert werden mussten. *~#~* Yuri ging es deutlich besser, mit jedem Tag. Keine unruhigen Nächte mehr (was Otabek kaum entgehen konnte), verschwunden die erschreckende Blässe auf dem spitzen Gesicht, auch die anfangs verbiesterte Haltung. Hier lauerten keine Kameras, kein Fan-Club, keine Schlägertrupps, keine Termine. Er lachte nun viel öfter, die grünen Katzenaugen funkelten vor Vergnügen. "Eigentlich weißt du schon, wie dein Programm aussehen wird, oder?" Otabek ignorierte einen heftigen Regenguss, der der Backofenhitze folgte, reichte Yuri mit Wasser aufgeweichtes Apfelmus zum Trinken. Der jüngere Freund blickte vom beschlagenen Fenster zum Bett, ließ sich dann neben dem Kasachen nieder. "Die Choreographie steht schon", gab Yuri zu, wischte sich lose Strähnen hinter ein Ohr, "allerdings brauche ich noch die Musik dazu. Yakov hat es zwar abgenickt, weil die zu erwartende Wertung hoch sein wird", er nippte und kaute Apfelbröckchen, "aber es wird ihm nicht gefallen." Die wie getuscht wirkenden, schwarzen Augenbrauen lupfend studierte Otabek seinen Bettnachbarn prüfend. Wenn die Choreographie, und er kannte beide, sowohl Kurzprogramm als auch Kür, akzeptiert worden war (und bei perfekter Umsetzung definitiv unschlagbar war mit Sprungkombinationen in fünffacher Umdrehung!), wieso sollte der Coach dann Einwände erheben? "Ich habe eine Vorstellung, welche Musik ich haben möchte", tastete sich Yuri ungewohnt scheu an das Thema heran, "dafür brauche ich aber Hilfe." Aha. "Hat man dir untersagt, mit mir gemeinsam Musik zusammenzustellen?", kam Otabek eher undiplomatisch direkt auf den Punkt. Yuri seufzte. "Nicht direkt. Aber du hast beim letzten Mal Ärger bekommen, also...", ließ er den Satz in der Luft hängen. "Nun, dann können wir mich als geübt betrachten", zwinkerte Otabek unbeeindruckt, "warum gehen wir nicht einen kleinen Handel ein? Ich assistiere dir bei der Musikauswahl, und du hilfst mir auf die Sprünge, damit ich mein Programm abschließe?" Der jüngere Russe zögerte einen Augenblick, ergriff dann aber entschlossen Otabeks ausgestreckte Rechte. "Abgemacht!" *~#~* Natürlich konnte man nicht nur trainieren, lernen, Prüfungen absolvieren, schlafen und essen! Für Otabek war es Ehrensache, Yuri auch ein wenig von seinem Heimatland zu zeigen. Gemeinsam mit einigen anderen Studenten fuhren sie in einer organisierten Bustour in einen der zahlreichen Nationalparks, im Hintergrund immer die schneebedeckten Gebirgszüge, Gletscher, zu ihren Füßen eine dichte, grüne, blühende Vegetation mit vielen, gar nicht so scheuen Tieren. Jede Menge Platz für alle, was im Gegensatz zu Almaty durchaus eine Erholung sein konnte. Selbstverständlich wurde die Stadt selbst auch erkundet, die auf Hochglanz polierten Wolkenkratzer und Geschäftsviertel mit gewaltigen Einkaufszentren, die bei entsprechender Liquidität mit jeder Metropole der Welt mithalten konnten, aber auch die gewöhnlichen Viertel, überall von Wassergräben und Kanälen durchzogen, die nach der Schneeschmelze ordentlich gefüllt das Stadtklima wesentlich beeinflussten, die Parks und vor allem namensgebenden Apfelplantagen, Obstgärten und aus aller Welt importierten Gehölze. Die obligatorische Bootstour konnte natürlich nicht ausgelassen werden. Zwar verfügten sie über wenig Taschengeld, aber das minderte ihr gemeinsames Vergnügen keineswegs. Otabek gefiel Yuris Begeisterung für ihre kleinen Ausbrüche aus dem Alltag, zumal die Stadt selbst eine gewaltige Palette an Sehenswertem bot, sogar ein kleines Erdbeben, was in dieser Region nicht untypisch war, aber seinen russischen Gast aufschreckte, doch hier konnte man Entwarnung geben. Jahrhundertelange Erfahrung mit nahezu kompletter Zerstörung des Stadtgebiets hatte dafür gesorgt, dass sich Schäden nun in Grenzen hielten, weil man entsprechend baute und Sicherheitsabstände einzuhalten hatte. Mit anderen Freunden unternahmen sie eine Art Campingtour in die Steppenlandschaft Richtung Norden. Dort ließ Otabek Yuri sogar einige Runden mit seinem Motorrad drehen, langsam zwar, aber sehr zum Triumph des jungen Russen. Im Kreise der anderen Studenten, die gern mit Otabek unterwegs waren, weil sein prominenter Status bei eventuellen Schwierigkeiten hilfreich sein würde, verbrachten sie Mußestunden, ohne tiefschürfende Gespräche, stattdessen in Betrachtung einer abwechslungsreichen Landschaft, die sehr dünn besiedelt war und einen erheblichen Kontrast zum wuseligen Almaty darstellte. Nun erklärte sich auch, sobald man das Stadtgebiet verließ, warum Otabeks Zweirad die eher ungewöhnliche Beschaffenheit aufwies: die post-sowjetische Tristesse des Straßenverkehrsnetzes verlangte nach einer guten Federung, höheren Radständen und Selbsthilfe, falls eine Panne auftrat. Staubige Pisten mit Schlaglöchern, abreißende Funkverbindungen, nur vereinzelte Siedlungen, das kannte Yuri durchaus, nur fühlte es sich hier eben ganz anders an, exotisch, wild, nicht gänzlich der Zivilisation unterworfen. Frei, auch wenn sie beide wussten, dass es sich dabei um eine Illusion handelte. Mit dem Frühsommer kamen auch die Auftrittsmöglichkeiten für DJ Beka. Otabek zögerte, den Freund mitzunehmen, immerhin war dieser noch nicht volljährig, doch die Betreuer sahen kein Hindernis, denn es wurden keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt. In den Nobelclubs, die von der Oligarchie besucht wurden, herrschte ein strenges Rauch- und Pyroverbot, Sicherheitskräfte beaufsichtigten alles. Was sollte ihm hier schon passieren? Zudem trug Otabek die Verantwortung, was seine Sessions betraf: er durfte die feier- und tanzwütige Menge nie so aggressiv aufputschen, dass sie sich Ausfälle zuschulden kommen ließ. Das war die Regel. "Muss ich einen Anzug tragen?" Yuri beäugte Otabeks Vorbereitungen unbehaglich. Die staubige Campingtour hatte ihm gefallen, den Studenten musste er nichts beweisen, keine Show abziehen. Sie hatten ihn so akzeptiert, wie er war, ein schlaksiger Typ in Trainingsklamotten, regelmäßig mit Kapuze verhüllt. Ihm gegenüber lächelte Otabek, ganz in Schwarz gehüllt, was seine natürliche Hautfarbe und die dicken Strähnen am Oberkopf betonte. "Nein, keine Sorge. Du kommst mit mir rein, und wir sind nicht dort, um die falschen Leute zu beeindrucken." "Die falschen Leute?" Yuri schraubte sich langsam hoch. Der Kasache zögerte einen Moment. "Leute mit einem anderen Anspruch", formulierte er bedächtig, "Leute mit bestimmten Verbindungen." "Ah!", schnaubte Yuri, "DIESE Leute!" Otabek beendete das Packen einer kleineren Tasche, studierte seinen jüngeren Freund ruhig. "Wenn du lieber hierbleiben möchtest..." "Pah, und mir deinen Auftritt entgehen lassen?!", fauchte Yuri, in seinem Koffer wühlend, "du bist doch berühmt, oder?! Kommt nicht in Frage, dass ich mich hier verkrieche!" Er schlüpfte rasch in eine schwarze Hose, streifte sich ein weißes, ärmelloses Trainingstop und dann die geliebte Weste mit der Sibirischen Tigerfellzeichnung über, fasste die Mehrzahl der hellblonden Strähnen mit einem Gummi im Nacken zusammen, zupfte jedoch ausreichend Sichthindernisse in die Stirn, "und?!" "Perfekt!", entschied Otabek amüsiert. Er war durchaus gespannt, wie Yuri seine Session aufnehmen würde. *~#~* "Verdammt voll hier!", stellte Yuri fest, hielt sich bei seinem kasachischen Freund auf, der ein Podium erstiegen hatte, dort mit Kopfhörer Herr über zahlreiche Regler und Register, von Musik- bis Beleuchtungssteuerung. Immer wieder kamen junge Leute, reichten ihm CDs oder USB-Sticks, baten, er möge doch mal reinhören, vielleicht könnte er ja...? Unten hüpfte und drehte sich die Menge, durchaus zurechtgemacht, aber, wie Yuri registrierte, in gewisser Zurückhaltung. Das strikte Alkoholverbot verhinderte nicht, dass man sehr aufgekratzt und fröhlich war, trotzdem bemerkte er die vorsichtige Distanz zwischen den jungen Männern und den Frauen. Was ihm keineswegs entging, war die Präsenz der "falschen" Leute. Sie zeichneten sich durch teure Kleider und Accessoires aus, trugen Originale und nicht billige Kopien vom Schwarzmarkt. Sie kannten einander, grüßten sich, waren vertraut. Die Elite, Creme de la creme, die Oberen, Oligarchie. Sie bezahlten natürlich, auch den bekannten DJ Beka, ließen auch andere Feier- und Tanzwütige zu, wenn diese sich den Eintritt leisten konnten. Otabek choreographierte die Atmosphäre, die Stimmung, das Amüsement. Er "las" in der Menge, in ihren Erwartungen, Bewegungen, Gesichtern, dirigierte mit seiner Auswahl. Dabei nutzte er tatsächlich neben instrumentalen, elektronischen Einspielungen hauptsächlich einheimische Quellen, von Folkore über Jazz bis Rock, so geschickt und geschmeidig, ohne Brüche, wie ein wahrer Tonkünstler. "Geh ruhig runter, Yuri", ermunterte Otabek ihn gerade, "zeig, was du kannst." Eigentlich beabsichtigte der junge Russe keineswegs, sich irgendwie ins Rampenlicht zu rangieren. Hier stand zwar nicht zu befürchten, dass ein "Dancebattle" in Striptease an Stangen endete, aber man sollte sich lieber vorsehen. Allerdings weckte er eben auch die Neugierde der jungen Leute, die sich amüsieren wollten und gegen einen attraktiven, sehr schlanken Russen in ihrer Mitte keinerlei Einwände hatten. Ehe Yuri sich also versah, bekam er Gelegenheit zu präsentieren, was er zuvor mit Otabek betrachtet hatte, nämlich die modernen Einlagen von westlichen Tanzkompanien, gewürzt mit dem einen oder anderen US-amerikanischen Beitrag. Otabek auf seiner Kanzel lächelte, als er Yuri in einem freien Kreis erblickte, umgeben von anfeuernden Gesten, von bewundernden Ausrufen. Es war ihm ein Leichtes, die kleine Privatvorführung entsprechend musikalisch zu unterstützen und ein klein wenig stolz auf den russischen Freund zu sein. *~#~* "Ich habe nachgedacht", verkündete Yuri auf ihrem Heimweg, gegen ein Uhr früh, zu Fuß, um die abklingende Hitze zu genießen. Noch wurde es empfindlich kühl bei Einbruch der Dämmerung, aber die körperliche Betätigung im Nobelclub hatte sie auf hohe Betriebstemperatur gebracht, die so langsam ausklingen konnte. Otabek signalisierte Aufmerksamkeit, ihren Weg leitend. Es herrschte wie in jeder Metropole durchaus noch Verkehr, auch andere Flanierende befanden sich auf dem jeweiligen Heimweg. Glücklicherweise drohte nicht die Gefahr eines plötzlichen Schauers. Tja, in Almaty pflegte man eben wirklich "Wetter" zu haben, vor allem in jedem Stadtbezirk ein anderes! "Dein Kurzprogramm sollte sich an unserer Campingtour orientieren." Der jüngere Russe blickte geradeaus, konzentriert, als sähe er den Ablauf vor sich. "Wirbelnde Staubhosen, die Greifvögel von den Bergen hier, die Flüsse und Bäche, die blühenden Bäume, es sollte etwas Wildes, Ungezähmtes haben, wie eine Reise durch die Landschaft hier!" Der Kasache erwog diese Idee. "Hör mal, ich weiß, es muss auch für die Universiade tauglich sein!", warb Yuri unterdessen für seinen Vorschlag, "aber wäre es nicht auch eine Repräsentation deines Landes? Ich stelle mir da eine komprimierte Form vor wie Smetanas Moldau, verstehst du?" "Ich begreife, was du meinst", antwortete Otabek nachdenklich, fasste Yuri sanft am Ellenbogen, um ihn vor einem unbedachten Schritt Richtung Entwässerungskanal zu bewahren. Leidlich zufriedengestellt von dieser Einlassung explorierte Yuri nun seine Idee für die Kür. "Im Wahlprogramm müssen wir deine besonderen Stärken herausstellen, Sprünge, Kombinationen, Tempo. Dazu ist mir auch was eingefallen. Du solltest unbedingt die Musik verwenden, die du auch heute Abend gespielt hast! Es würde viel besser zu deiner Körpersprache passen." Nun stutzte der Kasache merklich. "Wie meinst du das?" Yuri wischte sich durch lose Strähnen. "Das fällt dir vielleicht nicht auf, aber wenn ich dich mit deinen Freunden, deinen Landsleuten sehe, dann verändert sich deine Körpersprache, subtil, nicht dramatisch. Das ist ganz normal, wirklich, ist mir auch schon bei Katsudon aufgefallen. Das sind diese ungeschriebenen Codes, diese Verhaltensmuster, eine gewisse Gestik", Yuri erklärte hastig, als wolle er eine Beleidigung vermeiden. "Weißt du, wir sind ja auf bestimmte Ausdrucksformen trainiert, durch das Ballett, durch die Vorgaben bei den Sprüngen, Schritten und Elementen. Westlich, klassisch, wie auch immer man das bezeichnen mag. So wirken wir alle uniform, entsprechen artig den Erwartungen. Aber wie der alte Sack ständig zu nerven pflegte: 'wo ist die Überraschung?' Die ist wichtig, um sich hervorzuheben aus der Masse." Otabek ließ sich diesen Vortrag durch den Kopf gehen, registrierte dabei die Nervosität seines jüngeren Freundes. So darauf bedacht, ihn nicht zu verletzen, zu kränken! "Es wird nicht leicht sein, die Funktionäre davon zu überzeugen", warf er schließlich bedächtig ein, "wir möchten nicht für rückständig gehalten werden." Neben ihm schnaubte Yuri vernehmlich. "Individualität ist nicht gleich der Untergang des Systems!", grummelte er, offenbar in gewisser Erfahrung sprechend. Der Kasache lächelte und stupste mit einem Ellenbogen Yuris. "Danke, mein Freund. Du hast deinen Part jetzt erfüllt, also muss ich mich ins Zeug legen, auch meinen Part abzuliefern." Yuri blinzelte zwischen hellblonden Strähnen hindurch, grimassierte. "Ich gehe jede Wette ein, dass du schon längst daran bastelst!" Der ältere Athlet gab sich betont unleserlich in der Mimik, aber die tiefschwarzen Augen funkelten. Er bemerkte jedoch, dass Yuri noch immer eine gewisse Anspannung beherrschte. "Also", nahm dieser Anlauf, straffte seine schlanke Gestalt, "hör mal, wir müssen nicht ständig zusammen sein, weißt du? Wenn du allein ausgehen willst, beispielsweise, um Freunde oder Freundinnen zu treffen..." Die wie getuscht wirkenden, schwarzen Augenbrauen zogen sich kritisch zusammen, dann begriff Otabek durchaus, woher der Wind wehte. "Ich vermute, du hast etwas gehört über eine gute Bekannte", gab er leise zurück, "das ist vorbei. Du schränkst mich nicht ein, Yuri, ganz sicher nicht." "Aber sie mochte dich wohl sehr, oder? Und wenn sie jetzt wieder in der Stadt ist..!", platzte der jüngere Russe so impulsiv heraus, wie er es vermutlich auch gegenüber 'der Baba' gewesen wäre. Otabek seufzte. Manchmal waren Gerüchte und Tratsch wirklich lästig. "Wir haben eine schöne Zeit verbracht, und das war's", erklärte er nachsichtig, "das wussten wir beide." An der dünnen, vorgeschobenen Unterlippe seines Freundes konnte er jedoch ablesen, dass diese Andeutungen nicht ausreichend waren, Yuri zu überzeugen. "Als ich hierher zurückgekommen bin, habe ich mich etwas schwer getan", holte Otabek schließlich aus, "da war es schön, sich mit anderen zu unterhalten, die auch im Ausland gelebt oder studiert haben. Ich musste erst mal wieder Anschluss finden, Verbindungen aufbauen. So sind wir uns eben begegnet. Wäre ich nicht schon erfolgreich gewesen, hätte ich diese Möglichkeit gar nicht gehabt. Aber an der Realität ändert das nichts." "Ach ja?! Und wie sieht die bitte schön aus?!", fauchte Yuri aufbegehrend. Der Kasache schmunzelte nachsichtig über das explosive Temperament. "Tatsache ist, dass es hier bestimmte Gesellschaftsschichten gibt, die beachtet werden. Nur, weil man sich auf gemeinsamem Parkett begegnet, heißt das nicht, dass diese Regeln außer Kraft gesetzt sind. Ich habe zwar einen besonderen Status, aber am Ende wäre ich nichts weiter als eine gerade modische Handtasche an einem sehr hübschen Arm, dessen Hand erwartet, mit einem Diamantring geschmückt zu werden." Damit erstickte er Yuris Protest so nachhaltig, dass dieser unverrichteter Dinge wieder den Mund zuklappte. Mitfühlend legte Otabek ihm einen Arm um die schmalen Schultern. "Das ist kein Anlass für Bedauern. Wir hatten unsere Zeit, und sie war schön. Jetzt gehen wir unserer Wege, und falls wir uns begegnen, grüßen wir uns freundlich." "...pah!", schnaubte Yuri leise und schwieg den Rest ihres Heimweges versonnen vor sich hin. *~#~* Es erleichterte Otabek durchaus, dass Yuri nicht mehr auf dieses Thema zu sprechen kam, sondern sich gewohnt zielstrebig auf ihre beiden Programme konzentrierte und auch darauf bestand, dass man sich um mögliche Veröffentlichungen oder Indiskretionen der Konkurrenz bemühte. Selbstredend fanden im Sommer keinerlei Wettbewerbe statt, bei denen man schon einen Blick riskieren konnte, doch dank der modernen Medien und einem gewissen "Enthusiasmus" ließ es sich doch hin und wieder arrangieren, einen "Blick durch das Schlüsselloch" zu ergattern. Phichit und Guang-Hong jedenfalls machten keinen Hehl aus ihrem Alltag, aber auch King JJ, der sich nun in besserer Angriffsposition wähnte, ließen über soziale Netzwerke Einblicke zu. "Sag ich ja!", murmelte Yuri konzentriert, winzige Videoschnipsel und Schnappschüsse analysierend, "Affenarschangebervollidiot JJ ist einfach zu groß und zu schwer! Hier, da schreibt er ja, er will andere Schwerpunkte setzen, was nur bedeuten kann, dass er nicht weiterkommt." Otabek lauschte den Ausführungen und hoffte, seine Betreuer, die hinter ihnen über die Schultern schauten, würden Yuris Mitteilungsdrang nicht behindern. Trotz der guten Zusammenarbeit erschien es ihnen wohl immer noch suspekt, dass zwei eigentliche Konkurrenten ohne jeden Wettstreit kooperierten. "Und, guck, Leo, Phichit und Guang-Hong kommentieren sich gegenseitig!", kurbelte Yuri schnell Eintragungen, "blablabla, der und sein Hamster-Tick! Ah, hier, da geht's um Kraftübungen! Die beiden Kuscheltiere versuchen also doch, Fünfer hinzubekommen!" Der Kasache tippte auf einen kitschig-niedlichen Avatar. Neben ihm warf Yuri die Stirn in Falten. "Warte mal, ich habe die Schriftzeichen schon mal gesehen! Genau! Das ist dieser Kenjiro, Katsudons Super-Fan! So n Kurzer mit grässlicher Frisur!" Er nagte an einem Daumen, die grünen Katzenaugen glitzerten. "Wenn unser Turteltauben-Pärchen den Knaben in Betreuung hat, könnte es heikel werden", grummelte der jüngere Russe, "außer, der ist auch so ein Nervenbündel wie Katsudon. Bisher waren seine Wertungen nicht besonders hoch und ihm fehlt internationale Erfahrung." Sich zurücklehnend schnaubte Yuri schließlich, "wir brauchen mehr Informationen!" Aber es schien doch fraglich, dass Coach Feltsman diese zugänglich machen würde, in der Gewissheit, damit auch das kasachische Team gratis zu versorgen. "Ich denke, wir kommen auch so zurecht", maßte sich Otabek sonor eine etwas andere Auffassung an. "Na, hör mal!", protestierte sein Freund sofort energisch, sich aufsetzend, "man muss doch eine Strategie aufbauen! Wann darf man was zeigen, bei welchem Wettbewerb welche Infos durchstechen!" Otabek lupfte eine wie getuscht wirkende, schwarze Augenbraue. "...na schön, schon gut, schon gut!", warf Yuri ärgerlich die langen, dünnen Arme in die Luft, "machen wir's eben auf deine Weise, offen und ehrlich!" Was ihm zweifelsfrei ziemlich gewagt bis leichtsinnig erschien. Der Kasache schmunzelte, stupste den Freund mit der Schulter leicht an. Wenn sie nebeneinander saßen, spielten die zehn Zentimeter "Vorsprung" des Russen keine Rolle. Die Arme vor der mageren Brust verschränkend seufzte Yuri übertrieben auf und rollte mit den grünen Katzenaugen. Ehrlich, manchmal war Otabek ZU gut für diese Welt! *~#~* "Willst du mitkommen?" Nach einem brütend heißen Tag hockten sie beide, noch in durchgeschwitzten Trainingskleidern, an einem der zahlreichen Kanäle, dessen kühlendes Wasser aus dem Gebirge für ein erträgliches Klima sorgte. "Klar! Ich meine, wenn du denkst, dass deine Familie nichts dagegen hat", korrigierte sich Yuri rasch. Zwischen Training, Studium und Prüfungen im Hochsommer konnte eine Abwechslung wirklich nicht schaden, zumal Semesterferien anstanden, was die Belegung des Studentenwohnheims reduzierte, da viele in ihre jeweilige Heimatregion zu Besuch reisten. "Sicher nicht", Otabek wischte sich mit den dünnen Handtuch über den Nacken, "allerdings ist es etwas rustikal." "Und ich bin so ein verwöhntes Elfchen, dass ich das bestimmt nicht überleben werde!", singsangte Yuri spöttisch. Der Kasache schmunzelte. "Nun, betrachte dich einfach als vorgewarnt", konterte er sanft, zwinkerte. Sein russischer Freund schnaubte bloß unbeeindruckt. In freundschaftlichem Schweigen beobachteten sie das träge Treiben an diesem Spätsommerabend, hörten gedämpft Fernsehübertragungen aus geöffneten Fenstern. Otabek nutzte die Gelegenheit, aus den Augenwinkeln das Profil seines Trainingspartners zu betrachten. Auch wenn Yuris natürliche Blässe sich nicht verändert hatte, wirkte er doch gesünder, weniger ausgezehrt. Die Mundwinkel wiesen nach oben, keine Missmutsfalten verunzierten sein Gesicht. Er agierte gelöster, entspannter, zutraulicher. "Na, wächst mir ne zweite Nase?", knurrte das Objekt dieser Studien betont grollend. "Bis jetzt nicht", antwortete Otabek aufrichtig, "aber ich werde es im Auge behalten." "Depp!", brummte Yuri, lächelte dann aber amüsiert. Der Kasache erhob sich geschmeidig, streckte ihm die Rechte hin. "Lass uns reingehen. Die Wolken da sehen nach Gewittern aus." "Könnten wir uns die Dusche sparen", optionierte Yuri, ließ sich aber auf die langen, dünnen Beine ziehen. "Zu gefährlich", Otabek legte ihm die Rechte zwischen die Schulterblätter, "wir sollten auch nachsehen, dass alle Geräte ausgestöpselt sind." Er wollte nicht riskieren, dass eine Überladung Flurschaden anrichtete, der sich vermeiden ließ. "Na, dann", schickte sich Yuri drein, verpasste Otabek aber einen unerwarteten Stoß vor die Brust und krähte, "wer zuerst oben ist!", preschte davon. Der Kasache grinste wild und nahm die Verfolgung auf. *~#~* "So, das sollte genügen." Otabek trat zurück, sein Werk begutachtend. Ihr Gepäck nahm nicht allzu viel Platz ein, nur das Nötigste enthaltend. Die Hauptlast machten Transportgüter aus, die er für seine Familie mitbrachte: Medikamente, bestimmte Geräte, seltene Ersatzteile, Importartikel. Yuri stand neben ihm, etwas unbehaglich in einer Winterhose und einer Regenjacke über mehreren dünnen Bekleidungsschichten. In Almaty kochte der Asphalt. Aber auch der Kasache hatte sich entsprechend ausgerüstet, Lederjacke, Allzwecktuch, Motorradhosen, dazu Sonnenbrille und die halbfingrigen Handschuhe. Er schob sich das Tuch über die Nasenspitze, nachdem er den Sitz seines Helms kontrolliert hatte, stieg dann auf und löste die Stützen. Hinter ihm, das grüne Schaltuch ebenfalls über die Nasenspitze ziehend, kletterte Yuri über Gepäckwülste und stellte die Stiefel auf die Rasten. Unter den halbfingrigen Handschuhen mit dem Schneeleoparden-Aufdruck trug er ein zweites Paar, verschränkte die Finger vor Otabeks Taille. Der klopfte kurz auf die Hände, dann ließ er die Maschine an und rollte im Schritttempo vorsichtig vom Gelände. Innerhalb der Stadt kamen sie recht ordentlich voran, auch, weil es noch sehr früh am Morgen war und die Ferienzeit ihren Tribut selbst in der Metropole zollte. Außerhalb des Stadtgebiets Richtung Gebirgszug, wo selbst im Hochsommer Schnee die gewaltigen Kuppen bedeckte, wurde es schnell anstrengender. Die Asphaltstrecke wies aufgrund Abnutzung und Temperaturschwankungen Risse und Schlaglöcher auf. Lastwagen und Busse wirbelten Staub und Sand auf, fuhren zum Teil mit unangepasster Geschwindigkeit. Otabek hielt an seinem passiven, vorsichtigen Fahrstil fest. Das Motorrad war schließlich schwer beladen, sie selbst hatten keinerlei Knautschzone oder Aufprallschutz. Bald schon erkannte Yuri, dass Otabeks Anweisung, sich warm anzukleiden trotz der Hitze in Almaty, durchaus ihre Berechtigung hatte. Mit jedem zurückgelegten Höhenmeter wurde es kälter und trotz der angepassten Geschwindigkeit kühlte auch der Fahrtwind seine schmale Figur aus. Der Kasache hatte ihm zuvor erklärt, dass er aus einer der Verwaltungszonen im Almaty-Gebiet, also um die Metropole herum, stammte, Kreis Panfilow, nahe dem Gebirge. Seine große Familie lebte in einer etwas vernachlässigten Ansiedlung in der Nähe der Kreishauptstadt Scharkent. Zunächst folgten sie der A351 , der südlichen Umfahrung des Altyn Emel-Nationalparks, dann der A352 durch die "Lanzenspitze" des Scharyn-Nationalparks und über die R21 Richtung Scharkent. Berge, grüne Steppen, dann, zur Mittagszeit, die gewaltige Schlucht mit ihren bizarren Felsformationen, die an den Grand Canyon in Amerika erinnerte. Yuri fühlte sich trotz der vorangegangenen Ausflüge überwältigt von dem ungewohnten, abwechslungsreichen Panorama. Die kurzen Pausen zum Trinken, Beine vertreten, etwas essen nutzte er auch, sich alles einzuprägen, selbst die ungewohnte Weite trotz des nahen Gebirges, wie seltsam allein man sich hier fühlen musste, wenn man sich von den Siedlungen oder der Straße entfernte. Wie etwa die Hirten, die er hin und wieder im Vorbeifahren erblickte. Am späten Nachmittag trafen sie dann bei Otabeks Familie ein. Mehrere zweistöckige Gebäude um einen staubigen Vorplatz, wettergegerbte Schilder, die auf die Werkstatt, die Tankstelle, den Service hinwiesen. Eine bunte Kinderschar umringte sie sofort, tätschelte die gewaltige Maschine vertraulich, plapperte fröhlich und ließ sich erst zerstreuen, nachdem Otabek mit schelmischer Nachsicht Bonbons verteilte. Gerade mittelgroße, breitschultrig-sehnige Männer kamen heran, schüttelten ihm die Hand, umarmten ihn kurz und bedachten auch Yuri mit freundlichen Grüßen. Gemeinsam entlud man das Gepäck und begab sich zu einem der Häuser, wo ihnen sogleich dampfender Tee gereicht wurde, sich die Kehle anzufeuchten. Yuri verlor rasch den Überblick, wer wer war in dieser großen Sippe, doch das schien auch nicht zu stören. Die Frauen und Mädchen bestaunten seine helle Haut und die hellblonden Haare, präsentierten ihm dann verschmitzt diverse Zeitungsausschnitte, die ihn selbst darstellten. Unterdessen verteilte Otabek seine Mitbringsel, die zum Teil dringend ersehnt wurden. Hier, außerhalb der Metropole, konnte man nicht mal eben in ein Geschäft marschieren, geschweige denn Medikamente bekommen. Eine Tatsache, mit der Yuri aufgrund seiner Kindheit beim Großvater durchaus vertraut war. Er wurde auf eine mit Kissen und Decken bunt geschmückte Holzbank platziert, neben eine sehr alte Frau, die scheinbar ziellos in die Gegend lächelte. Während er noch versuchte, den Gesprächen zu folgen, die sich nach der ersten Aufregung um die Gäste wieder beruhigt hatten, fasste die alte Frau einfach nach seinem losen Zopf und begann, ihm durch die Haare zu streichen. Otabek rückte eilig näher, denn er wusste nur zu gut, dass sein russischer Freund körperliche Nähe selten zuließ. "Ah, Yuri, meine Urgroßmutter, bitte, sie meint es nicht böse!", wisperte er eilig auf Russisch. "Das ist schon okay", murmelte sein jüngerer Freund vorsichtig, ließ seine Sitznachbarin gewähren, die den Gummi einfach über ihr knochiges Handgelenk geschoben hatte und nun in einer ihm fremdartig anmutenden Melodie kehlig summte. Es klang beinahe wie eine tröstende, sanfte Beschwörung, während sie ihm immer wieder mit hochgereckten Armen über den Schopf streichelte. Nach einer Weile, in der Otabek leidlich beruhigt die letzten Neuigkeiten mit den rein und raus spazierenden Angehörigen ausgetauscht hatte, ließ die Urgroßmutter ihre Arme auf den Schoß sinken und nickte einfach an Yuris Schulter ein. Der wagte nicht, sich zu rühren. Erst als die Kinder aufgeregt herumsprangen, weil zum Abendessen besondere Leckereien aufgefahren wurden, erwachte die alte Frau wieder und ließ sich nach draußen führen, wo man Sitzgelegenheiten aller Art verteilte. Otabek begleite Yuri rasch zum Waschhaus, damit sie sich frischmachen konnten und zeigte ihm auch das Plumpsklo. "Ich sagte, es ist etwas rustikal", erinnerte er beinahe entschuldigend an seine Ankündigung. Yuri schnaubte. "Siehst du mich schon darben?!" Aber er wirkte dennoch ein wenig erschöpft, immerhin war es eine sehr lange Fahrt mit vielen Eindrücken gewesen, und hier umgab ihn erneut Trubel, auch wenn man ihn artig auf Russisch ansprach. Und mit Fragen bombardierte, immerhin war er ja so eine Art Star! Da Otabek die Zeichen der Zeit erkannte, achtete er darauf, dass Yuri, obwohl Gast, nicht allzu viel vom fetten Hammelfleisch bekam, sondern mehr vom Nudeleintopf und den Brotfladen. Sportdiät, das wurde akzeptiert. Nachdem die Kinder erschöpft in die jeweiligen Betten geschickt wurden, ebbten auch die neugierigen Nachfragen ab. Man genoss die Abkühlung der einbrechenden Nacht, schmauchte Pfeife oder schlürfte Tee. Otabek verabschiedete sie mit Verweis auf die lange Anreise und zeigte Yuri ihren Schlafplatz, zwei Feldbetten im hinteren Teil der Garage. "Du hast nicht erwähnt, wie groß deine Familie ist", Yuri unterdrückte ein Gähnen, "leider habe ich total den Überblick verloren." Der Kasache schmunzelte, während er die Decken aufschlug. "Mach dir darüber keine Gedanken. Ich muss manchmal auch überlegen, wer wer ist. Einige werden morgen auch wieder abfahren, sie sind nur gekommen, um mich mal wieder zu sehen." "Das heißt, ich muss mich morgen nicht auf Paraden und einen Empfang mit rotem Teppich für den berühmtesten Sohn der Stadt vorbereiten?", neckte Yuri, erprobte vorsichtig das Feldbett auf Tragfähigkeit. "Dieses Mal nicht", schmunzelte Otabek gutmütig, "das habe ich schon hinter mich gebracht." "Wie schade!", schnurrte Yuri leise, zwinkerte dem Freund zu. Der löschte die kleine Laterne und wünschte eine gute Nacht. *~#~* Tatsächlich kehrte am nächsten Tag der ganz normale Alltag ein. Gedrängel an den nach Geschlecht getrennten Waschgelegenheiten, ein einfaches Frühstück, dann zerstreuten sich schon die erwachsenen Familienmitglieder. Otabek nahm im Gefolge einer Kinderschar, die ihren Pflichten entwischen konnten, Yuri mit zu seiner alten Grundschule und zu dem "Ring", in dem sie auf Holzkufen Eishockey gespielt hatten. Der Ort war nicht groß oder bedeutend, eben eine ehemalige Satellitensiedlung zur Kreishauptstadt, hinter der Zeit zurückgeblieben, mit viel langsamerem Takt aufwartend als etwa Almaty. Es gab zwar einige kleinere Fabriken, doch die Geschäftigkeit erwies sich als übersichtlich. Land- und Viehwirtschaft, ein wenig Tourismus, Transportwesen, Warenverkehr mit der relativ nahen Grenzregion. Ein einfaches Leben, nicht hinter dem Mond, aber auch nicht weit davon entfernt. Da verwunderte es nicht, dass sich die Familiensippe mit ihrem kombinierten Tankstellen-, Werkstatt- und Reparaturunternehmen plus Transportleistungen und einem kleinen Laden über jede Möglichkeit freute, sich zu verändern. Man konnte auf die eigene Angebotsspanne aufmerksam machen, auch größere Reparaturen absolvieren mit modernen Limousinen! Pannenhilfe leisten, ohne bloß als Abschlepper zu fungieren! Yuri beobachtete auch, wie man in der Werkstatt mit seinem älteren Freund sprach, der unaufgefordert zugriff, mithalf, sich ansonsten aber zurückhielt, den älteren Männern das Wort überließ. Da fanden sich nicht nur Autos, sondern Arbeitsmaschinen, sogar eine Schneekatze. Man improvisierte, nutzte Wracks zur Resteverwertung, bastelte an Geländemaschinen herum. Kühlschränke, Waschmaschinen, Mikrowellen, sogar eine Industrienähmaschine, es schien fast gar nichts zu geben, was nicht auseinandergenommen wurde, um möglichst wieder in Betrieb zu gehen. Daneben lieferte man auch noch Gasflaschen für die Küchen aus, verlieh Anhänger... Otabek entschied nach einem Tag Rast, mit Yuri auch einen Abstecher in den Altyn Emel-Nationalpark zu unternehmen. Er wollte nicht, dass sein jüngerer Freund sich langweilte, denn der Alltag, in welchem sie keine Rolle spielten, ging weiter. So folgten sie einer einfachen Wanderroute, nachdem sie das Motorrad artig abgestellt hatten, ausgerüstet mit einem Picknick für unterwegs. Dabei gab es nicht viel zu besprechen. Beinahe ohne jede Konversation, allein durch Gesten, wiesen sie sich gegenseitig auf Bemerkenswertes hin. "Das hier ist es, das du in deinem Kurzprogramm zeigen solltest", bemerkte Yuri schließlich bei einer Rast, seine verspiegelte Sonnenbrille auf die Kapuze schiebend, "dies alles hier." Neben ihm folgte Otabek seinem Panoramablick. "Nicht gerade Ballett-tauglich", kommentierte er lächelnd. "Ach, vergiss das!", schnaubte Yuri, "ICH bin der Ballett-Heini!" Dabei warf er sich in eine einstudierte Pose, das Kinn gereckt, in perfekter Haltung, elegant und doch manieriert. "Das ist wie bei diesen Opern!", plädierte er lebhaft, "ja, Arien sind einfach prächtig, so kunstvoll, all die Triller, die Oktaven, wunderbar!", wedelte seine Rechte ungeduldig, beinahe ungnädig, "aber es ist eben künstlich! Perfektioniert bis zur Makellosigkeit! Und damit langweilig!" Der Kasache lachte leise. "Ich bezweifle, dass das jeder so sieht", warf er schmunzelnd ein. "Ach, bah!", wischte Yuri diesen Einwand beiseite, "sieh dir doch den Unterschied an!" Damit wiederholte er seine Pose, aber so, wie er im Frühsommer dem Freund und seinen Betreuern den Unterschied in der Körpersprache demonstriert hatte, das Kinn auf gerader Höhe, den Kopf nicht in den Nacken gelegt, die Haltung geerdet, nicht bis zum Extrem aufgebogen, mit einer auffordernden Geste, die Otabek selbst gar nicht bewusst war. "DAS!", Yuri schüttelte seine langen Glieder aus, "das ist DEINE Sprache. Klar, direkt, kraftvoll, wahrhaftig. Ohne Getue, Ziererei. Ehrlich. DAS sollen sie sehen!" Seine kämpferische Entschlossenheit rührte Otabek, denn es war ihm bewusst, trotz aller Anstrengungen, dass er einen Yuri Plisetsky in Bestform niemals schlagen konnte. Der schien seine Gedanken lesen zu können, auch wenn der Kasache seine Mimik bewusst neutral hielt. "Denk nicht an die verdammte Wertung, Otabek! Du brauchst dich nicht zu verstecken, klar?! Zeig gefälligst, wer du bist!" Otabek staunte über die Hände an den Aufschlägen seiner Lederjacke, den Furor in den grünen Katzenaugen. "Ich habe nicht die Absicht, mich zurückzuhalten", versicherte er ernsthaft. "DAS wollte ich hören!", triumphierte Yuri, funkelte ihn an, "ich WEISS, dass du das alles hier, diese Landschaft, die Musik, die ganze Atmosphäre aufs Eis bringen kannst!" Er streckte Otabek die Rechte hin. "Das wird UNSERE Saison! Wir zeigen ihnen allen, dass wir noch besser als 'Victuuri' sind!" Mit einem Lächeln schlug Otabek ein. Es schien ihm, als habe er den "alten", den widerborstigen, selbstsicheren, unerschütterlichen Yuri von vor zwei Jahren vor sich. Ein gutes Zeichen, befand er. *~#~* "Was sagt sie da?" Otabek, der sich auf dem Feldbett ausstreckte, zögerte, obwohl er genau begriff, was Yuri zu erfahren wünschte. "Ich weiß es nicht", bekannte er gedämpft, "Urgroßmutter spricht schon seit einiger Zeit nicht mehr. Was sie da singt, verstehe ich nicht wirklich." Es verblüffte ihn, dass Yuri ohne Protest jeden Abend bei der alten Frau auf der gepolsterten Holzbank Platz nahm, sich über den Schopf streicheln ließ, während sie selbstvergessen, aber mit erstaunlich kraftvoller Stimme in fremdartiger Melodik Silben summte. "Urgroßmutter ist schon über 90", warb Otabek um Verständnis, "meine Mutter meint, sie gehe langsam auf die andere Seite." "Die andere Seite?" Er spürte den fragenden Blick trotz der Dunkelheit in der Werkstatt. "Die andere Welt", murmelte Otabek etwas verlegen, "sie ist nicht mehr so sehr auf unsere Gegenwart konzentriert. Bitte nimm es ihr nicht übel." "Das tue ich nicht!", versicherte Yuri nachdrücklich, "ich habe bloß das Gefühl, als hätte ich es schon mal gehört. Das, was sie singt." Dazu wollte Otabek sich lieber nicht äußern, auch wenn ihm rasch einfiel, dass er selbst, als der Freund so schwer leidend in seinem Hotelzimmer gelegen hatte, möglicherweise unbewusst die ihm vertraute Melodik verwandt hatte. "Ist sie so was wie eine Schamanin?", die Frage kam vorsichtig, beinahe schüchtern. "Ich weiß es nicht", antwortete Otabek leise, "sie ist jedenfalls sehr lebenserfahren. Manche Dinge spricht man nicht aus." Besonders, wenn gewisse Weltansichten sich nicht zwingend miteinander vertrugen. Es überraschte ihn, dass Yuris Hand über die kurze Distanz nach seiner griff. "Ich sollte das jetzt wahrscheinlich nicht sagen", er seufzte merklich, "aber so richtig gehörst du nicht mehr dazu, nicht wahr?" Otabek schwieg eine ganze Weile, hielt die schmale Hand mit den eleganten, langen Fingern in seiner breiteren, kräftigen. "Als ich klein war, sagte sie mir, ich sei ein Wanderer, ein Wanderer zwischen den Welten", wisperte er. Damals hatte er es als verheißungsvolles Zeichen angesehen, denn immerhin würde er ja nach Almaty gehen, weit weg von seiner Familie. In den Jahren danach schien es ihm, als habe er erst langsam begriffen, was es tatsächlich bedeutete, ein Wanderer zu sein: dass man keine tiefen Wurzeln mehr schlug. "Ich verstehe das", raunte Yuri, tröstend, sanft. Der ältere Eiskunstläufer drückte die ihm anvertraute Hand etwas fester, bekräftigend. Nun, sie hatten diesen Pfad eingeschlagen, der sie wegführte, in eine andere Welt. Es galt einen Preis dafür zu entrichten, aber, das bezeugten ihre Hände, sie waren nicht allein unterwegs, nicht zwangsläufig einsam. Es gab Kameraden zu finden. Freundschaft zu schließen. *~#~* Die Verabschiedung verlief so freundlich wie ihre Begrüßung, jedoch sehr weniger aufgeregt. Wieder brachen sie sehr zeitig auf, quasi kurz nach der Morgendämmerung. Dieses Mal musste das Motorrad keine gewaltige Last stemmen, denn außer etwas Proviant und Wasser gingen nur noch ihre eigenen Habseligkeiten mit auf die Reise. Otabek fuhr defensiv, vorsichtig. Die Trockenheit wirbelte immer wieder Staub- und Sandwolken von der Piste auf, er musste hochkonzentriert sein. Sie legten regelmäßig kurze Rasten ein, um sich zu erfrischen, die Glieder auszuschütteln, die Beine zu vertreten. "Vermisst du es manchmal?", erkundigte Yuri sich, ohne Ermahnung sparsam mit dem abgekochten Wasser. Der Kasache studierte die abwechslungsreiche Landschaft, Berge, Steppen, Nadelholzwälder, Hochgebirgsflüsse. "Ich kann das Gefühl gut abrufen", antwortete er schließlich, "aber manchmal befürchte ich, dass das Leben in der Stadt mich sehr verändert." "Du meinst 'verweichlicht'!", neckte der Russe frech. Neben ihm schmunzelte Otabek zurückhaltend. "Erinnert mich an Katsudons Leute", bemerkte Yuri nach einer Weile vorsichtig, dem Freund das Profil bietend, "das war schon irgendwie seltsam. Seine Eltern haben keine große Ahnung von Eiskunstlauf, sind nicht mal besonders sportlich, eher ein wenig moppelig, aber auf gemütliche Weise!", korrigierte er eilig, seufzte übertrieben. "Ich hatte ja gehofft, dass Katsudon jetzt aufgeht wie ein Hefekloß, weil er dazu neigt, aber Pustekuchen! Der alte Sack ist sowieso ein hochherrschaftlicher Spülstein, da rutscht alles durch!" Neben ihm blieb Otabek still, ließ ihn einfach erzählen. "Sie haben kein großes Aufheben gemacht, als erst Victor und danach ich eingefallen sind. Sie akzeptieren das einfach und machen weiter." Yuri schnaubte. "Selbst Katsudons Victor-Besessenheit! Ich meine, sein ganzes Zimmer war voll mit allem Victor-Klimbim! Er hat von ihnen sogar einen Zwergpudel geschenkt bekommen, den er 'Vicchan' genannt hat! Hat kaum Freunde und keine anderen Hobbys! Und trotzdem", er zögerte merklich, "nehmen sie ihn einfach so, wie er ist. Als wäre das ganz normal, nichts Bemerkenswertes." So, deutete er unausgesprochen an, wie Otabek bei seiner Familie eben dazu gehörte, ein selten gesehener Verwandter, den man immer freundlich aufnahm, aber nicht hofierte oder gar bewunderte. "Es ist schwierig, unseren Alltag zu vermitteln", gestand der Kasache schließlich ein, "das Training, die Ausarbeitung der Programme. Oder auch meine Auftritte als DJ. In ihrem Alltag existiert so etwas nicht, sie haben keine Erfahrung damit. Also beschränke ich mich auf das, was zählt: gut essen, gut schlafen, etwas Geld beiseite legen." Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es bedeutete aber auch eine Entfremdung. Er spürte die grünen Katzenaugen beinahe sengend auf sich gerichtet. "Aber mit mir kannst du über alles sprechen!", versicherte Yuri ihm eindringlich, "und ich mit dir!" Otabek nickte langsam. Noch einige Augenblicke länger betrachteten sie die Landschaft, dann mahnte der Kasache zum Aufbruch, schließlich lag noch ein gutes Stück Strecke vor ihnen. *~#~* "Coach Yakov ist ziemlich angepisst", stellte Yuri fest, während er seine langen Gliedmaßen dehnte und streckte. Otabek, der seine Sprungkraft unermüdlich trainierte, wischte sich mit dem Handtuch über das Gesicht. "Hab ihm gestern das Video geschickt, wegen der Anmeldung", der jüngere Russe ließ die Arme wild kreiseln, "meint, es müsste gefälliger sein! Pah!" Der ältere Eiskunstläufer reichte lauwarmen Tee in einer Thermosflasche weiter. "Hat er Änderungen verlangt?" "Zu spät", Yuri zuckte unbeeindruckt mit den Schultern, "außerdem IST beides auf dem Papier bei der Wertung kaum zu toppen. Wenn ich's fehlerfrei aufs Eis zimmre, kann er schon mal Platz im Handgepäck für Edelmetall frei halten", ergänzte der Russe ohne Anflüge von Triumph, sondern ernüchternd sachlich. "Das werden wir brauchen. Ich hoffe ja, dass sich die Aufregung um mein 'Auslandssemester' inzwischen gelegt hat, aber wenn unser Deppen-Pärchen tatsächlich ein eigenes Trainingslager aufbaut, wird's eng." Die grünen Katzenaugen richteten sich auf Otabek. "Und, haben sie dein Programm auch abgenickt?" Nun war es an Otabek, ein minimales Lächeln in die Mundwinkel zu zaubern, bevor er mit einer knappen Geste wortlos bestätigte. "Perfekt!", schnurrte Yuri und hielt ihm den Unterarm hin, wie gewohnt dagegen zu schlagen, "dann auf ins Gefecht!" *~#~* Die offiziellen Verabschiedungen waren beim Verbandsgebäude bereits absolviert, sodass Otabek Yuri allein zum Flughafen begleitete. Die spätsommerliche Hitze in der Metropole war schon durchsetzt von kalten Nadelspitzen des einbrechenden Herbstes, der zügig aus den Bergen in die Täler herabstieg. Otabek erwartete eigentlich eine artig distanzierte Verabschiedung per Handschlag, immerhin herrschte viel Publikumsverkehr. So überrumpelte es ihn, dass Yuri ihn umarmte und fest an sich zog. "Danke, Otabek, danke für alles!" Er drückte die noch immer sehnig-schlanke Gestalt des jüngeren Russen einen Augenblick fester. "Danke, dass du bei mir warst, mein Freund." Als Yuri sich langsam löste, die obligatorische Kapuze tiefer ins Gesicht zog, knurrte er, "dann legen wir jetzt los und sehen uns in Vancouver, klar?!" "Versprochen!", nickte der Kasache und schüttelte wie bei einem Vertragsabschluss die Rechte seines Freundes. Die nationalen Wettkämpfe und der Grand Prix riefen! *~#~* Kapitel 9 - Attacke! Sie hatten beide in ihrer Form keine Konkurrenz im eigenen Lager zu befürchten, auch wenn der Nachwuchs sich drängte, zu ihnen aufzuschließen. Yuri hielt sich an das, was er Otabek zugesagt hatte: keine Strategie wie in den Vorjahren mit sich steigerndem Level des Programms, keine Informationshäppchen zur Verunsicherung der Konkurrenz. Das nahm sich auch gar nicht als notwendig aus. Allein Yuris Auftritt bei den russischen Meisterschaften verpasste sowohl den Zuschauenden als auch den Wettbewerbenden um die Titel einen veritablen Schock. Für das Kurzprogramm hatte er sich ein zartes, elfenbeinfarbenes Kostüm ausgewählt, ohne Glitzer oder Netzeinsätze. Die hellblonden Haare am Oberkopf hochgebunden wirkte er zerbrechlich, ätherisch, ein tänzelndes, dahinschwebendes, um sich selbst kreiselndes Zauberwesen. Bis Otabeks musikalisches Genie zuschlug, die unterschwellige Bedrohlichkeit nicht mehr zu ignorieren war, mit derselben Intensität wie bei Filmklassikern mit einem weißen Hai oder Psycho. Auf dem Eis verwandelte sich Yuris Vortrag in eine Hatz, er selbst in die Beute, fliehend, verzweifelt, Kapriolen schlagend, um dann, in einem finalen Akt, zerrissen zu Boden zu gehen. Die Dramatik ließ keinen Zweifel, dass ein Happyend ausblieb. Man reagierte zum Teil verstört, in Tränen aufgelöst, denn die Unerbittlichkeit, mit der Yuri seinem "Bühnentod" entgegen gehetzt wurde, ohne Gnade, ohne Hoffnung, bot keinen Ausweg, keinen Trost. Sein Kurzprogramm, mit mehreren Sprüngen in fünffacher Umdrehung gewürzt, erzielte einen neuen Punkterekord. Die Kür hingegen bot ein drastisches Kontrastprogramm. In schwarzer, stilisierter Einsatzuniform, zwei Tarnstreifen auf den bleichen Wangen, die Haare eingeflochten, agierte Yuri wie in einem Computerspiel, geschmeidig, lauernd, tödlich. Hier untermalte Otabeks Musik die Dystopie der Situation: Sirenen, Hubschraubergeräusche am Anfang, dann gespenstisches Heulen des Windes durch Gebäuderuinen, Herzklopfen, beschleunigte Atemzüge, bedrohliches Knacken, unverständliches, abrupt abbrechendes Funkrauschen. Und Yuri, der sich allein durchschlug, anschlich, Fallen auswich, Hinterhalte umging, bis er sein Ziel erreicht hatte, eine gewaltige, ohrenbetäubende Detonation auslöste. Nein, dieses Programm war keineswegs gefällig, aber der sportliche Anspruch nahm sich so gewaltig aus, die Umsetzung so fesselnd, ergreifend und verstörend, dass man nicht umhin konnte, die höchste Wertung zu vergeben. Damit hatte Yuri bereits bei seinem ersten Auftreten der Saison die Maßstäbe gesetzt. Otabek war sich bewusst, dass man auch seine Vorstellungen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen würde, denn niemandem war entgangen, dass sie gemeinsam trainiert hatten. Sein Kurzprogramm spiegelte tatsächlich, wie von Yuri so vehement vorgeschlagen, das Gefühl wider, das ihn durchlief, wenn er an die wilde Schönheit seiner Heimat dachte. So hatte er erst eine akustische Reise zusammengestellt, die er nun, kraftvoll, absprungstark, in verketteten Sprüngen darbot, gekleidet in die Landesfarben. Seine Kür bestand aus der fließenden Musik, die er aus den Versatzstücken zusammengefügt hatte wie in einen Guss, eine sich steigernde, fast berauschende Erfahrung, die in einer Katharsis mündete. Er drehte sich im irrwitzigen Tempo um die eigene Achse, beschwor die unterschiedlichen Traditionen der verschiedenen Volksstämme seiner Heimat, dabei ganz schlicht in eine schwarze Kniebundhose, Strümpfe und ein weißes Hemd mit einer Schärpe um die Taille gekleidet. Ja, für die an klassische Töne gewöhnten Zuschauenden eine exotische, mitunter befremdliche Erfahrung, vor allem die ungewohnten Kehlgesänge, doch sein Mut wurde belohnt: er erreichte eine neue persönliche Bestleistung bei den Wertungen. *~#~* Als Teilnehmende für die Grand Prix-Serie waren die noch aktiven Eiskunstlaufenden der vorangegangenen Saison in der Regel gesetzt, wenn ihre Leistungen nicht erheblich abfielen. Wie in der Vorsaison bei Victor und Yuuri trafen Yuri und Otabek nicht in einem der Wettkämpfe aufeinander. Yuri holte jeweils Gold bei Skate America und beim Cup of China, während Otabek überraschend die Trophee de France und erneut den NHK-Cup in Japan für sich entschied. Der verärgerte JJ konnte wenigstens in seiner Heimat bei Skate Canada Gold holen, während der Cup of Russia an Guang-Hong ging, dem dieses Mal zwei fünffache Sprünge gelangen. Die sechs Punktbesten der Grand Prix-Serie trafen sich Anfang Dezember 2018 folglich in Vancouver, aber Lokalmatador JJ konnte nicht damit rechnen, den uneinholbaren Yuri Plisetsky zu schlagen, der trotz seines bereits bekannten Programms Jury und Publikum immer wieder in seinen Bann schlug, taumeln ließ zwischen entsetztem Kummer und beinahe beschämender Faszination für den einsamen Krieger auf dem Schlachtfeld. Für Yuri selbst war entscheidend, endlich wieder dem Freund persönlich gegenüberzustehen und sich zu überzeugen, dass die halbfingrigen Handschuhe aus einem widerstandsfähigen, aber sehr feinen Kunststoffgewebe tatsächlich perfekt zu den kräftigen Händen passten! Immerhin waren sie als Präsent zum 20. Wiegenfest versandt worden! Otabek machte sich im Hotelkomplex auf die Suche nach seinem Freund, die strengen Ermahnungen seiner Begleiter noch im Ohr. Die Erfolge hatten seine Prominenz erheblich gesteigert. Man wollte verhindern, dass unvorteilhafte Nachrichten oder Bilder veröffentlicht wurden, was grundsätzlich alles umfasste, das nicht mit ihnen vorab vereinbart worden war, Fan-Service eingeschlossen. Der Kasache vermutete zutreffend, dass es seinem jüngeren russischen Freund ähnlich erging. Selbstverständlich konnte er dessen Popularität noch nicht erreichen, weil "Yurio" trotz seines abweisenden Auftretens immer noch als niedlich galt. Für die begeisterten Anhänger/innen aus den asiatischen Ländern bot er selbst auch eine Projektionsfläche für Enthusiasmus. In der Nähe des Fitnessbereichs erblickte er im Schattenwurf künstlicher Bepflanzung in geschmackvollen Behältern eine zusammengerollte Gestalt mit Kapuze und den noch immer angesagten, großen Kopfhörern. Diese hier hatten sogar noch einen "Überzieher" mit Katzenohren, in der Fell-Optik der sibirischen Tiger. Dass ihr Besitzer sich tarnte und keineswegs auf dem unvermeidlichen Smartphone tippte, bemerkte er sofort, denn Yuri, den Blick auf die spiegelnde Fensterfront gerichtet, schnellte hoch, strahlte ihn an und umarmte ihn vertraut. "Endlich! Wo warst du denn?!" Der Kasache lachte leise und lächelte in die grünen Katzenaugen. "Ich bin mit Guang-Hong gelandet, der quasi SOFORT, noch im Flughafen, ein Kontingent für sein Smartphone kaufen musste, zweite Karte, was weiß ich! Offenbar versorgen ihn seine Fans mit den besten Tipps, damit er rund um die Uhr online sein kann, überall auf der Welt." Was für ihn, mit beschränktem Budget, nicht in Frage kam. "Bekloppt!", bestätigte der Russe auch seine Annahme, dass dieser zwar demonstrativ sein Handy zückte, es jedoch höchst selten zum originären Zweck auch betrieb. Sparsamkeit war Trumpf, da nutzte man eben die Internetzugänge an den Sportstätten oder in den Hotels, die zumeist kostenfrei oder sehr günstig zur Verfügung gestellt wurden, was "Online-Junkies" wie Guang-Hong oder Phichit wohl kaum genügen konnte. "Ich bin mit Emil eingetroffen." Yuri zog Otabek zu sich in den Sichtschutz der Fensternische, die mit einer breiten Fensterbank auch als Sitzplatz genutzt werden konnte. "Eeigentlich ein netter Typ. Hat mir erzählt, er wäre im Sommer mit Chris bergwandern gewesen, der hätte ihn eingeladen. Heimlich haben sie dann noch Paragliden ausprobiert, woraufhin ihm sein Trainer gedroht hat, er würde ihn verprügeln. Da haben sie sich dann aufs Windsurfen verlegt, auf einem See, hinter Motorbooten her." Yuri grinste, von der unbekümmerten Waghalsigkeit des Tschechen durchaus beeindruckt, der sich nicht sonderlich um Gebote zu scheren schien, wenn es galt, sich selbst auszutesten. "Rate mal, was er dem alten Sack und Katsudon auf Tschechisch beibringen sollte!" Die grünen Katzenaugen tanzten spitzbübisch. "Alles zum Essen!! Chris hat wenigstens die Komplimente-Angel bedient!" Otabek schmunzelte über das sichtliche Vergnügen seines Freundes. "Nun, man sagt ja, dass gemeinsame Interessen verbinden", antwortete er diplomatisch. "Wobei der alte Sack immer noch kein bisschen moppelig ist!", grummelte Yuri dezent unzufrieden, "ich hab ihn gesehen, als du in Japan gewonnen hast. Ich wette, nächstes Jahr treten sie da mit Katsudon-Klonen auf!" Zumindest das Interesse und die Begeisterung für den Eiskunstlauf hatten die beiden Männer definitiv geweckt. "Leo ist auch schon da", plauderte Yuri unterdessen, zog eine Grimasse, "Affenarschangebervollidiot JJ hat den großen Gastgeber raushängen lassen und zu einer Tour auf Schneemobilen eingeladen. Ich hab aber verzichtet. Fehlt gerade noch, die Kulisse für das Großmaul abzugeben!" Er strich die langen, hellblonden Haare beiseite, um einen prüfenden Seitenblick auf den älteren Kasachen zu werfen. "Willst du da mitfahren?" Neben ihm lächelte Otabek innerlich breit über die ungewohnte Zögerlichkeit seines Freundes, ein sehr seltener Anblick! Seine Mimik jedoch verbarg artig jedes Amüsement. "Ich habe bereits darauf verzichtet. Mir ist Zurückhaltung bei öffentlichen Auftritten nahegelegt worden." Blitzartig zeigte Yuris Gesicht besorgten Ernst. "Hast du Ärger? Wieso? Immer noch wegen unseres gemeinsamen Trainings?!" Besänftigend stupste Otabek mit den breiten Schultern die schmalen des jüngeren Russen, der ihn nur dank der längeren Gliedmaßen im Stehen überragte. "Man möchte eher vermeiden, dass die gewisse Überschwänglichkeit von Interessierten unkontrollierbare Folgen zeitigt", erklärte er diplomatisch. An seiner Seite schnaubte Yuri, die Katzenaugen demonstrativ verdrehend, schob sich entschieden die Kopfhörer auf die Schultern, eingeschlossen die Kapuze. "Sehr hübsch, das Design", kommentierte Otabek neckend die Katzenohrenhülle. Er erntete eine herausgestreckte Zunge, eine lausbubenhafte Geste, die Yuri sonst nicht an den Tag legte. "Ein Geschenk von einem Sponsor. Hält mir lästige Leute vom Hals!", knurrte er. Zumindest die, die noch über die Kinderstube verfügten, in Lektüre oder Musik vertiefte Personen nicht ohne Not anzusprechen. "Steht dir gut", provozierte Otabek gemütlich, zwinkernd. Ein Knuff in seine Seite ahndete diesen Kommentar. Otabek wandte den Kopf, lächelte einfach. Das war entwaffnender als jede Entschuldigung, die er formulieren konnte. Yuris betont grimmiger Blick wandelte sich von Mundwinkelkräuseln zum nachsichtigen Schmunzeln. "Und nun?" "Wir könnten uns etwas Bewegung verschaffen." "Dann mal los!" *~#~* Wie bei den Weltmeisterschaften im Jahr zuvor leisteten sie einander Gesellschaft, beim Training, beim Einlaufen, bei der Nutzung der "Business-Lounge", um "Hausaufgaben" zu erledigen. Während Guang-Hong, Emil und Leo Zeit miteinander verbrachten, auch, um Phichit zu trösten, der allein aufgrund einer etwas niedrigeren Gesamtwertung hinter Emil in der Grand Prix-Serie beim Finale zusehen musste, entzogen sie sich den neugierigen Augen der Öffentlichkeit nach bestem Vermögen. Allerdings half auch das vorherrschende Wetter in Vancouver, Eis- und Schneeregen. Nur einmal entwischten sie heimlich für einen kurzen Spaziergang, dick eingepackt in mehreren Schichten, da sie keine komplette Winterausrüstung mitführen konnten. Yuri beobachtete amüsiert, wie Otabek sich für einen gewaltigen Schneepflug interessierte, denn ein Uralt-Modell wurde zu Hause zum Einsatz gebracht, wenn man es denn zum Laufen brachte. Abschauen konnte man sich immer etwas. Sie lieferten sich eine kurze Schneeballschlacht, bevor sie wieder artig ins Hotel zurückkehrten, gut vorbereitet auf ihre Wettbewerbe und unter größtmöglicher Umgehung des Lokalmatadors, der die Gutmütigkeit der drei anderen Konkurrenten nutzte, sich in Szene zu setzen. Für die Buchmacher hingegen war das Finale schon entschieden: je zwei Goldmedaillen, aber der jüngere Russe mit einer phänomenalen, technischen Wertung, das versprach keine großen Überraschungen. So führte Yuri souverän mit dem Kurzprogramm, ohne jede Unsicherheit, ausdrucksstark und mitreißend in seinem Vortrag. Nun, bei der Kür, erwartete man trotz des martialisch-dystopischen Themas keine Verschiebung mehr im Rang, auch wenn JJ sich erheblich angestrengt hatte und an Guang-Hong vorbeigeschlüpft war. Otabek verließ das Eis, mit sich zufrieden, Yuri vertraulich an der Schulter touchierend, als sie einander passierten. Er streifte sich die Kufenschützer über und schlüpfte in den Team-Blouson, wandte sich um, die Darbietung des Freundes zu verfolgen. Der jüngere Russe glitt geschmeidig, lauernd, latent bedrohlich über das Eis, ein schwarzgekleideter Krieger in einer feindlichen Umgebung. Zweifelsohne, durch den Soundtrack unterstützt, fühlte sich alle Betrachtenden an entsprechende Filme oder Computerspiele erinnert, atmeten unwillkürlich schneller (und darauf hatte es Otabek mit seiner Vorgabe der beats per minute auch angelegt). Jeder Sprung saß, jedes Element wurde in Vollendung und perfekter Körperbeherrschung ausgeführt. Die Explosion, obwohl bekannt, ließ zusammenzucken, Yuri in abschließender Pose, dann grüßte er artig ins Publikum, jedoch ohne jede Geste des Triumphs, obwohl ihm klar sein musste, dass er nun bereits zum dritten Mal hintereinander die Grand Prix-Serie gewonnen hatte. Yuri wandte sich herum, zur Bande zu laufen. Viele Zuschauende standen bereits, applaudierten, jubelten. Auch Otabek klatschte, ein bescheidenes Lächeln auf den kantigen Zügen. Da schien etwas Yuri mit Wucht von hinten zu treffen, leicht versetzt. Der Jüngere kam aus dem Tritt, dann vornüber zum Fall, konnte sich nicht richtig abfangen. Nach einer Schrecksekunde, noch im Jubelchor, mischten sich schrille Schreie darunter, brach Panik aus. Ohne Nachzudenken löste Otabek die Kufenschützer und preschte in Höchstgeschwindigkeit auf das Eis, dem gefallenen Freund zur Hilfe zu eilen. *~#~* Blut. Blutspritzer auf dem Eis. Blut im schwarzen Kostüm, durch die Finger der linken Hand quellend. Otabek ließ sich auf die Knie sinken, den Blouson abstreifend, einen Arm bereits unter Yuris Kopf. Die grünen Katzenaugen waren aufgerissen, glasig, mit jedem hastigen Atemzug sprühten Bluttröpfchen. Der Kasache drückte seine Jacke auf den rechten Brustkorb, beugte sich hinunter, Yuris Kopf in seiner Elle, spendete ihm eigenen Atem. »Getroffen!«, dachte er betäubt, »etwas hat ihn getroffen! Er bekommt keine Luft!« Von seiner Umgebung bemerkte er nichts mehr, hörte nichts, nur fixiert auf die blutigen Lippen, die fahlbleiche Haut und die verwünschte Hitze unter seiner Rechten, die klebrige Feuchtigkeit im Stoff. Es schienen ihm Ewigkeiten zu vergehen, bis Hilfe kam, mit Leuchtwesten ausgewiesen. Man schob ihn beiseite, Yuri zu versorgen, auf eine Bahre zu lagern, dann eilte man davon. Otabek kam kaum auf die Beine, sein Kostüm, sein Gesicht, sein Blouson so blutverschmiert wie das Eis unter ihm. *~#~* Otabek, inzwischen leidlich vertraut mit den Abläufen, wartete ruhig, bis eine Ärztin ihm signalisierte, er könne jetzt das Zimmer betreten. Er erhob sich und klopfte höflich, betrat dann den Raum, wo man gerade im Begriff war, Yuri in einen Rollstuhl zu verfrachten. "Otabek." Hinter der Maske, die mit einem Schlauch ein Sauerstoffgemisch zuleitete, kämpfte der jüngere Russe mit einem erschöpften Lächeln. "Guten Tag, mein Freund", der Kasache nickte minimal, griff dann unaufgefordert nach der Reisetasche, "endlich auf Achse?" Yuri verzog das Gesicht, denn ein klägliches Auflachen hätte ihn stark geschmerzt. Die beiden Krankenpfleger versicherten ihm routiniert, es werde rasch gehen, dann hätte er auch Gesellschaft, und schon bald könne er auch aufstehen. Der Rollstuhl sei nur aus versicherungstechnischen Gründen erforderlich. Gemeinsam verließen sie die Intensivstation, um in den Bereich der Mehrbettzimmer für Lungenerkrankte zu rollen, was bei der Größe des Gebäudekomplexes durchaus Orientierungsvermögen verlangte. Alles verlief so ruhig und sachlich, dass das Verlangen, sich endlich über mehr als Zwinkern und Halten der Linken auszutauschen, nicht überhand nahm. Otabek räumte Yuris Reisetasche in den für ihn vorgesehenen Spind, überreichte den Schlosschip seinem Freund, der ihm auffordernd das linke Handgelenk bot, sodass das schmale Band übergestreift werden konnte. "Können wir über den Flur gehen?", erkundigte sich der Kasache bei der Ärztin, die sie nun in ihrer Obhut registrierte, auf einem Tablet-Computer Eintragungen vornahm. Sie lächelte höflich und organisierte einen rollbaren Ständer für die Flasche mit dem Sauerstoffgemisch. Yuri erhob sich langsam, prüfend vom Bett, seufzte erleichtert, weil ihn die eigenen Beine trugen. Allerdings war es nicht so einfach, mit dem fixierten rechten Arm den Ständer zu bewegen, wie er rasch konstatierte. Der Kasache half aus, blieb auf Yuris Höhe, bis sie in gemächlichem Tempo einen offenen Besuchsbereich fanden. Yuri wollte nicht erneut Platz nehmen, sondern rückte an die Fensterfront, um nach draußen, in die unwirtliche Witterung mit Schneeregen zu blicken. "Da waren Polizisten. Und Leute von der Botschaft, glaube ich", eröffnete er das Gespräch, "gestern? Mein Zeitgefühl ist durcheinander." "Gestern Nachmittag", bestätigte Otabek leise, beherrscht, "die Ärzte haben vorher keine Erlaubnis erteilt, mit dir ohne Sicherheitsvorkehrungen zu sprechen." Neben ihm wandte sich Yuri vom Fenster ab, hob den Arm, sich durch lose Strähnen zu streichen und grimassierte, als der Stützverband um seinen Brustkorb diese Anstrengung schmerzhaft quittierte. "Sie haben mich gefragt, nach vielen Dingen, aber ich kann mich nicht mehr darauf besinnen, was ich gesagt habe..." "Nebenwirkungen der Medikamente", erklärte der Kasache, "du hattest einen schweren Schock, viel Blut verloren und eine fiebrige Entzündung." "Ach ja", murmelte Yuri in Galgenhumor, "jetzt, wo du es erwähnst..." Otabek atmete tief neben ihm durch, richtete dann die tiefschwarzen Augen auf ihn. Er wusste, dass man ihm die Strapazen der letzten fünf Tage ansehen konnte. "Yuri, wir müssen über Einiges sprechen", äußerte er sonor, "vielleicht solltest du dich doch setzen." Der jüngere Russe blickte ihn an, ohnehin fahl und ausgezehrt, nickte dann knapp. Die betäubende Wirkung der Medikamente ließ nach, und er wollte offenkundig erfahren, was geschehen war. Zwei Stühle zurechtrückend, sodass er Yuri direkt gegenüber saß, sammelte sich der ältere Eiskunstläufer merklich. "Also, was habe ich neben der Medaillenverleihung noch so verpasst?", versuchte es Yuri mit einem hilflosen Scherz. Otabek nahm sanft die beiden eleganten Hände mit den langen Fingern in seine, darauf achtend, dass er die Rechte nur leicht hielt, um den verletzten Arm zu schonen. "Ein Mann hat ein Hohlkörpergeschoss mit Keramiksplittern auf dich abgefeuert. Allerdings hat dich das Geschoss nicht voll getroffen, sonst wärst du jetzt tot. Sie sagen, er hat eine Art Schusswaffe zusammengesetzt, ohne Metall, getarnt als Asthmaspray, Kugelschreiber und anderes. Möglicherweise ist er geisteskrank, denn er soll gesagt haben, dass er den Antichrist, der zu widernatürlichem Verhalten anstiftet, vertreiben wollte. Kein Terrorist, wie man derzeit glaubt. Der Staat hier bereitet eine Anklage vor, deshalb wollte man deine Zeugenaussage, auch wenn alles gefilmt worden ist." Unwillkürlich drückte Otabek die Linke etwas fester. "Die Erstversorgung lief gut, sodass das medizinische Fachpersonal glaubt, dass dein rechter Lungenflügel wieder voll funktionsfähig wird. Genauso sollen dein Arm und die eingedrückten Rippen wieder heilen. Allerdings bekommen wir noch keine Erlaubnis für eine Flugreise, deshalb bist du noch hier, unter Beobachtung, um sicherzugehen, dass es keine Komplikationen gibt." "Wo ist Yakov?" Für einen Augenblick schloss Otabek die Augen. Aber es half nichts, es gab keine Abkürzung, kein Kneifen, und man erwachte aus dem Albtraum. "Du warst so schwer verletzt, dass sie nur Personen zu dir ließen, bei denen der Schnelltest auf multiresistente Keime negativ ausfällt. Bei ihm war das nicht der Fall, deshalb hat er mich gebeten, nach dir zu sehen. Inzwischen sind alle abgereist." Yuri blickte ihn an, still und prüfend. "Der Verband hat unsere Rückflugtickets kulanterweise ausgetauscht. Wenn es aus medizinischer Sicht grünes Licht gibt, können wir aufbrechen." "...aber... wieso bist du...? Ich verstehe nicht...?", wisperte Yuri schließlich unbehaglich, aufgeschreckt. Otabek ließ Yuris kalte Hände nicht aus seinem Griff entwischen, stellte sich dem grünen Laserblick tapfer. Er antwortete betont sachlich, "ich habe mit dem Verband gesprochen und mit Chris. Wir können in die Schweiz einreisen. Dort gibt es eine günstige Unterkunft für uns, einen Arbeitsplatz für mich und eine Klinik, bei der wir deinen Heilungsprozess überwachen lassen können. Außerdem hat er arrangiert, dass du dort auch trainieren kannst, wie er früher. Wenn wir uns ein wenig strecken, werden wir gut klarkommen." *~#~* "Aber, ich verstehe das nicht...", Yuri entzog ihm die Linke und rieb sich die Schläfe, "was sollen wir in der Schweiz?" Otabek packte Yuris Hand, bevor er sich die dünne Haut wundreiben konnte. "Yuri, bitte, sieh mich an!", warb er leise, aber eindringlich, "hör mir noch einen Moment zu." "..ich glaube, ich muss mich hinlegen...", wisperte der jüngere Russe konfus. So hatte ihn sein älterer Freund noch nicht erlebt, aber er war nicht willens, ihn Spekulationen zu überlassen, indem er Fakten ausließ. "Bitte!", er beugte sich vor, um Yuris umherirrenden Blick auf sich zu konzentrieren, "bitte lass mich alles erzählen." Den Kopf gesenkt, die Augen zusammengekniffen keuchte der jüngere Russe trotz Maske merklich, nickte schließlich minimal, richtete seinen Blick wieder auf Otabek. "Der Mordversuch war nur der Anfang. Etwa einen Tag später hat man einen Brandbeschleuniger in dein Zimmer im Wohnheim geworfen. Über verschiedene Kanäle wurde dazu aufgerufen, dich umzubringen, weil du angeblich religiöse Gefühle verletzt, sodomistische Neigungen auslebst und Jugendliche dazu animierst, es dir gleichzutun. Die Liste mit den Hochhäusern ging ebenfalls ein." Otabek holte Luft, gefasst, stählern, "dazu gab es Berichte über deine Mutter und deinen Vater, sehr unvorteilhafte Darstellungen. Coach Feltsman musste mit den anderen zurückfliegen, weil der Staatsschutz ermittelt, es zu Demonstrationen vor dem Eisstadion und dem Wohnheim kam. Die Stimmung ist so aufgeheizt, dass ihm nahegelegt wurde, dir von einer Rückkehr dringend abzuraten, um die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht zu gefährden." Yuris grüne Katzenaugen richteten sich unfokussiert ins Leere, wirkten glasig. "...ich kann nicht mehr zurück...?" "Zumindest für einige Zeit nicht", der Kasache forcierte einen gleichmütigen, unaufgeregten Tonfall, "andererseits ist die Saison ohnehin gelaufen, bis du wieder komplett hergestellt bist. Es wäre unklug, den Heilungsprozess zu überziehen, um dann chronische Schmerzen zu riskieren." Er wartete angespannt auf eine Reaktion, hauchte abwechselnd auf die kalten Hände in seinem warmem Griff. "...aber... warum? Ich verstehe nicht, warum...?" Auf diese Frage wusste Otabek keine einfache Antwort. Auch ihm erschloss sich nicht alles, und nicht umsonst drehten auch die kanadischen Ermittelnden jeden Stein um, denn ein angeblich verwirrter, religiöser Fanatiker arbeitete detailliert und beinahe erfolgreich auf ein Attentat hin, unter Umgehung der getroffenen Sicherheitsvorkehrungen, während kaum zeitversetzt später massive Anfeindungen ausbrechen? Gab es eine Kampagne? Wer profitierte? Und was war mit diesem Mann, dem Vater, dem der Sohn nie begegnet war? Konnte es hier eine Verstrickung geben? Verbarg das Eislaufprogramm versteckte Anspielungen? Provozierte es möglicherweise? Einerlei. Man musste sich auf die Gegenwart fokussieren. "...wieso bist du noch hier, Otabek?" Yuris Stimme klang wie zerborstenes Glas, brüchig, scharrtig, dünn. "Wir reisen gemeinsam. Wir stehen zusammen", gab der Kasache ruhig zurück. Er hoffte, seinen Freund damit beruhigt zu haben, was die eigene Person betraf, doch selbst unter dem Schock dieser Enthüllung gab die wilde, widerborstige, kämpferische "Katze" im sibirischen Eistiger nicht klein bei. "Wieso bist du nicht mit deinem Team in Almaty, um dich auf die Vier-Kontinente-Meisterschaft und die Universiade vorzubereiten?" Nun nahm Yuris Stimme einen skalpellscharfen Klang an, unerbittlich, bedrohlich. Otabek presste für einen Augenblick die Lippen fest aufeinander, straffte seine athletische Gestalt. "Der Verband hat meine Akkreditierung zurückgezogen. Ich habe keine Starterlaubnis mehr." Nach einem sehr ungemütlichen Augenblick der Kontemplation schnaubte Yuri heiser, "obwohl du jetzt die Vier-Kontinente- Meisterschaft, die Universiade und die Weltmeisterschaft mit Gold abschließen könntest?! Was zum Teufel hast du denn getan?!" Der Kasache fasste die sich ihm entziehenden Hände so energisch, dass Yuri ein Winseln entfuhr, er die Zähne fletschte. "Ich habe wiederholt gegen eine ausdrückliche Order gehandelt und kein Einsehen gezeigt", erklärte Otabek ruhig, "so lauten nun mal die Regeln." Ihm gegenüber fauchte Yuri in die Atemmaske, "meinetwegen, nicht wahr?! Aber wenn ich mit ihnen rede...!" "Es ist allein meine Entscheidung gewesen", korrigierte Otabek ihn scharf, funkelte in die fiebrigen Katzenaugen, "die Konsequenzen waren mir bekannt. Nichts, was irgendwer sagt, ändert daran etwas, Yuri. Das Urteil ist offiziell erfolgt. Ich habe es akzeptiert." "Für mich ist das nicht in Ordnung!", begehrte der jüngere Russe heftig auf, entzog Otabek seine Hände, obwohl er sich selbst mit der abrupten Geste Schmerzen verursachte, "das ist doch idiotisch! Du wirst bestraft, weil du mir geholfen hast...!!" Der Kasache sprang geschmeidig auf, zog Yuri an seine trainierte Leibesmitte und erstickte den wütenden Ausbruch, bevor man sie zurechtweisen konnte. Glücklicherweise nahm die Atemmaske gewisse Belastungen nicht übel, was man von seinem jüngeren Freund nicht sagen konnte, der ihm nun mit der linken Faust auf den Rücken trommelte. Otabek ließ keineswegs locker. Er kannte das explosive Temperament des Russen und begrüßte diese Detonation, denn sie nahm ein wenig Druck aus dem Kessel, wie man so schön sagte. Das war sehr viel besser als die betäubte, schockierte Reaktion zuvor. Schließlich klammerten die Finger in seinem Sweatshirt. Sanft strich er über den hellblonden Schopf, immer wieder, mit hypnotischer Gelassenheit. "Wenn du dich ausruhen möchtest, gehen wir zurück", bot er leise an. Wortlos ließ sich Yuri auf die Füße helfen, die Augen gerötet, bleich und in sich gekehrt. Er erhob auch keine Klage, als Otabek ihm vom Ständer befreite, die Bettdecke zurückschlug, die Sauerstoffflasche verankerte und ihn wie ein kleines Kind zudeckte. "Verlier bitte nicht den Mut, Yuri", wisperte er, küsste dann die kalte Stirn, "gemeinsam gelingt uns alles." Die grünen Katzenaugen fixierten ihn einen Moment, dann senkte Yuri die Lider und drehte den Kopf weg. Der Kasache zupfte die abtrennenden Vorhänge zurecht, atmete tief durch, bevor er das Mehrbettzimmer für diesen Tag verließ. Aber er fühlte sich auch erleichtert, nach fünf Tagen nicht mehr allein die Last schultern zu müssen. *~#~* Otabek grüßte höflich, als er das Mehrbettzimmer betrat. Die meisten Vorhänge waren zurückgezogen, doch nur ein Bett auch tatsächlich bevölkert. Ein untersetzter, dennoch jungenhaft wirkender Mann neben Yuris leerem Bett erwiderte den Gruß und gestikulierte ungezwungen, "er ist auf und davon, muss sich bewegen, hat er gesagt. Dabei hat er nicht mal die Pancakes zum Frühstück gegessen!" "Danke schön", antwortete der Kasache höflich, stellte den kleinen Beutel mit frischer Wäsche ab. Er schlüpfte aus seiner Regenjacke und der Lederjacke darunter, deponierte sie über dem Bettrahmen. "Ich hab ihm mein Tablet geliehen, weil er sagte, dass er die letzten Tage verpasst hat", bekannte der Mann, "dachte, das ginge schon in Ordnung...?" Der Satz hing in der Luft, eine Versicherung erhoffend, man habe richtig entschieden. "Vielen Dank, das war sehr aufmerksam von Ihnen", Otabek nickte zur Bekräftigung. "Eine Schande, was der Irre da gemacht hat!", bekundete sein Gegenüber deutliche Entrüstung, "ich bin ja mehr der Eishockey-Fan, aber ich hab mir die Videos angeschaut, und, meine Güte, ich bin echt beeindruckt! Hat mich richtig mitgerissen, besonders dieses kurze Stück, wo er so ein helles Kostüm trägt!" Otabek nickte erneut, sich an die Körpersprache erinnernd, die er sich bei seinem Trainingsaufenthalt angewöhnt hatte, zugewandte Haltung, unterstreichende Gesten. "Ich hoffe, dass er schnell wieder auf die Beine kommt!" "Die Voraussetzungen sind gegeben", bestätigte Otabek ruhig, "wir haben allen Grund zur Zuversicht." Der kräftige Mann strahlte, dann signalisierte er, dass der Kasache sich auf die Suche nach seinem Freund machen konnte, auch wenn Otabek sich strikt jede Andeutung von Ungeduld versagt hatte. Er marschierte geschmeidigen Schritts den Gang herunter, Richtung Besuchsfläche. Dort, vor einem Fenster, die Sauerstoffflasche auf dem rollbaren Ständer, die Maske aufgehängt, dehnte und streckte Yuri seine langen Glieder, durchaus an Schmerzgrenzen seines verletzten Oberkörpers reichend. Aber man überlebte nicht Jahre intensivsten Balletttrainings, ohne eine erhebliche Härte gegen sich selbst durchzusetzen. Otabek näherte sich langsam, wusste, dass seine Erscheinung sich hinter Yuri im Fensterglas spiegelte. Der wandte sich nicht zu ihm um, zerrte jedoch das karierte Flanellhemd zurecht, das um seine schmale Gestalt flatterte. "Ich hab eine Mordslaune!", zischte er warnend. Der ältere Eiskunstläufer studierte stumm den hellblonden Schopf, den jemand äußerst versiert in eine sehr aparte Zopffrisur mit mehreren Wellen verwandelt hatte. "Ich bin stinksauer auf diesen bekloppten Arsch, der mir in den Rücken schießt, der feige Drecksack! Und auf die Arschgeigen, die mein Zimmer in Brand gesteckt haben!" Yuri redete sich in Rage, noch immer dem Fenster zugewandt, die Hände zu Fäusten geballt, obwohl sein verletzter, rechter Arm dies gar nicht goutierte. "Ich bin wütend über die Typen in deinem Verband! Und Affenarschangeber JJ kann ich jetzt noch weniger leiden, nachdem er die Behandlungskosten-Geschichte angestoßen hat! Außerdem macht es mich rasend, dass Chris, der alte Sack, Katsudon und die anderen sich förmlich dabei überschlagen, mir zu helfen! Wir sind, verdammt noch mal, Konkurrenten!" Er rammte die linke Faust gegen den Fensterrahmen. "Und über DICH rege ich mich auch auf, dass du es nur weißt! Du kümmerst dich um alles, rettest mir das Leben, haust mich immer wieder raus, kaufst mir sogar dieses dämliche Hemd, das ich nicht über den Kopf ziehen musst, OBWOHL ich dein komplettes Leben versaue! Und zwar ständig! Verdammt, das bringt mich so was von auf die Palme! Wieso MUSST du das tun?!" Bevor Yuri in seinem Furor unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie zog, entschied sich Otabek für eine nonverbale Intervention. Er drehte Yuri an der linken Schulter zu sich herum, fing die Faust vor ihrem Einschlag ab und zog den jüngeren Russen in eine erstickende, schmerzhafte Umarmung. "Ich bin sauer auf dich, hörst du?!", fauchte Yuri an seinem Ohr. "Ich weiß", antwortete Otabek, ohne seinen Griff zu lockern. "Und ich bin so...so verflucht wütend auf mich...", Yuri senkte den Kopf, biss in den Rollkragenpullover. Der Kasache nahm dies nicht übel. Nach einer Weile reduzierte er die Vehemenz seiner Umklammerung. "Es ist gut, dass du wütend bist", raunte er sanft in eine Ohrmuschel, "denn wir werden unsere Energie brauchen." Yuri antwortete ihm nicht, aber das gequälte Knirschen der Rollkragenmaschen zwischen seinen Zähnen sprach Bände. Ohne bewusste Entscheidung löste Otabek seine Rechte und begann, über das knorpelige Rückgrat zu streichen, vom fragilen Nacken hinab, wieder und wieder. Wie man eine Katze kraulte, sanft, aber nachdrücklich. DIESE Katze hier grub ihm zwar die "Krallen" in die Schulterblätter und kaute seinen Rollkragenpullover, aber das nahm ihn keineswegs gegen sie ein. "...ich wollte ein guter Freund sein", hörte er den jüngeren Russen flüstern, "aber ich mache es nur schlimmer. Meinem ärgsten Feind hätte ich nicht mehr antun können." Otabek zog scharf Luft ein. "Du BIST ein guter Freund", versetzte er beherrscht, "du hast NICHTS falsch gemacht, Yuri." "Ha!", schnaubte es bitter an seinem Ohr, gruben sich die Finger der linken Hand tiefer in den Pulloverstoff, "das ist nicht wahr." Der Kasache überlegte konzentriert, was sein jüngerer Freund wohl erfahren haben konnte. Wie viel wusste er? "Was kostet dich meine Freundschaft dieses Mal?", wisperte Yuri, "wie hoch ist der Preis? Warum warst du nicht vernünftig?!" Erneut schluckte Otabek eine spontane, sehr heftige Replik herunter und verwünschte sein ausgefranstes Nervenkostüm. So viel zum Pokerface! "Von meiner Warte aus gab es nur eine vernünftige Entscheidung, und ich habe sie getroffen", versetzte er schließlich betont ruhig. "Was wollten sie denn so Unzumutbares von dir, dass du dafür alles hingeschmissen hast?! Die Saison, deine Karriere, die Einkünfte! Was ist mit deinem Studium?! Was wird aus deiner Familie, wenn du sie nicht unterstützt?! WOZU DIESER GANZE SCHEISS?!" Die Rechte energisch auf den zarten Nacken gepresst dämpfte Otabek einen heftigen Ausbruch auf gerade noch tolerierbare Zimmerlautstärke ab, assistiert von seinem lädierten Rollkragenpullover, der so Einiges zu schlucken hatte. "SchSch!", ermahnte er, verstärkte seinen Griff, um eine wütende Attacke zu unterlaufen, "wenn du brüllst, kann ich dir nicht antworten." Ein kräftiger Schlag mit der Linken traf sein Schulterblatt. Nun war eine Entscheidung zu treffen, das wusste der Kasache. Wenn sie diese schwierige Zeit überstehen wollten, konnte er nicht länger rücksichtsvoll ausweichen und auslassen. "Sie haben eine schriftliche, offizielle Erklärung von mir verlangt, mich ausdrücklich von dir zu distanzieren und nie mehr mit dir zusammenzuarbeiten. Ich sollte deinen Lebenswandel und deinen Charakter als nicht vorbildlich kritisieren und meine falsche Beurteilung rückhaltlos eingestehen. Die Anzahl und wiederholte Notwendigkeit der Sanktionierung meines Fehlverhaltens machten ihnen außerdem deutlich, dass ich zwingend einer stärkeren Beaufsichtigung und Führung bedarf, welche ich mit der Erklärung akzeptiere." Die Linke krallte sich wieder merklich in seinen geschundenen Pullover, "...und jetzt hast du alles verloren..." Otabek knurrte guttural, einmal nicht kontrolliert und höflich. "Verloren habe ich", zischte er grimmig, "wenn du mir jetzt die Freundschaft kündigst, Yuri Plisetsky!" Er spürte feuchte Wärme auf seinem Schlüsselbein, registrierte das gewaltsam bekämpfte Zittern des schlanken Körpers, aber ganz konnte Yuri sein Schluchzen nicht ersticken. Der Kasache summte sonore Töne, streichelte wieder mit der Rechten über den verkrampften Rücken. Langsam beruhigte sich das Beben an seiner athletischen Brust. "Als ich dich in Barcelona fragte, ob wir Freunde sein können, war ich darauf gefasst, dass es Ärger geben würde, dass wir anecken würden." Sanft strich er über den so kunstvoll eingeflochtenen, hellblonden Schopf. "Trotzdem habe ich es keinen einzigen Augenblick bereut, Yuri. Also, sind wir nun Freunde, oder sind wir es nicht?!" Unwillkürlich umklammerte der jüngere Russe ihn kräftiger, auch wenn er sich dabei nicht unerhebliche Schmerzen auferlegte. "...ich kann deine Antwort nicht hören", summte Otabek herausfordernd. "...Freunde!", Yuri krächzte mit belegter Stimme, "wir sind Freunde!" "Dann ist alles gut", behauptete Otabek entschlossen, "dann kommen wir klar!" *~#~* Vor diesen Aufbruch in eine gemeinsame, sehr herausfordernde Zukunft hatte die Gegenwart jedoch den behandelnden Arzt gesetzt. Der gab Yuri mit dezidierten Worten zu verstehen, was er davon hielt, dass dieser unerlaubt die Maske abgenommen hatte, dazu noch in gymnastische Übungen ausgebrochen war, die seinen von Keramiksplittern wie Schrapnell gespickten Körper in weitere Mitleidenschaft zogen! Die Folgen zeigten sich nicht allzu spät nach dieser heftigen Ermahnung, denn in das Sauerstoffgemisch, das Yuris selbsttätige Atmungsbewegung unterstützen sollte, waren auch aerosole Schmerzmittel gemischt. Ihr Fehlen wies ihn nun nachdrücklich darauf hin, dass die Wunden in Brustkorb und linkem Arm es gar nicht goutierten, wie unnachgiebig er sie zum Training gezwungen hatte. Mit eindeutig käsigem Gesichtsausdruck residierte Yuri folgerichtig wieder auf seinem Bett, sich elend fühlend, ohne Angriffsziel. Eine unwillkommene Gelegenheit, sich seiner jüngsten Sünden zu erinnern, angefangen mit dem Loch in Otabeks Rollkragenpullover, den er auch noch salzig getränkt hatte. Sehr unangenehm. Andererseits gestand er sich ein, dass der Kasache ihn schon mehr als einmal aufgelöst und verzweifelt erlebt hatte. Schlimmer wog die nächste Schandtat, ihn angeschrien, ihm Vorwürfe gemacht zu haben, sich selbst als Feigling zu erkennen, als eine verschreckte Memme. Denn ein RICHTIGER Freund, ein anständiger Typ, der hätte nicht zugelassen, dass Otabek alles verlor! Der hätte... Yuri ballte die Linke und würgte einen Anflug von Übelkeit herunter. Allerdings war es zu spät, hätte gar keinen Sinn mehr, ihn jetzt abzuweisen! Ein wenig entschuldigte ihn auch sein Zustand, nicht rechtzeitig die Katastrophe abgewandt zu haben. Trotzdem. Es war ja nicht zu leugnen, dass ihn Panik überkam bei dem Gedanken, vollkommen allein auf sich gestellt zu sein! Mochte er auch unbegleitet mal eben nach Japan ausbüchsen oder nach Moskau entwischen, den Großvater zu treffen: er hatte sich immer sicher gefühlt, dass man ihm seine Eskapaden nachsehen würde, dass es einen Ort gab, an den er zurückkehren konnte. Dass seine sportlichen Erfolge all seine persönlichen Unzulänglichkeiten und offenkundigen, charakterlichen Defizite ausgleichen würden. Ein fataler Irrtum. Er hob den linken Arm an, bleischwer, verflixt!, legte sich die Hand über die Augen, von denen er gar nicht wissen wollte, wie verquollen und entzündet sie aussehen mussten. »Was tu ich denn jetzt?!«, kreiselte durch seinen Kopf, der enervierend pochte. "Yuri, ich habe hier Brühe für dich", hörte er Otabeks sonore Stimme, beherrscht, zuverlässig, nachsichtig. Wann war er zurück in das Mehrbettzimmer gekommen? "Soll ich dir mit der Maske helfen?" Wütend über seinen Kleinmut, seine körperliche Schwäche, knurrte der jüngere Russe, zupfte sich selbst die Maske herunter und zwang seine Linke, die auslaufsichere Trinktasse langsam zu leeren. Otabek beobachtete ihn schweigend. Schließlich streckte er die Rechte aus, behutsam über Yuris Schläfe zu streichen, der erstarrte, aber nicht wegzuckte. "Hast du Kopfschmerzen? Ist dir übel?", erkundigte er sich besorgt. "...geht schon", murmelte Yuri, die leere Trinktasse absetzend. Woher ahnte Otabek...? Der schien in ihm zu lesen wie in einem offenen Buch. "Hier zieht sich eine Sehne zusammen", eine Fingerspitze liebkoste die zarte Haut, "hör mal, Yuri, sag bitte Bescheid, wenn es dir schlechter geht, in Ordnung?" Die Maske wieder justierend nickte der Jüngere minimal. Ob die Schmerzmittel langsam mal anschlugen? Verdammt, es ging ihm wirklich dreckig, wer hätte das geahnt?! "Eine hübsche Frisur", bemerkte der Kasache nach einer Weile angespannten Schweigens. Yuri grimassierte unter der Maske, denn er vermisste es durchaus, sich hinter seinem gewohnten Pony verstecken zu können. "Konnte mich nicht dagegen wehren!", gab er grollend zu, "die Frau hatte locker drei Zentner Lebendgewicht drauf." Außerdem hatte sie, eine Art Pflegeassistentin, ihn nach Otabek gefragt und dabei auf ihn eingeplaudert. Offenbar genoss der Kasache die Aufmerksamkeit diverser Damen, die ihn bewunderten, sich aber auch sorgten, weil er so erledigt und elend ausgesehen hatte und dennoch pünktlich wie ein Uhrwerk erschien, ihm die Hand hielt, mit ihm sprach, für ihn leise Melodien summte, ihn beruhigte, als er sich im Fieber hin und her wälzte, kaum ansprechbar war. Ein toller Typ! Klagte nicht, jammerte nicht, sondern kümmerte sich, fürsorglich, einfühlsam, freundlich, geduldig! Ganz zu schweigen von extrem attraktiv und höflich! Den Freund studierend erinnerte sich Yuri auch an das Foto: das blutverschmierte Kostüm, die besudelte Trainingsjacke, Blut auf dem Eis, die Spuren im Gesicht. Fahlbleich schien Otabek ins Leere zu schauen, einen solchen Ausdruck von Gram und Qual auf den Zügen, wie ihn vermutlich noch niemand gesehen hatte. Nun kannte ihn die ganze Welt. Dazu noch geschmacklos untertitelt mit dem Hinweis auf die vor zwei Jahren absolvierte Madness-Präsentation, bei der er zum Schein seinen Freund auf dem Eis niedergestreckt hatte, nun die Realität einer solchen dramatischen Geste erfuhr. Grausamer und abstoßender hätte man es nach Yuris Auffassung nicht formulieren können! ER hatte damals schließlich den Freund genötigt, ihm zu assistieren, ein solches Drama als Kontrapunkt zu Victuuri und dem großmäuligen JJ hinzulegen! Otabek selbst griff NIEMALS zu solch theatralischen Methoden! ES WAR SO UNGERECHT! "Was ist los? Soll ich Hilfe holen?" Yuri griff mit der Linken zu, bevor der Kasache sich zurückziehen, aufspringen konnte. »Als Pokerspieler wäre ich eine Null!«, trudelte vage durch Yuris Hinterkopf, aber eine säuerliche Grimasse zog er bereits, sodass dieser Impuls nicht mehr ins Gewicht fiel. Er blickte in die tiefschwarzen Augen unter den wie getuscht wirkenden Augenbrauen, nur eine Ahnung von Schatten, der dunkleren Hautfarbe geschuldet kaum zu erkennen, wenn man sich nicht die Mühe machte, genau hinzusehen. "Ich werde das nie wieder gutmachen können", stellte der jüngere Russe grimmig, aber auch kummervoll fest, "und, es tut mir so leid, dass du so viel Ärger mit mir hattest. Von Anfang an." Über das angespannte Gesicht des Kasachen huschte ein unleserlicher Ausdruck, dann seufzte er betont, eine Augenbraue kritisch lupfend. "Wirklich, mein Freund, ich wünschte, du würdest dich von der Vorstellung befreien, dass du allein für Ärger in meinem Leben zuständig bist!" Beinahe klang seine sonore Stimme spöttisch, "das Metier beherrsche ich selbst sehr gut." Was Yuri unverkennbar in Zweifel zog. Den Kopf leicht schief legend, ein amüsiertes Kringeln in den Mundwinkeln ergänzte Otabek, "du glaubst doch nicht wirklich, dass ich ein Musterknabe bin, oder?" Der Russe funkelte argwöhnisch, aber auch ein wenig verunsichert aus den entzündeten Katzenaugen zurück, umklammerte jedoch mit der Linken unverändert das rechte Handgelenk. "Schau mal, wenn sie mich so oft erwischt hätten, wie ich gegen die Regeln verstoßen habe", Otabek hob die freie Linke, um neckend Yuris Ohrläppchen zu zupfen, "dann wäre schon nach dem Sommercamp damals Schluss gewesen. So habe ich mich nur bei den unvermeidlichen Übertretungen erwischen lassen, der Spitze des Eisbergs." Was sich vor allem bei den Auslandsaufenthalten angeboten hatte, denn seine Begleiter/Betreuer/Aufpasser zeichneten sich durch kaum größere Erfahrungen aus als ein entschlossener, pfiffiger Jugendlicher, der seine Leidenschaft nicht nur für den Eiskunstlauf, sondern auch für die Tonkunst entdeckt hatte. "Davon habe ich aber im Sommer nichts gemerkt?!", entgegnete Yuri zweifelnd. Otabek schmunzelte. "Mustergültiges Verhalten als Bürge für deine Anwesenheit. Das war die Bedingung." Der Russe sank tiefer gegen das hochgeklappte Bett, kontemplierte diese für ihn unerwartete Enthüllung charakterlicher Untiefen. Seine Linke löste den Klammergriff um das kräftige Handgelenk des Kasachen, ließ jedoch die langen, eleganten Finger über dessen Handteller gleiten, bis sie versichernd umfasst wurden. "Was magst du bloß an mir?", wunderte er sich mit halbgesenkten Lidern, gegen eine leichte Benommenheit ankämpfend. Ah, das musste nun doch die Dröhnung sein, oder? Sich erhebend beugte Otabek sich über Yuri, küsste ihn sanft auf die kalte Stirn. "Alles", raunte er leise, "ich mag alles an dir, Yuri." *~#~* Es verhielt sich ja nicht so, als hätte man ihn nicht gewarnt. Die zahlreichen Wunden boten schließlich Angriffsziele für Infektionen, und, auch wenn es sich um einen Spitzensportler handelte: Yuri Plisetsky hatte nicht sonderlich viel zuzusetzen, wenn sein Körper derart geschwächt wurde. Andererseits kostete die erneute fiebrige Infektion, ein Rückfall, nicht mehr Zeit, als ohnehin aufzuwenden war. Es gab so viel zu erledigen, zu koordinieren, abzuwarten, umzusetzen... Otabek ertappte sich zweimal, den Kopf auf den gekreuzten Armen neben Yuri eingenickt zu sein. Immerhin, wenn er ihm Gesellschaft leistete, konnte er dafür sorgen, dass sich die unbewussten Panikattacken, die Unruhe erheblich reduzierten. Jean-Jacques' Initiative verschaffte ihm die Sicherheit, dass für die Behandlung hier der Versicherer des veranstaltenden ISU-Verbandes aufkam. Zwölf Tage nach dem heimtückischen Mordanschlag konnte er Yuri ohne Sauerstoffflasche langsam über die Flure begleiten, bis sie einen ruhigeren Besucherbereich fanden. "Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein heikler Esser bist!", neckte er den jüngeren Russen gerade, der sich standhaft weigerte, die Pancakes zu verzehren und auch sonst mit dem Menüangebot nicht zufrieden war. "Es schmeckt mir nun mal nicht!", fauchte Yuri, auf trostloses Schneetreiben blickend, "diese Pfannkuchendinger sehen aus wie alte Spülschwämme! Das bringe ich nicht runter!" Otabek lächelte, registrierte ein dezentes Schaudern bei seinem jüngeren Freund und schälte sich aus einem schlichten Sweatshirt, es Yuri überstreifend. Behutsam, denn ohne das stützende Korsett mussten Muskeln und Sehnen wieder die Arbeit aufnehmen, die ihnen für eine Weile abgenommen worden war. "Danke", murmelte der Russe halb verlegen, halb eingeschnappt ob der fürsorglichen Geste. "Und was ist mit diesen Erdnussbutter-Schoko-Pralinen?" Zwar gruselte sich Otabek bei dem Gedanken, sie selbst verzehren zu müssen, doch immerhin enthielt die populäre Süßigkeit ausreichend Eiweiß und Fett, die pergamentartige Haut von Yuris deutlich erkennbarem Knochengerüst zu lösen. Immer wieder wurden bunte Heliumballons, Süßigkeiten oder (zu dieser Jahreszeit teure) Südfrüchte als Geschenke abgegeben. Die Polizei inspizierte jedes Präsent, denn die Morddrohungen gegen Yuri waren keineswegs verstummt, aber niemand schien ihm hier Übles zu wollen, vielmehr waren die Geschenke als Trost und Aufmunterung gedacht. Wenn ihnen Karten oder Nachrichten beilagen, übernahm Otabek ganz selbstverständlich die Beantwortung. Der Verband hatte sich bereiterklärt, ihn kostenfrei das Internet im lokalen Büro nutzen zu lassen. Das trug auch erheblich zur Erleichterung des Organisationsaufwandes für ihre unmittelbare Zukunft bei. Neben ihm seufzte Yuri profund. "Sie schmecken schon, aber dann klebt der Kram am Gaumen fest", beklagte er sich. "Was magst du denn essen? Vielleicht kann ich es mitbringen?", bot Otabek nachsichtig an. Yuri wandte ihm den Kopf zu, löste den Blick von der tristen Aussicht auf nasskaltes Schmuddelwetter mit Schneegriesel. "Ich möchte, dass du mir zuhörst. Wir müssen uns ernsthaft unterhalten", schoss er ohne Vorwarnung. Eine Aufforderung, die Otabek erwartet hatte seit dem Zeitpunkt, an dem die grünen Katzenaugen nicht mehr fiebrig-verwirrt blinzelten, Schmerzmittel und andere Medikamente Yuris Bewusstsein eintrübten. "Dann hole ich uns lieber mal etwas zu trinken, denn das wird etwas länger dauern." *~#~* Yuri lehnte an einer Wand, denn er weigerte sich, Platz zu nehmen. Herumliegen und sich den Po platt sitzen, davon hatte er ja nun wirklich genug gehabt in den letzten Tagen, danke auch! Er nippte an seiner heißen Schokolade, in der aufgelöst Marshmallow-Teilchen trieben, angeblich eine Luxusbehandlung, Otabaks Beliebtheit auf der Station geschuldet, obwohl er die Begeisterung für diese seltsame Mischung nicht nachvollziehen konnte. Aber er würde den Teufel tun, und sich hier auch noch mäkelig zeigen, denn zumindest das Gebräu konnte man unfallfrei in die Kehle schütten, ohne dass es einem hochkam! Der ältere Kasache studierte ihn, wie stets!, aufmerksam, prüfend. Wenn ihm die grimmige Miene missfiel, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. "Der alte Sack hätte uns nach Japan eingeladen", zischte Yuri, die grünen Katzenaugen glühend, "immerhin hätte das Visum bis knapp zu den Weltmeisterschaften gereicht, nicht wahr? Doch das langt nicht, deshalb hat er seinen alten Busenfreud Chris angespitzt, der praktischerweise noch ein Gspusi bei der ISU hat! Vermutlich kann der feine Herr Nikiforov in Japan gerade nicht so groß aufdrehen, weil er sich dort in den Markt drängt." Otabek schwieg, ohne merkliche Regung. "Victor hatte schon immer gute Kontakte", fuhr der jüngere Russe giftig fort, "also vermute ich, dass ihm gesteckt wurde, wie mau es für eine Zukunft oberhalb der Grasnarbe für mich aussieht. Ich habe so einige Leute richtig angepisst, die es bestimmt gefeiert hätten, wenn der feige Scheißkerl mich zu Tatar verarbeitet hätte." In den spitzen Zügen spannten sich Sehnen an. "Aber reden wir nicht nur von mir. Ich gehe jede Wette ein, dass man dein Zimmer im Studentenwohnheim schon freigemacht hat. Bist du bereits exmatrikuliert? Haben sie deiner Familie gleich einen Besuch abgestattet?" Der Kasache ballte kurz die Fäuste, die Augenbrauen finster zusammengezogen. Yuri lachte verächtlich auf. "Du hattest keine Chance. Dein ganzes Leben liegt in Scherben, als Kollateralschaden! Weil sie dich brauchten, um mich zu erwischen! Bevor Otabek einen scharfen Protest äußern konnte, schüttelte Yuri bereits den Kopf, in bitterbösem Amüsement. "Oh nein, ich irre mich sicher nicht! Diese Erklärung, die du da abgeben solltest, die war doch EXAKT so formuliert, dass du ablehnen würdest. Sie WUSSTEN, dass du nicht unterschreiben konntest. Alles hübsch garniert, um das Szenario zu perfektionieren: ein perverser, kleiner Scheißkerl, der selbst den Helden von Kasachstan in seinen widernatürlichen Schmutz zieht!" Die tiefschwarzen Augen glühten, aber Otabek schwieg verbissen. Ihm gegenüber lächelte Yuri auf eine diabolische Weise. "Tja, das ist der Preis, sich mit mir abzugeben. Dein Leben ruiniert, das deiner Familie besudelt! Weil ich mich mit den falschen Leuten angelegt habe, die über genug Geld und Druckmittel verfügen, um sich mein Todesurteil zu verschaffen." Die Linke zur Faust geballt schlug er gegen die Wand. "Ein Gutes hat die Sache zumindest: das Elend ist meinem Großvater erspart geblieben!", versetzte Yuri sarkastisch. Für eine sehr lange Weile herrschte zwischen ihnen ein angespanntes, aufgeladenes Schweigen. "Chris hat mir die Arbeitsbewilligung zukommen lassen. Unsere Reiseversicherung wird anerkannt, und auch die nachzuweisenden Finanzen für die Aufenthaltsbewilligung habe ich zusammengekratzt." Neben ihm kniff Yuri für einen Moment die Katzenaugen fest zu. "Sag mir nicht, dass du dafür dein Motorrad verkaufen musstest", zischte er gepresst. Der ältere Eiskunstläufer straffte seine athletische Gestalt. "Ein Freund hat mir einen guten Preis gemacht. Es hätte ohnehin nur noch herumgestanden", stellte er gezwungen sachlich fest. Yuri schnaubte. Er wandte sich Otabek zu. "Ich wünschte, du würdest nur EINMAL nicht so verdammt rational reagieren! Kannst du nicht wenigstens wütend sein?! Weißt du nicht, was sie alle von dir glauben machen?!" Ihm gegenüber knurrte der Kasache guttural, "dann nenn mir Namen! Verrat mir, was es hilft, sich sinnlos aufzuregen!" "ICH würde zumindest nicht einfach alles runterschlucken, wenn mein ganzes Leben bloß als Fußnote ins Klo gespült würde!" "Und dann was?! Was kommt danach?!" "Woher soll ich das wissen?!" Ohne Vorwarnung rammte Otabek plötzlich die Fäuste rechts und links neben Yuris Kopf gegen die Wand, funkelte ihn aufgebracht an. "Denkst du, es stört mich nicht, als Bauernopfer zu fungieren?!", schnarrte er ihm ins Gesicht, "glaubst du, das KOTZT mich nicht an?! Aber wenn ich mich kleinkriegen lasse, haben SIE gewonnen. Und, bei allem, was mir heilig ist: ich WERDE nicht verlieren! ICH bestimme über mein Leben, und ICH entscheide, was für mich gut und richtig ist!" Yuri blinzelte unwillkürlich, denn die wilde Leidenschaft in diesen Worten überwältigte ihn. Allzu gut verstand sich der Kasache darauf, seine Gefühle zu verbergen, sich stets zurückzunehmen. Ein zähnestarrendes Lächeln huschte über Otabeks kantige Züge. "Ich bin die meiste Zeit ein netter Kerl. Aber nicht immer." In seinen Augen loderte eine unnachgiebige Entschlossenheit, diese Missachtung und Geringschätzung seiner gesamten Person entsprechend zu quittieren. Er löste sich schließlich langsam von der Wand, hob den rechten Arm angewinkelt mit der Faust vor die Brust. "Also, werden wir jetzt ein neues Leben beginnen und diesen Wichsern beweisen, dass sie uns NIEMALS kleinkriegen, oder was?!" Sein kriegerisches Knurren schlug Funken in den grünen Katzenaugen. Obwohl sein lädierter Arm es vehement beklagte, kopierte Yuri die Geste und schlug gegen Otabeks Unterarm mit dem eigenen. "Und ob wir das werden!" *~#~* Otabek sortierte sorgfältig diverse Schriftstücke. Ihre wenigen Habseligkeiten und diese Papiere waren die Basis für einen Neustart, deshalb konnten sie sich keine Nachlässigkeiten erlauben. "Wann bist du draufgekommen?" Yuri an seiner Seite überflog mit gerunzelter Stirn die mehrsprachigen Ausführungen über ihre neue Heimat. Nun, es hätte schlimmer kommen können, denn wenigstens die Buchstaben waren ihnen vertraut, die meisten zumindest. Es hieß, dass die Aussprache dem Schriftbild folge, ein kleiner Trost. Der Kasache ließ die Schultern kreisen. "Die erste Zeit hab ich bloß von einem Moment an den nächsten gedacht", bekannte er, "Intensivstation, Polizei, Leute von der Botschaft, Terrorabwehr. Dann musste ich mich entscheiden. Na ja.", er schnaubte, "wir wissen ja, dass es keine tatsächliche Entscheidung war. Am Nachmittag, als ich mich gerade fragte, wo ich schlafen sollte, weil ich ja aus dem Hotel raus musste, meldete sich jemand von der ISU. Im Büro dort hat mich Chris über das Internet angerufen." Yuri schnaubte. "Der alte Sack war ganz schön flott. So viel Zeit hatten die nicht, die Schlinge zuzuziehen." Neben ihm räusperte sich Otabek, wie gewohnt beherrscht. "Victor hat uns sehr geholfen", stellte er ruhig fest, "Chris bürgt für uns, Yuri. Auch Coach Feltsman und Mila haben unter persönlicher Bedrohung ihr Möglichstes getan. Deshalb möchte ich nicht, dass du weiter abschätzig über Victor sprichst." Beinahe erwartete er ein katzenhaftes Fauchen, eine gepfefferte Replik, sich bloß nicht zu erdreisten, ihm das Wort zu verbieten, doch der jüngere Russe seufzte lediglich. "Na schön. Es schmeckt mir einfach nicht, dass ich vor ihm zu Kreuze kriechen muss. Ich weiß selbst, dass ich es mir unnötig schwer gemacht habe." Seine dünnen Lippen kräuselten sich selbstironisch. "Aber ich habe mir nun mal partout in den Kopf gesetzt, kein zweiter Victor Nikiforov, sondern der einzige Yuri Plisetsky zu sein." Otabek lächelte versonnen. "Er hält große Stücke auf dich, Yuri. Wir haben seinen Beistand, das ist viel wert." Sich vorsichtig den rechten Oberarm massierend blickte der jüngere Russe aus dem Fenster des Besuchsbereichs. In der Dämmerung leuchteten erste bunte Lichterketten auf. Die Feiertage näherten sich. "Was ist mit deiner Familie? Konntest du...?", erkundigte er sich zögerlich, unbehaglich. Die Papierschlacht beendend verstaute Otabek die Ausbeute in bunten Umschlägen, die ursprünglich Genesungskarten enthalten hatten, eingeschlagen in die wasserabweisenden Überreste der Heliumballons. Man musste mit den bescheidenen Ressourcen Maß halten! "Ich habe ihnen über Freunde eine Nachricht zukommen lassen. Sie werden verstehen, was geschehen ist." Ein zynisches Lächeln huschte über sein Gesicht. "Glücklicherweise sind sie zu unwichtig, als dass ihnen Ärger drohen könnte. Man hat ihnen sogar gestattet, meine Sachen aus dem Wohnheim abzuholen." Yuri lehnte sich schwer zurück auf dem einfachen Stuhl. "Was hast du noch verloren, außer deinem Motorrad?" Das kam ihn schon fürchterlich an, denn auch wenn der Kasache nicht zu Prahlerei neigte, so konnte man doch unmissverständlich erkennen, dass der zweirädrige Untersatz ihm als persönlich maßgeschneidertes Fortbewegungsmittel sehr viel bedeutete. "Nicht viel", Otabek schüttelte die breiten Schultern aus, "Freunde haben das Meiste in Sicherheit gebracht. Es hat ihnen nicht gefallen, wie Druck ausgeübt worden ist." Ein ungewohnt grimmiges Grinsen ließ den älteren Eiskunstläufer sehr viel nahbarer als üblich erscheinen. "Ich denke, wir werden es ihnen mit Zinseszinsen heimzahlen und dabei noch vergnügt sein." Mit einem kritischen Seitenblick begleitete Yuri diese Ankündigung, schnalzte dann mit der Zunge. "Ich geb es nicht gern zu", murmelte er, "aber hin und wieder kannst du einem richtig Angst machen." Der Kasache bleckte die Zähne, die tiefschwarzen Augen lodernd. "Netter Kerl", erinnerte er mit sonorem Timbre, "aber nicht immer." *~#~* Kapitel 10 - Grüezi oder alles auf Anfang? Yuri zerrte seinen bockigen Rollkoffer missmutig hinter sich her, mit Rucksack und Sporttasche schwer beladen. Er konnte sich auf seinen rechten Arm noch nicht wieder vollends verlassen. Hin und wieder zuckten die verletzten Sehnen spasmisch, hatte er Mühe, seine Finger zu kontrollieren, aber er hatte es auch kategorisch abgelehnt, sich durch Zoll, Abfertigung und Gepäckausgabe bis zur Ankunftshalle assistieren zu lassen. Als wäre er ein Invalide! "Yurio! Willkommen in der Schweiz!", trällerte es in munterem Tenor an sein Ohr. Die hellblonden, langen Ponysträhnen dezent beschnaubend wagte der Russe einen prüfenden Blick in die Richtung des Rufers, der ihm mit elegantem Schritt entgegenkam. Ein halblanger, doppelreihiger Wollmantel über einem Anzug, dazu tatsächlich ein vornehmer Filzhut in exakt der Färbung des Wollmantels, kontrastiert von einem vanillefarbenen Schal.. Man drehte sich durchaus um zu diesem attraktiven, jungen Mann! Grüne Augen lächelten hinter einer randlosen Brille, ein sehr gepflegter Bart modellierte die Kinnpartie aus und eine Ahnung dunkelblonder Löckchen spitzte wagemutig unter der Krempe hervor. "Chris", summierte Yuri verblüfft. Er, wie auch die halbe (Eiskunstlauf-)Welt kannte Christophe Giacometti nur in der lasziv-verruchten Playboy-Version, inklusive Schlafzimmerblick und entsprechender Körpersprache. Dieser wohlproportionierte, junge Mann dagegen schien als Dressman für die moderne Geschäftswelt aufzutreten, ja, man erwartete förmlich ein Blitzlichtgewitter! "Geht es dir gut?" Ohne Yuris Überraschung zu kommentieren umarmte Christophe seinen neuen "Schützling", liebevoll, jedoch auch darauf bedacht, ihm keine Schmerzen zu verursachen. "...he! He!", zappelte Yuri verlegen, "kleb nicht so an mir, sonst glaubt man noch, du wärst mein nächstes Sodomie-Opfer!" Der Schweizer löste sich lachend. "Keine Sorge, du bist zwar zum Knuddeln, aber ich bin schon fest vergeben und widerstehe jeder Versuchung!" "Pah!", fauchte Yuri, "das sagst DU, aber wissen das auch alle anderen?!" Christophe schmunzelte, seinen Hut adrett justierend. "Wer's wissen wollte, hat's schon eine Weile gewusst", gab er verschmitzt zurück, "aber sag mal, hast du den Flug gut überstanden?" "Jaja!", murmelte der Russe unbehaglich, denn er verabscheute es, eine Schwäche eingestehen zu müssen. "Gut, dann warten wir noch auf Otabek." Unaufgefordert pflückte der Schweizer einfach Rucksack und Sporttasche ab. "Dauert ja bei ihm etwas länger." Was ihren unterschiedlichen Nationalitäten und den entsprechenden Zoll- und Einreiseabkommen geschuldet war. "Danke auch für deine Hilfe", brummte Yuri in verlegener Widerwilligkeit. "Schon gut!", ungezwungen legte Christophe ihm den Arm um die schmalen Schultern, "wir alle wollen, dass diese böse Sache gut endet." Yuri wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Es erleichterte ihn jedoch ungemein, dass der Schweizer das Thema nicht auswalzte, ihn spüren ließ, welche Umstände er allen bereitet hatte. Und noch bereiten würde. "Ah, da ist Otabek!", verkündete der ehemalige Eiskunstläufer aufgeräumt, hob den freien Arm, "hier sind wir!" Auch der Kasache apportierte ähnlich gestaltetes Gepäck, wirkte gewohnt ruhig und gelassen. So nahm er auch keinen Anstoß daran, von Christophe freundschaftlich umarmt zu werden. "Auch dir ein herzliches Willkommen in der Schweiz!", verkündete Christophe launig, "dann folgt mir mal ins Schneetreiben, ja? Wir kommen nämlich in den Luxus einer Beförderung mit Chauffeur!" *~#~* Der junge Funktionär, der sich stets so aufmerksam um Christophe bemüht hatte, wartete in der Nähe mit einer teuren Limousine, die komfortable Sitzplätze und einen großformatigen Kofferraum aufwies. Während der gemächlichen Fahrt, dem Verkehr, der Witterung und der Annäherung der Weihnachtsfeiertage geschuldet, erläuterte ihnen ihr Gastgeber die Sehenswürdigkeiten jenseits der Glasscheiben. Ihre erste Station war jedoch eine Behörde, damit sie sich auch offiziell anmeldeten. Dazu mussten erneut alle Papier vorgezeigt werden, mit Gründlichkeit überprüft. Der nächste Halt betraf die Sport- und Freizeitanlage Heuried, frisch renoviert und neueröffnet, mit einer nagelneuen Kunsteisbahn. Hier durften sie ihre Sporttaschen mit den Schlittschuhen deponieren. Am Stadtspital Triemli vorbei führte sie ihr Weg Richtung Albisrieden, einem bis 1934 selbstständigen Ort. "Ich habe schon mit den Ärzten gesprochen", erläuterte Christophe gerade, "deine Akte aus Kanada liegt vor. Ein Kollege hat Erfahrung mit solchen Wunden, aus dem Balkankrieg. Sie wirkten auf mich aber sehr zuversichtlich, was deine Heilung betrifft." Yuri, im Fond sitzend, nickte bloß. Er versuchte sich die Strecken einzuprägen, behielt die Stadtbahn im Auge, deren Gleisbett als Wegweiser dienen konnte. "Ah, und da ist meine Wirkungsstätte!", gestikulierte Christophe gerade auf einen Gebäudekomplex, der möglicherweise in der Vergangenheit einmal ein großes Gehöft mit verschiedenen Gebäuden gewesen war. Nun, geschickt zu einem Ensemble arrangiert, in einer Mischung traditioneller Eigentümlichkeiten und moderner Annehmlichkeiten, rühmte man sich, zurückhaltend selbstverständlich, das erste Haus am Platz zu sein. "Du wohnst auch im Hotel?", erkundigte sich Yuri überrascht. "Jawohl", Christophe wandte sich zu ihm herum, lächelnd, "wir haben ein gemeinsames Eckchen für uns reklamiert. Ist ganz praktisch, wenn ich so langsam die Direktion übernehmen soll." "Ihr seid übrigens eingeladen, uns jederzeit zu besuchen", ergänzte sein Lebensgefährte freundlich, "wir würden uns über eure Gesellschaft sehr freuen." "Vielen Dank", antwortete Otabek prompt, "wir kommen gern, wenn wir uns eingewöhnt haben." Christophe tauschte einen Seitenblick mit seinem Liebsten, bevor er gedehnt bemerkte, "tja, ich hoffe, du bist nicht enttäuscht. Es ist wirklich ziemlich rustikal." "Das ist in Ordnung", versicherte der Kasache nachdrücklich. Die beiden jungen Männer vorn hegten zwar Zweifel, behielten ihre Skepsis jedoch für sich. In einer Stichstraße endete der Weg. Nachdem sie den Kofferraum entladen hatten, wies ihnen Christophe mit einer starken Stablampe den mit Rollsplitt vage ausgestreuten Trampelpfad. Dabei lud er geschickt beiläufig Yuri verblasste Bettwäsche, gerollt und in Plastik eingeschlagen auf, übernahm selbst dessen Rollkoffer. Ein hölzerner Wegweiser, kunstvoll mit einer Schnitzerei verziert, erinnerte die Wandernden daran, dass sie sich auf dem Uetliberg befanden, noch zwei Kilometer von der Hofreite entfernt. Ein mit Schotter markierter Serpentinenweg am Hang entlang setzte sich vom umgebenden Alt- und Neuschnee ab. Ohne zu murren folgte Yuri Christophe, während Otabek die Nachhut bildete. Die ungewohnte, kritikfreie Schweigsamkeit des Russen hatte einen Grund: sein kasachischer Freund hatte ihm schonungslos und in aller Offenheit ihre Lage dargelegt. Die Schweiz, insbesondere Zürich, war ein bekanntermaßen teures Pflaster, was auch für die ehemaligen "Vororte" in den Distrikten galt. Selbst für Normalverdienende gar nicht einfach zu bewältigen. Von dieser "glücklichen Situation" waren sie jedoch erheblich entfernt. Otabek hatte keinerlei Zweifel gelassen, dass ihm sein Verband überhaupt keine Mittel zugestehen würde. Wie sich der russische Verband verhielt, war noch nicht absehbar (und hing davon ab, wie viel Wirbel sie noch veranstalten würden). Folglich mussten sie von ihren eigenen ersparten Ressourcen (gerade ausreichend für die Aufenthaltserlaubnis) und dem Einkommen zehren, das Otabek durch seine Arbeit verdienen würde, wobei er keinen staatlich dokumentierten Abschluss präsentieren konnte, sondern nur die Versicherung, sich als handwerklich geschickt, fleißig, ausdauernd und genügsam zu beweisen. Ein scharfes Zischen seines Vornamens hatte Yuri daran gehindert, seinen bis ins Mark empfundenen Unmut lautstark zu artikulieren. Aber er konnte nicht ignorieren, dass Otabek Altin niemand war, der sich als "Fußnote", "Mittel zum Zweck", "Bauernopfer" oder "Kollateralschaden" missbrauchen ließ. Da existierte eine unterschwellige, tief gründende Bedrohlichkeit in seiner entschlossenen Haltung, die so gar nicht zu seinem mustergültig-artigen Verhalten passte. Sich unterkriegen lassen? Niemals. Deshalb war es wichtig, eine Marschroute abzustecken, über das "danach" nachzudenken, eine Strategie zu entwerfen. Hier wurde nicht fair gespielt, im Gegenteil, also bestand auch keinesfalls die Verpflichtung, übertriebene Rücksichtnahme zu pflegen! Sachlich, beherrscht, zielorientiert hatte der Kasache also ihren Neuanfang skizziert, darauf vertrauend, dass sein Kampfgefährte mitzog, sich nicht abschrecken ließ. Na schön, ihre bescheidenen Mittel reichten keineswegs für ein normales Einzimmer-Appartement oder eine Pension. Bei Christophe im Hotel unterzuschlüpfen kam ebenfalls nicht in Frage, denn Freunden fiel man nicht unnötig zur Last. Das war keine theoretische Frage, denn das Hotel musste sich mit Gewinn selbst bewirtschaften, was bedeutete: eine verfügbare Unterkunft, die nicht vergeben werden konnte, reduzierte die Einkünfte. Dieser Verlust hätte von Christophe selbst ausgeglichen werden müssen. Indiskutabel. Der Schweizer hatte jedoch, durch Victor Nikiforov bereits im Vorfeld gebrieft, eine gewisse Antenne für den selbstbewussten Stolz des Kasachen adaptiert und sich nach einem anderen, wenn auch sehr ungewöhnlichen Angebot umgesehen. Üblicherweise wurden Schlafplätze bei der Hofreite am Uetliberg nur an warmen Sommertagen vermittelt, Zelt, Schlafsack, abgezählte Personenanzahl. Sehr viele Interessierte waren auch nicht zu verzeichnen, wie das Herbergsbuch von Urs, dem letzten Erben, unmissverständlich präsentierte. Kein Wunder, die uralte Hofreite war weder an die Strom- noch an die Wasserver- und Entsorgung angeschlossen. Es gab zwar einen Brunnen, aber kein fließendes Wasser aus Rohrleitungen. Der Toilettengang führte entlang des handtuchschmalen Bauerngartens zu einer Komposttoilette im durchaus hübschem Häuschen. Permakultur am Gehölzrand, kein Mobilfunkempfang, das Radio knisterte asthmatisch, Haus und kombinierte Stallung in einer Mischung aus Ständerbau- und Fachwerkbauweise sehr altertümlich, nicht modern wärmegedämmt und mit Annehmlichkeiten der letzten zwei Jahrhunderte gesegnet. Deshalb kamen auch gern Kindergarten- und Grundschulkinderklassen der Nähe auf Stippvisite vorbei, sich anzusehen, wie die Vorväter und -mütter anno dazumal ihr kärgliches Leben fristen mussten, wie anstrengend so etwas Abenteuerliches tatsächlich war, wenn man abends nicht bequem im eigenen Bett bei Zentralheizung, Strom- und Wasserversorgung einen aufregenden Tag beschließen konnte. Andererseits gab es auch Lotti und Dorli zu bewundern! Und die wilden Hühner! Vom Urs ganz zu schweigen, der schon ein ganz eigener Typ war. Der letzte, verbliebene Erbe der Hofreite, die ihre fortdauernde Existenz gerade dem Umstand verdankte, dass sie nicht an die Zivilisation angeschlossen war und deshalb im Schutzgebiet verbleiben durfte, wartete auch schon mit einer Stalllaterne auf die angekündigten Gäste. Sehnig, o-beinig, vom Wetter gegerbt, mit neugierigen, blauen Augen, einem dichten Bart und einem kahlen Haupt gesegnet, schüttelte er erst Christophe munter die Hand, dann auch seinen beiden neuen Untermietern. Christophe übersetzte, denn der eigentümliche Dialekt des alten Mannes konnte nicht mal Deutschsprachigen fehlerfrei erschlossen werden. Aber auch auf diesen Umstand hatte Otabek mit unbarmherziger Nüchternheit hingewiesen: ihr Sprachtalent werde herausgefordert, man müsse das eben meistern! Yuri nickte artig, warf dann einen kritischen Blick auf Lotti und Dorli, die den wärmenden Unterstand direkt am Haus verlassen hatten und nun schnaufend gemütlich, aber sehr neugierig herankamen, eine sehr alte Haustierrasse, kein rosig-knuddeliges Erscheinungsbild, sondern groß bis massig, borstig, beeindruckend. "Ah, die tun nix!", übersetzte Christophe grinsend, "die wollen nur spielen." "Mordsviecher!", knurrte der Russe, ließ seine eingepackte Bettwäschenlast sinken und streckte die Linke aus, in Schnüffelweite der großen Schnauzen. Auf keinen Fall einschüchtern lassen! Otabeks Mundwinkel kringelten im Schutz der Dunkelheit. Er hatte sich erhofft, dass die rurale Herkunft seines jüngeren Freundes und sein offenkundiges Talent, mit Vierbeinern umgehen zu können, die als kapriziös bis schwierig galten, auch hier den Zauber entfaltete. Nun, Lotti und Dorli schienen zumindest angetan und rückten noch näher heran, flankierten ihn freundlich grunzend, dabei reichten sie ihm locker an die Hüften heran. "Gehen wir besser rein", bemerkte Christophe, "das Schneetreiben nimmt zu." Er wollte auch, wenn die Übergabe glückte, rasch wieder hinunter über den schlüpfrigen Pfad, um den Feierabend mit seinem Lebenspartner zu genießen! Lotti und Dorli ließen sich vertrösten, nachdem sie Yuri sanft, aber nachdrücklich Richtung Hauseingang bugsiert hatten. Im Vorraum galt es, Schnee abzuklopfen, die Stiefel abzutreten. Urs schob einen schweren Vorhang beiseite, bevor er die Tür zur Stube öffnete. Der Wohnküchenraum, mit Holzofen, gemauertem Kamin, Sitzecke und großem Arbeitstisch bildete das Herzstück des Hauses. Auf dem gusseisernen Herd, der mit Holzofen und Kamin ein beeindruckendes Ensemble bildete, saß nicht nur eine gewaltige Kanne, sondern auch ein großer Topf, der leise blubberte. Eine geschickt mit Spiegelscherben versehene Lampenschale verteilte das Öllicht in den bescheidenen Raum. Die Holzladen vor den kleinen Fenstern waren zugeklappt, fadenscheinige Gardinen verdeckten Eisblumen. Urs bedeutete ihnen, es gebe gleich ein Abendessen, doch zuerst könnten sie ihr Gepäck nach oben schaffen. Im Vorraum führte nämlich eine steile Holzstiege hinauf, jeden Schritt kommentierend. Urs' Kammer lag direkt über der Wohnküche, was ihn auch in den Genuss der Abwärme brachte. Den Raum daneben sollten sich Yuri und Otabek teilen, immerhin noch durch das Ofen- und Kaminabluftrohr leidlich temperiert. Sie stellten Koffer und Rucksäcke ab, legten die von Christophe überlassene Bettwäsche neben die Alkoven. Der junge Schweizer verabschiedete sich herzlich und bot an, Otabek gleich am nächsten Morgen zu seinem Arbeitgeber zu begleiten, doch der Kasache lehnte die Offerte höflich ab, wohl wissend, dass Christophe sich eigens Zeit für ihn nehmen müsste, was nicht nottat, denn er war entschlossen, sich selbst bei seinem Arbeitgeber pünktlich und arbeitswillig einzuführen. Urs deckte unterdessen bunt zusammengewürfeltes Geschirr auf, tiefe Teller für den Eintopf, der simmerte, dazu Becher für den Getreidekaffee, der die Konsistenz von Schweröl angenommen hatte und mit dem pfeifenden Wasserkessel verdünnt wurde. Es gab selbstgebackenes Brot, da er trotz fortgeschrittenen Alters diese alte Tradition im Backhaus "unten" noch pflegte. Die jungen Leute jedenfalls, die die Tradition wieder aufgenommen hatten, waren dankbar für seine Expertise, schließlich brauchte wirklich gutes Brot Geduld, Ruhezeiten und liebevolle Hingabe! Yuri verstand wenig, nickte artig und tauchte auch den Holzlöffel in den Eintopf. Gemüse, Getreide, Kartoffeln, vermutete er, sparsam mit Gewürzen. Otabek übernahm die Konversation, zumindest auf Französisch, um sich von Urs dolmetschen zu lassen, wie man hier formulierte. Den alten Mann schien es nicht zu stören, dass seine Untermieter auf Gesten und Beobachtung angewiesen waren, um die kommunikativen Hürden zu überwinden. Plötzlich erhob sich Yuri abrupt, stieß auf Russisch eine Entschuldigung aus und eilte aus der Stube hinaus, die Linke vor den Mund gepresst. Besorgt bat Otabek ebenfalls um Demission, sammelte im Vorraum auch Yuris Jacke ein. Glücklicherweise hatte sich das Schneetreiben zu faulem Flockentanz reduziert, sodass er den Fußstapfen folgen konnte. Die Schneedecke reflektierte den Lichterabglanz der im naheliegenden Tal befindlichen Stadt. Der Russe hatte es bis zum Ende des eingezäunten Bauerngartens geschafft, jedoch nicht mehr bis zum Abtritt. Otabek legte erst die Jacke um die zuckenden Schultern, strich dann Neuschnee zusammen, um Yuri über den Mund zu wischen. "...tut mir leid...", würgte der beschämt, wütend auf sich selbst. "Ist schon gut", der Kasache rieb über Arme und knochigen Rücken, lehnte den Jüngeren an sich, "es war eine lange Reise." Yuri konnte im Flugzeug nicht dösen, die Zwischenlandungen waren von Stress, Hektik und Lärm geprägt, ganz zu schweigen von der Entwöhnung der Medikamente. Er spürte die geballten Fäuste, die hilflose Verärgerung über die eigene Schwäche. "Gehen wir zurück, Yuri", beruhigte er, löste sich und kam elastisch auf die Beine, zog den Russen mit sich. Einfach würde es nicht werden, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. *~#~* Zumindest Urs ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Christophe hatte ihm anvertraut, dass der zarte Russe vor nicht mal vierzehn Tagen schwerverletzt worden war und möglicherweise der Nachsicht bedurfte. Dass der unerwartete Aufbruch vom Abendmahltisch keine Gastro-Kritik darstellte, war ihm auch bewusst. Er illuminierte die zweite Laterne, damit Otabek Yuri den Weg die Stiege hinauf leuchten konnte, dann ließ er die beiden auspacken. Kurze Zeit später schon erschien der Kasache, entschuldigte sich förmlich, half beim Abdecken, ging hinaus, um wie gebeten die alten Waschzuber zu justieren, damit man dort den Schnee als Waschwasser sammeln konnte, apportierte aus dem Brunnen per Pumpe zwei Kannen eiskalten Grundwassers für die Katzenwäsche am Morgen und nahm auch zwei Becher verdünnten Getreidekaffees mit. Der konnte ja auch kalt genossen werden, in der Früh! Ihr Zimmer war klein, natürlich, denn man hielt sich in der Regel draußen auf. Die übrigen Räume unter dem Dach wurden als Lager genutzt, für Vorräte oder die verstaubenden, zerfallenden Reste vorheriger Generationen. "Lassen wir unsere Sachen besser in den Koffern", befand der Kasache, beäugte die beiden Alkoven, tatsächlich kurze Wandnischen, die man mit angezogenen Knien als Schlafstatt genutzt hatte. Offenbar hatten die alten Scharniere nachgegeben, sodass man die Schranktüren durch Vorhänge ersetzt hatte, was den abgeschlossenen Charakter nicht minderte. Ansonsten bestand das Mobiliar in ihrem Raum aus einem schmalen Waschtisch mit Schüssel und Kanne, integriert Seifen- und Handtuchhalter. Ein winziger Spiegel ermöglichte die Nachkontrolle, dazu zwei Stühle, mehrfach ausgebessert und gebeizt, mit abgenutzten Sitzpolstern. Das winzige Fenster war ebenfalls mit dem zugehörigen Laden verschlossen, die verschossene Gardine lümmelte im leichten Luftzug davor. Ohne große Umstände entpackte Otabek die von Christophe gespendete Bettwäsche. In den Wandnischen keine Spur von altertümlichen Strohsäcken, was er begrüßte, dafür eine Ahnung der Wärme, die durch das Rohr nach oben zog. Er rollte alte Badehandtücher aus, darüber je eine abgewetzte Decke als Unterlage, gerollte Handtücher für den Kopf und Daunenbettdecken darüber. Im Trainingsanzug würde es sich schon aushalten lassen, befand er, auch wenn die Luft im Raum vor ihren Gesichtern kondensierte. "Legen wir uns hin und holen Schlaf nach, in Ordnung?" Yuri nickte bloß, kroch in seine Nische. "Soll ich zuziehen?", Otabek beugte sich hinein, stopfte die Daunenklumpen zurecht, "ich drehe die Laterne auch herunter." "Offen lassen, bitte", murmelte Yuri, immer noch bleich, sich zusammenkauernd. Otabek streichelte ihm lose Strähnen aus der kalten Stirn. "Kriegen wir das hin, oder was?!", erkundigte er sich herausfordernd. "Wir kriegen das hin!", schnaubte der Russe ihm entgegen. "Das will ich meinen", lächelte er, küsste Yuri vertraut die Stirn, "schlaf gut, mein Freund." "...du auch", murmelte der Jüngere nach kurzem Zögern. Der Kasache kletterte in seine Wandnische, griff mit dem Arm hinaus, um die bei seinem Alkoven positionierte Laterne so weit herunterzudrehen, dass nur noch ein Schimmer die schmale Kammer erfüllte. *~#~* In einem alten Haus gab es ständig Geräusche. Sie waren ungewohnt, deshalb musste man wohl eine Weile damit rechnen, aus leichtem Schlummer gerissen zu werden. Was Otabek jedoch weckte, waren der helle Schein der Laterne und das protestierende Quäken eines Stuhls. Er setzte sich auf, wühlte sich aus dem Durcheinander von Handtüchern und Bettdecken heraus. Yuri kauerte auf einem der beiden Stühle, die Beine vor dem Leib gezogen, merklich zitternd. "Was ist los?" Sofort schwang Otabek die Beine hinaus, schlüpfte in seine Halbstiefel und ging vor seinem Freund in die Hocke. "Ist dir nicht gut? Hast du Schmerzen?" Aus den grünen Katzenaugen kullerten Tränen, die Miene jedoch verkündete verbissene Wut. "...ich...kann nicht schlafen!", knurrte Yuri trotzig, "dieses Ding... da krieg ich keine Luft!" "Verstehe." Otabek richtete sich auf, kämmte hellblonde Strähnen aus der Stirn, dann begann er, Yuris Bettnische zu leeren, zog ihn vom Stuhl, deponierte beide Stühle samt ihren Koffern und Rucksäcken in der Nische, bevor er den Waschtisch sehr behutsam ob seiner gefüllten Last so nahe an die Tür bugsierte, wie es möglich war. Auf dem Boden verteilte er nun aus beiden Nischen Handtücher und Bettdecken, keine optimale Lösung, sie tappten schließlich hier in ihren Straßenschuhen herum, aber für den Moment mochte es funktionieren. "Versuchen wir es so", schlug er vor, winkte Yuri heran, der am äußersten Eck neben dem verdeckten Fensterchen die Laterne hielt. Stumm kroch dieser zu ihm unter die Decken. Es war nun wirklich sehr eng, man musste quasi Schulter an Schulter liegen. "...tut mir leid", wisperte der Russe kläglich. "Dafür gibt es keinen Grund", antwortete Otabek entschieden, dirigierte den jüngeren Russen halb auf sich, damit er über Rücken und Arme streichen konnte, um wieder etwas Wärme in die ausgekühlte Gestalt zu reiben. "Weck mich aber bitte das nächste Mal, ja? Ich will dich nämlich nicht morgens die Stiege zum Auftauen runterrollen müssen." "Haha!", knurrte Yuri an seiner Brust, ließ sich aber frottieren und auch ohne Widerwort noch einmal auf die kalte Stirn küssen. *~#~* Die Geräusche der hölzernen Stufen der Stiege weckten Otabek. Offenbar war Urs schon auf dem Weg nach unten, was vermuten ließ, dass in Kürze Frühstück angezeigt war. Er hob den rechten Arm vorsichtig an, etwas Gefühl in ihn schüttelnd, denn Yuri lag halb auf ihm, angeschmiegt, zusammengerollt, beinahe wie eine Katze. Behutsam kraulte er unter den aufgelösten, seidigen Strähnen den zarten Nacken. "Yuri", raunte er heiser, "wir müssen aufstehen." An seiner Brust fauchte es ungnädig. Schmunzelnd hob der Kasache den Kopf leicht an und drückte einen neckenden Kuss auf den wirren Blondschopf. "Keine Müdigkeit vorschützen, Kamerad! Rise and shine!" Ein missmutiges Grollen kollerte ihm entgegen, dann stemmte sich, rechts etwas wacklig, Yuri jedoch in die Höhe. "Is noch finster!" Eine zutreffende Beobachtung, doch in der aktuellen Jahreszeit würde diese Kammer sich ganz sicher nicht mit Tageslicht fluten. Otabek richtete sich auf, angelte nach der Laterne, um den Docht zu justieren, damit die Lichtausbeute sich erheblich vermehrte. "Uuhhh!", protestierte der jüngere Russe übellaunig. Gutmütig entschlüpfte der Kasache ihrem Lager, streifte sich Trainingsjacke und T-Shirt ab, bediente sich an Wasser und Seife, kämmte durch die kräftigen Strähnen am Oberkopf. "Na komm, Katzenwäsche!", triezte er Yuri freundschaftlich, streckte ihm die Rechte entgegen, den Russen mit Schwung in die Senkrechte zu befördern. Während er nun geschwind den Boden freiräumte, Bettzeug zum Auslüften auf die beiden Stühle verteilte, die er aus der Bettnische wieder artig barg, absolvierte auch Yuri eine flotte Reinigung und kramte nach einem Kamm, denn seine feinen Haare ließen sich nicht so einfach zur Ordnung rufen wie Otabeks Schopf. "Ich mach das", brachte der sich ein, reichte Yuri zur Ablenkung abgekühlten Getreidekaffee vom Vorabend im Becher, fädelte glättend die auf die Schulterblätter reichenden Strähnen in einen geflochtenen Zopf ein, aus dem er ausreichend Ponyfransen zupfte, die als marginaler Sichtschutz fungieren sollten. Gemeinsam kletterten sie die Stiege hinab, die von der herrschenden Kälte draußen kündete. In der Stube knackte ein Scheit im Kamin, während der Ofen den Herd anheizte. Die drei Bewohner wünschten einander artig einen guten Morgen, dann deckte Yuri rasch den Tisch, während Otabek Urs zur Hand ging: Brei verteilen, Instantkaffee (offenbar eine rationierte Köstlichkeit) in Porzellantassen streuen, Brotscheiben absäbeln und eingekochtes Obst löffelweise aus dem Weckglas befreien. Außerdem gab es im Angebot Sauerkraut aus einem irdenen Fass, für die beiden Eiskunstläufer etwas gewöhnungsbedürftig am frühen Morgen. "Skorbut!", erläuterte Urs mit sehr sprechenden Augenbrauen, "Obacht!" In einer bescheidenen Plastikwanne wurde das Geschirr abgespült, wobei Urs ihnen zuvor demonstriert hatte, dass mit dem Brot die Schüssel sauber ausgewischt wurde, um möglichst nichts zu verschwenden. Yuri und Otabek eilten nach oben, Zähne putzen, "Eiskaffee" austrinken, die Becher im "Seifenwasser" reinigen, dann brachte Otabek die Waschschüssel herunter. Die Aufziehuhr stimmte sich mit der Turmuhr in der Nähe ab, es schlug Sieben in der Frühe. "Musst fort?" Urs, im Begriff, seinen neuen Untermietern zu erklären, wie man ohne Wasseranschluss die Entsorgung von Brauchwasser hier bewerkstelligte, verfolgte Otabeks rasches Schlüpfen in Motorradjacke und dünnen Allzwecküberzieher. Der Kasache entschuldigte sich artig, zum ersten Mal auf Deutsch, nahm dann überrascht eine Vesper in einem Geschirrtuch eingeschlagen entgegen. "Gib acht beim Abstieg", empfahl ihm der alte Mann, während Yuri ihn unglücklich ansah, keine Spur seiner sonst so demonstrativ präsentierten Selbstsicherheit. "Mach ich!", versicherte Otabek, hob den rechten Arm im Winkel, "davai, Yuri!" Dem blieb nichts anderes übrig als die Geste zu erwidern, sich trotzig Tapferkeit auf die Miene zu schrauben. Während Otabek nun sehr aufmerksam über den frischen Schnee hinweg dem geschotterten Pfad hinunter folgte, heftete er sich an die Fersen ihres Vermieters, der abseits der Hofreite eine gekieste Fläche freikratzte, über die langsam das benutzte Wasser versickern sollte. Als nächstes wurden die geduldig wartenden Tiere versorgt, Dorli und Lotti sowie die wilden Hühner, eine verschworene Gemeinschaft. Yuri musste in der Stube ihre Hygiene- und Kosmetikprodukte vorzeigen, damit Urs anhand einer handgeschriebenen Fibel mit der Lupe analysierte, was alles nicht in seiner "Filteranlage" zum Grundwasser landen sollte. *~#~* Otabek hatte sich den Weg am Vortag gut eingeprägt, um die Werkstatt seines Arbeitgebers zu finden. Erreichte man den Fuß des Uetlibergs, die festen Wege der Zivilisation, ging es rasch voran, außerdem ein gutes Training, wie er befand. Noch bevor er jedoch artig das Büro aufsuchen konnte, stoppte ihn ein sichtlich aufgelöster, älterer Mann, der eine Art Schneefräse apportierte, die, zumindest vermutete Otabek das, da er das Anliegen nicht verstand, ihrem Zweck nicht gerecht wurde. Er nickte, widmete sich nach einer prüfenden Inspektion der Verkabelung und betrat die Werkstatt, die zwar beleuchtet, aber noch nicht bevölkert war. Wenige Augenblicke später, etwas trocken spuckend, funktionierte das Gerät wieder. Aber Rechnung, Quittung, Bezahlung, dazu konnte Otabek nun wirklich nichts sagen, umso mehr jedoch Amadeo Rizzi, Werkstattmeister, Inhaber, "Reparaturkönig" von Albisrieden! Der untersetzte Mann Anfang Dreißig steuerte sie an, einen Wortschwall abfeuernd, eine Hand schüttelnd, mit der anderen Otabek den Rücken durchklopfend, gut gelaunt, fast euphorisch, dabei emsig das Geschäft abwickelnd. In der Folge wurde Otabek zu seinem Spind geschickt, mit Arbeitsschuhen und einem Overall ausgestattet, darüber informiert, dass seine Vorgänger immer nach kürzester Zeit fahnenflüchtig geworden seien wegen Überforderung, mit der "Kaffeequelle" vertraut gemacht (echter Bohnenkaffee, gefiltert, aus selbst gemahlenen Bohnen!), dem zweiten Mitarbeiter, Cousin Massimo, vorgestellt, grob über seine Arbeit unterrichtet und sofort einbezogen, denn es stapelte sich förmlich die Kundschaft. Dabei ging es nicht nur um motorgetriebene Maschinen aller Art, sondern auch um widerspenstige Waschautomaten, klemmende Rollläden, schwergängige Fenster und Türen... Otabek erkannte rasch, dass Christophe nicht übertrieben hatte, als er Amadeo Rizzi als Tausendsassa charakterisiert hatte. In der Werkstatt gab es nicht viel Platz, dafür ein kaum überschaubares Reservoir an Ersatzteilen, möglichen Alternativen, Hilfsmitteln, Schrauben, Muttern, Nägeln, Werkzeug... Gegen Mittag beehrte auch Mamma Rizzi die Werkstatt, die das Büro unter ihren Fittichen hatte. Sie sorgte für das leibliche Wohl, was selbstredend auch Otabek einschloss, der sofort ihre Gunst eroberte, weil er ohne ständige Anweisungen arbeitete, dabei Schmutz nicht scheute und überhaupt ein SEHR ANSEHNLICHES Mannsbild darstellte! Da bedeutete es recht wenig, sich multilingual und vor allem gestisch verständigen zu müssen. Man war ungeheuer angetan von dem neuen Kollegen! Cousin Massimo, der nach Otabeks Einschätzung offenbar geistig etwas limitiert war, nickte ebenfalls unvermindert freundlich und betätigte sich hauptsächlich als Bote mit einer Sackkarre, vom ungastlichen Wetter unbeeindruckt. Auch wenn er es sich nicht eingestanden hatte, so erleichterte es Otabek doch, dass er so gut aufgenommen wurde und damit auch ihr Einkommen als gesichert zu betrachten war. *~#~* Yuri fühlte sich verunsichert, was er verabscheute, weshalb sein Unmut über sich selbst anstieg. Darum entschloss er sich, Urs nicht von der Seite zu weichen, um alle Hausregeln kennenzulernen, was sich aufgrund der sprachlichen Barrieren gar nicht als einfach erwies, aber der alte Mann zeigte sich entsprechend gewitzt. Mit diversen Büchern, die man gar nicht in der abgelegenen Hofreite vermutete, erläuterte er Yuri, warum sie fortan eine handgeschöpfte Seife und ein Pulvergemisch zur Zahnpflege nutzen sollten, wie hier draußen das Waschen funktionierte, warum er Efeublätter in Weckgläsern als Reinigungsmittel kultivierte, wo sich die Erdmieten befanden, welche tägliche Pflege dem Bauerngarten auch im Winter zu widmen war, dass Dorli und Lotti gern im Wald spazieren gingen. Ein Leben, das sich doch sehr von seinem gewohnten Alltag und auch der Vergangenheit beim Großvater unterschied. Eine gewisse Vergleichbarkeit gab es zu Otabeks Familie zwar, aber auch hier herrschte mehr Fortschritt, allein durch den Anschluss an ein Versorgungsnetz. Andererseits reduzierte es seine Wut über sich selbst ein wenig, mit den beiden borstigen Damen durch den verschneiten Wald zu streifen. Sie suchten seine Nähe, achteten aber auch darauf, dass er nicht stürzte, flankierten ihn, ließen sich streicheln. Ein Schneebad später waren sie auch bereit, ihrer Herrenbegleitung wieder hinab zur Hofreite zu folgen. Die wilden Hühner beruhigten sich erst, als sie die Mitbewohner erkannten. Urs inspizierte ihr Lager nach etwaiger Ausbeute, doch, wie er Yuri zu verstehen gab, diese Sorte funktionierte nicht als Rekordversorger für Eier oder Fleisch, sie leisteten ihm Gesellschaft, weil sie unliebsame Insekten wegpickten (man musste sie aber im Auge behalten und den Bauerngarten eingezäunt) und Lärm schlugen, wenn sich jemand dem Hof näherte. Durch die beiden großen Schweine hatten die Hühner selbst nichts von Räubern wie etwa Füchsen zu befürchten. Yuri folgte Urs auch hinunter in den "Ort", wie dieser es aus Gewohnheit nannte, zur Bäckerei. In der Gärstube erschlug ihn beinahe das reifende Aroma, aber sein Magen zeigte sich zivil. Dann entließ Urs ihn, im Spital vorstellig zu werden. Zu seiner Überraschung wartete Christophe lächelnd in der Empfangshalle auf ihn. Ungeachtet der Beteuerungen des Kasachen, er habe sich bereits mehr als gastfreundlich um sie bemüht, wollte er sicherstellen, dass die Absprachen eingehalten wurden, die er vermittelt hatte. *~#~* Yuri rieb sich verstohlen über die Einstichstelle der Blutentnahme und warf seinem unerschrockenen Begleiter einen kritischen Seitenblick zu. Christophe zwinkerte gutmütig hinter der randlosen Brille, während sie sich auf den Weg in sein Hotel begaben. Er insistierte, dass Yuri ihm zum Mittagessen Gesellschaft leistete. "Wieso machst du das alles?!", platzte der jüngere Russe schließlich grimmig heraus, "schuldest du dem alten Sack etwas?!" Der Schweizer stutzte, lachte dann laut heraus. "Der alte Sack'?! Weiß Victor, dass du ihn so nennst?" Eingedenk der eindringlichen Bitte seines kasachischen Freundes, sich gemäßigter auszudrücken, wich Yuri trotzig einer visuellen Nachprüfung aus. "Na, Victor hat mich schon vorgewarnt, dass du kein 'Fanboy' bist und aus deinem Herzen keine Mördergrube machst", schmunzelte der Schweizer amüsiert. Die Fäuste tief in die Regenjacke über dem alten Tarnflecken-Parka vergraben knurrte Yuri, "du hast die Frage nicht beantwortet." "Stimmt, Verzeihung." Christophe lupfte kurz seinen eleganten Hut, ein älteres Ehepaar zu grüßen, das vorsichtig auf der anderen Straßenseite flanierte. "Die kurze Version lautet: wir sind Freunde." Selbstredend reichte das nicht aus, Yuris Misstrauen zu besänftigen, wie die grünen Katzenaugen unter der Kapuze unmissverständlich signalisierten. "Wird dich nicht überraschen, dass ich ein 'Fanboy' bin", Christophe lächelte, "stolz wie Oskar war, als mich mein Idol tatsächlich vom Ring aus ansprach, mir seinen Blütenkranz überreichte." Von Yuris Gesicht konnte man "Kitschalarm" eindeutig ablesen, doch der Schweizer erwies sich als nachsichtig mit der mageren Wildkatze an seiner Seite. "Er hat mich aufgefordert, doch das nächste Mal mit ihm auf dem Eis zu laufen. Also habe ich mich angestrengt, um wirklich so gut zu werden und ihn wieder zu treffen." "Solche Sprüche haut er gern raus, ja ja!", schnaubte Yuri, "und vergisst sie dann sofort wieder." Christophe schmunzelte. "Nun, in meinem Fall erinnerte er sich tatsächlich. Andererseits ist das auch eine gute Methode, jemanden so richtig aufzustacheln, hm?" Neben ihm fauchte der Russe zornig, denn es HATTE ihn empört, wie wenig Ernsthaftigkeit die "Legende" des Eiskunstlaufes an den Tag legte! Oder das zumindest vorgab. Verdrehter, alter Sack! "Obwohl er überall als Genie galt, ist Victor nie überheblich oder arrogant uns anderen gegenüber gewesen." Der Schweizer blickte versonnen in die Vergangenheit. "Dabei hatten wir üble Gerüchte über das 'russische Trainingsregime' gehört. Quasi die Hölle auf Erden", er grinste, "wobei Victor mir antwortete, das könne er nicht bestätigen, weil sich so viel Hitze nicht mit der Eisbahn vertrage." "...Klugschwätzer...", grummelte Yuri sehr leise. "Er hat nie Psychospielchen betrieben, irgendwen ausgegrenzt. Sein Einfluss half unserer Sportart enorm, das darf man auch nicht vergessen." Christophe ließ Yuri den Vortritt in die Eingangshalle, wo man sich artig den Schnee abklopfen konnte. "Jaja, ein total netter Kerl!", schnaufte der Russe unwirsch, sich etwas nervös umsehend. Das erste Haus am Platz bot auf diskrete, beinahe gemütliche Weise hochpreisige Annehmlichkeiten, was ihm etwas Unbehagen bereitete. "Hier ist die Garderobe." Christophe signalisierte der Dame am Empfang, dass er sich selbst um seinen etwas unkonventionell verpuppten Begleiter kümmern würde. Nachdem sie abgelegt hatten, durchquerten sie langsam das Restaurant, welches nicht nur von den Hotelgästen genutzt wurde, ließen sich einen Zweiertisch zuweisen. Das Menü studierend seufzte Yuri innerlich auf. Zweifellos hätte der alte Sack genau gewusst, was hier angeboten wurde, doch er konnte nur mutmaßen und war sich auch gar nicht sicher, ob sein Magen sich zivil zeigen würde, der etwas entwöhnt war und eigentlich noch vom Frühstück zehren sollte. "Was möchtest du essen?" Christophe erkannte die uneingestandenen Nöte seines Gastes einfühlsam. "Wie wäre es mit einer Gemüsebrühe vorweg? Und danach etwas Leichtes? Sportkost?" "Muss ich Salat haben?", erkundigte sich der Russe schicksalsergeben. Wie er diese essiggetränkten Fußlappen verabscheute! Sein Gastgeber lachte leise. "Ist Gemüse in Ordnung? Und Teigtaschen mit Füllung?" Für einen Augenblick verhärtete sich Yuris Mimik, als er sich den Vorschlag übersetzte. "...das hört sich gut an. Danke", murmelte er, die Fäuste unter der Tischkante kurz ballend. Christophe gab die Bestellung auf, schenkte höchstselbst dezent sprudelndes Wasser aus und betrachtete Yuri einen Moment schweigend. "... Victor mag dich", nahm er schließlich den Gesprächsfaden wieder auf, "auch, weil du keiner seiner 'Klone' bist. Du hast das Potential, Mauern zu sprengen, die er selbst nicht niederreißen konnte." Der Russe nippte an seinem Glas, die grünen Katzenaugen blickten skeptisch. "Das hat er dir gesagt? Der feine Herr Nikiforov hat tatsächlich Grenzen?" Wieder studierte ihn der Schweizer länger als es Yuri lieb war, auf eine nachdenkliche, besorgte Weise. "Victor hat auf seine Art eine Menge bewegt, keine Frage", antwortete er ruhig, "aber du weißt selbst, dass man sich einen Panzer zulegen muss, um so weit zu kommen. Und dort zu bleiben, jedes Jahr aufs Neue." Er drehte bedächtig sein Wasserglas. "Den gewaltigen Erwartungsdruck kennst du vermutlich selbst", adressierte er Yuri ernst, "aber mit der Zeit stellst du fest, dass immer neue Gesichter auftauchen. Die Welt dreht sich weiter, die alten Weggefährten und Konkurrenten wenden sich ab, steigen aus. Nur du selbst bleibst übrig, in dieser kleinen Blase, die nicht zerplatzen darf, weil daran so vieles hängt." Christophe seufzte leise. "Alle Leidenschaft, aller Ehrgeiz kann die Einsamkeit dieser Blase nicht verdrängen. Es ist schwierig, einem anderen zu erklären, warum man daran festhält, noch nicht bereit ist, endlich 'richtig' zu leben wie alle anderen." Yuri schwieg. "Victor und ich sind quasi die Dinosaurier unserer Eislaufgeneration. Er und ich haben jede Saison zusammen bestritten, sonst niemand. Ohne seine Ermunterung, einen eigenen Stil zu finden, hätte ich nie so lange auf dem Eis bestehen können, deshalb verbindet uns nicht nur Freundschaft, sondern auch gemeinsame Erinnerungen, die kein anderer teilt." Da ihnen nun die Gemüsebrühe serviert wurde, konnte diese intime Offenbarung länger in Yuris Kopf herumspuken als diesem behagte. "...trotzdem hat er ständig gewonnen!", platzte er heraus, als die hübschen Suppentassen abgetragen wurden, "hat dich das nie genervt?!" Der Schweizer lachte. "Oh, und ob! Ich hab immer gedacht, dass ich ihn dieses Mal aber bestimmt auskontere, und prompt hat er noch ein Ass aus dem Ärmel geschüttelt!" Christophe lächelte. "Aber, weißt du, es ist eben auch faszinierend, ihm zuzusehen, sich zu fragen, was er jetzt wieder ausgeheckt hat. Wirklich böse sein konnte ich ihm nie, weil sich sein Talent nicht gegen andere gerichtet hat. Ich glaube, es hätte ihn sogar ausgebremst, wenn er nur für sich allein auf dem Eis gelaufen wäre. Resonanz ist wichtig, besonders von Konkurrenten, die die Leistung richtig beurteilen können." Ein Argument, das Yuri den Wind aus den Segeln nahm. Glücklicherweise kam die Hauptspeise nun, enthob ihn eines Kommentars. Es erleichterte ihn, dass die Teigtaschen keine Ähnlichkeiten mit Piroshki aufwiesen, denn noch immer versetzte ihm dieser Anblick einen schmerzhaften Stich. Was selbstverständlich total lächerlich war! Unseligerweise ließ sich sein Herz nicht so einfach dressieren, wie er es wünschte. "Magst du noch einen Nachtisch?", brachte Christophe sich wieder in Erinnerung. Nun starrte Yuri ihn beinahe ungläubig an. "...hast du vergessen, dass ich im Training bin?!", erkundigte er sich eher verblüfft als verärgert. "Eine Waffel mit Kompott wird dich bestimmt nicht aufgehen lassen wie einen Hefekloß", schmunzelte der ältere Schweizer amüsiert. "ICH bin ja auch nicht Katsudon!", schnaubte der Russe gehässig. "Na ja, der eine isst bei Kummer zu viel, der andere wird dünn wie ein Streichholz!", schoss Christophe bezeichnend zurück. Ertappt konterte Yuri, "ich hab KEINEN Kummer, nur einen rasanten Stoffwechsel!" Christophe lupfte bezeichnend eine Augenbraue. "Nun, ich für meinen Teil WERDE mir eine Waffel mit Kompott gönnen", verkündete er souverän, "immerhin geht es heute Abend für uns noch auf die Eisbahn, nicht wahr?" Eine Herausforderung, kein Zweifel. "Schön!", fauchte Yuri grimmig, "dann halte ich eben mit! Will mir nicht nachsagen lassen, ich hätte einen unfairen Vorteil genutzt!" *~#~* Eindeutig in sich gekehrt folgte Yuri Christophes munterer Aufforderung, sich anzuziehen, um zur Sport- und Freizeitanlage Heuried zu laufen. Der Schweizer hatte ihm im Büro den Schreibtisch überlassen, sich mit dem Internet auf einen aktuellen Stand zu bringen, den Kontakt zu Freunden zu erneuern, vielleicht auch schon zu klären, wie seine schulische Karriere verlaufen konnte, nun, im fernen Ausland. Nach der langen Abstinenz, die lediglich die Ausleihe des Tablets seines kanadischen Zimmernachbarn unterbrochen hatte, fühlte sich Yuri bedrückt. Und verärgert, selbstredend, sonst wäre er ja gar nicht er selbst! Die guten Wünsche und Hilfsangebote duellierten sich mit Drohungen, wüsten Beschimpfungen und rufschädigenden Gerüchten. Es beschämte ihn, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte, wie viele sich auf seine Seite stellten, die eigentlich dazu gar keine Veranlassung hatten, die ihn doch ausschließlich von seiner abweisenden Seite kannten. Und dann Otabek. Ihn ganz aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen war unmöglich, aber man bemühte sich offenbar, einen annähernden Zustand zu erreichen: Russischsprachige Seiten gelöscht, offizielle Einträge entfernt, sein Name getilgt, sodass seine Erfolge lediglich seinem Land, aber nicht mehr ihm in persona zugesprochen wurden. Alles nur ihrer Freundschaft geschuldet, die man umdeutete, sie an den Pranger zu stellen. Wie sollte er das nur jemals ausgleichen?! Selbst wenn die Hintermänner entdeckt wurden, etwas von dem Schmutz bliebe für immer haften, würde ewig Zweifel beschwören. "Schlechte Nachrichten?" Besorgt legte Christophe ihm einen Arm um die schmalen Schultern, während sie durch Schneeregen in der einsetzenden Dunkelheit ihrem Ziel entgegenliefen. Yuri schnaubte bloß frustriert. "Das wird schon wieder", tröstete der Schweizer mitfühlend. "Nein", widersprach Yuri leise, durch zusammengebissene Zähne, "wird es nicht. Aber ich kann nicht zurück." Nicht, wenn er seine Unterstützenden nicht gefährden wollte, ihre Mühen und ihren Mut, sich hinter ihn zu stellen, auf Tiefste enttäuschen. Es gab keine lohnenswerte Alternative zum unbedingten Erfolg. Christophe drückte ihn sanft, aber kurz. "Du bist nicht allein, Yuri. Gemeinsam kriegen wir das hin." Nun konnte der jüngere Russe ein frustriertes Fauchen nicht unterdrücken. "Schön und gut, danke auch, aber warum?! Warum überschlagt ihr euch bloß alle so, mir zu helfen?! Ich bin nicht NETT!!" Ganz unzweifelhaft kein kokettierender Charmebolzen wie der feine Herr Nikiforov, der alle um den kleinen Finger zu wickeln wusste! An seiner Seite lachte Christophe auf. "Stimmt, nett bist du wirklich nicht, zumindest nicht zu uns", neckte er ihn, "aber wir sind deine Freunde. Und du verfügst, erstaunlicherweise", er grinste breit, "über ein paar ganz einnehmende Charakterzüge." Beinahe stolperte Yuri in seinen halbhohen, nachlässig geschnürten Arbeitsstiefeln, starrte ihn fassungslos aus grünen Katzenaugen an. "Was?!" Sichtlich aufgekratzt tippte der Schweizer auf die dezent gerötete Nasenspitze, zwinkerte. "Du bist zwar ungehobelt und kratzbürstig, aber auch ehrlich. Wenn man dich um Hilfe bittet, dann erhält man sie auch. Du gibst dich zwar grob, doch wenn jemand Kummer hat, tröstet du ihn." Nun starrte Yuri mit halbgeöffnetem Mund, den er abrupt zuklappte, nicht nur, weil die Kaltluft seiner Lunge gar nicht wohltat. "Also, das-das stimmt nicht! Ich helfe überhaupt niemanden, klar?!", schimpfte er eilig los, um seine Überraschung zu überbrücken. "Ah, nein?", Christophe schmunzelte, "auch nicht bei der Landung von Sprüngen, hm? Oder fern der Heimat am Geburtstag mit Piroshki?" "Katsudon!", schnaubte Yuri vernichtend, "kann der Depp nicht einmal seine Klappe halten?! Wieso erzählt der so was Peinliches herum?!" Christophe prustete amüsiert über die vergrätzte Verlegenheit seines jüngeren Begleiters. "Wenn es dich versöhnt", gurrte er frech, "meine Kostümschneiderin war ganze zwei Tage stocksauer auf dich, weil du mit deinem Madness-Auftritt dafür gesorgt hast, dass die Regeln verschärft wurden." Das hob Yuris Stimmung ein wenig an, denn er WOLLTE ja nun wirklich nicht einfach so gemocht werden! Allerdings hielt sein zufriedenes, diabolisches Lächeln nicht lange vor, denn der Schweizer fügte die größte Perle in seine Argumentationskette ein. "Und du hast Otabek Altin überzeugt, dich zu unterstützen." *~#~* Yuri konnte schlichtweg nichts erwidern, keine bärbeißige, gehässige Replik, zur Abwehr jeder Verantwortung, keine Andeutung, dass sich diese Anwandlung von Sympathie übel gerächt hatte, denn dann hätte er seinem kasachischen Freund erhebliches Unrecht zugefügt. Der Schweizer forcierte das Gespräch nicht, sondern wies ihm höflich den Weg in der ausgedehnten Anlage, die am Nachmittag stark bevölkert wurde. Während die Freizeitsportelnden das neue Außenfeld eifrig nutzten, würden sie sich in der großen Halle tummeln. Zuvor galt es jedoch, sich umzuziehen (in Yuris Fall lediglich teilweise zu entpuppen), um sich dann per Trockenübungen aufzuwärmen. Christophe wartete nachsichtig, bis er den Eindruck gewann, dass der jüngere Russe bereit war, sich das erste Mal nach dem Mordanschlag wieder aufs Eis zu stellen, was Yuri nicht entging, der sich besonders aufrecht hielt, sich auf keinen Fall eine gewisse Nervosität anmerken lassen wollte. Selbstverständlich hatten sie die Eisfläche nicht für sich allein, mussten Rücksicht auf andere nehmen. Aber das half auch, zerstreute sich zusammenballende Gedanken und Befürchtungen. Zunächst liefen sie lediglich einige Schleifen, lockerten die Gelenke. Da bremste Yuri abrupt ab, wandte sich herum, auf den obligatorischen Videowürfel hinauffunkelnd. Er kannte die abgespielte Musik! Wo saß hier die Regie?! "Ah!", Christophe glitt geschmeidig an seine Seite, "ist eins von Otabek, oder? Ging flott!" "Was ging flott?!", fuhr Yuri hastig herum, die Katzenaugen lodernd, "wieso läuft hier seine Musik?!" Der Schweizer lupfte nachsichtig eine Augenbraue, doch man hatte ihn schließlich auch vor dem eruptiven Temperament des jungen Russen gewarnt. "Vermutlich hatte er noch keine Gelegenheit, es dir auch zu sagen, aber er hat seine Werke Musikplattformen überlassen, damit man sie gegen Entgelt herunterladen oder streamen kann." Yuri starrte ungläubig mit halbgeöffnetem Mund. Aber das waren Otabeks eigene Stücke fürs Training! Seine Geheimwaffen!! "Hab gehört, dass Ausdauersportler sie gleich für sich entdeckt haben. So was spricht sich heute ja schnell herum. Ein zweites Standbein kann auch nicht schaden", referierte Christophe zur heimlichen Leidenschaft des Kasachen. Der jüngere Eiskunstläufer ließ ihn stehen, preschte eilig zur Bande, schob die Kufenschützer über und marschierte, gezwungen eckig, zum Spind. Dort maskierte er sich mit zwei Tüchern, grimmig. Christophe erwartete ihn bereits, dezent besorgt ob des eiligen Abgangs. "Ich muss mich bewegen!", drang gedämpft eine Vorwarnung durch die Tuchschichten. Und dann war Yuri entschlossen, so richtig Dampf zu machen! *~#~* Ja, es war nicht zu leugnen: die erzwungene Auszeit forderte ihren Tribut. Seine Beine fühlten sich schwer an, auch wenn sie ihm gehorchten. Schlimmer jedoch war sein vom Anschlag gezeichneter Oberkörper, unerlässlich für die Balance, für den Drehmoment bei den Sprüngen, für einzelne Elemente ohnehin. Früher half es seiner profunden Verärgerung mit dem ganzen Rest der Welt ab, wenn er sich so richtig beim Training erschöpfte. Sequenzen wieder und wieder absolvierte, bis jeder einzelne Knochen förmlich summte. Soweit kam er jedoch nicht, die Schmerzen im Oberkörper führten zu verkrampften Verspannungen, dies wiederum zu Fehlern. Und Frustration. Außerdem hatte man ihn eindringlich vorgewarnt, seine Lungen nicht zu überfordern, nicht zu viel kalte Luft zumuten, es auch mit der Belastung nicht übertreiben! "Komm, Yuri, gehen wir duschen", Christophe tippte ihn an der Schulter an, "sie machen gleich dicht." "Aber...!" Abrupt presste der Russe hinter den Tuchschichten die Lippen fest aufeinander, um bloß nicht die kindlich-unglückliche Anklage vollständig herausschlüpfen zu lassen. Otabek war nicht dazugestoßen. "...komme", murmelte er kaum vernehmlich, den Kopf gesenkt, die Fäuste ballend. Dass seine Rechte dabei zitterte, wollte er nicht wahrhaben. Christophe, der die unleidliche Wildkatze in Yuris Körpersprache unmissverständlich erkannte, wagte sich dennoch aufs eisglatte Parkett unverschämter Übergrifflichkeiten: er legte Yuri den Arm um die Schultern. "Bestimmt war heute einfach zu viel los!", tröstete er, auf ein Fauchen, einen Abwehrreflex wartend, "das wird zwischen den Feiertagen garantiert weniger." Der jüngere Eiskunstläufer antwortete nicht, befreite sich aber auch nicht mit einer rüden Geste. Er war so still, so gehorsam, dass er seinen Schweizer Gastgeber beunruhigte. "Ist alles in Ordnung? Hast du dich erkältet?", erkundigte Christophe sich deshalb auf dem einsamen Weg zu den Kabinen. "Es geht mir gut", antwortete Yuri, doch seine Stimme klang so, als empöre ihn dieser Umstand, stelle eine gewisse Ungerechtigkeit dar. "Na dann gib mir deine nassen Sachen und dein Handtuch, in Ordnung? Ich kann sie bei uns waschen", er zwinkerte in die allzu stillen Katzenaugen, "bei Urs ist das etwas umständlich." "Danke", nickte Yuri artig. Nun, es war tatsächlich eine großzügige Geste! Außerdem mussten sie mit ihren Kleidern sowohl sparsam als auch sorgfältig umgehen, denn mehr als das, was sie nach Kanada mitgenommen hatten, stand ihnen nicht zur Verfügung. Geld (Otabeks Arbeitslohn!) konnte für derlei Petitessen und Eitelkeiten ganz sicher nicht verschwendet werden! Schwor sich Yuri, der sich auch glücklich schätzte, wenigstens alle Geschenke von Otabek gerettet zu haben, weil er nichts von Wert in seinem Zimmer zurücklassen wollte. Er stellte sich unter die Brause, ein wahrer Luxus, schäumte sparsam etwas (bei Urs verbotenes) Waschgel auf. Seine Arme schmerzten, besonders der rechte, was ihn nicht davon abhielt, sich besonders verbissen einzuseifen. Wenn man nun die Temperatur ein wenig erhöhte, würde vielleicht die Hitze etwas von den Verspannungen lösen... "Fertig?" Christophe schlug ungeniert die halbhohe Schwingtür auf, das Handtuch lässig um die sehr aparten Hüften geschlungen. "..sofort!", antworte Yuri ertappt, der mit geschlossenen Augen eine weitere Karriere als Hummer anstrebte. Der Schweizer griff an ihm vorbei, drehte die Brause ab und starrte, trotz beschlagener Brillengläser, bestürzt auf Yuris Oberkörper, mager bis ausgemergelt, vor allem aber von verheilenden Wunden übersät, die ihn als Narben für den Rest seines Lebens zeichnen würden. "Sollte vielleicht bei einem Tätowierer mit Malen nach Zahlen vorstellig werden, wie?", säuselte Yuri pures Gift in Vorwärtsverteidigung. Ja, es SAH fürchterlich aus, besonders jetzt gerade, mit der deutlich erhitzten Haut, aber das war nicht das Problem. Sein Aussehen konnte er ignorieren, verschwand es doch zumeist unter Kleidungsschichten. Nein, schlimm waren die Blicke der anderen. Sie lähmten ihm die Zunge, erfüllten ihn mit Unbehagen, weil er nicht wusste, wie er die Betroffenheit, das Mitgefühl, den Kummer lindern sollte. Also schlug er zu, verbal, vernichtend, sarkastisch bis selbstverachtend, denn wenn sie wütend wurden, beleidigt waren, sich abwandten, dann konnte er durchatmen, spürte diesen lähmenden Druck nicht mehr so stark. Eben ganz der verwilderte, aggressive Streuner, der zubiss, kratzte und spuckte, der lieber allein blieb, als sich überwältigen zu lassen. Nur war Christophe Giacometti keineswegs mit herkömmlichen Methoden abzuschrecken. Ein schiefes Grinsen huschte über sein Gesicht. "Tja, wenn man dich sonst so erlebt, kann man vergessen, dass du nur mit viel Glück dem Tod von der Schippe gesprungen bist", er gestikulierte dezent, "aber es zu sehen, das ist starker Tobak." "Pah!", schnaubte Yuri demonstrativ, sich hastig frottierend, "guck halt nicht hin! Mach ich ja auch nicht!" Der ältere Mann lachte auf, "Ja, ich kann mir vorstellen, dass das hilft", gab er neckend zurück, "aber ich bin nicht sicher, ob du JJs Vorbild folgen solltest und dich auch tätowieren lässt..." "Pff!", fauchte der jüngere Russe prompt, sich in das Handtuch wickelnd, "ich bin nicht so ein Gehirn-Eunuch, dass ich mir alles auf die Haut krakeln muss, damit ich's nicht vergesse! Aber der Voll-Honk ist wahrscheinlich auch mit dem Gebrauch von Papier und Stift überfordert!" "...huhu!", Christophe wedelte mit der Rechten, "na, zwischen euch ist ja keine Liebe verloren, wie?" "Ich kann ihn nicht leiden!", stellte Yuri kategorisch fest, "auch wenn es ziemlich nett war, die Sache mit den Behandlungskosten zu klären." Sie kleideten sich rasch an, dann sammelte Christophe auch die feuchten Handtücher und verschwitzten Trainingsklamotten ein. "Moment!", hielt er Yuri jedoch an, "du gehst nicht mit nassen Haaren raus!" "Ich hab eine Mütze!", begehrte der Russe auf, doch sein älterer Sportkamerad hatte schon ungeniert in die langen, hellblonden Haare gegriffen, sie mit den Händen aufgefächert. "Hey!" "Zappel nicht, ich hab's gleich!" Mit unvermutetem Geschick fädelte Christophe Strähnen zu einem französischen Zopf auf, durch die Nässe noch unterstützt. "Sind ganz schön lang geworden! Oh, ich glaube, dein Fan-Club würde mich vierteilen um diese Gunst hier!" Der letzte Satz war eindeutig gedacht, ihn zu triezen, um die Laune wieder zu heben. "Ich kann's nicht leiden, wenn mir einer in die Wolle langt!", fauchte Yuri prompt, doch hier saß Christophe am längeren Hebel bzw. hielt unbekümmert den Zopf im Griff. "Mütze, bitte!", orderte er wie im OP-Saal, rollte den Zopf auf, um ihn geschickt nach oben zu wickeln, während er gleichzeitig den Läusewärmer justierte. "Was für ein Aufstand!", grollte Yuri leise. Seinen vornehmen Hut justierend zwinkerte ihm Christophe frech zu. Sie verließen tatsächlich als letzte das Sportgelände und tappten durch Neuschnee. Die Luft kondensierte sichtbar vor ihren Lippen, sodass Yuri der Notwendigkeit geschuldet seinen Schal bis über die Nasenspitze zupfte. "Ich bringe deine Sachen morgen wieder mit", der Schweizer schwenkte den Wäschebeutel, "allerdings kann ich erst gegen Abend kommen, in Ordnung?" "Sicher", brummelte Yuri, der wusste, dass er sich konzilianter zeigen musste, "danke." Christophe schmunzelte. "Hör mal, du kannst jederzeit im Hotel vorbeikommen, in Ordnung? Um das Büro zu nutzen, zu telefonieren, was immer nötig ist, ja?", bot er an, "ich weiß, dass es da draußen am Berg recht abgeschnitten von der Welt sein kann." Obwohl die Luftlinie so kurz war, eigentlich nicht mehr als ein Katzensprung. "Danke", nickte Yuri hinter seiner wolligen Verpuppung. Allerdings wollte er die Offerte ganz sicher nur im Notfall wahrnehmen, denn es widerstrebte ihm, anderen zur Last zu fallen, von ihnen abhängig zu sein. Für einen Augenblick hatte er Mühe, Luft zu holen und verabscheute sich selbst, weil er gegen diese Prinzipien verstieß, ein erbärmlicher Schmarotzer WAR! Er ballte in den Taschen des Tarnflecken-Parkas die Fäuste, bis er vor Schmerz mit den Zähnen knirschte. "Otabek", murmelte er, "du sagtest vorhin, dass ihr wegen Otabek helft?" Der ältere Mann neben ihm lächelte versonnen. "Das stimmt. Otabek Altin", Christophe blies Atemwolken in die Dunkelheit, "ein richtiges Mysterium. Zumindest in seinem ersten Seniorenjahr, weißt du? Damals kam auch JJ dazu, schaffte es in die Grand Prix-Finalrunde. Victor und ich waren nicht unbedingt begeistert von ihm, aber von seinen Leistungen her war uns klar, dass wir ihm wohl öfter mal über den Weg laufen würden. Dann taucht dieser rätselhafte Kasache drei Monate später bei den Weltmeisterschaften auf und schnappt sich die Bronzemedaille!" Er riskierte einen Seitenblick und registrierte, mit welcher Spannung Yuri auf seine Worte lauerte. "Wir haben natürlich versucht, uns schlau zu machen!", er zwinkerte, "aber außer seiner Trainingsbiographie, die eher an einen Nomaden erinnerte, bekamen wir kaum was raus! Er war ständig von seinem Team umgeben, keine Chance, ihn mal unverfänglich anzusprechen. Das machte uns natürlich noch neugieriger", bekannte er, "aber wir waren uns auch beide einig, ihm nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken. Das hätte ihn vielleicht in Schwierigkeiten gebracht, wenn man ihm schon ständig auf den Socken stand." Die Hände wechselnd für Sporttasche und Wäschebeutel unterbrach er sich kurz. "Wir haben dann gemeinsam alte Bekannte angespitzt. Da kam durch Zufall heraus, dass Otabek Altin ein Alter Ego pflegt, ein absoluter Geheimtipp als DJ ist. Nur unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit erzählte mir ein Freund davon. Sie wollten nicht, dass Otabek Ärger bekam. Immer, wenn es eine private Party gab, haben sie ihn gebeten, als DJ einzuspringen. Klar, er war ja noch Schüler und minderjährig, aber niemand durfte von 'DJ Beka' etwas wissen!" Konzentriert blickte Christophe vor sich, in der Zeit zurückreisend. "Das wirklich Verblüffende war: alle haben sich daran gehalten. Kein anderer DJ, kein Mitschüler, kein Bekannter, kein Partygast, absolut NIEMAND hat ihn verraten. Das bedeutet, dass er ein sehr guter Freund sein muss, jemand, den man unterstützen möchte." Christophe spürte die grünen Katzenaugen wie Brenngläser auf sich gerichtet. Er blieb stehen, lächelte zurückhaltend und ernst. "Otabek Altin hat einen bemerkenswert klugen Kopf auf seinen breiten Schultern sitzen, Yuri." Der Russe funkelte zurück, wandte sich dann jedoch als erster ab. "...ist mir nicht entgangen!", schnarrte er bissig, nahm ihren Marsch wieder auf. Aber er fragte sich in stillem Brodeln, ob er tatsächlich so viel über seinen Gefährten wusste, wie er glaubte. *~#~* Kapitel 11 - Aus der Balance Nachdem er sich artig, wenn auch zurückhaltend von Christophe vor dem Hotel verabschiedet hatte (und eine Begleitung bis zum Ortsrand am Uetliberg strikt ablehnte), stapfte Yuri grimmig den Pfad entlang bis zur Hofreite. Dort begrüßten ihn freudig grunzend zwei prächtige Damen, die ihn, im Verlangen nach Kraul- und Streicheleinheiten, etwas entspannten, von seinen unerfreulichen Gedanken ablenkten. Urs erwartete ihn in der Stube, doch auf eine Spätmahlzeit verzichtete der junge Russe, nach Essen war ihm einfach nicht zumute. Gemeinsam trugen sie, in der Hoffnung auf Schneefälle, die Blechbütten nach draußen, pumpten Wasser für die morgendliche Katzenwäsche. Urs verlor nicht viele Worte, da ihm versichert worden sei, ja, die Sportanlage sei wirklich prächtig und er habe auch ordentlich trainiert! Nein, er sei gewiss nicht hungrig, da er zur Mittagszeit ein Drei-Gänge-Menü im Restaurant verputzt habe. Und er möge doch bitte Otabeks Verspätung nachsehen, womit der alte Mann kein Problem hatte, sondern bloß grinste. "Is viel zu tun, bei Rizzis", nickte er. Yuri wollte jedoch aufbleiben, auf Otabek warten, weshalb er sich höflich erkundigte, ob er wohl einen Blick in die zahlreichen Bücher werfen dürfe, zwecks Spracherwerbs. Mit einer großzügigen Geste umfasste Urs den gesamten Bestand. "Schau nur rein, is recht! Magst vielleicht anfangen mit den Büchern für die Kinder? Da helfen die Bilder beim Verstehen." Seine Laterne illuminierend verabschiedete sich ihr Vermieter für die Nacht in seine Kammer und Yuri blieb allein in der Stube zurück, blätternd, seine bleierne Müdigkeit verwünschend. Glücklicherweise weckten Lotti und Dorli ihn aus dem Halbschlaf, als sie vor der Tür den Spätheimkehrer gutmütig begrüßten, was Yuri ihnen nachtat, rasch auf die Beine sprang, als Otabek die Stube betrat, schon vom Schnee befreit. "Tut mir wirklich leid, dass es so spät geworden ist!" Der Kasache schenkte ihm einen besorgten Blick. "Es war einfach zu viel zu tun! Wie ist dein Training heute gelaufen? Hast du Schmerzen? Was sagt der Arzt?" Die Hände in die schmalen Hüften stützend schnalzte der jüngere Russe tadelnd mit der Zunge. "Was ist los, hast du Plapperwasser getrunken?! Oder fällst du gleich über die eigenen Füße?" Otabek grimassierte zurückhaltend, um Nachsicht bittend. "Na schön, also, Training grauenvoll", schnaubte Yuri, die Katzenaugen rollend, "jede Oma hätte mich überholen können, bloß haben die sich draußen getummelt! Ich bin lahm wie ne Ente, total aus der Form! Die vom Spital klingeln bei Chris durch, wenn sie Ergebnisse haben." "Ah! Genau!", der Kasache zupfte einen Notizzettel aus seiner Jackentasche, "hier, gib ihnen bitte auch die Nummer von der Werkstatt, ja? Nur für den Notfall." Betont unwirsch zupfte Yuri das Papier aus der kraftvollen Hand, stopfte es in seine Parkatasche am Haken in Kaminnähe. "Willst du noch was essen? Oder Kaffee?", wandte er sich ab, Geschäftigkeit mimend. "Danke, aber ich bin noch satt von heute Mittag", antwortete Otabek, neben ihn tretend, um zu überprüfen, dass der Ofen ausreichend bestückt war, bis zum Morgen ein kleines Feuer vorzuhalten. "Die Mutter meines Arbeitgebers hat darauf bestanden, dass ich bei ihnen mitesse. Ohne es vom Lohn abzuziehen." "Das ist sehr nett", murmelte Yuri und verabscheute sich selbst. Der Kasache schwieg einen Moment, studierte seinen jüngeren Gefährten, nahm dann die Laterne an sich. "Nimmst du unsere Kaffeebecher?", fragte er gelassen. Wortlos apportierte Yuri diese die Stiege hinauf, stellte sie gleich hinter der Tür ab, wo er eine alte Zeitung ausgebreitet hatte. "Hab heute Morgen sauber gemacht", referierte er mit gedämpfter Stimme auf die Bohlen, "also Stiefel aus!" Artig folgte Otabek dieser Aufforderung, dann tauschten sie Stühle mit Bettzeug aus einem Alkoven, schlüpften aus Bekleidungsschichten. Den Lichtschein erheblich reduzierend merkte der Kasache auf ihrem Lager an, "Yuri, wenn ich dich verärgert habe, sag es mir. Bitte." Auf der Seite liegend (rechter Arm, verdammt!) brummte Yuri, "ich bin nicht wütend auf dich." Das sollte sich, mit voller Absicht ändern, denn Otabek rollte ihn einfach herum, halb auf sich, betont selbstherrlich die Arme um den mageren Russen schlingend. "Was ist dann los?" Zischend richtete sich Yuri auf, im Dämmerlicht den Freund zornig anvisierend. "Ich bin auf mich sauer, okay?! Ich dachte, wir wären uns total ähnlich, aber da habe ich falsch gelegen, okay?! Ich hab heute gemerkt, wie doof ich bin und wie wenig ich dich kenne, klar?! Außerdem kotzt es mich an, dass ich keine Ahnung davon hatte, dass du deine Musik verkaufen musstest, OKAY?!!" Metaphorisch schäumend kauerte der junge Russe über dem älteren Eiskunstläufer, nur mit GROSSER Mühe seine Stimme dämpfend, die eigentlich die ganze Hofreite bis in den Wald hinein zusammenbrüllen wollte! Sich auf die Ellen stemmend setzte Otabek zu einer gefassten Erwiderung an, doch blitzartig versiegelte Yuri ihm den Mund mit der Linken. Sie beklagte sich nämlich weniger über sein selbstmörderisches Temperament als der lädierte, rechte Arm. "Ich WEISS! Du brauchst mir nichts zu klären!", fauchte er unterdrückt, "ganz blöd bin ich ja nicht! Erstens brauchen wir das Geld, zweitens können sie dich nicht einfach so verschwinden lassen, wenn die ganze Welt weiß, wer du bist und drittens", er senkte den Kopf, um Beherrschung ringend, "hätte ich es besser wissen müssen. Ich wollte es bloß nicht." Er ließ die Hand sinken, sackte ein wenig in sich zusammen, fühlte sich erbärmlich und verabscheute sich für diesen Impuls. "Ich war mir nicht sicher, ob es tatsächlich funktioniert", raunte Otabek schließlich, "aber ich hatte nicht vor, es dir zu verschweigen. Und es stimmt, ich WILL den Preis hochtreiben, was unsere Gegner betrifft." Langsam hob er die Hand, streichelte über den kunstvollen Zopf. "Was macht dich glauben, mich nicht gut zu kennen, Yuri?", flüsterte er rau, sich merklich zurücknehmend, wie stets sein Temperament kontrollierend. Yuri ballte reflexartig die Fäuste, zischte unartikuliert. "Bitte, sprich mit mir", wisperte der Kasache kaum hörbar. Dafür erntete er einen heftigen Stoß mit beiden Händen vor den muskulösen Brustkorb. "Du HAST Freunde! Jede Menge sogar! Du kommst mit allem zurecht, hast viele Talente und noch mehr Grips! Da draußen wollen dich alle unterstützen, dir helfen!", brach es heftig aus Yuri heraus, "es ist kein bisschen wie bei mir! Ich dachte, du wärst auch allein, hättest niemanden, nur das Eis würde für dich zählen! Aber du kannst alles tun und sein, was du willst! Ich bin bloß ein Hemmschuh für dich!" Abrupt drehte er den Kopf zur Seite, presste die Lippen zusammen. Zu spät. Viel zu spät. Erbärmlich. Widerwärtig. Seinen Frust, seinen Selbsthass, seine ekelhafte Angst an der einzigen Person auszulassen, die ihm jetzt so loyal und unerschütterlich zur Seite stand. Otabek schwieg. Keine wütende Tirade. Natürlich nicht. Auch keine Backpfeife, obwohl die sogar seinen Beifall gefunden hätte, nein, dazu war Otabek Altin einfach zu nett. Zu großmütig. Zu verständnisvoll. "...sag was!", hörte er sich selbst krächzen, "los, sag was!" Alles wäre besser als diese erstickende Ruhe, die den gesamten Raum ausfüllte, das Atmen erschwerte, sich in jede Ritze quetschte! "Ich bin hier, an deiner Seite, Yuri, weil ich es so will", antwortete der Kasache endlich. Yuri schluchzte auf, was er HASSTE, denn er SOLLTE sich nicht erleichtert fühlen, hatte das einfach nicht verdient! "Für einen so klugen Kopf hast du nen echt miesen Geschmack!", witzelte er kläglich, schlang die Arme um den kräftigen Nacken. Sofort fand er sich in einer vertrauten, warmen, verzeihenden Umarmung. "Ich hoffe, du siehst mir diese Schwäche nach", raunte Otabek mit grimmigem Humor an seinem Ohr, entlockte Yuri ein klägliches Auflachen. Sich etwas distanzierend, gerade ausreichend, auf Yuris Stirn den gewohnten Kuss zu setzen, wiederholte Otabek eindringlich, "vergiss das bitte nicht, Yuri: ich WILL es so." "Sturkopf!", murmelte der jüngere Russe, ließ sich aber widerstandslos hinunterziehen, warm einmummeln, an die Seite des Kasachen kuschelnd. "Aber ein netter Sturkopf. Meistens", wisperte dieser neckend. Erschöpft schnaubte Yuri bloß, schlief unter den unablässigen Liebkosungen rasch ein. Otabek notierte für sich im Stillen jedoch, dass er, wann immer es seine knappe Zeit erlauben würde, etwas zu unternehmen hatte, um Yuris profunde Verunsicherung zu bekämpfen. *~#~* Urs' Schritte auf der Stiege weckten sie beide auf. Yuri, der sich, zu seiner zähneknirschenden Beschämung angewöhnt hatte, an Otabek angekuschelt zu schlafen, stemmte sich eilends hoch und hatte Mühe, ein gequältes Stöhnen zu unterdrücken. Aber wie sagte noch die Baranovskaya? "Wenn's schmerzt, ist man noch nicht erledigt!" Otabek hatte inzwischen die Laterne hochgedreht, ihr Bettzeug vom Boden aufgesammelt und barg gerade die Stühle aus dem Alkoven. Über ihnen würde tagsüber das Lager lüften, soweit dies möglich war. Nach der Katzenwäsche kramte er in seinem Rollkoffer, klaubte ein kleines Säckchen heraus. Yuri, der sich grimassierend gewaschen hatte und das Auflösen des Zopfs verweigerte, um nicht wie ein Pudel mit ondulierter Dauerwelle auszusehen, lupfte eine Augenbraue. "Was ist das?" "Rasierapparat. Kannst du ihn bitte mit ins Stadion nehmen?", damit deutete Otabek auf seinen Schopf, "ich muss die Gunst des Stromanschlusses dort nutzen." "Kannst sie ja auch wachsen lassen!", neckte der Russe, die Katzenaugen reibend, "fesch mit Zopf, kommt sicher bei den Damen gut an!" Der Kasache schmunzelte leicht. "Leider verfilzen meine Haare viel zu schnell, deshalb wird daraus nichts werden." "Wirklich?" Herausgefordert streckte Yuri die Hand aus, strich durch die dicken, dezent wolligen Strähnen am Oberkopf, aber auch an den üblicherweise sehr knapp rasierten Seiten zeigte sich ein gewisser Hochflor. "Ja, leider", der Kasache wühlte das Allzwecktuch mit den lachenden Totenköpfen heraus, streifte es, jeden Protest ignorierend, über Yuris Kopf, "ich hatte zu Hause immer einen geschorenen Kopf." "Wie ein buddhistischer Mönch?!", platzte der Russe ungläubig heraus, widerwillig die Leihgabe akzeptierend, "ist ja fürchterlich!" Otabek lachte. "Oh, das hatte auch Vorteile! Schneller morgens beim Frühstück bedeutet mehr Anteil am Essen." Und nachvollziehbarer Weise trat persönliche Eitelkeit vor einem vollen Magen zurück, wenn man ein Kind war. "Los, gehen wir herunter." Er griff ganz selbstverständlich auch zu den Kaffeebechern. "Nimm bitte die Laterne mit, ja?" Unten erwartete sie Urs schon. Ohne große Konversation, mit erstaunlicher Übung meisterten sie gemeinsam die anstehenden Aufgaben. Dieses Mal erhielt Yuri eine Brotzeit und eine Thermosflasche, denn auf ein üppiges Mittagsmahl wie am Vortag hieß es wohl zu verzichten. Als Otabek sich verabschiedete, im Schneeregen Richtung Talsohle aufzubrechen, warf sich Yuri rasch den Parka über, ihm zu folgen. "Ich versuche, pünktlich zu sein", versicherte Otabek, eine Ermahnung erwartend. "Ja, ich weiß", Yuri blinzelte in das unwirtliche Wetter, "hör mal, es tut mir leid! Das gestern", er brach ab, da Otabek ihm das Allzwecktuch bis über die Nase zupfte. "Es muss dir nicht leid tun", antwortete er, "du kannst mir immer sagen, was los ist, Yuri. Ich bin dein Freund." Im vermeintlichen Schutz der Gesichtsverpuppung zog Yuri eine bittere Grimasse. Otabek war VERDAMMT NOCH MAL zu NETT!! "He!", eine große Hand fasste in seinen Nacken, dann spürte er sehr warme Lippen auf seiner kalten Stirn, "zweifelst du etwa an mir?" "Nein", grummelte der Russe griesgrämig, weil er sich diese Fallgrube selbst ausgehoben hatte und nun auch noch mit Anlauf hineinspringen musste. "Geh es bitte langsam an, hm? Überanstrenge dich nicht." "Geht klar", gab Yuri nach, wurde aus dem vertrauten Griff entlassen. Otabek lächelte. "Dann sehen wir uns heute auf dem Eis!" Yuri nickte knapp, sah ihm nach und brüllte mit heruntergezupftem Tuch, "versetz mich bloß nicht, Altin!!" *~#~* Selbstverständlich erging sich Yuri nicht im Müßiggang, sondern absolvierte all die Handreichungen, die Urs ihm gestattete. Außerdem war es zu früh für die Eishalle, und ins Spital würde er erst wieder einbestellt, wenn die Ergebnisse der Laboruntersuchungen vorlagen. Lotti und Dorli mochten bei dem rauen Wetter keinen Waldspaziergang unternehmen, und nach Lesen stand Yuri auch nicht der Sinn. Er begleitete Urs zur Backstube, schlenderte dann, mit Proviant und Otabeks Rasierapparat bestückt, Richtung Sportgelände, nur mal nebenbei, von der anderen Straßenseite, einen Blick auf Rizzis Werkstatt werfend, verstohlen, dick vermummt, bloß nicht auffallend. Yuri gestand sich ein, dass er mehr hätte fragen sollen. Müssen. Wie der erste Tag verlaufen war, ob sie ihn gut aufgenommen hatten, wie anstrengend die Arbeit war, die Sprachbarrieren. Ob er sich zutraute, trotz der Arbeit noch zu trainieren. Stattdessen hatte er eine idiotische Szene gemacht, herumgebrüllt und seinen Frust abgelassen!! Wirklich eine reife Leistung für einen FREUND! Und das alles nur, weil Christophe angedeutet hatte, Otabeks Eintreten sei für alle ausschlaggebend gewesen, ihm beizustehen. Gut, ganz so hatte er es nicht formuliert, aber es lief darauf hinaus! Es gärte noch immer in ihm, dass er angenommen hatte, der Kasache sei isoliert, habe keine Freunde und sei stets geradeheraus, ohne irgendwelche Untiefen in Charakter und Verhalten. Eine Fehleinschätzung, die, und das ließ ihn vor Frustration knurren, er selbst zu verantworten hatte, weil er eben nicht nachgedacht hatte, denn dann wäre ihm klar geworden, dass jemand, der mit 12 Jahren ins Ausland gegangen war, immer wieder für längere Zeit an fremden Orten leben musste, sich arrangieren mit schwierigen Begleitumständen, auf keinen FALL ein schlichtes Gemüt sein konnte. Er erinnerte sich an Otabeks dezente Mahnung, dass man nicht alles in Worte fasse, etwa die Fähigkeiten der Urgroßmutter. Klar, und ein kluger Kopf vermied es auch, seine Umgebung in Situationen zu bringen, in denen sie Fragen stellen musste, dann war es nämlich auch nicht erforderlich, sich Antworten auszudenken. Gerissen oder vielmehr taktisch versiert. Dem stand auch nicht Otabeks Auftreten entgegen, direkt, unverkrampft, ehrlich, ohne Schnörkel oder Brimborium. DAS hatte ihn fasziniert, die Entschlossenheit, die Selbstgewissheit. Und zu voreiligen Schlüssen geführt, die ihn nun zwangen, seine eigene Denkfaulheit zu verwünschen. Er WAR unmissverständlich darauf hingewiesen worden, dass den Betreuern, Funktionären und anderen lediglich die Spitze des Eisbergs bekannt war, was Otabeks "Verfehlungen" betraf. Höchstselbst hatte er ihm versichert, sich nur dann "ertappen" zu lassen, wenn es unumgänglich war, doch das ohne Heimtücke oder Verschlagenheit, zweifelsohne. So selbstgewiss und unerschrocken, wie der Kasache auf dem Eis auftrat, so verhielt er sich sonst auch. Verdammt clever! Yuri ballte die Fäuste, weil er es verabscheute, sich wie ein Idiot vorzukommen, schlimmer noch, ein Idiot zu SEIN! Allerdings, das ließ er zu seiner marginalen Selbstverteidigung gelten, konnte ihr gemeinsames Leben in Almaty als Beleg dafür angeführt werden, dass sich der Freund ihm gegenüber offen verhielt. Eigentlich beinahe verdächtig, wie gut das funktioniert hatte! Es gab keine Reibereien zwischen ihnen, im Gegenteil, man konnte einfach sehr gut mit Otabek Altin auskommen, selbst auf kleinstem Raum! Kein Anflug von misstrauischer Reserve gegenüber einem Konkurrenten, kein Belauern, keine aggressive Vorwärtsverteidigung, wie es selbst in St. Petersburg angezeigt war, auch wenn alle demselben Kader angehörten. Sie hatten zusammen gelacht, sich angefeuert, gemeinsam über Abläufen und Einzelheiten gebrütet. Yuri, mittlerweile in der Umkleidekabine eingetrudelt, die Sachen aus dem Schließfach ausbreitend, seufzte leise, ließ die schmerzenden Schultern sinken. Glücklicherweise war sonst niemand zugegen, der ihn beobachten konnte, was diese Nachlässigkeit gestattete. Es hatte so viel Spaß gemacht! Vielleicht war das ganz normal, wenn man Freunde hatte, aber darin fehlte ihm jegliche Erfahrung und jetzt fühlte er sich, nun, wütend, frustriert, genervt und enttäuscht. Dabei verhielt sich Otabek ja gar nicht anders! "Nur-nur gehört er eben nicht exklusiv mir. Und, er ist mir über", formulierte er kaum hörbar in seiner Muttersprache. Ja, DAS nagte an ihm, er konnte es nicht mehr länger vor sich selbst verleugnen. Otabek Altin hatte und war alles, was er gern für sich reklamiert hätte. Aber nun, mit rapider Bestürzung, war er gezwungen anzuerkennen, dass er hinter seinen eigenen Ansprüchen erheblich zurückblieb. Gut, er hatte nie ein so aufgeblasenes Ego wie Affenarschangebervollidiot JJ, doch für einen ziemlich tollen Hecht im Karpfenteich hielt er sich schon. Bis jetzt. Die Baranovskaya, mit der man derartige Gespräche NIEMALS führen konnte, ermahnte ihn in Schwächephasen stets unnachgiebig, sich die eigenen Stärken vor Augen zu führen. Und natürlich das angestrebte Ziel. "Na toll!", schnaubte Yuri, stemmte sich hoch, um erste Übungen zu beginnen, die protestierenden Muskeln und Sehnen zur Kooperation zu zwingen. Stärken? Halsstarrigkeit, mutmaßlich Untergewicht (im Moment nicht nützlich dank allumfassender Schlappheit!), schulfrei (ohne Schulabschluss, wenn es so weiter ging), ungebunden (Naturtalent, alle und jeden von sich abzuschrecken!). Bei Schwächen wollte er lieber gar nicht erst anfangen. Und Ziele? Zurück an die Spitze! Was auch sonst?! Ja, was auch sonst. Yuri ballte die Fäuste, zischte sehr leise eine Aneinanderreihung aller ihm bekannten Verwünschungen. Das entspannte, minimal. Tatsache war, dass er nichts anderes vermochte als auf dem Eis zu laufen, zu springen. Und sonst nichts. Zum ersten Mal seit langem konnte er nicht mehr daran glauben, dass diese Aussicht auch etwas Positives in sich barg. *~#~* Yuri suchte sich ein einsames Eckchen jenseits der Bande in der Halle. Der Außenbereich war weiterhin gesperrt, da der anhaltende Schneeregen einfach kein Laufen zuließ. Hier, ohne direkten Zugang zum Kunsteis, absolvierte er routiniert, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, seine täglichen Übungen, wobei diese ja gerade nicht mehr täglich gewesen waren, was sich eindeutig bemerkbar machte. Einerlei! Er MUSSTE rasch wieder seine Form finden, nur darauf kam es an, denn wenn er nichts weiter war als ein (ziemlich guter) Eiskunstläufer, dann hatte er gefälligst DAS zu bringen! Und wenn es gelang, rasch wieder in den Turnierzirkus einzusteigen, konnte er vielleicht doch noch...das wäre auch finanziell endlich ein Beitrag zu ihrer Kriegskasse! Da auf Otabeks Fingerzeig hin die gesamte bisherige Saison gleich mit dem kompletten Programm bestritten worden war, sollten sich seine lädierten Knochen und Sehnen ja an alles erinnern! Theoretisch. So langsam leerte sich gegen Mittag die Eisfläche, die "Stützpinguine", die die Jüngsten gern benutzten, fuhren artig in ihr Lager ein, auch die Seniorenschar reduzierte sich merklich. Eislaufen erschien ihm, der von der Seite aus beobachtete (nun, hin und wieder Blicke warf, während er sich dehnte, streckte und Stärkungsübungen absolvierte), eine Art Volkssport zu sein. In der relativen Einsamkeit glitt er aufs Eis, artig vermummt, wie ihm aufgetragen war. Er ignorierte die dezente Kirmesorgelmusik, die das Privatvergnügen beschallt hatte, nutzte die Gunst, um einige der Routinesequenzen abzuspulen. Gleiten, in Ordnung, Schrittwechsel, na ja, die ersten Sprünge: ganz oder gar nicht, das war die Devise. Also musste mindestens eine vierfache Umdrehung des Axel her! Die Balance in seinem Oberkörper stimmte nicht, das merkte Yuri sofort. Das Abfangen verlief noch schlechter, weil ihm der rechte Arm einknickte und er sehr ungraziös aufs Eis plumpste. Einen leisen Fluch zischend kam er wieder auf die Beine. Eiskunstläufer waren Stürze gewohnt, blaue Flecken gehörten zum Berufsbild. Allerdings hatten ihn seine herausragende Körperbeherrschung und das jahrelange Training solcher Unerfreulichkeiten ziemlich ENT-wöhnt. Sein Magenknurren überhörte er grimmig, zupfte am Multizwecktuch herum. Nein, solange er hier wenig Konkurrenz auf der Fläche hatte, würde er TRAINIEREN! Pause gäbe es später. Möglicherweise. *~#~* Otabek empfand es erneut als eine erhebliche Erleichterung seines Arbeitsalltags, dass sein Arbeitgeber ein aufrichtiger und gewissenhafter Mensch war und deshalb auch darauf achtete, dass die Überstunden des Vortags keineswegs zur Regel wurden. Natürlich, wenn Not am Mann war, dann ging das vor, doch für einen Ausgleich würde gesorgt werden. Außerdem existierten diverse Arbeitnehmerschutzgesetze, was dem Kasachen durchaus zusagte. Sie kamen jedenfalls gut voran, die Belastungsspitze hatte sich merklich abgeflacht und Rückschläge traten selten auf. Nicht zu vergessen, dass ihm seine Tätigkeit gefiel. Insgeheim hatte er sich nämlich durchaus von den anderen Familienmitgliedern als dezent bemitleidenswert betrachtet gefühlt, was seinen Alltag betraf. Sie reparierten Apparate und Maschinen, sorgten ganz reell für einen erleichterten Lebensstil (was alle zu schätzen wussten, die nicht mehr gewaltige Strecken zu Fuß bewältigen, Wäsche mit der Hand waschen oder Landwirtschaft manuell bestreiten mussten), während er, nun ja, einer luxuriösen Kunstform huldigte, die keinen direkten Mehrwert abwarf. Sicherlich, sie erbaute die Seele, erfreute die Betrachtenden, und kostete Platz, Energie und Rohstoffe. Hier trat er zumindest in kleinem Maßstab den Beweis an, dass er nicht ganz "aus der Art" geschlagen war, durchaus egoistisch, doch Otabek gefiel der Gedanke, dass seine Verbannung/Bestrafung/Existenzverleugnung ihn wenigstens in dieser Hinsicht nicht unglücklich machte, sondern im Gegenteil mit einer gewissen Befriedigung erfüllte. Pünktlich verabschiedete er sich deshalb gut gelaunt, eilte zum Eisstadion. Der Schneeregen hatte am späten Nachmittag ein Einsehen gehabt, weshalb zu saisonal angepasster, farbiger Beleuchtung auf dem Außenbereich das Eis dicht bevölkert war. Mit Zugangskarte für den Sportbereich strebte er den gemeinsamen Spind an, fand dank Zweitschlüssel auch seinen Rasierapparat. Mit dem richtigen Adapter und einer ausgelegten Zeitungsseite schor er sich geübt die Schädelseiten. Für den Oberkopf mussten "Daumenmaß" und eine scharfe Schere herhalten. Wieder zur eigenen Zufriedenheit präpariert, der Welt zu begegnen, schlüpfte er in Trainingskleider und machte sich auf die Suche nach seinem russischen Freund. *~#~* Yuri schluckte gierig das in der Thermoskanne abgefüllte Leitungswasser. Praktisch, dass es hier Trinkwasserqualität hatte! Sonst gab es nur die abgekochte Version, die ihm immer etwas fade erschien. Er beobachtete Christophe, der sich geschickt Schleifen auf dem Eis suchte, um Versatzstücke einer Choreographie zu repetieren. "Hallo, mein Freund." In seinem Windschatten legte ihm Otabek eine Hand auf die Schulter, unseligerweise (oder im Gegenteil absichtlich) die rechte, die reflexartig zuckte, ihn zischen hieß. Sofort spürte Yuri die tiefschwarzen Augen prüfend auf sich gerichtet, schon strichen beide kräftigen Hände über seine knochigen Schulterblätter. "Ah, schon gut! Ich war nur in Gedanken!", versuchte der Russe es mit einer Nebelkerze. Sie zündete nicht. "Es fühlt sich verhärtet an", bemerkte der Kasache betont neutral, jedoch ohne Einstellung seiner Massagetätigkeit. "Weil's eben Knochen sind!", knurrte Yuri automatisch, in seine frühere Abwehrhaltung verfallend. Otabek verkniff sich eine Bemerkung zu der ihm sympathischen Unfähigkeit des jüngeren Russen, überzeugend zu lügen. Stattdessen streifte er sich seine Trainingsjacke ab und legte sie Yuri um, der in Protest ausbrechen wollte. "Bitte pass für mich auf sie auf", schnitt er ihm ungewohnt forsch das Wort ab, "ich will mal eine Runde wagen!" So blieb Yuri nur ein frustriertes Knurren. Unter den erbosten Katzenaugen umkreisten sich die beiden älteren Eiskunstläufer, im Fluss bleibend, auf spektakuläre Sprünge verzichtend, denn auch in der Halle tummelten sich noch viele Freizeitlaufende. "Wie kommst du voran?", erkundigte sich Otabek bei Christophe, der eine Pirouette drehte. "Oh, gar nicht so übel", der Schweizer lächelte, "und, was macht deine Form?" "Bisschen steif", bekannte Otabek, denn obwohl er sich bemühte, in seinen Alltag so viele Übungen einzubauen wie möglich, musste er sich eben auf seine Erwerbstätigkeit konzentrieren. Andererseits spürte er schon, dass er sich auf seinen jahrelang trainierten Körper verlassen konnte. "Das Spital hat sich gemeldet. Yuri hat morgen einen Termin", plauderte Christophe, "gerade noch rechtzeitig vor den Feiertagen. Dann ist hier übrigens zu, also kein Lauftraining möglich." "Danke für den Hinweis", der Kasache ließ eine Schrittkombination auslaufen, "wir werden uns schon behelfen." Gemeinsam kehrten sie zur Bande zurück, wo Yuri entschlossen schien, die Trainingsjacke aber SOFORT ihrem Besitzer zurückzuerstatten. "Ah, hört mal, wollt ihr vielleicht an Heiligabend bei uns essen?", sprach Christophe eine Einladung aus, "die anderen beiden Feiertage besuchen wir wechselweise unsere Familien, da klappt's leider nicht." "Wir möchten keine Umstände bereiten", antwortete Otabek sofort, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass der Hotelbetrieb Christophe nicht in Beschlag nahm, schließlich verreisten durchaus viele Leute über die Feiertage oder gönnten sich ein auswärtiges Essen. Der Schweizer lachte. "Das sind keine Umstände! Nur ein leichtes Abendessen unter Freunden, quasi eine Brotzeit! Und keine Angst, ich werde euch nicht zum Käse-Fondue nötigen!" Yuri konnte eine Grimasse trotz Gesichtsmaskierung nicht ganz unterdrücken. Otabek hingegen lächelte. "Vielen Dank, dann kommen wir gern!" Dann wandte er sich seinem jüngeren Freund zu. "Willst du noch mal eine Runde drehen? Ich schaue zu", bot er an. "Dachte schon, ich sollte hier versauern!", knurrte Yuri grimmig, streifte sich energisch die Jacke ab und hoppelte auf den Kufenschützern bis zum Auslass der Bande. "Ist er nicht manchmal etwas anstrengend?" Christophe frischte seinen Flüssigkeitshaushalt auf. Der Kasache, der wie versprochen mit den Augen keinen Wimpernschlag von Yuri ließ, antwortete ruhig, "ich empfinde ihn nicht als anstrengend. Möglicherweise liegt es daran, dass ich weiß, wo er herkommt." "Autsch!", quittierte Christophe gutmütig diesen dezenten Tadel, "reden wir hier von der gruseligen 'russischen Schule'? Victor hat sich da nur hin und wieder Andeutungen entlocken lassen." Neben ihm schlüpfte Otabek in seine Trainingsjacke, Yuri beobachtend. "Das ist ein Aspekt", bestätigte er leise. "Hmm", brummte der Schweizer, sich rücklings an die Bande lehnend, "wie stellen wir es an, dass er es nicht übertreibt?" Aus den Augenwinkeln registrierte er das minimale Zucken von Sehnen, dann bewies der Kasache das gewohnte Pokerface. "Ich hoffe, dass im neuen Jahr Nachrichten kommen, was seine Schulausbildung betrifft", setzte er auf eine der üblichen "Ablenkungen" im Trainingsalltag. In diesem Augenblick legte Yuri erneut eine wenig elegante Bruchlandung hin. "...aua", murmelte Christophe mitfühlend. Sie registrieren beide die geballten Fäuste. Glücklicherweise reduzierte Yuri sein Fluchen auf Flüsterniveau. "Wir sollten es für heute auch gut sein lassen", schlug der Schweizer vor, "morgen ist auch noch ein Tag." Otabek nickte, löste sich dann von der Bande, um Yuri schonend auf den Aufbruch vorzubereiten. *~#~* "Es geht mir GUT! Bin doch nicht aus Zucker!", fauchte Yuri unterdrückt, an Otabeks Seite Richtung Hofreite stapfend. Als wäre er noch nie aufs Eis geplumpst! Die doofen, blauen Flecke würden bestimmt bis zum Morgen wieder verschwunden sein! Gut, taktisch geschickter hätte er es angestellt, wenn er nicht wieder so heiß geduscht hätte, aber Otabek musste ja auch nicht nach ihm gucken, als wäre er ein kleines Kind! Der im Übrigen auf sein fortgesetztes Schnauben und Knurren gar nicht antwortete, sondern souverän marschierte, vollkommen unbeeindruckt. "Was denkst du können wir Christophe und seinem Freund als Gastgeschenk mitbringen?" Yuri fauchte. Wie KONNTE Otabek immer so beherrscht und sachlich sein?! "KÄSE! Für ihr verdammtes Fondue!", schnauzte er aufgebracht. "Das ist eine Option", kommentierte der Kasache geduldig, "üblich wäre wohl eine Flasche Wein." "Kann ich nicht besorgen, bin minderjährig!", patzte der Russe trotzig, weil sein älterer Freund so gar nicht auf seine ungezogene Laune reagierte. "Gibt es in der Bäckerei vielleicht ein typisches Festtagsgebäck?", erkundigte sich Otabek unbeeindruckt von den Versuchen, seine Langmut zu strapazieren. "Keine Ahnung!", schimpfte Yuri, "woher soll ich das wissen?!" "Richtig", rieß Otabek Luft aus der aufgepumpten Wut des Russen, "Urs kann uns bestimmt darüber Auskunft geben. Ohnehin sollten wir ihm auch etwas Kleines für die Feiertage schenken." Kurz vor der Detonationsgrenze zischte Yuri, "mach, was du willst!", stapfte betont frostig an Otabek vorbei, auf dem Pfad zur Hofreite die Führung übernehmend. Der, mit derlei Anwandlungen nicht gänzlich unvertraut, ersparte sich das letzte Wort, studierte in der Dunkelheit, die lediglich der Widerschein der Beleuchtung im Tal erhellte, die zarte Gestalt vor sich. Wie oft war Yuri gestürzt? Hatte er überhaupt etwas Anständiges gegessen? Der dünne, von Wunden und nunmehr Verfärbungen gezeichnete Leib, den er unter der Dusche erblickt hatte, versetzte ihn in Sorge. Wie sollte er Yuri dazu bringen, mit seinen Kräften zu haushalten, geduldig zu sein? Eine schwierige Aufgabe. *~#~* Unleidlich hatte Yuri etwas vom Gemüsebrei mit Brot verzehrt und sich dem Gespräch am Tisch entzogen. Otabek hingegen bat Urs um Rat, was das Gastgeschenk betraf und versuchte dabei, die Unterhaltung ganz auf Deutsch zu führen. Hier assistierte ihm tagsüber das unvermeidlich laufende Radioprogramm, da Amadeo Rizzi der Auffassung war, man müsse über die Welt informiert sein. Durch die Wiederholung von Nachrichten und einzelnen Formulierungen erschloss sich Otabek nebenher ein gewisses Verständnis für die Sprache, die er über seine Englischkenntnisse zu meistern hoffte. Als sie sich, mit Laterne und den gewohnten Kaffeebechern bewaffnet, für die Nacht trennten, zählte er Yuri Bargeld in Schweizer Franken vor. "Bitte sei so lieb, morgen die Vorbestellung aufzugeben, ja?" Unvermindert höflich ignorierte er die giftige Grimasse seines jüngeren Gefährten. "Dann kann ich auf dem Hinweg morgens alles abholen." "Wieso so viel?!", knurrte der Russe, widerwillig die Barschaft verstauend, verärgert darüber, dass Otabek sogar in Kanada so vorausschauend gewesen war, einen Notvorrat an Bargeld einzutauschen (nach dem eiligen Studium der Zollbedingungen). Sie verfügten zwar beide über Kreditkarten, aber man konnte verständlicherweise nicht überall damit Außenstände begleichen. Ein Konto bei einer lokalen Bank zu eröffnen, das erschien Otabek noch zu früh. Ohne auf Yuris herausfordernden Tonfall einzugehen antwortete der Kasache sachlich, "nun, Amadeo wird nach Mittag die Werkstatt schließen, wie die meisten anderen Geschäfte auch. Wir werden etwas länger gemeinsam essen, daher möchte ich etwas beisteuern." Beiläufig drückte er Yuri beide Kaffeebecher in die Hände, um ihr Lager in gewohnter Effizienz zu errichten. "Christophe begleitet dich morgen ins Spital", ergänzte er, das vernehmliche Aufsetzen der Becher auf dem Waschtisch überhörend, "zum Dolmetschen und natürlich auch, damit es keinen Ärger mit der Versicherung gibt." Denn für die abschließende Heilbehandlung zeichnete sich noch die Krankenversicherung des lokalen ISU-Veranstalters in Kanada verantwortlich, die nachvollziehbarer Weise ein erhebliches Interesse daran hatte, die notwendigen Maßnahmen so kostengünstig und rasch wie möglich abzuwickeln. "Das hätte ich auch allein geschafft!", schnaubte Yuri ungnädig, sich aus einigen Bekleidungsschichten für die Nacht schälend, "auch wenn MEIN Deutsch aktuell gerade mal die üblichen Schimpfworte umfasst." Ja, das WAR ungezogen, miesepetrig und kleinlich. Dennoch blieb der Kasache unverändert gelassen. "Ich weiß, du willst Christophe keine Umstände machen. Hoffen wir einfach mal, dass vier Augen und Ohren ausreichend sind, Schwierigkeiten abzuwenden." Er ignorierte das frustrierte Ballen der Fäuste. "Ich glaube, ich habe auch ein geeignetes Geschenk für Urs gefunden", plauderte er in gleichmäßigem Rhythmus weiter, "das werde ich besorgen. Brauchst du für die nächste Woche etwas? Über die Feiertage sind die meisten Geschäfte geschlossen", fügte er an. "Was soll ich schon brauchen?!", fauchte Yuri unleidlich, ließ sich auf das Deckenlager plumpsen, "zerbrich dir nicht ständig den Kopf über mich, okay?!" Ah, die Wildkatze hatte schon die Krallen ausgefahren! "Ich werde mich bemühen", gab der Kasache sanft zurück, "darf ich deine Schultern noch massieren?" "Gottverdammt, nein, darfst du nicht!", explodierte Yuri, auf die Beine springend, "mir geht's GUT, klar?! Behandle mich nicht wie einen unfähigen Idioten!!" Er funkelte aufgebracht auf Otabek hinab, der bereits auf dem Lager kniete, wischte sich grob über die Haare und löste dabei unabsichtlich den Zopfgummi, der die von Christophe am Vortag so kunstfertig geflochtene Mähne in Schach hielt. Prompt wuschelten sich die durch die Nässe zierlich gewellten, hellblonden Strähnen wild um seinen Kopf. "Oh, Scheiße! Diese verfluchten Zotteln! Jetzt reicht's!" Bevor es ihm gelang, den Koffer zu erreichen, wo er eine Schere deponiert hatte, war Otabek auf den Beinen, umklammerte seinen Oberkörper und klemmte effektiv auch die dünnen Arme ein. "Lass mich los! Lass sofort los!", brüllte Yuri, nicht mehr gedämpft, trat sogar nach den Schienenbeinen des Kasachen hinter sich. Allerdings war Otabek Altin niemand, der sich simpel auskontern ließ, und die Muskeln in Armen und Brustkorb sorgten dafür, dass der jüngere Russe mit einem gequälten Winseln seine ziellose Zappelei einstellte. "Du tust mir weh!", presste er schließlich hervor. "Ja", bestätigte Otabek sonor, "und ich werde dich loslassen, wenn du dich beruhigt hast, Yuri." Der Russe ballte die Fäuste, spürte die Schmerzen in seinem gesamten Oberkörper bis in die Kieferknochen summen, aber er wollte keinen Widerstand mehr leisten, sondern versuchte verzweifelt zu ergründen, wie es zu dieser Eskalation gekommen war. Was war nur in ihn gefahren?! Otabek hielt ihn noch immer, aber weniger eng und unnachgiebig. "Ich wollte das nicht", wisperte Yuri hilflos, beschämt, von sich selbst erschöpft. Sie hatten sich doch immer sehr gut verstanden, wieso ging er jetzt ständig auf Otabek los?! Führte sich dabei auf wie ein trotziges, ungezogenes Kleinkind?! "Ich weiß", raunte der Kasache sonor an seinem Nacken. Seine nachsichtige Selbstbeherrschung reizte Yuri erneut, grimmig zu knurren, "wieso regst du dich NIE auf?!" "Weil ich weiß, wie schwer du es hast", antwortete Otabek ohne Zögern. "Aber das gilt doch genauso für dich!", konterte der jüngere Eiskunstläufer aufgebracht, den Kopf wendend. "Ich habe allerdings nicht knapp einen Mordanschlag überlebt", schoss Otabek ungewohnt scharf zurück und brachte Yuri damit nachhaltig aus dem Konzept. "Erinnerst du dich daran, was man uns in Kanada gesagt hat?" Ein Arm wanderte höher, die Linke kämmte hellblonde, wirre Korkenzieherlocken hinter die Ohren. "Von den Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung?" "Ich weiß nichts mehr vom Schuss!", konterte Yuri im Rückzugsgefecht. "Dein Unterbewusstsein hat nichts vergessen", unbeeindruckt hielt Otabek Kurs, "du hast so viel zu verarbeiten, dass es ganz normal ist, wenn deine Seele sich gegen die Last wehrt. Ich verstehe das." "Trotzdem musst du nicht alles schlucken! Das macht mich ganz verrückt!", echauffierte sich der jüngere Russe. Abrupt fand er sich geschickt herumgedreht und in eine enge Umarmung gezogen. "Die ersten Tage war mir auch kreuzelend zumute", wisperte Otabek an seinem Ohr, "dir ging es noch sehr viel schlechter. Da habe ich mir vorgenommen, es als eine Phase zu betrachten, durch die wir beide durch müssen, die uns stärker und zuversichtlicher machen wird. Wir können nicht alles steuern, aber wir können uns gegenseitig ausbalancieren, uns auffangen, wenn einer ins Straucheln kommt. Und daran halte ich fest." Yuri lehnte sich stärker in die Umarmung. So typisch Otabek! Seine ganze Verärgerung, der blinde Zorn, die Frustration, alles sackte weg, verpuffte, obwohl die Umstände sich nicht geändert hatten. Nun schämte er sich nur noch fürchterlich. "Das Auf und Ab ist normal, Yuri", tröstete Otabek, "die Seele lässt sich eben nicht so einfach neu kalibrieren. Aber es wird besser werden, versprochen!" Einen langen Augenblick später zog sich Otabek etwas zurück, suchte die grünen Katzenaugen im Laternenschein. Sie blickten traurig, verunsichert, hilfesuchend. Er reckte sich leicht, die minimale Größendistanz zu überwinden, drückte einen Kuss auf die freigekämmte Stirn. "Vertrau bitte auf uns, mein Freund." *~#~* "Das ist nicht fair!", ließ Yuri Lotti wissen, die immer wieder ihre Borste tröstend an seinem Bein rieb, ihn anstupste, aufzumuntern versuchte, doch seine gewittrige Laune wollte sich nicht einfach verabschieden. Konnte sie auch gar nicht, weil ihm wieder und wieder die Szene in dem kleinen Büro vor Augen stand. Eigentlich hatte er angenommen, es würde fix gehen, Werte verkünden, alles in Ordnung, fertig! Nun, zugegeben, realistisch nahm sich diese Vorstellung nicht aus, aber er weigerte sich, sie anzuerkennen. Die Ärztin, die ihn betreuen sollte, da unterschiedlich Spezialisierte auf ihn angesetzt waren, hatte über Christophe dolmetschen lassen, einzelne Passagen und besonders ihre Anweisungen aber sowohl auf Englisch als auch auf Französisch wiederholt. "Kneifzange!", schnaubte Yuri, in Gesellschaft der beiden borstigen Damen, die ihn nicht verraten würden. Das Urteil über seinen Zustand war keineswegs positiv ausgefallen. Zudem hatte er sich noch entkleiden müssen, was unerfreulicherweise das gesamte Panorama seiner Stürze vom Vortag offenbarte. Farbenprächtige Einblutungen. Dann hatte es Befehle gehagelt! Erstens musste er sofort seine Ernährung umstellen, denn er war nicht nur sichtlich unterernährt, auch sein Körperfettanteil lag jenseits irgendwie noch akzeptabler Werte! Bestimmte Vitamine mangelten darüber hinaus, auch zeichnete sich noch immer sein Blutverlust ab, was eigentlich gar nicht möglich sein durfte nach derart intensiver Betreuung! Zweitens waren ab sofort sämtliche Übungseinheiten für den Leistungssport tabu, absolut und fern einer Diskussion! Seine Werte legten Entzündungsherde im Körper nahe, und bei Betrachtung seiner neuerlichen Verletzungen war es zwingend angezeigt, der Regeneration den Vorrang zu geben! Drittens würde dieses Verbot so lange aufrechterhalten, bis der nächste Termin, im neuen Jahr!!!!, bewies, dass sich sein körperlicher Zustand erheblich verbessert habe. Yuri schnaubte aufgebracht. Er wusste wohl, dass Christophe etwas handzahmer die harsche Ansage übersetzt hatte, doch das hinderte ihn lediglich daran, ausfallend zu werden. Diese Frau verstand einfach nicht, wie wichtig es war, nicht den Anschluss zu verlieren!! Und er war ÜBERHAUPT kein Masochist, wenn er gewisse Schmerzimpulse wahrnahm, aber nicht sofort einen Gang runterschaltete! Die Baranovskaya hätte diesem Weißkittel aber so was von die Meinung gegeigt... Der Russe kraulte zwei Paar Schweineohren, was ihm einen Chor begeistertes Schnaufen einbrachte. Nein. Nein, die Baranovskaya hätte sich mit Coach Yakov beraten, ob es noch einen Sinn hatte, ihn zu trainieren. Oder ob man ihn nicht heimschicken sollte. Wer gesundheitlich nicht stets und ständig bis an die Grenze belastbar war, stand rasch auf der Abschussliste. "Haha", stieß er schwarzhumorig über die eigene Formulierung aus. Nun, in seinem Fall war erst der Abschuss gekommen, und dann die Diagnose. Was sollte er denn jetzt tun?! Kreise auf dem Eis ziehen?! Stundenlang?! Dehnen und leichtes Laufen waren erlaubt, einfache Gymnastik. Kein Ballett. Keine Sprünge. Keine Pirouetten. Dazu stets auf eine ausgeglichene Körpertemperatur achten! Kaltluftzufuhr der lädierten Lungen vermeiden! Yuri hätte gern irgendwas getreten oder geworfen. Dummerweise schmerzte ihn sein fanatischer Trainingseifer vom Vortag so sehr, dass er es sich verkneifen musste, was seiner Laune enorm abträglich war. Wie sollte er sich da bloß zusammenreißen?! *~#~* "Lass mich bitte die Liste sehen." Otabek, das Lager gerichtet, streckte höflich die Hand aus. Es war erneut spät geworden und auch für den Samstagvormittag waren noch diverse Arbeiten zu erledigen, doch nun konnte er wenigstens am Wochenende mehr Zeit mit seinem grimmigen Freund verbringen. Die grünen Katzenaugen funkelten zornig. "Das ist alles halb so wild!", kommentierte der, ärgerlich das gefaltete Blatt überreichend, "mir geht's gut!" Otabek studierte die Anweisungen und dachte konzentriert nach. "Ich denke, einen Teil können wir auffangen. Hast du die Medikamente zum Rezept schon abgeholt?" "Ja doch!", schimpfte der Russe trotzig, "aber es ist total übertrieben!" Sich kurz über die Haare streichend verschaffte Otabek sich eine Atempause. "Wir werden uns trotzdem daran halten müssen", formulierte er schließlich bedächtig, "auch hinsichtlich deines Trainingsverbots." Da Yuri dies gar nicht erwähnt hatte, entfuhr ihm prompt ein verräterisches "Petze!". Die tiefschwarzen Augen fingen ihn unabweislich ein. "Die Versicherung wird darauf bestehen, Yuri", erklärte er geduldig, "ich möchte vermeiden, dass man unsere Zugangskarten zum Eisstadion sperrt." "Das können die nicht machen!", begehrte der jüngere Eiskunstläufer empört auf, immerhin galt doch hier Berufsfreiheit, oder?! "Dann werden wir alle Behandlungskosten selbst tragen müssen", zeichnete der Kasache unbeeindruckt die Alternative auf und es war ihnen beiden bewusst, dass ihre finanziellen Möglichkeiten dies nicht zuließen. Yuri ballte die Fäuste und zischte leise eine Kaskade von Verwünschungen. "Bitte", Otabek schlug ihr Lager auf, reichte ihm die Hand, "lass es uns versuchen. Über die Feiertage ist das Gelände sowieso geschlossen. Wir werden uns so beschäftigen, dass beim nächsten Termin keine Klagen mehr zu erwarten sind, einverstanden?" Nicht ganz zu unrecht fühlte Yuri sich, als rede sein Freund einem kranken Tier zu. Einem Esel, mutmaßlich! Aber der zwingende Blick der tiefschwarzen Augen unter den wie getuscht wirkenden Augenbrauen erlaubte keine erratischen Ausbrüche. "...na schön", gab Yuri brummig nach, rutschte unter die Decke an Otabeks Seite. "Das wird schon, versprochen", wurde er prompt herangezogen, seine kalte Stirn mit einem Kuss gesiegelt, "wir finden eine Lösung." Unwillkürlich seufzte Yuri auf. Verdammt, Otabek war einfach IMMER zu nett! Doch während ihn noch sein schlechtes Gewissen plagte, lullte ihn die geteilte Körperwärme ein und lockte ihn in tiefen Schlummer. *~#~* Kapitel 12 - Feiertage zusammen Amadeo Rizzi hatte sich der Nachfrage angepasst und deshalb auch am Samstag bis Mittag die Werkstatt geöffnet (Notfälle versorgte er, mit einem Preisaufschlag, auch darüber hinaus). Im Moment war Hochsaison, was Reparaturen aller möglichen Maschinen anging, denn sie mussten auch Dauereinsatz leisten, der Witterung geschuldet. Schneeräumen, Sand oder Späne streuen, gefährliche Eiszapfen abschlagen, der moderne Mensch zog die motorbetriebene Unterstützung vor. Beim gemeinsamen Essen, einer durchaus andächtigen Angelegenheit bei den Rizzis, was die Ehrfurcht und den Genuss betraf, kam Otabek jedoch nicht davon. Die Ärztin, die nicht ganz zu unrecht vermutete, dass ihr schwieriger russischer Patient gewisse Feststellungen und Anordnungen zu unterschlagen beabsichtigte, hatte die hinterlegte Nummer der Werkstatt gewählt, weshalb auch die Rizzis erfuhren, dass es nicht zum Besten stand. Nun musste der Kasache erklären, was dem Freund fehlte. Das nahm sich gar nicht so einfach aus, nicht etwa den sprachlichen Barrieren geschuldet, sondern dem Unglauben der drei Rizzis, dass man keinen Appetit mehr verspüren konnte und Essen selbst als lästige Notwendigkeit empfand! Ein Desaster! "Dann isst er mit uns mit", bestimmte die Mamma konsequent, "ich kann gar nicht glauben, dass er keine Lust auf Essen hat! Jeder Mensch isst doch gern!" Otabek ahnte Turbulenzen, denn er wusste um Yuris Ablehnung gegenüber fremdbestimmter Vereinnahmung. "Das ist wirklich außerordentlich freundlich", unternahm er entsprechend einen Versuch, Yuris Kopf aus der wohlmeinenden Schlinge zu ziehen. "Keine Widerrede!", die Mamma herrschte bei Tisch, "wir haben genug, und es hilft dem armen Jungen vielleicht, wenn er in Gesellschaft isst! Ich schaue mir die Liste an, kein Problem!" Von Amadeo war hier keine Schützenhilfe zu erwarten. Zudem neigte er selten zu Widerspruch, wenn die Mamma ein Machtwort sprach. "Das ist schon in Ordnung", klopfte er Otabek auf die breite Schulter, "wir freuen uns auf Gesellschaft!" "Ja, was hat man denn vom Leben, wenn es einem nicht schmeckt?! So kann man doch keine Freude haben und gesund bleiben!", die Mamma rollte tatendurstig die Ärmel hoch, "der alte Mann da oben tut sicher sein Bestes, aber es ist eben eine Ein-Mann-Küche, nicht wie bei Mamma!" Nun, das traf zu, da gab es kein Vertun. "Und jetzt erzähl, Otabek, wie isst er so, der arme Junge? Was haben sie ihm denn zu essen gegeben, in Russland?" So sah sich der Kasache genötigt, ein wenig auszuholen, das Trainingsregime zu erklären sowie Yuris Disposition, bei Kummer noch weniger zu verzehren, kombiniert mit einem Leistungssport, der wenig Gewicht und Askese belohnte... *~#~* Yuri kam grundsätzlich seinen Aufgaben bei Urs nach, ganz ohne Aufforderung. Er WOLLTE etwas tun! Das half nicht nur gegen den lästigen Muskelkater, der ihm die Laune vergällte, sondern hinderte ihn auch daran, sich im Gedankenkreisel vor Frustration gefährlich aufzuspulen. Sein Alltag war bisher immer in Trainingsphasen, kurze Lernphasen, noch kürzere Schlaf- und Erholungsphasen aufgegliedert gewesen, ein voller Stundenplan, bestimmt durch die Abfolge der Wettbewerbe. Nun, da ihm ein tatsächliches Leistungssportprogramm untersagt war, die Antwort bezüglich seiner schulischen Laufbahn ausblieb, er keinerlei Hobbys vorweisen konnte und ohne Anschluss an die virtuelle Welt auch keine Zerstreuung genießen konnte, was blieb da übrig?! Schon drehte sich das Karussell in seinem Kopf schneller, legte ihm essigsauren Geschmack auf die Zunge und Blei in die Glieder. Wie sollte es weitergehen? Was sollte er anfangen, wenn es ihm wie Otabek erginge und man ihn nicht mehr akkreditierte?! Unruhig schabte er Altschnee mit den Stiefeln zu langen Spuren, die Fäuste in den Jackentaschen geballt. Hier, unter den Bäumen, hörte er nur das dezente Tropfen und Knacken, wenn von den Ästen winzige Eisklumpen auf überfrorenen Boden oder Gräser plumpste. Die Vögel hielten Winterruhe, und was nicht bis zum Frühling durchratzte, war üblicherweise nachts aktiv. Was also tun? Ohne Schulabschluss, ohne andere Fähigkeiten? So sehr Yuri sich auch den Kopf zermarterte, die Zukunft sah definitiv finster aus. Üblicherweise hätte er durch den Verband ein gesichertes Einkommen, sich hauptsächlich seinem Sport zu widmen. Man hätte ihm auch, das war üblich, zu einem Studienplatz in St. Petersburg verholfen, simpel, um auch bei der Universiade einen Sieger aufweisen zu können. Danach wäre vielleicht eine Anstellung bei einem Sponsor möglich, ein Funktionärsposten, vielleicht sogar eine Aufgabe im Trainerstab. Eben die Aussicht, die auch auf den Helden von Kasachstan gewartet hatte. Yuri presste die Lippen zusammen und unterdrückte einen frustrierten Fluch. Ohne diese Perspektive stand ein Absturz ins Bodenlose bevor, aber, wie Christophe schon festgestellt hatte: Otabek Altin war ein kluger Kopf. Er verfügte über handwerkliche Fähigkeiten aus dem Familienbetrieb, eine schnelle Auffassungsgabe, ein höfliches, sehr angenehmes Auftreten, ein beeindruckendes Einfühlungsvermögen, das er als DJ und Tonkünstler einbringen konnte. Vielfältige Talente und Jahre der Auslandserfahrung jenseits eines schützenden Familienkokons halfen ihm, sich gut über Wasser zu halten, selbst wenn man ihn quasi ausstieß und seine bloße Existenz zu verschweigen beabsichtigte. Verglichen mit ihm... Yuri schnaubte, um einen galligen Anflug von Panik zu vertreiben. Er selbst konnte nichts dergleichen aufweisen, schlimmer noch, ohne einen Arbeitsplatz nach dem Ende seiner schulischen Laufbahn drohte ihm sogar der Entzug der Aufenthaltsbewilligung! Man konnte sich nicht ewig auf die humanitären Gründe berufen, wenn er wieder gesund war. Sich über dieses Dilemma aufzuregen, die eigene Misere zu verwünschen, das half nicht, ebenso wenig, sich mit Aufgaben zuzudecken, Feuerholz zu schichten, zu kehren, die Asche auszuleeren, per Hand Wäsche zu waschen, sich an einem Brotteig zu versuchen... Es kam kein Entkommen. Folglich blieb ihm gar nichts anderes übrig, entschied Yuri verbissen, als schnellstmöglich zurück in den Ring zu kommen, so erfolgreich zu sein, dass niemand es sich leisten konnte, ihn auszuschließen. So viele Prämien wie möglich zu gewinnen, sparsam zu leben, damit wenigstens ein minimales Polster entstand, das den Fall nach dem Karriereende etwas abfederte. Trotzdem. Trotzdem musste es doch irgendwas geben, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt sichern konnte! Aber was?! Und so kreisten seine Gedanken erneut im selben Gleis, ohne eine Ausfahrt zu finden. *~#~* Otabek war sich bewusst, dass es ohne einen gewissen Grad an Diplomatie eine Auseinandersetzung geben würde, wenn er die Verpflichtung zum mittäglichen Mahl bei den Rizzis an den Mann bringen musste. Andererseits stellte diese "Einladung" eine erhoffte Entwicklung dar, die ihm dabei helfen würde, den Gesundheits- und Gemütszustand seines Freundes zu verbessern. Natürlich hatte er nicht auf die Großzügigkeit der Rizzis spekuliert, jedoch in Einschätzung ihres Auftretens eine potentielle Lösung für sein Problem erkannt. Nun, der Erfolg bestätigte ihm sein Urteilsvermögen. Jetzt galt es, Yuri davon zu überzeugen, dass es zu seinem Vorteil geschah. Immerhin, das konnte Otabek für sich verwenden, während Yuris Aufenthalt bei ihm in Almaty hatten die gemeinsamen Mahlzeiten gut funktioniert, war es ihm gelungen, den Russen etwas aufzupäppeln! Vor diese diplomatische Mission hatte der Eigensinn des jüngeren Eiskunstläufers allerdings dessen Anwesenheit gesetzt. Urs konnte Otabek jedoch nur berichten, dass Yuri unbegleitet einen Spaziergang unternehmen wollte. So steckte der Kasache in weiser Voraussicht neben etwas Proviant auch Streichhölzer für die Laterne ein, denn es dämmerte am frühen Nachmittag schnell. Er konnte nur hoffen, dass sich Yuri wenigstens an die Wanderpfade gehalten hatte! Tatsächlich fand er den Freund auf einer Lichtung mit Aussicht auf umgebende Gipfel und das Tal. Selbstvergessen rollte Yuri Schneeballen, um Figuren zusammenzusetzen, die er modellierte. "Coach Feltsman, Mila, Victor und Yuuri?", identifizierte Otabek dezent lächelnd, "schade, wir sollten ein Bild davon machen!" "Otabek?", Yuri wandte sich überrascht herum, "was tust du hier?" Der Kasache schmunzelte. "Meine Erwerbstätigkeit ist beendet, also dachte ich mir, ich verbringe etwas Zeit mit meinem Schicksalskameraden! Immerhin habe ich dir ja versprochen, dass wir uns etwas ausdenken, damit der nächste Gesundheitscheck besser ausfällt, nicht wahr?" "Pah!", schnaubte Yuri, "mir geht's schon jetzt gut!" Sah man mal von seinen schmerzenden Armen und dem unfreundlich zwickenden Brustkorb ab. Oder den kalten Fingern und Füßen. "Lass uns gehen, es wird schnell dunkel." Otabek illuminierte die Laterne, reichte Yuri den Proviant, "trink bitte etwas, ja?" Ohne Protest folgte der jüngere Russe dieser Aufforderung, nagte sogar, während sie langsam nebeneinander in die verharschenden Fußstapfen des Hinwegs stiegen, an einer Scheibe Brot. "Ich hatte es mir leichter vorgestellt", bemerkte Otabek beiläufig, "wie in Almaty, weißt du? Da lief wirklich alles wie geschmiert." Yuri ballte kurz die Fäuste. "Hör mal, wenn es wegen meiner Ausraster ist", setzte er unbehaglich an, wurde jedoch unterbrochen, weil sich Otabek rasch zu ihm umdrehte, stehen blieb. "Das meine ich gar nicht." Der Kasache zupfe das Allzwecktuch höher, das er Yuri aufgenötigt hatte, um die empfindlichen Lungen zu schützen. "Sondern unseren Alltag damals. Gemeinsam trainieren, gemeinsam lernen, gemeinsam essen, gemeinsam schlafen, all das hat reibungslos funktioniert. Das hat mich wohl leichtsinnig gemacht." Die dünnen Augenbrauen über den grünen Katzenaugen zogen sich kritisch zusammen. "Wie meinst du das?" Mit der freien Hand kämmte Otabek noch immer wild gewellte Strähnen, die dem Zopfgummi entflohen waren, aus dem blassen Gesicht. "Nun, ich habe mich hier bequem eingerichtet, alles zu meinen Gunsten, während es für dich schwierig ist! Die Hausarbeit, das fehlende Training, die ungeklärte Geschichte mit deinem Schulabschluss..." "Moment mal!", grätschte Yuri vehement dazwischen, "das ist doch nicht deine Schuld! ICH muss mich sortieren! Du tust doch schon alles und noch mehr, damit wir uns hier über Wasser halten können!" "Ich habe ja nichts Besseres zu tun", lockte Otabek versiert auf die gewünschte Fährte. "Quatsch!", schnauzte Yuri barsch, packte Otabeks Überjacke an den Aufschlägen, "du steckst in dieser Klemme allein MEINETWEGEN! Deshalb ist es auch an MIR, meinen Anteil am Schlamassel in Ordnung zu bringen, klar?! Ich hab dir versprochen, mich an die Regeln der Kneifzange zu halten, also werde ich das auch!" Otabek stieg leicht auf die Zehenspitzen und hauchte einen Kuss auf die kalte Stirn seines Gefährten. "Ich weiß, dass du das tun wirst", versicherte er leise, "allerdings ist es nicht nur dein Schlamassel. Ich habe meinen Anteil heute auch noch ausgebaut." Sofort verstärkte sich der Griff in seine Überjacke. "Wieso? Was ist passiert?! Was wollen sie denn jetzt noch von dir?!" Der Russe befand sich schon auf dem Kriegspfad. Der Kasache grimassierte sparsam. "Tja, ich habe mich leider verquatscht heute", bekannte er, "bei den Rizzis. Sie haben gestern ja den Anruf der Ärztin mitbekommen, und deshalb..." "Deshalb...?" Yuri studierte ihn besorgt im Schein der Laterne. "Die denken doch nicht etwa, dass es deine Schuld ist, oder?!" Otabek kämmte eine hellblonde Korkenziehersträhne sanft aus dem bleichen Gesicht mit den spitzen Zügen. "Sie haben darauf bestanden, dass du ab sofort mittags mit uns isst", offenbarte er dezent geknickt. "Mittagessen? Das ist alles?!" Yuri stieß ihn leicht mit beiden Händen vor die breite Brust. "Ehrlich, ich hab schon sonst was befürchtet! Mann, Otabek, was soll daran denn ein 'Schlamassel' sein?! Ich geh schon allein hin, um ihnen zu verklickern, dass ich ganz allein die Verantwortung an dem Mist trage!" Artig bedankte sich der Kasache. "Ach was!" Yuri packte Otabeks freie Hand und zerrte ihn hinter sich her. "Ist doch nicht deine Schuld! Die Leute mögen dich eben, das begreife selbst ich ja allmählich!", grummelte er selbstironisch, "du kannst nichts dafür. Ich werde mich auch mustergültig verhalten, versprochen, damit du dich nicht genieren musst!" In der Dämmerung lächelte Otabek. Nicht unbedingt die feine Art, aber es gab da ja dieses Sprichwort, das ihm eine solche Taktik erlaubte. *~#~* "Was ist das?", erkundigte sich Yuri ratlos, als sie, mit den obligatorischen Kaffeebechern und der Laterne bewaffnet am Abend ihre Kammer aufsuchten. Otabek breitete ein leuchtend orangefarben gehaltenes Netz aus, rollte Wäscheleine ab und begann, die Netzmaschen am jeweiligen Ende mit der Wäscheleine um ein mit Löchern versehenes Stahlrohr zu winden. "Ein ehemaliges Steinschlagnetz. Zu kurz, lag nur noch herum, deshalb hat Amadeo es mir überlassen." Unter seinen geschickten Händen spannte sich das Netz in der Breite der beiden Stahlrohre. Yuri betrachtete das flinke Werk, dann ihre schmale, langgezogene Kammer. "Du baust eine Hängematte", stellte er fest. "Genau." Otabek erprobte Zug- und Tragkraft, sah sich nach Balken und Befestigungsmöglichkeiten um. "Tagsüber rollen wir es einfach auf." Der Russe verschränkte die dünnen Arme vor der Brust und beobachtete, wie Otabek beide Enden justierte, dabei geschickt Balken nutzte, um die Stahlrohre einzuklemmen. Er verteilte auch die Hälfte des Bettzeugs auf der selbst kreierten Hängematte. "Das geht so nicht", stellte Yuri fest, das Kinn betont herrisch reckend, "willst du etwa in diesen Schrank kriechen?! Soll ich mir hier meinen knackigen Po abfrieren?!" Tapfer hielt er dem forschenden Blick aus den tiefschwarzen Augen stand. Die Idee war wunderbar, Otabek mal WIEDER viel zu rücksichtsvoll und nett, und ihm grauste davor, allein zu schlafen. Nicht nur wegen der Kälte, aber auf keinen Fall wollte er diese jämmerliche Angst in Worte fassen! "Du hast recht. Das habe ich nicht berücksichtigt", antwortete der Kasache schließlich sehr bedächtig. Yuri verabscheute die Hitze, die ihm in die Wangen stieg, denn SELBSTVERSTÄNDLICH hatte Otabek ihn durchschaut! "Jedenfalls müssen wir das Bettzeug anders sortieren!", konzentrierte sich der Russe auf eine Arbeit, die ihm erlaubte, dem nachsichtigen Blick des Älteren auszuweichen. Trotzdem entschlüpfte ihm ein erleichterter Seufzer, als er sich, nun etwas erhöht, an den vertrauten Körper schmiegen konnte. Otabek streichelte ihm sanft eine wild krausende Strähne aus dem Gesicht und küsste ihn wie gewohnt auf die Stirn. "Morgen haben wir den ganzen Tag für uns", raunte er lächelnd, "darauf freue ich mich schon." "Ich mich auch", gestand Yuri und kuschelte wärmesuchend. Er fragte sich, ob die Kneifzange ihm auch auf DIESE Spur kommen würde und ihn dazu verdonnerte, mit einem Therapeuten sprechen zu müssen. *~#~* Nachdem sie Urs zur Hand gegangen waren, nahmen sie Lotti und Dorli mit auf einen sonntäglichen Spaziergang durch den Wald. Es erstaunte Otabek durchaus, wie reibungslos die beiden borstigen Damen sich mit seinem jüngeren Freund verstanden und sie schienen sich selbst zu freuen, dass Yuri bester Laune war. So hochgestimmt sogar, dass er entschied, sich mit Otabek eine Schneeballschlacht zu liefern! Der ließ sich nicht lumpen, man jagte sich um Büsche und Bäume, rüttelte Schneeladungen herunter, "seifte" sich gegenseitig ein. Rotwangig, nass und ziemlich zerzaust wanderten sie wieder zurück, um sich rasch herauszuputzen, damit sie bei den Rizzis einen anständigen Auftritt hinlegten. Otabek übernahm die Vorstellung und freute sich über Yuris artiges Gebaren, der auf Deutsch antwortete, sein sonnigstes (und seltenstes) Lächeln präsentierte, was Mamma Rizzi nicht davon abhielt, ihn ausführlich zu bedauern, weil er so dünn war und ganz fürchterlich knapp gehalten wurde für seinen "hübschen" Sport! In den grünen Katzenaugen blitzte es zwar, aber wie schon bei Otabeks Familie enthielt sich der jüngere Russe jedweder Korrektur der Wahrnehmung. Wie gewohnt forcierten die Rizzis beim Essen kein Gespräch, sondern konzentrierten sich vollständig auf den Genuss, lobten Speisen und Produkte, selbstredend auch die "Köchin". Yuri hielt brav mit, kaute schön langsam und gründlich, was wiederholtes Nachlegen verhinderte, aber man konnte auch nicht erwarten, dass er urplötzlich das angewöhnte Verhalten umstellte. Das hätten wohl auch Magen und Gedärm nicht unkommentiert gelassen. Nach einem süßen Dessert durften sie sich verabschieden und schlenderten gemeinsam durch den "Ort". "Irgendwie komisch", bemerkte Yuri schließlich, "ohne ständiges Training und Schule weiß ich nichts mit mir anzufangen. Das war mir vorher gar nicht so bewusst." Otabek warf einen prüfenden Blick auf seinen gehorsam vermummten Freund. "Nun, viel Freizeit hast du ja auch nicht gehabt", wandte er gelassen ein. Neben ihm rollte Yuri die schmalen Schultern und ballte kurz die Fäuste in den Parkataschen. "Also", er holte tief Luft, "es geht mir jetzt auch gar nicht so um Freizeit, sondern eher", er schnaubte über die eigene Zögerlichkeit, "also, ich frage mich, was ich machen soll, wenn ich meinen Lebensunterhalt nicht mehr auf dem Eis verdienen kann." Der Kasache straffte seine gesamte Haltung. "So weit ist es noch längst nicht", bemühte er sich, Yuris Befürchtungen zu zerstreuen, doch der widersprach, entschlossener, grimmiger. "Wenn ich nicht mehr akkreditiert werde, wenn das Schuljahr abgelaufen ist, Otabek, dann stecke ich genau in dieser Klemme." " "Dann lassen wir uns etwas einfallen", versprach Otabek entschieden, "wir finden gemeinsam Lösungen." Yuri seufzte theatralisch. "Selbst wenn du mich durchfütterst, so wie jetzt", ätzte er in voller Absicht, "meinen Aufenthalt hier kannst du damit nicht erzwingen! Dazu brauche ich einen eigenen Arbeitsplatz, den sonst keiner will. Aber ich kann eben gar nichts außer auf dem Eis herumhopsen!" Nun blieb Otabek stehen, funkelte tiefschwarz in die grünen Katzenaugen. "Wenn der Fall eintritt", er antwortete beherrscht, "was ich im Moment für nicht allzu wahrscheinlich halte, werden wir deine Stärken zu unserem Vorteil nutzen. Im Moment ist für mich aber entscheidend, dass du wieder ganz gesund wirst, Yuri." Der Russe knurrte. "Du verstehst einfach nicht...!" Ungewohnt rustikal fuhr ihm Otabek dazwischen, "dass es deinen Stolz verletzt, mit jemandem zu leben, der einen Job hat, ein Einkommen erzielt?! Dem du dich ausgeliefert fühlst?!" Trotz Schal- und Tuchschichten erbleichte Yuri erkennbar. Der Kasache schnellte vor, packte beide Handgelenke, verringerte die Distanz zwischen ihnen beinahe auf Nasenspitzenkollision. "Erlaube dir zu akzeptieren, dass unsere Lebenswege bis vor einiger Zeit sehr unterschiedlich waren, Yuri, dass ich älter bin, einen Vorsprung habe, den wir beide nicht beeinflussen können. Aber wenn wir zusammenhalten, dann gelingt uns alles. Bis jetzt haben wir uns doch gut geschlagen, oder nicht?!" Yuri funkelte trotzig in die tiefschwarzen Augen unter den bemerkenswerten Augenbrauen. "Ehrlich, Otabek, du machst mich manchmal fertig!", grummelte er im Rückzugsgefecht, "Du bist echt ZU NETT und ZU KLUG!" Ein Schmunzeln huschte über die zuvor so stoisch-eiserne Miene des Kasachen. "Das kommt dir nur so vor, weil du so lange in der 'russischen Trainingshölle' gewesen bist", neckte er versöhnlich. Aber Yuri ging nicht darauf ein, sondern studierte ihn eindringlich, konzentriert. "Wird es dir wirklich nicht zu viel mit mir?", erkundigte er sich leise. Nun lächelte Otabek offen, ein seltener Anblick. "Ganz sicher nicht", bekräftigte er, reckte sich, die kalte Stirn zu küssen, "es ist MEIN Wille, mit dir zusammen zu sein. Und wir werden gewinnen." Der Russe konnte ein schiefes Grinsen auf seinem Gesicht nicht verhindern. "Du bist schon schräg drauf, weißt du das?", seufzte er geschlagen, "du könntest dir jemanden suchen, der kein solcher Problemfall ist." Otabek ließ seine kraftvolle Rechte in Yuris Linke gleiten, gab das andere Handgelenk frei und initiierte die Fortsetzung ihres Spaziergangs. "Nun, außer Victor gibt es nicht viele Welt- und Europameister, die auch noch wiederholt den Grand Prix gewonnen haben", versetzte er frech. Yuri schenkte ihm einen kritischen Seitenblick. "Na klar, du Ruhmsüchtiger! Das glaubt dir doch keiner! Die Leute werden bloß denken, dass du einen ganz miesen Geschmack entwickelt hast." Der Kasache zwinkerte schlicht und kräuselte die Mundwinkel gut gelaunt noch stärker. So blieb Yuri nichts anderes übrig, als aufzuseufzen und sich geschlagen zu geben. Gegen Otabeks unverrückbare Zuversicht schien einfach kein Kraut gewachsen! *~#~* Am folgenden Montag, Heiligabend, bestand Yuri darauf, Otabek direkt zu begleiten, um die Abholung der Bestellung in der Bäckerei zu übernehmen. Immerhin galt es, zum Abendessen bei Christophe ein Gastgeschenk zu überreichen! Bis zum Mittagsmahl, etwas ausgedehnter, wie Otabek schon angekündigt hatte, marschierte Yuri nicht nur zum Hotel, um dort das Büro zu nutzen, nein, er blätterte auch flink durch die digitale Eislaufwelt, aus der man seinen Freund zu tilgen versuchte, während es von ihm selbst nur die dürre Mitteilung gab, er werde sich im Ausland erholen. Und noch immer keine Antwort, was seinen Schulabschluss betraf. "Wollen die mich aushungern?!" Nun, zumindest ihre finanziellen Mittel, die Otabek ihn zu prüfen gebeten hatte, deuteten nicht darauf hin. Allerdings, wie lange würde dieser Zustand anhalten? Zum wiederholten Mal zerrte Yuri die Finger durch seine hellblonde, noch aufgedrehte Mähne, um sie in einen Zopf zu bändigen. NIE WIEDER NASSE HAARE IM FRANZÖSISCHEN ZOPF!! Sein Stirn krauste sich, während er angestrengt nachdachte. Wohl oder übel musste er sich in den nächsten ZWEI WOCHEN auf die Übungen beschränken, die er mit Otabek vereinbart hatte. Wenn das Eisstadion geöffnet hatte, einfach Runden drehen, Schrittfolgen, ganz schlicht den Kontakt mit dem Eis halten. VERDAMMT! Aber die Kneifzange brachte es bestimmt zustande, der Versicherung etwas zu stecken, wenn er nicht bis zum nächsten Termin Besserung präsentierte! Das durfte man nicht riskieren, selbst wenn es einen die Wände hochtrieb! Für Yuri stand jedoch fest, dass es nur eine Möglichkeit gab, seine Situation aufzuwerten: zurück in den Zirkus! Von den Preisgeldern der Grand Prix-Serie konnte er nicht allzu lang zehren, also musste er die nächsten Wettbewerbe mitnehmen. Nach dem Debakel im Sommer war zwar nicht mehr mit Sponsoring zu rechnen (oder nur der seriösen Sorte), aber mit Titeln geschmückt erhöhten sich die Chancen beträchtlich. Yuri knurrte leise vor sich hin. Er war jedoch kein Victor Nikiforov! Ein dauergrinsendes Gute Laune-Männchen, das sich wie ein Chamäleon überall anpassen konnte! Ein verkaufsfördernder Coverboy! Der Russe rieb sich die Schläfen. Und es gab noch ein weiteres Problem. Otabek. Zu klug, zu vertraut mit seinen Schwächen. Er HATTE versprochen, sich an die Regeln zu halten, gesund zu werden, aber gesund allein reichte nicht, wenn man alle anderen distanzieren wollte. Und musste. Der Sieger kam nicht dorthin, weil er sich brav gesund hielt und artig sein Programm abspulte, nein, das hatte ihm sein jahrelanges Training gezeigt: es musste immer mehr sein, über die Grenzen hinaus. Der alte Sack pflegte mit Überraschungen zu arbeiten, das Publikum zu verzaubern, immer neue Facetten aufs Eis zu spiegeln, ohne seine Leistungen über die bekannten Schallgrenzen heben zu müssen. Es vielleicht sogar nicht zu können, wenn man die Randbedingungen für die fünffachen Umdrehungen in Betracht zog. Doch Victor Nikiforov zu kopieren, DAS kam nicht in Frage, also musste an der anderen Schraube gedreht werden! Höher, schneller, spektakulärer. Die Beine machten ihm da weniger Sorgen, seine Sprungtechnik bedurfte keiner großen Muskelmasse, aber der Oberkörper und sein rechter Arm, für das Momentum und die Balance unverzichtbar. Ohne perfekte Körperbeherrschung bis in die Spitze würde er verlieren. Yuri starrte auf den Kalender und überschlug die Zeit. Knapp, sehr knapp, aber nicht unmöglich. Wenn es ihm gelang, seine Umgebung hinters Licht zu führen. *~#~* Nach dem üppigen Mittagessen überreichte Mamma Rizzi mit zu allem entschlossenen Blick ein "Care-Paket" für die nächsten beiden Tage, damit die beiden "Jungs" nicht verhungerten. Diese Gefahr schien ihr sehr real zu sein, denn man hätte mühelos eine ganze Woche mit dem Inhalt der gewaltigen Recyclingtasche überstehen können. Sie bedankten sich artig und wünschten frohe Feiertage, dann stapften sie, die Last zwischen ihnen transportierend, zur Hofreite hinauf. Urs schmunzelte über die gewaltige Gabe und bat, vor dem Aufbruch zum Abendessen doch mit ihm die Holzvorräte aufzustocken, auf Trockenheit oder Fäulnis zu überprüfen. Er selbst würde an der Messe am Abend teilnehmen, man solle sich nicht wundern, ihn nicht wie gewohnt nach Einbruch der Dunkelheit anzutreffen. Im Hotel herrschte weniger Trubel, auch wenn das Restaurant erkennbar gut besetzt war. Eine gedämpfte Art von Vorfreude schien die Atmosphäre zu bestimmen. In der kleinen Wohnung, die Christophe mit seinem Lebensgefährten bevölkerte, erwartete sie wie versprochen ein leichtes Mahl, dazu tatsächlich Gesellschaftsspiele! Nur ein kleiner Adventskranz schmückte die schlicht gehaltene Ausstattung, ganz und gar nicht das, was man sich vorstellte, wenn man Christophes laszive Darbietungen auf dem Eis kannte. Sie plauderten unbefangen, würfelten, kickten gegenseitig die Spielfiguren ins Aus, schimpften, lachten und seufzten theatralisch über klebriges Pech. Recht aufgekratzt verabschiedete man sich bei frostigen Temperaturen unter einem klaren Himmel. Gegen die Festbeleuchtung rundherum war es jedoch unmöglich, Sterne zu erkennen. "Vermisst du deine Familie?", erkundigte sich Yuri, während sie in gemächlichem Tempo den serpentinenartigen Weg den Uetliberg hinaufstiegen. Otabek, der voranging, wandte sich um. "Wegen der Feiertage hier? Nein, ich vermisse sie nicht. Ich weiß, dass es ihnen gut geht. Außerdem war ich ja jahrelang im Ausland", ergänzte er. Der Russe zupfte an seinem Schal herum. "Hast du denn nicht gefeiert?" Bei der Sortierung assistierend antwortete Otabek bedächtig, "nun, das hing davon ab, wo ich gerade war, wie die Leute da ihre Feiertage begehen." Er strich entfleuchte, hellblonde Strähnen unter die Mütze, studierte die grünen Katzenaugen. "Ich bin nicht konfessionell gebunden. Mir sind zwar christliche und gewisse muslimische Traditionen bekannt, aber sie stehen mir nicht nahe." "Verstehe", murmelte Yuri durch Tuchschichten. "Begehst du diese Feiertage?" Ungefragt okkupierte Otabek Yuris Hand, nahm ihren Aufstieg wieder in Angriff. "Nicht wirklich", brummte es hinter ihm, ein wenig zögerlich ergänzt, "ich erinnere mich, dass Großvater mich mal mitnahm. Die orthodoxe Kirche feiert anders, weißt du? Jedenfalls waren wir in einer großen Kirche, überall Ikonen. Man konnte vor Weihrauch kaum etwas sehen, geschweige denn Luft holen. Es wurde viel gesungen, das hat mich beeindruckt, wegen der Akustik. Ich war aber noch eine halbe Portion, deshalb erinnere ich mich nicht mehr genau." Eine Weile schwiegen sie beide, bis zur nächsten Kehre. Man konnte die in Dunkelheit liegende Hofreite gerade so erahnen. "Du vermisst deinen Großvater, nicht wahr?" Yuri antwortete nicht, hielt den Blick starr auf den Boden gesenkt. Natürlich war er über die christlichen Feiertage wegen des Trainings und der Termine nie bei seinem Großvater gewesen. Außerdem kostete die Reise ja Geld, nicht wahr?! Man hatte eben telefoniert. Er hatte wie immer versprochen, bei den internationalen Wettbewerben alle vom Eis zu putzen! Otabek zog ihn in seine kräftigen Arme. Wäre schlimm, wenn der Großvater dieses ganze Schlamassel mitbekommen hätte! Man hätte sich auch nicht sehen können, richtig?! Er schmiegte sich in die vertraute Gestalt, schlang die dünnen Arme um den Nacken des Kasachen. Trotzdem. Wenn er die farbigen Lichter sah, die andächtig-erwartungsvolle Stimmung spürte, dann erinnerte es ihn unweigerlich an seine Vorfreude, den Großvater zu treffen, durch den Schnee zu stapfen zu ihrem Häuschen, das auch geschmückt war wie alle anderen, den Rauch Marke "Hausbrand" zu riechen, der aus den alten Öfen aufstieg, und von irgendwoher liturgische Gesänge. JETZT hörte er Otabeks sonores Summen an seinem Ohr, ein wenig melancholisch, sanft, beruhigend. Widerstrebend löste er sich, schluckte den Kloß in seinem Hals energisch herunter. "Ich wüsste gerne, wie du das gemacht hast", krächzte er, wandte sich ab, voranzugehen, dabei aber Otabeks Hand greifend, "ich meine, all die Dinge zu lernen." Der Kasache folgte ihm, selbstverständlich. "All die Dinge?", man hörte seiner Stimme ein Schmunzeln an, "so viele sind es gar nicht, Yuri. Es ist aber auch kein Geheimnis. In der Fremde höre und sehe ich zu, packe mit an, wenn man es mir erlaubt. So komme ich ins Gespräch, und dann ergibt sich etwas daraus." "Das hört sich so einfach an!", knurrte der Russe. Hinter ihm lachte Otabek leise. "Das ist es auch, wenn man bedenkt, dass ich nirgendwo Exklusivrechte hatte. Meine Trainingszeiten sind wahrscheinlich sehr viel kürzer als deine gewesen, also haben sich mir Möglichkeiten aufgetan, meinen Horizont zu erweitern." Es konnte nicht übersehen werden, dass sich keines der Trainingscamps um einen mit minimalen finanziellen Mitteln ausgestatteten Kasachen (woher??) gerissen hatte. An der Hofreite angelangt, von Lotti und Dorli grunzend begrüßt, wandte sich Yuri zu ihm herum. "Du bist echt cool", stellte er ernst fest, "und ich war ein Idiot zu glauben, dass das keiner bemerkt." Otabek lächelte und streckte die Hand aus, um dem jüngeren Eiskunstläufer sanft über eine kalte Wange zu streichen. "Ich sag es nicht gern, Yuri, aber du hast als mein Freund eine viel zu gute Meinung von mir. Ich werde mich sehr strecken müssen, um ihr auch nur annähernd gerecht zu werden." Yuri zog eine Grimasse und pflückte Otabeks Hand ab, umklammerte sie so fest, dass es schmerzte. "Ich mag ja ein Idiot sein, aber SO SEHR Idiot bin ich nicht, um zu begreifen, WER du bist, Otabek Altin. Also spar dir den Schmus!" Der Kasache erwiderte den flammenden Blick der grünen Katzenaugen gewohnt stoisch, auch wenn die tiefschwarzen Augen funkelten. "Gehen wir rein", entschied Yuri schließlich nach einer halben Ewigkeit des stummen Duells. Verdammt, ER würde sich sehr strecken müssen, um mit seinem älteren Freund auf gleicher Höhe laufen zu können! *~#~* Die nächsten beiden Tage, in denen kaum Geschäftigkeit im Ort vorherrschte, erinnerten Yuri an ihre gemeinsame Zeit in Almaty. Trainingsübungen, Gespräche über Technik, Musik, Abläufe, Veränderungen, Verbesserungen, anstelle gemeinsamen Lernens für Schule und Studium die Lektüre der von Urs freundlich überlassenen Bücher. Lange Spaziergänge, aber auch Toben im Schnee, Iglu bauen, Schneefiguren, Sammeln von Tannen- und Kieferzapfen für den Kamin. Und Otabeks ruhige Erläuterungen zu Angelegenheiten des beschwerlichen Alltags in der Hofreite. Yuri kam es nicht so vor, als seien sie gerade mal in der zweiten Woche hier. Er bewunderte die Geschicklichkeit seines älteren Freundes, sein mechanisch-technisches Verständnis, die Selbstverständlichkeit, mit der Otabek die Umstände annahm und Lösungsmöglichkeiten aufstöberte, ganz so, als wäre er gewohnt, sich dem Luxus der modernen Zivilisation entziehen zu müssen. Auch konnte niemand behaupten, der Kasache sei maulfaul, keineswegs. Immer mehr erfuhr er nun über dessen Vergangenheit, die zum Teil sehr ungewöhnlichen Personen, die seinen Weg gekreuzt hatten, die er mit seiner Aufmerksamkeit, seiner Höflichkeit und der Bereitschaft, vorurteilsfrei zuzuhören, davon überzeugt hatte, ihn an ihrer Erfahrung, ihren Fähigkeiten und Alltag teilhaben zu lassen. Das nahm sich nicht nur beeindruckend aus, Yuri spürte auch eine gewisse Beklemmung bei der Vorstellung, dass der Kasache so häufig als Kind sich selbst überlassen gewesen war, da sein Betreuerstab keine große Ahnung davon hatte, wie man im Ausland das Training und den Alltag angehen lassen sollte. Das war etwas ganz anderes, als mit zehn Jahren von Moskau nach St. Petersburg umgesiedelt zu werden! Otabek, dem diese Stimmung nicht entging, knuffte ihn dann bloß neckend (und behutsam) in die Seite. "Vergiss nicht, bei uns gilt man als Mann, wenn die Haare im Gesicht und unten sprießen!", raunte er vertraulich, "ich wollte mich natürlich nicht blamieren!" »Aber du warst erst Zwölf!«, hätte Yuri gern gefaucht, »am anderen Ende der Welt, ohne deine Familie! Niemand, der deine Sprache spricht! Wie, zum Teufel, hast du das bloß weggesteckt?!« Doch er verkniff sich seinen Temperamentsausbruch. Jedes Mal. Vielleicht hatte die Urgroßmutter tatsächlich schamanische Fähigkeiten, möglicherweise konnte Otabek Altin nicht anders, als ein Wanderer zwischen den Welten sein. Der Verband mochte zwar glauben, einen Soldaten ausgeschickt zu haben, doch Otabek war viel mehr. Und viel mehr als ein "Held"! Er verfügte über eine innere Stärke, die sich längst ihrem Zugriff entzogen hatte. Otabek Altin war wahrhaftig. *~#~* Kapitel 13 - Strategien Es war nicht nett. Darüber konnte es keine Diskussion geben. Andererseits, hier erlaubte sich Otabek keine Zweifel, bestand die Notwendigkeit, die gewählte Strategie zu verfolgen. Und er wollte es so. Der Preis musste hochgetrieben werden, damit sie sich fragten, ob es diesen Einsatz wert war. *~#~* Yuri hielt sich folgsam an die Vorgaben, die er mit Otabek vereinbart hatte. Er trainierte ausschließlich die "ungefährlichen" Übungen, ließ Christophes Anstrengungen unkommentiert, der keineswegs nur so vor sich hin übte, wenn er nachmittags oder abends ebenfalls zum Stadion kam. Gemeinsam feierten sie, alkoholfrei, ins neue Jahr hinein, staunten über das Feuerwerk, das den eisig kalten, aber klaren Himmel erleuchtete. Mittagessen bei den Rizzis, dazwischen die fremde Sprache lernen, sich über die Welt in Christophes Büro auf dem Laufenden halten (besonders die Konkurrenz!!), über die ausbleibende Antwort aus St. Petersburg ärgern und Urs zur Hand gehen, der sich angeboten hatte, Yuri einige seiner Fertigkeiten beizubringen: Gartenarbeit, Umgang mit Holz, Instandhaltung der alten Hofreite. Alle Möglichkeiten, etwas zu lernen, mitnehmen! Das nahm sich Yuri vor. Endlich, Ende der ersten Januarwoche 2019, stand der verwünschte Arzttermin an. Seine Werte hatten sich tatsächlich gebessert, auch fanden sich keine Entzündungsherde mehr. Die Wunden vernarbten gut, die lädierten Knochen bewiesen, dass er sich noch im Wachstum befand, denn sie heilten rasch. Seine Lungenkapazität erreichte die nach dieser schweren Verletzung erwartete Leistungsgrenze. Eine Nachkontrolle würde es noch geben, selbstverständlich, doch für die Versicherung schien damit ihr Engagement abgeschlossen. Yuri lächelte artig, verhielt sich verdächtig folgsam und handzahm. Knapp vier Wochen waren seit dem Anschlag auf sein Leben vergangen. Jetzt, die Fäuste ballend und ein diabolisches Lächeln auf den dünnen Lippen, war er wieder im Spiel! Weniger als drei Wochen, aber das würde ihm gelingen! Die Welt sollte sich schon mal darauf gefasst machen, dass Yuri Plisetsky triumphierend zurückkehrte! *~#~* Otabek hoffte auf das kommende Wochenende, um von Christophes Büro aus eine Nachfrage nach St. Petersburg absetzen zu können. Wieso konnte man nicht das Arrangement vom Sommer wiederholen, als Yuri in Almaty seinen schulischen Verpflichtungen nachgekommen war?! Was dauerte so lange?! Waren es wirklich nur die Feiertage nach dem orthodoxen Kirchenkalender, die eine Rückmeldung verhinderten?! Er hoffte auf die Fürsprache von Yakov Feltsman. Allzu offensichtlich durfte man Yuri schließlich nicht fallen lassen, denn es wäre bereits der zweite Mehrfach-Titelträger, der von der Fahne ging bzw. verjagt wurde. Das nahm sich dann gar nicht gut aus für die internationale sportliche Zukunft! Man musste sich in Geduld üben, durchaus, und unter der Woche hatte er mit den zahlreichen Aufträgen und den kurzen, gemeinsamen Übungseinheiten mit Yuri im Eisstadion einfach nicht genug Zeit, sich dieser Frage zu widmen. Zu seiner heimlichen Freude entwickelten sich die Verkaufszahlen seiner Einspielungen erstaunlich gut. DJ Beka konnte nicht so einfach unter dem Teppich gehalten werden! Er merkte auf, als Amadeo eilig zu ihm in die enge Werkstatt kam. Ein weiterer Auftrag? "Ich mach das fertig, Otabek! Geh schnell zu Christophe, ja? Yuri ist krank!" *~#~* "Ich weiß nicht, wie lange er da gelegen hat." Christophe begleitete Otabek eilig hoch ins Dachgeschoss des Hotels. "Ich konnte erst am späten Nachmittag hier weg, und vorher war niemand in der Umkleide!" Otabek nickte bloß. Yuri hatte IHM erzählt, er werde das Mittagessen bei den Rizzis auslassen müssen, weil er eine Internettelefonkonferenz mit St. Petersburg hatte, um endlich die Frage nach seiner Schullaufbahn zu klären. "Im Spital haben sie mir den Inhalator mitgegeben." Der Schweizer öffnete die Zimmertür, reichte Otabek die obligatorische Schlüsselkarte. "Sie haben einfach kein Bett mehr frei, mehr könne man ja auch nicht tun. Eine Pflegekraft im Außendienst würde noch vorbeikommen, um morgen den Tropf zu wechseln." In dem kleinen, aber gemütlich eingerichteten Dachzimmer lag Yuris schmale Gestalt im Doppelbett, jedoch keineswegs ruhig. Ungezielt zuckten seine Glieder immer mal wieder, griff er scheinbar ins Leere, drehte sich. Das transportable Gestell mit dem durchscheinenden Tropf schwankte. "Ich werde dir den Ausfall des Zimmers ersetzen", wisperte Otabek, ließ sich auf der Bettkante nieder und umfasste die zarten Handgelenke des Russen. "Sei nicht albern!", schimpfte Christophe gedämpft, "das Zimmer war nicht vermietet. Ich habe übrigens in der Bäckerei schon Bescheid sagen lassen, dass ihr hier seid, damit Urs sich nicht sorgt." Der Kasache studierte unterdessen die Maske, die mit einem elektrischen Inhalator über einen Schlauch verbunden war. Yuri klebten die hellblonden Strähnen am Kopf, seine Augen waren tief umschattet, Flecken zeichneten sich auf der fahlen Haut ab. "Ich wusste mir nicht mehr zu helfen", murmelte Christophe, "im Spital war er kaum bei Bewusstsein, aber dann einfach nicht mehr zu beruhigen." Wie zum Beweis stöhnte Yuri gequält auf, wandte den Kopf nach rechts und links, drehte sich, die Bettwäsche verwirrend. "Vielen Dank." Otabek wandte sich zu ihm herum. "Wirklich, ich danke dir sehr! Ich hätte bemerken müssen, dass es ihm nicht gut geht." Christophe schüttelte den Kopf. "Grippaler Infekt", wiegelte er ab, "das geht wohl ganz plötzlich. Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, akut üble Symptome. Na, und eben der Verdacht auf Lungenentzündung", seufzte er, "wir haben uns doch an all die Vorgaben gehalten!" Sehnen verhärteten sich in Otabeks Gesicht. Er musste sich eingestehen, dass er vielleicht ein wenig zu blauäugig gewesen war. "In Yuris Krankenakte stand was Komisches, hat der Notarzt mir gesagt." Der Schweizer legte eine Hand auf Otabeks breite Schulter. "Bei Unruhe indianischen Medizinmann rufen.' Von einer gewissen April." Ein grimmiges Lächeln huschte über Otabeks angespannte Züge. "Eine Pflegeassistentin. Sie konnte wohl mit meinem Heimatland nichts anfangen und hat geglaubt, ich sei ein Abkömmling der Ureinwohner." "Ein Medizinmann?", wiederholte Christophe ungläubig-neugierig. "Ein Missverständnis", beschied Otabek, der keinesfalls erwähnen wollte, dass es ein heimisches Pendant zum Medizinmann gab. Er verfügte schließlich nicht über das Potential seiner Urgroßmutter! Der Schweizer verstand, zwischen den Zeilen zu lesen. Er drückte erneut die kräftige Schulter. "Ruf mich, wenn etwas ist, ja? Ich bin ganz in der Nähe." "Danke", wiederholte Otabek gefasst. Er erhob sich, nachdem Christophe das Hotelzimmer verlassen und leise die Tür hinter sich geschlossen hatte. Rasch streifte er seine Kleider bis auf die Unterwäsche ab und schlüpfte zu Yuri ins Bett, streckte sich neben ihm aus und zog ihn behutsam an sich. "Es tut mir leid", raunte er leise, küsste die fiebrige Stirn, "ich habe mich übertölpeln lassen." Dann begann er, sanft zu summen, über die zuckenden Glieder zu streicheln, um die Unruhe zu vertreiben, erneut dem Freund in seinem Leiden zur Seite zu stehen. *~#~* Christophe klopfte, beladen mit einer frischen Garnitur Bettwäsche und zwei Pyjamas. Otabek nahm ihm die Last ab und begann routiniert, Yuri auszuwickeln, dann zu entkleiden. Bettzeug und Leibwäsche waren durchgeschwitzt, nun zitterte der Russe im Schüttelfrost. "Herrje!", murmelte der Schweizer, brachte eilig Handtuch und einen feuchten Waschlappen, "das arme Kerlchen!" Eine ungewöhnliche Formulierung, denn er überragte Yuri ja nur um wenige Zentimeter, doch blank und bloß in seiner sehnig-knochigen Gestalt konnte man ihn nur bedauern. Während der Kasache in leidiger Übung effizient erst Yuri in den Pyjama hüllte, dann eilig das Bett neu bezog, suchte er nach einer Bestätigung seiner unerfreulichen Überlegungen. "Wie lange ist Yuri eigentlich in deinem Büro gewesen?" Christophe, der die durchgeschwitzte Wäsche einsammelte, stutzte. "Das weiß ich nicht", bekannte er spontan, "ich hatte ihm eine Codekarte gegeben..." Sehnen spannten sich in Otabeks kantigem Gesicht. "Ich nehme an", formulierte der Kasache beherrscht, "dass wegen der Ferien die Besetzung im Eisstadion ziemlich ausgedünnt ist, oder?" Nun presste der Schweizer den Wäschestapel enger an sich. Hinter den rahmenlosen Brillengläsern verdüsterten sich die grünen Augen. "Du glaubst doch nicht...?" Dass ein attraktiver, und, wenn er wollte, teuflisch charmanter Siebzehnjähriger gleich morgens Früh statt hier im Büro artig zu arbeiten, zum Eisstadion aufgebrochen war und sich dort eingeschmeichelt, Hilfsdienste angeboten hatte, um bis zur Öffnungszeit dort trainieren zu können. "Ich finde das heraus", murmelte er gefasst. "Nicht nötig", winkte Otabek ab, das eingefallene Gesicht seines Freundes hinter der Maske studierend, "es spielt keine Rolle. Meine eigene Eselei!", knurrte er leise, "ich hätte wissen müssen, dass er..." Dass Yuri Plisetsky nicht bereit war, sich einfach helfen zu lassen, sondern auf seine Weise versuchen würde, die nach seiner Überzeugung einzige Möglichkeit zu nutzen, sich einen Lebensunterhalt zu sichern. Und wie gewohnt Grenzen überschritt. "Ich bringe dir noch Wasser und Brühe in einer Thermosflasche", äußerte sich Christophe nach einem Augenblick brütenden Schweigens. "Vielen Dank", der Kasache nickte ernst, "und bitte entschuldige die Umstände." "Es sind keine", beschied der Schweizer ebenso entschlossen, "wir sind Freunde, oder nicht? Konzentrieren wir uns erst mal darauf, diese ungezogene, kleine Wildkatze wieder aufzupäppeln!" Die Formulierung entlockte Otabek ein minimales Lächeln. Er schloss die Zimmertür hinter Christophe, kehrte dann an Yuris Seite zurück, der leise stöhnte durch das Klappern seiner Zähne. Otabek beugte sich hinunter, die klamme Stirn zu küssen, dann fasste er den Freund unter, hob ihn an seine Brust, um die klebrigen, hellblonden Strähnen in einem Zopf einzufangen. Beruhigend summte er uralte Silben einer Sprache, die er nicht verstand, ganz unbewusst, streichelte über die dünnen Glieder, die zweifellos schmerzen mussten. "Ich hätte wissen müssen, dass Geduld nicht gerade deine größte Tugend ist", wisperte er, "tja, da haben wir den Salat." Aber er konnte weder sich selbst noch Yuri richtig zürnen, schließlich hätte ein Erfolg geradezu eine Sensation dargestellt. Möglicherweise. Yuri begann wieder, unverständliche Worte zu krächzen, durch die Maske verzerrt. Was für Alpträume mochten ihn wohl plagen? Otabek summte, wiegte und streichelte den jüngeren Russen unablässig, bis dessen Unruhe sich legte, er schwer in seinen Armen lag. "Wir schaffen das gemeinsam, Yuri", versprach er ihm, "vertrau auf uns." *~#~* Christophe klopfte höflich, bevor er mit einem weiteren Stapel frischer Wäsche, einem Ersatz-Pyjama und neuen Handtüchern das Hotelzimmer betrat. Otabek, der ihm den Zutritt gewährt hatte, strich sich durch die struppigen Strähnen am Oberkopf, wirkte, wenn man sehr genau hinsah, durchaus mitgenommen. "Oje!", murmelte der Schweizer, seine Last absetzend, "unruhige Nacht?" Der Kasache zuckte lediglich mit den breiten Schultern, wickelte Yuri aus Bett- und Nachtwäsche. Mittlerweile hatte sich dessen Unrast gelegt, er winselte lediglich hin und wieder in die geduldig dampfende Maske. "Du hattest übrigens recht", bestätigte Christophe, während er verschwitzte Wäschestücke einsammelte, "heute Morgen hat sich ein Ehrenamtlicher gemeldet, nachdem er von Yuris Zusammenbruch gehört hat. Offenbar leidet er unter Kreuzschmerzen und konnte daher nicht gut auf die Reinigungsmaschinen steigen. Weil Yuri ja eine Zugangskarte hat, also kein Betriebsfremder war, und so gut mit den Maschinen umgehen konnte, haben sie sich wohl die morgendlichen Aufgaben geteilt." Er seufzte. "Da hat er uns ganz schön angeführt, der Lauser!", zog er ein Fazit. Routiniert verstaute Otabek inzwischen den feucht abgetupften Yuri in frische Wäsche und Bettzeug, studierte den sich dem Ende neigenden Inhalt des Tropfs, eine Nährlösung, die den Flüssigkeitsverlust durch das Fieber kompensieren sollte. "Es ist einfach Pech", beschied er, wandte sich dann Christophe zu, "vielen Dank für deine Hilfe. Wie gehen wir heute weiter vor?" "Nun", der Schweizer lächelte aufmunternd, "zuerst frühstücken wir beide etwas unten. Die Pflegeassistenz werde ich empfangen und immer wieder nach unserem ungezogenen Bengel sehen, denn viel anstellen kann er hier ja nicht. Du gehst zur Arbeit. Aber ich warne dich gleich!", er zwinkerte, um den Worten die Schärfe zu nehmen, "wenn er wieder eine Show wie beim 'Exorzisten' abliefert, rufe ich dich sofort an!" Das nötigte Otabek ein schiefes Grinsen ab. "Verstanden. Und noch mal...vielen Dank!" "Ach was!", winkte Christophe ab, "als Strohwitwer bin ich ja für Gesellschaft dankbar! Wenn er da so liegt und bloß pennt, ist er recht manierlich, finde ich." Nun lächelte Otabek tatsächlich, es ging gar nicht anders. Er musste wohl ein verheerendes Bild bieten, wenn sich der ältere Eiskunstläufer so anstrengte, seinen Humorzipfel zu kitzeln! "Danke", nickte er bloß und nahm einen Teil der Wäschelast auf, "dann, wollen wir?" Immerhin, da gab es kein Vertun, ihr Fürsorgeeinsatz würde noch eine Weile andauern. *~#~* Die Rizzis waren erschrocken, was sofortige Aktionen bedeutete: ein Care-Paket musste zusammengestellt werden, Otabek durfte sich nicht außer Hörweite des Telefons entfernen. Er wurde mit diversen Ratschlägen beglückt, die alle einen triumphierenden Ausgang über die miesen Grippeviren versprachen, musste versprechen, SOFORT aufzubrechen, falls es dem "armen Blondschopf" schlechter ging. Überhaupt, wie fürchterlich, ganz ohne familiären Beistand krank darnieder zu liegen! Etwas weniger Aufregung und Fürsorge hätten dem Kasachen besser gefallen, denn es widerstrebte ihm, anderen zur Last zu fallen, deshalb arbeitete er im Akkord, so schnell es ging, ohne die Sorgfalt zu verletzen. Über mangelnde Kundschaft musste man ohnehin nicht klagen! Der anhaltend strenge Winter verlangte vom eingesetzten Gerät (und anderen wichtigen "Hausgenossen") Einiges ab, was nicht ohne Ausfälle vonstatten ging. Ein aufmunterndes Mittagessen später (trotz der Auftragsdichte unverzichtbarer Bestandteil jedes Tages bei den Rizzis) erreichte ihn am frühen Nachmittag der gefürchtete Notruf von Christophe. Es wollte einfach nicht mehr gelingen, den jungen Russen zu beruhigen, der sich im Fieberwahn herumwarf. Ein Sedativum könne zwar verabreicht werden, doch es seien Nebenwirkungen mit dem verdampften Medikament zu erwarten, das die Lungenentzündung in Schach halten sollte. Beinahe vom Hof gejagt machte sich Otabek auf den Weg zum Hotel, mit einem vollgepackten Picknickkorb belastet. Seine Versicherung, er werde zurückkommen, sobald sich Yuris Zustand wieder stabilisiert habe, wurde mit Empörung zurückgewiesen, immerhin sei Gesundheit das höchste Gut! Solcherart demissiert blieb ihm gar nichts anderes übrig, als direkt zum Hotelzimmer unters Dach zu eilen, wo ihn ein durchaus mitgenommener Christophe in Empfang nahm. Immer wieder habe er Tropf und Inhalator abfangen müssen, weil sich Yuri wie ein Fisch wand, dabei Unverständliches krächzte. Ihn aus den Augen zu lassen habe er aber auch nicht gewagt. Otabek nickte, stellte den massiven Picknickkorb ab, schälte sich aus Kleidungsschichten, streifte die Arbeitsstiefel ab und deponierte Kissen am Bettkopf, dann klaubte er den sich windenden Russen auf, hob ihn sich auf die gekreuzten Beine und sprach leise auf ihn ein, besänftigend, in seinem sonoren, gefassten Timbre. Yuri rannen Tränen aus den Augenwinkeln. Er litt offenbar Schmerzen, denn er bat immer wieder um eine ganz kurze Pause, dann werde er gleich wieder trainieren! Die dünnen Glieder bestreichend, das elende Bündel wiegend summte Otabek beharrlich Silben, küsste die klebrige Stirn. Er selbst hatte noch nie eine veritable Grippe durchlitten, galt als geradezu aufsässig robust, aber die Schilderungen der Leidtragenden, die nicht so viel Glück hatten, waren ihm durchaus im Gedächtnis. Bleischwerer Körper, Schmerzen überall, Orientierungslosigkeit, unerträgliche Hitze oder Kälte, manchmal zur gleichen Zeit. Als Christophe zurückkehrte, der die Gelegenheit genutzt hatte, eilig die Toilette aufzusuchen und Flüssignahrung zu apportieren, war es ihm gelungen, Yuri so weit zu beruhigen, dass die gefährliche Zappelei aufgehört hatte. "Soll ich die Pflegeassistenz anrufen?" Der Schweizer ließ sich auf der Bettkante nieder. "Das wird nicht nötig sein", urteilte Otabek, "wahrscheinlich müssen wir nur noch diese Nacht überstehen, bevor es besser wird." "Entschuldige!", Christophe seufzte geknickt, "ich wusste mir einfach nicht mehr zu helfen." Der Kasache ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen. "Das war schon richtig, bitte mach dir deshalb keine Vorwürfe. Wir bekommen das in den Griff." Außerdem sah er sich selbst in der Verantwortung, doch sich über verschüttete Milch zu grämen half nicht weiter. Es musste ihm gelingen, das Delirium zu durchdringen, damit Yuris Kopfkino ausschaltete, er in erholsamen Schlaf fiel. Dann würde erneut die mühsame Arbeit anstehen, den sich zusehends abmagernden Leib wieder aufzupäppeln. "Ich bin hier, Yuri", raunte er zärtlich in das klägliche Stöhnen, "alles wird gut. Ich passe auf dich auf, sei ganz beruhigt." Die Decke herbeizupfend summte er unablässig, liebkoste den jüngeren Freund, bis er selbst in erschöpften Schlaf sank. *~#~* Üblicherweise hätte sich Christophe eine derartige Freiheit nicht herausgenommen, doch erstens musste er ohnehin zur Toilette, zweitens fehlte ihm sein Liebster und drittens wollte er sich versichern, dass er tatsächlich nicht mehr bestellen konnte. Deshalb nutzte er die Generalschlüsselfunktion seiner Karte und huschte auf Sockenspitzen hinein, einen prüfenden Blick auf die beiden Eiskunstläufer werfend, die im Pegel der Nachttischlampe schliefen. Der elektrische Inhalator pulsierte kaum hörbar in die Stille hinein, während Christophe fürsorglich die Bettdecke zurechtzupfte. Yuri lag halb auf, halb neben Otabek, soweit Maske und Tropf es zuließen, jedoch ganz brav, wenn auch im Radiant enorme Hitze verströmend. Ihm zugewandt, einen Arm besitzergreifend um die schlanken Schultern gelegt, frönte Otabek dem Schlaf der Ermatteten. Mit einem erleichterten Lächeln subtrahierte sich der Schweizer wieder aus dieser hoffnungsfrohen Szenerie. Kein Zweifel, dem Kasachen haftete doch etwas von einem geheimnisvollen Medizinmann an! *~#~* Otabek lag mit seiner Prognose richtig, wie sich im Verlauf des folgenden Tages herausstellte: Yuris Unruhe reduzierte sich erheblich, dafür schlief er wie ein Toter, flache Atemzüge, kaum Körperspannung, was Bett- und Wäschewechsel erschwerte. Gegen Abend zeigte er sich sogar ansprechbar. Otabek nutzte dies, ihm etwas Flüssigkeit einzuflößen, damit sie sich vom Tropf verabschieden konnten. Zu Christophes Freude endete das Strohwitwer-Dasein auch, sodass er sich ein wenig schadlos halten konnte, denn die Hilflosigkeit hatte ihm gar nicht gefallen. Da taten Streicheleinheiten durchaus Not! Am nächsten Morgen, einem Sonntag, nach dem gemeinsamen Frühstück im Restaurant, erlebte Otabek eine Überraschung: Yuri hatte sich in eine sitzende Haltung gekämpft und leerte etwas ungelenk die Wasserflasche. Die grünen Katzenaugen blinzelten entzündet, aber nicht mehr so glasig. "Guten Morgen, mein Freund." Otabek ließ sich auf der Bettkante nieder und reichte die aufgewärmte Gemüsebrühe in einer Thermosflasche weiter. "Schön, dass du schon wach bist." Yuri versuchte sich an einer Antwort, doch über seine ausgetrockneten Lippen kam nicht mal ein Krächzen! Panik im Blick zwang er sich verzweifelt, irgendeinen Laut über ein Röcheln hinaus zu produzieren, doch seine Stimmbänder blieben den Gehorsam schuldig. "Das kommt sicher von der Grippe", beruhigte der Kasache rasch, wischte durch verschwitzte Strähnen, "trink die Brühe in Schlucken, ja?" Diese Anstrengung ermattete Yuri zwar sichtlich, doch er weigerte sich, erledigt zurück auf die Matratze zu sacken. "Glaubst du, du hältst es unter der Dusche aus? Oder wird dir schwindlig, wenn du dich bewegst?" Otabek studierte aufmerksam die Pupillen des Jüngeren. Grimmige Entschlossenheit verzerrte die ohnehin ausgezehrten Züge des Russen, als er versuchte, die Beine über die Bettkante zu schwingen. "Warte bitte!" Otabek griff ein, bevor Yuri sich auf den Bettvorleger drapieren konnte, weil ihn erkennbar sein Körper im Stich ließ. "Halt dich fest!" Er schlang sich die dünnen Arme um den Nacken, fädelte unter knochigen Knien und um knorpelige Rückenwirbel mit den muskulösen Armen, stemmte sich mühelos aus den Knien hoch und trug Yuri, ohne auf das indigniert-verschämte Röcheln zu achten, in die angeschlossene Nasszelle. Dort setzte er ihn auf dem Toilettendeckel ab. "Das haben wir gleich." In der auf Bodenniveau abgesenkten Duschkabine befand sich ein kleiner Klappsitz. Er schälte Yuri ohne Rücksicht auf Proteste aus dem Pyjama, was keine Herausforderung darstellte, war das Kleidungsstück doch eine Leihgabe von Christophe, der sehr viel mehr Figur zu verpacken hatte. Anschließend streifte er sich selbst rasch die Kleider ab, denn es hatte wenig Sinn, um Yuri herum in der Kabine zu fuhrwerken, auch wenn sie komfortablen Platz für eine Person bot. Yuris Grimasse mit einem Zwinkern quittierend half er ihm vom Toilettendeckel auf den Klappsitz, brauste ihn behutsam ab, schäumte ihn ebenso umsichtig ein, bevor er die schillernde Schicht abspülte und den Freund in Bade- und Kopftuch wickelte. Zurück auf dem Toilettendeckel thronend wirkte Yuri nicht erfreut, musste er doch auch noch, während Otabek rasch duschte, die Zähne putzen, mal ohne Pulver, das Urs gebot. "Augenblick!" Der Kasache streifte sich die Kleider wieder über, eilte ins Zimmer, um die Bettwäsche zu tauschen. Mit einem frischen Pyjama bewaffnet erlöste er Yuri von einer Handtuchschicht und stützte ihn, die wenigen Schritte auf Socken zurückzulegen. Eine erhebliche Anstrengung, die den Russen keuchend ins Bett sinken ließ, nicht allzu tief, denn die nassen Haare wurden aus ihrem Turban befreit, dann trocken geföhnt, um eine erneute Auseinandersetzung zum Thema "Krissellocken" dank Zopfgeflecht zu vermeiden. Schon blinzelte Yuri vermehrt, wollten sich seine Lider senken, was ihm nicht zupass kam, auch wenn er immer noch kein verständliches Wort hervorbringen konnte! Otabek beugte sich über ihn, küsste ihn vertraut auf die nicht mehr glühende Stirn. "Ruh dich jetzt aus, in Ordnung? Ich bleibe bei dir", versicherte er aufmunternd. Yuris Rechte umklammerte seine Hand, glücklicherweise nicht mehr so eiskalt wie an den Vortagen. Er las die Silben von den Lippen ab, schmunzelte. "Ja, ich weiß, dass es dir leid tut, mein Freund. Du trägst keine Schuld, im Moment geht eine Grippewelle herum. Und keine Sorge!", er schnurrte schelmisch, "inzwischen hat sich ein anderer Freiwilliger für deinen Aushilfsjob gefunden." Die Katzenaugen funkelten grimmig, dann seufzte Yuri tonlos. Otabek streichelte mit dem Daumen über den Handrücken, während er mit der freien Hand die Bettdecke arrangierte. "Gib uns ein wenig mehr Zeit, Yuri", bat er sonor, leise, "dann erreichen wir auch unsere Ziele." Der Russe blinzelte müde, drückte seine Hand, ein zerknittertes Lächeln forcierend. Dann senkte er gehorsam die Lider, um Schäfchen zu zählen. *~#~* Mamma Rizzis Prophezeiung traf auch auf Yuri zu, der dies, selbst in Unkenntnis, nicht goutierte. Allerdings hatte er auch keine andere Wahl, als völlig erledigt drei weitere Tage zu verschlafen, ohne Stimme, mit bleischweren Gliedern. Wann immer er mühsam die Lider hochrollte und den Bodennebel in seinem Verstand zu überwinden versuchte, saß jemand an seiner Seite, flößte ihm geduldig Brühe oder Brei ein, lederte ihn mit einem feuchten Waschlappen ab und pellte ihn aus den geliehenen Pyjamas, um ein frisches Paar zu applizieren. Er fühlte sich, zumindest zu den zwei Prozent, die nicht von Grippe geplagt waren, wie eine Gliederpuppe und deshalb durchaus unleidlich, was er jedoch für sich behalten musste, weil eine Artikulation an mangelnder Stimme scheiterte. Anschließend verschwanden seine Proteste unter kolkenden Hustenfanfaren, auch nicht angenehm. Der Kasache neckte ihn aufmunternd damit, dass er zumindest nicht ständig die Nase putzen müsse, erntete dafür einen giftigen Blick und weiteres Gekrächze. Yuri registrierte, beim Aufwachen einmal nicht wie ein Preisringer nach zwölf Runden Vollkontakt ohne jede Siegchance ächzend, dass Otabek wie gewohnt auf der Matratze neben ihm lagerte, einen etwas älteren Laptop auf den Oberschenkeln balancierend. Die tiefschwarzen Augen funkelten ihn freundlich an, offenbar humorvoll weitere Beschwerden erwartend, doch Yuri hegte nicht die Absicht, dem Freund metaphorisch UND wortwörtlich etwas zu husten. Vielmehr deutete er interessiert auf das Gerät und mühte sich, Silben hörbar zu produzieren. "Chris hat ihn mir geliehen." Otabek klappte das Gerät zu, stellte es neben sich auf den Nachtisch und angelte die obligatorische Wasserflasche heran. "Er möchte gern den Internetauftritt des Hotels moderner gestalten. Ich habe also im Austausch für Kost und Logis hier angeboten, die musikalische Untermalung zu übernehmen." In den grünen Katzenaugen, noch dezent rotstichig, blitzte es. "Zerbrich dir darüber nicht den Kopf", erstickte Otabek Sorgen im Keim, half Yuri, die Wasserflasche zu balancieren, der seine geschwächten Glieder innerlich verwünschte, "kannst du dich richtig aufsetzen?" Nun entwich Yuri tatsächlich ein frustriertes Knurren, aber er zwang seinen ausgezehrten Körper zur Kooperation. Ob er bei dieser Tortur vielleicht auch noch etwas gewachsen war? Ähnlich übel fühlte es sich jedenfalls an. "Willst du duschen? Dann hole ich dir in der Zeit was zu essen." Aufmerksam studierte der ältere Eiskunstläufer seinen Freund. "...ja!", krächzte Yuri, fasste dann rasch zu, Otabeks kräftige Hand einfangend, "kein Brei mehr!" Eine wie getuscht wirkende Augenbraue lupfend, dabei jedoch Humorkringel in den Mundwinkeln quittierte der Kasache diesen Befehl. "Sag nur, dir hat der Speiseplan nicht gefallen?" "...hab..noch...meine...Zähne!" Ein Hustenanfall schüttelte den Russen, die aufgebrachte Mimik blieb. "Na schön", Otabek zwinkerte, "dein Wunsch ist mir Befehl!", erhob sich, wie gewohnt einen Kuss auf Yuris Stirn platzierend. Der bleckte die Zunge (belegt, kein schöner Anblick), kämpfte sich dann ohne Augenzeugen mühsam in die Senkrechte. Verdammt! Das vertraute er nach einem wackligen Marsch im Badezimmer auch seinem Spiegelbild an. In dieser Verfassung war es unmöglich, rasch wieder in den Ring zurückzukehren! Wackelpudding in den Knien, Augenringe bis unters Kinn, dazu diese nervige Husterei! Yuri war durchaus bedient, zwang sich aber unerbittlich, aus dem Pyjama zu steigen (zu groß!) und in die Duschkabine zu klettern. Natürlich, wie konnte es anders sein, löste sich dann auch noch sein loser Zopf aus der Klammer am Oberkopf und wurde mitgetauft! Halblaut einige sehr unmanierliche Verwünschungen schimpfend/krächzend/hustend gelang es ihm, sich halbwegs abzutrocknen, da stand Otabek bereits auf der Schwelle, erfreulicherweise mit Leibwäsche und einem Trainingsanzug, was bedeutete, dass er nicht erneut auf dem Siechenbett liegen musste! Trotzdem taumelte er unstet bei der Anstrengung, sich selbst anzuziehen und war unausgesprochen dankbar, dass der Kasache die nassen Haare geschickt in einem Handtuchturban verpackte. "Gehen wir zu Chris." Er sammelte Bettwäsche und Pyjama ein. "Ich habe aus der Küche etwas mitgebracht. In den Hotelzimmern soll aber nicht gegessen werden", erläuterte der Kasache, zumindest nichts über Brei und Brühe hinaus, um mit den Ausdünstungen nicht das Aroma zu prägen. Yuri tappte folgsam hinter ihm her, strahlte trotz Leichenblässe, als er sich vor das Tablett setzte. Richtiges Essen! Nicht flüssig oder für Zahnlose püriert! Ungeachtet dessen erkannte er nicht allzu viel später, dass ihn selbst das Essen anstrengte, auch wenn das Schaufeln von Nudeln mit dicker Gemüsesauce nun wirklich keinen Herkules verlangte! Otabek leistete ihm Gesellschaft, betrachtete ihn erkennbar entspannt. "Es gibt da noch etwas, über das ich mit dir sprechen möchte." Er langte sogar über das Tablett, mit dem Finger Yuris Mundwinkel von Sauce-Resten zu säubern. Der starrte ob dieser Geste ungläubig in die tiefschwarzen Augen. Merkte Otabek eigentlich, was er da tat?! Dann registrierte er die Schatten unter den Augen, die etwas zu langen Stoppeln an den Schädelseiten, wand sich innerlich vor hilfloser Wut, weil er es ERNEUT vollbracht hatte, den so stoischen, selbstgewissen, starken Kasachen an Leistungsgrenzen getrieben zu haben. "Du hast ja bemerkt, dass Chris auf dem Eis trainiert hat." Otabek füllte Yuri Wasser in ein Glas nach. "Er nimmt Teil an einer Veranstaltungsserie hier in der Schweiz. Art on Ice, Musik mit Eiskunstlauf." Die dünnen Augenbrauen zusammenziehend bemühte sich der jüngere Russe um Erinnerungen. Richtig, da waren auch Plakate gewesen, Namen ehemaliger Titelträger (alte Säcke!), irgendwann um den Valentinstag herum, aber Shows und Revuen waren eben was für abgehalfterte Ex-Stars... Er spürte, wie ihm eine Ahnung von Röte mit dem Blut in die Wangen stieg vor Scham. Hatte Otabek seine kaum verhohlene Einschätzung erkannt? "Eine frühere Opernsängerin, die nach einer schweren Verletzung nicht mehr lange auf der Bühne stehen kann, will gern hier in Zürich noch mal auftreten." Aus Otabeks minimalem Schmunzeln MUSSTE er herauslesen, dass der selbstredend das vernichtende Verdikt über derlei Veranstaltungen kannte! "Sie möchte, dass ich mit ihr auftrete, nur für die Termine hier in Zürich, nicht in Lausanne oder Davos", fügte er an. Yuri krächzte, räusperte sich verzweifelt, langte sogar über den Tisch, nach Otabeks Händen greifend. "...ich meine nicht... nicht, dass du...! Du bist nicht...!", versuchte er, sich vergeblich zwischen Hustenattacken verständlich zu machen. "Dass ich kein abgehalfterter, alter Sack/Ex-Eiskunstläufer bin, der sich im Zirkus mühsam seinen Lebensunterhalt verdient?", schnurrte der Kasache sonor und dezent diabolisch, um dann die schmalen Hände mit den langen Fingern sanft zu drücken. "Das weiß ich, Yuri. Für MICH ist es die Gelegenheit zu zeigen, dass ich auch unter erschwerten Bedingungen zur Elite gehöre und nicht in einem Wurmloch verschwunden bin, aus dem ich besser nie wieder herauskommen sollte." In den tiefschwarzen Augen loderte die unbedingte Entschlossenheit, diese Auseinandersetzung zu gewinnen. "Es gibt keine Gage, weil wir quasi als Überraschung fungieren", ergänzte Otabek, "allerdings hat Chris Freikarten für die Rizzis und dich organisiert. Die Show wird auch aufgezeichnet und übertragen, was eine gewisse Werbewirkung haben sollte." Zudem würde die Konkurrenz sicher auch einen Blick riskieren, auch wenn er ohne Akkreditierung von allen Wettbewerben ausgeschlossen war. "Wenn du dich besser fühlst, benötige ich deinen scharfen Blick", aufmunternd drückte er Yuris Hände, "sie wird die Habanera aus Carmen singen, etwas über vier Minuten. Die Begleitung ist minimalistisch, das Tempo gemäßigt, deshalb muss ich mir als 'Verehrer' noch ein paar Details einfallen lassen", lockte er Hilfestellung an. Immerhin, es war nicht gerade eine Arie, zu der Eiskunstlaufende anzutreten pflegten. Ihm gegenüber zog Yuri eine Grimasse. Nicht nur, dass er selbst sich wieder weit aus dem Bewerberfeld zurückgeworfen hatte und die in einer Woche anstehenden Europäischen Meisterschaften in Minsk definitiv streichen musste, nein, nun oblag es schon wieder und immer noch Otabek, sie über Wasser zu halten! Und quasi in kürzester Zeit eine neue Kür einzustudieren, für die er offenbar neben seiner Erwerbstätigkeit zu trainieren gedachte. "Wirst du mir beistehen, mein Freund?" Die sonore Stimme warb leise, sanft um seine Unterstützung. Mit einem hässlichen Krächzen kolkte Yuri seine Antwort heraus, "klar!" *~#~* Otabek war sich der Herausforderung bewusst. Üblicherweise hätte er sie allein gemeistert, sich ganz auf sich selbst verlassen. Aber nicht dieses Mal. Yuri musste einbezogen werden, abgelenkt von seiner schwächlichen Konstitution, dem erneuten Trainingsrückstand, seinen latenten Schuldgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen. Das bedeutete, entgegen Christophes nachdrücklichem Angebot wieder in die Hofreite überzusiedeln, um dort dem nachsichtigen Urs zur Hand zu gehen. Aus den wenigen Habseligkeiten, die sie gerettet hatten, ein Kostüm zusammenzustellen, das zurückhaltend und würdig zugleich einem erfahrenen, leicht gelangweiltem Casanova entsprach. Auf die strenge Aufsicht des Russen in der kurzen Zeit auf dem Eis zu vertrauen, um die von ihnen zusammen geplante Choreographie perfekt umzusetzen. Ihn zur Geduld anzuhalten, zum widerwilligen Erledigen der Schulaufgaben, zum moderaten Aufbautraining seines geschundenen Körpers. Wie zuvor zeigte sich nämlich, dass Yuri dazu neigte, "Ballast abzuwerfen", wenn es ihm nicht gut ging, weshalb er erneut beinahe ätherische Qualitäten aufwies, stark abgemagert war. Wo sollte da die Kraft herkommen, ein Programm zu absolvieren?! Verbissen arbeitete sich Yuri unter Christophes Argusaugen wieder an seine alte Form heran, unerbittlich gegen sich selbst. Mehr als einmal musste Otabek ihn an der Hand zur Hofreite hinaufziehen, weil er sich selbst bis zur völligen Erschöpfung angetrieben hatte. Positiv zu verzeichnen war jedoch der Umstand, dass seine Lungen ordentlich arbeiteten und sich keine Entzündungen mehr zeigten. Trotzdem agierte er mit Vorsicht, sich nicht zu verkühlen, immer artig maskiert und eingemummelt. Sein Ziel war gesetzt: die Weltmeisterschaften Ende März in Japan. Und nichts würde ihn DIESES Mal aufhalten können, aufs Eis zurückzukehren! *~#~* Natürlich konnte die ausdrucksstarke Darstellung des Helden von Kasachstan nicht unter den Teppich gekehrt werden. Nicht, wenn er stolz und selbstgewiss das männliche Pendant zur Carmen darstellte, ein wenig ennuyiert durch die immer gleichen Verehrerinnen, ihre übertriebene Gestik und Schwärmerei, ohne selbst expansiv und ausschweifend zu agieren! Man staunte durchaus, wie geschickt Otabek Altin das Lied aufs Eis brachte, schließlich von einem "Profi" zum anderen grüßte, der "Carmen" die Reverenz eines Ebenbürtigen erwies. Es bestand kein Zweifel daran, dass er nicht aus konditionellen oder sportlichen Gründen von der Vier-Kontinente-Meisterschaft ausgeschlossen war. Über die Gründe der "disziplinarischen" Bestrafung wollte sich sein Verband nicht auslassen, weshalb der Druck im Kessel deutlich zunahm. Yuri beobachtete, zur Unkenntlichkeit vermummt, mit den Rizzis den Auftritt des Freundes. Eine grandiose Leistung, berücksichtigte man auch, unter welchen Belastungen sie erbracht wurde. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass er über sich hinauswachsen würde, um dem Tausendsassa Otabek Altin das Wasser reichen zu können! Viel Zeit blieb nicht. Eine neue Kür, die alle vor Neid erblassen lassen würde, musste auch her. Nicht nur wegen des zerstörten Kostüms. *~#~* Otabek wusste, dass er sich verstärkt um ihre "digitale" Existenz kümmern musste. Die Schonzeit war vorüber, nachdem er so unmissverständlich und nachdrücklich aufs Eis zurückgekehrt war. Er erwartete keine Akkreditierung für die Weltmeisterschaften, auch nicht für die direkt bevorstehende Universiade. Zwar hatte man ihn noch nicht exmatrikuliert, doch es erschien unwahrscheinlich, dass die Entscheidung über die Sanktionen so rasch revidiert werden würde. Immerhin hatte er öffentlichkeitswirksam den Fehdehandschuh in den Ring geworfen, was man gar nicht goutierte. Es gab auch der Jugend ein sehr schlechtes Beispiel. Andererseits kursierte noch immer das Foto, das man von ihm geschossen hatte, allein und blutverschmiert auf dem Eis kniend, nachdem er verzweifelt das Leben seines Freundes zu retten versucht hatte. Wie passte da der offenkundige Ungehorsam, die Rebellion zusammen? Die Frage musste angefeuert werden, subtil, indirekt. Eine weitere Aufgabe bestand darin, Yuri auszubremsen, wenn dieser Gefahr lief, sich zu übernehmen. Die Weltmeisterschaften in Saitama mussten es sein, qualifiziert war er, wild entschlossen, auch die letzten körperlichen Einbußen zu kompensieren. Das Pflichtprogramm wollte Yuri beibehalten, erprobt und anspruchsvoll genug, sämtliche Konkurrenten auszustechen, aber eine neue Kür war notwendig, denn man würde angesichts des Mordanschlags nicht zulassen, die martialische Vorstellung zu wiederholen, obwohl sich die von Otabek konzipierte Musik verblüffend gut verkaufte! Selbstverständlich würde er das Niveau halten, die Sequenzen etwas anders kombinieren, die fünffachen Umdrehungen bei Sprungkombinationen verwenden. Keine Dystopie, sondern das Gegenteil davon. Yuri Plisetsky wollte als Phoenix/Feuervogel aus der Asche erneut mit Farbenpracht und Selbstbewusstsein erstehen! *~#~* Kapitel 14 - Plötzlich erwachsen "Guten Morgen, Yuri." Otabek rollte geschickt herum, ohne die Hängematte in allzu große Turbulenzen zu versetzen, küsste die glatte Stirn. "Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag." Der jüngere Russe gab ein verschlafenes Schnauben von sich, blinzelte in das Zwielicht der wie stets auf das Mindeste heruntergedrehten Lampe. Schmunzelnd entstieg Otabek ihrer schwingenden Lagerstatt, faltete die Decken auf und sorgte für mehr Licht. Er wusch sich rasch, während Yuri sich aufrappelte und Strähnen aus dem Gesicht klaubte. "...irgendwie fühl ich mich alt", murmelte er mit grimmigem Humor. Otabek lachte leise, zog Yuri auf die Beine und dirigierte ihn vor den Waschtisch, damit er wie gewohnt Hängematte und Auflagen für den Tag verstauen konnte. Als der Russe sich herumwandte, leidlich erfrischt, die Sicht freigelegt dank justiertem Zopfband, überreichte ihm Otabek mit feierlichem Ernst einen Umschlag. Die grünen Katzenaugen wanderten unschlüssig zwischen dem älteren Freund und dem Präsent hin und her, dann wagte Yuri einen Blick hinein. "Eine Eintrittskarte für den 'Palast'?", entzifferte er fragend. Es musste sich um eine hochpreisige Angelegenheit handeln, betrachtete man allein die hochglanzbeschichtete, farbenprächtige Kartonage. "Das ist ein exklusiver Nachtclub", erläuterte Otabek, "dort werden wir heute Abend ein bisschen feiern." "...wow", murmelte Yuri zögerlich, "aber du bist doch auch da, oder? Und wir dürfen nicht zu lange bleiben, weil du morgen ja noch arbeiten musst." Auch wenn der Samstag nur bis zum Mittag zu diesem Zweck genutzt wurde. Lächelnd legte Otabek nachlässig die Unterarme auf Yuris schmale Schultern, ihren Größenunterschied ignorierend. "Ich werde selbstverständlich auch da sein", neckte er, "da ich als DJ das Staffelholz übernehme. Chris und seine bessere Hälfe sind ebenfalls da, und wir dürfen im Hotel übernachten. Also kein Problem, richtig?" Ein vorsichtiges Lächeln rollte die Mundwinkel des Russen höher. "Klingt prima, aber", er seufzte übertrieben, "die alte Tussi-Frage drängt sich auf: was ziehe ich da an?!" "Ah!", Otabek schnurrte förmlich, "gut, dass du fragst!" Damit händigte er Yuri ein sehr bescheidenes Stoffbündel aus, zusammengerollt und mit einem goldfarbenen Band umwickelt. Wachsam löste der jüngere Eiskunstläufer das Band, sah, wie sich dank Schwerkraft hauchzarter Chiffon in der Farbe seiner Augen entrollte: ein Overall, vorne bis zum Bauchnabel ausgeschnitten, so schmal gehalten, dass nur ein sehr schlanker Mann überhaupt Chancen hatte, hineinzuschlüpfen. "...Wahnsinn", wisperte Yuri andächtig. Otabek lächelte bloß. Da knurrte vernehmlich eine Magengrube. Prompt entfuhr Yuri ein gezischter Fluch. Wie peinlich! "Starten wir in deinen Geburtstag mit Frühstück, ja?" Amüsiert drapierte Otabek einen Arm um Yuris Schultern, "du hast heute noch viel zu tun!" "Hab ich?" Yuri warf ihm einen überraschten Seitenblick zu, ließ sich jedoch willig zur Tür steuern, ohne den prächtigen Overall loszulassen. *~#~* "Was soll das alles?! Da brauche ich ja ne Schubkarre!", schimpfte Yuri wenig später, als er im Hotel eintraf, das Büro betrat. Zugegeben, er hatte damit gerechnet, dass es sich herumsprach, wo er sich aufhielt, aber dass die Züricher Sektion des ISU durchaus verärgert sämtliche Fan-Geschenke und Post hierher leitete, war nun wirklich übertrieben! Es wurde noch schlimmer im Laufe des Tages, was selbst Christophe ein wenig aus der Ruhe brachte, denn irgendwo musste ja alles bleiben! Plüschtiere, Schmuck, Anhänger, Kleidungsstücke, Bilder, Karten, Briefe... "Meine Fresse!", schnaubte Yuri gegen Mittag, "wo soll ich mit dem ganzen Zeug hin?! Wer schenkt wildfremden Kerlen Unterwäsche?!" Wobei der Mini-Slip für ihn nicht mal in diese Kategorie fiel, mangels Stoffmenge. "Du bist aus mir unerfindlichen Gründen ziemlich beliebt", neckte Christophe und scheuchte ihn hoch, endlich die digitale Welt zu verlassen, in der ihn auch Glückwünsche aller Art überfallen hatten. "Na toll!", knurrte Yuri, wühlte sich durch Tüten und Kisten, "hat man dir etwa auch Slips geschenkt?!" "Sogar gebrauchte", seufzte Christophe nun kläglich, "manche Leute sind wirklich schräg drauf." Von den Sexspielzeugen wollte er lieber erst gar nicht anfangen, um den jüngeren Russen nicht zu verschrecken. Trotz all seines Gebarens und der perfekten Kopien lasziver Gestalten umwehte Yuri noch immer ein Air der Unschuld. "Ist ja widerlich!", empörte der sich gerade, "hoffentlich hast du den Scheiß gleich verbrannt!" "Mach dich lieber auf die Socken, Geburtstagskind!", lenkte der Schweizer von dem unappetitlichen Thema ab, "die Rizzis warten bestimmt schon mit einer kleinen Torte!" "Hoffentlich ohne Kerzen, sonst haben wir gleich nen Fackelzug!", grummelte Yuri, griff aber artig nach seinem Parka. Auf unbestimmte Weise machte es ihn nervös, so sehr im Mittelpunkt zu stehen, obwohl das eigentlich widersinnig war, denn immerhin trat hier die Nummer 1 des russischen Eiskunstlaufs auf! Trotzdem. Andererseits war es doch schön, mal zu feiern, so, wie andere das taten. Trainieren konnte er später ja immer noch! *~#~* Otabek beglückwünschte sich selbst, als Yuri, mit dezent geröteten Wangen, bester Laune zum Eisstadion aufbrach. Bis jetzt schien es gelungen zu sein, den jüngeren Eiskunstläufer abzulenken vom ersten Geburtstag ohne den Großvater, in der Fremde, auf sich gestellt. Mamma Rizzi strahlte auch, denn ihr Menü war sehr gelobt worden. Der allzu dünne Bambino hatte sich ein Stück Torte aufnötigen lassen und war verzaubert von dem Overall, den sie mit Otabeks Unterstützung angepasst hatte! Man musste sich schon wundern, wie ein so solider, junger Mann wie Otabek Altin einen derart untrüglichen Blick für Qualität hatte und bei Secondhand-Mode einen Rohdiamanten ausfindig machte! Aber wieder einmal bewahrheitete sich der erste Eindruck ihres Sohnes: dieser junge Mann hatte es einfach drauf! *~#~* "Ich werd nicht mehr!", bekannte Christophe baff, als sie sich in der Hotellobby trafen, bereit zum Aufbruch. Yuri feixte, nicht zu unrecht, bevor er den Parka schloss und sich die grobe Wollmütze über seine extravagante Flechtfrisur zog. Die Verblüffung des Schweizers war nachzuvollziehen, denn in dem Overall wirkte die schmale Gestalt mit den langen Gliedern nicht nur androgyn, sondern sehr erotisch. Der Stoff lag eng an Hüften, Knöcheln, Armgelenken und Schultern, schien jedoch sonst wie ein schimmernder Film über die Figur zu gleiten, sich anzuschmiegen, sie zu liebkosen. Dazu hatte Otabek Yuri noch die hellblonden Haare eingeflochten, jedoch umgekehrt, also vom Nacken bis zur Stirn, am Oberkopf so geschickt aufgesteckt, dass die Strähnen wie Fontänen tanzten. "Wir werden Knüppel brauchen!", zischte er dem Kasachen zu, als sie zum wartenden Taxi marschierten, "die werden ihn mit Haut und Haaren verschlingen!" Otabek zwinkerte ihm zu. Im Zweifelsfall würden einige Leute einen Schnellkurs in Schmähungen rund um den Globus erhalten, von spitzen Ellenbogen in empfindliche Körperteile ganz zu schweigen. Dennoch gab er Christophe uneingeschränkt recht: Yuri war ungeheuer sexy! *~#~* Otabek fiel auf, indem er nicht auffiel. Er beschränkte sich zumeist auf schwarze oder dunkle, schlichte Kleidungsstücke, kein Schmuck (das hätte auch die Kopfhörer behindert). Üblicherweise genügte seine athletische, sehr gut proportionierte Gestalt schon, den Augen der Betrachtenden zu schmeicheln. Außerdem lag seine Aufgabe ja in der atmosphärischen Gestaltung des Abends, da musste man nicht mit der Optik aus dem Rahmen fallen. Allerdings war er froh, dass Christophe, der noch einige Freunde traf, Yuri nicht aus den Augen ließ. Der tanzte ausgelassen, immer umgeben von Bewundernden, die sich noch hüteten, ihm auf die Pelle zu rücken, doch je weiter der Abend fortschritt, umso mehr füllte sich auch der gesamte Club, wurde die Atmosphäre schwüler, aber auch freizügiger, gelöster. »Verflixt!«, dachte Otabek, als er, ein wenig den Druck herausnehmend mit einer etwas getrageneren Nummer, registrierte, wie ein großgewachsener, junger Mann, attraktiv und selbstbewusst, Yuri förmlich anplüschte, nicht unmittelbar zudringlich, aber unmissverständlich in seiner Aufmerksamkeit. Christophe drehte sich zur Rettung heran, die eigene bessere Hälfte als Blockadebrecher einsetzend, während er gleichzeitig Yuri auf ein schmales Podest schubste. Hinter den Reglern am Pult überflog Otabek rasch das Angebot, beförderte das Podest dann gemächlich über die Köpfe der Tanzenden. Einen Moment der Überraschung verstreichen lassend zeichnete sich auf Yuris Miene ein herausforderndes Grinsen ab. Was Katsudon da mit einem blöden Pfosten in Barcelona geleistet hatte, na, das schaffte er hier ja wohl ohne aus dem Stand noch viel besser! Sogar ohne Alkohol! Dann drehte Yuri, im Bewusstsein, jetzt volljährig eine Menge mehr zu dürfen, so richtig auf. *~#~* "Ich hätte es ahnen müssen!", deklamierte Christophe betont klagend, als sie sich zu Fuß auf die Suche nach einem Taxi machten, die kalte Nachtluft genießend, "die hätten uns beinahe gehäutet!" Sein Lebensgefährte lachte leise und drückte ihn etwas fester mit dem umfangenden Arm. "Hast du von dem Schaum gewusst?!" Yuri, die Frisur wild und derangiert, zupfte aufgebracht an seinem Overall herum. "Ich hoffe, das Zeug versaut den Stoff nicht!" "Ohne den Schaumteppich wären wir nicht lebend rausgekommen!", hielt der Schweizer energisch dagegen, "ehrlich, verfügst du über gar keinen Selbsterhaltungstrieb?!" "Ich hab gar nichts gemacht!", konterte der Russe wild, "das war doch bloß ein bisschen Show, und ich war angezogen!", ergänzte er, in Erinnerung an Yuuri Katsukis Vorstellung in Unterhosen, Anzughemd und Krawatte. Otabek schmunzelte und okkupierte eine Hand, damit sich die beiden nicht in die nicht vorhandene Wolle gerieten. "Pah, angezogen! Als ob die das lange aufgehalten hätte!", grummelte Christophe im Rückzugsgefecht, fing ein Augenzwinkern von Otabek auf und verdrehte die eigenen. "Apropos aufgehalten!", Yuri fingerte in seinem Parka, "da hat mir so ein abgebrochener Riese eine Karte gegeben. Go-Go-Guy, ist das ein Job?" Der junge Funktionär betrachtete die Visitenkarte eingehend, während Christophe grummelte, "die wollen wohl danach die Hütte abwracken, wie?" "Ich kann mich umhören", bot er an, "vielleicht sollten wir auch bei dieser Gelegenheit klären, wie es mit deinem Aufenthaltsstatus weitergeht." Yuri schenkte ihm einen besorgten Blick. "Heißt das, ich darf nicht arbeiten? Oder nur in einem Job, den sonst keiner will? Zählt so ein Go-Go-Job als normaler Arbeitsplatz?", schoss er sich aufgeschreckt ein. "Ich kümmere mich darum", wurde er beruhigt, "noch bist du ja als Schüler hier registriert." Seufzend drückte Yuri verstohlen Otabeks Hand. "So schwierig hatte ich mir volljährig werden nicht vorgestellt!", knurrte er. Der Kasache schmunzelte bloß und erwiderte den Händedruck aufmunternd. Auch wenn er es ein wenig bedauerte, die Verantwortung für Yuri abgeben zu müssen, erwartete er jedoch gespannt und neugierig die Zukunft mit einem Freund, der sich so rasch der letzten Eierschalen entledigte. Das Privileg, dabei an seiner Seite zu sein, würde er jedenfalls mit List, Tücke, Zähnen und Klauen verteidigen! *~#~* "Geh zuerst unter die Dusche", wies Otabek Yuri an, "ich schaue nach dem Overall." Er befürchtete keine größeren Schäden, denn Chiffon galt als durchaus widerstandsfähig. Der Partyschaum sollte keine fettigen Bestandteile enthalten, die für Rückstände verantwortlich waren, wenn es um Flecken ging. Zufriedengestellt mit seiner Inspektion hängte er das luftige Kleidungsstück auf einen Bügel außerhalb des Schranks, schlug die Bettdecke auf, dann löste er Yuri im Badezimmer ab, von einer angenehmen Mattigkeit erfüllt. Ein durchaus zünftiger Geburtstag, befand er. Als er das Hotelzimmer wieder betrat, hatte der Russe zwar die Beleuchtung auf eine Nachttischlampe reduziert, betrachtete ihn jedoch gedankenvoll. Otabek schlüpfte unter die gemeinsame Decke, wandte sich seinem Bettgenossen zu. "Bist du gar nicht müde?", erkundigte er sich nachsichtig. Ihm zugewandt fokussierten sich die grünen Katzenaugen auf ihn, ungewohnt scheu. "Was beschäftigt dich, Yuri?" Sanft pflückte er dezent aufgedrehte Strähnen aus dem angespannten Gesicht. "Du bist nicht mehr für mich verantwortlich", rückte Yuri schließlich mit der Sprache heraus, "und, na ja, nicht mehr verpflichtet, dich mit mir abzuplagen. Ab sofort. Ging mir durch den Kopf." So zögerlich zusammengestückelte Satzfragmente hatte Otabek lange nicht mehr von seinem russischen Freund vernommen. Es klang verunsichert, vorsichtig, zaghaft. "Möchtest du mich loswerden?", neckte er deshalb leise, wollte die ungebärdige, kratzende, tobende Wildkatze wieder hervorlocken. "NEIN!", fauchte Yuri, blitzartig lotrecht aufsitzend, die Decke abschüttelnd, "ABSOLUT NICHT!" Der Kasache zwinkerte lässig. "Weshalb machst du dir dann Sorgen?" "Na, weil...!" Abrupt wandte sich Yuri ab, die Fäuste ballend. "Also", tiefes Durchatmen, sich beherrschend, "ich weiß, dass ich eine ziemliche Belastung bin. Du hattest Yakov ja versprochen, diese Vormundschaft zu übernehmen..." Die Arme unter den Nacken verschränkend schnurrte Otabek sonor, betont unbeeindruckt, "aufgrund meiner legendären Ehrpusseligkeit bin ich nicht ausgebogen bis jetzt, warte aber gerade noch ab, bis du eingeschlafen bist und ziehe dann Leine?" Der beabsichtigte Effekt trat ein: Yuri rotierte förmlich um 180 Grad, warf sich auf ihn und fauchte aufgebracht, die Katzenaugen glühend. "Verdammt, du nimmst mich überhaupt nicht ernst! Mach dich gefälligst nicht lustig über mich, Altin, klar?!" Otabek steckte genügsam die beiden Fausteinschläge gegen seinen muskulösen Brustkorb weg, lächelte demonstrativ gemütlich hoch. "Wie, bitte schön, sollte ich das ernst nehmen, mein Freund? Kennst du mich wirklich so wenig?" Zugegeben, der zweite Satz kündete von einer gewissen subversiven Gemeinheit, aber gelegentlich musste mit harten Bandagen operiert werden, um die ewigen Zweifel und Skrupel zu vertreiben! Es überraschte ihn jedoch, dass Yuri sich, auf seinen Hüften hockend, zurücklehnte, den Blick abwandte, die Lippen aufeinander presste. Nicht wie gewohnt die kurze Zündschnur bediente und plangemäß detonierte wie ein Feuerwerkskörper. So waren es seine Hände, die nach den schlanken des Russen griffen, sie festhielten. Getarnt hinter dem wirren Vorhang seiner langen, hellblonden Haare wisperte Yuri gefasst, aber auch unglücklich, "ich will es nicht vermasseln, auf keinen Fall, aber ich weiß-ich weiß einfach, dass ich dir immer wieder Schwierigkeiten einbrocken werde. Und jetzt-jetzt gibt es keinen Grund mehr, warum du dir das antun solltest." Mit einem heftigen Ruck zog Otabek den Russen zu sich herunter, fing ihn in seinen kräftigen Armen ein. "Du sprichst, als wären wir keine Freunde, als hätten wir keinen Spaß zusammen, keine schönen Erinnerungen, keine gemeinsame Zukunft", raunte er rau in eine Ohrmuschel, "willst du mich verletzen?" "Nein! NEIN!" Yuri umklammerte ihn fast verzweifelt. "Aber... aber ich...!" Otabek drehte den Kopf leicht, um die erhitzte Stirn zu küssen. "Du sollst wissen, dass mich nichts und niemand von deiner Seite weichen lässt", flüsterte er eindringlich, "vertrau auf mich. Vertrau auf uns, Yuri." "Das tu ich ja!" Yuri verschaffte sich mühsam etwas Bewegungsfreiheit, funkelte in die tiefschwarzen Augen des Kasachen. "Ich bin bloß gelegentlich ein absoluter Idiot!" Was zur Folge hatte, dass er eben, auch wenn er es gar nicht wollte, andere heftig vor den Kopf stieß! "Das werde ich wohlwollend berücksichtigen", versprach Otabek mit einem winzigen Lächeln in den Mundwinkeln. Über ihm entfuhr Yuri ein geplagter Seufzer aus tiefstem Seelengrund, dann ließ er den Kopf förmlich auf Otabeks Kopfkissen plumpsen. "Ehrlich, Beka, du machst mich fertig!", drang es gedämpft heraus. Schmunzelnd löste der Kasache einen Arm, um die wirren, hellblonden Strähnen zu sortieren. "Dann sollten wir diesen Umstand nutzen und die Matratze abhorchen", schlug er subtil vor, die Ahnung eines Lachens in der Stimme. Yuri stöhnte lediglich ins Kissen, rutschte dann aber artig in seine gewohnte Schlafposition an der Seite des Kasachen. Der küsste ihn wie gewohnt auf die Stirn und wünschte ihm eine gute Nacht. Den Gruß erwidernd kuschelte Yuri sich an und erwartete, noch ein wenig länger über seine so gar nicht unkomplizierte Zukunft nachgrübeln zu müssen, doch nur wenige Atemzüge später schlief er nach all der Aufregung des Tages tief und fest. *~#~* Die Ergebnisse der Universiade, die am nächsten Tag startete, verfolgten sie nur beiläufig, denn es galt, Yuris Programm zur Perfektion zu polieren. Auch begab sich Otabek daran, mit den bescheidenen Mitteln, die ihnen zu Gebote standen, ein neues Kostüm herzustellen, mit einem besonderen Kniff, einem Phönix würdig, ohne dabei die strengen Statuten zu verletzen. Yuri trainierte jede freie Minute, nutzte jeden Augenblick auf der Kunsteisfläche zwischen dem zahlenden Besuch und Vereinsmitgliedern, um die Abläufe einzuschleifen, bis er sie förmlich im Schlaf abrufen konnte. Hochleistungssport unter erschwerten Umständen, denn üblicherweise hätte er die gesamte Fläche für sich gehabt, zwar nur zu bestimmten Zeitfenstern, aber verlässlich und ohne Komplikationen. Andererseits spornte es ihn aber auch an, wie viele Rückmeldungen er erhielt, wie viel Post und auch Geschenke noch eingingen. Er war keineswegs vergessen, was seine Chancen doch erhöhen musste, nicht wahr? Dann gab es ja auch noch die etwas verwackelten Videos aus dem Nachtclub. Tja, so einen Overall konnte eben nicht jeder tragen! Ganz zu schweigen von der Show, die er auf dem Podest geboten hatte. Da brauchten sich andere gar nicht bis zum letzten Feigenblatt auszuziehen, er stach sie trotzdem aus! Ha! *~#~* Christophe seufzte, dann straffte er seine hochgewachsene, athletische Gestalt, glitt entschieden über das Eis, wo Otabek Yuri seine Eindrücke schilderte, sie an winzigen Verbesserungen arbeiteten. Manchmal konnte er gar nicht glauben, dass Yuri drei Monate zuvor um sein Leben gekämpft hatte. Die beiden jüngeren Eiskunstläufer hielten inne, als er sich näherte. In den tiefschwarzen Augen des Kasachen glaubte er, einen Blitz funkeln zu sehen, doch die Gesichtszüge verrieten keinen Gedanken hinter der stoischen Miene. "Es tut mir leid", eröffnete der Schweizer bedauernd, "aber der russische Verband hat die geänderte Kür nicht bestätigt." Nun war die Frist abgelaufen, was Yuri die Teilnahme an den Weltmeisterschaften in Japan versagte. Der Russe ballte die Fäuste, machte scharf kehrt und entfernte sich mit kräftigen Abstößen von der Eisfläche. Otabek nickte bloß, nahm die Verfolgung auf. Anders als Christophe befürchtete er keine Sachbeschädigungen oder dezibelstarke Ausführungen in verbale Untiefen. "Lass-mich-allein!", zischte Yuri über die Schulter, mühsam um Beherrschung ringend. Alles hatte er gegeben, sich mit Haut und Haaren seiner triumphalen Rückkehr verschrieben, und nun ließen sie ihn hängen! Ohne Erklärung, ohne Erläuterung! "Wenn du dich beruhigt hast, komm bitte zurück, damit wir über unseren Plan B sprechen", äußerte Otabek sehr gelassen und fast beiläufig, wandte sich ab. Nicht mal einen Atemzug später packte ihn Yuri am Oberarm, bremste ihn aus. "Was für ein Plan B?!", fauchte er, die grünen Katzenaugen glühend vor Zorn. "Wenn du ihn hören möchtest", der Kasache lächelte grimmig, "dann komm zurück zu Chris." *~#~* "Das Fest findet doch am Samstag statt, nicht wahr?" Otabek ließ die Schultern kreiseln, gefährlich beiläufig die erste Frage formulierend. Der Schweizer hatte nicht zu unrecht den Eindruck, von einem Raubtier belauert zu werden, das sich gerade im Detail ausmalte, wie es ihn zur Strecke zu bringen gedachte. "Samstag, den 23.03.", bestätigte er alarmiert, durchaus verblüfft, weil der hochexplosive Yuri noch nicht detoniert war, sondern grimmig den Kasachen studierte. "Und die Programmpunkte stehen noch nicht vollständig fest, richtig?" Otabek dehnte sich weiter. "Nun ja, wir haben einen groben Ablauf." Christophe verwies auf ein Plakat am Ausgang des Eisstadions. "Es ist ja eine Spendenveranstaltung. Manche Zusage kommt erst kurzfristig." "Man könnte sie aufzeichnen, oder? Ich erinnere mich, ein Video von der Eröffnungsfeier gesehen zu haben." Otabek ignorierte die ungeduldig vor der Brust verschränkten, dünnen Arme des Russen. Nun nahm Christophe die randlose Brille ab, rieb sich Nasenwurzel und -rücken. "In Ordnung, in Ordnung!", seufzte er theatralisch, "du fragst mich nicht gerade, ob wir eine Live-Schaltung mit Videoaufzeichnung in Wettkampfqualität hinbekommen, weil ihr beide euer komplettes Wettkampfprogramm durchziehen wollt, oder?" Otabek bleckte die Zähne in einem diabolischen Lächeln. "Was denkst du, wie viele Leute werden kommen, wenn der amtierende Weltmeister hier auftritt? Das erste Mal nach seiner schweren Verletzung?", schnurrte er förmlich sonor, "wenn sie hier seine neue Kür das erste Mal sehen können?" Yuri ächzte unterdrückt. Christophe stöhnte vernehmlich. Ihm schwante ein regelrechtes Spektakel. *~#~* Kein Lauffeuer hätte sich schneller verbreiten können als die Neuigkeit, dass der amtierende Weltmeister (der neue würde ja erst am folgenden Tag -trotz Zeitverschiebung- in Japan gekürt werden) seine brandneue Kür im Eisstadion Heuried zum nahenden Saisonende vorführen würde. Und nicht nur das! Für das geringe Eintrittsgeld (höhere Spenden waren sehr willkommen, immerhin hatte der Neubau der kompletten Sport- und Freizeitanlage sehr viel Geld gekostet) konnte man an einem Tag gleich zwei vollständige Programme sehen! Von den nach der Grand Prix-Serie zu urteilen besten Eiskunstläufern der Welt! Außerdem gab es Spaß und Spiel für die gesamte Familie, Musik und Unterhaltung, Köstlichkeiten für das leibliche Wohl. Und man tat etwas für die Nachbarschaft und die Nachwuchsförderung! In Nullkommanichts explodierte der Kartenvorverkauf, die Yuri-Angel investierten ihr Geld für die Reise in die Schweiz und nicht nach Japan. Umgekehrt kündigten sogar einige an, aus Japan in die Schweiz zu fliegen! Beim Verband war man überhaupt nicht erfreut, kein bisschen amüsiert, aber es handelte sich nicht um einen veritablen Verstoß, denn Otabek Altin verfügte über keine Akkreditierung und Yuri Plisetsky war vom eigenen Verband für die Weltmeisterschaften nicht freigegeben worden. Schlimmer noch, die Veranstalter der eigentlich kleinen Spendengala zum Saisonabschluss hatten es vollbracht, sowohl die notwendige technische Ausrüstung zu organisieren als auch entsprechende Berater einzubinden, die den Fokus wie bei einem Wettkampf makellos lenken konnten, sodass sich die ganze Welt, die dem Livestream zusah, überzeugen konnte, wie gut die beiden Eiskunstläufer tatsächlich waren. Ein ehemaliger Eiskunstläufer würde das jeweilige Programm für die Zuschauer kommentieren. Es stand zu befürchten, dass das Programm von Yuri Plisetsky so anspruchsvoll war, dass es bei einer makellosen Darbietung die Leistung der Konkurrenten bei den Weltmeisterschaften in den Schatten stellte, diese selbst damit zu einem Muster ohne Wert wurden. Mit anderen Worten: die beiden Eiskunstläufer legten sich vor der ganzen Welt mit dem Verband an. *~#~* "Davai", flüsterte Otabek kaum hörbar neben dem Regiepult. Um ihn herum vibrierte die Luft förmlich vor Anspannung, ja, sie erfasste sogar die früheren Profis. Christophe, der neben ihm stand und die Hände faltete, sowie den Kommentator, der beinahe ehrfürchtig die Vorstellung der Kür vornahm, bevor DJ Bekas Musik einsetzte. Yuri auf dem Eis, in flammendes Rot gekleidet, selbst rote Bänder in die hellblonden Haare geknüpft, bewegte sich langsam, wie in Trance, als erwache er aus einem langen, tiefen Schlaf, schüttelte die Benommenheit ab, spreizte probeweise die Flügel/Arme, nahm gemächlich Tempo auf, synchron mit der Musik. Erste Schrittsequenzen, leichte Sprünge, Selbstvertrauen tankend. Der Rhythmus beschleunigte sich, trat in den Vordergrund, verlangend, fordernd, antreibend. Yuri steigerte sich fulminant, Sprungkombinationen mit seiner unnachahmlichen, fünffachen Drehung, um die eigene Achse wirbelnd, angefeuert von der leidenschaftlich anschwellenden Melodie, wie von einer sich gewaltig auftürmenden Woge getragen. Im irrwitzigen Tempo flog er förmlich über das Eis, nutzte seine Beweglichkeit und Körperbeherrschung aus, löste dabei geschickt die winzigen Klammern im Stoff der Handteller, sodass sich in Regenbogenfarben flatternde Flügel entlang seiner Arme auffalteten, bevor er im finalen Akt auferstanden in aller Pracht den letzten, fünffachen Sprung absolvierte, den Kopf in den Nacken warf, die Flügel weit ausgebreitet, als wolle er sich von den Scheinwerfern wie einer gewaltigen Sonne anstrahlen lassen. Nach einer nervenzehrenden Atempause flutete Beifall die gesamte Halle, ließ sie beinahe ob der Resonanzen schwingen. Sich graziös verneigend grüßte Yuri in die Runde und warf grinsend Kusshändchen in alle Himmelsrichtungen, winkte ausgelassen, außer Atem, aber strahlend. "Unglaublich!", Otabek konnte Christophes Stimme in der Kakophonie kaum hören, "der Bursche ist einfach unglaublich!" Der Kasache atmete tief durch und spürte, wie sich die eigene Anspannung löste. Niemand, wirklich niemand würde diese Kür so schnell übertreffen können. Er riss sich rasch los, um zur Bande zu wechseln, damit er Yuri die Kufenschützer reichen konnte, wenn dieser endlich das Eis verließ, beladen mit allerlei Wurfgut, das die kleinen Helferinnen gar nicht alles auflesen konnten. Sie hatten alles gewagt. Würden sie auch gewinnen? *~#~* Natürlich war Yuris neue Kür, sein gesamtes Programm, Gesprächsthema Nummer 1 in der Eiskunstlaufwelt. Die technischen Schwierigkeiten und die damit verbundenen Wertungspunkte konnten von keinem anderen aktiven Sportler übertroffen werden, was insbesondere King JJ erboste, der zwar den Weltmeistertitel gewonnen hatte, doch unzweifelhaft im Schatten eines anderen stand, der nach einer lebensbedrohlichen Verletzung innerhalb von drei Monaten seine Resultate aus der Grand Prix-Serie noch potenzierte! Zwei nationale Verbände befanden sich in Erklärungsnot, denn offenbar war Yuri Plisetsky im Gegensatz zur Verlautbarung im Vollbesitz seiner Kräfte und der Konkurrent, der ihm unverdrossen zur Seite gestanden hatte, wurde nicht akkreditiert, weil er sich weigerte, diese Hilfe einzustellen. Es wirkte so, als habe man ganz willkürlich beschlossen, diese beiden unbequemen, jungen Männer auszuschließen, weil sie trotz ihrer Leistungen etwas demonstrierten, was man nicht mit diesem Spitzensport in Verbindung gebracht sehen wollte: einander zugetane Sportler. Wobei man keinen handfesten Beweis präsentieren konnte, dass tatsächlich eine Liebesbeziehung, schlimmer noch, eine sexuelle Verbindung zwischen ihnen bestand! Andererseits, man wollte sich eben nicht das Etikett anheften lassen, dass Ballett auf Kufen eben etwas für Frauen sei. Oder für falsch gepolte Männer! Wieder andere Stimmen mischten mit, die grundsätzlich jedem Friseur unterstellten, das eigene Geschlecht vorzuziehen, und das gleiche Prinzip auch auf Tänzer jedweder Couleur projizierten. Weil richtige Kerle eben nicht tanzten! Man hoffte, dass mit dem Abschluss dieser unsäglichen Saison auch die Diskussionen abebben würden. Zwar empfand auch der Dachverband den Auftritt bei einer Spendengala als unverschämt, jedoch ärgerlicherweise nicht als regelwidrig. Man würde den Teufel tun und sich in den Ruch setzen, gegen zwei heimatlose Eiskunstläufer anzugehen, die von der öffentlichen Meinung in großen Teilen als unschuldige Opfer kleingeistiger Vorurteile betrachtet wurden. Außerdem flogen die Herzen Yuri und Otabek nur so zu, der eine gertenschlank, grazil, Porzellanhaut zu grünen Katzenaugen, eine hellblonde Mähne, feingeschnittene Gesichtszüge, dazu wild, herausfordernd, provozierend, der andere zurückhaltend-selbstgewiss, ein wahrer Tonkünstler, kraftvoll, loyal, unbeirrbar, mit markantem Erscheinungsbild, breitschultrig und geheimnisvoll, ein dunkler Kontrast zu seinem jüngeren Freund. Sie verfügten über das Charisma, Fans in großer Zahl für sich zu begeistern und die würden es kaum goutieren, wenn man sich zu ungerechtfertigten Sanktionen hinreißen ließe. Zudem schienen sich Sponsoren für den ungezogenen Russen zu interessieren. Finanzielle Mittel wogen schwer, das konnte man nicht bestreiten. Schon der Vorgänger, Victor Nikiforov, hatte subtil diese Karte ausgespielt, wenn ihm etwas missfiel. Da blieb nur eins zu hoffen: dass sich schnellstmöglich ein "Shootingstar" fand, der die beiden vom Thron stürzte! *~#~* Otabek wusste, dass nun Geduld angezeigt war. Die Verbände mussten sich erst abstimmen, sortieren, eine Meinung finden. Für sie bedeutete das, sich mit den Vorgaben der bevorstehenden Saison vertraut machen, trainieren und ein Einkommen erwirtschaften, das für ein bescheidenes Auskommen genügte. "Also", Yuri nickte ihm beim Frühstück zu, "ich mach diese Go-Go-Nummer nur, wenn du als DJ dabei bist. Und ich werde nicht blank ziehen, das habe ich nicht nötig!" Da sie zur Vertiefung ihrer Sprachkenntnisse Deutsch wählten, staunte Urs nicht schlecht über die Thematik. "Ich weiß, dass wir das Geld gut gebrauchen können", argumentierte Yuri entschlossen, "aber da ziehe ich die Grenze!" Ihm gegenüber schenkte der Kasache Urs Getreidekaffee nach, deponierte die Kanne wieder auf der heißen Ofenplatte, bevor er sich setzte. "Es ist allein deine Entscheidung", stellte er ruhig fest, "ich glaube auch nicht, dass man auf derlei Konditionen bestehen wird. Sie könnten allerdings verärgert sein, mich engagieren zu müssen." "Ist mir egal!" Trotzig verschränkte Yuri die Arme vor der mageren Brust. "Ohne dich zappel ich mir da keinen ab!" Wenn es sich nämlich so verhielt wie bei der Party an seinem Geburtstag, dann riskierte er einen unfreiwilligen Strip und mehr Fingerabdrücke auf der Figur, als die Geheimdienste in ihren Registern hatten! "Nun, warten wir ab, wie sie reagieren." Otabek vermutete, dass man sich durchaus arrangieren würde. Als DJ versteckte er sich auch nicht mehr, denn welche Strafen sollte er noch von seinem Verband fürchten? Yuri schluckte Haferbrei herunter, beste Basis für einen langen Tag. "Der alte Sack", er verdrehte die Katzenaugen theatralisch, "ich meine, VICTOR hat mich auch kontaktiert. Aber wenn er bloß über Katsudon schwatzen will, breche ich sofort ab!" "Rede mit ihm", empfahl Otabek, "auch wegen der Prüfung." "Ja, ja!", grummelte der Russe und stopfte Haferbrei nach, eine Grimasse ziehend. Urs mischte sich ein, der selten nach ihrem Tagwerk fragte, aber durch die Einladung zum Abschlussfest im Eisstadion das erste Mal tatsächlich gesehen hatte, was seine beiden Untermieter so trieben. "Wenn jetzt die Kunsteisbahn nicht mehr zugänglich ist, was macht ihr denn dann?" "Na, Trockenübungen", Yuri grinste frech, bevor er artig erläuterte, "die meisten Sequenzen kann man ganz normal ohne Eis üben. Im Prinzip geht es darum, absolute Körperkontrolle zu bewahren, das heißt, auf den Punkt genau abspringen können, jede Figur perfekt bis ins Detail zu beherrschen. In St. Petersburg hatten wir zum Beispiel für die Pirouetten Drehteller, die das Kreiseln auf der Eisfläche ausreichend simulieren können. Absprungstärke kann man auf Matten oder speziellen Messgeräten optimieren. Und dann ist da ja auch noch das Ballett-Gedöns!" Er schnaubte theatralisch. Es verblüffte Otabek, wie mühelos Yuri sich auf Deutsch auslassen konnte. Hatte er heimlich geübt? Fachpublikationen gelesen? Oder verfügte sein ungebärdiger Freund über ein bemerkenswertes Sprachtalent, das er gern versteckte? Ihm gegenüber dozierte der jüngere Russe nun sachlich, auf Urs' fragenden Blick reagierend. "Das Ballett gilt als die Grundvoraussetzung für unseren Sport. Wir werden ja nach verschiedenen, zugelassenen Figuren bewertet, ihrem technischen Anspruch und der jeweiligen Ausführung. Um zu beurteilen, wie gut eine Ausführung ist, benötigt man ein Ideal, eine Qualität, einen Sollzustand, der dann mit dem jeweiligen Ist verglichen wird. Dabei ist das Ballett mit seinen manierierten Figuren und vorgegebener Haltung die Richtschnur." Er erhob sich, warf sich in eine extreme Pose, ohne Mühe das linke Bein in aufrechter Position so weit nach hinten/oben reckend, dass man glauben mochte, seine Bein- und Hüftgelenke seien aus Gummi! "Alles ist übertrieben, wie bei einer Arie in der Oper", er schnaubte, "überbetont, damit auch wirklich alle begreifen, was dargestellt werden soll. Und dafür", er ließ sich lässig wieder auf den Hocker sinkend, "sind jahrelanges, knochenhartes Training, eine besondere Beweglichkeit und vermutlich eine gewaltige Portion Masochismus unabdinglich." Urs staunte ihn noch immer an, fassungslos ob dieser Verrenkung. "Tatsächlich wäre auch ein Kampfsport mit großer Körperbeherrschung als Ausgangslage möglich", führte Yuri ernst aus, "bloß fehlt einem dann später die eingebläute Gestik des Balletts. Die ist für die Jury aber entscheidend, in welchem Grad man die jeweilige Figur nahe der Perfektion vorführt. Ich persönlich", er knurrte grimmig, "bin absolut dafür, nicht nur Ballettfiguren als Inbegriff der Schönheit und Grazie anzusehen. Das wirkt immer so künstlich, eben wie eine Arie in der Oper! Filigran, hübsch und einfach fade, ohne Wumms! Mir wäre es auch lieber, wir könnten andere Figuren einführen, aus dem modernen Tanz, aber das ist nicht gewollt. Wer so was sehen will, soll in die Eisrevuen gehen, der Spitzensport darf ja keine Show sein! Was Quatsch ist, denn der sportliche Anspruch ist ja nicht geringer!" Einmal in Fahrt gekommen legte Yuri nun so richtig los. "Und wehe, man wird mal dabei erwischt, sich andere Tanzstile anzugucken! Sakrileg! Ist schon verblüffend, dass Katsudon solche Nummern drauf hat, denn wäre er bei uns dabei ertappt worden, dann hätte sich aber der Boden aufgetan!" , sprudelte er aufgebracht hervor, "man könnte sich ja den Ballettstil versauen! Gerade mal die Eistanzenden dürfen auf die Leute vom Parkett schielen, aber bloß nicht zu innovativ! Das ist echt so rückständig!" Otabek stapelte ihr benutztes Geschirr und warf schelmisch ein, "ich gehe davon aus, dass du selbstverständlich das Verbot beachtet hast." "Iwo!", donnerte Yuri lebhaft, "warum sollte ich auch?! Ich hab mich eben nicht dabei erwischen lassen, aber du kannst darauf wetten, dass ich mir übers Netz alles angeschaut habe, was Tänze und Figuren betrifft! Selbst wenn's doofe Filme mit irgendwelchen Tanzcrews waren!" "Blasphemie!", neckte der Kasache, taufte das Geschirr, während Urs schmunzelte. "Ach, pah!", winkte Yuri ab, nach einem Geschirrhandtuch greifend, "wie hätte ich sonst die Go-Go-Nummer so hinlegen können?! Bestimmt nicht mit dem 'sterbenden Schwan'!", ätzte er verächtlich. "Ich hoffe doch, dass du dir keine rituellen Balztänze um Pfosten zu Gemüte geführt hast?!", konterte Otabek vorgeblich streng, mit dem perfekten Pokerface ausgestattet. "Seh ich aus wie ne Pole-Mieze?!", fauchte der Russe elektrisiert, "was soll ich mit dem Käse, solange sie keine Slalomstangen aufs Eis nageln?!" Nun konnte Otabek ein Auflachen nicht mehr länger unterdrücken. "Wenn ich der alte Sack wäre, hätte ich mich in Barcelona lieber mal gefragt, woher so ne luschige Trockenpflaume wie Katsudon solche Verrenkungen kennt!", grollte Yuri noch immer enragiert, "ich vertue meine Zeit jedenfalls nicht mit Gehampel, das Hilfsmittel benötigt! Und mir ist auch vollkommen wurscht, ob das anderswo ne Leistungssportart ist!" Otabek fing Urs' Blick auf und vermutete, dass ihnen dasselbe durch den Kopf ging. »Sieh an! Woher weiß er das wohl mit dem Leistungssport? Also doch ein wenig recherchiert?« Mit einem Wildkatzen-Streuner-Sechsten Sinn ausgestattet entging der wortlose Austausch dem jüngsten in der Runde nicht. "Das hab ich zufällig mal gelesen, klar?!" Das aufgestellte Fell besänftigend antwortete Otabek, "das ziehen wir nicht in Zweifel, Yuri! Aber jetzt lass uns rasch aufbrechen, sonst komme ich zu spät." Die grünen Katzenaugen verdrehend schickte Yuri sich drein. "Und ich muss ja auch noch mit dem alten..., mit VICTOR übers Netz telefonieren! Oh, Freude!" *~#~* Yuri seufzte in Christophes Büro leise, auch wenn niemand in Hörweite war. Die Zeitverschiebung beachtend klingelte er über das Netz Victor an. Trotz seiner abschätzigen Verlautbarung, der ältere Russe wolle nur über seinen geliebten Lebensgefährten klatschen, vermutete er, dass dies keineswegs der Anlass war, ein persönliches Gespräch zu verlangen. Victor Nikiforov führte immer etwas im Schilde. Er tarnte sich nur so geschickt, dass man es gar nicht merkte, zumindest dann nicht, wenn man nur seine Maske in der Öffentlichkeit kannte. Die Verbindung baute sich auf, im kleinen Fenster strahlte ihn gewohnt herzförmig Victors Begeisterung für die ganze Welt an. "Herrje, geht's auch ne Nummer kleiner? Sonst muss ich mir ne Sonnenbrille holen, so, wie du die Beißer zeigst!", knurrte Yuri ungnädig. Fern in Japan lachte Victor überschwänglich, trällernd, dann blätterte die Fassade ab, seine blauen Augen funkelten hintergründig. "Guten Morgen, Yuratschka! So unverschämt wie immer." In der Schweiz schnaubte Yuri. "Und du bist so überdreht wie immer! Kommst wohl aus der 'Amazing'-Nummer nicht mehr raus, wie?" Der ältere Russe lächelte nachsichtig. "Du wärst überrascht, wie praktisch das hin und wieder ist", konterte er leichthin, "außerdem erleichtert eine positive Einstellung doch die Verständigung, nicht wahr?" "Bah, ich will mich nicht mit Hinz und Kunz verständigen!", trotzte Yuri, verschränkte die Arme vor der Brust, "das ist ja wohl hoffentlich nicht dein Grund für den Anruf, oder?!" Victor legte manieriert den Finger an den hohen Wangenknochen, den Kopf ein wenig gewinkelt, seine patentierte "Ich hatte eine Idee!"-Pose. Prompt steckte sich Yuri SEINEN Finger in den Schlund und intonierte würgende Geräusche. "Ganz schön ungezogen", kommentierte Victor amüsiert, dann verwandelte sich auf subtile Weise seine Mimik, wurde ernsthaft, geschäftig, was Yuri keineswegs entging, der den "Arbeitsmodus" schon von ihrem Training her kannte. "Dein Programm und der Auftritt in diesem Nachtclub haben durchaus Furore gemacht." Victor kam direkt zur Sache, ohne Schnörkel, ohne sein schmeichelndes Timbre. "Hier in Japan gibt es verschiedene Interessenten, die gerne mit dir zusammenarbeiten wollen. Sie wissen allerdings nicht, wie sie dich kontaktieren sollen." Eine steile Falte des Misstrauens zwischen den dünnen Augenbrauen bemerkte Yuri, "da hast du dich ganz selbstlos als Agent angeboten, wie?" "Nicht selbstlos", Victor zwinkerte, die Provokation aufgreifend, "ich möchte 10 Prozent vom Erlös jedes Auftrags, den ich dir vermitteln kann." "Ach ja? Nun, von irgendwas musst du ja leben, nicht wahr?", ätzte Yuri zurück, "überhaupt, was für Aufträge sollen das denn sein?!" Im Sichtfenster erkennbar blickte Victor zur Seite, schien nach etwas zu greifen, las dann ab. "Durchaus lukrativ und nichts, was deine Leistungsfähigkeit beeinträchtigen sollte. Es gibt zwei größere Firmen, die Modelinien in Japan vertreiben, die dich als Model haben möchten, dazu Werbeaufträge für verschiedene Artikel, ähnlich wie in Russland, Schmuck, Taschen, Sonnenbrillen. Außerdem", er zwinkerte, "würde man wohl auch gern einen Ganzkörperkissenbezug mit deinem Abbild produzieren. Ich habe hier auch", er blätterte außer Sichtweite, "eine Café-Kette, die dich gern als Werbefigur einsetzen würde, weißt du, wie bei den Maid-Cafés." Yuri presste die Lippen zusammen und dachte angestrengt nach. Wo war der Haken?! Was konnte im Kleingedruckten stehen und ihm zum Verhängnis werden?! Victor studierte ihn gelassen. "Zürich ist ein teures Pflaster", stellte er geschmeidig fest, "ich bin mir sicher, dass du auch einen Beitrag zur Haushaltskasse leisten möchtest. Eine Zusammenarbeit lohnt sich für uns beide, Yuri. Außerdem lege ich auch noch meinen Einfluss oben drauf, dir zu einer Abschlussprüfung zu verhelfen, damit du einen Schulabschluss vorweisen kannst." "Dafür brauche ich dich nicht!", explodierte Yuri aufgebracht, ballte die Fäuste. In Japan ließ sich Victor, der derlei Ausbrüche gewohnt war, nicht aus der Ruhe bringen. "Aber es wäre hilfreich, vor allem, wenn du einen Arbeitsplatz in der Schweiz finden willst, damit du dort bleiben kannst", legte er unerbittlich den Finger in die Wunde, "wer weiß, wie lange dich der russische Verband noch alimentiert? Zu einem anderen Verband zu wechseln ist gar nicht so einfach." Abrupt wandte Yuri den Kopf ab. Selbstverständlich wusste der durchtriebene, alte Sack von all seinen Problemen! Und erwähnte ABSICHTLICH nicht die Schmach, sich von Otabek aushalten lassen zu müssen, weil er bisher nur das Verbandsgeld beigesteuert hatte! "Du bist ein Ekel", grummelte er, die Fäuste so fest geballt, dass sich die Nägel in den Handtellern deutlich abzeichneten, als er sie wieder öffnete. Victor lachte leise. "Tja, die Realität ist nicht immer hübsch", stellte er gelassen fest, "es verhält sich ja nicht so, als wüsstest du das nicht. Also, ich schicke dir eine Zusammenfassung der Angebote und einen Vertragsentwurf zu. Überleg es dir, sprich mit Otabek. Lass uns das Eisen schmieden, solange es heiß ist." "Oh, danke!", schimpfte Yuri, "Druck kann ich gerade noch gebrauchen! Wirklich, zu gütig!" Ein sehr seltenes, feistes Grinsen legte sich über Victors Gesicht. "Gern geschehen, Yuratschka! Jetzt muss ich aber los, grüß Chris und Otabek von mir!" Eine Kusshand später hatte er schon die Verbindung gekappt, noch bevor Yuri ihm ausgiebig die Meinung über seinen Charakter, sein Verhalten und grundsätzlich seine Existenz geigen konnte! *~#~* Kapitel 15 - Alte Wege und neue Pfade "He, wie geht's dir?" "Stressig, aber total! Stell dir vor, der alte Sack hat ein neues Lieblingswort: busy busy! Klingt aber wie 'bissi bissi', er muss ja den russischen Charmeur raushängen lassen! Nervig!" "Sind deine Aufträge wenigstens 'amazing'?" "Na ja, schon. Und es werden immer mehr! Aber besser klotzen als kleckern, kann ohnehin hier nicht gut schlafen! Von dem Futter ganz zu schweigen, der frisst ja echt alles!" "Du schläfst schlecht? Immer noch Jetlag?" "Nicht so richtig, irgendwie komm ich eben nicht zur Ruhe! Bin's halt gewöhnt, dass du neben mir pennst, okay?!" "Verstanden. Denk aber daran, wenigstens etwas zu trinken, wenn dir das Essen nicht gefällt, ja? Mamma Rizzi reißt mir den Kopf ab, wenn du nur ein Gramm weniger wiegst." "Ach was, sie lässt nichts auf dich kommen, Otabek! Und ich pass schon auf, bin doch kein Kleinkind mehr!" "Kannst du mir deine Tourdaten senden? Ich werde dauernd danach gefragt." "Ehrlich? Na gut, aber die ändern sich, weil Victor ständig was Neues findet! Meet and greet, Ablichten für diesen Kissenbezug, sogar in so einem 3D-Ding! Dann wollten mich noch ihre Nachwuchs-Eiskunstläufer sehen, absolut schräg, die haben sich so aufgeführt, als wäre ich ne Art Idol! Ach ja, nach Hasetsu müssen wir auch nen Abstecher machen, die wollen mich echt wiedersehen. Langsam komme ich mir schon wie ein Brummkreisel vor. Aber es bringt ordentlich Geld ein!" "Übertreib es aber nicht, ja?" "Altin, komm mal runter, okay?! So ne zarte Pflanze bin ich nicht! Und meistens muss ich gar nicht viel machen, bloß herumstehen, posieren, in Kameras grinsen. Das kriege ich gerade noch hin!" "...erinnerst du dich an deinen Masochismus-Vortrag?" "Pah, damit meinte ich doch nicht mich! Wenn mir was nicht passt, hau ich schon mit der Faust auf den Tisch!" "...bei den seltsamen Klapptischen..." "Das reicht jetzt, du Scherzkeks! Ich übernehme mich nicht, das habe ich dir doch versprochen! Erzähl mir lieber mal, wie's bei dir so läuft!" "Wir haben ordentlich zu tun, aber Dorli und Lotti vermissen dich." "Ich werd richtig mit ihnen herumtoben, wenn ich wieder zurück bin! Dauert ja nicht mehr lange." "Das richte ich aus. Vielleicht üben sie dann Nachsicht mit mir." "Na hör mal, dich mögen sie genauso, klar?! Sie sind bloß schüchtern, das ist alles!" "Danke, das richtet mich ein wenig auf." "Spottdrossel!" "Nanu? Ich hätte erwartet, von dir etwas anderes zu hören." "Ganz sicher nicht! Das hebe ich mir für den alten Sack auf!" "Yuri..." "He, selbst wenn ich es nicht ausspreche, weiß er Bescheid!" "..." "...ist ja gut! Ich bin artig und pflegeleicht!" "Danke." "Wenn's der lieben Seele Ruhe verschafft..." "Sehr verbunden." "Spottdrossel." "Stimmt. Geh jetzt schlafen, Yuri, es ist ja schon spät." "Schick mich nicht einfach ins Bett! Schließlich war ich nicht ungezogen!" "Oder vielmehr hat's noch keiner herausgefunden, wie?" "...möglicherweise." "Schlaf gut, mein Freund." "Bis dann, Altin!" *~#~* Yuri begnügte sich mit einem angereicherten Fruchtsaft. Er traute Victors abenteuerlustiger Begeisterung für kulinarische Entdeckungen nicht über den Weg und hielt sich strikt an Getränke und Speisen, deren Inhalt er unzweifelhaft identifizieren konnte. Der ältere Russe ließ sich graziös neben ihm nieder, wie immer elegant (und teuer) gekleidet, die aschblonden Haare silbrig getönt, bestens gelaunt und offenbar in der Lage, auf Japanisch angemessen zu parlieren. Wenn auch mit gezielt eingesetztem Akzent, was Yuri erboste. "Das klappt ja wunderbar!", zirpte Victor aufgedreht, "ich konnte noch ein Shooting einschieben, für diese Multifunktionsarmbänder, von denen ich dir erzählt habe! Danach können wir dann in den Shinkansen steigen!" "Jippieje", grummelte Yuri, "aber vorher nehmen sie noch diesen ganzen Klimbim aus meinen Haaren, ja? Diese Deko nervt!" "Sicher doch, sicher doch!", unverschämterweise klopfte Victor ihm auf die dünnen Oberschenkel, als müsse er ein ungezogenes Kind beruhigen, "sag mal, was hältst du vom Besuch eines Nachtclubs? Das würde noch etwas mehr Geld in die Portokasse spülen!" Die Augenbraue lupfend studierte Yuri seinen Manager. "Von mir aus! Aber ich werde nicht singen, kein Karaoke-Kram, klar?", stellte er Bedingungen, auf unangenehmen Erfahrungen gründend. Er brauchte ganz sicher keine aktuelle Erinnerung daran, dass an ihm kein begnadeter Sänger verloren gegangen war. "Oh, das werde ich schon deichseln!", versprach Victor vergnügt, "apropos Musik, arbeitet Otabek wieder an etwas Neuem?" Yuri leerte seinen Becher, leckte sich anschließend die Lippen sauber. "Wenn er Zeit hat und Chris das Büro nicht braucht", antwortete er ausweichend. Wenn Otabek etwas veröffentlichen wollte, war es nicht an ihm, das herauszuposaunen! Victor runzelte die Stirn, wischte sich durch den Seitenscheitel. "Wäre es nicht angebracht, dass ihr dann umzieht? Bei eurem Vermieter habt ihr doch keine Privatsphäre." Ein giftiger Seitenblick traf ihn. "Für 'Privatsphäre' haben wir keine Zeit! Außerdem ist Urs ein toller Vermieter, klar?! Warum sollten wir umziehen?!" Der ältere Russe wagte einen zweiten Anlauf, immer noch diplomatisch gefärbt. "Nun, ein Stromanschluss und eine Internetverbindung wären schließlich nicht verkehrt. Außerdem möchte man doch auch hin und wieder mal ganz unter sich sein." Der Wink mit dem Zaunpfahl. Die grünen Katzenaugen verengten sich ärgerlich. "Jetzt fang du nicht auch noch mit dem Gewäsch an, ja?! Wir sind beste Freunde, Otabek und ich! Also werd ich mir nich anhören, wenn irgendwelcher Mist über ihn kolportiert wird!" "... beste Freunde...", wiederholte Victor nach einem langen Moment sprachloser Bedenkpause. "Klar!", giftete Yuri empört, "Otabek hat's echt drauf! Der kommt überall zurecht, arbeitet wie ein Wilder und findet immer eine Lösung! So einen Kumpel findet man kein zweites Mal!" Für einen Sekundenbruchteil entgleisten Victor die attraktiven Züge zu einer verzerrten Grimasse, danach hatte er sich wieder im Griff und lächelte vorsichtig. "Es steht jedenfalls außer Zweifel, dass er die Geduld eines Heiligen hat", bemerkte er gefasst, was ihm einen robusten Ellenbogenstoß einbrachte. "Übertreib mal nicht, ja?! So schlimm ist es mit mir auch nicht, sonst hätte er mir das längst gesagt!", fühlte Yuri sich zu einer Selbstverteidigung aufgefordert. "...wenn du das sagst", murmelte der ältere Russe leise. "Tu ich!", fauchte Yuri grimmig, "außerdem brauche ich noch Mitbringsel! Aber nicht das Zeug, was sich die Leute hier untereinander schicken! Ich hab an Folgendes gedacht..." Victor Nikiforov hörte zwar artig zu und gab seine Empfehlungen ab, aber ein Teil seiner Gedanken kreisten noch immer baff um die Enthüllung seines jüngeren Landsmanns. Otabek Altin war tatsächlich BEEINDRUCKEND. Um nicht zu sagen AMAZING. *~#~* Yuri war mit sich recht zufrieden. Er hatte für Mamma Rizzi einen herrlichen Aufsteckkamm im Geisha-Stil gefunden und für Urs ein neues Band, das die Lesebrille hielt, für Massimo einen Satz Spielkarten mit sehr schönen Blumendrucken (auch wenn er sich gar nicht erst um die Regeln bemühte). Dazu kamen noch Tee und eine dieser besonderen Augenmasken für Christophe und seine bessere Hälfte. Außerdem hatte er diebisch erfreut für Otabek einen sommerlichen "Freizeitanzug" im japanischen Landhausstil erstanden, seitlich gebunden, knielange Hosen, luftiger Baumwollstoff mit dem etwas grummelig blickenden Bären, den man ihm als Maskottchen zugeordnet hatte. Drollig, praktisch und bestimmt sehr nützlich für den Kasachen! Es ärgerte Yuri ein wenig, dass Victor sich ständig darüber erstaunte, wie sparsam und konsequent er agierte. Der alte Angeber! Doch seit dem Sommer in Almaty und nun ihrem sehr rustikalen Aufenthalt in Zürich unterschied der jüngere Russe genau danach, was notwendig, was wünschenswert war und was lediglich einer spontanen Laune entsprang. Auch wenn Otabek Altin definitiv unvergleichlich großzügig war, hegte er keinerlei Absichten, die Kategorien "wünschenswert" und "spontane Laune" auszuschöpfen! Ihm war sehr bewusst, dass der russische Verband sich noch zurückhielt, weil sie keinen Ersatz für ihn vorzeigen konnten, aber die Situation konnte sich auch schnell ändern, dann steckte er ohne Hilfe in der Klemme. Weshalb er selbst jetzt, beim Zusammentragen der Mitbringsel, überlegte, ob sie nützlich und nachhaltig waren, nicht bloßer Ballast. Klar, man hätte auch, wie die Einheimischen, irgendwelches Futter einpacken können (und möglicherweise beim Zoll mächtig Ärger zu fürchten), doch das Angebot entsprach einfach nicht seinem Geschmack! Fiel damit aus, so viel Eigensinn erlaubte er sich ungeniert. Nun galt es, noch etwas für Amadeo Rizzi zu finden, weshalb es ihn, ohne Victors beinahe gluckenhafte Aufsicht, in einen gewaltigen Buchladen gezogen hatte. Modernes Antiquariat? Oder Altpapiersammelstelle? Yuri war sich dessen nicht sicher, unterzog sich auch nicht der Anstrengung, die schmalen Schildchen an den Regalen zu identifizieren. Er fand einen Stapel mit Katalogen von Autoherstellern und darunter, noch recht ansehnlich, auch ein dickes Magazin, das sich den einzelnen Fahrzeugen der Marke Ferrari durch die Geschichte widmete, zwar in zierlichen Schriftzeichen gehalten, doch die Bilder überwogen, akkompagniert von Entwurfsskizzen und technischen Zeichnungen verschiedener Bestandteile. "Perfekt!", entschied Yuri, suchte nach der farbigen Markierung, die die Preisklasse anzeigte. Es würde auch noch in den Rollkoffer passen, der ohnehin schon ächzte, weil ihm viele Kleidungsstücke geschenkt worden waren. Die etwas kurioseren würde er allerdings Victor überlassen, damit sie zu wohltätigen Zwecken versteigert werden konnten oder man alternativ dem Ganzkörperkissen einen neuen Look verpasste... Während er sich durch die engen Gänge schlängelte, bereits geübt das Tuscheln überhörte, was dem dürren, blonden Ausländer galt, fiel sein Blick ganz natürlich auf die farbenprächtigen Einbände von Comics. Er zögerte, denn allzu genau erinnerte er sich noch an die Andeutungen, die bei seinem vorangegangenen Japan-Aufenthalt an ihn herangetragen worden waren. Ehrlich, es sollte verboten sein, aus ganz normalen, echten Leuten Comicfiguren zu machen und sie dann auch noch...!! Weil er gegen einen Karton stieß, einen Fluch unterdrückte, richtete sich sein Blick automatisch in die Stolperfalle. Sofort übermannte ihn der Eindruck, sich selbst zu sehen! *~#~* Victor winkte erleichtert und atmete tief durch, als von der schlanken Silhouette seines jüngeren Landsmanns nichts mehr zu sehen war. Yuri war schon im gewohnten "Fass mich nicht an, ich beiß dich, kratz dich, reiß dir die Haare aus"-Modus anstrengend (wenn auch durchaus amüsant), aber wenn der still, konzentriert und in sich gekehrt agierte, löste er erhöhte Nervosität bei seiner Umgebung aus. Irgendwas hatte ihn nach dem letzten Abstecher in Beschlag genommen. Zwar erledigte er all seine Aufträge wie ein Profi, diszipliniert, ohne größere Beschwerden, bloß kurzangebunden, in Gedanken. Kein Fauchen, kein Fluchen, kein Herumtoben, keine Wutanfälle, kein Trotzverhalten. "Er wird doch nicht krank geworden sein?", wunderte sich Victor etwas unbehaglich. Zwar war Yuri Plisetsky robuster, als es seine fragile Gestalt vermuten ließ, aber er neigte eben auch dazu, die eigenen Grenzen zu missachten, wenn es ihm gerade nicht in den Kram passte, eingeschränkt zu sein. Just in diesem Moment machte sich sein Mobiltelefon diskret bemerkbar. Ein hocherfreutes Lächeln auf den Lippen nahm er den Anruf entgegen. Auch wenn er erst vor zwei Tagen Hasetsu wieder verlassen hatte, um Yuris zweiten "Arbeitsblock" zügig anzugehen, vermisste er den Alltag dort doch. Makkachin wuffte gedämpft, während Yuuri ihm verschmitzt verriet, er müsse nicht gleich ein Zugticket lösen, man könne sich in der Nähe treffen! Ein spontaner Ausflug nach Tokio, um mit ihm gemeinsam nach Hause zu fahren! "Perfekt!", schnurrte Victor rollig, "ich mache mich sofort auf den Weg!" Damit vergaß er auch Yuris seltsames Gebaren in der jüngsten Zeit. *~#~* Der Rollkoffer hoppelte und bockte, schon deutlich von seiner regen Nutzung gezeichnet. Es half ihm aber nicht, denn Yuri zerrte ihn unerbittlich hinter sich her, während er gemeinsam mit Otabek den Aufstieg zur Hofreite in Angriff nahm. Vom Flughafen aus hatte er sich direkt auf den Weg gemacht, den Rizzis seine Mitbringsel zu überreichen, dann waren sie beim Hotel vorbeigegangen, um Christophe zu überraschen. Der kannte die genauen Reisedaten nicht und begeisterte sich über die praktische Augenmaske, vor allem, weil sie so schön kühlte, wenn der Hochsommer sich gnadenlos über die Stadt senkte. Otabek berichtete gemächlich über die Ereignisse der letzten zwei Wochen, betrachtete den Freund dabei genau. Yuri wirkte blass, etwas schmal im Gesicht, recht wortkarg. Die Schnappschüsse, die sie von seinen verschiedenen Aufträgen gesehen hatten, wirkten da wie ein Kontrast, was möglicherweise auch an seiner Aufmachung lag, lange Trainingshosen, die geliebte, ärmellose Tigerfellzeichnungsweste über einem Sweatshirt, dazu die Jacke des russischen Teams um die mageren Hüften gewickelt. Die langen Ponysträhnen verdeckten gewohnt sein Gesicht, nur im Nacken hielt ein schlichter Zopfgummi die überschulterlange hellblonde Mähne in Schach. "Du wirkst angestrengt, mein Freund?", bemerkte er schließlich fragend. Yuri zuckte mit den Schultern. "Wahrscheinlich die Fliegerei. Ewiges Herumsitzen, schlafen kann man auch nicht, du kennst das ja", wich er Otabeks Sorge aus. Der Kasache ließ die Antwort eine Weile gären, bevor er nachhakte. "Waren es wieder Albträume?" Statt erneut die Schultern betont gleichgültig zu lupfen wechselte Yuri die Zughand am bockenden Rollkoffer. "Kann mich nicht erinnern", brummelte er, "bin ja jetzt wieder hier." Die wie getuscht wirkenden, schwarzen Augenbrauen zogen sich merklich zusammen. Etwas stimmte nicht, und Yuri wollte ganz offenkundig nicht darüber sprechen. Nun, es half gar nichts, ihn anzutreiben oder auszuhorchen, dann schnappte er ein wie eine Auster, deshalb beließ es Otabek vorläufig bei dieser etwas unbefriedigenden Auskunft und verlegte sich auf Yuris Eindruck über Victors Standbein als Manager. "Na ja, er macht das schon gut, das alte Schlitzohr", gab der jüngere Russe widerstrebend zu, "ist zwar wie immer nervig und total überdreht, aber man merkt eben auch, dass er schon viel Erfahrung damit hat, sich zu vermarkten. Seine Strahlemann-Nummer zieht da auch, er kann sich echt wie ein Sonnenkönig aufführen!" Was ihm nicht sonderlich behagte, auch wenn es durchaus praktisch war. Bloß dachten die Leute dann vielleicht, alle seien so bekloppt wie der alte Sack! "Wie war es in Hasetsu?" Otabek gab nicht auf, Yuris Zunge zu lösen. Der wischte kurz Ponysträhnen aus dem Gesicht, schnaubte enerviert ob der Vergeblichkeit. "Ganz erträglich. Zuerst ein bisschen beängstigend, weil da zig Leute aufmarschiert sind, Knipsen und Verbeugen, totale Fans, echt extrem. Die alte Schnapsdrossel, diese Ex-Primaballerina, hat das angeleiert. Dann wurde es etwas ruhiger, bloß die Drillinge von Katsudons Kumpel konnte ich kaum abschütteln. Ehrlich, die waren zum Fürchten, totale Eiskunstlauffanatikerinnen, und dabei gerade mal laufende Meter!" Er schüttelte sich demonstrativ. "Hat Katsuki seine Akademie schon gestartet?" Der Kasache erbarmte sich des lahmenden Rollkoffers, entzog ihn Yuris Griff. "Wechseln wir uns ab." Die grünen Katzenaugen verdrehend schnaubte Yuri theatralisch. "So schwächlich bin ich auch nicht! Das blöde Ding ist bloß vollgestopft mit dem ganzen Klamottenkram von diesen Modefuzzis! Wird kein Schwein kaufen, weil sie alle unten die Beine umkrempeln müssen! Kam mir echt vor wie ein Storch im Salat, nur, weil meine Gräten eben etwas länger sind! Kann ja nichts für meine Stelzen, aber darum so einen Kult aufzuziehen!!" Otabek lächelte besänftigend, den malträtierten Rollkoffer apportierend. Die Schnappschüsse, die er dank kryptischer Links (aus dem AUSLAND BILDER per Smartphone verschicken?! Wohl Krösus, oder was?!) von Christophes Büro aus gesehen hatte, zelebrierten tatsächlich die besondere Proportionierung des jungen Russen. So schmal, ätherisch, beinahe exotisch hatte man ihn zuvor nicht inszeniert, die langen Gliedmaßen demonstrativ hervorgehoben. "Also, die Akademie", Yuri nahm unaufgefordert den Gesprächsfaden wieder auf, "die startet nach den Sommerferien. Ist zwar bei den Japanern dann noch in einem Schuljahr, aber Wechsel sind wohl nicht so ein Problem. Zwei Mini-Katsudons haben sich bereits fest angemeldet. Die tun mir jetzt schon leid", grummelte er, wandte sich Otabek zu, "die hausen dann mit Katsudon und dem alten Sack in der umgebauten Pension! GRUSELIG! Victor ist ja schon im Normalzustand nervig, aber er mutiert total zur Übermutti! Er hat morgens tatsächlich Frühstück mit so einer Kittelschürze gemacht, samt Kopftuch! Im BLÜMCHENMUSTER!" Mannhaft unterdrückte Otabek ein Glucksen, denn das heilige Entsetzen, das Yuris Miene trotz Fransenvorhang erahnen ließ, konnte wohl kaum hinter dessen Gesichtsausdruck vor Ort zurückgestanden haben. "Ich hab ja schon immer gewusst, dass er trutschig ist, aber so schlimm?!", schäumte Yuri weiter, "da kann er bald den schönen Schorsch einholen!" "Hört sich an, als hätte er sich ganz gut eingelebt", kommentierte Otabek diesen Kulturschock dezent. Neben ihm seufzte Yuri übertrieben. "Eingelebt?! Ha! Er hat sie alle um den kleinen Finger gewickelt! Das alte Spiel 'alle lieben Victor!', er kennt alle, schwatzt mit allen, gibt seine Herzchen-Nummer! Die haben ihn adoptiert! Alle sind total vernarrt in ihn. Sind wahrscheinlich irgendwelche Pheromone. Eine Art bewusstseintrübendes Giftgas, das er absondert!", spekulierte er finster. Reichlich übertrieben, doch Otabek begrüßte es, die gewohnte Lebhaftigkeit seines Freundes geweckt zu haben. Sie kamen in Sichtweite der Hofreite, da hörte man schon den freudigen Begrüßungschor. Prompt legte Yuri einen Sprint ein, um Dorli und Lotti seine Aufwartung zu machen. Otabek marschierte gutmütig hintendrein, den Rollkoffer fest im Griff. Die Müdigkeit hinderte Yuri zumindest nicht daran, mit den beiden borstigen Damen herumzutoben, sie ausgiebig zu kraulen, sich anstupsen und beschnuppern zu lassen. Das Spektakel rief auch Urs auf den Plan, dem Yuri aus seinem Rucksack gleich das neue Brillenband überreichte, praktisch, schön, plastikfrei. Der alte Mann strahlte und neckte Yuri dialektstark ob des enthusiastischen Empfangs, woraufhin der sich in Pose warf und ebenso antwortete. »Sieh an!«, registrierte Otabek nachdenklich, »er schnappt ungeheuer fix Sprache auf. Wenn das mal kein nützliches Talent ist!« *~#~* Yuri plauderte zwar noch ein wenig mit Urs, entschuldigte sich aber dann nach oben, der Müdigkeit nach der langen Reise geschuldet. Als Otabek in ihr Zimmer kam, wie stets bewaffnet mit dem Wasserkrug für die Katzenwäsche und zwei Blechtassen voller Getreidekaffee, hatte Yuri die Hängematte schon justiert und sich ausgestreckt. Er schlief jedoch noch nicht, sondern setzte sich auf, als der Kasache seine Last abstellte, die Tür hinter sich schloss. "Dein Geschenk liegt da", gestikulierte Yuri, rieb sich über die Augen, "ist auch schon gewaschen. Bloß bisschen gekrumpelt, wegen des anderen Zeugs im Koffer." Otabek faltete die Kombination auf, lächelte über den grimmig blickenden Bären. Noch so ein Fan-Produkt, wie? "Sehr hübsch, vielen Dank", nickte er seinem jüngeren Freund zu, "ich werde es mit gebührendem Respekt tragen." "Haha!", grummelte es aus der Hängematte, "das nächste Mal bringe ich dir so ne Yukata mit, samt Bauchbinde! Total fummelig, Victor hat ewig an mir herumgezerrt." Was ihm gar nicht behagt hatte, denn seine übliche Toleranzschwelle für Bekleidungsassistenz aller Art war sehr niedrig. Und umständliche Klamotten mochte er schon mal gar nicht! Sich rasch umkleidend kletterte Otabek an seine Seite, zupfte die Decken zurecht. Es war noch immer recht kühl in der Nacht, auch wenn sich tagsüber schon der Frühling mit aller Strahlkraft bemühte. Prompt rutschte Yuri an seine Seite, seufzte unwillkürlich leise. "Dann schlaf mal gut, mein Freund", raunte der Kasache sanft, applizierte den gewohnten Kuss auf die Stirn. "Hmm hmmm", brummte es ihm gerade noch entgegen, dann registrierte er bereits die nachlassende Spannung in dem schlanken Körper halb auf, halb neben ihm. Behutsam strich er über die langen Strähnen und summte zart, mögliche Albträume und Sorgen auf Distanz zu halten. Was Yuri auch beschäftigte, es musste warten. *~#~* Otabek erwachte zur gewohnten Zeit, lauschte auf die Schritte die Stiege hinab. Unausgesprochen ließ er Urs immer etwas Privatsphäre am Morgen, bevor er sich zum Frühstück herabbegab, einen Teil der Aufgaben erledigte, die noch vor seinem Aufbruch zur Arbeit bei den Rizzis anstanden. Behutsam löste er Yuri von sich, der erstaunlicherweise so fest schlief, dass ihn nichts aufweckte. Ja, man hätte vermutlich sogar die berühmten Kanonen neben ihm abfeuern können! Das war ungewohnt, denn üblicherweise folgte er seinem älteren Freund, ganz gleich, was die Uhr auch geschlagen hatte. Ohne die Hängematte in Turbulenzen zu versetzen entstieg Otabek ihrem Lager, wusch sich lautlos im minimalen Lichtschein der Laterne. Er raffte seine Tagesbekleidung zusammen und apportierte auch das Zahnputzzeug. Wenn Yuri dermaßen erledigt im Tiefschlaf verharrte, wollte er ihn auch nicht nach dem Frühstück aus Morpheus' Armen reißen. Urs kommentierte seinen Auftritt mit einem fragenden Blick. "Yuri schläft noch. Ich glaube, er hat Einiges nachzuholen", entschuldigte der Kasache die Abwesenheit seines Freundes. Der alte Schweizer brummte verständnisvoll und stellte eine späte Frühstücksration beiseite. All diese Rumreiserei in der Weltgeschichte, das musste ja Spuren hinterlassen! *~#~* Als Yuri erwachte, drängte sich eine gewisse Hitze durch die alten Holzbalken in das schmale Zimmer. Es roch deshalb auch nach Holz, gänzlich ungewohnt zu den aromatisierten Düften der unvermeidlichen Klimaanlagen, die ihn während seines Aufenthalts in Japan überall begleitet hatten. Ausgeschlafen, aber dezent derangiert hoppelte er die Stiege herunter, beide Blechtassen abliefernd. Wie immer arbeitete der Ofen, wartete Getreidekaffee in Schwerölkonsistenz auf der Platte, daneben sein Anteil an Frühstücksbrei, ergänzt um eine Scheibe Brot, in die ein Spiegelei gebacken war. Was bedeutete, dass die Hühner etwas mehr Produktionstätigkeit bewiesen hatten! Nach dem Frühstück und dem Herrichten des Zimmers spülte Yuri das Geschirr ab, ließ das sparsame Abwaschwasser durch Urs' Spezialdrainage laufen. Er verließ das Haus, um mit Lotti und Dorli einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. Vermutlich erwartete ihn Post in Christophes Büro, musste er auch seine Abschlussprüfung angehen und wäre auch die Aufnahme seines vollen Trainingsprogramms angezeigt, aber er verweigerte trotzig diesen Pflichten den Gehorsam. Ausgeschlafen zu sein bedeutete nämlich auch, sich seinen Gedanken zu stellen, nicht in Pflichtübungen zu flüchten. Nun ja, zumindest nicht für allzu lange! Er setzte sich selbst eine Zeitgrenze. Dann wäre Schluss mit lustig! *~#~* Yuri loggte sich aus und ließ den Rechner herunterfahren. Er beeilte sich stets, denn eigentlich, da hatte der alte Sack einen Stachel ins Fleisch getrieben!, war es Christophes lässiger Großzügigkeit zu verdanken, dass er sich hier verlustieren durfte. Wobei Spaß nicht gerade aufkam. Victor hatte bereits rührig neue Offerten lokalisiert, wollte zunächst aber abwarten, wie die Publikationen ankamen. Dann konnte man ja gegebenenfalls noch über höhere Gagen verhandeln, nicht wahr? Von St. Petersburg noch immer keine Einlassung zur leidigen Frage der Abschlussprüfung, geschweige denn ein Kontakt zu Yakovs Akademie. Selbst zu Mila herrschte Funkstille. Man konnte sich vorstellen, was dahinter steckte: die, die nicht wie er ins Ausland entwischen und dort einigermaßen über die Runden kommen konnten, unterwarfen sich dem Maulkorbgebot. Nicht, dass er ihnen das vorwarf, keineswegs, allerdings verdeutlichte ihm das anhaltende Schweigen, wie ausgefasert die einst so mächtige Verbindung in seine Heimat war. Der nationale Verband würde den Druck spüren, denn die Zeit für Meldungen zur neuen Saison lief auch ab. Man musste sich entscheiden. "Ah, heute spät hier?" Christophe schlüpfte in das Büro, zwinkerte Yuri zu. "Ausgiebig Schönheitsschlaf gehalten?" "Hab verpennt", bestätigte der Russe etwas griesgrämig. Er wollte seine Schwierigkeiten nicht besprechen, denn der Schweizer war ohne Zweifel fähig, ihm doch den Besuch beim Traumatherapeuten anzuempfehlen. Was er nicht wollte, schließlich musste man letztendlich selbst die Antwort auf die Fragen finden, die einen umtrieben, nicht wahr?! "Du warst ganz schön fleißig in Nippon", plauderte Christophe gut gelaunt, "ich wette, Victor hat sich mal wieder als Sklaventreiber entpuppt, wie?" Sich erhebend dehnte und streckte Yuri die langen Gliedmaßen. "Ging so. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun." Leider sehr wahr, sah man von der Trainingsroutine ab. Den heimlichen Aushilfsjob im Heuried war er nach seinem Zusammenbruch dort los. Außerdem erkannte ihn dort jeder! "Du wirst bestimmt noch als Go-Go-Guy", Christophe schmunzelte über Yuris Wortschöpfung, "nachgefragt werden. Die Party-Saison startet ja erst." "Ich hab gesagt, ich mach's nur, wenn Otabek dabei ist!", warf Yuri ein. Allein hatte er schlichtweg keine Lust, sich vor irgendwelchen Leuten zu produzieren. Zudem spürte Otabek einfach am Besten die Stimmung und richtete seine Musikauswahl danach aus! "Aha!", lachte Christophe wissend, "nun, ich kann mir vorstellen, dass das nicht wirklich ein Hindernis darstellt." Immerhin war DJ Beka mittlerweile recht bekannt und passte sich auch den jeweiligen Vorlieben geschickt an, ganz gleich, ob Balkan-Disko, Russen-Rock oder Black Magic. "Tja, mal sehen. Ich zisch jetzt ab." Yuri las seinen Rucksack auf. "Danke, dass du mich hier die Kiste nutzen lässt." "Gern geschehen." Christophe streckte sich katzenhaft. "Leider kann ich mich hier nicht abseilen! Strohwitwer bin ich auch noch!", jammerte er kläglich. Für einen Moment zögerte Yuri, dann straffte er seine schlanke Gestalt, wischte sich lange Ponysträhnen kurz hinter die Ohren. "Sag mal, hat es deine Leute nicht...gestört, dass du...?" Christophe schmunzelte über die verdruckste Verlegenheit, die Yuri wirklich nur äußerst selten präsentierte. "Dass ich einen Schwiegersohn in die Familie gebracht habe?", beendete er die Frage keck, "nein, nicht sonderlich. Es hätte zwar auch eine Schwiegertochter sein können, aber meine Eltern sind erleichtert, dass ich den Menschen gefunden habe, den ich morgens zuerst und abends als letzten sehen und sprechen möchte. So ein Glück ist nicht jedem beschieden." Yuri runzelte die Stirn, was die fliehenden Strähnen verdeckte. "Bist du als Schwiegersohn genauso willkommen?", explorierte er misstrauisch ein fremdes Gebiet. Üblicherweise hätte Christophe eine derartige Neugierde mit einer charmanten, jedoch eindeutigen Abfuhr quittiert, er hörte jedoch in der Stimme des Russen eine hilflos-trotzige Suche nach einem Wegweiser in völlig unbekanntem Territorium. »Oha!«, dachte er angespannt, »er ist nicht nur wegen des Jetlags so in sich gekehrt...!« Laut gab er zurück, "das ist etwas schwieriger. Seine Familie ist sehr konservativ und hat seine Vorliebe schon immer ausgeblendet. Aber du kennst ja meine bessere Hälfte: seines Glückes eigener Schmied!" Er lächelte dabei versonnen, denn ihre verborgene Beziehung hätte vermutlich keine Chance gehabt, wenn sich diese unbedingte Überzeugung, einen unverzichtbaren Menschen gefunden zu haben, nicht über alle Schwierigkeiten, Zweifel, Ängste und Zurückweisungen gesetzt hätte. "Verstehe", Yuri nickte knapp, "schätze, man muss immer eine Wahl treffen." Der Schweizer ersparte sich eine Antwort, musterte den jüngeren Eiskunstläufer jedoch eingehend, besorgt. Was war in Japan vorgefallen, das gewohnt patzig-trotzige Temperament derartig herunterzukühlen?! *~#~* Der Außenring war bereits abgedeckt und man hatte die strapazierfähigen Outdoor-Sportgeräte auf der soliden Abdeckung montiert. Yuri lief sich warm, absolvierte die gewohnten Übungen, gönnte sich dann im Trampolinkäfig ein wenig Zerstreuung, bevor er an seiner Kondition arbeitete. Glücklicherweise blieb der Himmel bedeckt, denn bei Sonnenschein hätte er sich in die Halle zurückziehen müssen, da seine helle Haut dies gar nicht vertrug. Es herrschte stets ein emsiges Treiben, weil offenbar die halbe Stadt über eine Vereinsmitgliedschaft verfügte und hier gern die sportliche Freizeit verbrachte. Obwohl er spätestens seit der Spendengala bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund war, wurde Yuri selten angesprochen, um einen Schnappschuss oder ganz altmodisch ein Autogramm gebeten. Man begegnete ihm freundlich, aber zurückhaltend, was er sehr zu schätzen wusste, um sich konzentrieren zu können. Yuri wechselte zwischen Ballettroutinen und Anleihen aus anderen Sportarten ab, die ebenfalls große Körperbeherrschung verlangten. Allerdings musste es sich stets um fließende Bewegungen handeln, sonst wäre es für seine Zwecke schlicht ungeeignet. "Interessante Idee", hörte er unerwartet hinter sich die sonore Stimme des Kasachen. Otabek war wie üblich schlicht gekleidet, in dunklen Tönen gehalten, einfache Sportklamotten, dezent abgenutzt und häufig gewaschen. "Nur zur Auflockerung, falls mal wieder ein Go-Go-Job reinkommt", murmelte Yuri, an seinem losen Zopf nestelnd. "Ich wollte dich heute Morgen nicht wecken." Otabek dehnte und streckte sich. "Konntest du die Nacht besser schlafen?" "Klar!", knurrte der jüngere Russe, "offenbar habe ich deinen Schamanenzauber gebraucht." Ein scharfer Blick aus tiefschwarzen Augen traf ihn. "Über dieses Talent verfüge ich nicht", korrigierte Otabek ernst. "Das denkst auch nur du!", schnappte Yuri, die grünen Katzenaugen lodernd, "was meinst du denn, woher deine 'Tonmeister'-Fähigkeiten sonst herrühren?! Und wie war das mit dem 'Medizinmann' gegen die Unruhe, hä?!" Der Kasache spannte seine athletische Gestalt an, baute sich vor seinem jüngeren Freund auf, schweigend. Yuri wandte sich abrupt ab und strebte der Laufstrecke zu, ein hohes Tempo vorlegend. So konnte das nicht funktionieren! Verdammt! Und eigentlich wollte er nicht vorwurfsvoll, ungezogen und selbstsüchtig klingen! Er absolvierte drei volle Umläufe, bevor er sich wieder so weit im Griff hatte, die Bahn zu verlassen. Unterdessen erprobte Otabek seine Kräfte bei den gewohnten Übungen. Die Dämmerung setzte ein, beschleunigt von einigen Regenwolken, die erste Tropfen entließen. Es wäre wohl besser hineinzugehen, denn Gewitter neigten dazu, erst Anläufe zu nehmen, bevor sie die umgebenden Gebirge erstiegen. Zudem zog Wasser eben Wasser an, wie man ja wusste. Er klaubte Handtuch und Wasserflasche auf, als Yuri ihn unerwartet an der Schulter herumriss. Und auf den Mund küsste. *~#~* Es war ein absolut mieser Kuss, da kannte Yuri keine Gnade mit sich selbst, mehr ein Aufschmatzer mit Kollision und Nasenfraktur, zumindest beinahe. Aber woher sollte er auch Übung haben?! Ärgerlicherweise gehörten zu einem gelungenen Austausch zwei Leute mit derselben Intention zur selben Zeit. Mit anderen Worten: abgestimmte Koordination. Von der konnte aber keine Rede sein, immerhin hatte er seinen Freund ja überrumpelt, was zwingend sein musste, um herauszufinden, was los war! Was WIRKLICH los war! Womit Yuri jedoch nicht rechnete, war eine gezielte Gegenattacke, offensiv, sehr viel versierter und von einem festen Griff in seinen fragilen Nacken begleitet. Als Otabek ihn tatsächlich freigab im einsetzenden Regen, taumelte Yuri einige Schritte zurück. In den tiefschwarzen Augen loderten Flammen, dann schnellte der Kasache vor, packte ein schmales Handgelenk und zerrte den jüngeren Russen im Laufschritt zum Gebäude. Mitgerissen konnte Yuri nicht anders, als sich stolpernd auf seine Füße zu besinnen, bis sie nass die Umkleidekabinen für die Sportler erreichten. Hastig riss er sich los, schenkte Otabek einen wütenden Blick. Der federte elastisch herum, reduzierte die Distanz, und Yuri wich zurück. Er konnte Otabeks Miene nicht entnehmen, was in ihm vorging, aber die Mühelosigkeit, mit der der Ältere ihn gepackt hatte, die Kraft in den Händen, das erschreckte Yuri, noch mehr jedoch die Wand in seinem Rücken, die eine Flucht verhinderte. Ihm hingegen mussten seine verwirrten Gefühle vom Gesicht abzulesen sein, denn Otabek wich demonstrativ einen Schritt zurück, stand ganz locker da, trügerisch entspannt. Die Fäuste ballend setzte Yuri zum Angriff an. "Ich dachte, wir sind Freunde!", fauchte er und verabscheute das Flackern in seiner Stimme. "Sind wir das nicht?" Die tiefschwarzen Augen glühten, als hätte man Kohlen angezündet. "Aber...man küsst seine Freunde nicht!", haspelte Yuri ohne Fahrplan weiter, verwünschte, dass er sich für dieses Ergebnis keine Strategie zurechtgelegt hatte. "Also hast du mir eben die Freundschaft gekündigt?", konterte Otabek, verschränkte die muskulösen Arme vor der breiten Brust. "Nein!", platzte es aus Yuri heraus, bevor er sich bremsen konnte, "du hättest aber nicht...!" "Nicht was?", raunte der Kasache sonor, "mir nicht dieselbe Freiheit herausnehmen dürfen wie du?" "Das war doch nur, weil...!" Yuri stockte, wusste nicht, wie er sich erklären sollte, wandte aufgebracht den Blick ab, die Fäuste geballt. "Weil?", hakte Otabek unerbittlich nach, dabei höflich und souverän bleibend, was Yuri noch stärker verärgerte. "Überhaupt!", ritt er die nächste Attacke, vorwurfsvoll, aggressiv, "stehst du doch auf Mädchen, oder?!" "Im Allgemeinen, nicht im Speziellen", schoss Otabek sofort zurück. "Aber du hattest doch eine Freundin!", jaulte Yuri hilflos-aufgebracht, weil er einfach kein Land sah, ungezielte Vorwürfe herausfeuerte, die ihm geradewegs entgegenschleuderten. "Stimmt", seelenruhig pirschte sich der Kasache an, "und weiter?" "Da kannst du doch nicht einfach irgendwelche Typen knutschen!", angelte Yuri verbissen nach der richtigen Taktik. "Das tue ich auch nicht, zu deiner Beruhigung", schnurrte Otabek gefährlich sanftmütig. "Ach ja?! Und was war das eben, hä?!", angriffslustig reckte Yuri das Kinn, verschränkte die dünnen Arme vor der Brust, eine Kopie des Kasachen. Der löste lässig seine Arme, ließ sie entspannt hängen. Wie ein Boxer, gerade außer Reichweite, aber allzeit bereit, einen harten Schlag auszuteilen. "Du bist nicht irgendein Typ", stellte Otabek fest, "im Übrigen sollte diese Regel auch für dich gelten, oder nicht?" "Ich knutsche ja wohl überhaupt niemanden!", fauchte Yuri vorschnell, biss sich dann zornig auf die dünne Lippe. Und bemerkte das winzige Lächeln in den Mundwinkeln des Kasachen. Machte der sich etwa über ihn lustig?! Hielt das Ganze für einen Scherz?! Außer sich vor Empörung schnellte Yuri vor, packte Otabeks T-Shirt, fauchte ihm bitter ins Gesicht. "Du hast gesagt, wir sind Freunde! Was soll das jetzt?! Ich hab dir VERTRAUT!" Wimpernschläge später schlug er hart gegen die Wand, seine Hände von Otabeks umklammert, an den Hüften eingeklemmt. Er konnte sich nicht rühren, so sehr er auch zappelte, die Gliedmaßen anspannte, sich zu befreien versuchte. "Lass-mich-los!", zischte er durch zusammengebissene Zähne, unternahm eine vergebliche Anstrengung, den schmerzhaften Griff um seine Hände zu sprengen. Obwohl er den Kasachen um zehn Zentimeter überragte, hauptsächlich den langen Beinen geschuldet, fühlte er sich kleiner, bedrängt, eingekesselt. Ängstlich. Worauf üblicherweise Zorn hochkochte, brodelnd Schimpfworte über seine Lippen sprudelte, in Kratzen, Spucken, Beißen mündete. Otabek musterte ihn ungerührt, sah man von den tiefschwarzen Augen ab, in denen ein unheiliges Feuer loderte, eine Leidenschaft, die Yuri bisher verborgen gewesen war. Yuri verstärkte seine Anstrengungen. Ohne Erfolg. Ihm bliebe bloß noch das Spucken, doch dazu konnte er sich nicht überwinden. Frustriert drehte er den Kopf zur Seite, wollte keinen Triumph in dem so vertrauten Gesicht lesen müssen. Er spürte den warmen Atem durch seine losen Strähnen wehen, bemerkte die Nässe des Regens in seinen Kleidern, verabscheute seinen sich überschlagenden Puls. "Hab ich dir jemals Anlass gegeben, mir nicht zu vertrauen?", raunte die sonore Stimme des Kasachen an seiner Kehle. Nicht mal die Fäuste konnte er ballen, Otabeks Klammergriff war unerbittlich! "Du hättest ja wohl mal erwähnen können, dass du auf mich stehst!", zischte er bitter. "Wer sagt, dass ich das tue?", kam die gleichmütige Replik sofort. "Was..?!" Yuri wandte den Kopf so heftig herum, dass es vernehmlich knackte, funkelte aus den grünen Katzenaugen empört. "Du küsst mich, obwohl du nicht auf mich stehst?!" Ein schmächtiges Lächeln irrlichterte über die aparten Züge des Kasachen. "Vielleicht habe ich nur eine Geste aus Höflichkeit erwidert?", optionierte er unbeeindruckt. "Du... du Idiot!", platzte Yuri heraus, erneut zappelnd. In den tiefschwarzen Augen blitzte etwas. "Bin ich das?", raunte Otabek rau, unterband weitere Zappelei mit einem eindrucksvollen Ruck, der Yuri erneut schmerzhaft in Kontakt mit der unnachgiebigen Mauer brachte. Er WOLLTE wütend sein! Beleidigt ob der Täuschung! Des gemeinen Verrats! Aber Yuri spürte, wie die aufgeblasene Kulisse in sich zusammenfiel, ihn schutzlos entblößte, seine Verwirrung, seine Ratlosigkeit. Seine Angst. Otabek hielt seinem Blick stand, wich nicht aus, zwinkerte nicht mal, sodass er erneut Zuflucht darin suchte, den Kopf abzuwenden, sich hinter den losen, hellblonden Strähnen zu verstecken. Was leider nicht half, denn perfiderweise blies der Kasache mit genug Druck den Sichtschutz beiseite. "Lass mich gehen!", begehrte Yuri eilig auf. "Wohin?" "Weiß ich nicht!", fauchte der Russe spontan. "Dann kannst du auch bleiben", entschied Otabek unbeeindruckt. Das belastende Schweigen breitete sich während ihres Patts aus. Yuri konnte sich nicht befreien, Otabek ließ ihn nicht gehen. Entfernt hörten sie fröhliche Stimmen, das dezente Klopfen der Regentropfen auf Dach und Wänden. Da es schon spät war, mussten sie nicht mit Zuschauern rechnen. Wie lange standen sie schon hier?! Es fühlte sich an wie Ewigkeiten! Yuri wandte schließlich den Kopf, um Otabeks Atem nicht mehr über seine Wange streifen zu spüren. Er reckte das Kinn, um von oben herab zu funkeln, wie man es als Primaballerina eben lernte, allein, die Pose verfing nicht. Der Kasache brannte ihn förmlich mit den tiefschwarzen Augen, in denen das bis dato ungekannte Feuer der Leidenschaft loderte, nieder. Was sollte er jetzt bloß tun?! Sie waren doch Freunde! Trainingspartner, Wohngenossen, Exilanten, Rebellen! Ein unkontrolliertes Zittern überkam ihn in einer unwillkommenen Welle. "Hab ich dir jemals Anlass gegeben, mir nicht zu vertrauen?", wiederholte Otabek leise, sonor, seine Frage. Die dünnen Lippen zusammenpressend bemühte sich Yuri, dem inquisitorischen Blick standzuhalten, aber er fühlte sich wacklig auf den Beinen, sein Puls pochte unheimlich in seinem ganzen Körper und er hätte sich am Liebsten irgendwo verkrochen. Yuri senkte den Kopf, denn was sollte eine Antwort noch bringen, die sie beide längst kannten?! Otabeks Finger lösten den Klammergriff, glitten über die Handteller hoch, die Finger mit Yuris zu verflechten. Er hauchte zwischen die überlangen Ponysträhnen, fand die entstehende Lücke und küsste Yuri sehr viel zärtlicher als beim ersten Mal. *~#~* Kapitel 16 - Ein wirklich weiter Satz Yuri hatte die Beine eng vor den Körper geklappt, die dünnen Arme um sie geschlungen und den Kopf auf den spitzen Kniescheiben abgelegt, ein kompaktes Paket der profunden Verunsicherung. Otabek sortierte ihre Kleider in die Sporttaschen, gewohnt selbstsicher und effizient, präzise Bewegungen, jedes Vorhaben mit Bedacht absolvierend. "Gehen wir, Yuri, sie schließen gleich ab", raunte er dem jüngeren Russen zu. Der erhob sich wacklig, als wisse er nicht recht, ob ihm Gelenke und Gliedmaßen gehorchen würden. Otabek schulterte nicht nur beide Taschen ohne erkennbare Mühe, nein, beinahe selbstherrlich wirkend okkupierte er Yuris Linke, ging gemächlich, aber zielstrebig voraus. Nun wusste er zwar, was Yuri nach seiner Ankunft so beschäftigt hatte, jedoch nicht, wie dieser Prozess in Gang gekommen war. Das galt es zu eruieren, doch nicht im nachlassenden Regen auf dem Heimweg. Ohnehin gebot die Taktik, die letzten Ereignisse erst sacken zu lassen. Und gären, Druck entwickeln, Aufgehen wie ein Hefekloß. Zugegeben, nicht die netteste, fürsorglichste Methode, aber Yuri Plisetsky war mit Schongang nicht gedient. Nur ein Idiot würde einknicken. Es galt, geduldig zu sein, den nächsten Zug des Russen abzuwarten. Der ließ sich erschreckend folgsam an der Hand führen, strauchelte hin und wieder mal, fing sich jedoch immer ab. Aus den Augenwinkeln registrierte Otabek, dass Yuri den Kopf gesenkt hielt, sich hinter den noch feuchten Strähnen versteckte. Kontemplierte er ihre Auseinandersetzung, oder stand er noch unter Schock? Ihn selbst hatte es überrascht, die Angst auf den spitzen Zügen des Russen zu erkennen. Obwohl der doch nach den Aufnahmen in Russland, die zu seinem Almaty-Aufenthalt beigetragen hatten, eigentlich nicht vollkommen überrumpelt sein konnte von seiner Anziehungskraft auf andere Menschen. »Aber es ist anders, wenn dir jemand etwas bedeutet«, formulierte der Kasache in seinen Gedanken, »weglaufen ist keine Lösung, nicht wahr, Yuri?« *~#~* Während Otabek noch in der guten Stube ihre feuchten Kleider aufhängte, wechselte Yuri im schmalen Zimmer in einen Pyjama, der seiner Model-Arbeit geschuldet war, drehte die Laterne auf einen Schimmer herunter und justierte die Hängematte, bevor er Decken und Auflagen verteilte. Beim Nachtmahl hatte er kaum etwas heruntergebracht, stumm der leichten Konversation zwischen Otabek und Urs gelauscht. Sein Kopf schmerzte, als quetsche ihm jemand die Schläfen in eine Schraubzwinge! Er kletterte auf die Hängematte, rollte sich fötal zusammen und hoffte, wenigstens im Schlaf etwas Linderung zu finden, doch das schien aussichtslos. Es pochte in seinem Schädel, auf der Zunge ekelte ihn ein bitter-galliger Geschmack! Otabek kam hinein, zog sich um, wusch sich rasch und putzte die Zähne, dann trat er an die Hängematte heran. "Stimmt was nicht?", erkundigte er sich gedämpft, höflich. "Migräne!", zischte Yuri giftig und winselte, weil er unerwartet Seegang spürte, mit Schwindel einhergehend. "Schon?", schnurrte der Kasache trügerisch launig. "Ich mein's ernst!", fauchte Yuri, kämpfte sich in eine aufrechte Haltung und presste rasch die flache Hand auf den Mund. Verflixt, nun wurde ihm auch noch übel! Einige mühsame Atemzüge durch flatternde Nasenflügel später spürte er Otabeks kraftvolle Gestalt im Rücken, eine Hand unter seinem verkrampften Kiefer. "Schlucken!", kommandierte der Kasache befehlsgewohnt, zwang ihm eine der Blechtassen an die Lippen, die jedoch keineswegs Getreidekaffee enthielt. Im Wasser lösten sich ölige Tropfen mit einem Geschmack nach Salmiak und Hustenpastillen. Otabek gab ihn frei, um die nächste Stufe einzuleiten, indem er ohne Rücksicht auf feineres Empfinden Yuris Schläfen mit Pfefferminzöl massierte. Vor dessen Augen explodierten Blitze, er konnte ein wehleidiges Stöhnen nicht unterdrücken. Sich die Hände gründlich abreibend kommandierte der Kasache, "ruhig durch die Nase einatmen, dann durch den Mund aus." Er glitt neben Yuri auf die Hängematte, sortierte die Decken und drehte den keuchenden Russen vorsichtig herum, bugsierte ihn in die gewohnte Position an seine Seite, dann bestrich er das knorpelige Rückgrat, den zarten Nacken, drückte die Fingerspitzen hin und wieder in verhärtete Stellen. Yuri wimmerte, spürte aber, wie sich die peinigenden Spannungsschmerzen lösten. Schon lag er wieder, als sei es ganz normal, halb auf, halb neben Otabek, geborgen an dessen Seite, in dessen Arm! Was, verdammt noch mal, überhaupt nicht normal sein sollte! Wie konnte er sich einkuscheln, anschmiegen, wie ein dämliches Kleinkind agieren, obwohl sie beide erwachsen waren?! Bevor er jedoch Distanz aufbauen konnte, versetzte Otabek ihm mit einschüchternder Einfühlsamkeit den nächsten Schock. "Hast du Angst vor mir, Yuri?" »NEIN!«, das hätte man trompeten sollen, aus voller Kehle und tiefster Überzeugung, begleitet von einem selbstsicheren Lachen! Unseligerweise entfuhr Yuri nur ein gequältes Aufstöhnen, zum Teil auch einem neuralgischen Punkt in seinem Nacken geschuldet. "Bitte erzähl mir, was passiert ist." Wie sollte er das bewerkstelligen?! Gut, die vermeintliche Seekrankheit schien sich verabschiedet zu haben, aber nun fühlte er sich hilflos und bleischwer in allen Gliedern! Otabek drehte sich leicht, küsste ihn auf die Stirn. "Bitte, Yuri", mahnte er leise. Der Russe grub die Finger in den etwas verfilzten Stoff des alten T-Shirts, das Otabek zum Schlafen übergestreift hatte. Wie sollte er das erklären?! Wie anfangen?! Die Hand in seinem Nacken kraulte wie gewohnt, ging dann dazu über, durch seine Haare zu streicheln. "Da war so ein Manga, japanisches Comic", wisperte Yuri schließlich gepeinigt, "irgendwie, als ich das Bild sah, da fielen mir verschiedene Bemerkungen ein..." *~#~* Otabek löste sich vorsichtig aus der Hängematte, darauf achtend, Yuri nicht zu wecken. Dessen Atemzüge gingen tief und gleichmäßig, was ihn beruhigte. Er las Kleider und Hygieneartikel auf, um sich in der Stube unten der Umkleidung und Katzenwäsche zu widmen, damit nicht die Gefahr bestand, den jüngeren Russen aus dem erholsamen Schlaf zu reißen. Urs erwartete ihn bereits gut gelaunt, wenn auch gewohnt einsilbig. Er verlor kein Wort darüber, dass Otabek erneut allein dem Zimmer entschlüpfte. Nach dem gemeinsamen Mittagessen mit den Rizzis hoffte er, den freien Samstagnachmittag mit einer gründlichen Standortbestimmung verbringen zu können. *~#~* Den Rizzis entging natürlich nicht, dass Yuri erschreckend blass wirkte, dunkle Augenringe präsentierte und sehr zurückgenommen auftrat. Er musste bekennen, dass ihn eine Migräneattacke mit Übelkeit am Vorabend übermannt hatte, was ihn etwas aus der Bahn geworfen hatte. Sofort tröstete man ihn, munterte ihn auf, packte Leckereien ein, die seinen Appetit am Sonntag kitzeln sollten, mischte ihm sogar, um die Blutgefäße zu erweitern, eine abenteuerliche Melange aus Espresso und Cola zusammen, die er wie eine dickflüssige Arznei schluckweise zu trinken hatte. Mit guten Wünschen versehen verließen sie im warmen Frühlingswind das Werkstattgelände und schlenderten durch den Ort Richtung Uetliberg. Yuri hielt seine Fäuste in die Kapuzenweste gestopft, tarnte sich mit einer vorausschauend eingesteckten Sonnenbrille. Otabek spazierte neben ihm, das gemächliche Tempo bestimmend. "Wie soll es nun weitergehen?", gab er endlich das Stichwort. Das brachte ihm einen erschrockenen Seitenblick ein. "Sollen sich unsere Wege hier trennen?" Yuri blieb abrupt stehen, aufgebracht durch die Leichtigkeit, mit der der Kasache so eine grässliche Frage formulierte, aber auch eingeschüchtert und verwirrt durch die implizierten Konsequenzen. Otabek hielt ebenfalls inne, wandte sich zu ihm herum, das gewohnte Pokerface stoischer Gelassenheit präsentierend. "...warum hast du nichts gesagt?", brach es aus Yuri heraus. "Warum hätte ich etwas sagen müssen?", konterte Otabek, "hast du mich nicht selbst mehrfach darauf hingewiesen, welches Urteil man gefällt hat?" Der Russe schnaubte enragiert, entzog die geballten Fäuste der Westentaschen. "Aber das war doch bloß ein Vorwand, um uns fertigzumachen!" Eine wie getuscht wirkende, schwarze Augenbraue wanderte dezent höher. Yuri errötete leicht, was für ihn eine heftige Reaktion bedeutete, da seine gewohnte Blässe sonst stets die Oberhand gewann. "...du hast gar nicht widersprochen", sickerte Erkenntnis durch, "wieso nicht?! Dabei hast du doch nie was gemacht..." Ein spöttisches Lächeln tanzte in Otabeks Mundwinkeln. "Ja, ich habe wirklich die implizierten Vorwürfe nie bestritten", die tiefschwarzen Augen glühten bedrohlich, "diese Genugtuung wollte ich ihnen nicht gewähren. Ich wollte, dass sie explizit formulieren, was sie mir vorwerfen, deshalb ist es bei Andeutungen geblieben, haben sie es dann doch nicht gewagt." Yuri starrte ihn fassungslos an. "... und mich hast du in dem Glauben gelassen..." Blitzartig überwand der Kasache die geringe Distanz, fing die fragilen Handgelenke ein, um ein Ausweichen zu unterbinden. "Ich dachte, du kennst mich besser, mein Freund", raunte er grimmig, "denkst du wirklich, ich würde Hand an dich legen? Dir meine Gefühle, meinen Willen aufzwingen?" "Aber wir sind Freunde!", gab Yuri verwirrt-empört zurück, "du hättest es mir sagen können!" "Und dann was?", konterte Otabek streng, "noch eine Komplikation mehr? Hattest du nicht schon genug um die Ohren?!" "Und wenn schon!", explodierte Yuri, "dann käme ich mir JETZT nicht wie ein Idiot vor, weil alle schon seit Ewigkeiten kapiert haben...!" Abrupt verstummte er, drehte hastig den Kopf weg, versuchte, sich aus Otabeks Zugriff zu lösen. "Was haben denn alle kapiert?", erkundigte sich Otabek mit aufreizender Ruhe. Yuri presste die Lippen so fest aufeinander, dass es in seinen Kiefergelenken knackte. "Ich habe gehandelt wie ein Freund", raunte der Kasache rau, "hättest du mir im umgekehrten Fall nicht ebenso beigestanden?" Der jüngere Russe schluckte, dann wisperte er gequält, "wir wissen beide, was ich für ein schlechter Freund bin. Durch mich hast du bloß Ärger..." "Das ist nicht wahr", korrigierte Otabek unnachgiebig, "wie wir beide schon mal besprochen haben." "Aber keiner geht doch so weit, bloß weil man befreundet ist...!!", hielt ihm Yuri aufgebracht-verzweifelt vor. Otabek zuckte nicht mal mit einer Wimper. "Dann haben diese Leute eine andere Auffassung von Freundschaft als ich", beschied er unbeeindruckt. Nun jaulte Yuri tatsächlich gequält auf. "WIESO hast du nie was gemacht, obwohl alle das ohnehin glauben?!", ventilierte er seine Frustration. Der Kasache stieß einen spöttischen Seufzer aus. "Hatte ich dir die Frage nicht schon beantwortet?", intonierte er aufreizend lässig, was Yuri enragierte. "Aber wenn du nichts machst, wird doch nie was passieren!", platzte er heraus. Den Kopf auf die Seite neigend lächelte Otabek hintergründig. "Wirklich?", schnurrte er amüsiert. Immerhin standen sie hier im Frühlingssommersonnenschein, Handgelenk in Hand, kaum Distanz zwischen sich und trotzdem noch zusammen. Yuri errötete nun merklich, wandte sich abrupt ab, schüttelte sogar die hellblonde Mähne, damit sie ihn verstecken konnte in seiner Verlegenheit. Otabek gab Yuris rechtes Handgelenk frei, ließ die eigene Rechte in dessen Linke gleiten, nahm den Schlendergang zum Ortsrand wieder auf, wählte einen Spazierweg auf den Hausberg aus. Sie hatten die Hälfte des Aufstiegs schon hinter sich, den kühlenden Baumschatten genießend, als Yuri endlich wieder etwas über die Lippen brachte. "Und deine Familie?" Er spürte einen kurzen Händedruck, wie ein Morsezeichen der Zuneigung. "Ich habe ihnen mitgeteilt, dass ich an deiner Seite sein werde. Wo auch immer mich das hinführt", entgegnete der Kasache entspannt. "Das ist aber nicht dasselbe", wandte Yuri ein, suchte ungelenk nach der passenden Formulierung. "Was zwischen uns ist, bleibt zwischen uns", beschied Otabek ruhig. Wie er seine Gefühle transportierte, ging nur sie beide etwas an. An seiner Seite seufzte Yuri. "Trotzdem komm ich mir wie ein Trottel vor! Alle haben's schon immer gewusst, bloß ich nicht!", übertrieb er grollend. "Sie haben lediglich Potential entdeckt", konterte Otabek sanft, "im Übrigen waren sie vorschnell mit ihrem Urteil." "Schon!", grummelte Yuri, "bloß haben sie JETZT recht!" "Ach ja?", lächelte Otabek ihn neckend an, "ist das deine Entscheidung für unseren weiteren Weg?" Yuri bremste ihn aus, deponierte die Sonnenbrille mit der freien Hand auf seinem Schopf. "Ich mag dich", er atmete tief durch, "du bist mein Freund. Bloß", er leckte sich nervös über die dünnen Lippen, "ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Ich habe keine Ahnung, verstehst du, und ich will nicht, dass du noch mehr Ärger meinetwegen bekommst." Ihn schwindelte beinahe ob dieses Bekenntnisses, das er tapfer ausgesprochen hatte. Otabek streckte die freie Linke aus, einige hellblonde Strähnen hinter ein Ohr zu kämmen. "Ich bin dein Freund, Yuri. Ich bin an deiner Seite." Er hob ihre verschlungenen Hände an, hauchte einen Kuss auf Yuris Handrücken, "und ich empfange gern, was du mir zu geben bereit bist." Der Russe knurrte. "Ehrlich, Otabek, wenn wir uns auf meine AUSUFERNDE Erfahrung verlassen, kommen wir nirgendwo hin! Du hast ja wohl etwas mehr Übung, also gehst du in Vorlage!" Mit einer spielerischen Verneigung quittierte der Kasache diese Aufforderung. "Dann bin ich so frei", schnurrte er sonor, rückte näher an Yuri heran, konterte dessen unwillkürliche Ausweichbewegung aus und küsste ihn mit wachsender Leidenschaft auf den Mund. Er lächelte, als sich Hände an seine Oberarme klammerten. Der geduldige, disziplinierte Jäger wurde eben belohnt! *~#~* »Das ist SO PEINLICH!«, haderte Yuri mit sich selbst, wünschte, dass die Wildwiese sich unter ihm auftat und ihn verschluckte. Nur in irgendwelchen blöden Filmen, auf die Mila so stand, verwandelten sich Beine in Pudding, wenn man geküsst wurde! Aber doch nicht in der Realität! Blöderweise schienen seine Gräten diesen feinen Unterschied einfach nicht zu kapieren! Er rollte sich noch kompakter zusammen, die dünnen Arme um den Schädel gewunden. Schon immer hatte er das Getue affig gefunden, die Klammerei, die alberne Verliebtheit, das Herumgeturtel, all dieser aufgeblasene, übertriebene Mist! ALLE wussten doch, dass nach einem halben Jahr die ganze Nummer durch war, man sich gegenseitig zum Erzfeind erklärte, alles total ätzend und nervig fand, was man vorher als originelle Eigenart glorifiziert hatte! GENAU deshalb hatte er sich nicht von diesem temporären Verdummungsvirus anstecken lassen! Man machte sich bloß lächerlich. Freunde waren ULTIMATIV besser. Die sahen einen, wie man war, da musste man nicht herumhampeln, sich abkaspern und Süßholz raspeln wie ein Gehirn-Eunuch! Zugegeben, er kannte sich mit Freunden nicht wirklich aus. Wie dämlich Liebespaare sich verhielten, das wusste er aus erster Hand, immerhin konnte er nur selten den filmischen Vorlieben seiner Kameradinnen entwischen! Hieß es nicht, die Fiktion imitiere die Realität? Umgekehrt wurde auch ein Schuh draus, so viel stand fest, deshalb war er ja wohl ein Experte, was den ganzen Liebesschmus und das böse Erwachen danach betraf. IGITT! Definitiv NO GO! So richtige Freunde kamen in der fiktiven Welt der Bildschirme, Leinwände und Pixel allerdings selten vor. Letztendlich lief es immer darauf hinaus, dass Männer und Frauen einfach keine Freunde sein konnten, weil ihnen die Liebe (spuckspeiwürgkotz) dazwischen kam. [Hey, natürlich kannte er Klassiker wie "Harry und Sally"! Nur weil man im neuen Jahrtausend geboren war, musste man nicht total ignorant bezüglich des frühen Mittelalters sein!] Es verhielt sich ja auch nicht so, dass die Kaderschmiede in St. Petersburg Freundschaften förderte. Darum war Otabek eine Premiere, in jeder Hinsicht. Er hatte sich daran gewöhnt, einen Vertrauten, einen Verbündeten zu haben, einen Mitverschwörer. Außerdem war Otabek Altin einfach eine coole Socke! Im ganzen Eiskunstlaufzirkus konnte ihm absolut niemand das Wasser reichen! Da konnte King JJ, Affenarschangebervollidiot, so was von einpacken! Samt seinen lächerlichen Tattoos, seiner langweiligen Mucke und der blöden Pose! Hieß es nicht, mit einem richtigen Freund konnte man Pferde stehlen?! Gut, Pferde waren ihm wurscht, aber sie hatten in Barcelona den alten Sack und seinen bebrillten Weichkäse so was von EINGENORDET! Von wegen Eros, ha! Lahmarschig! Und die verkitschte Opernnummer danach, Zuckerschock! Otabek Altin konnte 'muy macho' in EINER schlichten Kopfbewegung transportieren, mit EINER Geste das Eis zum KOCHEN bringen! Außerdem sah er in schwarzem Leder verdammt SEXY aus! Er brauchte keinen glitzernden Firlefanz, keinen Schnickschnack oder so einen Pinguinfrack! Selbst in einem verschlissenen Kartoffelsack hätte er den Pheromonspiegel durch die Hallendecke getrieben! Er hatte es drauf, das konnte man einfach SPÜREN! Kein Möchtegern, sondern das Original! ALLE hätten seine Freundschaft gewollt, aber bis dahin hatte niemand sie bekommen! Und so war es einfach phantastisch gewesen, einen Kumpel zu finden, der auf derselben Wellenlänge funkte! Der GEMEINSAM die Hürden höher legen wollte, ohne dass man sich gegenseitig auszustechen anstrebte. Otabek Altin verstand einfach, wie er selbst tickte, ohne viele Worte, ohne Drama, ohne Stress. Es war so einfach, mit ihm Zeit zu verbringen, also hatte er sich auf ihn verlassen, sich daran gewöhnt, alles mit ihm auszutauschen, sich zu offenbaren, Einblicke hinter die Kulissen zu gestatten. Das war ganz selbstverständlich verlaufen, hatte sich eben so entwickelt, ohne große Reflexion, ohne bewusste Entscheidung. Otabek war im größten Unglück da gewesen, mit genau den richtigen Gesten, der perfekten Abstimmung, nicht nur beim Tod des Großvaters, bei den Auseinandersetzungen danach. Beim Mordversuch und dem schwierigen, beängstigenden Weg zurück in eine Zukunft, in der Fremde, ohne Familie, ohne Heimat. »Ich hab halt keine Erfahrung mit Freunden!«, verteidigte sich Yuri vor sich selbst, »woher hätte ich das wissen sollen?!« Otabek bekam keinen feuchten Hundeblick, säuselte ihn nicht zu, klebte an ihm wie eine Klette, wollte dauernd Schnappschüsse knipsen! Er verhielt sich einfach normal. Nun, fürsorglich, aufmerksam, unerschütterlich loyal. Kein Anflauschen, kein Grapschen, keine Stielaugen, keine anzüglichen Bemerkungen, kein gar nichts! Außerdem hatte er eine Freundin gehabt! Warum sollte er sich da für Jungs interessieren?! Somit war der ganze Quatsch, den man ihnen vorhielt, von wegen unzüchtiges Verhältnis, nur eine infame Erfindung, weil ER verschiedenen Leuten auf die Zehen gestiegen war! Genau. Gar kein Zweifel! Bis zu diesem merkwürdigen Moment, als er auf dem Einbandbild sich quasi selbst sah, unverkennbar im Kostüm für die Paganini-Nummer in der letzten gemeinsamen Saison mit dem alten Sack, Chris und Katsudon. Der künstlerischen Freiheit geschuldet trug er auch noch einen Schwanz mit Dreieckspitze, Hörner und schwarze Flügel, wie eben der altmodische Teufel, Dämon oder satanische Verführer auf dem Reißbrett. Im Hintergrund konnte er Otabek ausmachen, in der Hillbilly-Rocker-Aufmachung, lässig auf einer imposanten Maschine reitend. Schlug man dann den dünnen Band auf, gab es eine Nahaufnahme von Otabeks apartem Gesicht zu bewundern, bestürzend gut getroffen. Die tiefschwarzen Augen allerdings waren durch komplett Weltall-finstere Augäpfel ausgetauscht worden, in denen flammende Sonnenbälle loderten. [He's mine], proklamierte der Titel, der den fiktiven Otabek mit zwei Gestalten, wie einem steten Schattenwurf, darstellte, die offizielle, höfliche, wortkarge, zurückgenommene Variante und ihren Schattenzwilling, ein wahrhaft dämonisches Wesen, das ein klebriges Netz ausgeworfen hatte, den fiktiven Yuri darin zu fangen und einzuspinnen in einen pechschwarzen Kokon, um ihn dann zu verschlingen. Die Künstlerin hatte sich ganz offenkundig verschiedener Fotos bedient, sodass ihn bei der Betrachtung immer wieder der Schauder eines Deja vu überkam. Schließlich hatte er den Manga eilig zurückgelegt, sogar umgedreht, das Cover nach unten, aber die Bilder ließen sich nicht einfach aus dem Gedächtnis streichen. Sie wurden auch noch angefeuert durch die beiläufigen Bemerkungen, die Seitenblicke, die Gesprächspausen, wann immer seine Freundschaft mit dem Kasachen thematisiert worden war. Als könnte es auch in der Wirklichkeit einen Schattenwurf geben... Die Unfähigkeit zum erholsamen Schlaf in Japan tat ihr Übriges, sein Kopfkino zu weiteren Kapriolen aufzufordern. Dieses Mal gab es keine sonore Stimme, die ihn tröstend, sanft vor den Albträumen bewahrte, kein muskulöser Arm, der ihn umschlang, kein verlässlicher Herzschlag in einem vertrauten Brustkorb, kein zärtlicher Kuss auf die Stirn, die Sorgenfalten zu glätten, den Kummer zu vertreiben. So hatte sich die Unsicherheit mit Zweifeln vergiftet, beim Trotz angesteckt und von seiner stolzen Isolation profitiert. Was in dem wahnwitzigen, erbosten, undurchdachten Versuch mündete, mit einem ENTSETZLICH AMATEURHAFTEN Kuss die "Wahrheit" hervorzulocken. Yuri knirschte unwillkürlich mit den Zähnen, beschämt durch die Erinnerung an diese Situation. JETZT war er noch immer verunsichert und verwirrt. Er sollte sich vergackeiert vorkommen, verraten, getäuscht, gelackmeiert! Bloß war das nicht so einfach! Otabek hatte sich ja NICHTS zuschulden kommen lassen und die anderen Besserwisser damit unrecht! Bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Andererseits war es ja wohl schon ein starkes Stück, ihm so richtig auf die Pelle rücken zu wollen! Wieso hatten die anderen da was gemerkt, was ihm selbst nicht aufgefallen war?! Ja, so hässlich sich die Feststellung ausnahm: sein Stolz war angekratzt, er schämte sich seiner triumphierenden Selbstgewissheit, dass ihnen durch unbewiesene, gehässige Vermutungen Unrecht zugefügt wurde. Außerdem fühlte er sich hilflos und körperlich eingeschüchtert. Verflixt, Pubertät, Hormone, das ganze Gelump hin oder her: sein Körper gehorchte ihm doch sonst bis in die kleinste Faser?! Was sollte die Rebellion jetzt?! Ganz schön ungezogen! Wie merkte man eigentlich, jetzt mal die verdammte Knarre in seiner Hose ausgenommen, dass man jemanden, nun ja, liebte? So richtig, nicht dieser Affentanz wie in den albernen Romanzen! Also, Schmetterlinge hatten sich nicht eingestellt, dafür die blöde Migräneattacke, wo er doch sonst nie dafür anfällig war! Na ja, Wackelpudding in den Knochen, schon, extrem peinlich, aber das waren doch nur chemische Reaktionen! "Verdammt!", brüllte Yuri aufgebracht und frustriert in die Idylle der Lichtung mit Aussicht auf die Gebirgsketten in der Nähe. Otabek, der sich neben ihm lässig ausgestreckt hatte, die Arme als Kopfkissen im Nacken verschränkt, lachte leise. "Ich kapier's nicht!", schimpfte der Russe auf ihn ein, die hellblonden Strähnen aus dem Zopf gerauft, sichtlich enragiert, die Katzenaugen grollend. "Ist das zwingend erforderlich?", erkundigte sich der Kasache neckend, zwinkerte hoch. "Und ob!", fauchte Yuri, faltete die dünnen Beine auseinander, kauerte sich ärgerlich über Otabek, "ich krieg diesen ganzen Liebes-Schmarrn einfach nicht auf die Reihe! Das kotzt mich so was von an!" In den tiefschwarzen Augen tanzte sichtlich das Amüsement über seine profunde Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation. "Boah, du machst mich wahnsinnig, weißt du das?!" Schon hockte der Russe rittlings auf den muskulösen Oberschenkeln, krallte die Finger in das T-Shirt. "Ich werd hier ganz kirre, und du lachst dir nen Ast!" "Es freut mich einfach, wie viele Gedanken du dir machst", schnurrte Otabek sonor, ein freches Zwinkern einschließend. Über ihm detonierte der Russe herausgefordert. "Was?! Du hast mich ja wohl erst provoziert! Das ist so was von UNFAIR! Mir reicht's jetzt, hörst du?! Ich werd...!" Mit welcher Drohung er auch immer seinen Abflug verbinden wollte, Otabek schnitt ihm das Wort ab, indem er sich blitzartig abdrückte, die Distanz auf Null reduzierte. Einen überfallartigen Kuss applizierte, im Windschatten dieser Attacke aufrecht saß, Yuri auf seinen Oberschenkeln schwungvoll an sich zog, ihn in seinen Armen hauteng einkerkerte, ihn wie zuvor schwindlig küsste, ausdauernd, seine ganze Erfahrung ausspielend. Nicht nachließ, bis akute Atemnot den jüngeren Russen in Panik dazu veranlasste, ihm heftig die Arme gegen den Brustkorb zu rammen, um sich eine Auszeit zu verschaffen. Die grünen Katzenaugen blinzelten rapide, der Blick blieb glasig, der schmale Brustkorb pumpte so hastig, dass Otabek hart schlucken musste. Er hörte das verstörte Japsen zwar, konnte aber die Augen nicht abwenden von diesem Yuri, der schutzlos-erregt vor unschuldigem Sexappeal nur so strotzte. All die bis ins i-Tüpfelchen kopierten Verführergesten, die Halbwelt-Tanznummern, die aufreizenden Posen: sie waren nichts als Schall und Rauch, Spiegelfechtereien, Tricks! Das Plagiat eines Pseudo-Spielers, der die Regeln auswendig gelernt hatte, ihren tieferen Sinn, ihre verborgene Bedeutung sowie die Konsequenzen nicht begriff. Nur die Gewissheit, dass er Yuri Angst einflößen, ihn in der Seele verletzen würde, hatte ihn stets davon abgehalten, DIE Erfahrung zu vermitteln, die Unschuld in Erkenntnis verwandelte. Mochte Yuri auch auf allen anderen Gebieten begeisterungsfähig sein: lustvolle Leidenschaft in physischer Hinsicht stellte unbekanntes Territorium dar! Dennoch. Dennoch streifte er sich das eigene T-Shirt über den Kopf und ging erneut zum Angriff über, nutzte gezielt die mangelnde Übung des Russen, ihm den Atem zu rauben, ihn durch unverhüllten Körperkontakt in die Enge zu treiben, den Winterschlaf der Hormone rücksichtslos zu beenden. Zuzupacken und freizulegen, was wortwörtlich dem Tageslicht entgegenstrebte, auch wenn das bedeutete, die eigenen Dämonen von der Kette zu lassen. *~#~* In der sicheren Überzeugung, dass ausreichend Privatsphäre und freie Zeit für intime Flötensoli kaum in Coach Feltsmans rigorosem Trainingsregime vorgesehen sein mochten, war für Otabek die Marschrichtung eindeutig. Er wusste, dass Yuri sich nur höchst widerwillig von anderen anfassen ließ und eine äußerst geringe Geduldsspanne hatte, von seinem Ehrgeiz angetrieben für nicht Eiskunstlauf relevante Betätigungen kein Interesse bekundete. In der Summe resultierte diese Historie darin, mit erschreckender Mühelosigkeit den jüngeren Mann verführen zu können, ihn wortwörtlich zu übermannen, in lustvoller Ekstase zu überwältigen. Körperbeherrschung von Zehen bis zu den Haarspitzen, aber nicht die geringste Ahnung von den eigenen erogenen Körperpartien! Kondition wie für einen Marathonlauf, aber in kürzester Zeit bei hektischer Schnappatmung, wenn ganzkörperlich Kontakt aufgenommen wurde! Blitzschnell mit scharfzüngigen Tiraden zur Abwehr parat, nun abgehackt stöhnend, heller als seine gewohnte Stimmlage! Otabek hatte sich jeder Finesse, jedes Tricks, jedes Handgriffs und Kniffs bedient, deren er habhaft werden konnte, weshalb er sich nun aufrichtete, seine Luftzüge bewusst kontrollierte, mit einem Papiertaschentuch Säuberungsaktionen vornahm, auch Yuri wieder die Beinkleider richtete, der platt wie ein Käfer vor ihm auf dem Rücken lag, fast im Hohlkreuz, keuchend, die knochig-sehnige Brust blank, einen Arm über die Augen abgelegt. Man hätte ihn gleich noch mal vernaschen mögen! Doch der Kasache gebot sich selbst Beherrschung. Seine Vorstellung ihrer Beziehung war unmissverständlich transportiert worden, jede weitere Aktion mündete in einen banalen Exzess. Er beugte sich herunter, schob die Arme unter die knochigen Schulterblätter, summte beruhigend ob des aufgeschreckten Stöhnens und lehnte den Russen an seine Schulter. "Ich ziehe dir nur mein T-Shirt über", erklärte er beruhigend, "deins hat was abbekommen." "...Weste...genügt...", rang Yuri offenkundig mit den Silben. "Ich will keinen Sonnenbrand riskieren", widersprach Otabek, "hier oben ist es besonders gefährlich." Auch in Almaty hatte er streng darauf geachtet, dass der jüngere Eiskunstläufer vollständig bedeckt in die Sonne ging, ansonsten im tiefen Schatten zu bleiben hatte. Die helle Haut vertrug keine Sonne, außerdem überkam Yuri dann rasch Übelkeit. Er war eben an das Leben 'drinnen' gewöhnt. Geschickt wickelte er den zu großen Stoff um Kopf und Gliedmaßen, applizierte dann auch wieder die geliebte Kapuzenweste mit dem Tigerstreifenmuster. Aufstehend zog er Yuri auf die Beine, fing dessen taumelnden Stand ab, umarmte ihn eng, fürsorglich, aber auch besitzergreifend. "Lass uns noch ein wenig im Schatten spazieren gehen", schlug er vor, Yuri an einer Hand, in der anderen die Gaben der Rizzis für den freien Sonntag. Da der Wanderpfad zwischen den Bäumen hindurch recht eng gehalten war, ambulierten sie hintereinander, gemächlich, ohne Hast. Erstaunlicherweise dauerte es fast fünf Minuten, bis der Russe seinem leicht entflammbaren Temperament die Zügel schießen ließ. "Ach, verdammt, das NERVT mich KOLOSSAL!", fauchte er aufgebracht hinter dem Kasachen, "das ist so ÄTZEND!" Da Yuri stehen geblieben war, um einen gepflegten Wutausbruch zu kultivieren, hielt auch Otabek an, wandte sich ihm höflich zu. Einer artigen Nachfrage zuvorkommend schimpfte Yuri weiter. "Echt, die ganze Zeit sind wir immer auf Augenhöhe gewesen, oder?! Aber jetzt krieg ich das hier nicht auf die Reihe! Das ist so UN-COOL!" Der Kasache verzichtete amüsiert darauf, die zehn Zentimeter Größenunterschied zur Sprache zu bringen, die die "Augenhöhe" etwas relativierten. Angesäuert genug schien sein Gefährte ja ohnehin zu sein. "Und erzähl mir nichts von mehr Erfahrung und Altersvorsprung, klar?! Das weiß ich selbst! Aber es NERVT!" "Ich bin sicher, wir finden eine Lösung", schnurrte Otabek sonor, reduzierte die Distanz und ließ das Transportgut auf den Waldboden sinken. "Ach ja?! Ist ja toll, und bis dahin fühle ich mich wie ein Volltrottel! ARGH! Ich kann das nicht leiden! Ich kann MICH nicht leiden!", wütete Yuri weiter. Mit der freien Hand kämmte der Kasache die hellblonden Strähnen, der Zopfgummi residierte an einem fragilen Handgelenk, auf die Schultern, um das Gesicht dahinter freizulegen. "Hörst du mir überhaupt zu?! Du lachst mich doch hoffentlich nicht aus, oder?!" Die Katzenaugen glitzerten giftgrün. "Ich höre dir zu", bestätigte der Kasache leise, während er den freien Arm rasch um Yuris Taille schlang, sanfte Küsse entlang der Schläfen und der Kieferknochen auftupfte. "Schön, und wieso bist du so relaxt, während mir hier die Hutschnur durchsengt?!" Die Liebkosungen bremsten den jüngeren Russen kaum in seinem Furor profunder Selbstkritik. "Hmm... vielleicht bin ich gar nicht so relaxt", schnurrte Otabek kehlig, brachte seine Zungenspitze zum Einsatz, das Ohrläppchen zu necken und seinen Atem zielgerichtet den Hals entlangstreichen zu lassen. Yuri schien nun aufzugehen, dass Otabeks Aufmerksamkeit sich erheblich auf seine äußere Erscheinung kaprizierte, weniger auf den frustriert-trotzigen Innenpart. "He, können wir uns mal einen Moment auf meinen Brass konzentrieren?!", forderte er grimmig, registrierte jedoch zu spät, dass Otabeks muskulöser Arm wie eine Stahlzwinge kein Entkommen ermöglichte. "Sicher", raunte der Kasache beiläufig, nutzte den nächsten Atemzug, um sich erneut mit Yuris Lippen bekannt zu machen, der gelehrigen Katzenzunge dahinter. Es hatte etwas Suchterregendes, kein Zweifel. Selbst wenn er sich beschränken wollte, zarte Aufmerksamkeiten zu verteilen, so steigerte sich doch exponentiell sein Verlangen mit jeder intimeren Aufwartung. Es genügte nicht, nur die Lippen zu siegeln, begierig forderte er immer mehr, schmecken, fühlen, hören, spüren. Teilen und gleichzeitig die eigene Kraft, die Lust erproben. Er konnte einfach nicht von dieser aufbrausenden, provozierenden, verletzlichen, vertrauensvollen Wildkatze lassen! *~#~* Mit einem heftigen Ruck drehte Yuri den Kopf, es knackte in seinem Nacken. Ihn schwindelte, und er verabscheute die Eingebung, "Sterne zu sehen, die er mir vom Himmel pflückt". ARGH, Schleimer-Kitsch im Hirn, das letzte Stadium der totalen Verblödung erreicht! "Verdammt, Beka, schalt einen Gang runter, ja?!", ächzte er benommen, sich so weit zurücklehnend, wie es sein angegriffenes Gleichgewichtsgefühl zuließ. "...Verzeihung." Sofort löste sich der unnachgiebige Arm um seine Taille, deutete Otabek eine leichte Verbeugung an und küsste Yuri den Handrücken. Ohne jede Hast pflückte er anschließend das Gepäck wieder vom Boden auf, ging voran, den Spazierweg entlang. Sicher hinter einem dichten Haarvorhang rang Yuri mit sich selbst. Er wollte seinen Freund ja gar nicht anfahren! Den Frust über die eigene Unzulänglichkeit an ihm auslassen! Bloß-bloß fühlte er sich ausgeliefert, wenn der Kasache wie eben die Initiative ergriff, viel zu schnell auf dessen Wohlwollen angewiesen, weil er plötzlich seinen Körper nicht mehr beherrschen konnte! Der ungefragt ein Eigenleben entwickelte! Total nervig! Und peinlich. Andererseits plagte ihn jetzt sein Gewissen. Otabek musste wohl glauben, es gefiele ihm nicht, dass er zickig sei. Erst anmachen, dann abblitzen lassen, richtig tussig! Obwohl Otabek ja NIE kleinlich war, also tat er ihm vielleicht unrecht! Aber er selbst wäre ziemlich angepisst, wenn ihn jemand so wegstoßen würde...und anpflaumen! Hin und her gerissen zwischen diesen beiden Extrempositionen blieb Yuri einfach stehen, stampfte mit einem Fuß auf und fauchte unartikuliert. Verdammt, wie er sich selbst NERVTE! Es einfach nicht auf die Reihe brachte! Die tiefschwarzen Augen des Kasachen fingen ihn ein, seelenruhig, abwartend, geduldig. "Hör mal, Beka!" Unwillkürlich adaptierte er den Kosenamen, nagte kurz an der dünnen Unterlippe, wischte sich dann grimmig die langen Ponysträhnen aus dem Gesicht. "Ich wollte eben, na ja, nicht austicken, weißt du? Ich komm nur einfach mit mir selbst gerade nicht zurecht." Kotz! Am Liebsten hätte er sich selbst nicht zugehört bei diesem peinlichen Gestammel! Ein Lächeln huschte über die betont neutralen Züge des Kasachen. "Dann sitzen wir im selben Boot", antwortete er tröstend, "ich bin nämlich so verrückt nach dir, dass Jahrzehnte strikter Selbstdisziplin nicht genügen." Das erzielte den gewünschten Effekt: die grünen Katzenaugen weiteten sich ungläubig, der Unterkiefer sackte herab, die dünnen Lippen bildeten ein perfektes O. Gefolgt von merklicher Röte auf den spitzen Zügen! "Verdammt, Beka!", Yuri kehrte Otabek eilig das Profil zu, "wie kannst du SO WAS bloß so locker rauslassen?!" Der Kasache schien dieses "Talent" für einen Augenblick zu kontemplieren, was Yuri aus den Augenwinkeln beobachtete. "Nun, es ist die Wahrheit", zwinkerte er schließlich herausfordernd, "für alles andere müsste mehr Blut in meinem Schädel kreisen als an anderen Stellen." Yuri glotzte, ein nicht gerade gewohnter, dezent unkleidsamer Zustand. Otabek grinste. Irgendwann würde sich Yuri wohl doch eingestehen müssen, dass sein kasachischer Freund nun mal kein einsamer, wortkarger, stets souveräner, mysteriöser Brummbär war, (so wie das ihm zugeordnete Maskottchen), sondern ein ganz normaler Typ, mit Ecken, Kanten, Untiefen und seltenen Sternstunden. "Gehen wir?", schnurrte er samtig, perfekter Gentleman, vergleichbar einer Aufforderung zum Tanz. Sie hatten ungefähr zwanzig Meter zurückgelegt, da hörte er hinter sich halblaut, "ehrlich, Beka, manchmal jagst du mir echt einen Schrecken ein!" Der Kasache lachte leise und drückte besänftigend die Hand des Russen. *~#~* Sehr zu Yuris heimlicher (wenn auch von Otabek durchaus bemerkter) Erleichterung verlor Urs kein Wort darüber, dass er nun Otabeks T-Shirt trug, während der Kasache mit größter Selbstverständlichkeit "oben ohne" erschien. Eigentlich hätte er auch lieber selbst sein Hemd gewaschen, beschämt durch die ungewohnte Erkenntnis, dass es nun nicht mehr ganz "normale" Schmutzwäsche war. "Ich bin immer noch konfus!", ließ er Otabek wissen, als sie schließlich die Hängematte enterten, "irgendwie bekommt alles plötzlich ne andere Perspektive!" Der Kasache streichelte ihm wie gewohnt über den Rücken, durchstreifte die langen Haare, einmal ohne bändigenden Zopfgummi. "Das gibt sich", versprach er sonor, küsste Yuri auf die Stirn. "Meinst du?", seufzte der Russe gepeinigt, kuschelte sich in eine bequeme Lage, "sag mal, wann hast du eigentlich gemerkt, dass du, na ja, mir an die Wäsche willst?" Otabek schmunzelte. "Sehr schmeichelhaft formuliert", komplimentierte er neckend, vermutete im Dämmerlicht der heruntergedrehten Laterne, dass Yuri erneut errötete und sich selbst verwünschte. Trotzdem blieb er die Antwort nicht schuldig, denn er spürte genau, wie sehr sich der Jüngere darum bemühte, etwas rational zu begreifen, was hauptsächlich instinktiv-unbewusst gesteuert wurde. "Ich mochte dich von Anfang an, weil ich glaube, dass wir viel gemeinsam haben", erklärte er leise. "Entgegen der landläufigen Meinung über mich bin ich nicht aus Stein. Also ist mir auch nicht entgangen, wie attraktiv du bist." "Na, danke!", grollte es an seiner Seite. Der Kasache lächelte, zwirbelte Locken in die glatten Strähnen. "Das hat aber nicht den Ausschlag gegeben", ergänzte er, "sondern die gemeinsame Zeit mit dir. Du hast mir das Privileg deiner Gesellschaft gewährt, mich ins Vertrauen gezogen und ganz nahe an dich herangelassen. Da wollte ich dir auch auf andere Weise näher kommen." Yuri schwieg gedankenvoll. "Aber hat es dich denn gar nicht genervt, wie blöd ich war?", murmelte er schließlich kleinlaut, "ich benutze dich ja sogar als Ganzkörperkissen!" Otabek lachte auf. "Ganzkörperkissen? Stimmt, und wenn ich bedenke, wie viele Leute sich in Asien ihr Kissen mit einem Überzug deines Bildes verschönern, dann nimmt mein Ego beinahe die Größe von King JJs an!", flachste er. "Ha, bestimmt nicht! Du bist NIE eingebildet!", widersprach Yuri sofort in energischer Loyalität. Dafür wurde sein Nacken nun ausgiebig gekrault. "Du hast eine zu hohe Meinung von mir", schmunzelte der Kasache, "das ist auch ein Teil der Antwort auf deine Frage. Du hast mich nie 'genervt'. Du hast mir vertraut, und ich wollte dich nicht enttäuschen." An ihn geschmiegt seufzte der Russe leise. "Du hättest mir aber schon einen Fingerzeig geben können..." Dafür küsste Otabek ihn zärtlich auf den Mund, ohne ein leidenschaftliches Fortschreiten zu forcieren. "Du bist bereit, wenn du bereit bist", orakelte er neckend, "es ist nicht an mir, dich zu lenken." Yuri hob den Arm und glitt mit den Fingerspitzen vorsichtig über die kantigen Züge des Kasachen. "Ich glaube, du bist doch ein Schamane!", grummelte er scheu-trotzig, "du hast jedenfalls den Durchblick! Keine Widerrede, ich habe recht!" Otabek küsste die seinen Mund siegelnde Handfläche, wies aber den Impuls, sie aufreizend abzulecken, tapfer in die Schranken. Auch wenn es ihn gelüstete, seine neue Freiheit Yuri gegenüber ständig zu erproben und bestätigen, legte er sich Zügel an. Für heute hatten sie schon genug neue Erfahrungen angehäuft! "Danke, dass du bei mir bist", flüsterte ihm just da der Jüngere ins Ohr, rollte sich dann eilig zusammen, offenbar höchst verlegen. "Dito", raunte Otabek sonor, zupfte die Decke über sie, "schlaf gut, Yuri." "Du auch, Beka", antwortete der Russe leise, kuschelte vertraut. »Ich liebe ihn«, konstatierte Otabeks innere Stimme einmal mehr. Er würde den Platz an seiner Seite verteidigen mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen! *~#~* Nachdem sie am Sonntagmorgen artig ihren Pflichten nachgekommen waren, zogen sie mit Dorli und Lotti in den Wald. Es schien Yuri beinahe so, als habe sich nichts verändert, Trainingsübungen, Haschmich um die Bäume, Schnelligkeit und Koordination zu erproben, angenehm erfrischt von der baumgefilterten Luft, die weicher erschien als ihr Pendant in der tiefer gelegenen Stadt. Er drehte Otabek eine Nase, streckte die Zunge heraus, ihn zu provozieren, wand sich wie ein Aal, um nicht erwischt zu werden. Körpertäuschung, Reaktionsvermögen und Herauslachen, ohne Schranken, ohne Kalkül. Mit Otabek konnte er WIRKLICH herumtoben, ausgelassen albern sein, ihn scheuchen, das herausfordernde Blitzen in den tiefschwarzen Augen anfachen! Erfahrungen, die ihm nun selbstverständlich vorkamen, doch bis zu ihrer gemeinsamen Zeit in Almaty undenkbar waren, in seinem bisherigen Leben nicht stattgefunden hatten. Glücksgefühle durchströmten ihn, die nicht der allgemein bekannten, positiven Wirkung filternden Grüns zuzuschreiben waren. Nicht unüblich braute sich bald darauf ein Frühlingsgewitter zusammen, was die beiden borstigen Damen nutzten, eine kleine Senke in einer Lichtung zur Suhlkuhle zu wandeln, sich dort eine Schlammpackung natürliche Schönheit zu verpassen. Otabek und Yuri schlossen sich nicht an, sondern suchten unter dem Blätterdach etwas Schutz vor der himmlischen Dusche. Dabei schmiegte sich der Russe eng in die muskulösen Arme. "Hmm, du bist so schön warm, Beka!", seufzte er wohlig, den Kopf gesenkt, um die Halsbeuge zu erobern. Der Kasache streichelte die schmale Rückenpartie und fächerte die hellblonden Strähnen auf. Sie reichten nun über die Schulterblätter hinaus, eine prachtvolle Erscheinung! "Doof nur, dass ich ein bisschen größer bin", grummelte Yuri gerade, "das ist etwas unpraktisch." "Oh, das würde ich nicht sagen", schnurrte Otabek sonor, kraulte einen fragilen Nacken, "ich kann dir immer ins Gesicht sehen, auch wenn du dich verstecken willst." Sofort protestierte der jüngere Russe, "ich verstecke mich gar nicht! Aber die meisten Leute nerven eben, da will ich die nicht ständig anglotzen müssen, was mich noch mehr aufregt!" In gewisser Weise eine logische Erklärung, wenn auch nur einseitig. "Dann muss ich wohl aufpassen, mich dir nicht aufzudrängen, wenn ich den Größenunterschied ins Spiel bringe, hm?", bemerkte Otabek mit betont steinernem Ernst. "DU nervst mich nie, klar?!", Yuri dotzte doch tatsächlich ihre Stirnpartien gegen einander! Schmunzelnd ob dieser erwarteten Reaktion kämmte Otabek sanft lange Strähnen auf den Rücken, bedachte das spitze Gesicht des Russen mit zärtlichen Küssen entlang des Kiefers, knabberte neckend an einem Ohrläppchen, liebkoste Yuris Schopf vom Scheitel bis zur Spitze. "Du hast wohl ne Schwäche für Blondinen, wie?", murmelte dieser, wich jedoch nicht zurück. Erstens genoss er die verschwenderische Wärme zu sehr, zweitens fühlten sich Otabeks muskulöse Schultern einfach gigantisch an und drittens wollte er sich daran gewöhnen, auch, nun ja, Liebhaber zu sein! Ein schelmischer Kuss zierte seinen Mundwinkel, dann korrigierte der Kasache mit funkelnden, tiefschwarzen Augen, "ich habe meine Gefühle für diese eine, unvergleichliche Blondine immer für eine besondere Stärke gehalten." Prompt errötete Yuri, wenn auch nur sehr dezent, da seine blasse Komplexion sich nicht einfach veränderte, ganz gleich, wie beschämt, peinlich berührt oder in Verlegenheit gebracht er sich fühlte. Otabek zwinkerte amüsiert ob der eintretenden Sprachlosigkeit. Warum aber sollte er sich auch zurückhalten, wo sie, ihre borstigen Begleiterinnen mal ausgenommen, ganz allein waren? Niemand inkommodiert wurde? "Was du manchmal so knochentrocken raushaust!", ächzte der jüngere Eiskunstläufer schließlich, "das macht mich ganz wuschig!" "Spricht das gegen mich?", raunte Otabek sonor, das gesenkte Haupt nutzend, um Yuris Wangenknochen mit der Zunge nachzuziehen. "...nein...aber..." Der Griff um seinen Nacken verstärkte sich. "...ich glaub, ich muss mich setzen." Ein Lächeln um die Lippen spielend nahm Otabek diesen Hinweis auf, suchte ein halbwegs bequemes Sitzpolster aus Gras, Moos und alten Tannennadeln, zog sich Yuri dort auf den Schoß. Jetzt befanden sie sich tatsächlich auf Augenhöhe, was unmissverständlich einlud, Yuri zu küssen, ein bisschen mehr. Er registrierte die emsigen Versuche, sich im Austausch mehr Geschick anzueignen, es seiner eigenen Zunge nachzutun, nicht unpassend Luft zu schnappen. Wie sollte man da beherrscht bleiben?! Vor allem, wenn Yuri sich so grimmig bemühte, seine Unschuld abzustreifen wie einen abgelegten Anzug! Es erfüllte Otabek mit einem wilden, animalischen Triumph, dass seine Leidenschaft auch die seines russischen Freundes angefacht hatte. *~#~* "Huflattich ist echt praktisch", kommentierte Yuri heiser, ließ sich rücklings auf den ganz erträglich gepolsterten Waldboden sinken. Die großen Blätter hatten der Hygiene gedient, denn zwei Runden intensiver Erkundung gegenseitiger Vorlieben führten nun mal zu Salutschüssen! Otabek, der neben ihm saß, ließ die aufgefächerten Finger langsam über Yuris nackten Oberkörper gleiten. Noch hielt die Hitze ihres Begehrens ihn warm, doch schon bald würde er wieder darauf bestehen müssen, dass der Russe sich ankleidete. Sehnig, knochig, zart und fürchterlich gezeichnet. "He!", Yuris Linke fasste sein Kinn, "schau nicht so, Beka! Ich bin okay, das weißt du doch!" Der Kasache entschlüpfte dem Zugriff, beugte sich hinunter und fädelte die muskulösen Arme unter die schmalen Schultern, beförderte Yuri in eine ebenfalls aufrechte Position. Schweigend betrachteten sie einander, eingehend, aufmerksam, mit einem Anflug Demut. Nicht viel hatte gefehlt, und sie wären einander niemals als Liebende begegnet. Yuris Rechte anhebend küsste Otabek sanft den Handrücken, nicht misszuverstehen als höfliche, eigentlich nur angedeutete Geste gegenüber einer weiblichen Person. Dafür sorgten schon die lodernden Flammen in den tiefschwarzen Augen. "Ich liebe dich, Yuri Plisetsky", wisperte er rau, kehlig. Einige hastige Herzschläge später fiel dieser ihm um den Hals, drückte sich so eng an ihn, dass es schmerzte. "Ich dich auch", beinahe hätte man sie überhören können, die Worte, so leise geraunt, als fürchte ihr Sprecher, sie würden als Hybris aufgefasst und von den Göttern zum Anlass genommen, dieses zerbrechliche Glück zu zerstören. Otabek erwiderte die Umarmung entschlossen. Wo auch immer sie ihr Weg hinführte: er würde nicht von Yuris Seite weichen! *~#~* Kapitel 17 - Neue Horizonte, alte Zweifel "Irre", murmelte Yuri leise, die Beine eng angezogen, auf dem Bürodrehstuhl vor dem Computer kauernd. Der Bildschirm spiegelte seine kompakte Erscheinung wider, da er nicht in Betrieb war. Die Arbeitswoche mit Otabek zu beginnen war ihm nicht schwer gefallen, obwohl er fast drei Wochen einen anderen Rhythmus gepflegt hatte. Aber auf keinen Fall wollte er noch mal allein aufwachen! "...nur vier Tage..." Ja, vor fünf Tagen war er aus Japan zurückgekehrt, und innerhalb dieser kurzen Zeitspanne schien sich seine gesamte Weltsicht vollkommen verändert zu haben! Gut, das WAR jetzt übertrieben! Nun, zumindest sein Blick auf Otabek Altin, den Helden von Kasachstan, war ATEMBERAUBEND aktualisiert worden! Wobei ihm nicht gefiel, wie wenig Durchhaltevermögen er an den Tag legte. Echt, musste ihm dauernd die Puste ausgehen?! Von den Wackelpudding-Beinen ganz zu schweigen! Total peinlich, klischeehaft, kotzwürgkitsch! Andererseits, BEKA musste UNZWEIFELHAFT ein begnadeter Küsser sein. Klare Sache, denn üblicherweise stieß ihn dieses Sabber-Zungen-Rugby allein schon vom unfreiwilligen Zuschauen total ab! Aber SO WAS VON! Und dann natürlich noch die andere Sache. Sex. Na ja, das erschien ihm eigentlich immer wie eine etwas ungelenke Gymnastikeinlage, jedenfalls uninteressant. Und das blöde Gejammer, wenn sie sich das Kreuz verrenkten oder die Hüfte quiekte oder sonst was! Dämlich. Überflüssig. Zum falschen Zeitpunkt sogar karrierefeindlich! Zumindest, wenn man als Eiskunstläufer die Elite anführen wollte. Außerdem, ganz unstrittig, war es mit Körperkontakt verbunden, Austausch von Körperflüssigkeiten, wenn man nicht konsequent eintütete und sich orales Geschlabber strikt verbat! Er hatte da, ganz definitiv, seine Grenzpflöcke eingehauen: NO GO-Territorium! Was sich nicht wirklich schwierig ausnahm, denn bisher war ihm wirklich noch NIE jemand begegnet, den er hinter diese Stacheldraht-, Wassergraben-, Minenfeldgrenzen gelassen hätte. Otabek ließ sich NIEMALS, absolut NIE eine Intention in dieser Richtung anmerken! Yuri seufzte und nagte an einem Daumen. Ganz so blöd musste er sich also nicht vorkommen, weil er nicht gemerkt hatte, dass der Held von Kasachstan ihn, nun ja, begehrte. Sicher, sie waren so daran gewöhnt, aneinander geschmiegt einzuschlafen, dass er selbst zumindest ohne die körperliche Präsenz des Kasachen in Japan ein richtiges Erholungsdefizit erlitten hatte. Aber, und das wog TONNEN, nicht ein einziges Mal hatte sich Otabek Freiheiten herausgenommen. Er war immer Freund geblieben, fürsorglich, tröstend, obwohl es ganz sicher nicht an entsprechender Leidenschaft und Lust mangelte, oh nein! Ihn überlief ein wohlig-aufreizender Schauer, wenn er bloß an die lodernden Flammen in den tiefschwarzen Augen DACHTE! Echt beängstigend! Yuri raufte sich die losen, hellblonden Strähnen. Zugegeben, das war nicht direkt Angst, sondern Herzinfarkt auslösende Anspannung/Vorfreude/Erregung. Was bedeutete, dass man sich besser flott daran gewöhnte, mit diesen verlangenden, fordernden Blicken bedacht zu werden. Boah, und gerade glühte ihm wahrscheinlich der Kopf wie ein Feuermelder! Peinlichkeitsalarm! Wie sollte er sich auch so schnell umstellen?! Selbst wenn er sich nicht wirklich vorgestellt hatte, was bei seiner ABSOLUT-OBER-DILETTANTISCHEN-GROTTIGEN Kussattacke herauskommen sollte, die lediglich den Druck seiner ratlosen Frustration abließ: JETZT hatte er die Antwort. Gut, Otabek Altin war DER MANN! Besser konnte man es gar nicht treffen! Klug, sexy, souverän, zurückhaltend, verständnisvoll, loyal, amüsant, einfühlsam, eine Augenweide, nicht zu vergessen! "Wie auch?", murmelte Yuri leise und rutschte unbehaglich auf knochigen Pobacken hin und her. Er mochte die Hände des Kasachen, wohlproportioniert, zupackend, kraftvoll, kurze Nägel (aber nicht so ein aufgeblasener Manikür-Hecht wie der Schöne Schorsch!), in den halbfingrigen Motorradhandschuhen extrem aufreizend. Sie hatten ihm Sicherheit verliehen, Wärme gespendet, ihn getröstet, liebkost, gestreichelt. Sie waren wie ihr Besitzer unübertroffen darin, die neuralgischen Stellen ausfindig zu machen, die Yuri niemals bei sich vermutet hatte! Verdammt noch mal, er galt ja nicht mal als kitzlig (hätte auch jedem einen Scheitel gezogen, der ihm an die Figur wollte), bloß Otabek Altin brachte ihn in Nullkommanichts zum Schmelzen. Dabei nicht mal leise, wenn er sich richtig seiner heiseren Kehle entsann! "Du bist so ne Tranfunzel!", schimpfte er mit sich selbst. Wieso war ihm NIE etwas aufgefallen?! Das nagte an seinem Selbstverständnis. Weshalb eben die Sicht auf die Welt total verändert war! Ja, natürlich gefiel ihm Otabeks breites Kreuz! Der athletisch-muskulöse Körper, der so gar nichts mit seiner eigenen Spargeltarzan-Figur gemein hatte! Perfekt austariert war, nicht überlange Gräten oder zu lange, dürre Finger! An seiner Seite zu sein, das hatte ihn mit Stolz erfüllt, gerade weil ja jeder sehen musste, was für ein ABSOLUTER ÜBER-BRINGER Otabek war! Nicht ein Mal war ihm in den Sinn gekommen, dass er seine exklusive Position nutzen und sich anflauschen konnte! "Mach dich nicht lächerlich!", wies er sich selbst halblaut zurecht. Ihm ging ja nun wirklich jedes Talent für echte Zuneigungsbekundungen ab! Klar, er hatte, nicht nur dank der harten Jahre des Balletttrainings, all die üblichen Routinen in Verführergesten drauf, die Posen, das volle Programm. Aber wenn er davon Gebrauch machte, dann nur, um andere ZURÜCKZUWEISEN! Sie zu verspotten, vor den Kopf zu stoßen, damit sie ja nicht glaubten, er fiele auf diesen ganzen, lächerlichen Popanz rein! Und jetzt? Na, mit DEN Nummern konnte er Beka definitiv nicht kommen! Der müsste nicht mal ganz dezent eine seiner aparten Augenbrauen lupfen! Etwas unternehmen musste er jedoch, das stand außer Frage. Weil-weil, also, weil es nun doch ziemlich einschüchternd war, Beka in voller Pracht zu erleben, in dessen Rausch mitgerissen zu werden. Immerhin waren sie ja wohl beide Kerle, richtig?! Außerdem-außerdem würde es ihm vielleicht langweilig werden, wenn der immer alles allein machte und er selbst sich bloß mitziehen ließ. Und so was konnte schnell gehen! Die Grazien, die sich an den alten Sack rangehängt hatten, zogen auch jedes Mal kurz darauf die Reißleine, weil der feine Herr Nikiforov sich nicht aktiv einbrachte! Von wegen "ein Gentleman genießt und schweigt"! Was die entscheidende Frage aufwarf: wie bringe ich DAS auf die Reihe?! Also, die technischen Details, mit denen war er ja durchaus vertraut, quasi auf Reißbrettzeichnungsebene. Oder Montageanleitung. Ob Anschauungsmaterial hilfreich war? "Klar!", schnaubte er sich selbst an. Auf Christophes Computer Pornos mit Typen suchen, bei denen ihn nicht gleich das Kotzen überkam?! Weil die meisten Typen, die sich für ihn interessiert hatten (auf dieser Weise), absolute Arschkrampen waren?! Ausgeschlossen. Aber wenigstens Hygienetipps würde er sich anschauen MÜSSEN. Klar, bis jetzt waren sie locker mit "Lappen und Dusche" ausgekommen, aber das würde nicht reichen, wenn-wenn die volle Version absolviert werden sollte. Er seufzte verzweifelt. Für Otabek würde er das schon hinkriegen, auch wenn es OBERPEINLICH war! Denn immerhin hatte der ja mal ne Freundin gehabt und war bestimmt gewisse Standards gewöhnt! Zudem war es ja wohl total feige, etwas von vornherein auszuschließen, wenn man es nicht mal probiert hatte! Es ging jedenfalls nicht an, dass er einfach so zu einer Pfütze seliger, gedankenfreier Erfüllung dahinschmolz, alles Beka überließ und nichts selbst zuwege brachte! *~#~* "Immer noch keine Nachricht aus St. Petersburg?" Christophe lehnte sich gemütlich an und beobachtete, wie Yuri mit erschreckender Biegsamkeit seine Übungsroutinen absolvierte. "Nichts." Der dürre Knabe ächzte nicht mal! Bei bedecktem Himmel konnten sie beide auf dem Sportgelände die Außenanlagen nutzen, wobei sie die Geräte den anderen Vereinsmitgliedern überließen. "Und, hat Victor schon wieder Aufträge für dich an Land gezogen?" Yuri schnaubte vernehmlich. Gleich wieder in den Flieger steigen, nein, das wollte er bestimmt nicht! Zwar hatte Victor das auch nicht verlangt, aber schon vergnügt in seiner Nachricht (die von EMOJIS nur so strotzte! WÜRG!!) angekündigt, dass die ersten Veröffentlichungen auf ein sehr großes, positives Interesse gestoßen waren. Er könne doch sicher, wenn Chris so nett sei, mal ein Video-Interview geben, nicht wahr? Das würde auch die Yuri-Angel freuen, richtig? Nichts hätte ihn weniger jucken können als die durchgeknallte Fan-Rotte, aber das durfte er nicht verlauten lassen. Der Schweizer lachte angesichts der sauren Miene, die die langen Ponysträhnen nicht vollständig verbergen konnten. "Nun, wir haben ja im Moment nicht viel zu tun, was die ISU angeht", tröstete er, "die Go-Go-Jobs mit Otabek laufen auch erst gerade an." Der jüngere Russe grummelte vor sich hin, absolvierte eine letzte Übung und wechselte dann zu Christophe hinüber, der aufmerksam die Wasserflasche weiterreichte. "Das wird schon werden", munterte er Yuri auf, "du hast übrigens auch mehr Farbe auf den Wangen. Das steht dir gut." Die Katzenaugen weiteten sich überrascht, und zu Christophes Verwunderung röteten sich die dezent kolorierten Partien in dem spitzen Gesicht noch ein wenig mehr. "Schätze, mir ist die Herumreiserei nicht so gut bekommen", murmelte Yuri verlegen. "Ah! Das kenn ich!", nickte Christophe verständnisvoll, "ich find ja die Klimaanlagen grauslich! Drinnen Eisschrank, draußen Monsun! Das ging auch nie an mich ran." Eine dünne Augenbraue lupfend warf Yuri ihm einen skeptischen Blick zu. "Warst du nicht in Barcelona bei eisigen Temperaturen draußen im Pool?!" "Oh, sicher", winkte der Schweizer amüsiert ab, "das Wasser war schön angenehm, die frische Luft um die Locken perfekt! Nicht diese trockene Ausdünstung aus den Anlagen!", rümpfte er die Nase. "Verstehe", kommentierte Yuri, wischte sich über die feuchte Stirn, "sag mal, glaubst du, du könntest mir bei einem Interview helfen?" *~#~* "Hallo alle miteinander! Heute liefern wir euch eine richtige Sensation, denn aus der Schweiz plaudert mit uns Yuri Plisetsky!" Yuri konnte auf dem kleinen Bildschirmfenster seine Gesprächspartnerinnen gerade so erahnen, da er etwas entfernt von Computer und Kamera in einem bequemen Sessel kauerte, die Beine seitlich angezogen, Leggings und die geliebte Tigerfellzeichnungsweste übergestreift. Einige Strähnen von den Schläfen waren am Hinterkopf zusammengebunden, sodass man etwas mehr als gewohnt von seinem Gesicht erkennen konnte. "Viele Grüße in die Schweiz!", trillerten die jungen Frauen im Chor. Lässig winkte Yuri in die Kamera. "Hallo, Welt!", schnurrte er frech. "Yuri, deine jüngsten Auftritte in Japan haben ja Furore gemacht. Wirst du nun öfter als Model arbeiten?" "Wenn's nach meinem Manager geht, vermutlich jede freie Minute", antwortete Yuri seufzend. "Dein Manager ist der legendäre Victor Nikiforov. Wie fühlt es sich an, mit ihm wieder zusammenzuarbeiten?" "Nicht anders als früher. Jetzt trägt er allerdings keine Trainingsklamotten mehr", konterte Yuri geschickt. "Ich habe die Modelinie gesehen, für die du aufgetreten bist. Gibt es Pläne, auch außerhalb von Japan die Kleidungsstücke zu vertreiben?" "Dazu kann ich leider nichts sagen. Aber ich vermute, dass eine große Nachfrage nicht schädlich ist", bemerkte Yuri ironisch. "Was ist mit den Tattoos und den Piercings? Die sahen so MEGA-COOL aus..." Ob der Schwärmerei lupfte Yuri eine Augenbraue. "Sprühfarbe mit Schablonen und spezielle Accessoires", raubte er jede romantisch-lüsterne Illusion. "Hast du nicht Lust bekommen, etwas davon permanent zu behalten? Das Tigertattoo zum Beispiel?" Nun schnaubte Yuri. "Ganz nett, ja, aber Tattoos hat doch heute jeder, davon die meisten nicht mal sonderlich originell. Bisher war es auch nicht nötig, dass ich mir Sinnsprüche oder meinen Namen auf die Figur krakeln musste, weil mein Gedächtnis noch einigermaßen funktioniert." Nicht nett. Der alte Sack erlitt vermutlich gerade einen Herzkasper! "Nun, King JJ scheint da anderer Auffassung zu sein..." "Vielleicht mangelt's ihm an Stift und Papier", knurrte Yuri, die Katzenaugen funkelnd, "das letzte Mal, als mir einer Löcher in den Leib gestanzt hat, hat mir jedenfalls absolut gereicht. Wenn man so will, ist DAS ein individuelles Tattoo, das so keiner sonst hat." Für einen Augenblick löste seine gallige Antwort erschrockenes Schweigen aus, doch die Damen waren Profis und fingen sich rasch wieder. "Du beziehst dich auf den Anschlag. Wie wir gehört haben, bist du gesundheitlich wiederhergestellt. Stimmt das, oder leidest du noch unter Einschränkungen?" "Tja, eine Einschränkung ist die, dass ich nicht bei den Weltmeisterschaften antreten durfte", knurrte Yuri, "ansonsten haben alle Beteiligten sehr gute Arbeit geleistet. Ich bin offiziell so gut wie neu!" Sein ironisches Lächeln ließ die Zähne sehen. "Es heißt, dass bald der Prozess in Kanada beginnt. Wirst du dort hinreisen, um ihn zu verfolgen?" "Soweit ich nicht als Zeuge geladen bin, nein", Yuri lagerte sich etwas aufrechter im Sessel, "meine Aussagen sind aufgenommen, es gibt Videoaufzeichnungen. Über alles weitere muss die Justiz dort entscheiden, darauf habe ich keinen Einfluss." "Wie hat diese Attacke dich als Eiskunstläufer beeinflusst? Wirst du andere Programme laufen?" Yuri kämmte sich Ponysträhnen aus dem Gesicht hinter die Ohren. "Das hat mich die letzte Saison und Titel gekostet", grummelte er, um dann ernster zu werden, "aber einschüchtern lassen werde ich mich nicht. Wem nicht passt, was ich aufs Eis bringe, muss nicht hinschauen. So sehe ich das." "Wahre Worte! Das heißt, wir können auch in der kommenden Saison wieder mit dir rechnen?" "Klar, wenn ich akkreditiert werde. Was bis jetzt aussteht." "Wird der russische Verband dich nicht starten lassen? Warum nicht?" "Ich habe bis jetzt keine Rückmeldung", Yuri zuckte demonstrativ mit den Schultern, "aber ich gehe davon aus, dass man eine Entscheidung trifft." "Du wirst aber doch noch vom Verband unterstützt, oder?" "Nun, ich bekomme wie jeder Eiskunstläufer eine finanzielle Unterstützung", er grimassierte sarkastisch, "allerdings ist der Rubel-Kurs zum Schweizer Franken ziemlich unvorteilhaft." "Wie hältst du dich dann über Wasser? Durch die Model-Jobs und deine Go-Go-Engagements?" "Zum Teil. Ich habe aber auch das große Glück, dass mich Freunde hier unterstützen, allen voran Otabek Altin." "Der Held von Kasachstan. Stimmt es, dass ihr zusammen lebt?" "Das ist richtig. Wir haben einen tollen Vermieter. Überhaupt sind alle Leute hier sehr aufgeschlossen und freundlich." "Wie ist das so, mit Christophe Giacometti und Otabek Altin zu trainieren? Hemmt das nicht die Fortschritte?" "Warum sollte es?" Kämpferisch faltete Yuri die Beine zum Schneidersitz. "An der alten Mär, dass alle Eiskunstlaufenden unbedingt 'Gegner' sein müssen, ist längst nichts mehr dran! Im Gegenteil, es ist wunderbar, sich direkt mit anderen austauschen zu können, die auf hohem Niveau unterwegs sind. Auf dem Eis gibt es ohnehin nur einen einzigen 'Gegner', nämlich man selbst. Die anderen haben darauf keinen Einfluss." "Das klingt ja sehr idyllisch! Gibt es also keine Rivalitäten oder Animositäten? Immerhin bist du im Moment der Einzige, der für jeden Sprung die fünffache Umdrehung beherrscht." Yuri runzelte die Stirn, kräuselte kritisch die Mundwinkel. "Klar kann man mit manchem besser als mit einem anderen, wie bei allen Leuten. Was die Fünffachen betrifft: da habe ich einfach die Vorteile meiner Disposition und der aktuellen Wertungsregeln. Die sind aber nicht auf ewig unveränderlich." "Wie meinst du das?" "Also, es gibt ja ein Bewertungssystem für jede Figur, dazu einen Schwierigkeitsgrad und die Wertung der Ausführung. Klar ist: will man besonders hohe Punktzahlen erreichen, muss man die Figuren entsprechend kombinieren und hoffen, dass man das auch entsprechend fehlerfrei aufs Eis bringt. Das führt dann zu einer gewissen Eintönigkeit, weil die Kombinationsmöglichkeiten sich erheblich reduzieren, wenn man die Spitze anpeilt. Deshalb wird man die Figuren auch überdenken müssen. Vielleicht weniger Ballett, mehr modernen Tanz? Weniger Betonung auf die Sprünge, mehr Gewicht auf einen geschmeidigen Ablauf? Darum: wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, auch um für das Publikum und Sponsoring attraktiv zu sein, verändern sich auch die Anforderungen an die Eiskunstlaufenden." "Du spielst darauf an, dass die äußeren Bedingungen entscheidend sind und nicht zu Anfeindungen unter den Eiskunstlaufenden führen sollten. Wie stehst du denn zu den Vorwürfen, du seist magersüchtig und nur deshalb in der Lage, solche Leistungen abzuliefern?" Yuri schnaubte enerviert. "Also, zunächst mal: ich bin nicht magersüchtig, und ich war nie magersüchtig. Ich bin fortwährend ärztlich überwacht worden, übrigens auch in Sachen Doping! Meine Bulletins kennt die gesamte Welt. Tatsächlich bin ich einfach ein spindeliger Typ mit langen Gräten. Das ist für die aktuelle Auslegung des Eiskunstlaufs ziemlich praktisch, wenn man's nicht auf dem Eis versemmelt. Trotzdem sind auch andere erfolgreich, die eine andere Statur aufweisen. Manche sind, auf die Regeln bezogen, eben im Moment im Nachteil." "Es ist trotzdem auffällig, dass die eher athletischen Typen wie Otabek Altin oder Jean-Jacques Leroy nicht an deine Leistungen herankommen." Die Katzenaugen verdrehend seufzte Yuri demonstrativ. "Das liegt aber am System, das nun mal die Umdrehung der Sprünge exponentiell bevorteilt. Man kann das ändern." "Für die kommende Saison sieht es allerdings nicht nach einer Revision aus. Hast du schon Pläne für ein Programm?" "Gewisse Ideen schon, aber wie gesagt, ich bin noch nicht akkreditiert. Otabek Altin übrigens auch nicht." "Ihr arbeitet ja eng zusammen. Wie ist es dazu gekommen?" "Er ist ein Tonkünstler, sehr flexibel, ein toller Sportler. Und ein Freund. Ich kann's nicht besser treffen, und ich bin froh, dass wir in Barcelona vor drei Jahren Zeit hatten, uns kennenzulernen." "Otabek Altin alias DJ Beka hat auch Auftritte in Zürich. Er arbeitet als DJ, während du als Animateur im Club tanzt. Wie ist es denn dazu gekommen?" "Beka ist ziemlich bekannt. Seine Stücke werden gestreamt, man kann sie herunterladen. Er ist einfach eine coole Socke! Ich bin bloß die Dekoration dabei", grinste Yuri frech. "Aber davon kann er nicht leben, oder? Stimmt es, dass er als Mechaniker arbeitet und gar nicht mehr trainiert?" Nun funkelten die grünen Katzenaugen zornig. "Tja, von irgendwas muss er ja leben, nachdem ihn sein Verband gar nicht unterstützt, oder?! Für die Aufenthaltserlaubnis hier ist es notwendig, dass man einer Arbeit nachgeht. Glücklicherweise hat er es total drauf und ist ein sehr guter Mechaniker in einer tollen Werkstatt hier! Außerdem trainiert er sehr wohl, er ist in perfekter Verfassung!" "Was ist dran an den Gerüchten, ihr seid in die Schweiz geflohen, weil man eure Beziehung nicht akzeptiert?" Yuri knurrte so grimmig, dass er selbst die geliebten Tiger in die Flucht geschlagen hätte. "Es ist kein Geheimnis, dass uns beiden nahegelegt wurde, nicht in unsere Heimatländer zurückzukehren, weil irgendwelche Vollidioten beschlossen haben, dass wir kein Existenzrecht haben. Man sah sich außerstande, uns zu schützen, so viel zum Gewaltmonopol beim Staat. Chris hat uns den Aufenthalt hier vermittelt, weil man hier zwei Eiskunstlaufende nicht als Bedrohung für Ruhe und Ordnung ansieht." Er richtete sich kerzengerade auf, die Züge steinern. "Ich habe keine Familie mehr. Ich wurde lebensgefährlich verletzt. Otabek Altin, der beste Freund, den man haben kann, hat mir beigestanden. Wie kann das verwerflich sein?! Wie kann IRGENDWER das als Rechtfertigung dafür nehmen, uns umbringen zu wollen?!" Eine beklommene Stille setzte ein. Yuri entspannte sich entschlossen, funkelte in die Kamera. "Und dass das klar ist: wir sind noch da. Wir kommen wieder. Wir geben niemals auf. Keine Chance." *~#~* "Wow!", bemerkte Christophe, löste das Mikrophon von Yuris Weste, "das war mal eine Ansage! Auch wenn Victor vielleicht nicht ganz erfreut sein wird." Yuri streckte die langen Glieder, zuckte mit den Schultern. "Er wusste, worauf er sich einließ. Da muss er jetzt durch." Der Schweizer lachte, klopfte Yuri auf eine knochige Schulter. "Das hat mich irgendwie hungrig gemacht! Was hältst du von Rösti? Und danach ein paar Erdbeeren?" Mit einem verschmitzten Lächeln drehte Yuri sich die Haare zu einem Zopf im Nacken. "Hört sich gut an! Endlich richtiges Essen ohne Victors haarsträubende Experimente!" Lachend legte Christophe Yuri dem Arm um die Schulter. "Dann nichts wie ran!" *~#~* Es gab eine unausgesprochene Vereinbarung, im Zimmer, direkt neben Urs, nichts zu unternehmen, was eine Hängematte üblicherweise in Turbulenzen versetzte. Immerhin war man ja nicht ganz allein auf weiter Flur! Deshalb schienen sich intensivere "Austauschmöglichkeiten" intimer Natur erst zum Wochenende aushäusig anzubahnen. Doch davor hatten die missgünstigen Götter einen weiteren Clubabend und den Abflug nach Japan gesetzt, weshalb Yuri auch frustriert ob der eigenen Verärgerung darauf bestand, Otabek oben ohne zu bekuscheln. Das verschossene T-Shirt verbannt kraulte der Kasache besänftigend den zarten Nacken und wickelte sich gelegentlich lange, hellblonde Strähnen um die Finger. "Ich versteh nicht, wieso das jetzt so schnell geht!", grummelte Yuri unleidlich und genoss die Wärme, die Otabek ungefiltert abstrahlte. Nicht zu vergleichen mit der Stoffzensur sonst! "Vermutlich will man die Aufmerksamkeit nutzen, bevor der Sommer kommt und andere Sportler im Fokus stehen", optionierte Otabek gelassen. "Ach, bah!", schnaubte Yuri, noch längst nicht bereit, die Segel zu streichen und einzuschlafen, "das wird wieder fürchterlich werden! Fast alles geht für diese Prüfungsgebühren drauf!" Was ihn sehr wurmte. Allerdings bot sich hier die Gelegenheit, in einem zertifizierten Institut den Schulabschluss zu machen. Ungeachtet der Spannungen existierte wohl doch ein Markt für russische Sprache und Kultur in Japan. Oder zumindest zahlungskräftiges Klientel. Er seufzte zum Steinerweichen. "Wenn es zu viel wird, sag Victor Bescheid." Otabek küsste ihn wie gewohnt zärtlich auf die gekrauste Stirn. "Übernimm dich nicht, Yuri, einverstanden?" "Ja, schon gut, ich pass auf!", gab der jüngere Russe widerwillig nach, "solange ich mich von den Fressexperimenten des alten Sacks fernhalte, sollte mir nichts passieren." Der nächste Kuss trug einen gewissen Tadel mit sich, weil er dem Scheitel gewidmet war. "...und ich werde auch höflich und pflegeleicht sein", grummelte er unlustig, ließ die Fingerspitzen Rippenbögen und Sehnen nachziehen. Wieder fast zwei Wochen weg! Gut, die Prüfungen benötigten etwas Zeit, außerdem all die Termine, die Geld einbringen sollten, der Transfer jedes Mal... Otabek fasste ihn behutsam unter die Achseln und zog ihn auf Augenhöhe zu sich auf die Kissen, liebkoste mit den Fingerknöcheln ganz zart Yuris Wangenknochen, die Schläfen, die Kieferpartie. "Du wirst mir auch fehlen, Yuri", raunte er sonor. Yuri errötete im Rahmen seiner vornehmen Blässe, spiegelte eilig Otabeks Aufmerksamkeiten. "Wir kriegen das hin", murmelte er schließlich, dippte einen scheuen Kuss auf die Lippen des Kasachen, "sind ja nur zwei Wochen!" Trotzdem rutschte er eng an Otabek heran und umhalste ihn nachdrücklich. *~#~* War es nun noch Freitagnacht oder schon Samstagmorgen? Mit Rucksack und dem bockenden Rollkoffer auf den Fersen stapfte Yuri neben Otabek her, der sogar auf ein Taxi bestanden hatte, nach der langen Nacht, obwohl es doch recht teuer war! Auf dem Flughafen herrschte natürlich Betrieb. Zwei weitere Nachteulen fielen da nicht auf. "Versuch, auf dem Flug zu schlafen." Der Kasache wickelte Yuri das Mehrzwecktuch mit den lachenden Totenköpfen um den hellblonden Schopf. "Ich hab dir Instantflocken in den Koffer gepackt. Mit Wasser und der Erdnusspaste sollte es sich aushalten lassen." Jeden anderen hätte Yuri angepfiffen, erstens nicht in seinen Sachen herumzukramen und ihn zweitens nicht wie ein Kleinkind zu behandeln. Otabek hatte sich jedoch diese Freiheiten erlaubt (sogar kostspielig, was die Erdnusspaste betraf!!), um ihn zu unterstützen, ihm auch in Japan das Gefühl zu vermitteln, dass er Herr der Lage war. "Danke, Beka." Er umarmte den Kasachen erstickend eng, einmal die Vorteile seiner Körpergröße ausspielend. Der Kasache erwiderte die Geste, streichelte ihm über den knochigen Rücken. "Vertraue auf dich, Yuri. Dann wird alles gelingen", wisperte er rau, drückte verstohlen einen Kuss auf ein Ohrläppchen. In Gegenwart anderer Personen wahrte er strikt die Zurückhaltung, die er sich bis zu Yuris Kussattacke auferlegt hatte. Es ging niemanden etwas an, wie sehr er diese streitlustige, kratzbürstige Wildkatze begehrte. "Ich leg mich ins Zeug", versprach Yuri, klang jedoch bedrückt, "schäker an meiner Stelle mit Lotti und Dorli, ja?" Das entlockte Otabek ein leises Lachen. "Ich werde mich bemühen", versicherte er, löste dann behutsam die dünnen Arme von seinem Nacken, lächelte aufmunternd in das blasse Gesicht. Yuri fletschte die Zähne und zischte, sein Katzenangriff. Allein, das verzaubernde Grün blickte bekümmert. "Auf bald, mein Freund!" Formvollendet deutete Otabek eine Verneigung über Yuris Rechter an, die er förmlich ergriffen hatte. "Möge uns das Glück hold sein." Knurrend salutierte der Russe in einer Parodie, umklammerte dann den Griff des störrischen Rollkoffers, ein heimlicher Anker in tosender See. "Wir sehen uns!", reckte er das Kinn, pirouettierte in makelloser Divenhaftigkeit um 180 Grad und strebte dem Schalter zu. »Sieh dich nicht um! Guck jetzt bloß nicht zurück! Und reiß dich zusammen, klar?!«, ermahnte er sich selbst mit zusammengepressten Lippen, knirschte sogar mit den Zähnen. Verdammt, je schneller er das Ganze hinter sich brachte, umso rascher wäre er wieder hier! *~#~* Otabek war dankbar für die gebremste "Betriebstemperatur" an Samstagen. Er spürte doch, dass ihm eine Nacht Schlaf fehlte. Und Yuri. Es fiel ihm ungewohnt schwer, sich auf seine Arbeit zu besinnen, doch seine geübten Hände meisterten auch ohne große Beteiligung automatisch die ihnen gestellten Aufgaben. Zum ersten Mal hatte er in den grünen Katzenaugen eine klägliche Verletzlichkeit gesehen. Wahrscheinlich kannte niemand diesen Yuri Plisetsky. Immer eine gesträubte, fauchende, kratzende, auf Angriff gepolte Wildkatze. »Es ist ganz gewiss nicht meine Absicht, ihn zu verunsichern«, haderte der Kasache mit sich selbst, »geschweige denn ihn von mir emotional abhängig zu machen!« Nein, so ein Ansinnen hätte er als ehrverletzend angesehen. Vielleicht hätte man es langsamer angehen sollen, vor allem die körperliche Annäherung? Er unterdrückte einen Seufzer. Wem wollte er hier etwas vormachen?! Solange Yuri ahnungslos und quasi androgyn in seiner Gegenwart agiert hatte, reichte seine Willensstärke aus, nicht zudringlich zu werden. Aber das konnte er unmöglich aufrechterhalten, nachdem sein Verlangen beantwortet worden war. Nun, zur eigenen Ehrenrettung konnte er die Selbstbeherrschung vorweisen, die ihn davon abhielt, in der Schlafkammer über freundschaftliche Gesten hinaus zu gehen, seiner Begierde zum Trotz, der fordernden Libido, die ihm, ganz biologisches Protokoll, demonstrierte, dass das erste halbe Jahr einer sexuellen Beziehung recht monothematisch zu sein pflegte. Und sechs Tage OHNE! Er wischte sich kurz mit dem Handrücken über die kräftigen Strähnen. Es half nichts zu hadern, sich sinnlos zu verzehren und zu sehnen! Nein, er würde sich ordentlich Arbeit zuteilen, außerdem musste die Frisur mal wieder gestutzt werden, und etwas mehr Fitness könnte sicher auch nicht schaden, richtig?! Vielleicht würde Christophe ihn auch an den Computer lassen, damit er die Musik, die er gerade in seinem Inneren hörte, herausließ, sich Erleichterung verschaffte! *~#~* Victor beäugte Yuri kritisch, was man seiner gewohnten Strahlemann-Miene keineswegs entnehmen konnte. Er wusste es durchaus zu schätzen, wie ernsthaft und konzentriert Yuri jeden einzelnen Programmpunkt auf der vollgestopften Liste abarbeitete. Entgegen des sorgsam gepflegten Images kannte er DEN Yuri, der unermüdlich bis besessen trainierte, zuverlässig und hart arbeitete. Doch hier ging es nicht um Eiskunstlauf, sondern, wie ihm knapp beschieden war, darum, den Lebensunterhalt zu verdienen. Oder zumindest die Kosten abzudecken, die die Prüfung mit sich brachte. Der schweigsame, stille Ernst sorgte ihn, denn es bedeutete unzweifelhaft, dass das leicht entflammbare Temperament rigoros unterdrückt wurde. Was, wie man von Vulkanen kannte, die einen Pfropf hatten, zu ausgesprochen unerfreulichen Ausbrüchen führte! Auf dem Rückweg zum Hotel von ihrem letzten Arbeitseinsatz hängte er sich daher betont launig bei Yuri ein, der lediglich mit der Zunge schnalzte, aber keineswegs AUGENBLICKLICHE Distanz einforderte. "Machst du dir Gedanken über die Prüfungen ab morgen?" Victor verabschiedete seine gewohnte Maske, studierte das Profil des jüngeren Landsmanns. Yuri, hinter Einwegmaske und Sonnenbrille kaum kenntlich, da auch die hellblonde Mähne komplett in einem Tuchturban versteckt war, schnaubte. "Wäre es nicht so teuer, käme es mir nicht darauf an!", knurrte er, "aber Bestehen will ich schon. Obwohl man nirgendwo was damit anfangen kann", ergänzte er bitter. "Nun, du könntest studieren", tastete sich Victor vor, blendete sein Patentgrinsen auf, zwei ältere Damen, die ihnen entgegenkamen und mädchenhaft kicherten, zu charmieren. "Ach ja?", schnaubte Yuri, ungewohnt gedämpft, "erstens wird der Abschluss außerhalb von Russland garantiert nicht anerkannt, zweitens kann ich Studiengebühren nicht aufbringen, weil ich nicht gleichzeitig trainieren, arbeiten und studieren kann. So viele Stunden hat kein Tag!" Victor schwieg einen Moment länger, als ihm selbst behagte. "Dann glaubst du nicht, dass der Verband dich unterstützen wird?", fühlte er vorsichtig nach. "Pff!", zischte der jüngere Russe, "ehrlich, GLAUBST du, dass der verlorene Sohn wieder in St. Petersburg gnädig aufgenommen wird?! Ein Studium seiner Wahl beginnen kann, hübsch um ihn herumgestrickt, damit man auch einen Titel bei den Universiaden abstauben kann?!" Für ganze zwei Straßenzüge herrschte bleiernes Schweigen zwischen ihnen. Unerwartet ergriff Yuri dann das Wort, sachlich, gefasst. "Planst du, jemals wieder zurückzugehen? Im Bewusstsein, dass du 'Freiwild' bist? Dass es keine Rolle spielt, welche sportlichen Erfolge du erzielt hast? Wohl kaum, oder? Sonst wärst du nicht hier, würdest dich abstrampeln." Der ältere Russe atmete tief durch. "Was soll ich dir da antworten, Yuratschka?" Er lächelte ungewohnt mild. "Mein Yuuri und seine Familie leben hier. Sie haben mich herzlich aufgenommen. Ich gehöre zur Familie, und ich mag Hasetsu wirklich sehr." Er seufzte sanft. "Juristisch und rechtlich gesehen ist es hier wirklich schwierig, ein 'Einheimischer' zu werden", bekannte er leise, "aber wenn ich schon Außenseiter bin, dann lieber hier, wo mich die Menschen um mich herum akzeptieren und unterstützen. Allein mit mir selbst war ich lange genug." Yuri neben ihm bot das verhüllte Profil, doch die Anspannung seiner Glieder verriet Victor, dass der jüngere Eiskunstläufer seine Offenbarungen kontemplierte. "Ich verstehe, was du meinst", antwortete Yuri nachdenklich, "im Moment ist es bloß nicht so einfach, eine Marschrichtung zu bestimmen." Victor schmunzelte. "Hast du mit Otabek auch darüber gesprochen?", erkundigte er sich, "immerhin steckt er in derselben Situation, nicht wahr?" Neben ihm knurrte Yuri vernehmlich. "Mit dem Unterschied, dass sein blöder Verband auf Druck irgendwelcher Mistkerle ihm gar keine Unterstützung mehr gewährt, er deshalb arbeiten muss, um uns über Wasser zu halten! Aber ER hat's echt drauf, er findet einen richtigen Job, macht als Tonkünstler weiter UND trainiert noch nebenher! Er schafft es IMMER! Er kommt klar!" "Und du nicht?", legte Victor den Finger in die Wunde. "Tja!", schnaubte Yuri grimmig, ganz gegen seine frühere Gewohnheit NICHT auf den impertinenten Frager losgehend, "ICH hab leider außer Eiskunstlaufen nichts drauf. Bisschen mit dem Hintern wackeln in komischen Klamotten, mehr aber auch nicht." Einem sanften Knuff in die Seite ließ Victor ein freches Kichern folgen. "Erlaube mal, professionelles Hinternwackeln fällt schließlich auch nicht vom Himmel! Und es wird bezahlt!" Neben ihm brummelte es bloß abschätzig. "Was möchtest du denn gern machen?", erkundigte sich Victor väterlich. Er traute Yuri Plisetsky durchaus weitere Qualitäten zu, die auch zur Sicherung des Lebensunterhalts geeignet waren. "Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht", stellte der jüngere Russe entschieden fest, "es gab immer nur das Eis. Nichts weiter." Mit der freien Hand wischte sich Victor durch seine silbrig getönten, aschblonden Strähnen. "Nun, du kannst nicht dein ganzes Leben lang professioneller Eiskunstläufer sein", stellte er eine Tatsache fest. Dazu waren die körperlichen Verschleißerscheinungen zu groß. "Beinahe hätte sich DAS Problem ja von selbst erledigt!", grollte Yuri sarkastisch, "da haben wir den Salat!" Victor blieb abrupt stehen, seine sonst so lieblich-fröhliche Miene ernst und ohne jeden Anflug von Nachsicht. "Ich kann darüber nicht scherzen", kommentierte er leise, die blauen Augen bewölkt, "mir wird noch immer übel bei der Erinnerung." Yuris Miene konnte er nicht erkennen, aber die Körpersprache lesen. Sein jüngerer Landsmann fühlte sich unbehaglich und hätte normalerweise mit trotziger Aggression zurückgekeilt. Er wandte sich von ihm ab, winkelte jedoch leicht den Ellenbogen an, eine zögerliche Einladung, sich wieder einzuhaken. Nachsichtig folgte Victor der Offerte, verzichtete darauf, das Thema erneut anzuschneiden. Er bestand jedoch darauf, dass sie noch rasch eine Nudelsuppe aßen, damit für den nächsten Tag zumindest eine solide Grundlage vorhanden sei! *~#~* "So geht's nicht weiter!", entschied Victor für sich selbst, straffte seine geschmeidig-athletische Gestalt. Drei Tage schriftliche Prüfungen, schön und gut, immerhin hatte er diese Möglichkeit vermittelt, aber nun konnte er sich einfach nicht mehr des geradezu beängstigenden Eindrucks erwehren, mit einem ausgetrockneten Zombie unterwegs zu sein! Zugegeben, ätherische Blässe gehörte zu Yuris gewohntem Erscheinungsbild, doch jetzt hätte eine Mumie gegen ihn frisch und prall gewirkt! "Ich will bloß unter die Dusche", hörte er das heisere Murmeln (die Klimaanlage vertrug sich schlecht mit Yuris Kehle), "müssen wir noch irgendwo hin?" Seine teure Armbanduhr konsultierend fasste Victor rücksichtslos einen dünnen Arm. "Das kann noch etwas warten. Komm bitte mit!" "Wohin denn? Hattest du nicht gesagt, die Prüftage wären frei?", grummelte Yuri verstimmt, unterließ jedoch einen Ausbruchsversuch. Äußerst bedenklich! Er dirigierte seinen jüngeren Landsmann in das Separee im Hotel, wo man mit der weiten Welt digital Kontakt aufnehmen konnte. "Also, die Post hätte echt Zeit gehabt!", nörgelte Yuri unzufrieden, rieb sich die geröteten Katzenaugen. "Strahle und sitz aufrecht!", mahnte ihn Victor mit einem Klaps, gab die Tastatur frei und topfte ungefragt ein Headset auf dem hellblonden Schopf. Das Bild benötigte länger als die Stimme, die etwas abgehetzt klang. "Yuri? Wie geht es dir?" "Beka?! Moment, musst du nicht arbeiten?!" "Mittagspause. Ich bin bei Chris. Ist bei dir alles in Ordnung?" "Klar doch! Heute war die letzte blöde Prüfung. Aber mein Manager aus der Hölle sorgt schon dafür, dass ich nicht faul herumsitze." "Vergiss bitte nicht, was du mir versprochen hast, Yuri." "Nein, nein, ich bin ganz brav. Sag mir lieber, was es bei euch Neues gibt!" "Immer die gleiche Routine, ich muss dich enttäuschen. Allerdings habe ich einen Auftrag als DJ bei einem kleinen Schlagerfest." "Schlager?! So was wie Volksmusik mit Rummelplatz-Musi?! Ist das dein Ernst?!" "Man kann im Leben immer noch was lernen, mein Freund." "Ich werd nich mehr...darf ich mitkommen?! Das MUSS ich miterleben!" "Als Zeuge meines Niedergangs vom coolen Einzelgänger zum weichgespülten Folklore-Hippie?" "Quatsch, du bist IMMER cool, Beka! Aber ich will sehen, wie du DIE Nummer durchziehst!" "Darüber sprechen wir, wenn du wieder hier bist. Gib gut auch dich acht, ja?" "Comprende. Das gibt übrigens umgekehrt genauso!" Victor lächelte, denn natürlich hatte er es sich nicht nehmen lassen, zumindest optisch den kurzen Austausch um den halben Globus zu verfolgen. So sah also die Katzenminze aus, die das Wildkätzchen Yuri zum Schmusetiger machte! *~#~* Victor hatte sich bei Reisen angewöhnt, Schlafmaske und Ohrstöpsel einzusetzen. Das täte wohl jeder, der im Doppelzimmer mit Yakov Feltsman nächtigen musste und nicht stocktaub war. Sich mit Yuuri selbst als Coach das Zimmer zu teilen war hingegen ein Vergnügen gewesen. Erstens, weil sein Schatz wirklich nicht schnarchte, zweitens, weil man immer unterkriechen durfte, wenn man fror, sich einsam fühlte, ein akutes Kuscheldefizit hatte oder sich vergewissern wollte, wo Yuuri doch gleich noch diesen niedlichen Leberfleck hatte... Selbstredend fielen diese Optionen bei seinem jüngeren Landsmann aus. Ärgerlicherweise hatten sich die Ohrstöpsel offenbar unerlaubt von der Truppe entfernt, als er spätnachts erschöpft sein Handgepäck durchgekramt hatte. Verflixt! Aber er wollte auch nicht nach der Dusche wieder etwas anziehen, hinausgehen und in einem der rund um die Uhr geöffneten Supermärkte auf die Suche gehen, deshalb weckte ihn auch das unerfreuliche Geräusch gewaltsam exportierten Mageninhalts auf. Er schlug die Decke zurück, rappelte sich auf und illuminierte die Leuchten am Kopfende seines Bettes. "Yuri?" In die Hotelslipper schlüpfend begab er sich zur separaten Toilette. Die Schlappen davor fehlten, was unmissverständlicher als die verriegelte Tür Benutzung signalisierte. Trotzdem klopfte er höflich. "Yuri? Ist alles in Ordnung?" Der Geräuschkulisse nach zu urteilen offenkundig nicht. "Bitte mach auf, ja? Ich habe hier Wasser." Die Linke apportierte ein eilig gefülltes Glas. Nach unerfreulich langer Zeitspanne wurde das Schloss mühsam entriegelt. Yuri kauerte am Boden, zischend durch die Zähne atmend. Die Entlüftung saugte ab und versprühte gleichzeitig einen gewissen Zitrusduft. Sofort ging Victor geschmeidig in die Hocke, kämmte klebrige Strähnen beiseite und setzte das Glas an. Kleine Schlucke nur, sonst hätte Yuri wohl zwischenzeitlich mal die Luftröhre beglückt, was es zu verhindern galt. "Schätze, der letzte Fisch war schlecht", kalauerte er elend, merklich zitternd. "Du hattest ausschließlich die vegetarische Variante", korrigierte der ältere Russe angespannt. Aber auf das Abendessen mit den Sponsoren, eine Riege älterer Herren, die immer ausgelassener wurden, je mehr Bier und Sake serviert wurde, hatten sie nicht verzichten können. "Kannst du aufstehen?" Nur mit Unterstützung, das offenbarte sich rasch. Dennoch gelang es Victor, den schlotternden Jüngeren zum Bett zurück zu eskortieren. "Ich werde Hilfe holen", Victor aktivierte das Haustelefon. "Quatsch, mir geht's gleich besser!", behauptete Yuri, doch der ältere Russe ließ sich von diesem Wunschdenken nicht täuschen. Buttermilch und Spucke hätten neben Yuri Plisetsky farbenprächtig gewirkt! *~#~* "Und jetzt das heiße Wasser drüber." Victor Nikiforov, lebende Eiskunstlauflegende, gefragter Geschäftsmann, attraktiver Medienliebling und aktuell auch noch Manager, beäugte die Haferbrei-Variante mit sichtlichem Missfallen. Er rührte nach exakt angewiesener Zeit die Erdnusspaste unter, verzog das feine Näschen ob des eindeutigen Geruchs. Vom Bett her meldete sich grollend ein ebenso fein gestimmtes Organ unmissverständlich. Etwas nördlicher legten Fäuste reibend grüne Katzenaugen frei, fischten klebrige, hellblonde Strähnen aus einem spitzen Gesicht. "Ich kann wirklich nicht begreifen, was daran lecker sein soll!", konstatierte der ältere Russe unzufrieden, rührte noch einmal mit dem Löffel durch die sämige Mischung, bevor er sich demonstrativ neben dem Bett aufstellte, aus dieser luftigen Höhe kritisch seinen jüngeren Landsmann beäugte. "Guten Morgen, oder eher guten Mittag, Yuratschka. Hört sich an, als könnte dein Magen etwas Futter vertragen." Yuri blickte hoch, hätte vermutlich grimmig gefunkelt, doch seine eingefallene Leibmitte verlangte unüberhörbar nach dem Inhalt der Henkeltasse. Sie wurde ihm überreicht, mit Missfallen auf den anziehenden Gesichtszügen, dann ließ sich Victor nieder, grazil ein Bein über das andere geschlagen, wie stets im dreiteiligen Anzug. "Du liebe Güte, ich kann wirklich nicht nachvollziehen, wovon du dich ernährst!", bemerkte er spitz. "...tut mir leid, dass ich das Frühstück verpennt habe", murmelte Yuri heiser und löffelte bereits, schnupperte heimlich. Es roch tröstlich-vertraut, nach Fürsorge, nach Zuflucht. Nach Otabeks aufmerksamer Obhut. "Dieses Frühstück und das gestrige!", korrigierte der ältere Russe betont nörglerisch, "übrigens den gesamten Tag gestern." Neben ihm, über der Tasse zusammengerollt, erstarrte Yuri. Über die Schulter registrierte Victor den ungläubigen Blick. "Nun, ich gebe zu", er wedelte grazil mit der Rechten, "dass du entschuldigt warst wegen des Schlafmittels, das der Doktor verordnet hat." "...Schlafmittel...", echote Yuri tonlos. Sich durch die elegante Scheitelfrisur wischend führte Victor seine Pose weiter aus. "Oh, du liebe Not, natürlich nichts, was dich in Schwierigkeiten bringt! Das habe ich persönlich überprüft. Allerdings war der Rest der Unterhaltung nicht ganz so angenehm!" Er schnaubte leise. "Obwohl ich gewisse Zweifel hege, dass mein Schatz mir alles übersetzt hat." Nun hockten Tasse und Löffel auf Grund, nämlich der Bettdecke über Yuris mageren Schenkeln. "...Katsudon..." "Nun, ich wollte selbstverständlich vertrauliche Details nicht von irgendwem dolmetschen lassen", flötete Victor mit kalkulierter Bosheit, "glücklicherweise hat MEIN Liebling Verständnis für Anrufe mitten in der Nacht! Wie hätte ich auch sonst, trotz meiner Bemühungen um diese schwierige Sprache, deinen Zustand erklären sollen?! Und die Einschussnarben?! Tsktsk!" "...danke..." "Iss bitte weiter, bevor dieses Gemisch kalt wird. Sieht wirklich aus wie Beton. Bäh!" Für einige Augenblicke ließ Victor seinen anstrengenden Schützling schmoren, nämlich löffeln, hinter dem hellblonden Haarvorhang beinahe abgeschirmt, nötigte wortlos Wasser zum Nachspülen auf. "Ich bin verärgert", stellte er fest, federte von der Matratze hoch und warf sich in eine demonstrativ tadelnde Pose, die Hüfte leicht ausgestellt, die Arme dort aufgestützt, "du hast mich hinters Licht geführt, Yuratschka, und das ist kein ordentliches Verhalten für Geschäftspartner!" Yuri warf den Kopf herum, funkelte empört hoch. "Was?! Das stimmt doch gar nicht!" "Ah nein?!" Victor blies zur Attacke. "Du hast mich glauben lassen, dass du ordentlich schläfst, bist ja immer erst nach mir aufgewacht! Das KANN aber nicht stimmen! Dafür muss ich mir Rügen anhören, ich würde dein Ableben durch Überarbeitung in Kauf nehmen, weil du vollkommen übermüdet, unterzuckert, unterernährt, erkältet und bis zum Limit erschöpft bist!" Auf dem Bett ballte Yuri sichtlich die Fäuste. "Das ist total übertrieben und Quatsch! Der Quacksalber hat dich wahrscheinlich aufgezogen, um mehr Geld rauszuschinden! Ich war bloß ein bisschen müde!" Blitzartig beugte sich Victor vor, stützte die Hände auf die Matratze und reduzierte die Distanz zu Yuri auf intime Nähe, bannte forschend die grünen Katzenaugen. "Dann stimmt es wohl nicht, dass du, anstatt mir zu sagen, dass du nicht durchschlafen kannst, dauernd Gymnastik betrieben hast, um mich nicht merken zu lassen, wie es um dich steht?!" Wütend presste Yuri die dünnen Lippen aufeinander, hielt dem blauen Laserstrahl grimmig stand. Momente komprimierter Anspannung verstrichen, dann richtete sich Victor wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust. "Du hättest mir sagen müssen, dass du Probleme mit Albträumen hast. Dass dein Magen empfindlich auf Veränderungen in kurzer Zeit reagiert. Dann hätte ich das berücksichtigt. Es hätte mir auch ein sehr aufgebrachtes Schweigen von Otabek Altin erspart." Mit bemerkenswertem Tempo wich das bisschen Farbe vom Mittagessen aus Yuris Gesicht, ließ es fahlbleich werden. "...du hast mit Beka gesprochen?" Victor seufzte, auch wenn er beabsichtigt hatte, seinen ungezogenen Schützling ein wenig länger auszuzanken. Er strich die langen Strähnen beiseite, ließ sich in vertraulicher Nähe auf dem Bett nieder. "Natürlich habe ich ihn kontaktiert, über Chris. Immerhin kennt er dich am Besten und konnte auch das Rätsel lösen, warum es dir NACH den Prüfungen noch schlechter geht. Hätte ich nicht die Ohrstöpsel verlegt, wäre diese Scharade noch ein wenig weitergelaufen, nicht wahr?" Yuri wandte eilig den Kopf ab, die Fäuste noch immer Tasse und Löffel umklammernd. "...war er sehr wütend?" So piepsig hatte der ältere Russe seinen gewöhnlich polternden, fauchenden, aggressiv-zornigen Landsmann selten erlebt. "Nun", er seufzte erneut betont, "er hat zumindest davon abgesehen, mir gleich den Kopf abzureißen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Erfreut war er jedenfalls keineswegs." Erneut breitete sich ein aufgeladenes Schweigen zwischen ihnen aus. "Ich wollte keinen Ärger machen", murmelte Yuri schließlich kleinlaut, fast kläglich. Victor studierte die schmale Gestalt an seiner Seite, durch jahrelange mitleidlose Disziplin darauf getrimmt, bis an die Grenzen zu gehen, keine Schwäche einzugestehen, zu attackieren, niemals zurückzuweichen. "Das Geschäftliche habe ich geregelt", antwortete er sachlich, ohne die übliche Dosis Zucker-Charme, "aber was auch immer dir zu schaffen macht, Yuratschka, stell dich, geh es an. Sonst wird es schlimmer." *~#~* Kapitel 18 - Erwartungen Natürlich hatte er auf der Rückreise kein Auge zugemacht. Nun, das stimmte nicht ganz, Kopfhörer auf und Augen geschlossen hielten viele Leute auf Distanz. Bloß geschlafen, das hatte er nicht. Doch wenigstens waren alle geschäftlichen Termine trotz der zwei Tage Totalausfall absolviert, ja, ein kurzer Videoclip tanzte sogar auf der weltberühmten Videotafel am Haus 109 in Shibuya! In Tokio zumindest würde er sich nur mit Ganzkörperkartoffelsack noch unbehelligt auf die Straße wagen können. Allen Gerüchten zum Trotz waren gerade junge Leute sehr aufgeschlossen und neugierig, von traditioneller, zurückhaltender Distanz und Kontaktscheu keine Rede! Yuri zerrte, sich zerschlagen fühlend, seinen widerspenstigen Rollkoffer hinter sich her, wobei nur noch eine Rolle quietschend ihrer Aufgabe nachkam, ihr Partner war bei der robusten Gepäckbeförderung offenbar ins Nirvana verabschiedet worden. Man hätte sich beschweren müssen, Schadenersatz fordern können, aber Yuri verzichtete auf die Gelegenheit, sich lächerlich zu machen. Aus dem Rucksack kramte er seine Sonnenbrille, die von der Kabinenluft wie stets entzündeten Katzenaugen abzuschirmen. Zürich präsentierte sich in vorsommerlicher Strahlkraft, blank polierter Himmel mit getupften Schäfchenwolken. Ein Werktag, früher Nachmittag, was bedeutete, dass Otabek arbeitete. Ihren Lebensunterhalt verdiente, weshalb nicht mal der ANFLUG eines Gedankens erlaubt war, ihn sich hierher als Empfangskomitee zu wünschen! Der Hektik der letzten Tage geschuldet hatte er lediglich Emails absetzen können, in der Hoffnung, der Kasache würde Zeit finden, diese bei Christophe einzusehen. Zwar glaubte er nicht daran, dass Otabek nachtragend sein würde, allerdings konnte es sein, dass er ihn dieses Mal nachhaltig verärgert hatte, enttäuscht. Was ihm, mal wieder, die Kehle zuschnürte. Es wollte sich einfach nicht seine sonst so heißblütig aufkochende Aggression einfinden, zur Attacke einladen, dieses erstickende, erdrückende Gefühl vom Hof jagen! "Yuri!" Abrupt fuhr der Russe herum, da näherte sich schon in forschem Schritt Otabek, im Overall der Werkstatt. "Beka", setzte Yuri kläglich an, ging sofort des bockenden Rollkoffers verlustig, den Otabek einfach schulterte, seine Linke fasste und ihn förmlich im Laufschritt zum Ausgang dirigierte. "Komm rasch, ich parke nicht ganz verkehrsgerecht!", erläuterte er die Flucht, beschleunigte, bis sie beide rannten. Unweit des Ausgangs bremste er vor einem Zweiradgespann mit Beiwagen, mutmaßlich ein Weltkriegsmodell. "Ein Helm liegt drinnen", gestikulierte der Kasache, verschnürte den lädierten Rollkoffer rasch auf dem Gepäckträger des Motorrads, löste den zweiten Helm vom Lenker, Halbschalenmodelle, martialisch wirkend. Schon kletterte er auf die schwere Maschine, konzentrierte sich auf das Anlassen. Ganz und gar nicht zu vergleichen mit dem Luxus moderner Motorräder! Yuri, Kopfhörer um den Hals, Helm auf der hellblonden Mähne, rang mit einer halbwegs bequemen Position in dem "Ei". Obwohl Otabek gewohnt zivilisiert und sehr geschickt manövrierte, merkte man doch, dass Stoßdämpfer hier nicht gerade fröhliche Urstände feierten. Selbst für einen "dünnen Hering" wie Yuri, der seine langen Glieder zusammenfaltete wie beim Origami und gleichzeitig noch seinen Rucksack auf dem Schoß umklammerte, war dieser Transport ausgesprochen gewöhnungsbedürftig, von unbequem gar nicht zu reden. Eine Schutzbrille vor die Augen gezogen pilotierte der Kasache durch Nebenstraßen, um sich der Werkstatt wieder anzunähern. Zwar war das Gespann mit Versicherungskennzeichen ausgerüstet, doch eben just die Verkehrstüchtigkeit wieder mühsam hergestellt. Überkritischen Streifen wollte er lieber nicht begegnen. Die Geräuschkulisse verhinderte auch ein Gespräch, dazu arbeiteten Zylinder und Motor definitiv zu laut. Glücklich erreichten sie den Hof der Werkstatt, wo sich die Rizzis bereits (dank des ankündigenden Lärms) aufhielten. Wie wunderbar hatte das geklappt! Die Jungfernfahrt erfolgreich absolviert und gleichzeitig noch den bemitleidenswerten Star aus Übersee am Flughafen aufgelesen! Ohne eine Chance auf Gegenwehr wurde Yuri aus dem Ei gezogen, vom Helm befreit, geherzt, sofort unter die mütterlichen Fittiche gestellt, die vorsahen, dass das arme Kerlchen erst mal was zu essen bekam! Und dann ein ruhiges Plätzchen für ein Nickerchen! Erst nachdem Yuri schicksalsergeben frische Nudeln mit Tomatensugo und viel Grünbeigabe verzehrt hatte, durfte er die Mitbringsel verteilen, nur Kleinigkeiten dieses Mal, eine dekorative Haarnadel, ein Einstecktuch mit winzigen Ferrari-Pferdchen und ein kleines Heftchen mit Bastelanleitung für Papierblumen. Otabek hielt sich sehr zurück, beäugte den schwer lädierten Rollkoffer und beriet sich mit Amadeo über mögliche Lösungen. Ärgerlicherweise war Kunststoff ein heikles Material, es neigte zu Rissen und Splittern, ließ sich auch nicht einfach kleben. Und man sah überall die Spuren der Nutzung. "Geben wir ihm den Gnadenstoß", brachte sich Yuri, etwas zögerlich, in die Expertenrunde ein. Die fehlende Rolle stellte ja nicht das einzige Hindernis dar, nein, die Schnappschnallen waren wacklig, hier und dort ein Scharnier mit Draht geflickt... Eine weitere Saison in der Vielfliegerbranche würde der treue Gefährte wohl nicht überstehen. Yuri wollte auch die klassische Albtraumsituation vermeiden, am Flughafen irgendwo zu stehen, mit aufgeplatztem Koffer, Leibwäsche und allen Inhalt quer über den Boden verteilt, sehr zur Gaudi aller Umstehenden! "Ich denke, du brauchst so ein Modell wie diese Pilotenkoffer", gab Amadeo seine Einschätzung zu Protokoll, "vielleicht nicht so modisch, aber äußerst robust. Das wäre eine gute Investition, möchte ich meinen." Yuri wischte sich matt durch die losen, hellblonden Strähnen. Noch eine weitere Komplikation, die er zu bewältigen hatte! "Aber jetzt ruhst du dich erst mal aus!", mütterliche Fürsorge setzte Prioritäten, "alles andere hat Zeit!", und Widerspruch war nicht gefragt. *~#~* An Schlaf war nicht zu denken, also hatte er wenigstens gehorsam gedöst, das Gewirr unausgesprochener Gedanken, ungelöster Probleme und zurückgehaltener Gefühle in seinem schmerzhaft pochenden Schädel Karussell fahren lassen. Nicht freiwillig, selbstredend, dementsprechend fühlte er sich benommen und schwindlig, als der Feierabend eingeläutet wurde. Er tappte hinter dem Kasachen her, der den Rollkoffer transportierte, quer über den Buckel geschnallt, mit forschem Schritt. Yuri selbst konzentrierte sich mit Bodennebel im Verstand auf seine Füße, verwünschte den Rucksack, kam sich bleischwer vor. Sein störrischer Stolz belästigte ihn, jetzt bloß nicht auch noch aus der Rolle zu fallen und wie ein Kleinkind nach Otabeks Hand zu haschen! Immerhin hatte er sich noch nicht entschuldigt, sprachen sie jetzt auch kein Wort, sondern schlüpften im Gänsemarsch durch den frühsommerlichen Flanierendenstrom. Nachdem er jedoch am Berg das zweite Mal beinahe in den Schotter gegriffen hätte, unsicher auf den schweren Beinen, schnappte er doch eine vertraute Hand, noch immer in den halbfingrigen Handschuhen verpackt, dem Ausflug mit dem Gespann geschuldet. Der Kasache federte elastisch herum, löste die Schnalle vor der Brust, sodass der malträtierte Rollkoffer ungraziös hinter ihm auf den Boden plumpste und zog Yuri in seine Arme, hielt ihn derart fest umklammert, dass dem Russen ein schmerzvolles Ächzen entwich. "Beka, tut mir leid." Weiter kam Yuri nicht, weil Otabek zum Angriff überging, im wahrsten Sinne des Wortes. Mit schon aggressiv zu nennender Leidenschaft attackierte ihn der Kasache, küsste ihn fast besinnungslos, eine Hand in den Nacken gepresst, ihn zu dirigieren, mit dem anderen Arm keine Distanz gewährend, sogar ein Bein demonstrativ zwischen Yuris wacklige geschoben. Yuri spürte, wie ihm die Knie einknickten, er sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Zu viel berannte seine erschöpften Sinne mit gewaltiger Vehemenz, er musste kapitulieren. Da hatte er jedoch die Rechnung ohne Otabek gemacht, der schlicht unter die mageren Pobacken griff, sich den Russen auf die Hüften lud und sich mit seiner benommenen Last in die Büsche schlug. Einen Baumstamm im Rücken später sah sich Yuri der nächsten Angriffswelle ausgesetzt, schnappte verschreckt nach Luft, stemmte sich gegen die breiten Schultern. Er fürchtete tatsächlich, ohnmächtig zu werden. Ein gewaltsamer Ruck ging durch die athletische Gestalt seines Freundes und augenblicklich lehnte Otabek gegen den Baumstamm, streichelte ihm besänftigend, beinahe beschwörend über Kopf und Rücken, rammte sich dann zornig den Hinterkopf an besagtem Baum. Man konnte einen Fluch vermuten, der nicht ausgesprochen wurde. Obwohl Yuri sich wie ein Schluck Wasser in der Kurve fühlte und entsprechend an der vertrauten, sicheren Gestalt des Kasachen hing, riskierte er einen blinzelnden Blick in dessen angespanntes Gesicht. "Entschuldige", hörte er die sonore Stimme rau an seinem Ohr, "ich weiß, du magst es nicht, in die Enge getrieben zu werden. Und ich will auch nicht...!!" Eine Hand ballte sich zur Faust, der Arm umschlang ihn jedoch noch immer abfangend. "Beka", warnte Yuri kläglich. Er MUSSTE sich jetzt wirklich setzen, ihm war schon ganz flau. Seine Lider flatterten unkontrolliert, dann rutschten seine dünnen Arme von Otabeks Schultern. *~#~* Yuri erwachte, weil eine Hand, dezent mit Motoröl parfümiert, sanft über seine Schläfe, seine Wange streichelte. Er lag einigermaßen bequem, die Beine über den Rucksack gehoben, unter dem Laubdach, ahnte die rasch untergehende Sonne. Otabek betrachtete ihn mit einem unleserlichen Gesichtsausdruck. »Ich hab's schon wieder verbockt!«, trudelte etwas mühsam durch Yuris behäbige Gedanken. Er wollte etwas sagen, nein, er musste etwas sagen, sogar jede Menge, unbedingt, doch ihm kam kein Laut über die Lippen. An seiner Seite stöhnte Otabek leise und verzog die Miene. "Ich kann mich einfach nicht beherrschen!", schimpfte er rau, "das ist so erbärmlich!" Auch die geballten Fäuste sprachen Bände. Eilig bemühte sich Yuri, in eine sitzende Haltung zu gelangen, streckte eine Hand nach Otabek aus, der vor ihm zurückwich, grimassierte. "Wenn ich dich jetzt anfasse, dann...!" "...bitte!", der Russe warf sich nach vorn, packte das ausgewaschene T-Shirt hastig, "Beka!" "Verdammt!" Dieses Mal hörte er deutlich, was Otabek sich gewöhnlich auszusprechen verbat, dann wurde er bereits auf die gekreuzten Oberschenkel des Kasachen gehoben, fest umschlungen. Die Arme um Otabeks Nacken wickelnd schmiegte sich Yuri mit aller Kraft an, räusperte sich, kämpfte den Kloß in seiner Kehle energisch herunter. "Beka, es tut mir leid, wirklich! Ich dachte, ich schaffe es, und ich wollte dir keine Sorgen bereiten, ehrlich!" Erstaunlicherweise schien es mit jedem Wort leichter zu gehen, die aufgestauten Gedanken herauszulassen! Es half auch, dass man sich einem geneigten Ohr anvertrauen konnte und nicht in die lodernden Flammen der tiefschwarzen Augen blicken musste. "Das war so blödes Timing! Mir ging einfach jede Menge im Hirn herum, für das ich keine Lösung hatte, und das hat mich frustriert, weil ich es angehen wollte, aber nicht konnte! Ich war stinksauer auf mich, was natürlich auch nicht geholfen hat", ergänzte er selbstironisch. Die muskulösen Arme hielten ihn noch ein wenig fester um Schultern und Taille. "Ich meine, ich muss mal auf die Reihe kriegen, wie es mit mir weitergehen soll! Zu irgendwas muss ich doch taugen! Aber ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, trainieren und arbeiten gleichzeitig! Ich kann ja nichts Nützliches." "Das ist nicht wahr", raunte es entschieden an seinem Nacken. Yuri seufzte. "Na ja, mittelbegabtes Hinternwackeln und mobiler Kleiderständer für ziemlich komisches Zeug. Aber das reicht doch nicht! Also habe ich überlegt, wie ich es bloß anstellen soll, Profi zu bleiben und Geld zu verdienen, aber mir ist nichts eingefallen!" Was ihm durchaus die Courage geraubt hatte. Bevor Otabek jedoch wie gewohnt in die Bresche springen konnte, sprudelte er weiter seine Sorgen heraus. "Ich bin ein Kerl, also will ich mich auch selbst über Wasser halten, verstehst du? Dann dachte ich, was passiert, wenn sie sich wirklich melden? Wenn ich akkreditiert werde? Sie werden niemals akzeptieren, dass wir zusammen bleiben, da bin ich sicher. Nicht mal als Trainingspartner. Wir müssten uns trennen." Yuri würgte trocken. Der Gedanke hatte ihn bis ins Mark entsetzt. Gepresst wisperte er weiter, "ich will das nicht. Ich will nicht zurück. Ich will nicht mehr so trainieren und leben wie früher. Aber was fange ich dann an? Es kann ja nicht dauernd bloß nach mir gehen! Was ist, wenn du akkreditiert wirst? Du könntest nach Hause, deine Familie wiedersehen. Richtig trainieren, dein Studium beenden..." "Yuri, hör auf!", knurrte Otabek grollend an seinem Ohr. "Ich möchte nicht, dass du durch mich so eingeschränkt bist!", platzte es dennoch aus dem Russen heraus, "ich komme mit der Verantwortung nicht klar, verstehst du?! Ich trau mir einfach nicht zu, all den Ärger, den du bekommst, auszugleichen!" Dabei klammerte Yuri mit zusammengekniffenen Augen entschlossen, leistete jedem Ausbruchsversuch verkrampften Widerstand, sodass Otabek sich tatsächlich dreinschickte, ihn unverändert fest mit den Armen umschloss. "Yuri, ich werde nicht von deiner Seite weichen", verkündete er stattdessen unumstößlich, "ich habe DICH als meine oberste Priorität gesetzt, weil ich dich liebe, Yuri. Alles andere wird sich finden." Der jüngere Russe seufzte gepeinigt. "Beka, DEINE Zuversicht möchte ich haben! Das nervt mich nämlich auch an mir, dass ich so wenig kann und du so viel! Ich will mit dir auf Augenhöhe sein, meinen gerechten Part übernehmen, bloß habe ich nichts drauf!" Etwas leiser ergänzte er, "außer meinem aufgeblasenen Stolz, mein eigener Kerl zu sein, kann ich nichts bieten. Ohne Eis bin ich eine Pfeife." Otabek verzichtete darauf zu summieren, welche Fähigkeiten sich Yuri seit ihrer Landung hier angeeignet hatte, welche Talente ihm zu Gebote standen. Sie entsprachen mutmaßlich nicht dem "Kerl-Image", das Yuri für sich selbst gesteckt hatte. "...na ja, und dann ist da noch was", murmelte der Russe unterdessen, rollte sich ein wenig zusammen, soweit ihm Otabek Bewegungsspielraum gewährte. "Also, diese Sache mit dem Sex", Yuri straffte seine Haltung tapfer, "ich bekomm jetzt schon kein Bein auf den Boden, aber, also, ich bin bereit, ihn mir reinstecken zu lassen." Er atmete tief durch. "Ich meine, ich kann's ja nicht einfach ablehnen, weil sich mir bei der Vorstellung schon die Fußnägel hochrollen, oder? Könnte ja doch irgendwie galaktisch oder was auch immer sein! Auch wenn die ganzen Vorbereitungen wirklich peinlich sind. Außerdem hattest du schon eine richtige Freundin! Da sind Standards ja gesetzt, ist mir klar! Wenn man jemanden mag, dann zieht man auch das volle Programm durch! Ehrensache." Otabek lauschte diesem Halbsätze-Stakkato mit wachsender Verblüffung. Die sich in Ärger wandelte, Ärger über sich selbst. "Du sagst mir, dass du bereit bist, Analsex auszuhalten, weil es so üblich ist?", erkundigte er sich betont sachlich. "Genau", nickte Yuri, gezwungen heldenhaft. "Auch wenn es trotz aller Vorbereitungen schmerzhaft ist? Du möglicherweise Verletzungen davonträgst oder im Training beeinträchtigt bist?" Die schlanke Gestalt auf seinem Schoß verspannte sich ein wenig. "Das wird schon nicht so wild werden!", wiegelte Yuri hastig ab, ohne die angestrebte Lässigkeit. "Ist das nicht aber das Ziel? Dass es wild ist?", legte Otabek Stolperfallen aus. "Na ja...schon", zögerte Yuri hilflos. "Du würdest natürlich erwarten, dass ich dir dieselbe Offerte mache, da wir ja beide 'Kerle' und somit gleichberechtigt sind?", rollte der Kasache den Fettnäpfchen-Teppich aus. "Uh...", murmelte Yuri, "also, ich weiß nicht, ob ich... ich meine, ich schaff das, wenn du willst... glaube ich..." "Verstehe. Bist du unzufrieden mit dem, was wir bisher getan haben?" Jetzt war das Minenfeld scharf. "Nein, gar nicht!", protestierte Yuri erwartungsgemäß heftig, "aber es kann ja nicht immer bloß nach mir gehen, oder?! Außerdem bin ich ja ne ziemliche Lusche, haut's mich ständig auf die Planken." Er verstummte, senkte die pochende Stirn auf gastfreundliche Schultern. PEINLICH traf es nicht mal im Ansatz! "Es würde dir auch keine Mühe bereiten, mir oral dienlich zu sein? In den unteren Regionen?", explorierte Otabek scheinbar ungerührt das Explosionsfeld. Yuri zauderte einen Moment. "Das krieg ich schon hin. Mit Übung. Kann ja nicht so schwer sein." Trotzdem würgte es ihn merklich bei der Erinnerung an die praktisch-plastischen Zeichnungen eines Gesundheitsaufklärers. Für eine sehr ungemütliche Weile blieb es stumm, was wenigstens ausreichte, einigermaßen wach zu werden in der einsetzenden Dunkelheit. Der Russe spürte vermehrt den Druck der Fingerspitzen und Handfläche, der muskulösen Arme um seinen Oberkörper, dann kam Bewegung in den dato reglosen Kasachen. "ir müssen nach Hause, sonst fragt Urs sich noch, ob wir unterwegs verloren gegangen sind." "Oh." Enttäuscht und kleinlaut bemühte sich Yuri, auf die Beine zu kommen, die tückischer Weise noch immer klapprig einzuknicken drohten. Dabei hatte er doch etwas gegessen und sich ausgeruht! Zumindest teilweise. Wie unfair! Otabek wich ihm aus, fasste ihn dann unter den Achseln und hievte ihn auf einen unsicheren Stand, hielt ihn erneut eng umschlungen. "Ich wollte das nicht!", stieß er rau in die hellblonde Mähne hervor, "dich so verunsichern!" Verblüfft murmelte Yuri an dem kräftigen Nacken, "aber du kannst doch nichts dafür?!" "Oh doch!", widersprach der Kasache grimmig, von unterdrücktem Zorn galvanisiert, "hätte ich dich wirklich von mir überzeugt, wärst du jetzt nicht so durch den Wind!" Diese Selbstanklage verblüfft kontemplierend antwortete Yuri schließlich, "Beka, das kapier ich nicht." Daraufhin brachte Otabek etwas Distanz zwischen sie, sodass er im Halbdunkel Yuris Gesicht betrachten konnte. "Ich liebe dich, Yuri. Ich bleibe bei dir, ganz gleich, was kommt. Ohne dich gehe ich nirgendwo hin. Das Studium bedeutet mir nichts, und ich habe kein Problem damit, für unseren Lebensunterhalt zu arbeiten. Es ist auch nicht tragisch, wenn ich keine Akkreditierung mehr bekomme. DAS ist meine Entscheidung, für die du nicht verantwortlich bist." Er atmete tief durch. "Und ich begehre dich bis zum Verrücktwerden. Ich will dich umarmen, anfassen, küssen. Was ich nicht brauche, sind anderer Leute Ideen davon, wie wir uns nahe sein können. Für Oral- oder Analsex fehlt mir absolut die Begeisterung." Selbst im Halbdunkel spürte Yuri das Lodern der Flammen in den tiefschwarzen Augen körperlich. Ein Schaudern überkam ihn. "Wenn du es willst, WERDE ich mit dir ausprobieren, was du vorschlägst. Wenn DU es willst, nicht, wenn irgendwer meint, ES gehöre dazu, um Liebe auszutauschen." In der einsetzenden Stille machten sich Yuris Kniekehlen erneut unangenehm bemerkbar. Sie knickten ein, sodass Otabek ihn sanft in eine kniende Position auf den Boden herabließ. "Es ist vielleicht besser, wenn ich dich auf den Rücken nehme und deine Sachen später hier aufsammle", schlug der Kasache beherrscht vor. Yuri blickte zu ihm hoch: Held von Kasachstan, Fels in der Brandung, stoisch, mit Pokerface, voller Talente, Begabungen und Leidenschaften, loyal, liebe- und humorvoll, umsichtig, geduldig. Hinter der Fassade. Plötzlich verspürte er ein unkontrolliertes Zittern, traten ihm Tränen in die Augen, die er schniefend mit den Handrücken abzuwischen versuchte. Seine gesamte Erschöpfung brach sich Bahn, er konnte sich nicht zusammennehmen, hatte nicht mal genug Energie übrig, sich selbst für diese Schwäche zu verfluchen. Rasch ging Otabek vor ihm in die Hocke, kämmte ihm Strähnen aus der Stirn. "Oje!", knurrte er alarmiert, "hast du dir noch eine Erkältung eingefangen?" Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich herum, bot den Rücken an. "Halt dich an mir fest, Yuri. Ich bring dich heim." *~#~* Ein triumphaler Einzug sah ohne Zweifel anders aus. Begleitet vom aufgeregten Grunzen der beiden borstigen Damen eilte Otabek mit seinem Passagier auf dem Buckel in die Hofreite. Er ließ Yuri in der guten Stube erst mal auf die Ofenbank sinken und kletterte hoch in ihre Kammer, um die Hängematte zu präparieren. Unterdessen reichte Urs dem bleichen Russen stark gesüßten Getreidekaffee zum Nippen. Nachdem der Aufstieg mühsam bewältigt worden war, streifte Otabek ohne viel Federlesens die Kleider ab und nötigte Yuri, bloß in Unterwäsche in ihr Lager zu schlüpfen. Er beugte sich über ihn, küsste die klamme Stirn und versicherte, er werde bald bei ihm sein, dann brach er erneut auf, Yuris Rucksack und Rollkoffer zu bergen. *~#~* Selbstvorwürfe mussten warten, beschied sich Otabek streng. Glücklicherweise hatte er seine ANSTRENGENDE Libido fest im Griff, die es trotz allen Verlangens ablehnte, einen körperlich und vor allem seelisch derart geschwächten Yuri zu behelligen. Wenigstens das erbärmliche Schlottern hatte aufgehört, als er unter die Decke geschlüpft war, ihn in der gewohnten Haltung an sich gezogen hatte. Er streichelte durch die hellblonden Strähnen, löste Verklettungen und summte beruhigend, besänftigend. Was war nötig, um Yuri über alle Zweifel hinweg zu überzeugen, dass er an seiner Seite bliebe? Welches Zauberwort musste er finden? Welche Geste brachte die Garantie? *~#~* Yuri erwachte allein, dem Schimmer durch das Fensterchen zu urteilen, am späten Vormittag, eingehüllt in einen alten Sweater von Otabek. An einen Balken direkt in seiner Blickachse hing gepinnt eine Nachricht: [Schon dich bitte. Ich komme so früh wieder, wie ich kann. Beka] Sparsam wie stets, doch die Verwendung seines Kosenamens als Unterschrift zauberte winzige Rosen auf Yuris blasse Wangen. Vorsichtig erprobte er seine Glieder. Etwas steif, aber kooperationsbereit. Langsam setzte er sich auf. Gut, keine Seekrankheit, auch wenn seine Zunge wie ein altes Fensterleder quer in seinem Hals zu hängen schien. Zu hängen schien auch sein Magen, nämlich irgendwo auf Höhe der Knöchel, weshalb er nun lautstark auf seine Befindlichkeit aufmerksam machte. Vorsichtig entkletterte der Russe ihrem gemeinsamen Lager. Der Rollkoffer war ausgeweidet. Man musste annehmen, dass der stets umsichtige Kasache schon eilig im Morgengrauen die Schmutzwäsche geborgen, eingeweicht und im Trockenraum geflaggt hatte. Er streifte den Sweater ab, gönnte sich am Waschtisch eine Katzenwäsche und prüfte die eigene Mähne. Tja, da würde er wohl in den sauren Apfel beißen müssen ("jaja, Hunger, ich weiß, Geduld, klar?!") und an der Pumpe eine Haarwäsche absolvieren. Aus dem Rucksack barg er das kleine Samentütchen, das er Urs mitgebracht hatte. Damit sollte man eine robuste Kürbissorte ziehen können. Yuri verließ die Kammer, in einen alten Trainingsanzug gekleidet, Otabeks Sweater darüber, und hoffte auf eine richtige Mahlzeit, um Kräfte zu sammeln. *~#~* Man war erschrocken, natürlich. Die Rizzis vermissten den Gast beim Mittagessen. Christophe, der vorbeikam, weil Victor sich versichern wollte, dass sein schwieriger Schützling heil angekommen war, zeigte sich bestürzt darüber, wie fragil Yuris Zustand zu sein schien. Außerdem stapelten sich im Büro der ISU derzeit mal wieder Geschenke, die Yuri-Angel diskutierten sich die Köpfe heiß über den zweiten Japan-Ausflug ihres Idols und man wollte eine Bestätigung, dass die Auftritte in den Nachtclubs stattfanden. Otabek arbeitete mit disziplinierter Gründlichkeit die Anfragen ab, ohne dabei seine Lohntätigkeit zu unterbrechen. Er verstand es als Sühne für seine Leichtfertigkeit. Möglicherweise hätte er unmissverständlicher sein sollen. Andererseits war Yuri gerade erst 18 Jahre alt. Wie viel Druck mehr könnte er verkraften? Würde er sich nicht in die Enge getrieben fühlen? Machte er selbst sich nicht schuldig, die prekäre Situation auszunutzen, wenn er zu öffentlich wurde? Zuvorderst musste sein Zustand stabilisiert werden! Dann würde man weitersehen, gemeinsam. *~#~* Yuri hatte sich am Ortsrand, dem Aufstieg zum Berg, positioniert. Da ihm herumsitzen nicht lag, absolvierte er einige gymnastische Übungen, verärgert darüber, wie rasch sich gewohnte Leistungsfähigkeit in Wackelpudding verwandelte, wenn man nicht täglich das volle Pensum durchzog. Er schüttelte gerade die Glieder frei, als er den Kasachen zwischen den Häusern erblickte, im Sturmschritt, sein Wort haltend, so schnell wie möglich zu ihm zurückzukehren. Mit einem hilflosen Grinsen blockierte Yuri den Weg, verabschiedete jede kecke Pose. Er konnte das Blitzen in den tiefschwarzen Augen sehen, dann beschleunigte Otabek noch, zog ihn stürmisch in seine Arme. Bevor er eine bemüht launige Bemerkung über diesen Empfang aussprechen konnte, küsste ihn der Ältere bereits, verlangend, ausgiebig. Yuri hielt mit, so gut er es vermochte, auch wenn definitiv mehr Übung angezeigt war. Schließlich, da sie beide taumelten und sich südliche Regionen pochend meldeten, unterbrachen sie ihre nonverbale Kommunikation widerwillig. Dem besorgten, inspizierenden Blick des Kasachen ausgeliefert murmelte Yuri verlegen, "mir geht's schon besser." Erneut wurde er umarmt, gestreichelt, seine Wange, sein Nacken, sein Schlüsselbein mit Küssen verziert. Das war etwas einschüchternd, man konnte es nicht leugnen. Seine Reaktion schien auch Otabek nicht zu entgehen, der sich wie am Vortag mit einem merklichen Ruck von ihm zurückzog, durchatmete, eine schmerzliche Grimasse zog. "Ich bin so was von un-cool, hm?" Im Reflex streckte Yuri die Rechte aus, streichelte über das markante Gesicht. "Ich liebe dich", entwischte ihm leise eine profunde Erkenntnis. Prompt presste er hastig die dünnen Lippen zusammen, verschwand eilig hinter dem Haarvorhang, doch so gelang ihm kein Entkommen vor Otabek, der einfach die Mähne teilte, ihren Größenunterschied ausnutzte und die Katzenaugen auf sich fokussierte. Er lächelte. "Danke, Yuri", raunte er zärtlich, küsste ihn hauchzart auf die Lippen. Dann trat er zurück, einen demonstrativen Schritt, streckte die Hand aus. "Lass uns ein paar Schritte gehen, ja?" *~#~* Auf halber Höhe, am Wegrand, wartete eine einfache Bank, den Wandernden den Blick auf das Tal zu ermöglichen. Otabek nahm rittlings Platz, gestikulierte Yuri, es ihm gleichzutun. Er fasste beide Hände des Russen, hielt sie fest, blickte in die grünen Katzenaugen, die so langsam ihren Rotstich verloren. "Yuri, ich bitte dich um Entschuldigung. Es tut mir sehr leid, dass ich so selbstherrlich gewesen bin." Der Russe blinzelte überrumpelt. "Aber das bist du gar nicht! Im Gegenteil, du ziehst mich ständig vor! Also sollte ich mich besser entschuldigen!" Auf Otabeks Gesicht zeichnete sich ein grimmiger Zug ab. "Würde das zutreffen, hätte ich mit dir darüber gesprochen, was ich mir vom Leben erhoffe. Wie ich mir unsere Zukunft vorstelle. Aber das habe ich nicht." Erwartungsgemäß war Yuri so einfach nicht der Wind aus den Segeln zu nehmen. "He, du hast mir gesagt, dass wir zusammen bleiben! Du hast dich immer um alles gekümmert! Also stimmt das so nicht! Überhaupt, du bist immer viel zu nett zu mir!", ergänzte er entschlossen. Otabek grimassierte. "Wenn ich immer nett zu dir wäre, würde ich dich nicht ständig anfallen wollen! Abgesehen davon", er atmete tief durch, "habe ich nicht bedacht, dass wir beide eigentlich keine Ahnung davon haben, wie eine familiäre oder eine Liebesbeziehung richtig funktioniert." Yuri starrte ihn an, zum Widerspruch bereit. Dann aber schloss er den Mund wieder, überprüfte die Feststellung auf ihre Stichhaltigkeit. "Du hast recht!", murmelte er endlich, erstaunt, "wir haben die meiste Zeit ja im Trainingscamp verbracht. Wenn man es richtig bedenkt, haben wir wohl echt keine Ahnung, oder?" Ihm antwortete ein scheues Lächeln. "Das glaube ich auch. Deshalb sollten wir darüber sprechen, wie wir das angehen wollen. Als Freunde haben wir uns ja schon bewährt. Wie wollen wir als Paar leben?" "Uhm..." Yuris ratlos-verlegener Ausdruck entlockte Otabek ein ungewohntes Kichern, das in ein Schmunzeln überging. "He!", rief diese Reaktion die Wildkatze auf den Plan, "gib mir wenigstens nen Moment, mir was Schlaues auszudenken, ja?!" "Sogar mehr als einen Moment", Otabek initiierte einen Nasenkuss, "möglichst ein ganzes Leben." Ihm wehte rasch die hellblonde Mähne ins Gesicht. "..boah, ehrlich, Beka... du kannst Sachen raushauen", grummelte es verlegen in die Peripherie. Der Kasache verzichtete auf eine Entschuldigung, denn sie wäre nur vorgeschoben, da er tatsächlich meinte, was er sagte. "Also", Yuri räusperte sich, straffte die schmalen Schultern, "ich find's schon ziemlich genial, wie's zwischen uns als Freunden läuft. Es ist auch okay, dass wir, na ja, zur Sache kommen, wenn wir allein sind." "Ich bin allerdings ziemlich besitzergreifend!", warnte Otabek, "du hast vielleicht keine ruhige Minute mehr." Ein aufgeschreckter Blick fing sein Gesicht ein. "Aber nicht vor Leuten, oder?! Ich meine, wenn wir unter uns sind, kein Problem, aber ich will nicht so ne blöde Show wie der alte Sack abziehen, ja?! So kitschiges Rumgeturtel mit Tiernamen, voll peinlich!" Otabek lachte, aber in den tiefschwarzen Augen tanzte mehr als ein mutwilliges Funkeln. "Wenn wir allein sind, hast du aber nichts gegen kitschiges Rumgeturtel mit Tiernamen?", neckte er. Die grünen Katzenaugen sprühten Funken. "Doch, schon! Dann komm ich mir nämlich verarscht vor, klar?! Ich mag's, wenn du direkte Ansagen machst, ohne Geschwurbel und Zuckerguss! Ich bin schließlich keine Tussi, die man mit Süßholzraspelei bei der Stange halten muss!" Der Kasache drückte die schmalen Hände mit den langen Fingern bestätigend. "Einverstanden. Klare Ansagen. Ab sofort auch miteinander reden, statt selbstherrlich etwas anzunehmen." Yuri zog eine Grimasse. "Hör mal, Beka, du hattest ja keine Wahl, weil ich eben meinen Kram nicht auf die Reihe gekriegt habe, in Ordnung?! Aber jetzt reiße ich mich zusammen und bringe meinen Teil ein!" Er lehnte die Stirn an Otabeks. "Ich will mit dir zusammen sein, Beka. Ich mag den Sex, den wir haben. Ich will gleichberechtigt mit dir für unseren Unterhalt sorgen. Ich will mich bessern." Der Atem des Kasachen streifte sein Gesicht. "Ich finde dich schon perfekt du selbst", raunte Otabek, "ich stimme mit dir überein. Darf ich jetzt über dich herfallen?" "Was?! Beka, ehrlich...!" Ein tiefschwarzes Zwinkern, dann erstickte Otabek weitere Diskussionspunkte versiert, löste ihre Hände voneinander, um Yuri enger an sich zu ziehen, unter dem Trainingsanzug und seinem alten Sweater auf Feldforschung zu gehen. Yuri keuchte, schob die eigenen Hände unter das T-Shirt des Kasachen über die breiten Schultern, um sich festzuhalten. Er genoss es, sich mitreißen zu lassen, verbannte den lächerlichen Stolz, der verlangte, er möge auch zur Attacke übergehen. Blödsinn! Wenn er Otabek antwortete, waren sie ja wohl auf gleicher Höhe, oder?! Er schlang die dünnen Beine um die Hüften des Kasachen, der ihn mit begehrlichen Zärtlichkeiten eindeckte. Eilig mussten Hosen justiert werden, aber wen konnten sie hier schon stören? Gemeinsam verausgabten sie sich in einem doppelten Feuerwerk, vor geschlossenen Augen und am Gürteläquator. *~#~* Dass es mit seinen Reserven noch nicht zum Besten stand, erkannte Yuri, als ihm beim Abendessen beinahe die Augen zufielen. Otabek nickte Urs zu, der erleichtert zwinkerte. Inzwischen waren ihm seine beiden Untermieter wirklich ans Herz gewachsen und er sorgte sich um sie beide. "Gehen wir schlafen", gab der Kasache sanft den Anstoß, "ich nehme die Becher." "Dann hol ich noch Wasser", entschied Yuri, rappelte sich auf, "ach, die Wäsche!" "Nichts da, geh bitte vor und mach unser Bett, ja?", blockierte Otabek ungeniert den Weg. Yuri streckte ihm die Zunge raus, schickte sich aber drein, einigermaßen trittsicher die Stiege zu erobern. Natürlich half Otabek auch bei der Montage der Hängematte, bevor er geschwind Wasser holte. "Aber morgen!", drohte Yuri an, rang mit einem Haargummi, morgen würde er aber so was von der Hälfte der Hausarbeit übernehmen! "Ist gut." Otabek küsste ihn zärtlich auf die grimmig gekräuselten Lippen, huschte vorbei, Zähne polieren, in eine alte Trainingshose schlüpfend. Die Beißer gereinigt und in ein ausgeleiertes T-Shirt samt schlabbrigen Hosen gewandet kroch Yuri zu ihm in die Hängematte. Sofort arrangierten sie sich beide in der gewohnten Position, drückte Otabek einen Kuss auf Yuris Stirn. Der rutschte temporär etwas höher, um dem Kasachen auf die Lippen zu diktieren, dass sie ja nun auch ein Paar waren und er deshalb SO geküsst werden wollte. Zusätzlich, selbstverständlich! "Schlaf gut, Yuri", raunte Otabek ihm amüsiert auf den Schopf, kraulte sanft, in hypnotischer Gelassenheit den zarten Nacken. "Du auch, Beka", es klang sehr nach müdem Krieger, und nur wenige Atemzüge später schlief der jüngere Russe schon fest. Otabek selbst dachte, während er leise summte, über den Tag nach. Wenn seine Vermutung stimmte, würde sich mit der seelischen Konstitution auch Yuris körperliches Befinden rasch bessern. Dass sie einander über alles zugetan waren, daran gab es keine Zweifel mehr, doch er musste auch daran denken, wie die Zukunft aussehen sollte. Sie konnten im gegenwärtigen Zustand nicht ewig verharren. Ihre Situation war noch fragil, konnte leicht aus dem Gleichgewicht geworfen werden. Ein Mehr an Sicherheit musste her! *~#~* Yuri erledigte rasch die digitale Post, ließ eine harsche Ermahnung von Victor über sich ergehen, der es gar nicht goutierte, welcher Eindruck von seinen Managerfähigkeiten entstand, wenn sein Schützling jedes Mal halbtot aus dem Flieger fiel! Dann brach er auf, bei den Rizzis zum Mittagessen zu erscheinen. Gut erholt, denn selbstredend hatte Otabek ihn nicht nur schlafen lassen, sondern auch noch die Wäsche abgehangen und zusammengefaltet, bevor er aufgebrochen war. "Schummler!", kommentierte der Russe diesen Liebesdienst, aber sehr leise. Otabek war eben wirklich zu nett zu ihm! Und es war schon ein bisschen peinlich, wie schnell er sich erholte, wenn er wieder bei ihm war. "Juckt mich nicht!", ermahnte er sich selbst, spazierte durch die frühsommerlich erleuchtete Gegend. Wenn man schon liebte, dann zumindest den besten Typen auf der gesamten Welt! Punkt! Als er die Werkstatt betrat, wandte sich Otabek gerade zum Eingang um, den Overall halb geöffnet, die Ärmel um die Taille gewunden. Er lächelte ihn an. Yuri spürte, wie sein Herz einen merklichen Hüpfer hinlegte. Boah, Kitschalarm! Trotzdem! Er hatte noch nie gesehen, dass Otabek bei anderen so freimütig seine Gefühle zeigte. "Hallo, da bin ich", meldete er sich offiziell an, "kann ich mich nützlich machen?" *~#~* Kapitel 19 - Besucher Maria hatte immer ein Auge auf alles, zusätzlich zur Sendeeinheit mit Ohrstöpsel. Aber das hier war nicht irgendeine Tanzbude, sondern ein exklusiver Club. Die Gäste wollten sich gesittet amüsieren, keine Streitereien mit Betrunkenen oder anderweitig unmanierlichen Zeitgenossen. Keine Belästigungen, keine Aufdringlichkeiten. Sie behielt auch die Go-Go-Girls und -Guys im Blick. Die sorgten für Stimmung, animierten aber auch, selbst die Tanzfläche zu betreten, ausgelassen zu sein, selbst wenn man nicht unbedingt eine perfekte Figur abgab. Außerdem waren sie Anziehungspunkte für die, die nicht als Pärchen kamen, selbstverständlich auf kameradschaftliche Weise. Anschauen, ja, anfassen, nein. Um die Mädels scharten sich erwartungsgemäß die Herren, aber um die beiden Go-Go-Guys nicht ausschließlich Damen. Benno, zwei Meter Hüne, gebaut wie ein Fahrtenschwimmer, mit dem Gemüt eines Buddhas, lächelte alle freundlich an, bewegte sich so lässig, als spiele es gar keine Rolle, was irgendwer denken könnte, freute sich still vor sich hin, wenn sich viele um sein Podest gruppierten. Er flirtete nicht. Maria hegte berechtigte Zweifel, dass er eine Notwendigkeit erkannte. Er mochte einfach gut gelaunte Menschen um sich herum. Was ihn eigentlich zu gewisser Dissonanz mit ihrem zweiten Animateur hätte bringen müssen, Yuri Plisetsky, vielfacher Titelträger im Eiskunstlauf, überschlank, extrem beweglich und mit der hochherrschaftlichen Gestik einer Primadonna auftretend. Er scharte Anbetende, Bewundernde um sein Podest, nicht nur weibliche. Wurde man ihm zu persönlich, zu anhänglich, fauchte, blitzte, schimpfte er wie ein Streuner aus dem Hinterhof. Erstaunlicherweise machte das auch einen Teil seines Charmes aus, wie Maria amüsiert konstatierte. Auch der dünne Russe flirtete nicht, im Gegenteil, lehnte ein solches Anersuchen empört ab. Wie aufreizend er sich auch bewegte: das war nicht für die Leute bestimmt, die um ihn herum tanzten! Sondern nur für sich selbst, und natürlich, Maria lächelte, für den kasachischen DJ, dessen tiefschwarze Augen immer wieder den Freund einfingen. *~#~* Yuri nickte Benno zu, der ihm signalisiert hatte, kurz austreten zu wollen, konzentrierte mit lasziven Bewegungen die Augen auf sich. Nun, Balletttraining zahlte sich eben aus, selbst für eher halbseidene Beschäftigungen. Zudem wurde er bezahlt. Er merkte auf, als sich eine Bugwelle an seinem Podest brach. Üblicherweise schenkte er dem Treiben zu seinen Füßen nicht allzu viel Aufmerksamkeit, damit sich nicht irgendwer bemüßigt fühlte, ihm auf den Pelz zu rücken. "He, Yuri!", dröhnte da schon eine unwillkommene Stimme zu ihm hoch. "Ärgh!", grimassierte Yuri wütend hinunter. Was trieb King JJ, den Affenarschangebervollidioten, ausgerechnet hierher?! "Gib mal richtig Gas, Süßer, sonst verlang ich mein Geld zurück!", feixte Jean-Jacques Leroy zu ihm hoch. Da wurde tatsächlich auch noch eines seiner Lahmarschstücke aufgelegt! GRAUENVOLL! Seine dusselige Kuh tauchte auch auf, behängt wie ein Pfingstochse, dazu eine Gruppe der Schnarchsäcke, die aussahen, als würden sie sich "Rockband" schimpfen und dann solch einen grässlichen Murks produzieren! Demonstrativ wandte Yuri ihm den Rücken zu und schloss vor dem Elend seine grünen Katzenaugen. Wenigstens musste er dann den Deppen nicht ansehen! *~#~* Glücklicherweise schien dem depperten Kanadier das Leckbrett aus dem Hals zu hängen, weshalb er mit seiner gesamten Horror-Entourage erst mal ein Separee belagerte, um aufzutanken. Und dann würde er aber SO WAS von IGNORIERT werden! Entschied Yuri grimmig. Außerdem hatte er gleich Pause, Mutter Natur verlangte auch nach ihrem Recht. Benno, der längst wieder gewohnt lässig-beseelt seiner Aufgabe nachkam, ein Welpe mit der perfekten Figur eines Chippendale, winkte zu Yuri hinüber, initiierte eine etwas wildere Trampelei, die entfernt an irische Stepptänze erinnerte. Das Licht über Yuris Podest dunkelte nach, ein Servicemann baute sich auf, damit Yuri von der um die Hälfe abgesenkten Minibühne gleiten konnte. Er schob sich geschmeidig durch die wogende Menge, jeder Zoll Diva, das Kinn hochgereckt, seiner Umgebung demonstrativ keine Beachtung schenkend. So konnte er rasch zum Personalbereich gelangen. Die Blase entleert wusch er sich rasch die Hände, spülte sich den Mund aus und kontrollierte seine Aufmachung. Dämliche Wimperntusche, das Zeug verklumpte trotz aller Werbeversprechen! Und der Lidschatten flüchtete auch schon wieder! Ärgerlich zupfte er Toilettenpapier ab und wienerte sich rücksichtslos über die geschlossenen Augen. Als er sein Spiegelbild begutachten wollte, wuchs feixend Jean-Jacques Leroy hinter ihm aus dem Boden. "Na, Prinzesschen, bisschen Nase pudern?" Der jüngere Russe pirouettierte ansatzlos, fauchte giftig. "Verpiss dich bloß wieder in den Club, klar?! Das ist hier nur fürs Personal!" "Uh, Süße, so zickig wie immer!" King JJ grinste noch breiter, strich uneingeladen durch Yuris offene, hellblonde Mähne. "Aber ich seh schon, dir gefällt deine neue Karriere, hm?" "Wichsgriffel weg!" Blitzartig packte Yuri die Hand und verdrehte sie exakt so, wie Maria es mit ihnen allen trainiert hatte. "Begrapsch deine Ische, du Taktophiler!" Während der Kanadier ob es Schmerzes zischte und sich wand, erschien Maria höchstpersönlich, mit sphinxenhaftem Gesichtsausdruck und unerschütterlicher Selbstsicherheit. "Sir, ich muss Sie ersuchen, augenblicklich den Personalbereich zu verlassen. Außerdem ist das Berühren unserer Mitarbeiter untersagt." "Wir sind alte Freunde", grimassierte JJ gequält, bevor Yuri ihn mit einem abschätzigen Zungenschnalzen freigab. "Sir." Maria konnte in eine Silbe zugleich Drohung und Souveränität legen. Sie warf einen kontrollierenden Blick auf den aufgebrachten Russen, der das spitze Kinn noch höher reckte, demonstrativ die hellblonde Mähne wie einen Umhang herumwarf und ihnen den Rücken zukehrte, um sein Makeup zu renovieren. Demission erteilt, ganz die Diva. "Tja, mach's gut, Pussykätzchen, auf dem Eis treffen wir uns ja nicht mehr!", griente JJ und stakste, heimlich die Rechte massierend, unter dem unerbittlichen Starren der Sicherheitschefin zurück in den Club. Yuri wartete einen Augenblick, bis sich sein Temperament auf zivilisierte Ebene abgekühlt hatte, streckte sich dann selbst im Spiegel die Zunge heraus. "Widerliches Arschloch!" Aber er spürte einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge. *~#~* Kaum stand Yuri wieder sicher auf seinem Podest, "frisch lackiert", wie er es nannte, da änderte sich die Musik, und mit ihr das Beleuchtungsorchester. Ein aggressives, gutturales Fauchen ertönte, ein Bassrhythmus setzte ein, verschleppt, fast träge. Eine dunkle Stimme summte Silben, man hörte ihren Atem, einen Herzschlag, ein angedeutetes Ächzen und Stöhnen. Yuri starrte im Halbdunkel ungläubig zur Kanzel, in der Otabek seines Amtes als Hohepriester der Atmosphäre waltete. Er KANNTE diese Stimme! "Verdammt, Beka", murmelte Yuri, senkte die Lider und bewegte sich zu dieser aufrührerischen, lasziven Melodie. Ein Dialog mit einem stummen Partner, der umworben, becirct, massiv belagert, mit Begehren und Lust konfrontiert wurde. Man inhalierte förmlich das Verlangen, die Erregung, den beschleunigenden Pulsschlag, ohne tatsächliche Worte, nur mit dieser sonoren, gutturalen Stimme, die alles transportierte. Um sich herum registrierte Yuri auch Keuchen und Ächzen, weil sie alle durchdrungen waren von diesen Empfindungen, aufreizend, herausfordernd. Hier ging es nicht um einen bloßen Striptease, einen unverfänglichen Flirt, nein, diese Stimme wollte erobern, ergreifen, Leidenschaften ausleben, nicht leise, sondern vernehmlich, ungeniert, ungefiltert! Keine Schmeichelei, kein spielerisches Tändeln. Direkt und unmissverständlich. Yuri bewegte sich mit geschlossenen Augen zu dieser Melodie, die er erkannte, als sei sie schon immer Bestandteil seines Lebens gewesen, dabei hörte er sie zum ersten Mal. So geschickt arrangiert, dass man sich allein mit ihr glaubte, versucht, verführt wurde, sich fallen, verschlingen, einverleiben ließ. Er keuchte selbst, als man erneut die Raubkatze hörte, ein zufriedenes Fauchen, satt, triumphierend. Als habe sie nicht nur den Vogelkäfig geplündert, sondern auch noch das gesamte Aquarium geleert. *~#~* "Irre! Die haben echt applaudiert und gepfiffen, als wäre es ein Live-Konzert!" Yuri wandte sich herum, strahlte Otabek an, der gerade die Umkleide betrat. Ihn schien die aufgewühlte Reaktion jedoch nicht sonderlich zu kümmern, vielmehr legte er die Hände um Yuris Gesicht, studierte ihn ernst. "Hat er dir was getan?!" Der Russe stutzte, zog die Stirn in Falten. "Was...oh, der Blödarsch?! Er hat in meine Haare gelangt, aber dank Marias Kampfgriff wird er seine Pranke wohl ne Weile spüren!", führte Yuri mit süffisanter Befriedigung aus. In den tiefschwarzen Augen blitzte es unheilvoll. Und Yuri ging ein ganzer Kronleuchter auf. "Moment mal, Beka!" Er legte unwillkürlich die Hände auf die muskulösen Oberarme des Kasachen. "Du hast doch nicht etwa diese absolut heiße Nummer abgezogen, weil du eifersüchtig auf den Arsch warst, oder?!" Otabek hielt dem grünen Katzenaugenblick mit gewohntem Pokerface stand. "Tatsächlich beanspruche ich das Vorrecht für mich allein, deine Haare berühren zu dürfen", antwortete er unaufgeregt. Nach einem Wimpernschlag der Entschlüsselung prustete Yuri heraus, "du bist echt eifersüchtig?! Dabei weißt du doch, dass ich den Affenarschangebervollidioten nicht leiden kann!" Die kraftvollen Hände des Kasachen verlegten sich von seinen Wangen auf seinen Schopf, streichelten zärtlich die seidigen Strähnen. Den Kopf leicht auf die Seite neigend zwinkerte Yuri amüsiert. "Au Backe, was fang ich bloß an, wenn ich kahl werde?!" "Dann", Otabek streckte sich dezent, küsste Yuri auf die Stirn, "wird es mein alleiniges Recht sein, deine Glatze zu polieren und zu liebkosen." Er formulierte so knochentrocken, dass es staubte, doch in den Mundwinkeln kräuselte sich ein winziges Grinsen. Yuri zog eine Grimasse, platzte dann aber lachend heraus und lehnte seine Stirn an die des Kasachen. "Soll mir recht sein, du Heimlichtuer! Aber jetzt verrat mir mal, wann du diese Nummer aufgenommen hast! Und gibt es noch mehr?!" *~#~* In den frühen Morgenstunden waren nur noch andere Nachteulen oder Frühschichtler unterwegs. Zu Otabeks stiller Freude ergriff Yuri aber selbst seine Hand, verschränkte ihre Finger miteinander. In seinen Trainingskleidern wirkte er, die Kapuze über den Schopf geschoben, ganz sicher nicht wie der aufreizende, wilde Phantasien anregende Tänzer aus einem exklusiven Nachtclub. "Was ist los, Yuri?", erkundigte sich der Kasache leise. Neben ihm grimassierte der Jüngere nachsichtig. Wie gelang es Beka bloß immer, seine Stimmung zu erkennen?! "Na ja, der Blödarsch hat so etwas angedeutet", er schnaubte, um sich eindeutig zu distanzieren, "nach dem Motto, wir wären beide schon raus. In Rente. Ex." Wusste der Kanadier vielleicht mehr als sie? "Reines Wunschdenken", parierte Otabek entschieden. Yuri war in hervorragender Form, der einzige Eiskunstläufer, der alle fünffachen Sprünge sicher beherrschte, dazu elegant, leidenschaftlich und risikofreudig. NIEMALS wäre es schon vorbei! "Aber wenn doch..." Abrupt blieb er stehen, legte einen herrischen Finger auf die dünnen Lippen, funkelte mit lodernden Stichflammen in die grünen Katzenaugen. "Es ist noch längst nicht zu Ende", knurrte er grimmig. Yuri blitzte zurück, teilte die Lippen leicht und bestrich den siegelnden Finger mit der Zungenspitze, so herausfordernd lasziv, dass Otabek merklich schluckte. "Warum genießen wir nicht rasch noch die Aussicht?", schnurrte der Russe aufreizend. Ihre Sitzbank wäre bestimmt um die Zeit frei, und er wünschte, noch einmal persönlich Otabeks Stimme mit dieser gemeingefährlich-verlangenden Begierde zu hören! *~#~* Otabek ließ sanft die Finger durch die hellblonden Strähnen gleiten, lauschte den tiefen Atemzügen an seiner Brust. Yuri schlief noch, eng an ihn geschmiegt, sehnig-schmal, eingerollt, dass man ihren Größenunterschied gar nicht bemerken konnte. Nachdem sie ein sehr intensives Abschlussfeuerwerk auf der Sitzbank hingelegt hatten, waren sie erhitzt, aber auch befriedigt auf Urs getroffen, hatten ihre morgendlichen Pflichten erledigt, mit ihm gefrühstückt und frönten nun einem dekadenten Nickerchen nach der durchfeierten Nacht. Ihr Vermieter zeigte sich diesbezüglich verständnisvoll, denn was von außen wie eine lästerliche Freizeitaktivitäten wirken musste, bedeutete für sie beide Arbeit und Einkommen. Erholung musste sein, immerhin trainierten sie auch noch auf hohem Niveau, Frühsommer hin oder her! Er spürte, wie sich eine kleine Falte zwischen seine ausdrucksstarken Augenbrauen grub. Jean-Jacques Leroy. Man hätte natürlich ein wenig Mitleid empfinden können, weil die Umstände sicher nicht leicht waren, in einer erfolgreichen Eiskunstlauffamilie aufzuwachsen, bedrängt von talentierten Geschwistern, angetrieben von sehr hohen Ansprüchen an sich selbst, aber der Kerl rief bei ihm definitiv ALTTESTAMENTARISCHE Gefühle hervor. Weil der eingebildete Fatzke es einfach nicht lassen konnte, Yuri hinterherzusteigen! Möglicherweise begriff er es selbst gar nicht, aber seine ständigen, unangebrachten Aufmerksamkeiten bewiesen ein ZU VIEL an Interesse! Zumindest in Otabeks tiefschwarzen, nun zornig funkelnden Augen. Er atmete bewusst konzentriert durch, um die merkliche Verspannung zu vertreiben, streichelte die seidigen Strähnen, die so wenig mit seinem eigenen, fast borstig zu nennenden Schopf gemein hatten. Er trug die Verantwortung, weil er Yuris seelischer Anker war. Zwangsläufig, aus ethischen Gründen hatte er sich deshalb strenge Zügel anzulegen, sich stets darauf zu prüfen, nicht den eigenen Vorteil vor das Wohlergehen seines Freundes zu stellen. Was sich, er grimassierte in der Abgeschlossenheit ihrer Kammer, als sehr viel anspruchsvoller erwies, als er angenommen hatte. Dabei glaubte er doch, über eine strikte Disziplin und enorme Selbstbeherrschung zu verfügen. Pustekuchen! "..hmmm, Beka", murmelte Yuri unterdessen, löste die Linke von seinem Brustkorb und rieb sich kindlich die Katzenaugen. "Wieder wach, mein Freund?" Otabek hob den Kopf, küsste gewohnt die Stirn des jüngeren Russen. Ein leises Ächzen antwortete ihm, dann wurde er energischer bekuschelt. "Müssen wir gleich aufstehen?" Otabek lächelte und kraulte sanft den zerbrechlichen Nacken. "Was schwebt dir denn vor?", erkundigte er sich neckend. Yuris Linke legte sich auf seine Wange, während der jüngere Eiskunstläufer sich streckte, an ihm hochschob, damit ihre Gesichter auf gleiche Höhe kamen. Noch immer vorsichtig, gehemmt, tanzten die Fingerspitzen über seine markanten Züge, als sei er eine fragile Kostbarkeit, die nur mit Ehrfurcht und höchster Achtsamkeit berührt werden durfte. Der Kasache umfasste sie mit seiner Rechten, platzierte Küsse auf jede empfindsame Spitze. Beschleunigender Atem streifte über sein Gesicht, merkliches Verlangen rötete sehr dezent die sonst so blassen Wangen des Russen. "Oje", rasch den Kopf wegdrehend und in Otabeks Halsbeuge verbergend stöhnte Yuri leise, "ich bin total verknallt in dich!" Das entlockte Otabek ein hörbares Schmunzeln, als er sich räusperte. "Dann haben wir ja noch eine Gemeinsamkeit, Yura." Aufmerksam registrierte er jede Regung, gespannt darauf, ob ihm dieser intime Kosename einen Tadel einbringen würde. Stattdessen jedoch glitt Yuri der Länge nach auf ihn, versetzte ihr Hängemattenlager in leichte Schwingungen. "Ich will immer mit dir zusammen sein, Beka", wisperte er ihm verlegen-entschlossen ins Ohr, "ich werd an dir kleben wie ne Zecke!" Nun konnte Otabek nicht anders als laut aufzulachen. "Soll mir das Angst machen, Yura?", riskierte er sein Glück selbstsicher, "wo willst du dich denn festbeißen?" Herausgefordert kannte Yuri genau die Stelle, die solche Frechheiten nachdrücklich unterband und seine unumstößlichen Absichten demonstrierte. Außerdem hatte er seine Zungenfertigkeit enorm gesteigert, was es zu beweisen galt! *~#~* Yuri entschied, den Sonntag nicht mit Sorgen, Befürchtungen, Bedenken und Notwendigkeiten zu verhunzen. Der Alltag kam schließlich schnell genug! Es schien ihm kaum begreiflich, dass er erst vor kurzem wieder halbtot aus Japan zurückgekehrt war, denn gerade fühlte er sich, als könne er Bäume ausreißen! Was er selbstredend ablehnte, soweit sie ihn nicht zuerst attackierten. Dorli und Lotti jedenfalls hatten Bäume gern, kleine, noch feuchte Senken für ein ausgedehntes Schlammbad, viel zu erzählen und zeigten sich trotz ihres Alters agil und neugierig. Hatten sie für den Moment genug ausgekundschaftet, machten sie es sich schnaufend bequem und legten ein Päuschen ein. Eine gute Gelegenheit, ihrem Beispiel zu folgen, sich einen gemütlichen Platz zu suchen, Otabek auf den Schoß zu klettern und ihm seine Aufwartung zu machen. Yuri wunderte sich darüber, wie er so lange nicht wirklich (im wahrsten Sinne des Wortes) begreifen konnte, was Otabek Altin ausmachte! Dabei hatte er ihn doch so oft gesehen, sogar mit ihm gelebt, auf engem Raum! Aber erst jetzt verstand er wirklich, bis unter die Haut, ins Mark seiner Knochen, in jede einzelne Zelle hinein, wie umwerfend, überwältigend, attraktiv und atemberaubend sein Freund war! Der nun lächelte, ganz offen, ein Anblick, den er anderen Leuten nur selten gewährte. "Was?" Yuri zog sich ein wenig zurück, um nicht schielen zu müssen. Er schmiegte sich in die kraftvolle Hand, die seine Wange umfing. "Du verwöhnst mich", löste Otabek mit seiner so angenehm sonoren Stimme das Rätsel. "Stimmt nicht!", wies Yuri sofort diese Unterstellung zurück, "ich bedien mich bloß schamlos an dir!" Schnaubend ergänzte er, "ich habe früher nie kapiert, was außer für Kannibalen an 'vernaschen' ein so tolles Konzept sein soll, aber jetzt bin ich schlauer!" Weil Otabek lecker roch, schmeckte, sich anfühlte, viel mehr an Sensationen und Eindrücken vermittelte, als man durch bloßes Ansehen und Anfassen zu erkennen glaubte. Er liebte auch das leise Lachen, dunkel, unverfälscht, aus der Magengrube heraus. "Nun, es bleibt in der Familie", raunte ihm der Ältere zärtlich ins Ohr, "ich will dich nämlich auch vernaschen, Yura." Unwillkürlich entwich Yuri ein hingerissen-sehnsüchtiges Ächzen. Er mochte den Kosenamen, den Otabek ihm erst seit kurzem zugestand, sich selbst erlaubte, ein wenig die strenge Disziplin zu lockern. Früher hätte es ihn die Wände hochgetrieben, von einem anderen so genannt zu werden. Er hätte es sich selbst als unverzeihliche Schwäche ausgelegt. Auch der Umstand, abhängig zu sein von einem anderen, ganz gleich, wie sich seine Situation als Jugendlicher dargeboten hatte, wäre regelmäßigen Explosionen seines zugegeben sehr heftigen Temperaments ausgesetzt gewesen. Aber nicht bei ihm. Hier musste er nicht autark, souverän, allem gewachsen, unbeeindruckbar, stark, selbstsicher sein! Selbst in seinen elendsten Momenten war Otabek nicht gewichen. "Ich liebe dich, Beka", raunte er mit heftig klopfendem Herz, drückte zur Bekräftigung einen Kuss auf die zarte Haut zwischen Ohrläppchen und Hinterkopf. Muskulöse, vertraute, sichere Arme umschlangen ihn. "Ich liebe dich auch, Yura", antwortete ihm sein bester Freund, Gefährte, Mit-Krieger. Sein Liebster. *~#~* "Oh, ich wär so gern dabei gewesen!", bekundete Christophe lautstark, während er sich am frühen Abend auf dem Sportgelände dehnte. Nach einem Guss aus heiterem Himmel wirkte die Luft angenehm frisch und prickelnd. Otabek, der neben ihm an einem Trenngatter seine Oberarmmuskeln trainierte, ließ sich keine Gemütsregung anmerken. "Selbst in den Zeitungen wurde die Clubnacht erwähnt!", plauderte der Schweizer angeregt weiter, "ich glaube, bei jedem anderen wäre nach DER Nummer die Hütte zerlegt worden, aber du hast wirklich ein geniales Gespür!" Der Kasache, nun jeweils einen Fuß hochlegend, um sich vorsichtig zu dehnen, zuckte knapp mit den Schultern. "Das macht die Übung. Ich trage nun mal die Verantwortung." Wenn man absichtlich (und durchaus rachsüchtig) so eine aufgeladene Stimmung erzeugte, musste man auch für die Folgen geradestehen. Er hatte sie geübt gemeistert, indem er Raum und Gelegenheit ließ, die aufgestaute Spannung mit viel Bewegung auszutoben, die Energie rauszulassen, die Emotionen auf ein gesellschaftstaugliches Niveau runterzukühlen, das entspannt-fröhlich-zufriedene Clubbesuchende in die Nacht verabschiedete. "Kaum eine Erwähnung von King JJ. Er wird so was von angepisst sein!", grinste Christophe, begrüßte seine Zehenspitzen aus dem Stand, durchaus ein wenig gehässig. "Hab gehört, er wäre Yuri nachgestiegen?", wedelte er metaphorisch mit einem saftigen Gerücht. Otabek biss, wie leider zu erwarten stand, nicht an, verzog keine Miene. "Hätte er mal besser gelassen", lachte Christophe, der sich trotzdem bestätigt sah, auch ohne das Aufblitzen der tiefschwarzen Augen sehen zu müssen. Er richtete sich auf, um Yuri zu beobachten, der in einiger Entfernung auf dem nachfedernden Boden Sprünge in die Luft schraubte. Natürlich war der Anlauf weniger Schritte nicht mit der gleitenden Dynamik auf der Eisfläche zu vergleichen, doch der Bewegungsablauf vom Abstoßen bis zur Landung stimmte überein. "Unglaublich!", seufzte er wohlwollend, "sogar auf dem Trockenen schafft er die fünf!", und meinte damit die eng um den sehnig-schmalen Leib geführten Umdrehungen. Sich zu Otabek wendend, dabei Arme und Schultern kreisen lassend wechselte er zurück auf die Erkenntnisse des Morgens. "Als ich die Zahlen gesehen habe, auf der Plattform, ist mir ja die Kinnlade runtergefallen", grinste er, "du schlägst sämtliche anderen Neueinträge! Hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet! Da wird auch die Kasse klingeln." Der Kasache deutete ein Schmunzeln an. Ja, seine Zweittätigkeit als DJ Beka sorgte für ein gewisses Notfallpolster und eine nicht zu unterschätzende Popularität. "Hat Yuri auch ein wenig aufgeheitert", Christophe verschränkte die Arme vor der breiten Brust, die Augen auf den jüngsten Eiskunstläufer in ihrem Bund gerichtet, "dabei war sein Abschlussergebnis gar nicht so übel." Neben ihm beendete Otabek seine Rumpfbeugen. Beim Mittagessen am Tisch der Rizzis hatte er von den Prüfungsresultaten erfahren, weil Yuri durchaus geknickt gewirkt hatte. Den Abschluss konnte er vorweisen, doch der Notendurchschnitt ermutigte nicht gerade, sich für eine akademische Laufbahn zu bewerben. Andererseits musste man die Umstände in Betracht ziehen, und unter diesen Aspekten empfand er selbst Yuris Leistung als durchaus respektabel. Zudem, das zeigte ihm die Erfahrung, waren Abschlussnoten häufig Schall und Rauch. Man konnte und musste auch auf andere Weise überzeugen, wollte man sich durchsetzen. "Leroy hat angedeutet, dass man nicht mehr mit uns rechnet", äußerte er leise. Christophe schenkte ihm einen überraschten Blick. "Also, das kann ich nicht glauben", antwortete er prompt, "Yuri ist in guter Form, das wissen alle. Der russische Verband steht ziemlich unter Druck, weil ohne Yuri die Bilanz für die europäische Sektion ziemlich mau aussieht." Denn es war nicht zu verhehlen, dass sich die Titelanwärter und vielversprechenden Talente im asiatischen Raum tummelten. Die Vier-Kontinente-Meisterschaften galten selbst während der letzten Jahre von Victor Nikiforovs Alleinherrschaft als die tatsächlich vorentscheidenden Wettbewerbe, was die europäische Konkurrenz sehr bedürftig wirken ließ. "Aber in dieser Saison gibt es weder Olympiade noch Universiade", stellte Otabek fest. Das reduzierte das Schlaglicht der internationalen Öffentlichkeit merklich. Der Schweizer widersprach energisch. "Otabek, ihr beide seid ungeheuer populär! Die Werbekampagnen, deine Musik, das geht nicht einfach so unter! Und wenn in Kanada der Prozess beginnt", er grimassierte schmerzlich, "wird man sich auch erkundigen, wie es euch geht. Ihr könnt nicht einfach in der Versenkung verschwinden." Auch wenn das den beiden betroffenen nationalen Verbänden durchaus lieb gewesen wäre. Der Kasache richtete sich auf, die tiefschwarzen Augen auf den blonden Wirbelwind gerichtet, der unermüdlich seine Trainingssequenzen absolvierte. "Welcher Verband wäre daran interessiert, uns aufzunehmen?", erkundigte er sich. Für einen Augenblick stockte die Unterhaltung, denn Christophe erstarrte verblüfft. Seine gewöhnlich so aufgeschlossen-fröhlichen Gesichtszüge nahmen einen besorgten, nachdenklichen Ausdruck an. "Ist das dein Ernst? In so einem Fall gibt es kein Zurück mehr, das weißt du, oder?", antwortete er schließlich leise. Otabek wandte den Kopf zu ihm herum, ruhig, entschlossen. "Ich bin mir der Konsequenzen bewusst", bestätigte er, "aber es wäre kein Präzedenzfall." Nein, es gab tatsächlich hin und wieder Athleten, die ihren nationalen Verband wechselten, was selten ohne lange Verhandlungen, Ablösesummen und gewisse atmosphärische Spannungen ausging. Andererseits konnte kein Verband einen Athleten ohne einen triftigen Grund von der Teilnahme an Wettbewerben ausschließen, schlicht, weil er die Akkreditierung trotz Leistung und Wohlverhalten versagte. Christophe atmete tief durch. "Ich werde meinen Schatz bitten, sich mal umzuhören", verkündete er ernst, "vielleicht hast du recht, Otabek." Der nickte knapp. "Vielen Dank für deine Unterstützung, Chris." Unerwartet und lautstark schaltete sich Yuri ein, krähte zu ihnen herüber, "wollt ihr da ewig Kaffeekränzchen abhalten, oder trainiert ihr alten Säcke auch mal?!" "Na warte!", Christophe rammte die Faust in die freie Hand, "alte Säcke?! Wenn ich dich erwische, Grashüpfer, wirst du meine tödliche Kitzelattacke zu spüren bekommen!" Ihm eine Nase drehend ging Yuri feixend stiften, mit bemerkenswertem Tempo. Der Schweizer warf einen raschen Seitenblick auf den Kasachen. "Schnappen wir uns den Frechdachs!" Otabek zwinkerte, suchte sich dann einen anderen Weg, um den flinken Russen ordentlich in die Enge zu treiben. So konnte man schließlich auch Ausdauer und Reaktionsschnelligkeit erproben! *~#~* Zu aller Überraschung kündigte sich Emil Nekola an, der gern mit seinem Spezl Chris ein paar Bergtouren in die Umgebung unternehmen wollte. Oder auch etwas auf dem Wasser. Mal eine Woche ohne die strenge Aufsicht seines Trainers seinem Bewegungsdrang nachgehen! So umgänglich und gutmütig wie gewohnt schloss sich der Tscheche tagsüber Yuri an, tobte mit ihm und den borstigen Damen herum, schloss Benno ins Herz und erkletterte auch ein Podest, sehr zur Begeisterung der weiblichen Clubgäste. Seine unerschöpfliche Neugierde auf alles zog Yuri mit, der nach dem Ende der Fron an der Prüfungsschlacht und ohne Beschäftigung als Modell tagsüber Freizeit hatte, die man ja nutzen konnte! So lernte er mehr von der nahen Umgebung kennen, als er sich bisher erschlossen hatte, vor allem auch, weil Emil unübertroffen darin war, aus Bekanntschaften Freundschaften zu schließen. Außerdem hatte er aus erster Hand Neuigkeiten von Guang-Hong und Leo, die beide zusammen in Boston trainierten. "Die Kurzen", er zwinkerte Yuri vertraut zu, als sie sich eine Brotzeit gönnten, in luftiger Höhe, "bekommen die Fünfer immer besser hin! Da bin ich echt chancenlos." Yuri, die hellblonden Haare hochgebunden und temporär die Sonnenbrille im Sweatshirt eingehängt, lupfte unter dem ausgedünnten Pony die dünnen Augenbrauen kritisch. "Lässt du das auch deinen Trainer hören?" "Klar!", Emil grinste, zupfte sich am aparten Kinnbärtchen, "wem soll ich da was vormachen? Ich hätte vielleicht auf Speedskating umschulen sollen. Oder aufs Parkett, weißt du? Tanzen find ich echt klasse!" "Die haben aber recht strenge Regeln", kommentierte Yuri zweifelnd, "und du brauchst eine Partnerin." Der Tscheche seufzte. "Ja, das ist ein wenig hinderlich. Für Basketball bin ich leider zu klein", ergänzte er sofort wieder neckend. Der jüngere Russe lachte, knuffte seinen Begleiter amüsiert in die Seite. "Vielleicht verändern sie auch die Regeln?", warf er ein, "es gab ja immer mal Bestrebungen, den künstlerischen Aspekt stärker zu betonen und weniger auf die Sprungelemente zu setzen." "Oder sie bauen auch andere, moderne Figuren ein", nickte der Tscheche eifrig, "als ich die beiden in Boston besucht habe, waren wir auch in einer Akademie, wo moderner Tanz unterrichtet wird. Total spannend!" Neben ihm seufzte Yuri. "Aber wahrscheinlich brauchen wir erst einen Generationswechsel bei den Funktionären." "Oder Victor springt ein!", Emil grinste, "ER wäre dazu fähig, alles aufzumischen." Nun stöhnte Yuri auf. "Oh ja! Aber ich weiß nicht, ob ich so viel DRAMA gewachsen bin!" Emil lachte laut und ließ sich rücklings ins Gras plumpsen, sichtlich entspannt. "Das wäre genial! Wir hätten bestimmt Spaß!" Einen misstrauischen Blick absendend machte es sich Yuri auch neben ihm bequem. "Du bist wohl notorischer Optimist, was?!" Der Tscheche grinste herausfordernd. "Wie könnte man das Leben besser als so genießen?" Das ließ sich schlichtweg nicht kontern. *~#~* Am Wochenende kletterten die Temperaturen zum ersten Mal merklich in hitzige Höhen. Man verabredete sich gemeinsam im Heuried, Emils letzten Besuchstag würdig ausklingen zu lassen. Der tobte jedoch, wenig auf Würde bedacht, bereits im Freibad herum, sofort Liebling der Kinder, die er mit einem wilden Sprachmischmasch animierte, mit ihm zu tauchen und zu planschen. Christophe erwartete seinen Partner ein wenig sehnsüchtiger als gewohnt, denn eine Woche Trennung aus geschäftlichen Gründen zehrte doch an seinem Langmut. Vor allem in Gegenwart von Emil, der jede Sekunde seines Lebens genießen und feiern wollte! Yuri übte emsig, möglicherweise auch, um zu kompensieren, dass er in der Woche anderen Beschäftigungen nachgegangen war. Das eingeprägte Schuldbewusstsein, nicht sein Äußerstes gegeben zu haben, saß tief. Otabek entledigte sich seines T-Shirts, nach einem Trägerhemd greifend. Er wusste, dass man es in den südeuropäischen Gefilden als eine Unart für kultivierte Männer ansah, sich oben ohne zu zeigen. Barbarische Sitten! In Russland selbst hätte man diese Anflüge als lächerliches, sogar "weibisches" Gehabe eingestuft. Ein potenter Kerl scheute sich nicht zu präsentieren, was er zu bieten hatte! Ihn trieb momentan eher das unerfreuliche Problem um, seine stark limitierte Garderobe irgendwann aufstocken zu müssen, bestand sie doch immer noch aus dem, was er bei der Reise nach Kanada mit sich geführt hatte. "Yuri, übertreib's nicht!", hörte er Christophe neben sich eilig rufen. Er richtete sich rasch auf, sah den ausgelassen-übermütigen Yuri auf sich zuspurten und fing ihn gekonnt ab, eine Hebefigur, die selbst Paarlaufende nicht schöner absolvieren konnten! Den Schwung ausnutzend rotierte er um die eigene Achse, Yuris begeistertes Lachen in den Ohren. Der zog die langen Beine an, klappte die Knie um seine Hüften, schlang ihm die Arme, die zunächst seine Schultern als Stütze gewählt hatten, um den Nacken. Otabek initiierte einen leichten Ruck, um statt die Achseln nun die Oberschenkel unterzufassen, Yuri wie ein Kind haltend. Aber er hatte es nicht mit einem übergroßen, schlanken Kind zu tun. Die grünen Katzenaugen funkelten lebensfroh, das blasse Gesicht strahlte freudig. "Yura", setzte er zu einem vertraulichen Tadel an, denn immerhin hätte diese Attacke auch schmerzhaft enden können. Er hörte ein lausbübischen Kichern, das in ein hingerissenes Seufzen überging. Und Yuri küsste ihn ausgiebig. *~#~* Kapitel 20 - Kater und Bär aus dem Sack "Guten Morgen." Christophe wartete, äußerst ungewohnt, vor dem Hotel, wo sich Otabeks und Yuris Weg regelmäßig trennte. "Ich sollte euch lieber vorwarnen: ihr seid über Nacht Youtube-Stars geworden." *~#~* Yuri hatte das Gefühl, als würde ihm das Blut im Leib gefrieren. Die Sequenz war kurz, ein wenig schräg, offensichtlich ein mit dem Mobiltelefon aufgenommenes Video, etwas vergrößert. Irgendwer hatte sie gefilmt und ungefragt die Aufnahme ins Netz gestellt, damit nun alle Welt sah, dass Yuri Plisetsky Otabek Altin auf unzüchtige Weise ansprang, umklammerte und ihm ungeniert die Mandeln polierte! Es gab kein Leugnen mehr. Keine ungerechtfertigten Beschuldigungen. Alle konnten genau sehen, wie er Otabek küsste. Ihn anlächelte, mit ihm lachte. Verbockt! So gründlich und endgültig, dass ihm das Atmen schwerfiel. "Also, die Hebefigur ist uns gut gelungen", stellte Otabek hinter ihm ungerührt fest, legte beide kraftvollen Hände auf seine hochgezogenen Schultern. Christophe brummte ärgerlich, "ich hätte wirklich nie erwartet, dass sich im Heuried Volk tummelt, das so etwas veröffentlicht! Dabei ist Fotografieren auf dem Gelände ausdrücklich verboten!" Seiner Stimme war anzuhören, dass er sich verantwortlich fühlte, als Gastgeber, als Vereinsmitglied. "Es dürfte nicht so einfach sein, den Urheber zu ermitteln", bewies Otabek den gewohnten Realismus, "selbst wenn wir Anzeige erstatteten. Danke, dass du uns informiert hast. Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät." Die warmen Hände lösten sich von Yuris Schultern, verstärkten die eisige Kälte, die er verspürte. Ihn schwindelte. Otabek war so gefasst, so ruhig. Wieso wurde er nicht wütend, zankte ihn aus?! Er rappelte sich hastig auf, rannte seinem Freund hinterher, holte ihn vor dem Hotel ein. "Beka, warte!", keuchte er, hauptsächlich seiner elenden Gemütsverfassung geschuldet, "es tut mir so leid!" Der Kasache wandte sich zu ihm herum. "Es tut dir leid, mich geküsst zu haben?" "Nein!", widersprach Yuri prompt, aufgeregt, unglücklich, "aber ich hab nicht aufgepasst..." Otabek zog ihn an sich, in einer ansatzlosen Geschmeidigkeit, initiierte eine leichte Drehung, die Yuri in eine dezente Rückenlage brachte und küsste ihn mit mühsam gebändigter Leidenschaft. Die tiefschwarzen Augen glühten wie Kohlen, als er Yuri wieder auf die Beine stellte. "Ich schäme mich meiner Liebe nicht und ich bereue nichts!", knurrte er guttural, "also gibt es gar nichts zu entschuldigen." Yuri keuchte vor Erleichterung auf, kuschelte sich in die Umarmung. Seine Verspannung löste sich mit dem zärtlichen, nachdrücklichen Bestreichen seines Rückgrats und des Nackens. "Dabei hast du dir immer solche Mühe gegeben", murmelte er kleinlaut. Ein zärtlicher Kuss wärmte seine Wange auf. "Yura, ich bin tatsächlich sogar froh", bestärkte Otabek den jüngeren Russen, "dank deines Temperaments können wir die Heimlichtuerei nun beenden. Ich habe so lange damit gelebt, meine Gefühle und Gedanken zu verbergen, dass es mir zur zweiten Natur geworden ist." Überrascht wich Yuri ein wenig zurück, betrachtete das vertraute Gesicht, von einem stolzen Lächeln geziert. Otabek meinte es tatsächlich ernst! "Aber", Yuri grinste schief, "üblicherweise bringt mein Temperament mich in Teufels Küche." "Der wird sich hinten anstellen müssen", entschied Otabek grimmig, zwinkerte dann lausbübisch und küsste Yuri erneut verlangend. "Jetzt muss ich aber los", raunte er schließlich zärtlich, "ich seh dich dann beim Mittagessen, Yura." Die Stirn an Otabeks gelegt und wegen des Größenunterschieds leicht vorgebeugt wisperte Yuri zurück, "pass auf dich auf, ja, Beka?" "Versprochen", ein sanfter Kuss auf die geschlossenen Lippen. Yuri blickte dem sich rasch entfernenden Kasachen von der Auffahrt aus nach, die dünnen Arme um den Oberkörper geschlungen. Otabek Altin war DEFINITIV ein Held! *~#~* "Gut, du siehst nicht mehr aus wie ein Gespenst", stellte Christophe erleichtert fest, als Yuri zu ihm ins Büro zurückkehrte. Seufzend ließ sich der jüngere Russe auf einen Bürodrehstuhl sinken und rieb sich gequält die Schläfen. "Trotzdem, ich hab's verbockt." "Ach, so schlimm ist es ja auch nicht!", drückte ihm Christophe aufmunternd eine hochgezogene Schulter, "ehrlich gesagt waren wir verblüfft, wie lange Otabek das durchgehalten hat." Sofort blitzte Yuri angespannt hoch. "Was denn durchgehalten?", hakte er scharf nach. Der Schweizer schmunzelte, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. "Dir ist schon klar, dass Otabek dich von Anfang an zu seiner ersten Priorität gemacht hat, oder?", tastete er sich gutmütig heran. Yuri schwieg grimmig, aber auch verlegen. "Ein Typ, der sonst keinen näheren Umgang mit einem von uns gesucht hat, immer genau die Grenzen seiner Freiheit kannte, ordnet sich dir absolut unter", Christophe lächelte, "das lässt einen Schluss zu..." "Aber der stimmt nicht!", begehrte Yuri aufgewühlt auf, "wir waren immer Freunde! Erst seit ganz Kurzem...", hastig wandte er den Kopf ab. "Ja, da ziehe ich den Hut vor Otabek!", kommentierte Christophe sehr bodenständig, "ich hätte das nie und nimmer durchgehalten." Die dünnen Arme vor der Brust verschränkend grummelte Yuri leise vor sich hin. Er fühlte sich nicht gerade als Durchblicker gefeiert. "Schau mal, andere denken, was sie denken, da kann man nichts machen", tröstete ihn der Ältere sanft, "aber wir, die wir euch beide kennen und schätzen, wir wissen genau, dass ihr euch die Zeit genommen habt, die nötig war." "Trotzdem!", schimpfte Yuri, sackte dann wieder in sich zusammen, "es wirkt so, als hätten wir gelogen, als hätten sie damit recht gehabt, Beka zu sperren." Christophe musterte ihn einen langen Augenblick. "Soweit ich mich erinnere, wurde Ungehorsam angeführt, nicht aber, sich in einen Trainingspartner verliebt zu haben", stellte er klar. "Türlich nich!", fauchte Yuri, die Fäuste geballt, "damit kämen sie ja nicht durch!" "Eben", nickte Christophe, zwinkerte, "warum sollte es jetzt klappen? Wo es so offenkundig wäre?" Yuri schnaubte, fühlte sich jedoch schon ein wenig gestärkt. "Na los!", Christophe stupste ihn sanft an, "stell dich der medialen Masse!" Damit gestikulierte er zum Computer hin, der in stiller Drohung Ungemach versprach. "Ärgh!", kommentierte Yuri unleidlich, aber in der Gewissheit, dass er sich positionieren musste. Kaum hatte er das Gerät eingeschaltet, verlangte schon ein Anruf angenommen zu werden. Wenig begeistert topfte sich Yuri das Headset auf die blonde Mähne und grummelte einen Gruß an seinen umtriebigen Manager, für den es schon recht spät sein musste. "Yuratschka! Was hast du dir bloß gedacht?!", donnerte Victor sofort auf Russisch los, "bist du von allen guten Geistern verlassen?!" "Was ICH mir gedacht habe?!", wollte Yuri, blitzartig auf Kampftemperatur und aufgebracht lospoltern, doch gegen Victors Tirade zog er den Kürzeren. "Wie KANNST du Otabek nur so leichtsinnig anspringen?! Hast du denn gar nichts gelernt?! Bist du noch Amateur, oder wie?!" Für einen langen Moment blinzelte der jüngere Russe auf den Monitor, wo zeitverzögert im kleinen Fenster ein erbostes Gesicht ihn anfunkelte. Hä?! "Das", er musste sich erst sammeln, wobei es half, die Fäuste unsichtbar zu ballen, "das ist gar kein Problem, klar?! Beka und ich, wir sind ein eingespieltes Team! Da bestand überhaupt keine Gefahr!" "Oh, natürlich nicht, was habe ich mir nur gedacht?!", säuselte Victor betont giftig, die Hände um die Wangen gelegt, "wie konnte ich nur annehmen, er würde sich das Rückgrat verdrehen, oder ihr zwei Helden schlagt euch die Schädel auf! Nicht, dass wir das nicht schon selbst gesehen hätten, in St. Petersburg, nein, gar keine REDE!" Zugegeben, ein gewisses Risiko hatte durchaus bestanden, aber... Stopp! Das Gespräch entwickelte sich in eine ganz falsche Richtung, und Yuri war ÜBERZEUGT, dass Victor ihn absichtlich auf diese Spur gelockt hatte. "Es ist ja nichts passiert!", fauchte er patzig, "im Übrigen rufst du ja wohl nicht deswegen hier in aller Herrgottsfrühe an, oder?!" "Nichts passiert, drollige Wahrnehmung, die du da hast!", schnurrte Victor gallig, "du produzierst dich auf absolut UNPROFESSIONELLE Weise und trägst dabei diese ollen Klamotten! Hättest du nicht wenigstens etwas von der neuen Linie tragen können?! Wenn du schon vor aller Welt herumhampeln musst." Yuri starrte ungläubig bis vergrätzt auf das kleine Fenster. Victor WIRKTE so, als meine er es tatsächlich ernst. Er kniff die grünen Katzenaugen zusammen wie ein Cowboy beim Duell um zwölf Uhr mittags. "Na schön, du hast mich erwischt. Wieso habe ich mich auch heimlich dabei filmen lassen, wie ein ganz normaler Typ ein wenig Spaß zu haben! Was jetzt?! Regresszahlungen?! Muss ich die Klamotten zurückgeben?! Sind die Verträge geplatzt?!" Für einen Moment länger stierte Victor ihm entgegen, ganz die giftig-frostige Diva, dann zwinkerte er mit den Blauaugen und schnippte die extravagant silbern getönten Haare zur Seite. "Du hast ja wirklich eine schlechte Meinung von mir!", beschwerte er sich jammervoll, "denkst du etwa, ich hätte EINEN Vertrag abgeschlossen, ohne ausdrücklich zu erwähnen, warum du nicht akkreditiert bist?" "Was soll das heißen?", Yuri stutzte misstrauisch. Exaltiert die Pose großer Ungeduld mit geistigen Tieffliegenden einnehmend deklamierte Victor süffisant, "oh du liebe Güte, was schon, Yuratschka?! Natürlich, dass du mit BEKA die Laken zerwühlst!" "WAS?!" In Japan seufzte man geplagt. "Herrje, für wie dumm hältst du uns eigentlich, hm? Jeder hat doch gleich gesehen, wie vernarrt der Heimlichtuer Otabek in dich ist! Das war bloß eine Frage der Zeit", er schnaubte gepflegt, "obwohl ich mich doch wundern muss, wie langsam bei dir der Groschen gefallen ist." Enragiert fauchte Yuri zurück, "das stimmt gar nicht! Wir waren die ganzen Zeit Freunde, klar?! Da ist gar nichts gelaufen! Also tu hier nicht so überlegen, alter Mann! Und wenn einer vor Turtelei nicht aus den Augen gucken kann, dann ja wohl du!" Victor lachte laut. "Sieh mal an, und ich dachte schon, Otabek hätte dich in einen zivilisierten Menschen verwandelt! Aber du bist immer noch so ungezogen und unverschämt wie früher." "Pah!", schnaubte Yuri ärgerlich, "wolltest du was Bestimmtes, oder kann ich mich jetzt meiner multimedialen Kreuzigung widmen?!" Am anderen Ende der Welt schmunzelte Victor. "Ich wollte nur sehen, wie es dir geht", antwortete er ohne jeden Spott, "und dir sagen, dass du Glück hast, Otabek gefunden zu haben. Außerhalb des Rings ist unsere Welt nämlich ziemlich klein. Und sehr einsam." Yuri presste die dünnen Lippen störrisch zusammen, denn es behagte ihm nicht, wie Victor so ruhig und gefasst diese unangenehmen Wahrheiten aussprach. Der zwinkerte, warf sich in Pose und wechselte zum gewohnten Strahlemann-Singsang zurück. "Also, das nächste Mal mehr Präsenz, neue Klamotten und KEINE Amateur-Aktionen, verstanden?!" "Ja, ja!", grollte Yuri, "jetzt troll dich schon ins Bett, du hast Schönheitsschlaf schließlich nötig!" "Ungezogene Rotzgöre", kommentierte Victor, tippte sich grüßend mit zwei Fingern an die Schläfe und unterbrach die Verbindung. Tief durchatmend rollte Yuri die Schultern, lockerte seine unwillkürlich verspannten Glieder. Tja, es half wohl nichts, er musste sich auch dem ganzen Rest stellen. *~#~* Christophe beobachtete besorgt, wie Yuri sich zur Mittagszeit unauffällig aus dem Hotel entfernte, zu den Rizzis auf den Weg machte. Kapuze, Ponyvorhang, Sonnenbrille, die "Rüstung", die er früher immer getragen hatte, um sich unangreifbar zu machen. Lediglich die Kopfhörer mit den Katzenohren fehlten. Er seufzte. Nun, der Staub würde sich schon wieder legen, hoffte er. Man musste nur Geduld beweisen. Yuri hingegen grub die Fäuste in die Westentaschen und konzentrierte sich auf den Weg, hoffte sich getarnt genug, dass ihn niemand ansprach. Nach dem durchwachsenen Morgen kein Wunder. Die einen freuten sich, gratulierten, bekundeten sogar Begeisterung (was Yuri durchaus irritierte), andere fühlten sich bestätigt oder gelinde enttäuscht, weil gleich "zwei heiße Typen" vom Markt waren, dann waren die, die frohlockten, man könne ihn jetzt endlich wegen Schwulenpropaganda anklagen, ihn gleich einsperren, besser noch, ausbürgern! Mütterchen Russland lege jedenfalls keinen Wert auf solche Missgeburten! Wäre besser gewesen, der Kerl hätte ihn in Kanada ordentlich getroffen! Das war nicht wirklich neu, nein, Yuri hatte dergleichen schon oft genug gelesen, nur hatte es vorher keinen "Beweis" gegeben, der unumstößlich das Urteil bestätigt hätte. Er ärgerte sich über sich selbst, dass es ihn derart berührte, was es, verdammt noch mal nicht sollte, weil die Urheber solchen Drecks missgünstige Arschlöcher waren! Doch verspürte er auch eine gewisse Beklommenheit. Jetzt konnte der Verband ihn ablehnen, wenn man ihn anzeigte, wegen des "Propaganda-Gesetzes". Er straffte sich energisch, als er die Werkstatt der Rizzis erreichte. Beka durfte nicht merken, dass er sich sorgte! Der war so zuversichtlich, ja, erleichtert gewesen, sich nicht mehr verstecken zu müssen, da konnte er unmöglich kleinmütig herumjammern! Los doch, Kopf hoch, Brust raus, aufrechte Haltung, Zähne zeigen! War er jetzt eine Primadonna, oder was?! *~#~* Selbstredend entging Otabek keineswegs der tapfere, wenn auch erfolglose Versuch, ihm Gelassenheit vorzutäuschen. Er konnte sich auch schon denken, was die Lektüre der digitalen Welt hochgespült hatte, von einem Extrem zum anderen. Wenigstens sprach Yuri den Speisen zu und wirkte nicht, als würde er sich wieder übergeben müssen, weil sein Nervenkostüm ausfranste. Da gerade nicht allzu viel zu tun war, entschuldigte er sich für einige Minuten, zog Yuri zu einem schlichten Hocker im Hinterhof, ließ sich in der Mittagssonne dort nieder und dirigierte den jüngeren Russen rittlings auf seinen Schoß. Sofort schlang Yuri ihm die dünnen Arme um den Nacken, schmiegte sich an. Otabek kraulte zärtlich den zerbrechlichen Nacken, streichelte dann durch die hellblonden Strähnen vom Kopf über das gesamte Rückgrat. Als liebkose er das Fell einer Katze. "Das ist schön", murmelte Yuri an seinem Ohr, kuschelte eingerollt. Otabek lächelte leicht, denn er genoss es auch, Yuri so nahe zu sein, ihn zu spüren, ihm seine Gefühle zu vermitteln. "Du kannst mir erzählen, was dich bedrückt", lud er nach einer Weile leise ein. Yuri seufzte, von einem Brummen begleitet. "Ich kann dir wohl gar nichts vormachen, wie? Nicht mal in bester Absicht", beklagte er sich ohne Nachdruck, stützte sich auf die breiten Schultern des Kasachen. "Hat Victor mit dir geschimpft?", wagte der einen wenig erstaunlichen Vorstoß. "Pah!", schnaubte der jüngere Russe und drückte Otabek enger, "er hat mich ausgezankt, weil ich die falschen Klamotten anhatte! Hat behauptet, das wäre total gefährlich und amateuerhaft gewesen! Bloß weil sein Töffel so lahmarschig ist, muss er nicht glauben, dass jeder gleich umfällt! Ich hab ihm verklickert, wie perfekt wir trainiert sind und dass DU ganz bestimmt nicht wie'n Weichei auf die Planken haust!" Der Kasache unterdrückte mannhaft ein Prusten. "Außerdem", ereiferte sich Yuri gerade, "musste der alte Sack mir unter die Nase reiben, dass er es ja schon immer gewusst hätte, mit uns! Das nervt total! Da komm ich mir wie der letzte Leitungssteher vor! Echt JEDER bedauert dich, weil ich als Einziger nicht geschnallt habe, was angeblich TOTAL OFFENSICHTLICH ist!" Otabek kraulte verstärkt den Nacken, um das gesträubte Wildkatzenfell wieder zu glätten. "Ich hoffe, du hast dich etwas diplomatischer ausgedrückt", neckte er sonor, drückte einen Kuss auf Yuris Wange. Der schnaubte im Rückzugsgefecht. "Na ja, teilweise. Aber er hat's ja auch drauf angelegt, mich wie einen totalen Depp dastehen lassen!" "Bist du mir böse, dass offenbar jeder mir meine Gefühle seit Jahren von der Nasenspitze ablesen konnte?", fragte Otabek sanft. Sich aus der Umarmung leicht lösend, damit er in die tiefschwarzen Augen funkeln konnte, protestierte Yuri sofort energisch. "Ich bin dir überhaupt nicht böse! War ich sowieso noch nie, bei gar nichts, klar?! Und von wegen ansehen, das ist doch Quatsch! Du bist schließlich für dein Pokerface berühmt, ja?! Ich hab allen gesagt, wie absolut anständig du dich immer benommen hast, da sollen sie sich doch ihre verdrehten Ahnungen sonst wo hinstecken!" "Sehr plastisch formuliert", zwinkerte Otabek, schnellte vor, die blasse Nasenspitze zu küssen, "da haben wir auch den Unterschied, Yura: sie haben nur vermutet, aber du WEISST es." Yuri spürte, wie ihm dezent Farbe in die Wangen stieg. Ob es Otabek nicht langweilte, diese Debatte erneut führen zu müssen? Der löste eine Hand, ihm über die Wangen zu streichen. "Worüber sorgst du dich, Yura?" Unerwünscht kamen ihm Kommentare in den Sinn. Was für ein Zauberer Otabek sei, so die Ahnungen, Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte erkennen und bedienen zu können! Wer würde ihm nicht verfallen, wenn er solche Musik erschuf, um sein Liebeswerben auszudrücken?! All diese Leute hatten keine Vorstellung davon, wie aufmerksam diese tiefschwarzen Augen voller Ernst und Nachsicht ihren Gegenüber ergründen konnten! Yuri floh rasch in eine Umarmung, diesem treffsicheren Blick zu entwischen. Er musste seine Gedanken ordnen, und das fiel ihm schwer, wenn Otabek ihn so liebevoll-prüfend ansah. "Ich dachte daran, dass es jetzt vorbei ist", wisperte er, die Arme eng um den muskulösen Nacken des Kasachen geschwungen, die Nase in der Schulterbeuge vergraben, "ich werde nicht mehr akkreditiert." Trotzig schnaubte er. "Wenigstens muss Großvater das nicht mehr erleben! Aber..." "Aber?", Otabek bestrich nachdrücklich den angespannten Leib. "Ich hätte dich so gern vorgestellt", murmelte Yuri kaum hörbar, "wir hätten Piroshki gegessen. Wären spazieren gegangen. Großvater hätte gesehen, was für ein wunderbarer Mensch du bist. Er hätte verstanden..." Der Kasache legte beide Arme um den sehnigen Körper, presste ihn eng, beschützend an sich. "Bescheuert", bedachte Yuri sich erstickt mit einem abwertenden Urteil, "es gibt nichts mehr, was man 'Heim' nennen könnte, um Heimweh zu haben, trotzdem-trotzdem ist es schwer, alles aufzugeben. Pah, ich bin echt dämlich!" "Nein", widersprach Otabek ruhig, verteilte tröstende Küsse, "ich verstehe das, Yura. Es ist in Ordnung, traurig zu sein, wenn etwas zu Ende geht." Yuri atmete tief durch, schniefte leicht. "Ich wünschte, ich wäre auch so gefasst wie du", offenbarte er leise. Liebevoll nahm Otabek wieder seine Streicheleinheiten auf. "Deshalb bin ich so glücklich, dir begegnet zu sein, Yura", raunte er sonor, "ich habe mich so lange beherrschen, zurücknehmen, verstecken müssen, dass es mir zur zweiten Natur geworden ist. Du hilfst mir, mein wahres Ich zu zeigen." Überrascht richtete sich Yuri auf, suchte den tiefschwarzen Blick unter den wie getuscht wirkenden Augenbrauen. "Echt?", rutschte ihm verblüfft heraus, denn eine solche Wirkung rechnete er sich ganz sicher nicht aus. "Echt", bestätigte Otabek mit einem Lächeln, nutzte die Gelegenheit, Yuri zu küssen. Schließlich lehnten sie dezent außer Atem die Stirn aneinander. "Ich muss wieder arbeiten, Yura", bekannte der Kasache pflichtschuldig, aber auch etwas wehmütig. "Dann werd ich trainieren gehen, Beka", Yuri tauschte einen Eskimokuss aus, "ich hol dich später ab, ja?" "Tu das", ein weiterer Kuss war unverzichtbar, ihre Vereinbarung zu siegeln. Yuri lächelte, kletterte etwas unsicher von Otabeks Schoß herunter. "Disziplin!", neckte er, streckte dem Kasachen aber die Hand hin, ihn auf die Beine zu ziehen. Otabek grummelte leise, apportierte aber artig den Hocker zurück in die Werkstatt. Tja, Arbeit war eben Arbeit, und Kuschelstunden mussten auf die Freizeit warten! *~#~* "Ah, Yuri? Yuri Plisetsky, richtig?" Yuri blickte auf, im Spagat sein Rückgrat nach vorne dehnend, weshalb er die Annäherung nicht bemerkt hatte. Vor ihm stand ein schlanker, gerade mal mittelgroßer, junger Mann mit einem beeindruckenden Afro, die Haut gesprenkelt wie Schokosplitter auf Wiener Melange. "Hi!" Eine Hand langte zu ihm grüßend herunter. "Ich bin Manuel. Benno hat mir gesagt, ich könnte dich hier finden." Wobei es mittlerweile kein Geheimnis war, dass Yuri häufig im Heuried trainierte. "Hallo", argwöhnisch schüttelte er die Hand. Geschmeidig hockte sich Manuel vor ihn, ein breites Lächeln auf den Lippen. "Also, ich will kein Foto und kein Autogramm", er zwinkerte kess, "aber ich habe eine Frage. Du machst doch auch Ballettübungen, oder? Hättest du vielleicht Zeit und Lust, in unserem Tanzstudio auszuhelfen?" Eine dünne Augenbraue lupfend beäugte Yuri kritisch seinen Gegenüber. Das meinte der doch wohl nicht ernst? "Hier." Aus der hinteren Hosentasche einer ausgefransten, nicht sandgestrahlten Jeans fingerte Manuel eine Visitenkarte mit hübsch-eleganter Prägung, [Studio Leitner. Ballett, moderner Tanz, Capoeira, Street Style] Manuel lächelte gewinnend. "Meine Mutter unterrichtet Ballettübungen, ich übernehme einen großen Teil des Rests, und wir könnten Verstärkung auf Stundenbasis brauchen. Benno versichert mir, dass du absolut umwerfend bist und eventuell Zeit hättest." Yuri musterte die hellbraunen Augen, die ihn ungeniert vertrauensvoll in den Fokus nahmen. "Ich bin Eiskunstläufer, kein Balletttänzer", stellte Yuri richtig. Anstatt ihn nun mit Argumenten zu bestürmen studierte Manuel ihn aufmerksam. Also, verdammt unverschämt! Bevor Yuri sich jedoch in eine eisig-gewittrige Stimmung steigern konnte, federte Manuel hoch, streckte ihm erneut die Hand hin. "Willst du es dir mal anschauen? Dann kannst du immer noch ablehnen." Ohne auf das Hilfsangebot einzugehen kam auch Yuri elastisch in die Senkrechte. "Ist es weit? Ich muss mich auch erst abmelden", warnte er vor, denn er hatte bestimmt nicht die Absicht, einem Unbekannten irgendwohin zu folgen, auch wenn der behauptete, von Benno instruiert worden zu sein. "Iwo!", Manuel strahlte, "gerade mal zehn Minuten von hier! Prima, das freut mich!" "Ich habe noch nicht zugesagt", ließ Yuri ihn kühl wissen, sammelte seine Sachen ein. Aber er wollte auch nicht die Gelegenheit verstreichen lassen, sich doch etwas gegen Entgelt zu beschäftigen. Nun, man würde sehen! *~#~* Das Tanzstudio war tatsächlich nicht besonders groß und nur über einen Hinterhof zu erreichen, aber es strahlte trotz der obligatorischen Spiegelwände eine gewisse Gemütlichkeit aus, weil es bunte Sitzkissen gab, einige Grünpflanzen mit prächtigen Wedeln, ein leise klingendes Windspiel und harmonische Farben an den freien Wänden, der Decke und dem Boden. Als sie eintrafen, tummelten sich kleine "Ballettratten" in Leggins und Trikots an zwei höhenverstellbaren Handläufen. Leise Klaviermusik ertönte aus den Lautsprechern, während eine sehr schlanke Frau in einem Sommerkleid Anweisungen erteilte, auf Krücken gestützt. Jubel ertönte, als Manuel seinen beeindruckenden Afro um die Ecke streckte und fröhlich eine Begrüßung trällerte. "Wir ziehen uns flott um, Mädels, dann machen wir mit!", verkündete er, wies Yuri den Weg zu einem kleineren Raum, der mit Paravents und feinen Tüchern Männlein und Weiblein separierte. Während sie die Kleider wechselten, erleuchtete Manuel Yuri über die Situation. "Wir sind im Augenblick nur zu zweit, da ist es echt schwer zu stemmen. Meiner Mutter geht's grade nicht so gut, sie hat MS, weißt du? An schlechten Tagen brauchen wir sogar den Rollstuhl. Deshalb wäre Unterstützung echt prima, das nimmt auch ein wenig den Druck. Ach ja, MS ist multiple Sklerose, verstehst du?" Mit einer Grimasse antwortete Yuri auf diesen Silbenschwall, "ich verstehe durchaus, aber ich frage mich, wo deine Kiemen sind. Luft holst du ja wohl keine." Manuel lachte, keineswegs beleidigt. "Na schön, stellen wir uns den Mädels, okay?" *~#~* Otabek registrierte überrascht, dass Yuri sich beeilte, ihn abzuholen. Üblicherweise wartete er bereits, betont lässig an der Hauswand lehnend. "Entschuldige, Beka, bin ich sehr spät dran?" Er bemerkte auch, dass die hellblonde Mähne zu einem losen Dutt am Hinterkopf zusammengerollt und hochgesteckt war. Nur wenige Fransen hingen in das vertraute Gesicht. Nanu? "Nein, ich bin gerade erst fertig geworden", beruhigte er und streichelte über eine dezent gerötete Wange. Yuri nahm ganz selbstverständlich seine freie Hand, während er seine Trainingstasche schwenkte. "Oh, ich muss dir was erzählen, Beka!" Der lächelte ob des Eifers seines jüngeren Freundes und trat artig ihren Heimweg an. "Ich bin ganz Ohr", versicherte er. Das ließ sich Yuri nicht zweimal sagen. Er berichtete von Manuel, vom Tanzstudio, von den kleinen Mädchen, der ehemaligen Ballerina auf den Krücken, von den wilden Grimassen bei einem Stampftanz zum Abschluss, von unzähligen Fragen zu seinen Übungen, seinem Alltag, dem Trick mit den umwickelten Füßen, den passenden Klamotten und warum man sich nicht grämen sollte, wenn man kein Profitänzer würde. Die Zeit war ihm wie im Flug vergangen, er hatte sich amüsiert und gelacht, denn die Mädchen waren nicht nur neugierig, sondern aufgeschlossen und gutwillig. Hier wurde nicht mit erbarmungsloser Härte gegen sich selbst trainiert, sondern vielmehr Beweglichkeit geübt, Körperbeherrschung und ein positives Körpergefühl. Wer ernsthafte Ambitionen hatte, so versicherte ihm Manuel, würde weiterempfohlen, denn einen solchen Anspruch konnten und wollten sie nicht erfüllen. Die entspannte, aber trotzdem konzentrierte Atmosphäre hatte Yuri zugesagt. Es war erfrischend anders, ohne Rivalitäten und Druck zu agieren, deshalb entschied er auch spontan, wenn sich die Gelegenheit bot, auszuhelfen. Zwar war noch nicht geklärt, ob er einer Erwerbstätigkeit nachgehen konnte, ohne seinen Aufenthaltsstatus zu gefährden, doch zur Not konnte man sich auch unentgeltlich nützlich machen, nicht wahr? All dies sprudelte auf dem Heimweg aus ihm heraus. Otabek hob nach der ausführlichen Schilderung ihre ineinander verschränkten Finger an und küsste Yuri auf den Handrücken. "Es klingt nach einer tollen Chance", tat er seine Meinung kund, denn offenkundig legte Yuri auf seine Einschätzung großen Wert. "Und ich liege nicht auf der faulen Haut, bis ich weiß, wie's weitergeht!", pflichtete der jüngere Russe ihm bei, hob seinerseits ihre Hände zu einem Kuss an. Lächelnd konterte der Kasache, "ich bezweifle stark, dass du überhaupt weißt, wie man auf der faulen Haut liegt, Yura." "Wie?! Doch, ich kann MEGA-faul sein!", betonte Yuri, "da rühre ich mich KEINEN Millimeter!" "Ah!", nickte Otabek ernsthaft, "das nennen wir 'Schlaf', mein Freund." "Quatsch!", stupste Yuri ihn mit der Schulter an, "du bist hier schließlich derjenige, der arbeitet wie ein Uhrwerk!" "So schlimm ist es gar nicht", versöhnlich neigte sich Otabek zu ihm, küsste eine Wange, "denn ich habe ja auch diese Zeiten, wo ich mich keinen Millimeter..." Weiter kam er nicht, weil Yuri ihn herumwirbelte und entschieden zum Schweigen brachte. Eng aneinander gelehnt atmeten sie beide tief durch, die Trainingstasche achtlos neben ihnen auf dem Schotterweg. "Ich hätte jetzt gerne Bewegung", raunte Otabek sonor, die Arme fest um Yuri geschlossen. "Ab in die Büsche?", votierte der, seinerseits die dünnen Arme um Otabeks Nacken geschlungen. Darüber mussten sie nicht diskutieren. Otabek schnappte sich die Trainingstasche, griff nach Yuris Hand und spurtete den Hang hoch, bis sie die Bewuchsgrenze erreichten. Dazwischen gab es unter den älteren Bäumen kleine Flächen mit wenig Unterwuchs, gerade bequem genug, sich dort die Kleider abzustreifen, sie unterzulegen und herauszufinden, ob auch jedes Fleckchen Haut noch die gleiche Beschaffenheit wie beim letzten Mal hatte. Wie üblich achtete er sorgsam darauf, trotz kleinerer Balgerei, Yuri nicht unter sich zu halten, weil er spürte, dass diesen noch immer einen Anflug von Beklemmung anfiel. Er belohnte sich damit, die hellblonde Mähne aufzufächern und den grünen Katzenaugenblick zu bannen. Sie tauschten, zuerst wild, dann sanfter, gemächlicher, Küsse und Zärtlichkeiten aus, genossen Ekstase und friedliche Nähe. "Ich bin froh, dass du nicht mehr so bedrückt wie heute Morgen bist", raunte Otabek leise, kraulte wie gewohnt den zerbrechlichen Nacken. Yuri, der sich halb auf ihm eingerollt hatte, richtete sich auf, betrachtete ihn verlegen-schuldbewusst. "Das war nur...!" Er unterbrach sich selbst, senkte den Kopf so, dass seine Haare seine Miene verbargen. "Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen, aber ständig..." Otabek griff nach oben, legte seine kraftvollen Hände um Yuris Gesicht. "Mein Freund", korrigierte er sehr ernst, "du bringst mich nicht in Schwierigkeiten. Das hast du nie, kein einziges Mal." "Das stimmt nicht", widersprach Yuri mit gequältem Lächeln, "von Anfang an habe ich dauernd Sachen gemacht, die dich in die Bredouille brachten. Ohne mich wärst du jetzt immer noch der gefeierte Held." Mit Nachdruck stemmte der Kasache sich in eine sitzende Haltung, fasste die Hände des Russen. "Yura, ich weiß, was ich war, bevor wir uns wiedergetroffen haben", erklärte er streng, funkelte unnachgiebig in das noch von ihrem Intermezzo attraktiv gerötete Gesicht, "das war kein Zustand, den ich vermisse. Ich liebe dich, Yura. Das bestimmt mein Handeln, dafür trage ich allein die Verantwortung." "Schon", murmelte Yuri, konnte dem tiefschwarzen Bannblick mit den lodernden Flammen nicht länger standhalten und blickte hastig zur Seite, "wenn ich mich aber geschickter..." Eine blitzartige Attacke später schnappte er nach Luft, denn Otabek Altin konnte küssen, da gab es nicht nur Pudding in den Beinen, sondern akute Ohnmachtsgefahr! "Ich will nicht, dass du dich zurücknimmst!", fauchte der Kasache leidenschaftlich, die Stimme rau vor Emotionen, "ich VERLANGE, von dir geliebt und begehrt zu werden!" Yuri starrte ihn perplex an, denn es kam nun wirklich selten vor, dass der ältere Eiskunstläufer laut wurde, energisch, aufbegehrend. "Im Übrigen", ergänzte Otabek, sich beherrschend, "war es eine ausgesprochen 'geschickte' Hebefigur, meiner Meinung nach. Die Wertungsrichter würden das sicher ähnlich sehen." Nach einem Aufkeuchen prustete Yuri heraus und lehnte die Stirn an die des Kasachen, schmiegte sich an ihn, kletterte ihm auf den Schoß. "Außerdem", dozierte Otabek ungerührt weiter, obwohl er deutlich registrierte, wie unbekleidet sie beide waren, einander so hautnah kamen und definitiv Hormone die Bereitschaft signalisierten, noch einmal begeistert den Gen-Pool durchmischen zu wollen, "außerdem bin ich in einem Video mit einem mehrfachen Goldmedaillengewinner weltweit zu sehen, nachdem wir vor nicht allzu langer Zeit unser Können als Eiskunstläufer bewiesen haben. Das macht mich wohl doch zu einem 'ziemlichen tollen Hecht' im Karpfenteich, meinst du nicht?" Unverkennbar ein Versuch, ihn mit hintersinnigem Humor zu beruhigen, das erkannte Yuri, auch an dem verräterischen Kräuseln der Mundwinkel in dem Pokerface. "Du bist der tollste Hecht aller Zeiten!", wisperte er, "ich werde dich nicht mehr hergeben, nie! Aber ich möchte auch, dass du glücklich bist, Beka..." "Das bin ich", trocknete Otabek alle Befürchtungen rigoros aus, "weil wir zusammen sind, Yura. Du musst wirklich keine Angst haben, dass ich zum Märtyrertum neige." Ah, Selbstironie und dezenter Spott! Manchmal vergaß Yuri, dass sich ein gewaltiger Ozean auftat, wo andere bloß ein "stilles Wasser" vermuteten, weil Otabek Altin so geschickt darin war, sie dies glauben zu lassen. "Aber als Egoist fehlt dir echt die Übung!", neckte er liebevoll, "da könnte der Affenarschangebervollidiot dir noch was zeigen." Otabek schnaubte leise. "Darauf lege ich keinen Wert", proklamierte er würdevoll, "ich ziehe es definitiv vor, jeden freien Augenblick mit dir zu verbringen." Yuri lächelte bezaubert und küsste Otabeks Stirn. "Du bringst mich in Verlegenheit!", rügte er seufzend, "wenn ich der alte Sack wäre, könnte ich jetzt überzeugend trillern: ach, du bist so süß, mein Schatz! Aber irgendwie komm ich mir da lächerlich vor", stellte er grundehrlich fest. Nun lachte Otabek, in den tiefschwarzen Augen glitzerte Amüsement. "Nun, ich für meinen Teil genieße es, wenn du nicht gewisse, gezierten Marotten kopierst. Ich ziehe deinen wilden Streunerkatzen-Charme vor." Eigentlich wollte Yuri empört darauf hinweisen, dass er sich durchaus zivilisiert verhalten konnte, wenn er wollte, doch dann legte er bloß den Kopf schief und betrachtete das gelöste Gesicht seines Freundes. Es war nicht nötig, eine Show abzuziehen. Süßholz zu raspeln, floskelhafte Artigkeiten auszusprechen. So löste er bloß einen Arm, glitt mit den Fingerkuppen hauchzart über die markanten Gesichtszüge des Kasachen, zeichnete sie selbstvergessen nach. Otabek drängte ihn nicht, blickte nur unverwandt in die grünen Katzenaugen, die so konzentriert-versunken auf ihn gerichtet waren. Als Yuris Hand schließlich wieder auf seiner Schulter Platz nahm, überwand er die geringe Distanz zwischen ihnen, küsste den Jüngeren begehrlich. Allzu rasch würde es dunkel werden, mussten sie sich flugs wieder ankleiden und den Heimweg fortsetzen! Er wollte jedoch unbedingt, mit jeder Faser seines Seins, versichern, dass es nichts zu bedauern, zu bereuen gab. Nur zu feiern, zu genießen, hochleben zu lassen! Weil sie einander liebten. *~#~* Kapitel 21 - Gen Norden! "Tja, das war zu erwarten", stellte Otabek in seelenruhiger Gelassenheit fest, nachdem er die persönliche Übergabe des Schreibens artig quittiert und sich mit seinem Reisepass ausgewiesen hatte. Nun war er da, zum Mittagessen, bei den Rizzis: sein offizieller Ausschluss aus dem nationalen Verband. Kein Antreten mehr für sein Land, kein Tragen der offiziellen Trainingsbekleidung. Wobei er ironisch feststellte, dass der Blouson ohnehin schon längst entsorgt war, nachdem er diesen um Yuri gewickelt hatte, die Blutungen zu stillen. Er spürte den aufgewühlten Blick aus den grünen Katzenaugen. "Ist schon in Ordnung", beruhigend fasste er unter der Tischhöhe nach Yuris Hand, hielt sie versichernd, "damit habe ich gerechnet. Sie konnten nicht anders." "Aber das ist nicht fair!", begehrte der Russe bleich auf. Otabek lupfte leicht die Schultern, während die Rizzis ihn betroffen musterten. "So sind die Regeln, die wir aufgestellt haben." "Wieso bist du nicht wütend?!", fauchte Yuri, mühsam Selbstbeherrschung wahrend. "Warum sollte ich wütend sein?", der Kasache streichelte mit dem Daumen über den Handrücken in seinem Zugriff, "es ist wohl eher umgekehrt. So viel Geld und Zeit investiert, und nun haben sie nicht nur einen erfolgreichen Sportler verloren, sondern auch einen potentiellen Trainer und Förderer von Talenten. Zudem gibt es bestimmt sehr viel Kritik, ob man damals das Risiko mit mir hätte eingehen sollen, ob nicht ein anderer geeigneter gewesen wäre." "Keiner ist besser als du!", donnerte Yuri leidenschaftlich heraus, was Otabek ein Lächeln entlockte. Nun hob er doch ihre verschränkten Hände und küsste mit einer leichten Verneigung den Handrücken des Russen. "Vielen Dank für diese Ehre! Aber schon seit meiner Demission auf Zeit haben sie bestimmt alles auf den Prüfstand gestellt. Jede Entscheidung muss gerechtfertigt werden, um weitere Fälle zu vermeiden. Ich glaube, Coach Feltsman wird es in St. Petersburg ähnlich ergehen." Yuri erstarrte, presste die dünnen Lippen verbittert aufeinander. "Dann kannst du nicht mehr eislaufen?", stellte Massimo unbefangen eine wichtige Frage, denn er hatte die Aufführung "Art on Ice" sehr genossen. "Oh doch, natürlich", zwinkerte Otabek, "im Heuried bin ich durchaus willkommen, und sollte sich eine holde Dame finden, die mich im nächsten Jahr als Begleitung für ihre musikalische Darbietung wählt, bin ich auch dort anzutreffen. Außerdem gibt es ja auch wandernde Shows, und vielleicht hat Phichit ja auch Glück mit seiner Hamster-Revue in Thailand!" Neben ihm fauchte Yuri guttural. "Shows sind aber nicht...!" Bremste er sich selbst vor einer drastischen Formulierung. Sie galten als Veteranen-Resteverwertung, als Tingeltangel! "So dramatisch ist es also nicht", argumentierte Otabek, "kein Grund, es sich so zu Herzen zu nehmen." Mamma Rizzi beäugte ihn mitfühlend, "trotzdem ist es doch schade. Du hast deine Heimat so stolz präsentiert." "Irgendwann werden sie auch wieder stolz darauf sein", antwortete Otabek entspannt, zuversichtlich, "wir sind noch ein junges Land, eine junge Gesellschaft, umgeben von sehr großen, einflussreichen Ländern. Es braucht einfach Zeit, Vertrauen aufzubauen, die Welt kennenzulernen. Immerhin bin ich so ganz anders aufgewachsen als viele meiner Landsleute", ergänzte er nachsichtig, "ich habe schon viel von der Welt gesehen, unterschiedliche Menschen getroffen, in anderen Milieus gelebt. Diese Erfahrungen haben wir als Gesellschaft noch nicht gemacht. Aber inzwischen gibt es gerade bei den Jüngeren Kontakte in die Welt, Reisen, Austausch von Ideen und Vorstellungen. Es braucht nur eine Weile, bis sich Ansichten ändern." Deshalb fühlte er sich auch nicht disponiert, einen Groll zu hegen. Er konnte nachvollziehen, was die Funktionäre umtrieb. Er kannte den Druck, der auf ihnen lastete. Dass er nicht einfach in der Vergessenheit verschwinden würde, bereitete ihnen zweifellos auch Sorgen. "Ich brauche etwas frische Luft", Yuri entzog sich seinem Griff, erhob sich und stakste rasch hinaus auf den Hof. "Der arme Junge!", bedauerte Mamma Rizzi, das genutzte Geschirr stapelnd, "er macht sich bestimmt Vorwürfe." "Das will ich nicht hoffen", kommentierte Otabek, "ich sehe rasch nach ihm und gehe dann gleich wieder an die Arbeit." Amadeo winkte sofort ab, "hetz dich nicht, Otabek, nimm dir Zeit." Zum Dank nickend folgte der Kasache seinem jüngeren Freund auf den Hof, wo Yuri, die Fäuste in der Westentasche geballt, wütend die Schuhsohlen über den Asphalt schabte. Otabek näherte sich gemächlich an, abwartend. "Hast du nicht gesagt, man darf traurig sein, wenn etwas zu Ende geht?!", knurrte Yuri, seinem Blick ausweichend, "wieso bist du nicht traurig?!" "Weil ich keinen Grund habe", gab Otabek ernst zurück, "ich habe längst ein neues Leben angefangen." Sich abwendend schimpfte Yuri Richtung Zehenspitzen, "dass du es weißt, es regt mich TOTAL auf, dass du so relaxed bleibst!" "Du bist also so sehr verärgert über mich?", erkundigte sich Otabek leise. "Ich bin nicht verärgert!", hastig fegte Yuri herum, durchaus begreifend, dass er damit der Taktik des Kasachen entsprach, schlang die Arme um den Nacken des Älteren und ließ sich in eine hautenge Umarmung ziehen. "Bist du nicht ein wenig traurig?", wisperte er leise an Otabeks Nacken, "macht es dir denn gar nichts aus?" Otabek wiegte ihn leicht. "Verglichen mit dem, was ich gewonnen habe, kann ich tatsächlich nicht traurig sein", besänftigte er Yuri, "ich wusste, worauf ich mich einlasse." Unwillkürlich verstärkte Yuri den Druck. "Wieso hast du kein Problem damit?", es schwang noch sehr viel mehr in dieser Frage mit, was der Kasache durchaus registrierte. "Womit genau?", hegte er dennoch eine Präzisierung zu erfahren. Yuri murmelte an seinem Nacken, "damit, dass ich nun mal ein Kerl bin." Dieses grollende Eingeständnis vermeintlicher Unvollkommenheit entlockte Otabek ein Glucksen. Bevor Yuri jedoch enragiert ihrer Umarmung entschlüpfen konnte, verstärkte er sie präventiv. "Du wirst lachen", plauderte er leichthin, "aber ich vermute, es hat etwas mit den Resten unserer sozialistischen Erziehung zu tun, mit der Regel, dass der Gegenüber seine Funktion ist, kein Individuum. Es spielt also zunächst gar keine Rolle, ob Männlein oder Weiblein. Ich habe eigentlich immer die Person selbst gesehen, erst danach die, nun, technischen Details." Er spürte, wie Yuri den Kopf drehte, danach den strafenden Abdruck von Zähnen in seinem Ohrläppchen. "Ich mein's ernst!", grummelte der jüngere Russe. "Ich auch", versicherte Otabek leise, kraulte wie gewohnt den zarten Nacken unter der hellblonden Mähne, "vielleicht habe ich auch etwas von meiner Urgroßmutter geerbt. Den Geist sehen zu wollen, nicht die äußere Hülle." "Den Geist?", wiederholte Yuri konfus. "Ich meine damit die Summe aus Persönlichkeit, Erfahrung und Gebaren. Sozusagen die Kernessenz des Seins." Otabek stockte, weil es ihm nicht leicht fiel, exakt zu beschreiben, was er sehen wollte. "Du bist doch ein Schamane!", schnaubte Yuri, aber unter dem aufgebürsteten Tonfall hörte Otabek sowohl Verunsicherung als auch Bewunderung. "Sag jetzt noch, dass du mich in jeder Erscheinungsform lieben würdest, weil du meine Seele überall erkennst!" Der Kasache stutzte. "Ist das aus einem Film?", hakte er schließlich nach. "Bah!", schon drückte ihn Yuri energisch von sich, "das ist der Stuss, den sie in den ganzen Weiberfilmen immer die Kerle sagen lassen, obwohl die Evolutionsbiologie vehement behauptet, Kerle seien hauptsächlich 'Augentiere'!" "Aha", schaltete Otabek schnell, mit dem Schalk im Nacken, "demnach bin ich gerade zum Süßholzraspler mutiert und habe dich mit einer Frau verwechselt?" "Wag's nicht!" Eine Faust klopfte ärgerlich gegen seinen Oberarm, die Katzenaugen sprühten Funken. "Außerdem habe ich ehrlich gefragt!" Mit gebotenem Ernst, aber auch einem Lächeln in den Mundwinkeln antwortete Otabek, "es hat mir nichts ausgemacht, dass du so bist, wie du bist, Yura. Ich liebe dich. Die technischen Details stellen für mich keine besondere Herausforderung dar, die wir nicht gemeinsam bewältigen können." Yuri versuchte, grimmig zu starren, gab den Versuch jedoch hilflos auf. "Und du?", Otabek löste eine Hand, ihm Strähnen aus dem Gesicht zu fädeln, "plagt es dich sehr?" "Nein, gar nicht!" Das platzte heraus, bevor Yuri es überdenken konnte, dann knurrte er. "Du bist ja wohl auch du! Grundsätzlich finde ich es mit dir viel besser als mit einer nervigen Tussi, die ständig Aufmerksamkeit für sich beansprucht und alle naselang etwas hat oder will!" Nun grinste Otabek. "Über dein Frauenbild müssen wir uns mal bei Gelegenheit unterhalten", schmunzelte er frech, "nicht, dass ich es als für mich glücklichen Umstand beklage." "Pah!" Yuri schmiegte sich erneut an ihn, drückte einen Kuss in die Halsbeuge. "DICH schubsen sie nicht herum oder machen dir im Rudel hinterher! Oder betrachten dich wie ne Art Maskottchen und lassen sich total gehen! Als wär man nicht aus der gegnerischen Mannschaft!" Otabek kraulte besänftigend und lächelte über die subtile Wut seines jüngeren Freundes, nicht als Mann oder Junge ernst genommen worden zu sein. "Ich vertraue auf deinen Schutz", neckte er sanft, "falls ich mal in diese unglückliche Lage gerate." Yuris Arme verstärkten unwillkürlich die sichernde Klammer. "Ich werd sie alle verbeißen!", zischte er, "ich kenn ihre Tricks! WIR gehören zusammen, Beka. Die sollen sich alle sonst wohin scheren!" Einander haltend lauschten sie noch lange Augenblicke auf vertraute Atemzüge, synchrone Herzschläge. "Ich liebe dich sehr, Yura", raunte Otabek schließlich, hauchte einen Kuss auf das Ohrläppchen. "Ich dich auch", wisperte Yuri, verströmte mehr als eine Ahnung von plötzlicher Hitze, die seine blassen Wangen attraktiv kolorierte, erwiderte die Zärtlichkeit. Darum, beschlossen sie unisono, würden sie den Unbillen, die da stürmisch am nahen Horizont ihr Kommen androhten, gemeinsam trotzen. *~#~* "Puh, das tut mir ehrlich leid!", bekundete Christophe am nächsten Morgen, musterte Yuri sorgenvoll, "wie hat Otabek es denn aufgenommen?" Der jüngere Russe schnaubte leise. "Er sagt, er hat es erwartet, sie könnten gar nicht anders." Sich den gepflegten Bart streichend nickte der Schweizer bedächtig. "Ja, Otabek ist schon immer ziemlich tough gewesen." Was Yuri entschied nicht zu kommentieren. Er fragte sich, selbstverständlich nicht laut und ganz sicher nicht in Otabeks Gegenwart, wie rasch der mit einer Leidenschaft, einer Berufung abschließen konnte, ohne Bedauern oder Wehklagen. Immerhin waren sie Eiskunstlaufende, die Elite, hatten Jahrzehnte trainiert, Entbehrungen ausgehalten, immer auf ein Ziel fixiert! Nun steckte er den Rauswurf so ungerührt weg? Aber tatsächlich hatte er ihm keine anderslautende Äußerung oder eine Geste entlocken können. War es wirklich genug, den professionellen Eiskunstlauf einzutauschen gegen einen arbeitslosen, heimatvertriebenen Kollegen auf der Abschussliste?! Yuri fühlte sich nicht überzeugt, den Ansprüchen zu genügen, die Waagschale wirklich auszufüllen. Laut äußerte er aber etwas anderes, um Christophe nicht auf die Fährte zu setzen, er selbst entpuppe sich als Nervenbündel und Weichei. "Tja, jetzt warten wir darauf, dass mein Verband mir auch den Arschtritt verpasst!", knurrte er betont grimmig. "Glaubst du?" Christophe lehnte sich mit verschränkten Armen, wie immer fein gekleidet in dreiteiligen Zwirn, gegen die Tischplatte. "Meinst du nicht, sie nutzen die Gelegenheit, dich zurückzuholen?" "Pah!", fauchte Yuri, "ohne Beka gehe ich nirgends hin. Außerdem kennst du ja die Lage: sollte ich mich zu was hinreißen lassen, stecken die mich sofort in den Knast. Oder ein Arbeitslager." Er konnte die Verstörung in der Miene des älteren Schweizers erkennen. "Ich will nicht leugnen, ich kann mich auch nicht beherrschen", er lächelte bitter, "es würde nie funktionieren, nicht mal mit goldenen Brücken a la Künstler, jugendliche Verirrung, schlechte Einflüsse. Außerdem will ich es nicht." Es hieße auch zuzugeben, etwas Falsches gemacht zu haben. Was nicht stimmte, nie und nimmer! Ziemlich wahrscheinlich würde es ihm nicht gelingen, wie Beka den "Geist" zuerst zu sehen, aber dessen Argumentation erschien ihm schlüssig und vollkommen vernünftig. Außerdem ging es niemanden etwas an, was Leute im Einvernehmen miteinander taten! Aber man entzog sich so der Kontrolle, des Einflusses, der Berechen- und Beherrschbarkeit, und das war nicht gewünscht. Yuri knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste. Ja, zugegeben, er war ein auf den Eiskunstlauf fixierter Trottel, der sich für sonst nicht viel intensiv interessiert hatte! Nun sah er sich gezwungen Farbe zu bekennen, und wenn Beka nicht wankte und wich, würde er den Teufel tun und einknicken! NIE! Christophe drückte ihm sanft eine hochgezogene Schulter. "Nun, warten wir mal ab, was kommt. Nicht viel wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird", zwinkerte er. Schnaubend löste Yuri seine angespannte Haltung. "Komm mir nicht mit Kulinarik, dann muss ich sofort an den alten Sack und seine Experimente denken!", schauderte er sichtlich. Der Schweizer lachte auf und klopfte erneut die Schulter freundschaftlich. "Ich seh schon, dass Victor dir auch fehlt", neckte er den jüngeren Russen herausfordernd, "wer hätte das gedacht?" Yuri bleckte frech die Zunge und verdrehte die Katzenaugen. Du liebe Güte, noch mehr Drama in nächster Nähe brauchte er nun wirklich nicht! *~#~* Obwohl es recht frisch war, nutzen sie die letzte halbe Stunde im Heuried, zogen im Wasser Bahnen. Yuri hatte bei Manuel im Tanzstudio ausgeholfen, seine Kondition verbessert und Otabek hatte, während der Arbeit zur Belustigung der Rizzis, tapfer die möglichen Beiträge für seinen gebuchten Auftritt beim Schlagerfestival angehört. Es hatte sich als gewöhnungsbedürftig herausgestellt, doch als DJ verteidigte er sein Berufsethos und erteilte pauschalen Vorurteilen eine Absage. Glücklicherweise sprang Amadeo grinsend als Dolmetscher ein, wenn die Sprachkenntnisse versagten und man sich doch über den groben Inhalt gewisser Gassenhauer versichern wollte. Yuri paddelte vor sich hin, nicht gerade ein versierter Schwimmer, da er nie Gelegenheit gehabt hatte, einen ordentlichen Stil zu erlernen. Ihm entging nicht, wie man, wenn auch sehr zurückhaltend, Otabek bestaunte, dessen athletische Gestalt mit breiten Schultern und schmalen Hüften attraktiv durch das Wasser gilt. Trotz der Arbeit gelang es ihm, in Form zu bleiben, nicht zu stark abzubauen. "Ist was?", erkundigte sich das Objekt der allgemeinen Bewunderung überrascht, wischte die nassen, schwarzen Strähnen aus der Stirn. "Neee!", blubberte Yuri, der sich unbeholfen, käsig und klapperdürr vorkam, "ich merk bloß gerade wieder, was für'n toller Hecht du bist." Ärgerlicherweise errötete er dezent, und das Abtauchen half auch nicht viel weiter. Otabek schmunzelte, fischte ihn mühelos ab und legte sich die dünnen Arme um den Nacken, glitt in Rückenlage und beförderte sie so beide gemächlich Richtung Leiter. "Freut mich, dass ich dein Gefallen finde", schnurrte er guttural. Yuri grummelte. "Als wenn du das nicht wüsstest, Beka." Der Kasache nickte ernst. "Leider bin ich so eitel, dass ich es immer wieder gerne höre." Nun hätte Yuri ja gern als Antwort eine Spritzkaskade ausgelöst, bloß wollte er unweit des Ausstiegs nicht der sehr bequemen Lage entsagen. Es nahm sich wirklich angenehm aus, so mühelos befördert zu werden! Otabek zwinkerte, wieder lächelnd, in ungezwungenen Bewegungen den Beckenrand erreichend. Er drehte sich leicht, fasste einen Holm, den anderen Arm sichernd um Yuris magere Taille geschlungen. "Alter vor Schönheit, wie?", knurrte der jüngere Russe, kletterte aber die wenigen Sprossen hoch und löste das einzwängende Band, das den Zopf eingerollt an seinem Hinterkopf festhielt. Uah, jetzt mussten die Zotteln wieder aufwändig getrocknet werden! Unvermittelt fand er sich in Otabeks Umarmung wieder, die tiefschwarzen Augen glitzernd im Widerschein der Beckenbeleuchtung. "Ich liebe dich, Yura", raunte der Kasache begehrlich an den dünnen Lippen. Prompt schoss Yuri das Blut in den Kopf. Praktischerweise wurden ihm aber zeitgleich die Knie weich, sodass er die perfekte Höhenübereinstimmung erreichte, sich einen zärtlichen, nicht gerade sparsam bemessenen Kuss einzuholen. "Du machst das extra, um mich in Verlegenheit zu bringen!", beschuldigte er seinen Freund grimmig-hingerissen. "Nein, ich tue das, weil es mich sonst zerreißt", widersprach Otabek knochentrocken trotz triefender Gestalt. "Oh", murmelte Yuri schließlich hilflos, erkannte nicht das winzigste Anzeichen von Spott oder Ironie in Mimik und Stimme. "Komm", sanft wurde er eingedreht, damit ein Arm seine Schulterpartie umschlingen konnte, "duschen wir rasch und machen uns auf den Heimweg, ja? " Yuri ließ sich dirigieren, aus den Augenwinkeln registrierend, dass er durchaus beneidet wurde ob seines Privilegs. Ob das Beka mal zu Kopf stieg, wie viele ihn hier anschmachteten? "Sag mal, was ist eigentlich aus dieser Schlagernummer geworden?", wechselte er auf ein anderes Thema, um sich ein wenig schadlos zu halten nach dieser Demonstration der Zuneigung. Gänzlich ungewohnt hörte er Otabek ächzen. "Das wird härter, als ich angenommen hatte!", bekannte der ältere Kasache, applizierte blitzartig einen Kuss auf Yuris Wange, "wenn ich mich um deine Haare kümmere, erträgst du dann mein Jammern?" Nun konnte Yuri ein Prusten nicht ersticken, lachte heraus. "Leg noch etwas persönliche Betreuung unter der Dusche drauf, und wir sind im Geschäft!", trieb er den Preis hoch. In den tiefschwarzen Augen loderten wieder die Flammen hoch, die ihm einen wohlig-erwartungsvollen Schauer über den Körper laufen ließen. Nein, ganz ausgeschlossen, dass er sich jemals von Beka trennte! *~#~* Christophe lächelte, als er Yuri ausfindig machte. Wie vermutet hielt der sich im Hintergrund der DJ-Kanzel auf, nippte an einer Wasserflasche und hing gebannt an Otabek, der geübt über Paneele wischte, Beleuchtung mit Beschallung kombinierte, altmodische Platten mit gespeichertem Material abwechselte. Stimmungsmeister, Tonkünstler, Herr über die Atmosphäre. Diese nahm sich friedlich-fröhlich-familiär und ausgelassen zugleich aus. Nicht nur Liebhabende des Musikgenres hatten sich eingefunden, auch zahlreiche Fans und Neugierige, die gern erfahren wollten, wie sich DJ Beka in fremden Gestaden so schlug. Außerdem war der Abend überraschend lau in den Temperaturen, obwohl man immer noch Frühling im Kalender las. Die Veranstaltung war ausverkauft, die Veranstalter erleichtert, dass sich das Risiko, einen bekannten, aber "genrefremden" DJ gebucht zu haben, so lohnte. Der Schweizer signalisierte Yuri, zu ihm zu kommen, damit sie sich ein wenig unterhalten konnten. Erwartungsgemäß zog Yuri zunächst einen Flunsch, wollte er doch Otabeks Seite nicht verlassen, immerhin ein exklusives Privileg! Der zwinkerte ihm jedoch zu, hauchte einen Kuss auf die Fingerspitze, tupfte ihm auf die dünnen Lippen und wies mit dem Kinn auffordernd in Christophes Richtung. In der Nähe gab es ein Quieken-Ächzen-Schmachten, was Yuri unvermittelt böse Blicke abfeuern ließ, bevor er widerwillig der Bitte nachkam. "Otabek ist Hahn im Korb, wie?", neckte ihn der Schweizer, als er missmutig durch das Gedränge glitt, die Ellenbogen als Stoßfänger ausgefahren. "Ja, aber er ist nicht interessiert!", stellte Yuri spitz fest, "die Hühner können sich also den Zirkus sparen." Christophe lachte, verzichtete auf aufklärende Hinweise zur Natur weiblicher Verehrerinnen bezüglich vergeblicher Liebesmühen. "Wo ist denn deine bessere Hälfte?", erkundigte sich Yuri unterdessen. Hatte der Schweizer nicht erwähnt, man wolle hier gemeinsam aufschlagen? "Er kommt nach, aber genau deshalb wollte ich euch sprechen." Christophes muntere Miene verwandelte sich in Ernsthaftigkeit. "Und es geht um etwas, was mir jetzt die Laune verderben wird, wie?", hasardierte der jüngere Russe grummelnd. "Zum Teil, ja", gestand Christophe ein, "aber es gibt noch mehr zu berichten. Könnt ihr beide morgen zum Mittagessen zu uns kommen? Keine Angst, nicht im Restaurant, ganz informell, bei uns." Yuri musterte ihn besorgt. "Ist es so übel, dass mir der Appetit vergehen wird?", erkundigte er sich, begriff aber durchaus Christophes Zurückhaltung, denn in diesem Gewühl und vor der Kulisse konnte man wohl kaum wichtige Dinge besprechen. Kleine Fältchen prägten die Augenwinkel des älteren Schweizers. "Nein, ich bin mir recht sicher, dass du deinen Appetit nicht verlieren wirst", versicherte er, ohne zu ergänzen, dass es um Yuris Appetit ohnehin nicht viel zu bewenden gab, wenn man diesen so betrachtete. "Na schön", grummelte der, "dann schneien wir rein. Danke für die Einladung", ergänzte er eilig, in Erinnerung an Otabeks sanfte Ermahnung, sich manierlich zu zeigen, was Christophe nicht entging, der ihm neckend die Nasenspitze stupste. "Ein bisschen gezähmt hat er dich schon!", triezte er kess. Die Katzenaugen auf Otabek gerichtet antwortete Yuri würdevoll, "ich tu's, weil er mich darum gebeten hat." Nicht etwa, weil Otabek Altin jemals Anstalten unternommen hätte, ihn zu zähmen! *~#~* Otabek ging gemächlich voran, Yuri an der Hand, der gähnend hinter ihm her zockelte. Sie mussten sich auf den Weg konzentrieren, denn es war stockfinster, Wolken verdeckten den Himmel und auf dem Wanderpfad zur Hofreite gab es keine künstliche Beleuchtung. "Wie kannst du jetzt nur so wach sein?", murmelte der jüngere Russe matt. "Rest-Adrenalin", vermutete Otabek, "aber wahrscheinlich fallen mir sofort die Augen zu, wenn du dich an mich kuschelst." "Reizend!", grummelte es erwartungsgemäß hinter ihm, "jetzt bin ich schon ein Schlafmittel." Otabek lächelte. "Ich dachte eigentlich eher an einen Komplizen bei diesem oder jenem, das einen anschließend sehr zufrieden und gesättigt zurücklässt!", schnurrte er sonor und subtil. Herzschläge verstrichen. "Das ist nicht dein Ernst, oder?" Wie zum Beweis strauchelte Yuri hinter ihm, fluchte über einen angestoßenen Zeh. Der Kasache balancierte ihren Verbund geschickt aus, fing Yuri ab und zog ihn in seine Arme. "Alles in Ordnung? Bist du noch heil?", erkundigte er sich leise. "Sicher, bin bloß gestolpert, Beka", Yuri lehnte sich auf ihn, "ehrlich, ich bin so müde..." "Ich weiß, Yura." Zärtlich kraulte Otabek den zerbrechlichen Nacken, löste auch den Zopf am Hinterkopf, der einen Teil der Ponysträhnen eingefangen hatte, schob sich den Haargummi über das Handgelenk. "Gleich haben wir es geschafft, mein Freund." Er küsste ein Ohrläppchen. "Halt noch ein wenig durch." Yuri seufzte leise. "Aber nur noch ein bisschen!", murmelte er wie ein kleines Kind, verschränkte artig ihre Finger ineinander, folgte der sicheren Führung des älteren Kasachen. "Ich verspreche dir schöne Träume", lockte Otabek liebevoll. Immerhin, wenn Yuri fest daran glaubte, dass er ein Schamane war, dann sollte ihn das nicht vor besondere Herausforderungen stellen! *~#~* Sie hatten, dem Schlagerfestival geschuldet, lange in den Morgen hineingeschlafen, aneinander geschmiegt. "Bist du schon wach?", räusperte sich Otabek mit aufgerauter Stimme, Strähnen aus dem Gesicht pflückend. "Ganz sicher nicht!", ertönte es entschied in seiner Brusthöhe, wo ein hellblondes Haupt residierte, um ihn gebogen wie eine Mondsichel. Der Kasache schmunzelte, denn er gewann durchaus den Eindruck, dass Yuri vor ihm Morpheus' Armen entfleucht war, sich aber standhaft geweigert hatte, seine Seite zu verlassen. Dazu klang Yuris Stimme auch schon zu aufgeräumt. Sanft begann er, durch die langen Strähnen zu streicheln, sie um seine Finger zu wickeln, den Nacken zu kraulen. Zu seiner Verwunderung entwand sich der jüngere Russe der gewohnten Zärtlichkeit, schob die Decke zurück und setzte sich auf. Den Kopf abgewandt, sodass er lediglich mit einem wirren Schopf konfrontiert wurde, murmelte Yuri, "das geht jetzt nicht." Verständnis dämmerte rasch. Otabek stemmte sich hoch, streifte sich das ausgeleierte T-Shirt ab und schlüpfte unter der Decke auch aus seinen Hosen. "Du-du verstößt gegen die Regeln!", stellte Yuri empört-hilflos fest. "Das war eher eine Empfehlung", konterte Otabek sonor, ließ sich aufgefächerten Finger erst über Yuris Brustpartie bis zum Bauchnabel gleiten, bevor er unter dem Sweatshirt auf Entdeckungsreise ging. Prompt rollte sich Yuri mit einem Keuchen reflexartig zusammen. "Setz dich auf mich", lockte er leise. "Nein!" Der wirre, hellblonde Mopp wurde vehement geschüttelt. "Bitte." Otabek registrierte die geballten Fäuste. Es rührte ihn an, wie hilflos Yuri auf eigene Bedürfnisse reagierte, die er als lästig bis überflüssig klassifiziert hatte. "Will nich!" Selbst die Zähne wurden aufeinandergebissen! Was den Kasachen nicht ausbremste, da seine Hände nicht aufgehalten wurden. Er spürte unmissverständlich, dass Yuri vor Lust bebte, sich deshalb aber selbst zürnte. Ihn aber freute diese Erregung über alle Maßen, da er bis jetzt immer die Initiative ergriffen hatte. Jetzt langte er ungeniert zwischen Yuris Beine, nicht sonderlich tief, da der Geigerzähler schon mächtig ausschlug. Wenn er sich nicht setzen wollte, nun, dann lag er eben! Hauptsache, man konnte die prominenten Gefühlsbarometer in engen Kontakt bringen! Yuri stützte sich mit den Ellen auf Otabeks kräftigen Schultern ab, stöhnte über die Zähne, die seine Kehle neckend markierten, bog sich fast in ein Hohlkreuz. Otabek ließ ein deutlich vernehmbares "Hmmmmmmmm!" entschlüpfen, um das Menü zu komplimentieren. Lange musste er keine Geduld vorschützen, er las die aufgestaute Spannung, die sich mit einer unkontrollierten Eruption Bahn brach. Japsend rollte sich Yuri auf ihm ein, was Otabek die Gelegenheit offerierte, die Hosen herabzuschieben, weil er sie als störend empfand. Begehrlich küsste er seinen jüngeren Freund anschließend, ließ die Hände über die aparte Kehrseite gleiten, die knochigen Seiten bestreichen. Ein ausgedehntes Zungenduell später winselte Yuri an seiner Halsbeuge. "Ein Mal ist kein Mal", schmunzelte Otabek tröstend, und dieses Mal ritt Yuri artig auf seinen Hüften, bot ihm einen grandiosen Anblick, blank, von den Spuren ihrer ersten Runde gezeichnet, die hellblonden Strähnen wirr, das Gesicht dezent animiert, die Lider über den grünen Katzenaugen auf Halbmast gesenkt, jedoch der Blick unvermindert fiebrig. Mit einem kraftvollen Griff verschaffte er sich direkten Kontakt zu den Brustwarzen, neckte und liebkoste sie, was Yuri erstickte Lustlaute entlockte, ihn selbst anfeuerte, ganz unverkennbar. Die Hängematte kam ein wenig ins Trudeln, aber das hinderte sie nicht daran, einen weiteren Salut abzuschießen. Dann sackte Yuri keuchend auf ihn herunter, angenehm hitzig in den kraftvollen Armen zu halten. "Ein schöner Start in den Sonntag", lächelte Otabek in die Halsbeuge des jüngeren Russen. "Ich hab vielleicht was Falsches gegessen", diagnostizierte Yuri verlegen-grollend. Nun konnte Otabek ein Lachen nicht unterdrücken, obgleich ihm bewusst war, dass Yuri es missverstehen konnte. "He, ich hab wirklich versucht...!! Und ich hab dich gewarnt!", schnaubte es aufgebracht an seinem Hals, wo sich der Initiator der lustvollen Matinee verkrochen hatte. "Es gefällt mir, wie sehr du auf mich stehst", neckte der Kasache zärtlich, kraulte den Nacken und striegelte die wirre Mähne, "wir können es so oft tun, wie du magst." "Ganz sicher nicht!", schimpfte Yuri, hielt sich aber in der Halsbeuge versteckt, damit ihn sein entflammtes Gesicht nicht verriet, "da komm ich mir ja wie'n Perversling vor!" "Ach herrje", konterte Otabek trocken, "wie schade! Weil ich ein Perversling bin, wenn sich die Gelegenheit bietet." Er wartete geduldig mehrere Augenblicke der Kontemplation ab. "...also...na ja....ehrlich?" "Ehrlich", versicherte Otabek in ungezwungener Souveränität, "ich habe oft Lust, dich anzufassen, zu küssen. Sex zu haben." "....oh." Behutsam liebkoste er die mittlerweile handzahme Mähne mit ihren seidigen Strähnen. "Das gehört auch dazu, wenn man ein 'toller Hecht' ist", neckte er sanft. Eine Hand wanderte wagemutig höher, Fingerspitzen glitten über die knapp rasierten Seiten, zwirbelten am Oberkopf eine längere, schwarze Strähne. "...ich bin doof, was?" "Nein", antwortete Otabek prompt, rollte auf die Seite und eroberte sich so einen Blick auf Yuris verschämtes Gesicht, fasste ihn energisch unter, um den Höhenunterschied zu nivellieren. "...doch", die Katzenaugen wichen ihm aus. "Wir spielen uns gerade aufeinander ein, Yura. Daran ist nichts doof", flüsterte Otabek beschwörend. Es überraschte ihn, wie sich Yuri unangekündigt seiner Umarmung entzog und aufsetzte, was die Hängematte erneut in leichte Turbulenzen brachte. Grimmig wischten beide Hände Strähnen auf den Rücken, um freie Sicht zu bekommen. "Mein Timing ist total bescheuert, und das nervt mich KOLOSSAL!", schimpfte Yuri auf ihn herunter, "wieso krieg ich das nicht gleich auf die Reihe?!" Otabek legte seine Hände auf die mageren Oberschenkel des Russen, betrachtete ihn gelassen. Seine Daumen massierten sanft über die hervorstehenden Beckenknochen. "Nicht!", murmelte Yuri kläglich, fasste nach den kraftvollen Handgelenken, allerdings nicht schnell genug, um zu verhindern, dass man ihm seine Lust anmerkte. "Wir müssen noch nicht aufhören", raunte der Kasache begehrlich, registrierte die hastigen Atemzüge, das minimale Pochen einer Ader in Yuris flacher Bauchregion. Über ihm schüttelte Yuri den Kopf so sehr, dass die Haare wild flogen, die Katzenaugen zugekniffen, die Lippen aufeinander gepresst. "Lass mich machen, Yura, ich bitte dich!", schnurrte er sonor, mit tiefem Timbre, sich der Wirkung bewusst. Dieses Mal würde er mehr als eine Schippe drauflegen! *~#~* Es war durchaus alarmierend, Yuri so still und in sich gekehrt zu erleben, aber er weigerte sich weder, seine Hand zu nehmen, noch wich er seinem Blick aus. Otabek seufzte lautlos. Möglicherweise hatte er es etwas übertrieben. Andererseits wäre es ohnehin irgendwann geschehen. Ein gewaltiger Orgasmus. Und Yuri war ohnmächtig geworden. Otabek kannte das überwältigende Gefühl, wenn alle Sinne gleichzeitig verrückt spielten, wenn man quasi abgehoben hatte und den höchsten Punkt am Zenit erreichte, sich einfach fallen ließ, nichts zurückhielt, sich nicht mehr scherte, wie man auf andere in diesem Moment wirkte. Wenn es keine bewussten Gedanken mehr gab, das ewige Hintergrundrauschen des eigenen Verstandes verstummte. Man konnte süchtig danach werden. Yuri hatte sich erschrocken, da war er sicher. Eine ganz natürliche Reaktion, musste man sich doch stets und immer in der Gesellschaft kontrollieren, beherrschen, zurücknehmen. Vielleicht war es zu früh gewesen, hätte es mehr gemeinsamer Zeit bedurft. Er hob ihre verschränkten Finger und küsste Yuris Handrücken. Der lächelte zögerlich, sparsam. Bis zum Hotel sprachen sie kein Wort miteinander. Wie Christophe angekündigt hatte, verlief das leichte Mittagessen im kleinen Appartement unter dem Dach zwanglos, auch wenn sich Yuri nicht an den Plaudereien beteiligte. Man schien sein Schweigen auf die Anspannung zu schieben, die die vorangegangene Ankündigung auslöste. Christophes Lebensgefährte brachte schließlich das Thema zur Sprache. "So, wie es uns vorab mitgeteilt worden ist, Yuri, wird man dich nicht mehr akkreditieren. Es ist aber noch kein Ausschluss aus dem nationalen Verband." Mit säuerlicher Miene hakte Yuri nach, "haben sie wenigstens einen Grund angeführt?" "Offiziell heißt es, es wären familiäre Verstrickungen in kriminelle Geschäfte zu prüfen." Damit konnte nur auf den Werdegang seines Vaters angespielt werden. "Wie praktisch. Und ich dachte schon, sie klagen mich gleich der Sodomie an, nachdem es mit der Hinrichtung wegen Gotteslästerung in Kanada nicht geklappt hat", fauchte er gallig. Die Äußerung sorgte für ein längeres, bleischweres Schweigen. "Es gibt allerdings auch ein Angebot." Der junge Funktionär strich sich durch die braunen Haare. "Wenn ihr Interesse habt. Der norwegische Verband, Norges Skøyteforbund, hat sich gemeldet. Sie würden gern wieder beim Eiskunstlauf der Herren eine größere Rolle spielen und in Oslo eine neue Riege aufbauen, nachdem sie in den anderen Sparten recht erfolgreich sind. Es ist auch schon sehr lange her, dass sie internationale Titel errungen haben." Yuri wechselte mit Otabek, der keine Miene verzog, einen Blick. "Was genau heißt das?" "Nun, es würde bedeuten, dass der norwegische Verband euch als Athleten, Trainer für jüngere Athleten und Pioniere für die Riege beschäftigen würde." Otabek kreiste die Schultern. "Wie sind die Chancen, dass der ISU genug Druck ausübt, damit unsere nationalen Verbände uns freigeben?" "Tja, der russische Verband ist bereits in der Schusslinie, weil ohne Yuri der Vergleich mit den amerikanischen und asiatischen Verbänden im Moment sehr trist aussieht. Die Norweger haben auch keine Angst vor wirtschaftlichen Drohungen, da sie nicht auf Gas oder Kohle von außen angewiesen sind. Einer beschleunigten Einbürgerung stehen sie positiv gegenüber, sogar der doppelten Staatsbürgerschaft, falls das erforderlich ist." Yuri blickte ins Leere. "Das Angebot ist selbstverständlich noch vertraulich. Und ihr solltet euch gründlich darüber aussprechen." Otabek lächelte, streckte die Rechte über den niedrigen Couchtisch aus. "Vielen Dank für deine Hilfe! Wir werden es diskutieren und dir rasch antworten." *~#~* "Du hast ihn angestiftet, oder?" Es waren die ersten Worte am späten Nachmittag, die Yuri äußerte. Nach dem Abschied von Christophe und seinem Freund hatte er sich wortlos auf den Heimweg begeben, Lotti und Dorli um sich geschart, um mit ihnen einen Spaziergang zu unternehmen. Otabek hatte die Zeichen so gedeutet, dass er besser Urs zur Hand ging und Yuri damit die Gelegenheit offerierte, die letzten Ereignisse für sich allein zu verarbeiten. Umringt von den beiden borstigen Damen, die schnaufend die untergehende Sonne genossen, hockte Yuri mit angezogenen Knien auf einer Wiese nahe der Hofreite. "Ich habe ihn gebeten, sich mal umzuhören", gab Otabek ruhig zurück, studierte das kompakte Paket langer Glieder und eines mageren Torsos. Die hellblonden Haare bildeten einen undurchdringlichen Schirm. "Wann?" "Vor einer Weile." Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass es in Yuri gärte. "Du hast mir nichts davon gesagt." "Nein, das habe ich nicht." "Warum nicht?" Das übliche, leicht entzündliche Temperament des jüngeren Russen hätte diese Konversation zweifellos erleichtert, aber Otabek, der mit dem Rücken zur Sonne stand und somit eine dunkle Silhouette bildete, schreckte nicht vor Herausforderungen zurück. "Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen zumuten." "Und wieso nicht?" Die Selbstbeherrschung nahm wirklich überwältigende Dimensionen an. "Weil ich deinen Kummer nur schlecht aushalten kann." Man durfte keine Angst haben vor Intimitäten, nicht, wenn man sein Leben miteinander verbringen wollte. Selbst wenn das schlimmstenfalls die Abkürzung von einem hohen Häuserdach zur Konsequenz hatte. Die hellblonden Strähnen wurden geteilt, hinter jeweils eine Ohrmuschel vertrieben. Die grünen Katzenaugen blickten zu ihm auf, verunsichert, an beabsichtigter Grimmigkeit scheiternd. Otabek ging in die Hocke, ein tadelndes Grunzen auslösend, da die Damen offenbar nicht ihren Liebling teilen wollten, den sie so mächtig entourierten. "Ich habe dir heute zu viel zugemutet", er streckte die Rechte aus, "bitte entschuldige, Yura." Yuri studierte konzentriert die dargebotene Hand. "Du kannst das nicht machen, Beka, mich verhätscheln, allein Entscheidungen für uns beide treffen." "Du hast recht. Ich bitte dich aufrichtig um Verzeihung", Otabek ließ nicht locker. "Ich komm mir dann wie ein Idiot vor. Ich weiß, dass ich einer bin", ergänzte Yuri selbstironisch, "aber daran möchte ich mich nicht dauernd erinnern müssen." So rasch schien er sich Vergebung nicht verdienen zu können, konstatierte Otabek für sich und machte Anstalten, die Hand zurückzuziehen. Blitzartig fand er sie umklammert. Er blickte in die grünen Katzenaugen und registrierte Rötungen. Hatte Yuri etwa geweint?! Hatte er ihn derart erschüttert mit seinen letzten Aktionen?! Otabek federte hoch, nutzte seine Kraft, Yuri mit beherztem Zufassen an sich zu ziehen, hoch genug zu wirbeln, den Schutzwall der beiden Anstandsdamen zu überwinden, dann umschlang er ihn so fest, dass sie beide aufkeuchten. "Es tut mir leid, Yura", raunte er betroffen, "ich wollte dich wirklich nicht verletzen." "Ich bin nicht verletzt!", fauchte der jüngere Russe erstickt an seinem Ohr, "ich bin sauer! Ich will vor dir nicht doof sein!" Den zerbrechlichen Nacken kraulend beteuerte Otabek energisch, "du bist nicht doof, Yura. Ich habe lediglich meinen Vorsprung ausgenutzt!" "Was für einen Vorsprung?", würgte der Russe den Kloß in seiner Kehle herunter. An ihn geschmiegt seufzte Otabek hör- und spürbar. "Ich habe schon vor einer ganzen Weile Möglichkeiten ausgelotet, wie wir vorgehen können, wenn es zum Eklat kommt", gestand er ein. "...seit wann?" Die seidige Mähne durchkämmend atmete Otabek tief durch. "Seit deiner Ankunft in Almaty." "...was?!" "Tja, Perversling, erinnerst du dich?", raunte der Kasache mit einem Hauch Amüsement in der dunklen Stimme, "außerdem stur und entscheidungsfreudig." Eine Weile lang liebkosten ihn nur die hastigen Atemzüge des jüngeren Russen, die er hautnah spürte. "...Oslo, also." Otabek kreiste über der knochigen Rückenpartie, beruhigend, tröstend. "Es ist eine Option. Wir können auch bleiben. Wir finden schon einen Weg", beteuerte er. "Oslo." "Du kannst erst mal darüber schlafen, Yura, wirklich! Das läuft uns nicht weg..." Ruckartig löste Yuri sich von ihm, funkelte ihm aufgebracht ins Gesicht, die Katzenaugen beschlagen. "Natürlich Oslo! Die lassen uns laufen, okay?! Ich WILL aufs Eis, mit dir, klar?! Warum denkst du, flenn ich hier vor mich hin?! Ich mag's hier, aber wir haben hier keine Zukunft!" Er schluchzte auf, fluchte ob dieser Regung und wischte sich mit dem Handrücken wütend über die Augen. "Du hast so was von keine Ahnung, wie GENERVT ich von mir bin!", schimpfte er, "also sei nicht nett zu mir! Das macht es bloß schlimmer!" Yuri riskierte einen verschwommen-grimmigen Blick in die tiefschwarzen Augen. "Und wenn du dich noch mal entschuldigst, tret ich dir vors Schienbein, aber richtig, verstanden?!", fauchte er hastig. Nicht, dass diese Maßnahme jemals der Verwirklichung anheim fallen konnte. Statt einer verbalen Deeskalation entschied sich Otabek für eine physische. Er ließ sich auf die Wiese nieder, zog Yuri mit sich, beförderte ihn ungefragt auf seinen Schoß, hielt ihn in einer Umarmung auf Augenhöhe, verteilte, Strähnen hin oder her, sanfte Küsse auf jede erreichbare Stelle. Yuri kuschelte, genoss die geteilte Wärme, die vertrauten Hände, das sonore Summen an seinem Ohr. "Ich liebe dich, Yura, so sehr!", flüsterte Otabek ihm rau zu, "da geht's manchmal mit mir durch." Eine weitere Entschuldigung verkniff er sich, nicht der Sorge um die unteren Extremitäten geschuldet. "Ich weiß", wisperte Yuri leise, "mir geht's mit dir ja genauso." Er gestattete die geringe Distanzierung ihrer Umarmung, damit Otabek ihn küssen konnte, ausgiebig, begehrlich, sich mühsam bremsend. "Es wird bestimmt toll in Oslo", murmelte Yuri, die Stirn an seine angelehnt, "neue Leute, komisches Essen und viel Schnee. Kennst du da jemanden?" Otabek zögerte. "Du kennst da jemanden", schnaubte Yuri resigniert, "warum frage ich noch?" "Kennen wäre zu viel gesagt", beschwichtigte Otabek, "DJs tauschen sich einfach aus. Es gibt viele junge Leute in Oslo, Universitäten, Clubs..." Menschen, die gerne Musik hörten, dazu tanzten oder sie selbst machten, neugierig waren, reisefreudig, vielsprachig aufwuchsen. "Hauptsache, ich kann aufs Eis. Und nebenher noch Geld verdienen", knurrte der Russe, "die bezahlen uns doch etwas, oder?" "Davon gehe ich aus", Otabek kämmte die hellblonde Mähne zärtlich, "wir können uns da gemeinsam etwas aufbauen. Als Choreographen und Trainer. Vielleicht sogar Abschlüsse machen." Schmale Hände mit langen Fingern fingen sein Gesicht ein. "Schon gut, ich bin überzeugt, ja?! Du verhandelst mit denen, du kannst das besser. Wucher mit unseren Pfunden!" Schon tauchte er wieder in Otabeks Halsbeuge ab, ihn umklammernd. "Das war heute wirklich zu viel", murmelte der Kasache ernüchtert, denn er hatte nicht erwartet, wie verunsichert Yuri sein würde. Er selbst hatte sich schon mit entsprechenden Gedanken vertraut gemacht, auch der Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft wechseln zu müssen, ein Wanderer zu sein, zu bleiben. Aber für Yuri musste sich diese zweite Entwurzelung in kürzerer Zeit viel schmerzhafter ausnehmen, möglicherweise den endgültigen Bruch mit seiner Vergangenheit, seiner Heimat. Er zog ihn enger an sich. "Ich verspreche dir, ich tue alles, damit es für uns beide schön wird!", gelobte er mit aufgerauter Stimme, "ich mache den Kummer wett, Yura!" An seinem Ohr knurrte es, prompt spürte er spitze Zähne seinen Nacken perforierend. "Du tust's schon wieder!", grummelte Yuri, "du sollst mich doch nicht hätscheln, Beka! Ich hab gesagt, es ist okay, dann ist es das auch!" Ganz gleich, wie belegt er herumkrächzte! Otabek streichelte ihm verstärkt über die verkrampften Schultern, das knorpelige Rückgrat. "Ich habe mich zu sehr auf mich selbst konzentriert", bedauerte er streng, "bitte, Yura, du musst mich korrigieren, wenn ich so rücksichtslos vorpresche!" "Na schön, das lässt sich einrichten, denke ich", grummelte Yuri, leckte über die Bissmarke auf Otabeks Nacken. "Danke." Otabek drückte einen Kuss auf die erreichbare Wange. Trotzdem spürte er noch eine Verspannung in dem schlanken Körper auf seinem Schoß. "Bist du mir noch böse?", erkundigte er sich besorgt. Yuri schnaubte, schniefte kurz, rückte sich auf Otabeks Schoß zurecht. "Yura?" An seinem Ohr hörte er einen gequälten Seufzer. "Das heute Morgen", Yuri rang mit sich, "also..." "War es dir unangenehm?", half Otabek sanft aus. "...hast du... auch schon mal...?" Otabek lächelte zärtlich, knuddelte Yuri betont, der leise fauchte. "Hm, ich hatte auch schon solche Orgasmen. Nicht oft, aber hin und wieder", offenbarte er. "...mit ihr..." Der Kasache schmunzelte, küsste die zarte Haut unter dem Ohrläppchen. "Nein, nicht mit ihr." Er konnte spüren, wie Yuri konfus diese Antwort überdachte. "...aber...??" Ein freches Lächeln kräuselte Otabeks Mundwinkel, als er sardonisch sonor flüsterte, "ich war mit mir allein, Yura. Wenn du magst, zeig ich dir, wie du mich richtig abschießen kannst..." In seinen Armen keuchte Yuri vernehmlich auf. "Das würde mir sehr gefallen, Yura", schnurrte Otabek diabolisch. Lange Finger rauften energisch seine schwarzen Strähnen auf dem Oberkopf. Otabek lachte leise. "Du wirst schon sehen!", grummelte Yuri, "ich werd genauso ein Perversling wie du! Kein Problem!" "Amazing!", kopierte Otabek schmeichlerisch Victors Standardkommentar. "Definitiv fucking amazing!", schimpfte Yuri und bot ihm sogar sein vor Scham gerötetes Gesicht, die Katzenaugen blitzend. Allerdings konnte er seinen bitterbösen Tadelblick nicht lange aufrecht erhalten, weil Otabek ihn so liebevoll anlächelte. Yuri seufzte profund. "Du schaffst mich echt, Beka!", beklagte er sich. Otabek antwortete mit einem aufreizenden Kuss. Zu Yuris Rettung rappelten sich Dorli und Lotti nun auf, drängten, den Heimweg anzutreten, schließlich dämmerte es schon, und sie rochen in der Distanz Regenwolken. Hand in Hand folgten sie ihren Anstandsdamen. "He, ich werde etwas Geld ausgeben müssen!", kündigte Yuri an, schenkte Otabek einen kritischen Seitenblick. "Aha?", signalisierte der Aufmerksamkeit, noch immer verdächtig beseelt lächelnd. "Ich brauch nen neuen Koffer, für Norwegen", stellte Yuri in Aussicht, "Sommerklamotten können wir uns ja sparen, richtig?" Otabek lachte und hauchte einen Kuss auf Yuris Handrücken. "Wir werden Geschichte schreiben, Yura", zwinkerte er. "Logisch! Und Affenarschangebervollidiot JJ wird rotieren, ha!", triumphierte Yuri in Vorfreude. Gemeinsam konnten sie alles angehen, davon war er überzeugt. *~#~* Yuri hielt Otabeks Hand, als das Flugzeug beschleunigte, um sich vom Rollfeld zu lösen. Der Kasache hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und die Augen geschlossen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Standhaft ignorierte Yuri das Tuscheln in Hörweite, denn ihr Aufbruch in eine norwegische Zukunft hatte sich nicht still und heimlich vollzogen. Begeisterung über die Rückkehr der beiden Eiskunstläufer, Vorfreude auf die Saison (auch wenn es knapp würde mit den Programmen), gemischt mit Verärgerung und Abscheu, dass man sie auch noch unterstützte! Die ganze Bandbreite. Ihr Bild war überall verteilt worden, Händeschütteln mit einer freudestrahlenden Funktionärin, Yuri artig in den von Victor angemahnten Kleidungsstücken, Otabek gewohnt in dunklen Farben, klassisch-leger. Die größte Aufregung löste jedoch ein Detail aus, was man heranzoomte: sie trugen jeweils ein Platoon. Das gewöhnliche Paar Erkennungsmarken war aufgeteilt, und jedes Plättchen enthielt in romanischen und kyrillischen Schriftzeichen ihre Namenszüge, schließlich waren sie Kämpfer. Ein Abschiedsgeschenk der Rizzis, die hofften, bei der nächsten Art on Ice-Veranstaltung wieder auf sie zu treffen. Fortan waren die Boulevardmedien begeistert von Dressman Otabek, was auch die Tuschelei erklärte. Yuri reckte das Kinn ein wenig höher, die Haare im Nacken zusammengefasst. Die Äugelei konnten sich die alten Hühner sparen, befand er im stummen Groll, nur sie beide gehörten zusammen, nur ihn ließ Otabek Altin so nahe an sich heran! Er würde den Teufel tun, irgendwem dieses Privileg zu überlassen! Da wurde seine Hand angehoben, und Otabek küsste sie mit lässiger Selbstverständlichkeit, zwinkerte. Yuri lächelte unwillkürlich kriegerisch, beugte sich hinüber, um ihr wortloses Einverständnis mit einem ausgedehnten Kuss zu besiegeln. Heyja Osló! Sie waren gekommen, um zu bleiben! *~#~* ENDE *~#~* Vielen Dank fürs Lesen! kimera