Titel: Zweisam Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Adventskalender 2017 Erstellt: 30.11.2017 Disclaimer: alles Meins! *~~~+~~~* *~~~+~~~* *~~~+~~~* *~~~+~~~* *~~~+~~~* *~~~+~~~* *~~~+~~~* *~~~+~~~* Zweisam Kapitel 1 Es ging geschäftig zu, in jeder der vier Etagen plus dem Untergeschoss, sehr geschäftig. Seit dem Oktober-Termin, jedes Jahr Startpunkt für den größten Trubel mit den höchsten Umsatzzahlen, steigerte sich die Betriebsamkeit in Potenzen! Strix war mit diesem alljährlichen Vorgang durchaus vertraut. Unsichtbar huschte er zwischen den Präsentationsinseln hin und her, hinter die schmalen Schalter, an den deckenhohen Regalen vorbei. Seine Augen, hinter den Brillengläsern enorm vergrößert, suchten, jedes Detail zu erfassen, nichts zu übersehen. Ah, da, die Geschenkpapierrolle! Hurtig wischte er hinter dem langgestreckten Kassentresen mit den vier Stationen vorbei, raunte einer der Studentinnen leise in den Nacken. Sie sah ihn nicht, bemerkte ihn nicht, selbstverständlich, aber ein Impuls, ein siebter Sinn, ließ sie auf dem kurzen Weg zu den reservierten Büchern, Medien und anderen Gütern innehalten, nach der nächsten Papierrolle greifen. Als einen Moment lang kein Kunde mehr wartete, seine Auswahl gegen Salär auszulösen, flitzte sie hinüber, die leere Papprolle eilig auszutauschen. Strix lächelte und eilte weiter, wirbelte geschmeidig zwischen den offenen Geschossen auf und nieder. Das hier war SEIN Revier! Unsichtbar, doch möglichst allgegenwärtig strebte er danach, diesen Tempel der Wunder zu erhalten, rückte, unbemerkt, hier einen Stapel Bücher zurecht, setzte dort ein kleines Plüschtier neben die Kameraden, sortierte einen Datenträger korrekt ein, folgte den Menschen. Ihre Energie, die sie verschwenderisch verströmten, zeigte ihm unfehlbar an, wer seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte. Niemals eingreifen, das galt natürlich auch für ihn, dennoch konnte er anregen, raten: ein Flüstern, eine Ahnung, eine Inklination. Wer kam traurig? Gehetzt?Ratlos? Besonders jetzt, die Preise verliehen, die Bestseller und Neuerscheinungen verkündet, die fünfte Jahreszeit eingeläutet, da dräute schon das nächste, große Fest! Strix gefielen die geschmückten Passagen, die bestückten Nadelbäume, bunte Kugeln, Strohsterne, Lämpchen und Kerzen. Vorfreude mischte sich jedoch auch mit nagendem Stress, der jede Freude verzehren konnte, was es aus seiner Sicht unbedingt zu verhindern galt. Strix konsumierte zwar nicht die Energie der Menschen, nein, er speiste ganz gewöhnlich, wie es seiner Daimonenart entsprach, aber er fühlte sich stolz, diese verantwortungsvolle Aufgabe erfüllen zu dürfen für die anderen Daimonen, die hier vesperten und gleichzeitig auch noch etwas geboten bekamen, wenn sie denn wollten. Zu diesem Zweck nahm sich Strix auch gewisse Freiheiten heraus. Wie sollte er aber auch sonst den Unentschlossenen, den Eiligen, den Frustrierten raten?! Weshalb er sich, wenn dieser heilige Tempel aller grenzenlosen Wunder seine Pforten schloss, mit Lektüre versorgte. Dies hier war sein Paradies in der anderen Welt und um keinen Preis mochte er es missen, ganz gleich, wie hektisch sich die vierte Jahreszeit auch ausnahm! *~~~+~~~* Strix strich einem quengeligen Jungen unsichtbar über den Schopf und half, den kratzigen Strickhut zu lüften. So konnte das verheulte Kindergesicht endlich mehr als filzigen Stoff erblicken und war abgelenkt. Eine kleine Energiewolke von begeistertem Staunen materialisierte sich vor Strix' gewaltigen Brillengläsern. Er lächelte vergnügt und huschte weiter. "Diesen dort, ja, genau!", wisperte er einem untersetzten Mann in den Nacken, der hilflos vor einem Stapel Romane stand. Eine gute Lektüre für die Schwiegermutter, nicht zu frivol, aber prickelnd und kurzweilig! Für einen erschöpften Lehrer ließ er beiläufig das dünne Bändchen mit den Matheformeln aus dem Regal purzeln, letztes Präsenzexemplar. Nicht leicht zu entdecken zwischen all den dicken Werken! Hier ein Schlüsselanhänger, dort eines der gerade gefeierten "Buchkissen"... Strix schwirrte mühelos zwischen den Etagen und schnupperte zur Aufmunterung den Kaffee im Untergeschoss. Er schmunzelte, als er einen anderen Daimon dort erblickte, der verstohlen hinter einem Kind kauerte. "Nein, nicht auf die Rolltreppe!", hörte er ihn raunen, was das Kind innehalten ließ. Nicht, dass es den Daimon entdeckt hätte, nein, es zog die Stirn in grüblerische Falten und entsann sich offenkundig einer wenig erfreulichen Episode, drehte sich dann um und wackelte, ein wenig unsicher auf den kurzen Beinen, zurück zur Mutter, die gerade versunken auf ihrem Smartphone tippte und den Flüchtling nicht bemerkt hatte. Daumen hoch! Man nickte sich zu, unter Daimonen, dann spazierte der andere Daimon gemächlich davon, hier und da hinter freudigen, strahlenden, entspannten Menschen Energie kostend. Strix wusste, dass man zwar von "Schutzengeln" unter den Menschen sprach, doch Engel, zumindest die, denen er auf der anderen Seite zu begegnen pflegte, waren nicht im Einsatz. Nein, es waren tatsächlich Daimonen, die, obwohl das oberste Gebot lautete, sich nicht einzumischen, nicht aktiv einzugreifen, hin und wieder subtil einem Menschen zur Seite sprangen, ein Unglück vermeiden halfen, wenn denn der Mensch auf seine Intuition vertraute, der man warnend einflüsterte, was im Augenblick nicht genug Berücksichtigung fand. Selbstredend konnte kein Daimon bestimmte Menschen für sich reklamieren, also ein Individuum als seinen persönlichen Schützling deklarieren, was nicht verhinderte, dass man in seinem "Revier" eben achtsam spazierte, um sich, unter anderem auch, eine stete, leckere Energiequelle zu sichern. Nichts war deliziöser als Energiewolken aus prickelnder Vorfreude, Begeisterung, stiller Hingabe, fröhlicher Ausgelassenheit und friedlicher Leidenschaft! »Zugegeben«, Strix richtete seine gewaltige Brille, »ihm selbst sagte ein Plunderstückchen bei Pussys Patisserie mehr zu«, aber über Geschmack ließ sich nicht streiten. *~~~+~~~* Als Strix sich auf Ebene des Erdgeschosses erhob, die Schwingen artig angelegt, bemerkte er etwas, das ihn erstarren ließ vor Schreck: Malabsorbo! Ein Daimon mit schwarzer Maske, einem Umhang wie flüssiges Pech, metallischen Klauen bewegte sich zwischen den Präsentationsinseln. Die anderen Daimonen, die Energie zu verzehren wünschten, strömten blitzartig zu beiden großen Glastüren hinaus. »Bitte nicht! Bitte nicht hier!«, flehte Strix entsetzt und heftete sich, in gewisser Distanz, an die Fersen des Malabsorbo. Er konnte die Person sehen, der der Malabsorbo folgte. Die Hände hinter dem Rücken gekreuzt, mit schlenderndem Gang, ein junger Mann, unauffällig gekleidet, ohne bemerkenswerte Attribute, Jeans, halbhohe Schnürstiefel, Anorak, Schal, Mütze, Umhängetasche. Nichts Bemerkenswertes. Sah man mit menschlichen Augen, Strix jedoch verfügte über die Daimonensicht und sah die ölig schimmernde Energie, ein schillerndes Farbenspiel auf schwarzer Basis, unverdaulich, giftig. »Nicht hier! Nicht hier! Nicht in meinem Tempel!«, flehte/schimpfte/forderte Strix in Gedanken. Was hatte dieser Mensch vor?! Und wie konnte er es verhindern?! Aufrührerische Gedanken, denn ein veritables Eingreifen war ihm strengstens untersagt. Jede Geste, jedes Innehalten ließ ihn elektrisiert erstarren. Was hatte dieser Mensch vor?! Der Malabsorbo folgte ihm wie der Schattendaimon, der er war, eine pechschwarze, in eine Teilrüstung gewandete Gestalt, die einzigen Daimonen, von denen man wusste, dass sie diese Art der Energie verzehren konnten. Ihr Erscheinen vertrieb die anderen Daimonen, warnte sie, hielt sie fern. Es hieß, diese unverdauliche, giftige Energie entstamme einer gemeingefährlichen Gesinnung, möglicherweise eine organische Fehlentwicklung oder Erkrankung im Gehirn? Strix kannte die Theorien nicht, aber er wusste, was man sich bei den Daimonen erzählte: diese Menschen genossen den Schmerz anderer, ihnen fehlte Empathie. Sie konnten keine Verbindung herstellen zu eigenen Erfahrungen und denen anderer. Sie fügten ihresgleichen Schmerzen zu, übten Gewalt aus, mordeten, nicht aus Notwehr, nicht in einem irrationalen Moment, in Bedrängnis. Nein, aus Kalkül, häufig nach akribischer Vorplanung, sich selbst einen Hochgenuss zu verschaffen, einen Triumph. Und trotzdem ohne die Verbindung zu ihrer Umwelt, die andere Menschen früh lernten herzustellen. Kleine Kinder lernten durch die Spiegelung des Verhaltens und Gebarens ihrer Umgebung, sie begriffen sich und die anderen. Diese Verbindung war gekappt oder nicht existent. Ganz gleich! Strix wollte absolut verhindern, dass hier ein Unglück geschah! *~~~+~~~* Einen dezidierten Sicherheitsdienst gab es nicht, also keine Anlaufstelle, der Strix hastig etwas zuraunen konnte, während er die Verfolgung aufnahm. Die ölige Energiewolke hielt ihn nicht auf Abstand, wohl aber die ehrfurchtgebietende Erscheinung des Malabsorbo. Mit denen legte man sich nicht an, üblicherweise. Strix jedoch sah nur, wie der Mensch sich umblickte, lässig, stehenblieb, die Umhängetasche justierte, als ob er ihr etwas entnehmen wollte. Die dichte Energiewolke vergrößerte sich noch. Strix registrierte die unzähligen Personen, das Gepränge und Gewusel. »Nein! NEIN!«, letterte es in Titelbuchstaben in seinem Kopf. Er preschte vor und fasste den pechschwarz schimmernden Umhang des Malabsorbo. "Ich bitte dich, halt ihn auf! Bitte, lass nicht zu, dass er hier etwas anstellt!", flehte Strix hochgeschwind, nicht die Augen von dem Übeltäter in spe abwendend. Die Maske des Malabsorbo wandte sich ihm zu, fast eine Haupteslänge über ihm. "Wir dürfen uns nicht einmischen", erinnerte eine Bassstimme unbewegt. "Aber sicher kannst DU etwas tun, oder?! Als Malabsorbo hast DU bestimmt Möglichkeiten!", appellierte Strix verzweifelt, den Umhang impertinent noch immer klammernd. Immerhin verfügten sie doch über Sonderrechte, nicht wahr?! Mussten sich bestimmt nicht buchstabengetreu an jede Regel halten! "Wenn ich für dich Partei ergreife, fordere ich einen hohen Preis!", warnte ihn guttural der Malabsorbo. Strix ballte die Fäuste, auch im Umhang, ganz ohne Rücksicht oder die eigentlich zu erweisende Ehrfurcht. "Bitte! Ich trage die Konsequenzen, versprochen, bloß, bitte, hilf!!" Da, glitt die Hand schon aus der Umhängetasche?! Oh nein, gleich wäre es zu spät... Der Malabsorbo glitt geräuschlos und geschmeidig hinüber, hauchte in einer gewaltigen Wolke ölig-finstere Energie aus, die den gesamten Menschen umfing. Natürlich nur für Daimonen zu erkennen. Ein Stirnrunzeln, die Hand zog sich zurück, die Umhängetasche wurde auf den Rücken geschoben, Fäuste gruben sich in Anoraktaschen. Strix knickten die Knie vor Erleichterung ein, als der Mensch samt seiner üblen Energiewolke seinen Tempel verließ. *~~~+~~~* Als Strix, sein Cape vorne raffend, wie stets ein Buch in der Hand, durch das Portal glitt, mit zahlreichen anderen, wartete der Malabsorbo, unverwechselbar an seiner Maske zu erkennen, trotz des alles verhüllenden, pechschwarzen Umhangs. Strix hielt inne. "Ich fordere meinen Preis ein", verlangte der Malabsorbo mit seiner Bassstimme. Andere Daimonen, die mit Strix das Portal verlassen hatten, wichen zurück, hielten Abstand. "Oje, Käuzchen steckt in der Klemme!" "Was hat er angestellt?" "Ob der Malabsorbo ihn schikaniert?" Trocken schluckend nickte Strix, denn er HATTE sein Wort gegeben, "wie viel verlangst du?" Oje, war das etwa seine Stimme, die so piepsig erklang? Hinter der Maske ertönte ein leises, sonores Auflachen. "Dich, für diese Nacht", schnurrte der Bass beschwingt. Unwillkürlich taumelte Strix zurück, die Brille mit den großen Gläsern rutschte ihm auf die Nasenspitze, "wie bitte?!" Der Malabsorbo streckte eine metallische Klaue aus, fasste Strix' freie Hand. "Ich warnte dich, es werde ein hoher Preis zu entrichten sein", erinnerte er gleichmütig. Strix blinzelte verzweifelt hoch, doch die Maske verbarg selbstredend jede Gemütsbewegung. "Aber, also, was willst du denn mit mir anfangen?", quietschte er verschreckt. Der würde ihn doch nicht fressen wollen, oder? Nein, Moment, Malabsorbo verzehrten menschliche Energie, richtig? Oder hielten sie sich nicht an ihre Diät?! "Ich verschlinge dich", versetzte der Malabsorbo und setzte sich in Bewegung, "mit Haut, Flaum und Federn." Obwohl Strix die Krallen in den Boden stemmte, wurde er einfach mitgezogen! "Denk an dein Versprechen, Käuzchen!", neckte der Malabsorbo mit seiner tiefen Stimme. Strix ließ den Kopf hängen. Seine großen, runden Brillengläser trübten sich durch Tränen ein. *~~~+~~~* Der Malabsorbo schob den wie flüssiges Pech fließenden Umhang zurück und enthüllte imponierende Schwingen, als er Strix einfach um die Hüfte fasste, dann schwang er sich mühelos in die Höhe, um auf dem obersten Plateau eine der zahlreichen Höhlen anzusteuern. Einen hübsch aus Bambus gewebten Vorhang lupfend schob er Strix ohne allzu viel Federlesens hinein, nahm ihm das Kapuzencape ab. Strix umklammerte das ausgeborgte Buch verzweifelt und kauerte sich kläglich in sich zusammen. Gegen Höhe hatte er nichts einzuwenden, doch seine eigene Schlafhöhle befand sich gut geschützt und verborgen zwischen Büschen und Blättern. Er schniefte leise, widerstand aber der Versuchung, die Brillengläser trockenzulegen. "Ich schmecke nicht, weißt du?", schnüffte er hilflos, "an mir ist gar nichts dran." Nun, er war wirklich recht mager, das konnte man doch sehen, oder? Der Malabsorbo streifte sich den Umhang ab, hängte ihn neben Strix' Cape ordentlich auf. Er lüftete die Maske und enthüllte ein sehr markantes Gesicht, geprägt von einer imposanten Hakennase. Ein Falkendaimon! Oh weia! Strix winselte leise. Die waren nicht nur schnell, sondern auch wendig, klug und stark! Entwischen praktisch ausgeschlossen. "Tankred", nun klang die Stimme nicht mehr ganz so tief. Die metallischen Klauen wurden abgezogen, weitere Rüstungsteile bis zu den Klauenstiefeln folgten. "Ist,ist das dein Name?", Strix schlang die eigenen Arme um sich, das Buch wie einen Schutzbann vor die Brust gehalten. "Und 'Käuzchen' ist wohl dein Name?", der Falkendaimon mit den goldenen Augen wandte sich ihm zu, grinsend. Ohne die Rüstung wirkte er tatsächlich sehnig-schlank, sehr alert und drahtig. Die dunkelbraunen Federn zogen sich von seinem Haupt über den gesamten Rücken bis zu den eingeklappten Schwingen. Er war, auf eine sehr beängstigende Weise, schön. Strix spürte, wie ihm erneut Tränen in die Augen stiegen. "Ich schmecke wirklich nicht, ganz sicher!", plädierte er hoffnungslos. Der Malabsorbo lachte rau. *~~~+~~~* Kapitel 2 Tankred griff blitzartig zu, sprengte den Klammergriff und schleuderte das Buch zu seinem Nest. Wie erwartet entwich dem Käuzchen ein empörtes Quietschen, wollte es reflexartig vorspringen, das kostbare Lesegut zu retten, was ihn selbst in die perfekte Ausgangslage brachte, die Schwingen am Ansatz zu packen und das Käuzchen von den Krallen zu heben. "Nein, nicht!", ruderte und strampelte es, aber Tankred fand die hellen Hosen mit den Hosenträgern und die Hemdbluse äußerst hinderlich für sein Unterfangen, weshalb er sie mit einer Klaue abstreifte, die Zappelei mit Missachtung strafend. "Ich bin enttäuscht, dass ich dich an dein Versprechen erinnern muss", kollerte er donnernd mit tiefer Stimme. Das Käuzchen schluchzte leise. "Du hast mir dein Wort gegeben", setzte Tankred unerbittlich nach, dann pflückte er die Brille mit den großen, runden Gläsern von dem zierlichen, schmalen Nasenrücken. "Ich habe für dich meine gesamte Energie geopfert!", verkündete Tankred streng, "um DEINETWILLEN den ganzen Tag gedarbt!" Zugegeben, das war ein wenig übertrieben, vom Prinzip her jedoch der Wahrheit entsprechend, denn nur durch den Einsatz der öligen Energie konnte es gelingen, einen temporären Impuls auszulösen, wenn die Befriedigung der Lust nicht so vielversprechend erschien und man sie verschob, um sich einen noch höheren Lustgewinn bei passenderer Gelegenheit zu verschaffen. "Also, Strix", das Käuzchen zuckte zusammen, "ist es jetzt wohl an dir, mich zu entschädigen." "Und-und wenn du etwas anderes isst? Ich könnte dir bei Medusa Delikatessen...", plapperte das Käuzchen hastig. Tankred lachte. "Heute stehst du auf meinem Menü!", triumphierte er donnernd, womit er Strix einfach in sein Nest beförderte, dem dort gestrandeten Buch hintendrein. *~~~+~~~* Ob der ihm wohl gleich das Genick brach? Hoffentlich kam der Tod schnell! Strix schluchzte und schniefte, während sich der Falkendaimon ungeniert über ihn hermachte, ihm durch die weichen Daunen mit den Klauen pflügte, ihn ableckte und... küsste! Er weinte trotzdem, weil er sich fürchtete vor dem, was kommen würde. Der Malabsorbo spielte doch bloß mit ihm, neckte ihn, bevor er ihn umbringen würde! Strix kannte sich aus, jawohl! Zumindest theoretisch. Er würde in Stücke gerissen werden, alle Daunen gerupft, roh heruntergeschlungen. "Dummes Käuzchen", raunte der Falkendämon gerade. Strix bekam einen Schluckauf vor Empörung, weil er nicht gleichzeitig heulen und schimpfen konnte. "Was..hick...was weißt du schon?! HICK! Ich lass ...hick ...lass mir mein... hick... mein Paradies...hick ... nicht kaputtmachen!" Nicht nur wegen der Menschen, die dort verkehrten, nein, wegen der Wunderwelten, die er dort erleben durfte, zwischen Seiten blühend, von Kaffeeduft umfangen, geschmückt, wie grüne Nadelbäume mit kunterbunten, glänzenden Kugeln! Erwartung, Freude, Neugierde, Zuversicht! Wenn einer ständig hinter so zwielichtigen Übelenergie-Ausstrahlenden herlief, konnte der das nicht begreifen! Nicht mal im Ansatz! "Tja, Käuzchen, das hast du nun davon", gurrte der finstere Malabsorbo ihm auch noch ins Ohr! Strix schluchzte vor Empörung auf, "du bist GEMEIN!" *~~~+~~~* Tankred hatte Mühe, ein weiteres Auflachen zu unterdrücken. Er wusste wohl, dass einige der Daimonen, die auf der anderen Seite regelmäßig unter Menschen agierten, ein wenig seltsam waren. Dieses Exemplar hier jedoch übertraf sämtliche Gerüchte! "Malabsorbo", erinnerte er deshalb grinsend. Niemand konnte doch wohl ernsthaft von ihnen, den gefürchteten Übelenergie-Fressenden, erwarten, dass sie sich handzahm an die Regeln hielten! Das Käuzchen zog ihm ein Mäulchen. Mehr war es wirklich nicht, denn erstens waren Lippen und Mundpartie schmal ausgefallen, und zweitens schien Strix wirklich unfähig zu bedrohlichem Groll zu sein. "Nun, guten Appetit, es ist angerichtet!", pflaumte er amüsiert und stürzte sich auf die tatsächlich halbe Portion. *~~~+~~~* Strix kniff die Augen so fest zu, dass er Sternchen sah. JETZT! Jetzt würde er gleich in Fetzen gerissen! Womit er jedoch nicht rechnete, war der Umstand, dass Tankred keineswegs ein Daunen-, Federn- und Käuzchen-Massaker beabsichtigte, nein, er wollte sich an der zarten Gestalt gütlich tun, auf eine leidenschaftliche und viel verheerendere Weise. *~~~+~~~* Tankred richtete sich leicht auf und gleichzeitig auch seine gefiederten Schwingen. Das Käuzchen lag in seinem flauschigen Nest, in erschöpften Schlaf gefallen. »Immer nur Bücher!«, der Falkendaimon schüttelte amüsiert den Kopf, bugsierte das aktuelle Exemplar über den Nestrand hinaus auf den Höhlenboden. Seine Klauen glitten sanft über die hellen Daunen: weich, so weich. Bis auf die noch immer geröteten Augen ein ausnehmend appetitlicher Anblick! Er schmiegte sich bequem an die Rückenpartie an, genoss das samtige Streicheln der eingeklappten Schwingen. Das Käuzchen hatte WIRKLICH keine Ahnung davon, was man ganz ohne Bücher in einem Nest unternehmen konnte! Schmunzelnd legte er einen sehnigen Arm um die zarte Gestalt und faltete eine seiner imposanten Schwingen über sie. Deshalb hatte er Spuren hinterlassen, am ganzen Leib. Ihn ganz erfüllt, diesen waghalsigen, unschuldigen, verrückten Piepmatz! *~~~+~~~* Strix wirbelte durch seinen Tempel, pflichteifrig, wenn auch zerstreuter als gewohnt. Kein Wunder, denn er war verwirrt. Zum ersten Mal hatte er es nicht geschafft, ein ausgeborgtes Buch vollständig zu überfliegen! Und zum ersten Mal...hatte es ein erstes Mal gegeben! Aber nicht bloß einmal! Obwohl er sich nicht mehr exakt entsinnen konnte, wie oft... weil dieser verwünschte Falkendaimon...! Strix kletterte auf ein Geländer und zog die dünnen Beine vor die Brust, umklammerte sie. Theoretisch waren ihm gewisse Aktivitäten durchaus bekannt, nicht vertraut, nein, das nicht, weil, nun ja, weil sie ihm so physisch vorkamen, so limitiert. Da konnte man nicht in Phantasien schwelgen, durch Dimensionen springen, die Seele bis zum Bersten füllen mit Freude, Begeisterung, Hingabe, Herzklopfen! Der Körper war schließlich endlich und begrenzt, nicht aber der Verstand und die Einbildungskraft! Weshalb er zumindest seinem Körper nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmete. Und anderer Wesen Körper schon gar nicht! Strix wandte den Kopf und wisperte einem enerviert wartenden jungen Mann zu, "Comic-Abteilung. Schau dir Lady Mechanika an!" Wenn schon Warten auf die Freundin, die in Kochbüchern stöberte, dann nicht mit so einem zitronensauren Ausdruck auf der Miene! Der Bursche setzte sich, nach einem Augenblick dezenter Verwirrung über die eigenen Gedankengänge, tatsächlich in Bewegung. Strix atmete zufrieden aus, allerdings fühlte er sich nicht so euphorisch beschwingt wie gewöhnlich, weil er auch, gleichzeitig, das Gefühl hatte, sich selbst nicht mehr zu kennen, zumindest nicht vollständig. Zugegeben, er hatte zu seinem Wort gestanden, nun, vielmehr, gelegen, gekauert und gestöhnt, aber... Aber was, wenn er, furchtbare Vorstellung, nun eine gewisse Affinität zu derlei Aktionen entwickelte?! Strix schüttelte sich unwillkürlich. Brrr! Außerdem gab es noch einen Aspekt zu bedenken, weshalb ihm das morgendliche Eiweiß-Müsli sauer aufgestoßen war: der Falkendaimon war ein Malabsorbo und durch die Aufwartung der vergangenen Nacht hatten sich Spuren der öligen Energie auch an Strix festgesetzt! Schon am Portal in der Frühe war ihm deshalb aufgefallen, welchen Abstand die anderen Daimonen einhielten, von ihren konsternierten Blicken ganz zu schweigen! Oje, würde er sich jetzt des "Lieferanteneingangs" bedienen müssen, wie die Malabsorbo?! Was, wenn es der Nachbarschaft missfiel, wenn er diese Energiesignatur nicht mehr los wurde?! Strix seufzte gepeinigt. *~~~+~~~* Hin und wieder gingen sie gemeinsam auf die andere Seite oder trafen sich dort, um die Energieströme zu beobachten, nach ihren "Kunden" Ausschau zu halten. Nicht, dass irgendein Malabsorbo einen "festen" Menschen für sich reklamierte, nein, aber man pflegte eine gewisse Reviereinteilung zu beachten. Hungrig musste niemand bleiben. Auch kümmerten sie sich konzentriert um die Sicherheit der anderen Daimonen, die menschliche Energie absorbierten. Tankred ließ sich neben O-Batyr auf einem Vordach nieder. Hinter ihren Masken und in ihren Rüstungen, der obligatorische, wie Pech fließende Umhang alles verbergend, konnte man sie in ihrer eigentlichen Gestalt nicht erkennen. Trotzdem wusste Tankred, dass O-Batyr selbst unter den Malabsorbo etwas Besonderes war und gerade im Begriff, sich Schwierigkeiten einzuhandeln. Andererseits mischte man sich nicht in die Obliegenheiten des Kollegiums ein, das war dem Falkendaimon wohl bewusst, deshalb überlegte er, wie er das heikle Sujet aufs Tapet bringen sollte. "Was willst du mit ihm anfangen?", richtete O-Batyr das Wort an ihn. Gewöhnlich schwieg er so ausdauernd, dass manche sich fragten, ob er wohl überhaupt der Sprache mächtig war. "Meinem Käuzchen?", Tankred lächelte hinter der Maske, "ihn behalten, natürlich." O-Batyr neben ihm justierte sein Schwert. Üblicherweise waren sie nicht bewaffnet, doch bei O-Batyr gab es eine gewisse Tradition zu beachten. Tankred bewunderte die Kondensfahnen über den Dächern, die von zahlreichen Heiz- und Klimaanlagen in der morgendlichen Kälte kündeten. "Es wird nett sein, wenn jemand im Nest wartet", ließ er sich zu einer vertraulichen Äußerung herab, "außerdem habe ich ihn ausdrücklich gewarnt." Zugegeben, er konnte nicht leugnen, auf eine gewisse Arg- und Ahnungslosigkeit des Käuzchens gesetzt zu haben. Andererseits, wer würde ihm verdenken, diese unerwartete Begünstigung des Schicksals zu ergreifen und sie nicht schnöde zu ignorieren? "Wird er auch glücklich sein?", es hätte wohl wie ein spitzer Vorwurf geklungen, bei einem anderen, O-Batyr jedoch hinterließ bei Tankred eine versonnene Nachdenklichkeit. Nun ja, bisher zeigte sich das Käuzchen stur vernarrt in diesen Bücher- und Klimbim-Tempel, aber es hatte noch niemandem geschadet, den Horizont zu erweitern, richtig? Außerdem war Tankred durchaus geneigt, Konzessionen zu machen, beispielsweise, nicht jede Nacht nach getanem Tagwerk über das flauschig-weiche Käuzchen herzufallen und es zu vernaschen! "Was hast DU vor?", wechselte Tankred auf ein anderes Thema. Wenn O-Batyr persönlich wurde, ohne Umschweife, dann konnte er sich dasselbe Recht herausnehmen! Der Malabsorbo neben ihm schwieg. "Du kannst nicht eingreifen", erinnerte Tankred warnend. "Ich weiß", die dunkle Stimme klang gefasst. Tankred seufzte herausfordernd. "Was aber nicht heißt, dass du nicht irgendwas anzustellen beabsichtigst", prophezeite er grimmig. O-Batyr wandte sich zu ihm herum. "Das Kind trägt keine Schuld", wisperte er rau, "es MUSS eine Möglichkeit geben!" *~~~+~~~* Einem anderen hätte er sich nicht anvertraut, doch O-Batyr baute auf Tankreds Diskretion, denn immerhin hatte dieser ihn in seine neue Funktion eingewiesen und hielt sich selbst nicht über Gebühr buchstabengetreu an alle Anweisungen, die mit ihrem (unsichtbaren) Auftreten in der anderen Welt, bei den Menschen, verbunden waren. O-Batyr zählte zwar keine Jahre (oder, zutreffender Jahrhunderte), doch er war sich einer sehr langen, wechselvollen Existenz bewusst, einem Ideal entsprechend, halb vergöttert, zur Legende erhoben, mit Mythen verbunden, in verschiedenen Sprachen präsent: ein Heros. Deshalb existierte er weiter, auf der anderen Seite, wo die vergessenen, vertriebenen, heimatlosen Göttlichkeiten eine Zuflucht fanden. Ohne eine Aufgabe konnte man aber auch hier nicht bestehen und O-Batyr konnte sich nicht entsinnen, jemals ohne Auftrag, ohne Mission, ohne Bestimmung gewesen zu sein. Folglich hatte er sich um eine Aufgabe bemüht, die seinem Erfahrungshorizont gerecht wurde: beschützen, bewahren, behüten, verteidigen. Ganz konnte er jedoch seine Vergangenheit nicht abstreifen. Es bereitete ihm keine Mühe, die Übelenergie-Ausstrahlenden zu verfolgen. Ein Eingreifen war ihm streng verboten. Er hätte auch nicht gewusst, ob es ihm überhaupt gelang, so viel stoffliche Realität zu erzeugen, um tatsächlich eine Wirkung in der Menschenwelt zu erzielen. Doch dass man die Übelenergie-Ausstrahlenden nicht angreifen konnte, bedeutete nicht, dass es keine Aussicht gab, etwas zu unternehmen. Das Kind hatte keine Schuld auf sich geladen. Es gehörte nicht zu seinem Aufgabenspektrum, das wusste er wohl, jedoch würde sich kein anderer Daimon in die Nähe wagen. Die Frau, die der Mann, dem er folgte, bestieg, war kein Garant für irgendetwas. Ihre eigene Energiesignatur blieb schwach, unstet, kein Vergleich mit der immensen, klebrig-öligen Wolke an konstanter Bosheit und Arglist, die von IHM ausging. Durch die Jahrhunderte war O-Batyr solchen wie IHM begegnet, meist auf der anderen Seite seines Schwertes. Sonst hatte er Gefolgschaft und Gehorsam verweigert. Er verstand nicht, was sie antrieb. Die Lust an der Quälerei, gepaart mit abstoßendem Selbstmitleid, einer gestörten Selbstwahrnehmung und der Unfähigkeit, das eigene Verhalten zu ändern. Möglicherweise traf es zu, dass es eine hirnorganische Erkrankung war. Vielleicht bewiesen die Verhaltens- und Charakterveränderungen nach schweren Hirnverletzungen, dass man diese Personen nicht mehr für ihr Gebaren verantwortlich machen konnte, weil sie eine andere Realität wahrnahmen. Nicht undenkbar, dass sie ihr Verhalten nicht mehr steuern konnten, nicht mehr die Regierung ihrer selbst waren. So simpel, dass manche einfach "böse", "von innen heraus durch und durch schlecht" waren, verhielt es sich wohl nicht. O-Batyr konnte dies nicht ergründen, für ihn zählte nur das, was er selbst bewirken und beeinflussen konnte oder durfte. IHN konnte er nicht aufhalten, aber das Kind, das in Kürze geboren werden würde und von seiner Mutter keinen wirksamen Schutz zu erwarten hatte, sondern ganz und gar IHM ausgesetzt wäre, DAS wollte er retten. Fehlte die Strategie, deshalb war es notwendig, Tankred um einen Ratschlag zu ersuchen. Über welche Macht geboten sie auf der anderen Seite? Unmöglich war, das Kind zu entführen. Nicht einmal direkt anrühren konnte er es. Man müsste IHN also abschrecken, einen Panzer, eine Rüstung finden, ausreichend lange, bis andere Menschen aufmerksam wurden. Da ER sich so lange und geübt der Aufsicht der menschlichen Autoritäten entzogen hatte, kein leichtes Unterfangen. ER tarnte sich zu gut, gab sich jovial, freundlich, harmlos, vertrauenswürdig. O-Batyr schloss die Hand fester um den Griff seines Schwertes. Aufgeben stand nicht zur Debatte. *~~~+~~~* Tankred ahnte, dass er sich in schwieriges Fahrwasser manövriert hatte. Erst das verrückt-hartnäckige Käuzchen, nun auch noch O-Batyr, die sich einfach nicht an die Regeln halten wollten, sondern ausloten, welche Möglichkeiten sich ihnen boten, doch Einfluss in der Menschenwelt zu nehmen! Andererseits schätzte er O-Batyr als zuverlässigen "Kollegen", weshalb es sich wohl nicht vermeiden ließ, zumindest einen Ratschlag zu erteilen. Ob sich dieser als wirkungsvoll erwies, dafür übernahm er keinerlei Garantien. Während O-Batyr auf diese Weise beschäftigt war, musste er Ausschau nach seinem Käuzchen und dessen Nemesis halten! *~~~+~~~* Kapitel 3 O-Batyr läutete die Glocke dezent. "Es ist offen!", dröhnte es ihm aus der weitläufigen Apotheke und Drogerie entgegen. Höflich wartete O-Batyr, nutzte das nervöse Tuscheln um ihn herum, in sicherem Abstand. Endlich streckte Asklepios den Kopf heraus, eine Brille auf den kahl rasierten Oberkopf geschoben, mit wehendem Kittel. "Oh", kommentierte er knapp, gestikulierte dann mit einem Daumen nach hinten, "einmal um den Laden herum", verriet er den Lieferanteneingang. O-Batyr nickte und begab sich mit gemächlichem Schritt um das Gebäude herum. Wie jeder Malabsorbo wusste er, dass andere Daimonen Abstand zu ihnen hielten und unruhig wurden, wenn nicht ausreichend Distanz zwischen ihnen lag. Selbst die Daimonen, die keine Energie verzehrten, fühlten sich unbehaglich, weshalb er auch geläutet hatte und nicht darauf bestand, den langgestreckten Beratungs- und Verkaufsraum zu betreten. Am Hinter- und Lieferanteneingang wartete Asklepios schon auf ihn, durchaus weniger abgeschreckt als neugierig. Als Halbgott hatte er auch nichts zu fürchten, "na so was, von deiner Sorte habe ich kaum Kunden! Was kann ich für dich tun?" O-Batyr löste die Maske, entblößte sein Gesicht als vertrauensbildende Maßnahme. "Ich benötige 'goldenen Staub' für einen Säugling", erläuterte O-Batyr seinen ungewöhnlichen Wunsch. Asklepios lupfte kritisch eine Augenbraue, "du meinst, für die andere Seite?!" O-Batyr nickte. Sich das Kinn reibend grübelte Asklepios, "tja, also, herstellen kann ich das schon, aber es ist aufwendig und teuer. Außerdem gibt es keine Erfolgsgarantie, das weißt du hoffentlich?" Der Malabsorbo blieb reglos, die schwarzen Augen funkelten konzentriert, "was verlangst du?" Wieder rieb Asklepios sich das Kinn, energischer, hob dann eine Hand, den Zeigefinger gestreckt. "Moment!", bat er, flitzte mit wehendem Kittel wieder in seine Wirkungsstätte. Geduldig wartete O-Batyr. Zumindest war er hier an der richtigen Stelle und offenkundig bestand die Möglichkeit, dem in Bälde geborenen Kind zu helfen. Asklepios materialisierte sich wieder. "Wenn du mir das hier", verstohlen drückte er O-Batyr ein Stückchen Pergament in die freie Hand, "besorgst, dann stelle ich den Staub zusammen." O-Batyr entzifferte die kurze Notiz. Er erlaubte sich kein Urteil. "Verstanden." Ein vorfreudiges Strahlen huschte über Asklepios' Gesicht. "Ah!", hielt er O-Batyr auf, "vergiss nicht, dass du den 'Staub' nicht selbst verteilen kannst. Du wirst einen Engel dafür benötigen." O-Batyr neigte knapp den Kopf. "Ich danke dir", verabschiedete er sich höflich, wandte sich geschmeidig herum und verschmolz mit den Schatten. *~~~+~~~* "Oh nein!", zischte Strix, als er erneut des Störenfrieds in seinem geliebten Tempel gewärtig wurde. Sofort hielt er direkt auf Tankred zu, der wie immer als Malabsorbo dem jungen Mann mit der ölig-schmierigen Energiewolke folgte. "Halte ihn auf, bitte!", drängte Strix eilig, haschte ungeniert nach dem pechschwarzen Umhang. Tankred grummelte hinter seiner Maske geplagt. "Du weißt, dass das ernste Konsequenzen hat!", warnte er mit seiner Bassstimme. Strix schob sich energisch die Brille auf der schmalen Nase hoch, funkelte grimmig hinter den großen, runden Gläsern. Einmal schon hatte er den Preis entrichtet, den Tankred gefordert hatte, da konnte ihn ein zweites Mal kaum schrecken, wenn es gelang, sein sakrosanktes Paradies zu erhalten! "Ich verbringe die Nacht mit dir! Du kannst mich vernaschen!", versicherte Strix eilig, zupfte an Tankreds Umhang, "bitte beeil dich!" Der Malabsorbo seufzte profund. "Ich habe dich gewarnt, vergiss das nicht", erinnerte er nachdrücklich. Strix nickte so hastig und heftig, dass ihm die Brille gefährlich auf der Nasenspitze tanzte. Kaum konnte er sich zurückhalten, Tankred einfach anzuschieben! Er ballte aufgebracht und nervös die Fäuste, tippelte von einer Laufkralle auf die andere. Mit einer mühelosen Gleitbewegung reduzierte Tankred die Distanz und hauchte eine gewaltige Energiewolke aus. Strix ließ den Erzfeind seines Glücks nicht aus den stark vergrößerten Augen, bis dieser mit saurer Miene, offenbar unzufrieden, das Gebäude verließ. Triumphierend rammte er eine Faust in die Höhe und hopste auf der Stelle. An die Konsequenzen verschwendete er in diesem Augenblick keinen einzigen Gedanken. *~~~+~~~* "Das verstößt gegen die Regeln", stellte Tankred fest. O-Batyr, der neben ihm auf dem Dachfirst residierte, zuckte nicht mal mit einem einzigen Muskel. "Du kannst nicht einfach nach Belieben hier agieren", ein wenig missachtet fühlte sich Tankred durchaus. Warum nahm niemand seiner Mahnungen ernst?! Nun wandte sich sein Kollege zu ihm um, durch die Maske unleserlich in seiner Mimik, "entspricht DEIN Eintreten den Regeln, frag ich mich?" Tankred knurrte, denn der schnurrend-samtige Unterton der Frage behagte ihm gar nicht, vom Wahrheitsgehalt des Hinweises ganz zu schweigen! "Erpresser!", schimpfte er leise. "Malabsorbo", konterte O-Batyr gelassen. Nettigkeiten gehörten nun mal nicht zu ihrem Berufsbild! *~~~+~~~* O-Batyr stahl nicht, das widersprach seinem Selbstverständnis. Wenn er sich etwas nahm, ließ er einen Gegenwert zurück. In der Menschenwelt gestaltete sich dieses Unterfangen des Ausgleichs etwas schwieriger, denn er verfügte selbstredend nicht über die dort üblichen Zahlungsmittel. Andererseits konnte er etwas anbieten, weshalb er sich unsichtbar auf die Spur begab und vor jedes Rattennest, jedes Schlupfloch ausspuckte. DIESE Plage würde für eine sehr lange Zeit nicht mehr den Kiosk heimsuchen! Dann verteilte er strategisch versiert die Flaschen an seinem Körper unter dem Umhang. *~~~+~~~* "Oh! OH! OHHHH!", Asklepios presste sich selbst beide Hände auf den Mund, seine Begeisterung zu dämpfen. In seinen Augen (die Brille residierte mal wieder auf dem kahl rasierten Schädel) jubilierten jedoch die Lebensgeister und tanzten einen wahren Reigen. Bier! Helles Bier! Echtes Blondes! Selbstverständlich hatte Asklepios alles unternommen, auch in der "Hölle", oder vielmehr im fröhlich-munteren Reich des Großen M, Bier zu brauen. Leider entsprachen die Ergebnisse nicht seinen Erwartungen. Gut, sie waren durchaus trinkbar und wurden geschätzt, aber es war eben nicht so wie das Original, weil die speziellen Hefepilze hier einfach nicht kultiviert werden konnten! Ein Jammer! Jetzt aber konnte er, in seinen wenigen Mußeminuten, ein kühles Blondes zischen, zünftig aus einem schlanken Glaszylinder! Mit prächtiger Blume! (Bier ohne Schaumkrone war ihm von jeher verdächtig!) O-Batyr wartete geduldig. "Ich mache den 'Staub' fertig!", versprach Asklepios aufgekratzt, "aber denk dran, du musst einen Engel engagieren!" Der Malabsorbo nickte minimal, befestigte dann die gewohnte Maske. Asklepios, seine Schätze umarmend, tänzelte hingegen summend und swingend in seine Wirkungsstätte zurück. Bier! Echtes, kühles Blondes im Inferno! *~~~+~~~* Tankred wartete am Portal, unübersehbar, teilte mühelos die zurückströmenden Daimonen, die hastig um ihn herum eine Gasse bildeten. Endlich erschien auch Strix, ohne Buch, ballte die Fäuste und straffte seine Gestalt. "Ich bin soweit", verkündete er, das spitze Kinn reckend, die Augen hinter den großen, runden Brillengläsern kämpferisch. "Das glaubst du nur!", grollte der Malabsorbo im sonoren Basston. Aber das Käuzchen hatte sich schließlich auf ihn eingelassen und er sah keinen Grund, sich zurückzuhalten, weshalb er Strix auch einfach schnappte und sich mühelos in die Luft erhob, von der Thermik unterstützt. *~~~+~~~* "Ob du wohl, also, wenn es geht", Strix ließ sich aus Cape, Hemdbluse und Hose schälen, "mit der Energie sparsam sein könntest? Jetzt, meine ich?" Immerhin hinterließ Tankred deutliche Spuren an ihm, was die Energiesignatur betraf. So isolierte er ihn von den anderen Daimonen und der Nachbarschaft, was Strix durchaus etwas Sorgen bereitete. Eine Gewohnheit wollte er ja nicht daraus machen! Tankred schnaubte, drahtig ohne seine Rüstung, "wie stellst du dir das vor, Käuzchen? Soll ich die Luft anhalten, bis ich den Geist aufgebe?!" Strix rieb sich nervös über die eigenen, nackten Oberarme. "Nun, ich kenne mich nicht aus", gestand er kleinlaut ein, "es ist nur so, dass diese Energie an mir haftet und man mich schneidet, weißt du?" Der Falkendaimon ergriff ihn ansatzlos und beförderte ihn mit Schwung in das Nest. Über Strix lauernd zischte er grimmig, "ich hatte dich GEWARNT! Hörst du mir eigentlich nie zu?!" Was für ein gemeiner Vorwurf, weshalb Strix energisch protestierte, die Daunen aufgeflauscht! "Also wirklich! Selbstverständlich höre ich dir zu! Trotzdem muss es ja wohl erlaubt sein nachzufragen, wenn ich etwas nicht weiß! Malabsorbo sind nun mal nicht meine Forte!" Tankred studierte ihn mit Greifvogelblick, also so, als prüfe er ein allzu mageres Häppchen auf einem bereits abgegrasten Büfett, was Strix noch mehr aufbrachte. "Ich weiß wirklich nicht, warum du so unzufrieden bist!", schimpfte er, "hier bin ich, mein Wort zu halten! DU hast ja schließlich diesen Preis gefordert!" Die Falkenaugen zogen sich zu goldenen Schlitzen zusammen. "Na warte, JETZT werde ich ein Hühnchen mit dir rupfen!", drohte Tankred finster. Strix verschränkte ärgerlich die dünnen Arme vor der Brust und lupfte das spitze Kinn demonstrativ, "bedaure, aber ich bin ein HÄHNCHEN!" "Noch!", zischte der Falkendämon grimmig, "aber nicht mehr lange!" Weil Tankred durchaus weitere Kalamitäten voraussah UND sich ein wenig schadlos halten wollte, flogen bald Daunen und Federn! *~~~+~~~* Engel zu finden, das war nicht schwierig. Sie marschierten, meist schlicht gekleidet, einander ähnelnd (in der 5. Generation zumindest) umher, immer auf der Suche nach Beschäftigung, weil sie eine Aufgabe, eine Berufung benötigten. Wenn sie erwachten, ohne Erinnerung, ohne Ziel, ohne Auftrag, dann sammelte man sie wohltätig und mitfühlend ein, schulte sie für ihr neues "Leben" beim Großen M und arbeitete eifrig daran, ihnen einen "Sinn" zu stiften. KOK-Offize (Komitee organisierter Kreativität) durchstreiften frohgemut die Straßen, Gassen und Siedlungen, immer auf der Suche nach Engeln, Daimonen und Ex-Göttlichkeiten, die nichts mit sich anzufangen wussten oder sich verändern wollten. Für alle fand sich eine Nische, eine Würdigung der individuellen Fähigkeiten, des angeborenen Talents, man musste sich lediglich aufmerksam bemühen! Was es für O-Batyr schwierig gestaltete, war die Ausbringung des 'goldenen Staubs' auf der anderen Seite, in der Menschenwelt. Engel wechselten nicht gern hinüber. Diese andere Welt blieb für sie verwirrend, irritierend. Folglich musste O-Batyr einen Engel finden, der Interesse daran hatte, den Staub bei Asklepios abzuholen, anschließend durch ein Portal zu wechseln und in der Menschenwelt dem Säugling den Staub zu applizieren, ohne zu zweifeln, ohne zu zögern, ohne Fragen aufzuwerfen. Demnach einen Engel der höchsten Generation, der sich kaum entsann, noch nicht lange in dieser Welt war und deshalb noch keine Persönlichkeit ausgeprägt hatte, quasi ein Android, ein Roboter mit humanoidem Erscheinungsbild, ohne Emotionen. Wen sollte er aber ansprechen? Selbst an der Brücke, entlang der Grenze auf einen Glückstreffer warten? Das schied für ihn aus, denn immer weniger Engel passierten diese unsichtbare Demarkationslinie, deshalb votierte O-Batyr nach einigem Erwägen dafür, den Stier bei den Hörnern zu packen, sprich: den nächsten KOK-Offize um Beistand zu ersuchen! *~~~+~~~* Mantodea bremste höflich, als sich vor ihr der Malabsorbo materialisierte. Sie lächelte gewinnend, die großen Augen in ihrem dreieckigen Gesicht freundlich blinzelnd. "Sei gegrüßt, Kamerad. Benötigst du Hilfe?", formulierte sie aufmunternd und hoffte inständig, dass sich nicht gleich wieder eine blöde Bemerkung zu ihrer Daimonennatur anschloss. Es war ja nicht so, als würde sie männlichen Daimonen den Kopf abbeißen, wenn sie sie zum Vernaschen knackig fand! Ausgenommen, einer bäte darum, selbstverständlich. Man war ja aufgeschlossen und hilfsbereit, richtig? Der Malabsorbo neigte höflich den Kopf, "ich bin auf der Suche nach einem Engel, der für mich etwas Staub abholen und in der Menschenwelt abliefern kann." Die KOK-Offize (seit genau einer spannungsreichen Woche) blinzelte über die gewaltigen Facettenaugen. "Also unterhältst du einen Lieferservice?", versuchte Mantodea, entsprechend der Schulung, sich dem Kern des Anliegens zu nähern. "Nein, es handelt sich um einen einmaligen Auftrag." "Oh", sie blinzelte erneut und drehte den Kopf nachdenklich um beachtliche Grade hin und her. Das Gesuch entsprach eigentlich nicht ihrer Vokation, immerhin galt es für sie ja, alle Suchenden an "neue Ufer" zu geleiten. Andererseits war ihr auch kein Serviceunternehmen bekannt, dass Transportleistungen auf die andere Seite mit Engeln unternahm. "Das ist knifflig", erklärte sie ihre Denkpause, rieb unwillkürlich ihre kraftvollen Oberschenkel aneinander. Ihr Klient wartete geduldig. Mantodea verharrte eine ganze Weile reglos, das entsprach ihrer Natur. Auch der Malabsorbo wurzelte förmlich neben ihr an, ohne Beschwerde, ohne ungebührliches Drängen. Schließlich, nachdem sie alle Optionen, die Umstände und mögliche Folgen kontempliert hatte, löste sich Mantodea aus ihrer Erstarrung. "Gehen wir zur Schule", schlug die KOK-Offize vor. Möglicherweise gab es Neuzugänge, bei denen man noch nicht wusste, welche Berufung ihnen gerecht wurde! *~~~+~~~* Kapitel 4 Lacrimosa stand, in einem schlichten, wadenlangen Hemd, vor der Tafel und malte folgsam Schriftzeichen. Der Engel, ein gänzlich rosafarbiges Geschöpf, gerade mal einen laufenden Meter groß, stellte die letzte magere Ausbeute des Tinkers dar. Er lieferte zuverlässig die umherirrenden Engel ab, die er fand, ein freundlicher, einarmiger, ehemaliger Schmied. Eigentlich hätte, den Regeln zufolge, auch ein Name mit dem Anfangsbuchstaben "A" aus der Lostrommel gezogen werden müssen, doch da die kleinen Kittelchen alle bis auf die "L"-Ausgabe verschlissen oder zweckentfremdet worden waren, hielt man eine Ausnahme für angezeigt. Mantodea tauschte in gedämpftem Tonfall einige Worte mit der ersten Instrukteurin aus, einem munteren Kugelfischdaimon namens Marilyna. "Oh, Lacrimosa erledigt schon, was man ihm aufträgt", bestätigte sie fröhlich, "aber wie das mit frischen Engeln so ist: es hat keine Ahnung, was es da tut." Weshalb man diese Engel nicht ohne ständige Aufsicht agieren lassen konnte. Außerdem mangelte es ihnen auch noch an Orientierungsvermögen, da sie mit ihrer Umwelt bisher wenig Erfahrungen gemacht hatten, was einen Abstecher auf die andere Seite, die Menschenwelt, regelmäßig ausschloss. "Wir bräuchten also auch noch eine Begleitung", überlegte Mantodea halblaut. Wenn der Auftrag des Malabsorbo gelingen sollte, durfte er selbst sich dem 'goldenen Staub' nicht nähern. Der Engel konnte ihn erledigen, war jedoch ohne Anleitung absolut unfähig dazu. Das wuchs sich ja langsam zu einer ganzen Ausflugsgesellschaft aus! Andererseits, wenn man einem kleinen Kind helfen konnte, wer hätte sich da verweigert? *~~~+~~~* "Heulboje?! DAS ist der Name?!", Lodur knurrte grimmig und raufte durch seinen Bart, dem ein Schnitt erheblich besser getan hätte. Ja, zugegeben, gegen Unterstützung hatte er nichts einzuwenden, immerhin gab es jede Menge zu tun, aber deshalb gleich einen Engel zu nehmen, der ihm gerade bis zur Hüfte reichte und wie ein rosa Wölkchen wirkte?! Er funkelte mit aufgestützten Armen auf die geballte Bastion der KOK-Offize und der Instrukteurin hinab. "Ich hab gesagt, dass Hilfe nett wäre, aber das da", er wies anklagend mit einem (grünen) Daumen hinter sich, "kann doch gar nichts!" Er würde einen Schemel organisieren müssen bei der halben Portion und seinen üblichen Arbeitstischen! "Lacrimosa ist aufmerksam und lernwillig. Du könntest einen Test machen", Mantodea funkelte mit den großen Facettenaugen, "zufällig gibt es einen Auftrag für die Menschenwelt. Wenn du Lacrimosa begleitest, kannst du ja herausfinden, ob Talent vorhanden ist!" Lodur kniff die blitzblauen Augen unter den buschigen Augenbrauen zusammen. Auch sie hätten gestutzt werden müssen. "Kommst dir wohl listig vor, wie?", blaffte er, "wollt mir einen Ladenhüter aufschwatzen, wie?!" Nun baute sich Marilyna zu ihrer imposanten, gewaltigen Erscheinung auf. "Kannst DU dich beklagen?", konterte sie pointiert, "wie war das noch gleich? Irgendein Gott, der irgendwas mit Blut gemacht hat und an den sich keiner erinnert?" "Pah!", polterte Lodur eingeschnappt zurück, "das alte Einauge hat die Presse gekauft! Wissen doch alle! Jetzt hängt er bloß noch herum!" Und der Fenriswolf pisste regelmäßig auf den Teppich. Aber so verhielt es sich eben in der Welt! Als Trio fing man an, dann bekam einer den Hals nicht voll, beanspruchte den kompletten Ruhm für sich allein und drängte die anderen raus! Doch wenigstens hatte er sich eine passende Beschäftigung gesucht und lief nicht Gefahr, sich in Bälde in die ewigen Jagdgründe zu verabschieden, oh nein, keineswegs! Es war ihm gerade mal grenzegal, ob der alte Angeber in irgendwelchen Popcorn-Streifen durch die Gegend flimmerte! Muffelig beäugte er mit gekreuzten Armen den Engel. "Also, wenn es denn sein muss!", schnaubte er schließlich grollend, "aber ich nehm es nicht, wenn es keine Filigranarbeiten leisten kann!" Oder anfing, sich über Stacheln in den Fingern zu beklagen! *~~~+~~~* "Das kann ja wohl nicht wahr sein!", fauchte Lodur gedämpft, auch wenn er zweifelsohne nicht von Menschen vernommen werden konnte. ERST schwatzten diese beiden aufgedrehten Daimonen ihm einen ROSA Engel auf, der nichts konnte, DANN musste er sich von Mee-Poos (Metropolitan Polis) heimlich durch eine Pforte schleusen lassen, OBWOHL ihn angeblich niemand kannte, er aber trotzdem noch genug Ex von Ex-Gott intus hatte, um sich hier nicht tummeln zu dürfen, UND JETZT erklärte die Bande (plus gleich zwei Malabsorbo, die von oben das Geschehen verfolgten), dass der Engel TAUB war?! "Lacrimosa liest sehr gut", verteidigte Marilyna ihren Schützling, der wie eine rosa Stele artig neben ihr ausharrte und auf weitere Anweisungen wartete. "Toll!", schimpfte Lodur, "soll ich jetzt ne verdammte Schiefertafel mit mir herumschleppen, oder was?!" Der Kugelfischdaimon dehnte sich auf beeindruckende Maße aus. "Du könntest diesen grauenvollen Gesichtsbewuchs stutzen!", keilte sie zurück, "dann könnte Lacrimosa alles von deinen Lippen ablesen, ohne den Urwald, selbstverständlich." "Hör mal, Weib, mein Bart geht niemanden was an!", polterte Lodur ungezogen los. Was einen der beiden Mee-Poos dazu brachte, ihm in selbigen zu greifen und entschieden zu ziepen. "Leute, kriegt euch ein, ja?! Wir sind hier nicht gerade legal unterwegs!", erinnerte der Mee-Poo drängend. "Pah!", schnaubte Lodur, Ex-Gott und sehr lange eingemeindeter Daimon, verächtlich. "Pff!", blubberte Marilyna, Instrukteurin aus Leidenschaft. Mantodea, die in der Zwischenzeit gezierte Signaltöne mit dem zweiten Mee-Poo ausgetauscht hatte, kehrte ob der galligen Stimmung wieder in die Gegenwart der Menschenwelt zurück, wo sie sich gerade, ein Ex-Gott, ein Engel und vier ausgewachsene Daimonen in ein kleines Zimmerchen quetschten. Gegenüber, in sicherer Entfernung, die Wirkung des 'goldenen Staubs' nicht zu beeinträchtigen, beobachteten die beiden Malabsorbo reglos von einem Dachfirst das Geschehen. "Wir sollten uns beeilen. Erklär Lacrimosa, was er tun soll, ja?" Je schneller sie diese Herausforderung hinter sich brachte, umso rascher konnte sie herausfinden, ob man nach Feierabend vielleicht gemeinsam ein Ständchen intonieren konnte. Der Bursche hatte jedenfalls ein prächtiges Organ! Lodur knurrte zornig, knotete dann aber seinen Bart zusammen und fahndete in seinem praktischen Overall nach einem zierlichen Täfelchen. Ein ebenso filigraner Kreidestift wurde produziert, dann notierte er knapp die Anweisungen, hielt sie grob in Hüfthöhe vor Lacrimosas Augen. Der Engel blickte zu ihm auf, die dunkelroten Augen fixierten ihn, dann nickte Lacrimosa artig. Schnaubend, denn er glaubte keineswegs an einen Erfolg, zupfte Lodur einen Puderpinsel aus seinem Taschenreservoir, deutete auf den menschlichen Säugling, der in einer aufgezogenen Schublade schlief. Lacrimosa nahm den Puderpinsel entgegen, trat vor und stippte ihn in den brav apportierten Beutel mit dem 'goldenen Staub'. Konzentriert und geduldig tupfte der Engel das Baby ab. Üblicherweise hätte man eine Reaktion erwartet, doch Asklepios hatte vorausschauend dafür gesorgt, dass dem 'goldenen Staub' auch ein feines Schlafpülverchen beigefügt war. Mit anderen Worten: das Objekt derart geballter Aufmerksamkeit ratzte friedlich mit dezent verstopfter Nase vor sich hin. Lodur knurrte, die mächtigen Arme vor der Brust verschränkt. Da hatte er sich ja auf was eingelassen! Klar, ein Wort ergab das andere, weshalb er nicht mehr ausbiegen konnte. Aber warum bei allen nervtötenden Eisriesen trieben sich auch die zwei Mee-Poos hier herum?! Gut, sie waren nötig gewesen, die Passage durch die Pforte zu ermöglichen, denn die beiden Malabsorbo mussten Abstand halten, aber dennoch! Wie geeignet waren die beiden Deppen als Schutz und Schirm ihrer Mitdaimonen, wenn sie sich schon von rührseligen Geschichten derart leicht einfangen ließen?! Er räusperte sich grollend, als er das Hinterfüßeln zwischen einem Mee-Poo und Mantodea registrierte. Verdammte Flirterei! Bekloppte Sippschaft! Wegen so einer Mini-Portion wurden die gleich weich in der Birne! Ha! Wenn er da selbst an die Nachkommen seiner "Verwandtschaft" dachte, war er froh, sich rechtzeitig in die Obskurität abgeseilt zu haben, aber hallo! Kinder und kleine Tiere, einfach grässlich! *~~~+~~~* "Wieso muss ich jetzt hier sein?!", murmelte Tankred, keineswegs begeistert, aber die Antwort kannte er bereits, immerhin hatte ER ja seinem Kollegen den Hinweis mit dem 'goldenen Staub' gegeben und auch an der Pforte den Rückschmuggel der leeren Bierflaschen getarnt, steckte somit mit vollem Gefieder mittendrin in der klebrigen Pechgrube! Was ihm gar nicht behagte. O-Batyr neben ihm wandte nicht einen Wimpernschlag seine Aufmerksamkeit von dem kleinen Zimmerchen, in das sie Einblick hatten. Die Aussicht darauf, einem wenige Tage alten Säugling beizustehen, hatte eine erstaunlich große Gruppe ganz unterschiedlicher Individuen veranlasst, gemeinsam zu operieren. Nichts, was ihm nicht schon mal begegnet wäre. Dabei wussten sie nichts über dieses Kind. Es war nichts Besonderes, nur ein weiteres menschliches Wesen, das in einer nicht unbedingt komfortablen Situation seinen Start in die Welt hinlegte. Niemand hegte große Erwartungen, knüpfte überzogene Vorstellungen an dieses Baby, nein, es ging einzig darum, durch eine gemeinsame, kleine, beinahe unbedeutende Aktion ein Zeichen zu setzen, dass es nicht unmöglich war, die Welt, die Gesellschaft, das Zusammenleben zu verbessern. "Dafür schuldest du mir was", grummelte Tankred finster. O-Batyr nickte knapp. Es überraschte ihn ein wenig, wie entschieden der Falkendaimon sich an die Anweisungen zu halten pflegte, denn der wirkte häufig so provozierend, als kümmere ihn kaum etwas. Wahrscheinlich die Wirkung der Maske und ihrer Rüstung, sie konnten alles verbergen, verhüllen, verändern, machten die Malabsorbo nach außen gleich, ehrfurchtgebietend, abschreckend, mächtig. Und einsam. *~~~+~~~* "Ohohoh!", Mantodea umklammerte den Arm des von ihr ziemlich angetanen Mee-Poos entsetzt. Marilyna hielt vor Schreck die Luft an und der zweite Mee-Poo winselte ratlos. In der Tür stand der menschliche Übelenergie-Träger, hielt eine altmodische Wärmflasche, Gummiüberzug, Schraubverschluss. Im Augenblick offen, es dampfte, man hörte kein Gluckern, so voll und prall war sie gefüllt. Unterdessen operierte Lacrimosa weiter, sorgfältig und gründlich, kein Fleckchen Haut war auszulassen. Lodur beäugte das Panorama der hilflos-verschreckten Begleitmannschaft verdrossen. Sicher, der Mensch konnte sie nicht sehen (während sie durchaus erkennen konnten, was für ein elender Stinkstiefel er war), aber wie sollten sie den Engel warnen, dass der sich zurückzog? Denn Lacrimosa stand mit dem Rücken zur Zimmertür und war nicht angewiesen, wie es sich zu verhalten hatte, falls eine Störung auftrat. Aber eingreifen durften sie nicht, weshalb sich nun dieses erbärmliche Schauspiel von regloser Panik darbot. "Pah!", knurrte Lodur erbost, "Amateure!" Weil eben doch noch ein nicht unerheblicher Anteil von Gott ihn ihm steckte, was ihn gelegentlich sich sehr selbstherrlich gerieren ließ, fasste er in eine der unzähligen Taschen. Das kleine Tütchen, akkurat gefaltet, richtete er sorgsam aus, pustete auf das feine Pulver, das wie eine Puderwolke in die Luft glitt, direkt vor die Nase des Übelenergie- Trägers. Der jaulte auf, wollte sich in die Augen greifen, ließ dabei unbedacht die offene Wärmflasche los. Sein Wehgebrüll konnte man ganze zwei Häuserblocks weit hören. "Hoppla", Lodur grinste zufrieden und zwirbelte Kringel in seinen ausufernden Bart. Tja, Kumpel, wer anderen das Fell verbrühen will, sollte sicher sein, dass er nicht in eine Wolke trockener Höllenzirbel geriet! *~~~+~~~* "Wir werden so was von Ärger bekommen!", prophezeite Tankred konsterniert. Unten sammelte der Sanitätsdienst den Übelenergie-Träger ein, nachdem man ihn mit zwei Streifenwagenbesatzungen niedergerungen hatte. Oben schlief der Säugling selig, vollständig eingepudert. Für eine Weile geschützt, hoffte O-Batyr, der es durchaus begrüßte, dass man sich in der Wohnung umsah und entschied, hier werde Unterstützung benötigt. Vielleicht gelang es, wurde das Kind in eine sichere Obhut gegeben, lange und weit genug weg von seinem leiblichen Vater, um nicht dessen bösartige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Lass uns verschwinden", Tankred richtete sich auf, "für eine Weile haben wir diesen Klienten verloren." *~~~+~~~* Lodur verstaute seinen Puderpinsel wieder. "Sehr anstellig, nicht wahr?!", von Erleichterung durchdrungen und stolz blähte sich Marilyna derartig auf, dass Lodur sich fragte, ob sie es wirklich alle auf einmal durch die Pforte zurück schaffen würden. "Na ja", brummte er gleichmütig. Zugegeben, der Engel hatte seine Sache gut gemacht, was aber nicht unbedingt hieß, dass das funktionieren würde! Außerdem war es immer noch taub! "Ich glaube, Lacrimosa wäre dir eine große Hilfe!", mischte sich auch Mantodea ein, die hoffte, rasch gleich zwei Probleme zu lösen (kreativ selbstredend), um dann eilig in den Feierabend mit dem schnuckeligen Mee-Poo zu springen. "Du brauchst bloß eine Rasur!", ließ auch der Kugelfischdaimon nicht locker, "das scheint mir ohnehin angezeigt, wenn du nicht ständig das Gewölle in Taschen und Verschlüssen einklemmen willst!" Lodur knurrte guttural, hauptsächlich deshalb, weil Marilyna einen wunden Punkt angesprochen hatte, denn hin und wieder verklettete er sich schon!. Sie traten gemeinsam, als ziemlich große Truppe, durch ein etwas abgelegenes, selten genutztes Tor zwischen den Welten. "Ein paar Probetage werden doch wohl drin sein!", schulmeisterte ihn der Kugelfischdaimon sofort streng, "immerhin WOLLTEST du Unterstützung, oder nicht?!" Lodur hörte nicht hin, er beobachtete konzentriert den kleinen, rosigen Engel. Der hatte, ganz ohne Aufforderung oder Veranlassung von außen, aus dem Appartement einen verkrusteten Blumentopf, recht winzig, mitgehen lassen. Durch das Tor. Eines dieser Wegwerf-Pflanzengeschenke, eine Blattschmuckpflanze, schon verkümmert, da nicht gepflegt. Behutsam glitten die makellosen Engelfinger über jedes Blättchen, beinahe tröstend, aufmunternd. Lodur ging in die Hocke, fasste den Engel unter und hob ihn auf seine linke Schulter. "Schätze, du hast noch viel zu lernen. Ich bin ja auf Kakteen und Sukkulenten spezialisiert", brummte der Ex-Gott aus dem hohen Norden ungewohnt mitteilsam (und obwohl er wusste, dass der Engel taub war), "aber wir werden uns schon um dieses erbärmliche Gemüse da kümmern." Mit Göttlichkeiten, Menschen und Daimonen konnte er nicht viel anfangen, aber wenn jemand TALENT für die Flora andeutete, war er willig, Konzessionen einzugehen, sei es, sich das Haupt rundherum scheren zu lassen. "Oooohhh!!", seufzten Mantodea und Marilyna einig, schenkten sich gerührte Seitenblicke und ballten triumphierend die Fäuste in die Luft. Ha! Daimonen-Power, 2:0! *~~~+~~~* Kapitel 5 Strix mochte jede Abteilung, selbstverständlich, aber hin und wieder neigte er zu Lieblingsplätzen, zum Beispiel in der obersten Etage, in der Nähe der Reiseführer und -berichte. Sicher, in der Menschenwelt konnte man sich alles über das letzte Fleckchen der Erde auf die kleinen Taschencomputer packen, doch das verhinderte nicht, dass man hier immer noch Kundschaft fand, die diese Lektüre schätzte, zuverlässig, auch ohne Strom oder im Funkloch, hübsch bebildert, zuverlässig recherchiert. Wer hier die Regale absuchte, strahlte Vorfreude, Erwartung, Hoffnung aus. Die Energie kitzelte und kribbelte sogar Strix, der sie nicht verzehrte. Gleich nebenan gab es dann Bildbände, bevor man zu den Sach- und Ratgebern, gegenüber der Fremdsprachenabteilung gelangte. Auch in Strix kribbelte und krabbelte es, er hopste von einer Laufkralle auf die andere, drückte sich die Daumen. »Da! Schlag es auf! Schlagesaufschlagesaufschlagesaufschlagesauf!!!« Begeistert wischte Strix wie ein Blitz hinter den müßigen Begleiter, der froh war, die holde Gattin bei den Kinderbüchern für die Enkel "verloren" zu haben. Ein prachtvoller Bildband, ein Anschauungsexemplar, lag vor ihm. Er blieb stehen, löste die lässig auf dem Rücken verschränkten Hände voneinander, grübelte einen spannungsreichen Augenblick lang, dann schlug er den Bildband auf. Strix jubilierte innerlich. Für ihn selbst war der Prachtband zu groß, zu schwer, niemals hätte er ihn unbemerkt ausleihen oder durchblättern können. Jetzt aber bekam er erneut Gelegenheit, sich diese herrlichen, erstaunlichen, beeindruckenden Bäume anzusehen, die man abgelichtet hatte! Er strahlte selig und betätigte sich als Habicht, auch kein Fitzelchen ohne Betrachtung zu lassen! *~~~+~~~* "Oh, Hölle", murmelte Tankred, beschleunigte. Ihm schwante Übles. Sein aktueller Klient marschierte zielgerichtet, bestens gelaunt, ganze Wolkenbänke übelster Energie absondernd. DAS war jetzt gar nicht gut. *~~~+~~~* Eine dünne Energiefahne, ölig-schwarz, riss Strix aus seiner Versunkenheit über der Schulter des eifrigen Blätterers. "Nein! NEIN!", in Panik stürzte er sich durch das offene Treppenhaus tiefer, ließ Kalenderblätter aufwehen und Dekorationen schneller kreisen. Da! Genau an einem der Zugänge, zwischen den Inseln, mitten im Gewimmel! So viele Menschen, jung, alt, mit Kinderwagen und Taschen, abgelenkt, an den Kassen anstehend, sich das Angebot betrachtend. Doch zu spät. *~~~+~~~* Sein Tempel besudelt, abgesperrt. Verschreckte Gesichter, weinende, verstörte Menschen. Ambulanzen, die nach und nach die verletzten, gestürzten Personen abtransportierten, die schöne Festtagsbeleuchtung überblendet von Blaulicht, Schlaglichtscheinwerfern, Sirenengeheul. Strix hatte es versucht, so viele wie möglich zu beschützen, in der nach dem Knall, der Verpuffung und dem lokalen Feuer ausbrechenden Panik, ihnen zugerufen, andere Ausgänge zu suchen, nicht zu drängen, nicht auf die Gestürzten zu treten, fremde Kinder hochzunehmen, Gebrechliche einzuhaken. Es hätte durchaus schlimmer kommen können. Strix wischte sich Tränen vom Gesicht, ballte die Fäuste. Da stand dieser Unhold, dieser Schurke, dieser Verbrecher, ergötzte sich an dem Unglück, das er ausgelöst hatte, verströmte ekelhafte Energiewolken! Aber auch Tankred näherte sich, der Malabsorbo, in voller Rüstung. Zu spät. Stand einfach da, reglos. "Nicht eingreifen, hm?! NICHT eingreifen!", Strix faltete die Flügel, warf die Kapuze seines Capes zurück. Seine Augen funkelten grimmig, aber auch tränenpoliert. "Du hast MEINEN Tempel entweiht!", fauchte er, schraubte sich hoch, "das zahl ich dir JETZT heim!" *~~~+~~~* "Oh, verdammt!", Tankred ballte die metallischen Klauen, wandte sich suchend um. "Hilf mir!", rief er O-Batyr zu, der auf einem Dach kauerte, "komm schon, wir müssen ihn aufhalten!" Dieser verrückte Kauz verletzte die REGELN! *~~~+~~~* Die P.U.D.E.L. materialisierten sich rasch hinter Strix, legten ihm je eine große Pfote auf die schmalen Schultern. Natürlich wusste er, was die Stunde geschlagen hatte, doch noch zitterte er am ganzen Leib über den tragischen Triumph, den Polizeihund zu veranlassen, beim Übelenergie-Träger anzuschlagen, sodass sie ihn filzten, die Chemikalienrückstände an Tasche und Handschuhen bemerkten, ihn wegführten, trotz der Proteste. Ein unbeschriebenes Blatt, das würde es später wohl heißen, ein so netter, freundlicher, junger Mann, unauffällig, hilfsbereit, ohne Vorstrafen. Beinahe wäre er entwischt. Strix schniefte, blickte sich noch einmal um. Abschied nehmen. *~~~+~~~* Tankred wartete vor dem Gerichtsgebäude. Eine schnelle Entscheidung. Wenn die P.U.D.E.L. auftauchten, war die Lage eindeutig. Strix tappte langsam, den Kopf gesenkt, mit hängenden Schultern, die Stufen hinab. Man hielt Abstand, wich ihm aus, wegen der Energie. "Ich hatte dich gewarnt", murmelte der Falkendaimon, löste sich aus den Schatten und näherte sich. Dicke Tränen kullerten wie perfekte Perlen hinter den beschmierten Brillengläsern über das bleiche Gesicht. "So viele Wunder!", krächzte Strix, ohne ihn tatsächlich zu registrieren, "immer wieder neu, so hübsch dekoriert!" Der Malabsorbo studierte ratlos den schmächtigen Daimon, der um ihn herum stolperte, als sei er bloß ein stationäres Hindernis in seiner Umlaufbahn, dabei vor sich hinbrabbelnd und unaufhörlich weinend Tankred nahm die Verfolgung auf, schlang den Arm um eine magere Taille. "Wo willst du denn hin, Käuzchen?", erkundigte er sich, bemüht streng, was jedoch eher gequält klang. "Schöne Bäume mit grünem Laub!", murmelte Strix vor sich hin, antwortete ihm gar nicht. "He, Kauz, komm schon!", der Falkendaimon lupfte seine Maske und schüttelte knochige Schultern, "krieg dich wieder ein, ja?!" Aber dem glasigen Blick nach zu urteilen und dem beseelten Grinsen stand Strix so weit neben sich, dass nicht mal ein Fernrohr helfen würde. "Na toll, ein Schock!", diagnostizierte Tankred grimmig, "das hat mir gerade noch gefehlt!" Andererseits würde sich wohl niemand des Käuzchens annehmen. Immerhin hatte der, neben dem Energieproblem, auch noch DIE REGEL gebrochen!! Was ihm zu einer sehr unerfreulichen Prominenz verhalf. Seufzend legte er die Arme um Strix und erhob sich mühelos in die Luft. "SO hatte ich mir das aber nicht vorgestellt!", beklagte er sich beim trügerischen Schicksal, das ihm vermutlich gerade genüsslich eine Nase drehte! *~~~+~~~* Nachdem er Strix von Bekleidung und verklebter Brille befreit hatte, lauschte Tankred widerwillig mitfühlend dem zusammenhangslosen Monolog, bis das Käuzchen in seinem Nest alle Energie erschöpft hatte und leise schnarchend schlief. Wie gewohnt einen breiten Flügel positionierend rückte Tankred heran und überdachte matt die Lage. Das Käuzchen durfte nie wieder in die Menschenwelt zurück. Was sollte hier aus ihm werden, bereits gezeichnet, beinahe durchdrungen von der Energie eines Malabsorbo, somit allein, isoliert? Vielleicht hätte er ihm doch nicht zur Hilfe eilen sollen? Dann wäre das mehrstöckige Geschäft dennoch Ziel geworden. Nur für eine Weile konnte man mit gespendeter Energie die Übelenergie-Tragenden von ihrem Vorhaben abhalten, aber nicht abbringen. Aufhalten selbst hätte "eingreifen" bedeutet, was nun mal streng untersagt war. Ein Malabsorbo lernte über die Zeit, diese Logik zu akzeptieren. Manche von ihnen vertrauten auf die ausgleichende Gerechtigkeit der Gesellschaft, dass niemand ewig ungestraft davonkam. Häufig musste man das Gegenteil aushalten. Damit es einen nicht zermürbte, war es überlebenswichtig, Distanz aufzubauen, sich nicht einzulassen. Weshalb sie allein waren, nur hin und wieder unter Malabsorbo Austausch pflegten. Ihnen klebte schließlich, wortwörtlich, das Pech, das Unglück, die Bosheit und Arglist, das SCHLECHTE, am Leib. Selbstverständlich erfüllten sie eine wichtige Aufgabe, gar kein Zweifel! Trotzdem. Manchmal genügte diese Gewissheit nicht, all die anderen Erlebnisse zu übertreffen. Jetzt hatte er das Käuzchen in diesen Strudel aus notwendiger Einsamkeit hineingezogen, aus dem es kein Entkommen gab. Gut, GEWARNT worden war es ja, dieses sture, verrückte, in Bücher vernarrte Käuzchen! Tankred streichelte behutsam durch den fedrigen Flaum, den er nicht wenige Tage zuvor erheblich gründlicher durchpflügt hatte. "Es tut mir leid", raunte er leise, bedauernd. Dass er, aus dem Impuls heraus, seine einsamen Nächte zu beenden, ein so schicksalhaftes Unglück über das Käuzchen gebracht hatte. *~~~+~~~* Strix fühlte sich fürchterlich, obwohl das Nest sehr weich und bequem war, sogar frisches Wasser und mehrere Knabberriegel seiner Lieblingssorte auf ihn warteten, ein wolliges Tuch über ihm ausgebreitet war, den großen Falkenflügel zu ersetzen. Ihm war so elend zumute, doch seine Tränen blieben versiegt. Was sollte er jetzt tun? Was konnte ihm das Leben noch bieten? Er rollte sich zusammen und wünschte, nie mehr aufwachen zu müssen. *~~~+~~~* Wie ein Lauffeuer hatte es sich verbreitet, dass ein Daimon die Regel gebrochen hatte und gleich verurteilt worden war, nie mehr die Menschenwelt betreten zu dürfen! Zumindest aber wurde er nicht weggesperrt, um dort auf ewig auszuharren, von der Welt vergessen oder musste verhungern. Tankred, dem es keine Mühe bereitet hatte, Strix' wenige Habseligkeiten aus dessen ehemaliger Baumhöhle zu bergen, seufzte stumm: verhungern nicht, aber darben schon. Er war treu seiner Pflicht nachgekommen, doch seine Gedanken kreisten den ganzen Tag darum, wie er das Käuzchen ein wenig trösten konnte. Bücher mitgehen lassen? Keine gute Idee, denn Tankred war auch bewusst, dass er unter gewisser Beobachtung stand, wenn er sich nun um Strix kümmerte. Was mochte das Käuzchen aufheitern? Oder wenigstens ablenken? Das Nest war klein, sonst hatte es wenig gegeben, ein paar Vorräte, einen zweiten Satz Bekleidung, ein Nachthemd mit Nachtzipfelmütze, ein klares Indiz dafür, dass der Kauz nur in der Menschenwelt "gelebt" hatte, auf dieser Seite lediglich schlief und speiste. Auch keinen Hinweis auf Bekannte, Freunde, von geliebten Daimonen ganz zu schweigen. Beschämenderweise eine Erleichterung, wie Tankred sich widerwillig eingestand, auch wenn er etwas Entsprechendes vermutet hatte. Er räumte das Feld und breitete die Flügel aus, froh, der belaubten Enge zu entwischen. Ein hoher Horst, mit freiem Blick, das sagte ihm doch eher zu. *~~~+~~~* "Was tun wir hier?", O-Batyr klang gewohnt gefasst, beinahe gleichmütig. Tankred marschierte, für die Menschen unsichtbar, durch die einzelnen Etagen, sah sich suchend um, hoffte auf eine Eingebung. "Er weint, isst nichts mehr, redet nur noch zusammenhangslos", antwortete er schließlich gepeinigt auf die Frage seines Kollegen. Es musste etwas geschehen. So KONNTE er es nicht mehr aushalten, diesen bodenlosen Kummer, in dem sich das Käuzchen förmlich aufzehrte! Wo hatte der sich hier am Liebsten aufgehalten? Der Malabsorbo folgte der Energiespur, blickte sich um. O-Batyr trat neben ihn, tippte auf einen Bildband. "Bäume", seufzte Tankred grimmig, "na klar, es müssen ja ausgerechnet Bäume sein!" Sollte er seine Höhle vielleicht mit Zweigen, Blättern und derlei schmücken?! Während er mit säuerlicher Miene unter der Maske die Optionen durchging, schlenderte O-Batyr ein wenig weiter. Dabei konzentrierte er durchaus seine Aufmerksamkeit auf die sich langsam verlierende Spur des Kauzes. Er hielt inne. Tankred, der zu ihm aufgeschlossen hatte, blickte ebenfalls nach oben. "Ausgeschlossen!", stellte er kategorisch fest. Andererseits... *~~~+~~~* Zweifellos ein wenig selbstsüchtig, das gestand Tankred sich durchaus ein, als er das Viertel verließ, sich in die Luft schraubte. Ein hoher Preis für ein ausgesprochen kostspieliges Werk. Trotzdem. Ein Leben für ein Leben. *~~~+~~~* Tankred fütterte zerkrümelte Riegel, hielt Strix in den Armen, die Flügel um sie gelegt, erzählte ihm von seinem Abstecher in den "Tempel", von den neuen Dekorationen, von den Neuerscheinungen, von den vielen Menschen, die sich wieder dort tummelten, streichelte durch den Flaum des allzu mageren Daimons, wiegte ihn tröstend . Er wünschte, dass das Käuzchen wieder weinen würde, weil das sehr viel besser war als der katatonische Zustand gerade. *~~~+~~~* O-Batyr hörte aufmerksam zu. "Ich soll dort eine Nacht verbringen", wiederholte er ruhig. Tankred knurrte. "Du hast mir dein Wort gegeben!", erinnerte er grimmig, "jetzt fordere ich es ein." Für sehr lange Momente herrschte eine aufgeladene Spannung zwischen ihnen. "Ich stehe zu meinem Wort, sei versichert", bekräftigte O-Batyr schließlich. Der Falkendaimon sortierte unter dem wie flüssiges Pech gleitenden Umhang seine Schwingen. "Im Übrigen musst du auf die Gerüchte nichts geben", grummelte er, "das ist bloß Gerede." O-Batyr lupfte hinter seiner Maske eine Augenbraue. Auf was für Gerüchte spielte sein Kollege da an? Doch einerlei. Er stand in Ehrenschuld, deshalb hatte diese offene Frage keine Bedeutung! *~~~+~~~* Kapitel 6 Anders als sein Kollege verfügte O-Batyr nicht über Flügel. Nein, eine ganz gewöhnliche, humanoide Gestalt verbarg sich unter dem fließenden, pechschwarzen Umhang und hinter der Maske, deshalb strebte er das ihm ausgewiesene Ziel zu Fuß an. Eine Nummer wies den Eingang aus, doch kein Namensschild oder ein Hinweis auf die ausgeübte Profession, was recht ungewöhnlich war, denn hier befand er sich in einem Viertel, das hauptsächlich von Handwerksbetrieben genutzt wurde. Viele wohnten auch über oder in ihren Werkstätten. Er zog an dem beeindruckend geflochtenen Glockenstrang. Die Pforte wurde nach innen geöffnet, in ein heimelig-einladendes, buntes Spektrum von Glaslichtern wie ein Kaleidoskop oder eine extravagante Lampe im Tiffany-Stil. Vor ihm baute sich eine recht zarte Gestalt auf, eine hüftlange, smaragdgrüne Weste übergeworfen, die Kapuze das Haupt verbergend. "Guten Abend", wünschte O-Batyr höflich. Sein Gegenüber, beinahe auf gleicher Höhe, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich lässig in den Türbogen. "Wird sich zeigen. Warum nimmst du nicht erst mal die Maske ab?", die Stimme klang herausfordernd und sehr selbstsicher, ein wenig aufreizend. So wie die Haltung. O-Batyr registrierte die elfenbeinfarbene Bekleidung unter der Weste. Etwas so kunstfertig Gesponnenes, mit Perlen und goldenem Schimmer Durchwirktes hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. Es passte perfekt zu der sehr hellen, makellosen Haut der eleganten Hände mit den langen Fingern, deren Nägel wie Smaragde funkelten. Langsam löste O-Batyr die Maske. "Na!", schnaubte es spöttisch unter der Kapuze, die wie die gesamte Weste aus hauchzarter Wolle gewirkt war, "so einen Unterschied macht es gar nicht. Bist wohl Mimik-Maestre, hm?" Vorlaut und frech, sehr selbstbewusst. "Ich bin hier, eine Schuld einzulösen", antwortete O-Batyr. Seine Stimme klang auch ohne Maske sonor und gleichförmig. Die Kapuze wurde zurückgeschlagen und enthüllte ein von einer dichten, weißblonden Mähne eingefasstes, außergewöhnlich schönes Antlitz mit feinen Gesichtszügen, smaragdgrüne Katzenaugen, dünne, spöttisch gelupfte Augenbrauen und einen dünnen, kirschrot schimmernden Mund. "Dann mal rein mit dir, du Held!", schnurrte ihr Besitzer keck, "wirf den ganzen Rüstungsklimbim hier an der Garderobe ab." Er ließ O-Batyr kaum Raum, sich an ihm vorbeizuschieben. *~~~+~~~* "Ach du Schande, auch noch ein Stahlprügel?", spottete Yzibao herausfordernd über das Kurzschwert, das in einem Gurt um die sehr aparte Hüfte befestigt war. Nach einem wachsamen Blick aus den tiefschwarzen Augen unter den ausdrucksstarken Augenbrauen wurde es ebenfalls an der Garderobe abgelegt. Darunter trug der Malabsorbo eine kurze, schwarze Jacke mit goldfarbenen Ziertressen und Knebelverschlüssen, eine blutrote Bauchbinde über einer schlichten, weißen Hemdbluse und wadenlange, schwarze Hosen. Mattschwarze Stiefel rundeten das Bild einer leichten Reiteruniform ab. "Klassisch, aber ein bisschen arg altklunkrig", urteilte Yzibao ungeniert, umrundete seinen Gast für die Nacht mit tänzerischer Anmut, "so ohne Reittier irgendwie halbherzig." Der Malabsorbo stand gelassen, reglos, kommentierte die provozierenden Bemerkungen und Gesten nicht. "Einmal Soldat, immer Soldat, hm?", schnaubte Yzibao, reckte das spitze Kinn höher, "nun, setz dich, dekorier meine Chaiselongue." Diese entsprach dem klassischen Ideal, war ebenfalls mit smaragdgrünem Stoff bezogen. Man geruhte, Platz zu nehmen, saß wie Pik 7 aufrecht, die Hände artig auf den Oberschenkeln abgelegt. "Oh, du liebe Güte!", fauchte Yzibao spöttisch, "entspann dich, ja?! Ich hab nicht vor, dich zu fressen!" Die tiefschwarzen Augen musterten ihn. Die alert-trainierte Haltung blieb unverändert. "Pah!", knurrte Yzibao, "stell das Fracksausen ein, du Held! Vergiss das Gerede!" Wieder studierten ihn die schwarzen Augen eingehend, doch sonst verzog der Malabsorbo keine Miene. Herausgefordert entledigte sich Yzibao der grünen Weste, ließ sich ebenfalls auf der Chaiselongue nieder, doch viel legerer, die langen Beine angezogen abgelegt, genoss selbstsicher die unmissverständliche Begutachtung seiner anmutigen, biegsamen Gestalt. »Na warte, Kumpel, dich koch ich schon weich!«, schwor er sich und genoss die Vorfreude. *~~~+~~~* Etwas Vergleichbares hatte er tatsächlich noch nie gesehen: Trikot mit Dreiviertelärmeln, Caprihose, alles in diesem prachtvoll-luftig-leichtem Elfenbeinton wie auf den Leib gesponnen, so kunstfertig, dass er sich bremsen musste, nicht eine Hand auszustrecken, über das komplizierte Muster zu streichen. Um diesem Impuls zu widerstehen, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Gewölbe zu, das sich direkt hinter der Pforte erstreckte. Tatsächlich verteilten hier geschickt montiert hoch oben bunte Glasleuchten das erstaunliche Licht, sorgten für eine fast sakrale Atmosphäre, zugleich jedoch wohlig-intim. Kurios: an den Wänden um die freie Mitte registrierte er gewaltige Schubladenschränke. Was mochte sich darin verbergen? Ob sich etwa darin die Artikel befanden, die der ungewöhnliche Daimon neben ihm feilbot? "He!", schnaubte der gerade und packte ihn am Kinn, zwang ihm Blickkontakt auf, "hast du keine Manieren?!" Offenkundig war man äußerst empört darüber, nicht mit ständiger Aufmerksamkeit bedacht zu werden. Ein feines Lächeln huschte über die schmalen Lippen, die Katzenaugen funkelten, "sag mir, du Held, wie ist das so, KEIN Held mehr zu sein, hm?" Ein herausforderndes Schnurren lag in der Stimme, die gerade zuvor noch grob polterte, eher nach einem ungezogenen Jugendlichen klang. "Diese Frage kann ich dir nicht beantworten", gab O-Batyr ruhig zurück. "Ah, nein?", flötete der attraktive Daimon an seiner Seite, rückte hautnah heran, immer noch sein Kinn umfasst haltend, "weshalb nicht?" O-Batyr fühlte sich ein wenig in eine beinahe schon vergessene Vergangenheit versetzt, als er zuerst in diese andere Welt gewechselt war. Damals gab es auch Interessierte, die neugierig waren, die einen ehemaligen Helden treffen wollten. "Ich bin weiterhin ich", antwortete er gelassen, "alles andere liegt außerhalb meiner Einflusssphäre." "Ach, Papperlapapp!", fauchte sein Gastgeber ihm ärgerlich ins Gesicht, die Katzenaugen zu Schlitzen gezogen, "bist du jetzt ein Heros, oder nicht?!" O-Batyr lupfte sparsam eine seiner ausdrucksstarken Augenbrauen. Was für ein explosives Temperament! Und eine kurze Lunte, wie es den Anschein hatte. Hatte man ihn denn wirklich einbestellt, um alte Geschichten aufzuwärmen? *~~~+~~~* Yzibao kochte vor Empörung. Was erlaubte sich dieser Kerl?! Erst hatte der nicht ein Fitzelchen Angst, dann stoffelte der hier maulfaul herum und fügte sich kein bisschen seiner Schmeicheltaktik! Unerhört! Dabei hatte er doch beabsichtigt, ihn ganz gemächlich, in aller Ruhe, aufzutauen, für sich zu erwärmen, ihn einzuwickeln! Aber er konnte auch anders, oh ja! Diesem eingebildeten, knackigen Ex-Helden würde gleich Hören und Sehen vergehen, aber hallo! Zu diesem Zweck katapultierte sich Yzibao aus seiner trügerisch legeren Haltung hoch und ging dem Malabsorbo an die Kehle. *~~~+~~~* O-Batyrs Kampfreflexe reagierten zwar, doch um einen Wimpernschlag zu spät. Er keuchte leicht unter dem Aufprall, dann spürte er einen kurzen Schmerz in der Halsbeuge. Zu seiner Verblüffung stöhnte sein Gastgeber guttural auf. O-Batyr packte die schmalen Schultern und schleuderte den attraktiven Daimon von sich, kam, schon unsicher, auf die Beine, taumelte hoch. "Au, verdammt! Sei nicht so grob, du Bauerntrampel!", fauchte es nunmehr sehr bodenständig (im wahrsten Sinne des Wortes) zu ihm hoch. Er registrierte die zwei Fangzähne, die sich über das normale Gebiss geschoben hatten, die Blutspuren auf den Lippen und am Gebiss. Mit einer fast obszönen Geste leckte sich der Daimon über Zähne und Lippen, stöhnte genüsslich auf. "Davon will ich mehr!", funkelte er gierig und süffisant zu O-Batyr hoch. Der verzichtete darauf, zur Wunde an der Kehle zu greifen, die Frechheiten zu kontern oder ähnlichen Unsinn anzustellen. Zur Garderobe, sein Schwertgehänge! Ihn schwindelte, trotzdem setzte er einen Fuß vor den anderen. "He! HE! Bleib gefälligst hier!" *~~~+~~~* "Verdammt!", konstatierte Yzibao, während er sich verstohlen das verlängerte Rückgrat rieb. Wieso konnte der Bursche sich noch auf den Beinen halten?! Überhaupt, schubste ihn hier glatt herum! Frechheit! Eigentlich, und das irritierte ihn nun doch, hätte bereits beim Eindringen seiner Fangzähne ein Sedativum hochwirksam werden müssen. Es lähmte die Blutspendenden, machte sie träge, schläfrig, hübsch pflegeleicht eben. Abgesehen davon, dass es die Blutgerinnung verzögerte. Dass ihm hier jemand beinahe unbeeindruckt davon marschierte, das hatte Yzibao noch nie erlebt. Zäher Kerl! Rasch kam er gelenkig wieder auf die bloßen Sohlen, pfiff knapp durch die Zähne und drehte sich in einer tänzelnden Bewegung, gerade noch rechtzeitig, dass ein starker Strang urplötzlich zur Stolperfalle wurde, den Malabsorbo von den Füßen holte, bevor der das Schwert aus der Scheide ziehen konnte. "Jetzt mach nich so'n Drama!", schnaubte Yzibao, spazierte heran, stützte die eleganten Hände in die schmalen Hüften, "is ja nicht so, als wollt ich dich abmurksen!" Bloß ausgiebig kosten. *~~~+~~~* O-Batyr registrierte, gewohnt gelassen bis kaltblütig, wie ihm langsam die Sinne schwanden. Das konnte nicht dem geringen Blutverlust zuzuschreiben sein. Eine Droge? Aus dem Nichts war unerwartet ein Strang gespannt worden, der ihn zu Fall gebracht hatte. War da ein geschäftiges Summen? Was lauerte in den Schubladenschränken, die ihm nun allzu gefährlich im Rund angeordnet waren? Doch kampflos in sein Schicksal ergeben, das kam für ihn nicht in Frage, deshalb säbelte er auch geübt die Beine unter seinem Gastgeber weg. *~~~+~~~* "Autsch! Du grober Idiot, was soll das denn?!", Yzibao fing sich mühsam mit den Händen ab, rollte reflexartig außer Reichweite seines unerwartet widerspenstigen Mahls. Richtete sich der Kerl etwa auf?! Wenn der das blöde Stahlbesteck rauspackte, würde alles versaut werden! Yzibao fischte eilig nach einer hölzernen Garnspule und feuerte diese mit aller Kraft auf den geschorenen Hinterkopf seines unliebenswürdigen Gastes. Ein ersticktes Aufstöhnen später prallte dieser spannungslos auf den steingefliesten Boden. Vorsichtig kam Yzibao auf die Beine, hielt wachsam ausreichenden Abstand. "Verdammt noch mal!", stellte er leise, aber durchaus anerkennend fest, "du bist ja ne schräge Nummer!" Er angelte, von Abscheu erfüllt, das Schwertgehänge außer Reichweite, beförderte es mit ausgestreckten Armen in eine hölzerne Truhe, die er zur Sicherheit noch mit einem Stoffballen beschwerte. Dann, selbstbewusster, kehrte er auf blanken Sohlen zurück, ging in die Hocke. Die Wunde an der Kehle hatte sich schon spurlos geschlossen. Behutsam tastete Yzibao den Hinterkopf ab, strich dann durch die schwarzen, prachtvollen Strähnen am Oberkopf. Was für eine Putzwolle! Dicht und ein wenig rau, aber sehr angenehm, um sie zu raufen und ein wenig zu ziepen! Er versuchte, die Arme unter die Achseln hindurch geschoben, seinen sehr appetitlichen Blutspender aufzurichten, um diesen zur Chaiselongue zu bugsieren. Ganz sicher würde er hier nicht stillos auf allen Vieren herumkreuchen, um sich sein Leckerli zu verschaffen! Es erwies sich jedoch, wie er außer Atem und dezent erhitzt feststellte, als unerwartet schwieriges, vor allem schwerwiegendes, Unterfangen. Dabei hatte der Kerl doch alles abgelegt! Allerdings, und das musste Yzibao neidvoll anerkennen, verbarg sich unter dem recht traditionellen Gewand ein muskulöser, austrainierter Körper, perfekt modelliert. "Na toll!", konstatierte Yzibao schließlich frustriert, die eleganten Hände erneut in die Hüften gestemmt. SO hatte er sich das Tete-a-tete ganz sicher nicht vorgestellt! *~~~+~~~* Kapitel 7 Ümir sortierte sorgfältig farbige Glassplitter, eine Aufgabe, die Geduld und Konzentration erforderte, doch hin und wieder glitt sein Blick hinüber, wo das überdimensionale T-Shirt wie eine Mahnung leise im Luftzug schwang: [I AM sensible!] Es passte ihm, was man nur von wenigen Kleidungsstücken behaupten konnte, die nicht eigens nach seinen Maßen angefertigt wurden. Zudem benötigte er, wenn man es genau nahm, auch nicht gerade viel Bekleidung, aber Ümir wollte niemanden vor den Kopf stoßen, deshalb achtete er durchaus darauf, potentiell neuralgische Körperteile zu bedecken. Er seufzte kollernd. Das T-Shirt hatte er noch nie getragen, zumindest nicht außerhalb seiner großen Höhle, weil, also, das Motto sprach schon für ihn, bloß konnten ja Betrachtende, sprachkundiger Lesende, sich vorgehalten fühlen, sie selbst seien nicht so sensibel wie der T-Shirt-Träger. Eine Unterstellung, ein Gemeinplatz, den Ümir keinesfalls bemühen wollte! Was zu seinem lebenslangen Dilemma führte: er war, beinahe krankhaft, schüchtern. Deshalb verhielt er sich passiv, ganz zurückgenommen, achtete genau darauf, niemanden zu verletzen, grübelte über jede potentiell negative Reaktion lange nach. Nicht, dass das bisher irgendwem aufgefallen wäre, aber seine Statur, seine Beschaffenheit lud auch nicht gerade zu Vertraulichkeiten ein. Immerhin, warum sollte das Innere vom Äußeren so extrem abweichen?! Ümir seufzte erneut. Ein steinerner Riese zu sein, das half ihm wirklich gar nicht! *~~~+~~~* Yzibao warf sich den smaragdgrünen Kapuzenmantel über und schlüpfte in leichte Sandalen, dann verließ er sein trautes Heim und pochte vernehmlich an der Nachbarspforte. Man öffnete, lugte vorsichtig aus dem Türspalt. "Guten Abend!", Yzibao lächelte einladend (die Fangzähne sicher im Kiefer verstaut), "entschuldige die Störung, Kamerad, aber könntest du mir einen Augenblick behilflich sein?" *~~~+~~~* Ümir wusste natürlich, wer sein Nachbar war. Niemandem konnte diese geschmeidige, elegante, ungeheuer attraktive Gestalt entgehen. Sie vertrugen sich recht gut, wie er fand. Zugegeben, der Kontakt war unregelmäßig und selten, man kam sich nicht in die Quere. Außerdem hatte Ümir nicht das Geringste von einem Baobhan-Sith-Daimon zu befürchten, auch wenn der nicht gerade auf Granit beißen würde, eher eine andere Mischung. So richtig vertraut war er aber nicht mit dem, was sein Nachbar so tat. Es musste jedoch lukrativ sein, denn der Baobhan-Sith-Daimon hatte ihm viele seiner prachtvollen Glasleuchten abgekauft. Vorsichtig bewegte er sich deshalb in der Werkstatt, pflückte den Ohnmächtigen vor der Garderobe vom Boden und apportierte ihn auf das aparte Möbelstück. In seine eigene Höhle zurückgekehrt studierte er aufmerksam das Dankespräsent, eine samtig weiche Stoffkugel, dunkelrot gehalten, am Bändchen. So hübsch! Was ihn zu neuen Grübeleien veranlasste, während er sich wieder der Glasscherbensortierung widmete. *~~~+~~~* Yzibao kraulte durch die dichten, schwarzen Strähnen, nur am Oberkopf länger gehalten. »Rasiert sich wohl die Seiten rundherum, damit die blöde Maske besser gekordelt werden kann!«, urteilte er stumm, zog dann die Hand zurück, als ihm bewusst wurde, wie vertraut er mit seiner Leckerei-in-spe umging. Keine Tändeleien mit dem Blutspender! Einerseits. Andererseits. "Also, so hatte ich mir das nicht vorgestellt!", beklagte er sich grimmig und kniff in die gerade Nasenspitze. Dass der Bursche derart zäh war. Und dass er, leider, so verführerisch lecker schmeckte! Eine ganz eigene Mischung, nun ja, Halbgott und Malabsorbo, das kam nicht häufig vor! "Ziemlich unverschämt von dir, mich herumzuschubsen!", hielt er dem Ohnmächtigen vor, "ich hätte mich glatt verletzen können!" Gut, einen Soldaten kümmerte das vermutlich nicht sonderlich. Yzibao löste die Knebelverschlüsse und die altmodische Verschnürung der schlichten Hemdbluse, fahndete nach Puls- und Herzschlag. "Schaust schon appetitlich aus", grinste er frech, "wenn man darauf Wert legt. Ich ziehe aber INNERE Werte vor!" Diesen, zugegeben, alten Scherz aufwerfend beugte er sich über den Malabsorbo, die Fangzähne aus dem Oberkiefer gleitend. Nicht einen Augenblick später fand er sich in einer eisernen Umklammerung. Ein Arm klemmte seine beiden Arme an den Leib, der andere würgte ihn am Hals und überstreckte sein Genick. "AU! Du tust mir weh, du brutaler Landsknecht!", protestierte Yzibao aufgebracht, wenn auch kurzatmig. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht befreien! "Keine Bewegung", raunte die sonore Stimme an seinem Ohr, "sonst bin ich gezwungen, dir weitere Schmerzen zuzufügen." Yzibao zischte, drehte die Handgelenke, ließ die Finger tänzeln. Der Würgegriff um seinen Hals verstärkte sich augenblicklich. "Ich rate dir, deine fliegenden Gehilfen zurück in ihre Schubladen zu beordern", wisperte es sehr nahe an seinem Ohr. "Scheißkerl!", zischte Yzibao, pfiff dann aber. Das Summen wurde leiser, als seine brave Legion von Daimonenkäfern in ihre Schubladen zurückschwirrte. "Und jetzt?!", ätzte Yzibao übellaunig, "willst du die ganze Nacht so stehen?!" "Für alternative Vorschläge bin ich jederzeit offen", antwortete der Malabsorbo gelassen. Yzibao konnte nicht mal die Fäuste vor Zorn ballen, so fest hielt ihn der ehemalige Heros. "Von Galanterie hast du wohl noch nie was gehört, wie?!", fauchte er verächtlich, "mich so niederträchtig zu behandeln!" Zu seiner Verärgerung lachte der Malabsorbo leise, eine Regung, die ungefiltert seinen eigenen Leib durchlief, weil sie so aneinandergeschmiegt standen. "Wenn du Minne wünschst, kann ich dir Lieder vortragen", stellte O-Batyr ihm in Aussicht. "DU kannst singen?! Pah!", knurrte Yzibao betont ungläubig. Immerhin klang die zwar dunkle Stimme doch recht gleichförmig! *~~~+~~~* O-Batyr studierte seine Umgebung sorgfältig. Er hatte nicht lange benötigt zu begreifen, was ihm drohte, nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war. Das dezente Summen, der Strang, der scheinbar aus dem Nichts gekommen war, jedoch von solcher Stärke, ihn zu Fall zu bringen, der komplett freie Raum zwischen den Schubladenschränken. Zwar hatte er sich bemüht zu erfahren, wer dieser Yzibao war, zu dem Tankred ihn schickte, jedoch wurde er lediglich gewarnt, sich besser vorzusehen. Baobhan-Sith-Daimonen galten eigentlich als Waldbewohnende, zumeist weiblicher Gestalt, angeblich Vampire, die ihre Opfer bis zum letzten Tropfen aussaugten, nachdem sie sie schwindlig getanzt hatten. Für O-Batyr klang das schlicht nach einer der Legenden aus der Menschenwelt, einzureihen mit Elfen, Naturgeistern und anderen imaginären Schreckgespenstern. Oft hatte er solche Gerüchte gehört, Wiedergänger, Bluttrinker, Untote, Werwölfe. Niemals war er solchen begegnet. Was er vorfand, wenn man ihm befahl, damit "aufzuräumen", waren Vorurteile, Ängste, Unwissen, Ignoranz, Hysterie, Panik und gelegentlich auch Halluzinationen durch verunreinigte Speisen. Er hatte nie gegen Götter, Geister oder andere Wesen gekämpft, sondern gegen Menschen, immer nur Menschen. Weil es nichts anderes dort gab, in der Welt, die er verlassen hatte und jetzt wieder aufsuchte, um "üble" Energie aufzunehmen. Deshalb hatte er auch nicht sonderlich besorgt den Gang angetreten, seine Ehrenschuld zu begleichen. Nun sah er sich zumindest eines Besseren belehrt, was seine Unbekümmertheit betraf. Dieser Dämon WAR gefährlich, in gewisser Weise, weshalb es galt, ihm keinen Bewegungsspielraum zu lassen, um mit Gesten und Lauten die Myriaden fliegender Käfer auf den Plan zu rufen, die Fäden sponnen. Gleichzeitig registrierte er bei sich selbst aber ein eher ungewohntes Amüsement. Dieser zierliche, ungemein attraktive Daimon wollte ihn einspinnen, sein Blut trinken und beklagte sich lautstark und indigniert, weil er sich diesem Vorhaben zu widersetzen wagte, wie ein ungezogenes, eigensinniges Kind! Deshalb umklammerte er ihn noch ein wenig fester und stimmte eine der längeren Balladen an. Galanterie? Minnedienst? Nun, damit konnte er sehr wohl aufwarten! *~~~+~~~* Yzibao war frappiert, was ihn verärgerte, umso mehr, als ihm für eine ganze Weile die Kinnlade trotz des harten Griffs herunterklappte. Er verstand die Worte nicht, kannte die Sprache nicht (sie war irgendein Menschenidiom), aber dennoch spürte er die Intentionen in der dunklen, samtigen, volltönenden Stimme: sie sang von der Spannung zwischen Befehl und persönlichem Ehrbegriff, von endlosen, menschenleeren Weiten, der Einsamkeit der Steppe, der Freiheit schneebedeckter Gebirgszüge, einer wilden, fast ungezügelten Lebenslust, die im Kontrast zur Verpflichtung des Soldaten stand. Von der Sehnsucht nach einer Heimat, die sich nicht erfüllen konnte, von einer Ewigkeit im Dienst und gleichzeitig der Bereitschaft, jederzeit zu sterben. Pflichterfüllung und Wahrung eigener Werte, aber auch von den Ansprüchen der Welt, der Gesellschaft, einen Helden zu erschaffen, wo man selbst ein einfacher Mensch blieb, eine Existenz zwischen extremen Polen, die keine Ruhe fand. All diese komplexen Empfindungen und Emotionen in einem langen Stück, getragen von dieser eindringlichen Stimme an seinem Ohr, verstärkt durch die Vibrationen, die auch seinen Körper durchliefen. Er war beeindruckt, was es tunlichst für sich zu behalten galt! "Und nun? Willst du mir ein Schlaflied singen und dann türmen?!", ätzte er deshalb provozierend. "Dann würde ich die Vereinbarung verletzen", konterte der Malabsorbo gelassen, "immerhin hieß es 'die ganze Nacht'." Yzibao knurrte, "ehrpusselig sind wir auch noch?! Wie REIZEND!" Doch was sollte er jetzt tun? Warten, bis dieser unverschämte Kerl müde wurde, nicht mehr stehen und ihn so erstickend umklammern konnte? "Darf ich erfahren, wo du mein Schwertgehänge deponiert hast?" "Ha, hast du jetzt doch Angst und willst mich mit deinem blöden Metallprügel aufspießen?!", fauchte Yzibao spöttisch. "Wäre da nicht ein Holzpflock effektiver?", konterte O-Batyr in seinem Nacken sanft. "Wag es ja nicht, mich mit irgendwas zu spicken, du Betrüger!", detonierte Yzibao aufgebracht. Kam der Rotzlöffel ihm hier noch mit albernem Volksglauben! Als wäre er so eine lächerliche Erfindung, die sich in Särgen auf Muttererde herumwälzte und in dunklen Gemächern herumdrückte, mit Knoblauch auf Abstand gehalten werden konnte und über kein Spiegelbild verfügte! "Ich hege keine Absichten, dir etwas zuleide zu tun", versicherte ihm die sonore Stimme leichthin. "Du meinst 'unprovoziert'!", korrigierte Yzibao betont übellaunig, "aber es gibt ja immer wieder diese Unfälle, wo einem einer ins Schwert stolpert oder sich selbst das Genick verdreht!" Ja, er verhielt sich ungezogen, gemein, ungerecht und aufrührerisch, immerhin hatte er sich seinen Abend ganz anders vorgestellt! "Klingt, als hättest du einschlägige Erfahrung oder jede Menge Vorurteile!", lachte ihm der Kerl ins Ohr! "Bild dir ja nichts ein, du Grobian!", fauchte Yzibao zornig, konnte sich jedoch keinen Millimeter befreien. "Demnach verfüge ich über nichts, mich dir wohlwollend zu empfehlen?", konstatierte O-Batyr gelassen. "Pah! Du bist nichts weiter als ein gewöhnlicher Kerl ohne Manieren!", ließ Yzibao ihn hoffärtig wissen und stampfte ihm, zu Demonstrationszwecken, ordentlich mit der nackten Sohle auf den Spann! *~~~+~~~* O-Batyr registrierte den trotzig-kindlichen Wutausbruch mit Amüsement. Gegen seine Stiefel hatte die nackte Fußsohle nichts zu bestellen, aber sie ließ ihn eine gewisse Eitelkeit verzeichnen, denn offenkundig waren auch die Fußnägel derselben Behandlung wie die Nägel der eleganten Finger unterzogen worden: smaragdgrün lackiert, der Augenfarbe zu entsprechen. Sehr apart! Er lächelte sparsam, denn mimischen Ausdruck seiner Gefühle war ihm von Kindesbeinen an abgewöhnt worden. Warum hatte sein Gastgeber das Schwertgehänge verborgen? Dass er es berühren konnte, stand nicht in Zweifel, obwohl einige der Daimonen, die besonders der Natur zugewandt waren, Eisen verabscheuten. Konnte es ihm gefährlich werden? Wegen der Fäden? Nein. Nein, zu offensichtlich. O-Batyr schob sich von der Chaiselongue mit seinem unwilligen Begleiter tiefer in die Höhle hinein. Neben einer Truhe fand sich ein Sekretär, mit Papier, Feder, Tintenfass. "He, stöber hier nicht herum, ja?! Das ist mein Arbeitsplatz!", schimpfte der Baobhan-Sith-Daimon enragiert. »Kurios.« Flache, schwarze Steinsplitter, keine Scheren. »Sieh an.« O-Batyr griff schneller zu, als sich sein gefangener Gastgeber herauswinden konnte. Schon hörte er das bedrohliche Summen. "Ich nehme an", wandte er sich dem zierlichen Daimon zu, "dass sie alles durchtrennen können, oder?" Der zischte förmlich, die Katzenaugen zu Schlitzen gezogen, die Fäuste geballt. "Gib sie her! Sie gehören dir nicht!", streckte er fordernd eine Hand aus, das Kinn hochgereckt. Ein eigenartiger Stein, der sich warm in der Hand anfühlte. Als O-Batyr, ganz traditionell, vorsichtig mit dem Daumen die Klinge berührte, begann er sofort zu bluten. Yzibao schnellte vor, leckte gierig das Blut ab, saugte an seinem Daumen, sein Handgelenk mit beiden Händen umklammernd. "Ein ganz gewöhnlicher Kerl, hm?", schmunzelte O-Batyr herausfordernd. *~~~+~~~* Yzibao fauchte, die weißblonden, überschulterlangen Strähnen flusten elektrisiert auf, "eingebildeter Fatzke! Gib sie her!" Die Zähne und Lippen noch blutbenetzt streckte er grimmig die Hand aus. Verflixt, woher wusste dieser Grobian von den speziellen Steinschneiden?! So konnte man ihn nicht festsetzen, einwickeln, fesseln! "Ich tausche sie gegen mein Schwertgehänge ein", antwortete der unverschämte Klotz doch nassforsch! "Es liegt in der Truhe!", ätzte Yzibao aufgebracht, "nimm deinen Stahlschwengel und zieh Leine!" "Weil du beabsichtigst, mich an selbige zu legen?", schnurrte ihm basslastig entgegen, unzweideutig sich auf seine Kosten amüsierend! "So weit kommt's noch, du Stoffel!", polterte Yzibao wütend, "denk bloß nich, du wärst was Besonderes!" "Dann hätte auch mein Kollege dir Gesellschaft leisten können?" Der verwünschte Kerl hielt die Steinklingen so professionell, wie es einem gelernten Halsabschneider anstand! Was, zu Yzibaos großem Bedauern und Leidwesen, eine spontane Attacke durch seine versierte Käfer-Flugtruppe ausschloss, zumindest momentan. Ärgerlich funkelte er aus den smaragdgrünen Katzenaugen in das markante Gesicht. Die tiefschwarzen Augen unter den prominenten Augenbrauen zwinkerten humorvoll. "Ziehst du demnach den Geschmack der Übelenergie vor?", konkludierte der ungezogene Schwertschwinger herausfordernd. "Nein, du Blödmann!", keilte Yzibao verbal aus, "oder siehst du irgendwelche Energiespuren an mir?!" Denn, das konnte wohl jeder erkennen, menschliche Energie haftete an ihm nicht an. Nun musterte ihn der Kerl auch noch ungeniert! Die Arme in die Seite stemmend zischte Yzibao giftig, "na, genug geglotzt?! Willste vielleicht noch ne Zeichnung machn?!" Wieder huschte ein Lächeln über das sonst so stoisch wirkende Gesicht. "Pack dein Zeug und hau ab!", fauchte Yzibao außer sich, "sonst vergess ich mich noch und verdresch dich, du eingebildeter Klotz!" Obwohl, diesem aufgeblasenen, eingebildeten, hier auftrumpfenden Halsabschneider wollte er sowieso gern eine Lektion erteilen! Wütend wandte er sich ab, rollte den Stoffballen von der Truhe, fischte das gesuchte Schwertgehänge heraus, schleuderte es dem Malabsorbo wütend vor die Stiefelspitzen. "So, und jetzt mach dich vom Acker!", schnodderte er enragiert. "Du gestattest mir den kampflosen Abzug?", es klang unüberhörbar skeptisch. "Spiel dich nicht so auf, du Pfeife!", giftete Yzibao gallig zurück, "als Energiestaubsauger durch die Pampa zu schnüren macht dich nicht zu was Besserem!" *~~~+~~~* O-Batyr fragte sich, aus welcher Quelle sich die ständig hochkochende Aggression speiste. Der Baobhan-Sith-Daimon wirkte ungeheuer geschmeidig, dabei von zarter Gestalt mit sehr langen Gliedmaßen, anmutig und filigran. Was über die dünnen, kirschroten Lippen kam, klang jedoch nach Gossenjargon, juveniler Provokation und Vorwärtsverteidigung, noch bevor überhaupt eine Silbe verlautbart worden war. Machte er ihm Angst? Oder versuchte sich der Daimon auf diese Weise zu distanzieren, um nicht erneut, wie Augenblicke zuvor, fast gierig Blut zu lecken? Wirklich ein Rätsel. Definitiv leicht entflammbar, dieses Temperament! Doch eins stand schon fest: Yzibao hatte ausdrücklich nach IHM verlangt, nicht EINEM Malabsorbo. Heldengeschichten wollte er jedoch keineswegs hören. Vermutete er, dass Heroenblut anders mundete? Nachdenklich ließ O-Batyr noch einmal den Blick über seinen Gastgeber wandern, hautnah bekleidet durch Trikot und Caprihosen, die Nägel in der Augenfarbe lackiert, die Füße bloß. Wirklich atemberaubend schön, aber ausgesucht unmanierlich und polternd. Er ging in die Hocke, die Arme noch ausgestreckt, die Steinklingen wie Stiletts halten. Bevor er sie auf dem steingefliesten Boden ablegen konnte, hatte der Baobhan-Sith-Daimon durch die Zähne gepfiffen, umschwirrten ihn wie eine massive Wolke Käfer, spannen klebrige, sich verdrehende, solide Fäden, die zu Bändern wurden, im anmutig-elegant choreografierten Tanz seines Gastgebers! O-Batyr wusste nicht nur, ein Schwert, einen Säbel, einen Degen zu führen, nein, er beherrschte auch den Kampf mit Dolchen oder halbmondförmigen Klingen. Geschickt trennte er fesselnde Bande, wirbelte umher und hielt unbeirrt auf seinen Gastgeber zu. Wollte er die Attacken rechtzeitig stoppen, bevor man ihn von den Beinen holte oder gefährlich verschnürte, musste er auf Tuchfühlung gehen, denn dann würde das "Marionettentheater", die Fernsteuerung der Käfer-Legion, zu einem höchstpersönlichen Unterfangen und konnte den Baobhan-Sith-Daimon zum Einlenken bewegen! *~~~+~~~* "Verdammt! Bleib mir vom Leib, du Säbelknecht!", fauchte Yzibao aufgeschreckt und zornig zugleich. Der Kerl hielt tatsächlich auf ihn zu! Eilig forderte er seine fliegenden Mitstreitenden zu schnellerer Aktion auf, irgendwie die Handgelenke und Beine so fest zu schnüren, dass sie fixiert keine Gefahr mehr bedeuteten! Sein Atem ging hektisch, als er in ekstatischem Tanz die Attacke steuerte. »Dem werd ich so heimleuchten, ihm einen Scheitel ziehen!«, schwor sich Yzibao aufgeputscht. Niemand hatte ihn bisher so ungebührlich unbeeindruckt behandelt! Das ärgerte ihn maßlos. Keine Bewunderung, kein ehrfürchtiges Luftschnappen, keine großen Augen angesichts seiner Attraktivität, seiner Macht, seiner Kunstfertigkeit! Außerdem überstand der Kerl auch noch eine Blutspende, ohne mindestens für mehrere Stunden außer Gefecht gesetzt zu sein und artig, pflegeleicht und aufgeräumt auf der Chaiselongue zu bleiben, wo er keine Unordnung anrichtete! Yzibao bemühte sich grimmig um Abstand, was sich diffiziler gestaltete als angenommen, sodass er sich, trotz aller blitzschnellen und flinken Ausweichbewegungen, unvermutet am linken Handgelenk an den frechen Widerborst gefesselt sah! Aufgebracht pfiff und trillerte er, doch das half wenig, weil der verwünschte Malabsorbo ja EXAKT seine Nähe suchte, um die Angriffe zu beenden! "Fass mich nicht an!", schimpfte er wütend, versuchte, ihre gefesselten Handgelenke so zu drehen, dass die Steinklinge die gesponnenen Bänder durchtrennte. "Stell die Angriffe ein", konterte der miese Anflauscher gleichmütig, nicht mal sonderlich außer Atem, obwohl er springen und herumwirbeln musste. Yzibao funkelte in die tiefschwarzen Augen, sah das amüsierte Kringeln in den Mundwinkeln. Und rot, dunkelrot. Weshalb er mit einem Wutschrei selbst die geringe Distanz überwand und seine Fangzähne in die Kehle schlug, blind für die Steinklinge an SEINER Kehle. *~~~+~~~* Kapitel 8 Er hatte das Aufblitzen natürlich bemerkt und keine Intention, den tänzelnden Daimon, der ihn gern in einen Kokon eingesponnen hätte, tatsächlich zu verletzen, weshalb O-Batyr die Klinge reflexartig nach außen drehte. *~~~+~~~* »Verflixt.« Yzibao war sich, zu seinem Leidwesen, durchaus einiger sehr unerfreulicher Erkenntnisse bewusst. Ad eins, der verwünschte Malabsorbo schonte ihn, hatte absichtlich das Handgelenk gedreht, sodass die Steinklinge ihm lediglich eine Strähne kürzte. Ad zwei, der Eifer seiner fliegenden Mitarbeitenden hatte sie so fest aneinander geschnürt, dass bis zu den Ellenbogen eine verschworene Einheit gebildet worden war. Ad drei, obwohl er nun zum vierten Mal die Fangzähne in Adern schlug, kam kein Protest, kein Schluchzen, kein Flehen um Gnade, kein Winseln, was es noch schlimmer machte. Er zog sich ein wenig aus der Halsbeuge zurück, blinzelte unbehaglich in die tiefschwarzen Augen unter den imposanten Augenbrauen. Der Malabsorbo schwankte leicht. "Für einen gewöhnlichen Kerl munde ich dir wohl ausgezeichnet", schwang nachsichtiger Spott in der dunklen Stimme. Automatisch verzog Yzibao die Miene zu einer des arroganten Abscheus, reckte das spitze Kinn betont. "Von wegen! Ich wollte lediglich verhindern, dass du mir hier den Fußboden versaust!", fauchte er gallig. Der Malabsorbo lächelte, was Yzibao noch stärker aus dem Konzept brachte. Er fühlte sich ÜBERHAUPT nicht ernst genommen! Bevor er jedoch eine entsprechende Tirade auf das sich neigende Haupt heruntersausen lassen konnte, raunte ihm O-Batyr etwas zu, "verzeih mir, mein ungestümer Freund, doch das Schlaflied muss ich dir einstweilen schuldig bleiben." Er brach langsam in die Knie! *~~~+~~~* "Das ist eine Zumutung, hörst du?!", gerade noch so war es Yzibao gelungen, mit Pfiffen und Fingerspitzensignalen ein Band um ihre Brustkörbe winden zu lassen, das sich auch an der Hühnerleiter fixierte. Sonst wäre der Malabsorbo einfach auf ihn gesunken! Schlimm genug, dass der sie beide auf die Knie gezwungen hatte! "Du markierst doch! Stell dich ja nicht so an!", drohte Yzibao mit wachsender Sorge. Ihre Unterarme waren derartig verschnürt, dass es erheblicher Verrenkungen bedurfte, sich mit wenigstens einer Steinklinge freizuschneiden. Außerdem konnte man dem Kerl schlichtweg nicht trauen! Der hatte sich schon nach dem ersten Biss einfach so erholt, obwohl das jeder Erfahrung widersprach und ihn zu täuschen versucht, mit diesem hundsgemeinen Rollgriff! Obwohl Yzibao sich mit Empörung auf einem hohen Level persönlicher Verärgerung zu halten anstrebte, wurde ihm rasch mulmig. Er wollte auf keinen Fall die Nacht auf dem Steinfliesenboden verbringen, förmlich festgeklebt an diesen ungebärdigen Blutspender! "Los! Aufwachen!", schüttelte und rüttelte er, was die elastischen Bänder um sie herum gerade noch zuließen. Ohne Erfolg. "Verdammt", konstatierte der Baobhan-Sith-Daimon laut und uncharakteristisch gefasst. Was sich definitiv ausschloss, war, erneut den Nachbarn um Hilfe zu ersuchen. Falls der ihn zu hören geruhte, wenn er laut genug um Beistand rief. Folglich mussten akrobatische Verrenkungen bemüht werden, bis es Yzibao, erhitzt und atemlos gelang, sich auf einer Seite zu befreien. Prompt kippte der Malabsorbo zur anderen Seite, zog ihn wegen des Bandes um den Brustkorb mit. "He! Nicht doch, halt still!", keuchend kämpfte Yzibao um die Balance, nutzte dann die befreite Hand, vorsichtig horizontale Schnüre spannen zu lassen, um O-Batyr abzustützen, dann säbelte er sich selbst rasch frei, durchaus eine erneute Attacke erwartend. Diese blieb jedoch aus. Vielmehr, als Yzibao in vorsichtiger Distanz, nach Herz- und Pulsschlag fahndete, schienen beide etwas untertourig. Wirkte das Sedativum jetzt doch? Oder hatte er es vorhin übertrieben, nahm der Blutverlust gefährliche Ausmaße an? Sich die überdehnten Glieder massierend, von einer Wolke treuer Daimonenkäfer umgeben, kontemplierte Yzibao seine Möglichkeiten. Den bewusstlosen oder ziemlich tief schlafenden Malabsorbo durch die Höhle zu ziehen, das kam nicht in Frage. Aber ihn hier einfach herumliegen zu lassen? "Du bist ne Landplage! Und schwer! Machst mir bestimmt extra Scherereien!", beklagte er sich, ohne eine Antwort zu erhalten. Schließlich, da es schon sehr spät war und er sich auch recht satt fühlte, breitete Yzibao widerwillig Decken aus, stopfte ein Kissen unter das attraktive Haupt, dann kletterte er flink die Hühnerleiter hoch und verzog sich erschöpft auf sein eigenes Lager. Der Kerl mochte ja sehr delikat schmecken, aber ansonsten?! Eine gemeingefährliche Katastrophe! *~~~+~~~* O-Batyr erwachte mit sehr kurzer "Vorwärmzeit", quasi mit dem Aufschlagen der Lider sprangen alle Sinne alert in Bereitschaft. Er orientierte sich, erinnerte sich des vergangenen Abends bis zu seinem Zusammenbruch, an den zierlich-geschmeidigen, höchst temperamentvollen Baobhan-Sith-Daimon gefesselt. O-Batyr richtete sich auf, angenehm überrascht über die unerwartete Fürsorge. Ein leises Summen und Brummen rief ihm die Legion seines Gastgebers in den Sinn. Diesem schien es gelungen zu sein, sich aus ihrer intimen Verstrickung zu befreien, was zweifelsohne die Fähigkeiten eines Schlangenmenschen erfordert hatte. Der Malabsorbo lauschte konzentriert: Atemzüge, ganz fein, verwoben in das emsige Gewusel der Käfer. Lautlos erhob er sich, blickte sich um. Hinter der Arbeitsecke, wo ein loses Band auf den Steinfliesen lag, fand er eine Hühnerleiter, eine Stiege, die nur aus einem kräftigen, langen Stab bestand, an dem in Abständen Querholme befestigt waren. Die Stiefel abstreifend, um jedes Entdeckungsrisiko zu reduzieren, erklomm O-Batyr in der Kuppel der Höhle eine Plattform. Dort fand sich das Lager seines Gastgebers. Inmitten von Kissen, in mehrere Decken gehüllt, zusammengerollt, schlief Yzibao. An seiner Seite wachte ein kunstfertig gestopftes, offensichtlich innig geliebtes altes Stofftier. Aufgestickte Schnurrhaare und dreieckige Ohren samt eines etwas gerupften Schwanzes legten nahe, dass es sich wohl um eine graue Katze handeln sollte. Grüne Glasperlen funkelten O-Batyr an. Er legte den Finger an die Lippen, lächelte. Welche Macht so ein Stofftier mit kritischem Blick ausübte! Dabei hegte er keinerlei Intentionen, sich einen Vorteil aus Yzibaos Zustand zu verschaffen. Bunte Glaslampen, weiche Stoffe, pralle Kissen, ein Chaperon mit Katzenbannblick: nicht das, was man bei einem blutsaugenden Vampir erwartete. Lautlos stieg O-Batyr wieder hinab, entdeckte jenseits der Stiege noch hinter einem Schrank ein kleines Kabinett mit Waschbecken, Feuerstelle, ein wenig Geschirr und beklagenswert wenig Nahrungsmitteln. Einen prüfenden Blick auf die Handpumpe werfend verzichtete O-Batyr auf ihren Einsatz. Was nicht hieß, dass er sich ohne eine galante Geste verabschiedet hätte. *~~~+~~~* Yzibao beäugte misstrauisch die fröhlich bis euphorisch herumschwirrenden Käfer. Eine Wasserschüssel und die zweite für einen Körner- und Eiweiß-Mix luden zum Frühstück ein, was sie ohne jede Zurückhaltung taten. "Opportunisten!", grummelte er leise. Hätte durchaus vergiftet sein können, nicht wahr?! Außerdem grauste ihn noch sein Fehler, den verflixten Kerl nicht wie eine Roulade verschnürt zu haben, bevor er zu Bett ging. Der hätte ihn glatt im Schlaf mit dem blöden Metallprügel abstechen können! Sein Magen pflichtete in das Grummeln ein, aber aus ganz anderen Motiven: Pussys Patisserie, DIE Adresse für gebackene Leckereien, welche sich, dem Aufdruck auf der Papptüte nach zu urteilen, darin befinden sollten. Sie dufteten aromatisch. "Verräter!", grollte Yzibao seiner sehr flachen Leibesmitte. Die kannte keine vornehme Contenance, sondern verlangte ungeniert, den Inhalt der verflixten Tüte zu verkosten! Wieso ließ der grässliche Kerl ihm extra ein Frühstück zurück?! Warum konnte der sich plötzlich doch wieder erheben, obwohl er gestern so unmanierlich auf die Planken, nun, die Fliesen gesackt war?! Hin und her gerissen wischte sich Yzibao durch die weißblonden Strähnen. Der Stoffel WAR unheimlich! Also in Zukunft unbedingt zu vermeiden, ganz gleich, die lecker die Verpackung und wie außerordentlich delikat der Inhalt sich ausnahmen! *~~~+~~~* "Guten Morgen", Tankred schob sich, gewohnt maskiert und im pechschwarzen Umhang, neben O-Batyr. Gemeinsam nutzten sie eines der weniger gefragten Portale, denn sie waren zwar Malabsorbo, aber höfliche. Man inkonvenierte energieempfindsame Mit-Daimonen nicht ohne Not. "Guten Morgen", antwortete O-Batyr höflich, deutete dann wortlos auf ein Dach. Während er die Fassade erklomm, nutzte Tankred seine naturgegebenen Schwingen, wartete auf den Kollegen. Ihre Hauptspender befanden sich weiterhin in sehr sicher verschlossener Obhut, sodass sie hier einen Aussichtsposten nutzten, nach anderen Übelenergie-Tragenden Ausschau zu halten. "Sag mal, hat gestern Abend alles geklappt?", kam der Falkendaimon auf ein Sujet zu sprechen, das ihn umtrieb. Nicht ganz zu negierende Gewissensbisse zwickten ihn nämlich. Hinter der Maske konnte er kein Mienenspiel erkennen, registrierte aber das kurze Zögern. "Nun, es war ein sehr abwechslungsreicher Abend", antwortete O-Batyr schließlich gedehnt, "ich denke, dass du deinen Gegenwert einfordern kannst." Unwillkürlich schnaufte Tankred durch, sanken seine angespannten Schultern auf Normallevel, "ah, ich wusste es doch! Alles nur blöde Gerüchte und dummes Gerede! Nur, weil einer gern im Kapuzenumhang herumläuft und nicht die Öffentlichkeit sucht, ist er ja noch nicht gleich ein blutsaugendes Ungeheuer!" Neben ihm richtete sich O-Batyr auf die Straßenzüge aus. "Das ist sicherlich eine vernünftige Einschätzung", kommentierte er, ein gewisses Amüsement tunlichst verbergend. Tankred folgte seinem Blick, wandte sich im Kreisrund zur anderen Seite. Noch hatten sie keine interessanten Objekte ihrer geballten Aufmerksamkeit erspäht. "Wie geht es deinem Käuzchen?", erkundigte sich O-Batyr beiläufig. »Deinem Käuzchen«, wiederholte der Falkendaimon stumm für sich, »klingt richtig nett!« Auch wenn er ja eigentlich aus selbstsüchtigen Motiven einen günstigen Augenblick hemmungslos ausgenutzt hatte. "Tja, er hat Entzugserscheinungen", ließ er sich deshalb vertraulich aus, "vermisst dieses Kaufhaus, die Bücher, die Menschen, die Atmosphäre, obwohl ich ihm jeden Tag davon berichte." Tankred seufzte, "aber wenigstens isst er jetzt wieder was und weint nicht mehr ständig." Das hatte ihm wirklich zugesetzt, die verschmierten, großen, runden Brillengläser, die verquollenen Augen dahinter, das klägliche, jämmerliche, zutiefst verzweifelte Elend. Als "beinharter, knochentrockener Malabsorbo" ruinierte er zwar mit diesem Eingeständnis ihren Ruf, aber außer O-Batyr erfuhr es ja niemand, richtig? "Das ist gut", nickte der gerade, "es wird auch wieder aufwärts gehen." Nun, schlimmer ging's nimmer, hoffte Tankred inständig, der keinen Wert darauf legte, weitere Tiefpunkte persönlich zu ergründen. "Ich bin einigermaßen überrascht", zog ihn unerwartet der sonst so schweigsame Kollege in ein erstaunlich ausschweifendes Gespräch, "sind Baobhan-Sith-Daimonen nicht weiblich und leben im Wald?" Der Falkendaimon lupfte die Schultern. "Damit kenne ich mich nicht sonderlich gut aus", gestand er ein, "auf diese dummen Gerüchte muss man ja nichts geben, richtig?" Hinter der Maske und damit ungesehen lächelte O-Batyr. "Kennst du jemanden, der mir diese Fragen beantworten kann?", eruierte er Wissensquellen. Tankred grübelte eine Weile, während er eine Runde um den Dachfirst kreiste. Nachdem er sich erneut an O-Batyrs Seite niedergelassen hatte, vertraute er ihm die Ergebnisse seiner Kontemplation an, "hin und wieder kommt ein ziemlich alter Walddaimon auf den Markt. Faunus, so heißt er, wenn ich mich richtig entsinne. Den könntest du fragen, der müsste ja über Waldwesen Bescheid wissen." O-Batyr deutete eine elegante Verbeugung an. "Ich danke dir für diesen Rat", antwortete er höflich. "Kannst ihn eigentlich nicht verfehlen", ergänzte Tankred (den sein Gewissen doch noch ein wenig zwackte), "er bietet Nadeln und allerlei Utensilien aus Holz an." *~~~+~~~* Yzibao wusste natürlich, dass der Malabsorbo, der vor seiner Schwelle ungeduldig von einer Metallklaue auf die andere trippelte, sein aktueller Auftragnehmer war. Er reichte das in grobes Papier eingeschlagene Kunstwerk hinaus, sorgsam darauf bedacht, in dem knöchellangen Umhang mit der Kapuze sein Aussehen zu verbergen. "Ah, danke schön! Und, äh, muss ich etwas beachten? Bei der Pflege oder Reinigung vielleicht?" Yzibao unterdrückte ein Grummeln, entsann sich dann aber, dass er zur Kundschaft höflich sein wollte, wenn es ihm konvenierte. "Vorsichtig feucht abreiben, aber nicht nass", erteilte er daher forsch Anweisungen, "bei Schäden such mich auf." "Verstanden! Ja, noch mal danke schön!", eilfertig und unerträglich aufgekratzt nickte der Malabsorbo mehrfach, schien förmlich beflügelt. Zugegeben, das war er auch, aber unterhalb des pechschwarz ihn umfließenden Umhangs. "Auf Wiedersehen", brummte Yzibao eilig, schloss die Pforte. Auch wenn er sich diesen Gedanken am Liebsten aus dem Schädel getrieben hätte, spürte er doch eine gewisse Enttäuschung, dass nicht der verwünschte Lümmel vom Vortag dort stand. *~~~+~~~* O-Batyr ließ seinen Umhang und die Maske in seinem Quartier zurück. Nach seiner Erfahrung kam man sehr viel besser ins Gespräch, wenn man nicht als Malabsorbo erkenntlich war, nicht nur bei energiesensitiven Daimonen. Auf dem Markt fand er zwar den von Tankred erwähnten Faunus nicht, aber ihm wurde hilfsbereit erklärt, wo er den Walddaimon antreffen konnte, weshalb O-Batyr forschen Schritts auf einem Trampelpfad zwischen dichten Sträuchern und unter Bäumen, begleitet von neugierigen Glühwürmchen, seinen Weg suchte und fand. Sich in einem Wald zu bewegen stellte eine willkommene Abwechslung dar im Vergleich zu den Städten der Menschenwelt oder seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort. Zugegeben, dauerhaft wollte er sich nicht im Grünen aufhalten, da fehlte ihm die Weite des Blicks, die Distanz eines Horizonts. Er erreichte in der ihm vorgegebenen Zeitspanne eine bescheidene Lichtung. Dort stand eine Hütte, halb eingegraben, halb aus Gehölz errichtet und mit Grassoden abgedichtet. Feuerfunkendaimonen und Glühwürmchen tanzten vor ihrem Eingang. Ebenfalls dort kauerte ein sehr alter Daimon, wallender Bart, wallendes Haar, die Haut so dunkel und faltig wie alte Baumrinde. Buschige Augenbrauen wanderten hoch, als O-Batyr sich näherte, ansonsten verschwand die Mimik fast völlig unter Bart und Haarbewuchs. Faunus feilte und polierte feine Holznadeln. An seiner Seite saß mit untergeschlagenen Beinen ein Engel. Einer der älteren Generation, vermutete O-Batyr, denn dieser Engel, obwohl gerade Kindergröße erreichend, präsentierte Flügel. Man sollte besser auf der Hut sein, mahnten die zwei Flügelpaare, denn die älteren Generationen der früheren Engel galten als "erratisch" bis gemeingefährlich "exzentrisch" und dissozial. Dieser Engel hier jedoch strickte in gleichmäßigem Tempo an einem farbenprächtigen Umhang, wenn der Augenschein ihn nicht trog. "Guten Abend", wünschte O-Batyr artig, legte die Rechte vor die Brust und verneigte sich höflich, "habe ich die Ehre, mit Faunus zu sprechen?" Der Walddaimon räusperte sich, "ich bin Faunus. Wünschst du, von mir etwas zu erwerben?" Eine Geste lud O-Batyr ein, doch bei ihnen Platz zu nehmen. Geschmeidig ließ er sich auf den angenehm gepolsterten Wiesengrund nieder. "Ich möchte gern Erkenntnis erwerben", nahm der Malabsorbo den Ball auf, "mein Name ist O-Batyr und ihr habt nichts zu befürchten von meiner Seite." Ihm war der kritische Blick auf sein Schwertgehänge nämlich nicht entgangen oder das Absenken des Strickwerks. "Tja, was könnte wohl ein alter Waldbewohner wie ich dir zu erzählen haben?", Faunus nahm das Polieren seiner Holznadeln wieder auf. Auch der Engel strickte artig weiter. Um den heißen Brei herumzureden hielt O-Batyr für wenig hilfreich. Ihn täuschte das zurückhaltend-harmlos wirkende Gebaren des Walddaimons nicht: Krieger, Soldaten, Metallträger, sie waren hier nicht unbedingt wohlgelitten und man sollte sich besser nicht über die Wehrhaftigkeit der Waldbewohnenden täuschen. "Ich stehe vor einem Rätsel, das mich beschäftigt", leitete er deshalb sein Auskunftsersuchen ein, "nach dem, was ich hörte, leben Baobhan-Sith-Daimonen in den Wäldern, sind weiblich und verzaubern durch ihren Tanz." Man lauschte ihm abwartend. "Nun bin ich einem Daimon begegnet, männlich, der gerade nicht im Wald lebt, ein außergewöhnlich schöner Daimon, zweifelsohne im Tanz begnadet, doch entspricht er nicht dem, was man sich so erzählt." Faunus sortierte seine fertiggestellten Werkstücke gemächlich, noch war schließlich keine Frage an ihn gerichtet worden. O-Batyr ließ sich Zeit, "ich frage mich, ob es möglich ist, die Baobhan-Sith-Daimonen-Eigenschaften nicht durch Geburt und Abstammung, sondern durch Unterweisung und Training zu erlangen." Nun nahm sich Faunus ein Wurzelstück, beäugte es eingehend im erstaunlich hellen Schein der fliegenden Feuerfunkendaimonen. "Was kümmert dich ein Daimon, der keine Übelenergie verzehrt?", hakte er beiläufig, doch in scharfem Tonfall nach. Mit einem höflichen Nicken quittierte O-Batyr diesen Wirkungstreffer. "Ich möchte verstehen", antwortete er ernst, "denn diese Person bedeutet mir sehr viel." "Warum richtest du dann deine Fragen nicht direkt an diese Person?", Faunus begann, mit einem scharfkantigen Steinkeil, Konturen aus dem Wurzelstück zu sägen. "Ich muss annehmen", formulierte O-Batyr bedächtig, keinen Wimpernschlag den alten Walddaimon aus seiner Aufmerksamkeit entlassend, "dass ich einen sehr wunden Punkt anrühre." Feine Späne sammelten sich vor Faunus, während er konzentriert arbeitete, den Kopf nicht hob. "Und du glaubst, es wäre weniger verletzend, hinterrücks Erkundigungen einzuziehen?", versetzte er dem Malabsorbo einen weiteren Stich, allerdings hatte O-Batyr sich durchaus seine Gedanken gemacht, bevor er sich auf diesen Pfad begeben hatte. "Ich hoffe, dass ich diesen Vertrauensbruch ausgleichen kann durch vorausschauendes Gebaren, weitere, unnötige Verletzungen zu vermeiden." "Salbungsvolle Worte!", knurrte Faunus abschätzig. O-Batyr lächelte leicht, "nun, ich gebe zu, dass diese Person ein sehr explosives Temperament hat, hin und wieder impulsiv reagiert. Nähe erzeugt immer einen gewissen Anteil an Verletzungen, aber ich könnte diese reduzieren, wenn ich mehr über die Hintergründe wüsste." "Selbstverständlich besteht auch kein vernünftiger Zweifel, dass dein Engagement wohlwollend aufgenommen wird!", Faunus blickte ihn durchdringend an. O-Batyr hielt diesem sezierenden Prüfblick unverwandt stand. Endlich stieß der alte Walddaimon einen ärgerlichen Laut aus. "Deine Sorte kenne ich! Du wirst mich so lange elenden, bis ich nachgebe! Allerdings", er grummelte, "bist du älter, als es den Anschein hat. Ich kann nur hoffen, dass du wenigstens einen Funken Weisheit währenddessen entdeckt hast!" Diesen Gedanken teilten sie, weshalb O-Batyr sich eine Erwiderung sparte. "Na gut", Faunus ließ sein Schnitzwerk sinken, "wenn ich ein gutes Werk tue, mag es anderen dienlich sein." Damit wechselte er in einen alten Dialekt, den O-Batyr niemals bei ihm vermutet hätte. *~~~+~~~* Tankred klappte die Flügel ein, schob mit der freien Hand den Vorhang beiseite und betrat seine Nisthöhle. Wie an den Tagen zuvor konnte er Strix in seinem Nest erkennen, eingerollt, hinter den eigenen Schwingen versteckt. Er streifte Umhang und Maske ab, begab sich dann zu ihm. "Ich bin wieder zurück, Käuzchen", formulierte er leise das Offenkundige, kraulte sanft durch den weichen Flaum, "hast du heute etwas gegessen?" Mühsam rappelte sich Strix auf, blinzelte ihn ohne die gewohnte Brille an. "Ich weiß nich", krächzte er rau. Tankred offerierte krümelige Riegel und Wasser, hielt die Tasse stützend und beäugte Strix besorgt. An den Tagen vorher hatte er begonnen, einfach seine Beobachtungen aus dem "Tempel" wiederzugeben, in der Hoffnung, es würde das Käuzchen ein wenig trösten, dass zumindest die "Welt", die er so unerschrocken bis selbstmörderisch zu beschützen gestrebt hatte, fortdauerte. "Ich hab etwas für dich", wandte er sich herum, löste das grobe Papier und überreichte das teuer erkaufte Geschenk. Sanft schimmerte das Grün, glitzerten mit goldenem Funkeln rote und blaue Kugeln. Auf der Spitze erstrahlte ein goldener Stern. Strix sackte die spitze Kinnlade herunter. Verlegen und hoffnungsfroh streckte Tankred ihm das weiche, große Kissen entgegen, geformt wie einer der geliebten Weihnachtsbäume. "OOOooohhhh!", staunte Strix fassungslos, berührte sehr vorsichtig den Stoff. Er hatte zwar schon (heimlich) hin und wieder die feilgebotenen Stoffartikel der Menschen angefasst, doch dieses Fabrikat war ungleich feiner, zarter, einfach wärmer! "Gefällt es dir?", erkundigte sich Tankred eilig. Hoffentlich entsprach es den Erwartungen seines Käuzchens! Sehr sorgsam lupfte Strix das Kissen, das ihm im Sitzen bis unters Kinn reichte, auf seinen Schoß, dann legte er die dünnen Arme darum und schmiegte sich an. "So schön!", flüsterte er andächtig, "so warm." Unruhig sortierte Tankred seine Schwingen, bevor er sich dieser automatischen Geste bewusst wurde und sie hastig unterdrückte. Na, seine Mutter hätte ihm einen Stüber verpasst, wenn er hier so herumzappelte! "Ist das wirklich für mich?" Eilig nickte er dem Käuzchen zu, "na klar! Oder willst du es nicht?!" Genau SO verhielt sich ein juveniler Depp gegenüber seinem heimlichen Schwarm, grob, provozierend, großmäulig, großspurig!! Tankred verabscheute sich selbst für seine erbärmliche Reaktion. Strix hingegen schien dies gar nicht mal zu bemerken. "So schön", wisperte er hingerissen, schmuste mit seinem Weihnachtsbaumkissen, schniefte leicht, die Augen schon beschlagen. "Herrje", grummelte Tankred hilflos, ließ sich hinter ihm nieder, die eigenen Flügel schützend aufgeklappt, fahndete nach einem Taschentuch. "Heute war die Bude wieder voll, ein richtiges Gedränge! Ich bin zwar nicht bis zu den Krimi-Bestsellern gekommen, aber ich habe mich bei den Sachbüchern umgesehen", während er seine Eindrücke schilderte, schlang Tankred die Arme eng um das Käuzchen. Obwohl er sich durchaus schämte, seinem egoistischen Wunsch nach Gesellschaft nachgegeben zu haben, konnte er diesen Impuls nicht bereuen. Es tat ihm gut, dass jemand da war, dem er sich mitteilen konnte, um den er sich sorgte. Der ihm so nahe war, dass ihr Gefieder eins wurde. *~~~+~~~* Kapitel 9 Ümir ließ sich gern in einer Ecke unweit der "Alten Karawanserei" nieder, eine offen gestaltete Gastronomie, die ein Dschinn betrieb, in der Nähe einer der geschäftigen Pforten. Natürlich achtete Ümir darauf, dass er niemandem im Weg war, keinen Schatten warf, nichts blockierte. Er hörte wissbegierig und andächtig zu, wenn sie aus der Pforte strebten, im Schichtwechsel, einkehrten und miteinander sprachen, die Kontrebandeure. Meist mit unzähligen Beuteln, Taschen und Säcken beladen traten sie auf, für eine gewisse Zeitspanne etwas aus der Menschenwelt zu "borgen". Keine einfache Aufgabe, denn was man "borgte", musste man unversehrt exakt an dieselbe Stelle zurücklegen, bevor das Verschwinden ruchbar wurde. In der Folge erforderte diese Tätigkeit ein perfektes Bildgedächtnis und die Qualitäten eines Einbrecherkönigs. Häufig drehten sich die Gespräche auch um die Schwierigkeiten, den "Argusaugen" zu entwischen, elektronischen Wachsystemen, die mechanische ersetzten, sogar Rechenprogramme, die Abweichungen ermittelten, noch bevor man sich dem Objekt der Begierde genähert hatte! Weshalb die Kontrebandeure nicht nur aus den "Transportern" bestanden, sondern auch aus einer weiteren Truppe, den "Absichernden", die dafür Sorge zu tragen hatten, dass die Transporteure nicht erwischt wurden. Ümir selbst hatte keine Chance, jemals selbst in die Menschenwelt zu gelangen. Sein Erscheinungsbild ließe sich durch gar nichts tarnen, doch darum ging es ihm auch gar nicht. Er hörte einfach gern den lebhaften Gesprächen zu. Vor allem einer Person, die er daran erkannte, dass man sie nicht erkannte, weil sie von Kopf bis Fuß in mehrere Lagen wollige Bekleidungsstücke eingepackt war und zusätzlich auch noch eine geschwärzte Schutzbrille trug, sodass Ümir lediglich die Stimme und den Namen zu identifizieren wusste. Fidibus. Wie gewohnt bepackt mit diversen Umhängetaschen über der Woll-Orgie folgte er der Kontrebandeur-Schar, ließ sich nieder, schwatzte munter mit, während er einen Krug Limonade leerte und einen gefüllten Fladen mümmelte. Ümir in seinem (recht großen) Eckchen lauschte mit und fragte sich, wann er endlich die Courage fand, Fidibus anzusprechen. *~~~+~~~* Fidibus zog die Schultern hoch und schauderte leicht. Höchste Zeit, dass er in sein Bett kam, damit er die nächste Schicht nicht verpasste und die ausgegebenen, geborgten Artikel zurückbrachte! Hinter sich hörte er ein kollerndes Räuspern. Eilig wandte er sich um, denn obwohl es wie Donnergrollen klang, mutmaßte er optimistisch, dass man ihn lediglich adressieren wollte, auf eine höflich-zurückhaltende Weise. Fidibus musste den Kopf in den Nacken legen, um seinen Gegenüber ins Visier zu nehmen. Ein riesiger Daimon blockierte den Weg, streckte eine Hand wie eine Dampframme aus und hielt an einem zarten Bändchen eine wunderschön schimmernde, rote Stoffkugel! "Oh, die ist ja schön!", komplimentierte Fidibus, "aber ich habe sie leider nicht verloren." Über ihm grummelte es erneut. Ah, man räusperte sich! "Für dich", raunte der Riese, um eine sehr moderate Lautstärke bemüht. Fidibus staunte hoch, "oh, sie gehört dir? Ja, aber warum möchtest du sie mir geben? Ah, soll ich sie vielleicht jemandem überbringen?" Immerhin, manche glaubten, dass die Kontrebandeure auch als Liefernde arbeiteten, angesichts der zahlreichen Beutel, Taschen und Säcke keine ganz abwegige Vorstellung, bloß galt für sie die strikte Regel, nur abzuholen und zurückzubringen, was aus der Menschenwelt geborgt wurde. "Ein Geschenk. Bitte", der Riese beugte sich langsam vor, "für dich." Fidibus fing den prächtigen Stoffball in seinen behandschuhten Händen. "Also, bist du sicher? Er ist doch bestimmt wertvoll! Was möchtest du denn dafür haben?", so ganz verstand er die Transaktion nicht, wollte sich jedoch aufgeschlossen zeigen. "Ümir", deutete der Riese auf sich, "wäre gern dein Freund?" Obwohl er selten einem so massiven Daimon begegnet war, konnte sich Fidibus über die schüchternen Worte nur wundern. "Ah, also, dein Name ist Ümir? Hallo, freut mich, ich heiße Fidibus!", hielt er sich zunächst mal an die Fakten und streckte die Rechte aus. Sie wurde, sehr vorsichtig, mit einem großen Finger geschüttelt. "Also, du möchtest mein Freund sein?", arbeitete Fidibus sich konzentriert an den Kern dieser ungewöhnlichen Begegnung heran, "gern! Allerdings rede ich ziemlich viel", bekannte er offenherzig. Der Riese, Ümir, ließ ein zögerliches Lächeln sehen. "Ich höre gern zu", kollerte er dumpf. Fidibus lachte gutmütig. "Hör mal, Ümir, ich muss jetzt rasch zurück", erklärte er, "wollen wir uns vielleicht morgen treffen? Weißt du, wo die 'Alte Karawanserei' ist?" "Ja", der Riese nickte so eifrig, dass Fidibus grinste. "Dann abgemacht!", streckte er erneut die Rechte aus, "ich seh dich dann morgen, Ümir!" Seine Hand wurde behutsam geschüttelt. "Ich freue mich, Fidibus", bekannte Ümir in grollendem Donner schüchtern. Innerlich aber jubilierte und tanzte er wie ein Derwisch! *~~~+~~~* O-Batyr hörte gutmütig zu, während Tankred ihn mit der neuen Entwicklung vertraut machte, ungewohnt aufgekratzt und glücklich, was nicht mal Umhang und Maske verbergen konnten. "Also, er hat das Kissen kein Mal losgelassen und gestrahlt! Ein voller Erfolg!", triumphierte der Falkendaimon gerade. "Dann isst er jetzt auch wieder? Schläft durch?", bekundete O-Batyr Interesse. Tankred seufzte hoffnungsvoll. "Davon gehe ich aus. Na ja, wenn es ihm besser geht, werde ich ihn mal wieder an die Luft zerren!", verkündete er entschlossen, "immerhin kann er sich nicht ewig verkriechen. Niemand wird ihm bis in alle Ewigkeit nachtragen, was er getan hat!" Allerdings, das war nicht von der Hand zu weisen, würde sich die Anzahl seiner Freunde und Bekannten ganz sicher nicht erhöhen, wenn Strix weiter blieb, denn ihre Nähe übertrug Tankreds Energie, ganz gleich, ob Strix nun ein "normaler" Daimon war oder nicht. Man würde ihn meiden, aber nicht aufgrund seines Vergehens in der Menschenwelt. Der Falkendaimon ballte die Metallklauen. Was sollte die Reue jetzt?! Das alles war ihm bekannt gewesen, und trotzdem hatte er das Käuzchen für sich gewinnen wollen! Er seufzte beschämt. "Liebe ist eigentlich zutiefst egoistisch, oder?", murmelte er. O-Batyr drückte ihm aufmunternd eine Schulter, "mag sein, doch wenn zwei Egos dieselben Ziele verfolgen, kann etwas Wunderbares entstehen, meinst du nicht?" Tankred brummte leise. "Wenn man nur wüsste", doch er beendete den Satz nicht. Aber auch ohne diese Ergänzung begriff O-Batyr genau, was sein Kollege meinte. Wie sicher konnte man sich sein, dass die andere Partei tatsächlich DASSELBE Ziel hatte? *~~~+~~~* Ümir wartete, sich brav zusammenkauernd, bei der "Alten Karawanserei" auf das Erscheinen der Kontrebandeure. Den ganzen Tag über hatte er Mühe gehabt, sich zu konzentrieren, einzig und allein der Arbeit seine Aufmerksamkeit zu widmen, weil er sich, schüchtern, tollkühn und ängstlich, ausmalte, wie das zweite Treffen mit Fidibus wohl verlaufen könnte. Diesen schienen derartige Tagträumereien/Albträume jedoch nicht umzutreiben, als er im gewohnten Pulk durch das Portal schritt. An einer Tasche baumelte die rote Stoffkugel, Gegenstand diverser neidischer Blicke, wie Ümir registrierte. "Ah, Ümir! Augenblickchen, ja?", Fidibus rief unbeschwert zu ihm herüber, "ich hole mir gerade noch was zu essen!" Obwohl er recht gut verborgen im Gebäudeschatten hockte, spürte Ümir die Augenpaare mehr als deutlich, die sich auf ihn richteten. Er erstarrte zu Stein, nun, beinahe. Fidibus flitzte munter zu ihm herüber, in den Handschuhen einen Deckelkrug mit Limonade und einen gefüllten Fladen apportierend. "Verzeihung, ich hätte dir was mitbringen sollen, oder?", blickte er zu ihm hoch, "magst du etwas haben?" Kollernd räusperte sich Ümir, verlegen über seine ungeschickten Umgangsformen, kam sich gewohnt zu groß, zu klobig, zu grob, zu ungeschlacht, zu rau vor. "Danke, aber ich habe schon gegessen, vorhin", brachte er grollend zu Gehör. "Verstehe! Stört es dich?!", Limonadenkrug und Fladen wurden gelupft, "weißt du, ich hab ja nur Frühstück gehabt, und wenn wir zurückkommen, dann muss ich meinen Bärenhunger stillen!" Bevor Ümir etwas antworten konnte, plapperte der Kontrebandeur weiter, "ach, ich esse natürlich keine Bären! Nicht, dass du dir ein falsches Bild machst!" Fidibus mümmelte zwischen den Worten, "ich weiß, es heißt, alle nach ihrer Fasson, und wir können ja auch nichts dafür, wie wir beschaffen sind", der Limonadenkrug leerte sich zur Hälfe, "aber ich will niemanden vor den Kopf stoßen! Das passiert so schnell, dabei hat man's gar nicht so gemeint!" Ümir staunte. Fidibus las offenbar seine Gedanken! "Ah, ich bin Transporter, als Kontrebandeur", plauderte Fidibus unterdessen weiter, "aber das siehst du ja selbst, richtig? Deshalb auch all die Taschen, Beutel und Säcke", schon drehte er sich flink im Kreis, seine Erscheinung zu präsentieren, "und du? Was machst du so? Oder ist es ein Geheimnis?" Vorsichtig richtete Ümir sich zu seiner gewaltigen Gestalt auf, ein Riesengebirge, quasi. "Oje!", bekannte Fidibus schon, "ich rede doch zu viel, nicht wahr? Tut mir leid, ich bin ein bisschen aufgeregt! Normalerweise ist es nicht so schlimm mit mir." "Ich höre dir gern zu", versicherte Ümir grollend, "ich mache Glaslampen." Fidibus, nunmehr nur noch den leeren Krug in den Handschuhen, staunte zu ihm hoch (zumindest klang seine Stimme verblüfft), "wirklich?! Glaslampen? Oooohhh!! Das ist aber toll!! Kannst du mir das zeigen? Ja? Darf ich sie sehen?!" Er tippelte sogar von einem Fuß auf den anderen! Ümir lächelte scheu. "Wenn du magst, zeig ich dir meine Werkstatt", bot er an. "Ja! Ja, unbedingt! Glaslaternen, toll!", begeisterte sich Fidibus, "oh, warte eine Sekunde, ich bringe gerade den Krug zurück!", damit flitzte er eilig hinüber zur "Alten Karawanserei", wo man durchaus erstaunt beobachtete, wie sich die zwei sehr ungleichen Gestalten auf den Weg begaben. *~~~+~~~* Ümir hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie sein Freund aussah. Ein wandelndes, jedoch wieselflinkes Woll-Männchen, das war alles, was er bis jetzt ausmachen konnte. Er ging bedächtig, denn Fidibus reichte ihm gerade bis zur Hüfte und musste spurten, während sie durch die gepflasterten Gassen zu Ümirs Höhle flanierten. "Oh, wohnst du hier auch? In der Werkstatt?", Fidibus' Mundwerk stand selten länger als einige Atemzüge still. Dabei berichtete er wechselweise von seinem Tagwerk, kommentierte das, was ihnen gerade begegnete, lobpreiste den Mond. "Wow, hier ist es?! Ich habe gehört, die Höhlen hier gelten als teuer! Wie lange arbeitest du hier schon?", ging es aufgeregt weiter. Böswillige Zeitgenossen hätten wohl abschätzig geurteilt, dass Fidibus unentwegt schnatterte wie eine Gans. Ümir, der nicht allzu viel Ansprache hatte, wenn keine Kundschaft in seine Werkstatt kamen, störte sich nicht daran. Er öffnete die Pforte und ließ Fidibus den Vortritt. "Oooh....oooohhh! Oooohhh! Wie schön!!", Fidibus staunte nicht stumm, aber er bewegte sich vorsichtig, während die Glühwürmchen- und Feuerfunkendaimonen verstärkt zu tanzen begannen. Ümir fertigte unterschiedliche Lampen an, Laternen, die man mit Bienenwachskerzen bestückte, andere, in deren Schalen man Pflanzenöle goss. Die bunten Glasverschalungen stellte er selbst her, Spiegelscherben, Untersetzer und Kerzenhalter ließ er sich liefern. Er lächelte hoffnungsfroh, weil Fidibus seit mehreren Wimpernschlägen gar nichts mehr von sich gegeben hatte. Natürlich zog ihn, wie jeden anderen Kunden auch, die geschickt in der Höhlenmitte platzierte Glaslaterne an, das Schaustück. Mannshoch, einen Baum mit bunten Blättern, mit Früchten, bunten Schmetterlingen und Vogelnestern imitierend, erhob sich diese Laterne. Sie wurde nicht mit Öl oder Kerzen bestückt, nein, in ihr nisteten sich aus eigenem Antrieb die Glühwürmchen- und Feuerfunkendaimonen ein. Ihre Leuchtenergie brachte das farbenprächtige Glasmosaik zum Strahlen. Alle, die es zum ersten Mal erblickten, standen ehrfürchtig und hingerissen davor. Ümirs "Meisterstück", im wahrsten Sinne des Wortes, denn mit diesem Werk hatte er sich emanzipiert und galt als versiert Kunst schaffend.. "Wie herrlich", wisperte Fidibus schließlich andächtig, wandte sich dann zu Ümir herum, "das verkaufst du aber nicht, oder?" Der Steindaimon schüttelte den Kopf. "Es ist ein Abschlusswerk, meine letzte Prüfung", erklärte er mit Donnergrollen, verwünschte einmal mehr seine wenig geschmeidige Stimme. "So etwas habe ich noch nie gesehen!", bekannte Fidibus, fröhlicher, ließ sich von neugierigen Glühwürmchendaimonen umschwirren. "Sag mal", schon baute er sich vor Ümir auf, "kannst du mir zeigen, wie du Glas machst? Geht das? Das fände ich so toll!!" Da der eigentliche Prozess kein Geheimnis war, nickte Ümir eifrig. "Sehr gern. Ich kann eine Lampe für dich machen, wenn du magst?", bot er an. "Oh, das wäre schön", Fidibus lachte unbeschwert, "nur kann ich sie nicht unterbringen, weißt du? Ich habe bloß eine Schlafnische." Prompt sackten Ümir die mächtigen Schultern herab. Herrje, was hatte er da angestellt? Brachte seinen Freund so unbedacht in eine schwierige Lage, ihm nämlich absagen zu müssen! "Weißt du", Fidibus klopfte ihm gegen ein Knie, weil er dies im Stehen erreichen konnte, "ich könnte SIE aber hier besuchen, oder?" Seine Stimme klang so verschmitzt-listig, dass Ümir prompt die latenten Schuldgefühle und vorhandenen Minderwertigkeitskomplexe temporär abhanden kamen. "Eine sehr gute Idee!", bescheinigte Ümir eilig mit brav dosierter Euphorie. "Gell?!", lachte der Kontrebandeur, schlug sich dann aber vor die (wollig gepolsterte) Stirn unter einer Zipfelmütze, "verflixt, so spät?! Ich muss los, leider!" Ümir hätte beinahe "schon?!" gerufen, bremste sich aber streng. Niemanden durch eigensüchtiges Anspruchsdenken in die Bredouille bringen!! "Schade", bekannte er stattdessen wagemutig. "Ich weiß!", nickte Fidibus, bahnte sich schon den Weg zur Pforte, "ist bloß so, dass ich wegratze, von jetzt auf gleich! Deshalb muss ich rechtzeitig in der Wabe sein." Der Steindaimon nahm die Verfolgung auf. "Darf ich dich begleiten?", heischte er um Zustimmung, eilig ergänzt, "etwas mehr Bewegung muss ich mir ohnehin verschaffen." Er wollte sich ja nicht aufdrängen oder Fidibus glauben machen, der bereite ihm Umstände. "Ja, gern!", strahlte dessen Stimme unternehmungslustig, "da kann ich dir auch noch was über diesen fiesen Waschbären erzählen, der mich heute fast angegriffen hätte!" So lauschte Ümir fasziniert Fidibus' farbenprächtiger Schilderung seines Abenteuers beim Einbruch in ein Haus über das Dach. In seinem Inneren funkelte und glitzerte es vor Freude, einen Freund gefunden zu haben. *~~~+~~~* Tankred hielt überrascht inne, als er seine Höhle betrat, denn Strix kauerte nicht wie zuvor immer im Nest, ein Daunenknäuel des Elends, vielmehr blitzte die Höhle blank und sauber aufgeräumt, während das Käuzchen ihn ernst anblickte, neben dem Nest sitzend, in welchem nur das prachtvolle Weihnachtsbaumkissen residierte. "Guten Abend", eröffnete Strix konzentriert die Debatte. "Ja, guten Abend", antwortete der Falkendaimon, den Umstand verwünschend, dass er schon Umhang und Maske abgenommen hatte. Verflixt, so konnte er das Käuzchen viel schlechter täuschen, das ihn so aufmerksam mit den großen, runden Brillengläsern beäugte! "Ich habe mich gar nicht richtig bedankt bei dir", Strix neigte das Haupt sehr tief, "obwohl ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe, nicht wahr? Du konntest diesen Bösewicht gar nicht abhalten." Tankred zuckte unruhig mit den eingeklappten Schwingen. "Trotzdem hast du mir beigestanden, mich sogar hier aufgenommen und versorgt", konkludierte Strix unbeeindruckt, "du hast Essen für mich gekauft und meine Sachen eingelagert." "Ja, nun", grummelte der Falkendaimon unbehaglich. "Und gestern nun hast du mir dieses kostspielige Geschenk gemacht", das Kissen wurde mit dem spitzen Kinn ausgedeutet, "für das ich mich auch nicht ausreichend bedankt habe." "Iistschonrecht!", murmelte Tankred, sortierte seine Schwingen nervös, "keine große Sache." "Für mich schon!", widersprach das Käuzchen ihm entschieden, aber auch gefasst, "denn ich möchte wissen, nein, ich MUSS wissen, aus welchem Grund du dich dieser Kosten und Mühen unterziehst." Da war der Röntgenblick, den er so sehr fürchtete! Man konnte schlechterdings nicht entwischen ohne verbergende Maske! Schnaufend plumpste Tankred auf den Boden, verschränkte die Arme vor der Brust. "Kann ich nicht einfach mal nett sein?!", schnaubte er grimmig, hoffte, dass diese Taktik verfing. Tat sie nicht. Strix lupfte eine Augenbraue, "selbstverständlich kannst du das. Aber warum mir gegenüber?" Tankred warf die Arme hoch, schlechtes Schmierentheater inszenierend, "wieso nicht?! Überhaupt, ist das so wichtig? Oder bist du sauer, weil ICH es bin, ein Malabsorbo?!" Sehr grob! Vorwürfe einstreuen, aggressiver Tonfall, Kinn vorschieben, Augen zu Schlitzen... Laut Drehbuch hätte es ein Erfolg sein sollen. Das Käuzchen legte skeptisch den Kopf schief, "hast du mich vielleicht gern?" Tankred spürte, wie ihm erst die Kinnlade heruntersackte, dann eine nicht zu verbergende Röte in das markante Gesicht stieg. "Aha", kommentierte Strix diese Entwicklung, "das beruhigt mich. Ich wäre nämlich ratlos, wenn du mich nicht mögen würdest." "Wie-wieso sollte ich dich nicht mögen?!", stammelte der Falkendämon ertappt, bevor er einen weiteren Versuch unternahm, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. "Denk jetz bloß nich, dass ich nett wäre, oder so!", warnte er Strix drohend vor, "ich hab nämlich deine Lage schamlos ausgenutzt! Ha!" Genau, triumphierender Tonfall, Kinn zur Decke recken, Brust raus, Muskeln spielen lassen! "Mag sein", antwortete das Käuzchen, vollkommen unbeeindruckt, "doch das hast du mehr als wettgemacht." "Denkst du!", fauchte Tankred, "aber wenn du jetzt rausgehst, werden alle merken, dass du mit einem Malabsorbo Umgang pflegst, und...!" "Und mich deshalb meiden?Nicht etwa, weil ich ganz ungeheuerlich gefrevelt habe?", konterte Strix ausgesucht liebenswürdig. Tankred sackte erneut wenig kleidsam die Kinnlade herunter. Unfair! Wie sollte er hier den bösen Daimon abgeben, wenn das Käuzchen ihm dauernd in die Parade fuhr?! Strix streckte langsam die Rechte aus, klemmte Tankreds Nasenspitze zwischen Mittel- und Ringfinger ein. "Ich bin nicht ganz dumm, auch wenn ich gewisse Erfahrungen vorher noch nicht gemacht hatte", neckte er den Falkendaimon zwinkernd, "ich möchte eigentlich mit dir darüber sprechen, wie es mit uns weitergeht. Ich habe längst genug davon, mich in meinem selbstverschuldeten Elend zu suhlen", ergänzte er aufrichtig. Woran auch das prachtvolle Kissen einen großen Anteil hatte, denn niemand, der etwas so Tröstliches, Weiches, Warmes, Schönes bekuscheln durfte, konnte sich vollkommen den schönen Seiten des Daseins entziehen. Tankred, sich die Nasenspitze reibend, sackte ein wenig in sich zusammen. Also, Eindruck schinden konnte er bei Strix wohl gar nicht! "Na ja", brummelte er kleinlaut, "mich würde es jetzt nicht groß stören, wenn du weiter hier wohnst, und, na ja, wenn wir das Nest teilen." Ihm gegenüber erhob Strix sich, hielt dem besorgten Falkenblick stand, überwand die kurze Distanz und ließ sich auf Tankreds gekreuzten Oberschenkeln rittlings nieder, schlang ihm die Arme um den Nacken und drückte ihn an sich. "Das ist ein sehr guter Vorschlag", wisperte Strix, "ich nehme gern an." Tankred zögerte kurz, dann wickelte er die eigenen, muskulöseren Arme um sein Käuzchen. Endlich nicht mehr allein! Er faltete unwillkürlich seine beeindruckenden Schwingen auf. "Sag mal", murmelte er schüchtern, denn geübt war er gar nicht so sehr, "darf ich mit dir schnäbeln?" Glücklicherweise stimmte Strix auch in dieser Hinsicht mit ihm überein. Übung hatte schließlich noch keinem geschadet, der die Meisterschaft anstrebte, oder? *~~~+~~~* Kapitel 10 Während er Glasstücke sortierte, dachte Ümir angestrengt darüber nach, welche Laterne er für seinen Freund Fidibus anfertigen konnte. Was würde diesem wohl zusagen? Er blickte über das gewaltige Sortiment an Pigmentierung, eine beeindruckende Farbpalette, die erst ermöglichte, seinem Handwerk nachzugehen, doch noch wusste er einfach zu wenig über den Kontrebandeur, um sich sicher zu sein! Ungeduldig behielt er die Sanduhr im Auge, die er gewohnt nutzte, brach dann zeitig auf, um Fidibus an der Pforte zu treffen. Was dieser wohl wieder erlebt hätte? Ein wohliges Glühen erfüllte Ümir. *~~~+~~~* Fidibus stopfte sich rasch den Fladen in die Backen, malmte eilig. Auf keinen Fall wollte er Zeit vertrödeln, denn der magische Prozess der Glasherstellung dauerte bestimmt ein Weilchen! Und wenn er mittendrin einschliefe...!! Der Steindaimon warf den gewohnt gewaltigen Schatten, ging hinter ihm, achtete genau darauf, das Tempo nicht zu erhöhen, eine sehr aufmerksame Geste, wie Fidibus befand. Bisher hatte er auch noch kein Anzeichen von Überdruss bemerkt, obwohl er vor Vorfreude noch schneller und mehr sprach als gewöhnlich! Zügig erreichten sie die Werkstatt des Riesen. Ümir führte Fidibus in den hinteren Teil der Höhle, wo in Steinguttöpfen die Zutaten für farbiges Glas auf ihre Verarbeitung warteten. "So viele Töpfe!", staunte der Kontrebandeur beeindruckt, "du kannst bestimmt jede Farbe der Welt abbilden, oder?! Toll!" Eifrig hockte er sich neben den Steindaimon, der feingemahlene Bestandteile in einer Gussform versammelte. Dann blies Ümir geduldig auf die Form. Sie erhitzte sich über den Schmelzpunkt hinaus, ließ sich als zähflüssige Mischung mit einem Blasrohr fangen und zu einer Kugel aufblähen, die mit wachsendem Volumen immer dünnwandiger wurde. Es entstand auf diese Weise ein farbenprächtiger Globus, dessen finale Ausgestaltung jedoch nur Ümir selbst schon kannte. "Wie-wie machst du das?", wisperte Fidibus neben ihm, "ganz ohne Feuer?" "Oh", behutsam legte Ümir die abkühlende Form in einem Ständer ab, "ich kann sehr heißen Atem ausstoßen." Fidibus sprang auf die Beine. "Darf-darf ich dich mal anfassen? Ja? Bist du auch sonst warm?" Ümir blickte auf seinen Freund herunter. "Nun, wenn du magst", zögerte er, streckte dann die Hand aus. Der Kontrebandeur zupfte sich die Handschuhe ab, berührte die steinerne Haut vorsichtig. "Oh....oooohhh!", stöhnte er genüsslich, "so warm!! Oh, das ist so toll! Darf ich dich mal drücken?" DAS hatte Ümir noch nie jemand gefragt! Er war sich auch gar nicht so sicher, wie es zu bewerkstelligen war, zog man ihre doch sehr unterschiedliche Größe in Betracht. Fidibus löste das Problem auf seine Weise: er schälte sich aus der ersten Wollschicht, warf Säcke, Beutel und Taschen ab, schmiegte sich dann in Ümirs gewaltige Faust. "Warm! So warm!", begeisterte er sich hingerissen. Nun fiel auch bei Ümir ganz altmodisch der Groschen. "Du frierst? Oh, tut mir leid, das habe ich gar nicht bemerkt!", entschuldigte er sich kläglich. Warum hatte er auch angenommen, dass Fidibus sich derart verpuppte, um unerkannt zu bleiben?! "Ja, ich bin irgendwie aus der Art geschlagen", kuschelte der sich wohlig in seine Hand, "mir ist dauernd zu kalt! Weißt du, nahezu mein gesamter Lohn, na, neben Essen und Trinken, geht für Wollsachen drauf!" Vertraulich beugte er sich näher, "ich trage die immer abwechselnd in Schichten, aber trotzdem gehen sie kaputt! Dann sieht's eher nach Fischernetz aus", seufzte der Kontrebandeur. Ümir erhöhte seine Körpertemperatur, was ihm eine leichte Übung war. So bekam er auch, mit jeder abgestreiften Hülle, mehr davon zu sehen, wer eigentlich unter dem Woll-Berg steckte: ein athletisch gebauter Daimon mit vanillefarbener Haut, struppig gestutzte, schokoladenbraune Locken, violette Augen mit Pupillenschlitz und auf den Schläfen zwei kleine, aparte Hörnchen. "Oh, das ist so schön!! Danke!", strahlte Fidibus ihm nun entgegen, in ärmellosem Unterhemd und Höschen. "Nichts zu danken", murmelte Ümir kollernd, errötete verlegen, was sich wie ein Mosaik auf seiner steinernen Haut abzeichnete. Prompt erregte diese Beschaffenheit Fidibus' ungeteilte Aufmerksamkeit, "das ist ja phantastisch! Wie machst du das? Das sieht so toll aus!" Ümir murmelte, "na ja, das passiert eben, wenn ich mich freue." "Wirklich?! Oh, klasse!! Ümir, du bist ganz außergewöhnlich!!", Fidibus lobte ihn euphorisch, "sag mal, darf ich das vielleicht abmalen?! Weißt du, ich kenne einen, der könnte das als Muster stricken! Weil es so schön ist und ja Freude bedeutet, denkst du, dass ich das darf?" Der Steinriese gestand sich ein, dass er ALLES ungefragt befürwortet hätte, was sein kleiner Freund ihm vorschlug, schlicht aus der Seligkeit heraus, so bewundert zu werden, sich angenommen zu fühlen! "Wenn du möchtest", antwortete er jedoch bescheiden. Nicht mal Wimpernschläge später saß Fidibus auf seinem rechten Oberschenkel und pinselte in einem alten Notizbuch die Muster, die Ümirs Befinden auf dessen steinerner Haut entstehen ließ. "Keine Angst, ich stell dich vor!", versicherte Fidibus ihm, "dann kannst du selbst verhandeln, ja? Und", er stockte. "Oje!", murmelte er benommen. "Was ist?! Geht's dir nicht gut?", erkundigte sich Ümir besorgt, der mit einem Arm wärmend seinen Freund abstützte. "Müde...oje...", brabbelte Fidibus, rutschte ihm dann einfach an den mächtigen Leib. Ümir lauschte erst erschrocken, dann amüsiert dem sehr dezenten Schnarchen. Verblüffend! Aus wie ein Licht! Er lächelte, nahm den Freund in den Arm, um die Wärmezufuhr nicht versiegen zu lassen, begab sich dann in seine Nische. Ein Bein aufgestützt machte er es sich mit Fidibus bequem, der so tief schlief, dass ihn gar nichts erreichte. Begleitet vom fröhlichen Summen und Brummen der Glühwürmchen- und Feuerfunkendaimonen, die in ihrem prächtigen Laternenheim geschäftig herumschwirrten, döste auch Ümir glücklich ein. *~~~+~~~* "Oh! OH! Ich bin einfach eingeschlafen, nicht wahr?", bevor Ümir etwas äußern konnte, hatte sich Fidibus schon hellwach wie mit Glockenschlag aufgesetzt. "Ach herrje, da habe ich dir Umstände gemacht!", plapperte er, "das tut mir leid! Konntest du überhaupt schlafen? War es nicht zu ungemütlich?!" Rasch glitt Fidibus auch schon von seinem Bein, haschte eilig nach den abgestreiften Woll-Schichten, Taschen, Beuteln und Säcken. "Wirklich, das ist sehr lästig von mir!", bekundete er dabei hochgeschwind Verständnis, "hin und weg, von einem Moment auf den nächsten! Nicht absichtlich, aber trotzdem!" Endlich fand sich Ümir in der Lage, kollernd etwas zu bemerken. "Es macht mir nichts aus", stellte er richtig, "du bist mir nicht lästig und es sind keine Umstände." Fidibus, nur noch an seiner Stimme kenntlich, was Ümir bedauerte, bekundete Erleichterung, "wirklich? Das ist so nett von dir! Du musst aber nicht höflich sein, weil wir Freunde sind, ja? Du kannst mir ruhig sagen, wenn es dir zu viel wird!" Im Silbenregen hielt der Steindaimon es für angezeigt, tollkühn einen Offenbarungseid abzulegen, "ich freue mich, wenn wir zusammen sind." Er musste keinen Spiegel bemühen, um zu wissen, dass sein gesamter Körper kaleidoskopierte, was Fidibus tatsächlich für ein paar Wimpernschläge verstummen ließ. "Ich freue mich auch!", strahlte seine Stimme dann euphorisch, um gleich wieder den Tonfall zu wechseln, "oje, ich komme zu spät! Kein Frühstück, sonst schaff ich es nicht rechtzeitig!", sprudelte er mit einem Seufzer heraus. Stolz auf eine rasche Auffassungsgabe in diesem Augenblick warf sich Ümir in die Bresche. "Wenn ich dich bringe, hast du genug Zeit. Ich kann sehr schnell gehen", ergänzte er aufmunternd, sich ein wenig schämend, weil es für ihn wie Prahlerei klang. "Das könntest du?! Hält dich das nicht auf?!", drang Fidibus' Stimme aus dem kleinen Woll-Gebirge zu ihm hoch. "Es ist mir ein Vergnügen", antwortete Ümir galant, beugte sich herunter, um Fidibus auf seine Hand steigen zu lassen. Er verließ seine Höhlenwerkstatt, die Pforte sorgsam hinter sich schließend, dann setzte er sich den Kontrebandeur auf eine Schulter. "Huii! Eine tolle Aussicht!", freute sich Fidibus aufgekratzt, "vielen Dank, Ümir!" Deutlich errötend und damit auch Fidibus durchheizend machte sich der Steinriese mit gewaltigen Schritten auf den Weg hinunter zum Portal. Keine Frage, dass die Zeit reichte, für Fidibus auch noch ein Frühstück zu bekommen! *~~~+~~~* Yzibao knurrte vor sich hin. Nein, NATÜRLICH hatte er NICHT erwartet, dass dieser unverschämte, aufdringliche, skandalös disponierte Malabsorbo noch mal auf den Plan treten würde! Warum auch?! Unseligerweise kreisten seine Gedanken jedoch entgegen der Entschlossenheit, diese besorgniserregende Episode spurlos aus dem Gedächtnis zu tilgen, ständig um diesen angeblichen Heroen, weshalb, zum Ausgleich, Arbeit angezeigt war, die keine Ablenkung oder gar Müßiggang vorsah! Yzibaos Werke waren kostspielig. Gewebte Stoffe gab es durchaus in vielerlei Qualitäten, manche zogen auch gegerbtes Leder vor oder Wollwaren. Doch seine Meisterstücke, hauchzart, farbenprächtig, komplex, federleicht, prachtvoll, dazu, wenn man wollte, auf den Leib maßgeschneidert: die waren besonders und folglich ebenso begehrt wie luxuriös. Natürlich konnte man sich eine majestätische Schärpe auch weben lassen, konventionell, am Webstuhl oder den gewünschten Stoff später bemalen, aber wenn Yzibao beauftragt wurde, dann enthielt diese Schärpe auch Perlen, Edelsteine, so kunstvoll und fein verflochten, dabei hauchzart...DA war man wer! Die Orchestrierung seiner Käfer, ihre Fütterung, die Vorbereitung, damit die feinen Fäden die richtige Qualität und Färbung erhielten, das verlangte große Anstrengung. Aus dem Nichts heraus, so nebenher, klappte das jedenfalls nicht! Yzibao brummte der Schädel. Mit dem ausgehandelten Gegenwert konnte er jedoch neue Materialien und Lebensmittel für sich und seine treuen Helfenden erwerben. Allerdings wich er seinem Spiegelbild aus, denn die flüchtige Reflexion bewies unkleidsame Schatten und Augenringe. "Verwünscht sei der Kerl!", fluchte er leise und grollte sich selbst zu einem nicht geringen Teil. *~~~+~~~* Ümir strebte, vom Fleiß seines Nachbarn angefeuert, bei dem ständig Kundschaft auf der Schwelle stand, nach produktivem Tagwerk abends die "Alte Karawanserei" an. Pünktlich wie ein, nun, Glaslampen-Kunstschaffende eben! Fidibus freute sich jedes Mal, der Stimme nach zu urteilen, besorgte sich ein Abendessen und während er auf Ümirs Schulter saß, sprudelte er über vor Erlebnissen des Tages. Was Ümir jedoch besonders genoss, war die gemeinsame Zeit in seiner Höhle, wenn Fidibus, nur in Leibwäsche, auf seinem Bein saß, dabei lebhaft gestikulierte und mit faszinierendem Mienenspiel von seinen Abenteuern berichtete. Niemand konnte müde werden, ihn zu betrachten, seiner Stimme zu lauschen! Deshalb erdreistete sich Ümir auch, ihm die Offerte zu unterbreiten, doch bei ihm für immer Quartier zu nehmen, inklusive Schlafplatz auf seinem breiten, wenn auch nicht sonderlich weichen Leib. Fidibus, der gerade auf Ümirs ausgestrecktem Bein mit bloßen Füßen das Anschleichen demonstriert hatte, staunte ihn aus den violetten Augen ungläubig an, "du lässt mich bei dir wohnen?! Hier?! Zwischen all den schönen Lampen und Laternen?!" Ümir nickte, verwünschte seine vermaledeite Schüchternheit. "Oh, das wäre ganz toll!", Fidibus glitt mühelos in einen Reitersitz, legte den Kopf in den Nacken, um ihn zu studieren, "bin ich dir denn nicht im Weg, wenn Freunde oder deine Familie kommen?" Der Steinriese hob den Arm und wölbte behutsam die offene Hand um den kleinen Freund. "Ich habe keine Familie hier", bekannte er, "und mein Freund bist DU." Der Kontrebandeur lächelte, schmiegte sich erstaunlich lange schweigend in die große Hand. "Du bist auch mein Freund", bestätigte er freimütig, "dann, also, abgemacht?" Damit wandte er sich gelenkig herum, um mit beiden Händen Ümirs Daumen zu schütteln. "Abgemacht!", kollerte der Steindaimon erleichtert. Unterdessen wirbelte Fidibus schon wieder quecksilbrig herum, "weißt du, wenn ich morgen frei habe, kann ich meine Sachen holen! Wir können auf den Markt gehen, für das Muster!" Ümir nickte, mit jeder Freizeitplanung einverstanden, denn es war das erste Mal, dass sie einen ganzen Tag für sich haben konnten. "Das wird prima! Ich freu mich jetzt schon!", hopste Fidibus jubilierend von einem Bein aufs andere, dann, ein leises Seufzen später, sackte er spannungslos in Ümirs sichernd ausgestreckte Hand, pünktlich wie ein Uhrwerk in tiefen Schlaf fallend. Der Steinriese schmunzelte und barg seinen kleinen Freund gewohnt behutsam auf seinem gewaltigen Leib. Auch er konnte den morgigen Tag kaum erwarten! *~~~+~~~* Sie erregten Aufsehen, selbstverständlich. Auch die anderen Kontrebandeure erkundigten sich durchaus verblüfft, was zwei so gegensätzliche Daimonen bloß miteinander verband?! Gut, Fidibus galt ihnen als eher schlichtes Gemüt, der wohl nicht durchschaute, dass es recht sinnlos erscheinen musste, sich mit einem Steindaimon von diesen Ausmaßen zusammenzutun. Was sollte dabei schon herauskommen?! Fidibus verstand nicht mal die Frage. Er spürte jedoch, dass es seinen Freund einschüchterte, wenn man sie mit solchem Misstrauen betrachtete, weshalb er nichts unterließ, Ümirs Loblied zu singen. Was hieß das schon, dass der recht groß war und klobig?! So konnte doch nur jemand sprechen, der noch nie die zarten Laternen und Lampen zu Gesicht bekommen hatte, die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit, mit der Ümir ihm begegnete! Er durfte auf dessen Schultern reiten, bei ihm wohnen und schlafen, ohne Gegenleistung! Sogar seine Halbseligkeiten hatte Ümir ganz selbstverständlich getragen, obwohl ihm das ja durchaus lästig sein konnte! Fidibus strebte deshalb an, sich entsprechend zu revanchieren. Mit Ümir im Schlepptau, der sich sehr vorsichtig auf dem Markt bewegen musste, weil die Stände eng standen und so viel Kundschaft sich drängte, suchte er seinen "Ankleider". "Da ist er schon!", nickte Fidibus eifrig, was lediglich die Bommel auf seiner aktuellen Kopfbedeckung erkennen ließ. Der Steinriese folgte, wurde dann einem uralten Walddaimon namens Faunus vorgestellt. "Oh, bist du allein hier?", Fidibus übernahm ganz selbstverständlich die Gesprächsführung, "ist Xaruli nicht da? Weißt du, ich hätte hier ein tolles Strickmuster!" Damit präsentierte er das von ihm sorgfältig bemalte Blatt. Faunus nahm es entgegen, studierte es. "Ich habe es nur abgezeichnet!", sprudelte Fidibus grundehrlich weiter, "mein Freund Ümir hat es erfunden. Glaubst du, Xaruli kann was damit anfangen?" Der Walddaimon lupfte eine buschige Augenbraue, "du willst wohl etwas tauschen, wie?" "Nein, nein!", wedelte der Kontrebandeur mit bunten Handschuhen, "es ist schließlich die Idee meines Freundes hier! Und, Ümir, was denkst du, möchtest du haben?" Ümir hatte Mühe, vor Verlegenheit den Blick des Walddaimons auszuhalten. Mit dessen Holzarbeiten konnte er wenig anfangen, Strickmodelle benötigte er auch nicht, selbst wenn man etwas in seiner Übergröße hätte anfertigen können. "Bitte such du dir etwas aus", murmelte er sonor und versuchte vergeblich, hinter Fidibus ein wenig zu schrumpfen. "Das geht doch nicht!", protestierte der munter, "es ist allein dein Verdienst!" Faunus räusperte sich, innerlich höchst amüsiert über dieses possierliche Schauspiel. "Vielleicht überdenkt ihr eure Wahl einfach in Ruhe, während ich herausfinde, ob sich mit diesem Muster etwas machen lässt?", schlug er vor. "Ja, eine gute Idee! Oder, Ümir?", Fidibus legte wie gewohnt einen Handschuh auf Ümirs Knie. Der Steindämon nickte rasch. Er hoffte auf eine passende Gelegenheit in seiner Höhle, Fidibus zu entlocken, was DER gerne haben wollte, um es dann in diplomatischem Geschick als Geschenk zu offerieren. "Fein!", klatschte Fidibus wiederholt in die Hände, was ein dumpfes Geräusch produzierte, woll-gedämpft, "wollen wir jetzt was essen, ja? Hast du vielleicht auch Hunger?" Schon wechselte er wieselflink das Thema, verabschiedete sich flugs von Faunus. Der schien die Sprunghaftigkeit nicht übelzunehmen, was Ümir erleichterte, der höflich den Kopf neigte, bevor er seinem quirligen Freund folgte. Rasch genug, um nicht den Anfang einer Schilderung geradezu haarsträubender Abenteuer in einer Münzwäscherei zu verpassen! *~~~+~~~* Eigentlich hatte sich Ümir ja den ganzen Tag freigehalten, aber es nahm sich schlichtweg unmöglich aus, Fidibus etwas abzuschlagen, weshalb dieser nun als winziges Woll-Häufchen neben ihm hockte und, zumindest der Mützenrichtung nach, gespannt verfolgte, wie Ümir Glas herstellte. So gebannt und hingerissen, dass Ümir verblüffend lange außer einem andächtigen "Ooooohhhh!" gar nichts zu hören bekam! Aus winzigen Tröpfchen formte der Steinriese mit zierlichen Werkzeugen und exakt dosiertem Atemhauch Dekorationsobjekte. Blütenkelche, Schmetterlinge, Blättchen in nuancenreichen Farbtönen, von Dunkelgrün bis Flammenrot. Dann, ein wenig übermütig, fabrizierte er für seinen kleinen Freund einen eigenen Glaskrug, durchscheinend, jedoch mit einem Hauch der violetten Augenfarbe des Kontrebandeurs. "OOooooohhhh!", bewunderte Fidibus andächtig jedes einzelne Werkstück auf dem Steinsims, wo alles langsam auskühlte. "Bald kannst du ihn auch benutzen", vertröstete Ümir etwas verlegen, während er sorgsam sein filigranes Werkzeug säuberte. Zu schade, dass man nun mal abwarten musste, denn er hätte Fidibus gern gleich etwas überreicht! "Das ist so wunderbar!", Fidibus nutzte die Gelegenheit, Woll-Schichten abzustreifen und es sich auf Ümirs Bein bequem zu machen. Er staunte ihn voller Ehrfurcht an. "Weißt du, es ist wirklich schade, dass die anderen so wenig verstehen!", tätschelte er aufmunternd Ümirs steinernen Leib, "sie haben es einfach nicht durchdacht." Ümir betrachtete seinen kleinen Freund fragend, doch der lieferte, wieder die gewohnte Mitteilsamkeit aufnehmend, gleich die Erklärung. "Du kannst so viele schöne und nützliche Dinge herstellen, beinahe aus dem Nichts! Wir dagegen", er tippte sich auf die eigene Nasenspitze, "wir nehmen bloß das an uns, was andere produziert haben." Sofort sah sich Ümir herausgefordert, diese Dienstleistung ebenfalls gebührend zu würdigen. "Aber ihr seid doch sehr mutig!", argumentierte er ungewohnt offensiv, "geht in die Menschenwelt, wagt euch in ihre Häuser und Werkstätten! Es ist doch eine wichtige Aufgabe!" Denn schließlich konnte man nicht alles vom äußeren Anschein heraus schon begreifen! Fidibus zuckte mit den Schultern, wedelte mit den Armen. Er kommunizierte wirklich immer mit dem ganzen Körper, was sich jedoch zumeist unter Woll-Schichten verbarg. "Schon nützlich", gestand er Ümir höflich zu, "doch wir bringen nichts Neues in die Welt. Wir sind nicht kreativ. Von uns geht kein Staunen aus." So schlicht, wie er den letzten Satz formulierte, brachte er den Steinriesen damit aus dem Konzept der feurigen Verteidigung. "Nun", räusperte sich Ümir schließlich kollernd, "MICH versetzt du jeden Tag in Erstaunen. Du schilderst so lebendig und bist so ansteckend gut gelaunt, dass es für MICH ein Wunder ist, Zeit mit dir verbringen zu dürfen." Er schnaufte verlegen durch, weshalb eine sehr warme Brise die grob gestutzten Locken des Kontrebandeurs kraulte. Fidibus blickte zu ihm auf, rückte dann näher und schmiegte sich mit ausgebreiteten Armen an seinen steinernen Leib. "Du bist so lieb!", komplimentierte er Ümir, die Wangen dezent gerötet, "ich hab dich von allen am Allerliebsten, Ümir!" Der Steinriese war sich mehr als bewusst, dass vermutlich sein gesamter Körper wie ein gewaltiges Mosaik in unterschiedlichen Sandsteinfarben aufleuchtete. "Ich hab dich auch am Allerliebsten", raunte er so sanft, wie es seine sonore, gewaltige Stimme zuließ, legte behutsam beide Hände um den kleinen Daimon. Ganz gleich, was all die anderen denken mochten: nichts an ihrer Freundschaft war sinnlos! *~~~+~~~* Kapitel 11 O-Batyr hatte einige Tage verstreichen lassen, bevor er Yzibao wieder aufzusuchen anstrebte. Nicht, dass er dem alten Walddaimon Faunus nicht traute, doch galt für ihn, dessen Erzählung auf Bestätigung von dritter Seite nach Möglichkeit zu verifizieren. Zudem wollte er sich selbst auch prüfen, immerhin hatte er ein Beispiel direkt in unmittelbarer Nähe, was eine enge, zweisame Beziehung betraf. Tankred jedenfalls schwelgte (ohne übertrieben lästig zu werden) im Glück. Man verstand sich gut im gemeinsamen Nest, obwohl es sich nun zwei doch sehr unterschiedliche, gefiederte Daimonen teilten, mit gutem Willen und der dazugehörigen Entschlossenheit, sich gemeinsam etwas aufzubauen, ein Vertrauensverhältnis, einen Pakt, abgesehen davon, dass man sich mit wachsendem Vergnügen gegenseitig ans Gefieder ging, aber das gehörte schließlich auch dazu, wenn man es wollte. Zwar schien der kleine Kauz noch immer nicht ganz sicher, was er mit sich anfangen wollte, in dieser Welt, ohne seinen geliebten "Tempel", doch Tankred befand, dass es sich gut anließ. Immerhin grübelten zwei KOK-Offize schon, wie man sich Strix' Talente zunutze machen konnte! O-Batyr kontemplierte seine eigene Motivation. Er war bereit, willens und entschlossen, seine freie Zeit zu teilen, Kompromisse einzugehen, sich selbst zurückzunehmen im Austausch für Vertrauen, Loyalität, Nähe, gemeinsame Erinnerungen, große Emotionen. Nun stellte sich die Frage, ob sich dazu ein "Spießgeselle" fand. *~~~+~~~* Üblicherweise hätte Yzibao zu dieser Tageszeit noch nicht sein kuscheliges Lager auf dem "Adlerhorst" hoch oben in der Höhle aufgesucht, doch er hatte im Akkord gearbeitet, sich gerade noch beliefern lassen, alle zugesagten Werke in rekordverdächtiger Zeit fertiggestellt und ruhte gerade mal eine halbe Stunde, als er unten, IN seiner Höhle, Geräusche vernahm. Benommen stemmte er sich in eine sitzende Haltung, die Katzenaugen verklebt. Wieso war jemand da?! Er sperrte die Pforte doch immer ab?! Was war mit seinen Käfern?! "Guten Abend, mein Freund." Yzibao zuckte unwillkürlich zusammen. Wie hatte sich DER KERL eingeschlichen?! "Geh weg! Verschwinde!", fauchte der Baobhan-Sith-Daimon automatisch, wühlte sich mühsam aus dem Decken- und Kissenwust. Er pfiff. Die Käfer schwirrten, eine dunkle, gut gelaunte, da gerade üppig mit Leckereien bestochene Wolke bildend, die keinerlei Skrupel hatte, den unerwünschten, ihnen aber bekannten Malabsorbo hereinzulassen, wobei dieser, ohne Maske und Umhang, durchaus vertrauenerweckend wirkte. "Verrat!", bezichtigte Yzibao übellaunig seine treuen Helfenden, die dies wohlwollend übersahen. "Was willst du? Hau ab, ich schlafe!", versetzte er in seine Höhle hinunter, wo O-Batyr am Fuß der Hühnerstiege wartete. Der trug polierte Stiefel, eine Kniebundhose, eine weiße Hemdbluse unter einer kurzen, schwarzen Jacke mit goldgefärbten Tressen, dazu die blutrote Bauchbinde. Der Schädel war rasiert bis auf die üppigen, schwarzen Strähnen am Oberkopf. Er präsentierte ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, die tiefschwarzen Augen funkelnd, was Yzibao selbst in seinem derangierten Zustand erkennen konnte. "Nun, jetzt, da du wach bist, lass uns ausgehen. Du hast doch bestimmt Hunger, nicht wahr?" Yzibao blinzelte ungläubig, dann ballte er aufgebracht die Fäuste, "bist du plemplem, oder was?! Ich bin ein Blutsauger, du Depp! Willst du, dass ich mich dir an den Hals schmeiße?! Ja?! Dann endest du im Handumdrehen als Dörrpflaume!" Die finstere Drohung schreckte O-Batyr gar nicht. "Du kannst dich gern an mir als Appetizer bedienen", lud er aufgeräumt ein, "dann gehen wir aber raus, ja? Was hältst du von 'Medusas Delikatessen'?" Yzibao fauchte, fischte ein Kissen heran und schleuderte es herunter nach O-Batyr. Der wich nicht etwa aus, sondern fing es gekonnt, umarmte es vor seiner ausgesprochen athletischen Brust. "Los, komm runter von der Erbse, Prinzessin!", neckte er herausfordernd, blendete ein perfektes Gebiss auf. Bei Yzibao, der zwar nicht GENAU mit dieser Anspielung vertraut war, aber die unterschwelligen Töne EXAKT einzuordnen wusste, explodierte (mal wieder) die kurze Lunte. Mit einem Wutschrei ließ er sich, die Hilfe seiner fliegenden Freunde und der von ihnen blitzartig präsentierten Bänder einfordernd, auf den gefliesten Steinboden herunter, um O-Batyr zu attackieren. JETZT schlug es 13! *~~~+~~~* Selbstredend hatte O-Batyr seine Taktik zuvor minutiös entworfen, für ihn ein Leichtes, dank jahrzehntelanger Übung. Zudem vermeinte er, den Charakter seines Rendezvous-Partners in spe recht zuverlässig einschätzen zu können. Übermüdet, in die Enge getrieben trotz eigenem Terrain, provoziert, wahrscheinlich auch hungrig: wie zuvor kalkuliert ließ der Baobhan-Sith-Daimon jede Vorsicht fahren, stürzte auf ihn zu, die Fangzähne schon entblößt, die sich temporär zum gewöhnlich vorhandenen Gebiss gesellten. Fauchen, Zischen, die smaragdgrünen Katzenaugen rötlich funkelnd. O-Batyr hatte keine Mühe, sich in die ungestüme Attacke zu drehen, ihren Schwung zu nutzen, um Yzibao wie ein Kind um die eigene Achse zu schwenken. Aufgebrachter Protest, der sich damit inszenierte, ihn in die Kehle zu beißen, was ihm selbst die Möglichkeit gab, die Arme so eng um den nur marginal bekleideten Daimon zu schlingen, dass dieser förmlich eingekerkert war, zumindest zeitweilig jedoch nicht ganz auf der Höhe, was ihm das unterdrückte Ächzen verriet. "Guten Appetit!", wünschte er amüsiert, in der Gewissheit, dass seine unbeeindruckte Selbstsicherheit die nächste Vorwarnstufe umgehen würde. Die Herausforderung zündete wie ein Knallfrosch. "Von wegen!", schäumte ihm Yzibao ins Gesicht, die zuvor blassen, rauen Lippen mit Blutspuren gefärbt, ebenso das weiße Gebiss, die weißblonden Strähnen wirr, "bild dir nix ein!!" "Ein mäkeliger und schlampiger Esser!", kritisierte O-Batyr milde, denn er spürte die Hitze eines kleinen Rinnsals, sich Richtung seines Schlüsselbeins bewegend. Yzibao knurrte, zappelte, und weil es unter seiner Würde schien, die Ausweglosigkeit gleich anzuerkennen, saugte er betont schmatzend die Blutspuren auf. Zu O-Batyrs Verwunderung versuchte er dabei jedoch nicht, deutlich sichtbare Hämatome zu hinterlassen, Besitzmarken, Kussmale, Knutschflecken. "Und jetzt hau ab!", versetzte Yzibao unterdessen schnippisch, "sonst endest du als Schrumpelrosine, verstanden?! Subtrahier dich gefälligst!" "Bist du denn sicher, dass du in dieser Aufmachung gehen willst?", neckte O-Batyr, die finstere Drohung souverän ignorierend, "es ist doch etwas kühl, Yzzie." "Yzzie?! YZZIE?!", nach einer Gedenkminute bemühte sich Yzibao, durch Ringeln, Auskeilen und ungezieltes Aufbäumen, ihm zu demonstrieren, was er von der Einladung und dem Kosenamen hielt, "lass mich los, du Depp!! Wen nennst du hier 'Yzzie'?! Du spinnst ja wohl!!" "Nein nein!", schnurrte O-Batyr ausgesucht liebenswürdig, "das Spinnen ist dein Metier, darin bist du ein wahres Genie." Yzibao schnappte hörbar nach Luft, dann, unverkennbar frustriert, bemühte er einen weiteren Anlauf, sich irgendwie aus O-Batyrs stählerner Umklammerung zu lösen. Vergeblich. Der schmunzelte aus tiefschwarzen Augen unter ausdrucksstarken Augenbrauen in das dezent vor Anstrengung gerötete Gesicht jenseits der wild fliegenden, langen Strähnen. "Jetzt, wo deine Lebensgeister geweckt sind, können wir uns auf den Weg machen", verkündete er aufgeräumt, "was willst du überziehen?", denn in einem dünnen Leibchen und knappen Höschen konnte Yzibao nicht vor die Tür treten. "Lass mich los, du Rüpel!", trotzte er übellaunig, "ich will nicht rausgehen! Ich BIN MÜDE! MÜDE MÜDE MÜDE MÜDE!!" "Aha", konstatierte O-Batyr gleichmütig, "sollte man gar nicht glauben, wenn man dein lebhaftes Gebaren gerade sieht." Ohne viel Federlesens marschierte er, sich leicht nach hinten lehnend, mit Yzibao in eiserner Umklammerung, zur Hühnerstiege, hinter der sich die privaten Eckchen befanden. "Was soll das?! Stöber nicht einfach in meinen Sachen herum!", schimpfte der Baobhan-Sith-Daimon polternd, jedoch mit einem Anflug von Panik. "Was meinst du dazu, hm? Klassisch und schlicht", mit Kennermiene deutete O-Batyr per Kinn die Garderobe aus, die er für angemessen hielt, eine Hemdbluse mit kastenförmigem Ausschnitt und langen Ärmeln, die man an den Handgelenken schnürte, hauchzart gewoben in einem schmeichelnden Pfirsichfarbton, dazu eine schmal geschnittene, weiße Hose, knöchellang, ohne Taschen, mit einem breiten Band in der Taille zu schließen. "Ich hab gesagt: ich geh nich raus!", wiederholte Yzibao, wandte den Kopf ungestüm hin und her, damit seine schulterlangen Strähnen O-Batyr ins Gesicht schlugen wie Backpfeifen. Allerdings glich das Ergebnis mehr einem fortgesetzten, seidenweichen Streicheln über dessen Wangen, während es in Yzibaos Genick warnend knirschte. "Hör mal", O-Batyr löste seinen Klammergriff gerade so weit, dass er Yzibao leicht in die Luft befördern und etwas höher an seinem muskulösen Brustkorb platzieren konnte, "lass uns Spaß haben, Yzzie. Wenn nicht jetzt, wann dann?" Yzibao stutzte, perplex. "Spaß" bedeutete für ihn ein Konzept, das direkt mit "Arbeit" verbunden war, kein Amüsement oder Vergnügen. "Ich will das nicht", wisperte er schaudernd, zog unwillkürlich die Schultern hoch. Nein, "Spaß" sagte ihm gar nicht zu! O-Batyr legte den Kopf leicht in den Nacken, um das feingeschnittene Gesicht zu studieren. Die smaragdgrünen Katzenaugen wollten so gern arrogant und selbstherrlich auf ihn herabfunkeln, wirkten jedoch bange und verschreckt. "Wir gehen zusammen etwas essen", präzisierte er ruhig seine Offerte, "da sind sehr viele Leute, fröhliche Leute, ausgelassen, aber nicht orgiastisch." Yzibao versteckte sich hinter seinen langen Strähnen, was ihm gewöhnlich nicht schwerfiel, da nur ein Haarwirbel am Hinterkopf einen bescheidenen Seitenscheitel stellte, der einen schmalen, partiellen Blick in die Welt gestattete. "Du trägst deinen Umhang", ergänzte O-Batyr ernsthaft, auf das blasse Gesicht konzentriert, "das Schaltuch. Wenn du es nicht willst, wird dich niemand erkennen." Eine fromme Lüge, selbstredend. Der smaragdgrüne, knöchellange Umhang mit der großen Kapuze, derart hochwertig fabriziert, konnte nur EINEN Besitzer haben. Andererseits lockte diese Versicherung der "Unsichtbarkeit", den Widerstand aufzugeben, hoffte O-Batyr. "Du willst doch nicht auf gefüllte Teigtaschen verzichten, oder? Mit einer delikaten Brühe dazu!", sprach er niedrigere Gelüste an. Prompt knurrte äußerst vernehmlich ein flacher Bauch verlangend. Yzibao rang mit sich. Er war zu erschöpft gewesen, sich etwas zu essen zu bereiten, außerdem waren seine Vorräte nahezu aufgebraucht. Wenn er arbeitete, wie im Rausch, vergaß er diese Bedürfnisse. War es vollbracht, konnte er sich nur noch selten aufraffen, etwas Warmes zu richten. Die Käfer zumindest lebten sehr viel besser als er selbst. "Aber nur, damit du Ruhe gibst!", gab er sich widerstrebend konziliant, "danach gehe ich SOFORT heim!" *~~~+~~~* Man konnte keine Teigtaschen kauen (sehr heiß innen drin) und Brühe schlürfen, wenn man bis zu den Augen eingemummelt war, weshalb Yzibao zunächst mal den maskierenden Tuchschal herunterzupfte, dann die Kapuze zurückschlug, um die Schale mit beiden Händen richtig halten zu können, die weißblonden Haare temporär hinter die spitzen Ohren geklemmt. O-Batyr lächelte zufrieden, wenn auch deutlich reduziert, um nicht das kleinste Fitzelchen Triumph aufblitzen zu lassen. Die meisten, die bei Medusa gerade speisten, von ihren adretten Schlangenköpfchen (mit Schürze) bedient wurden, hatten eine gewisse Ahnung, WAS Yzibao vorstellte, doch bisher rückte niemand ab, tuschelte besorgt, unter anderem deshalb, wie der Malabsorbo inkognito konstatierte, weil Yzibao mit gesundem Appetit zulangte, nicht wirkte, als wolle er sich gleich blutsaufend auf die Nachbarschaft stürzen! Vorsicht erkannte er wohl, aber auch Bewunderung für die beinahe ätherische Schönheit seines Begleiters. O-Batyr bestritt die Auslagen, dann fasste er Yzibao einfach bei der Rechten. "He!", protestierte der aufgeschreckt, hastig seine Verkleidung wieder justierend. "Ich wette, du hast noch nie einen Pomme de resistance gekostet!", lenkte O-Batyr ihn herausfordernd ab. Unter der Kapuze hörte man ein leichtes Schnauben, "darauf falle ich nicht rein! So was gibt's bestimmt nicht und du versuchst bloß, mich anzuführen!" O-Batyr, die Hand noch immer als Pfand haltend, nicht gewillt, sie loszulassen, reckte betont das kantige Kinn, "also wirklich! Warum sollte ich dich veräppeln? Oh, nun, in gewisser Weise schon", grinste er frech beim Wortspiel, "allerdings gibt es ihn tatsächlich. Aber wenn du dich nicht traust..." Gedehnte Pause. Yzibao ballte die linke Faust, knirschte mit den Zähnen. "Der steht hier nirgends auf einer Tafel!", deduzierte er grimmig ein mögliches Indiz für die Absicht, ihn heimtückisch hinters Licht führen zu wollen. "Natürlich nicht", O-Batyr konterte entschieden, "dazu müssen wir zu Pussys Patisserie. Wenn du den Mut hast, selbstredend." Kein kurzhosiger Grundschüler hätte rotzfrecher die Herausforderung formulieren können, so offenkundig, so direkt! Und doch immer mit einer hohen Wahrscheinlichkeit des Gelingens, denn Yzibao, der sich bereits mit dem Faktum vertraut sah, seine Hand nicht ohne größeres Spektakel zurückerstattet zu bekommen und LEIDER doch neugierig war, was diesen verwünschten Apfel betraf, entschied, dass bei so belebten Straßen, so vielen Flanierenden, derartig beleuchteten Gassen und Plätzen, nicht allzu viel Übel drohen konnte. Sonst würde er den Kerl schon verdreschen, gar keine Frage, und dann zur Trockenpflaume verarbeiten! "Pff! Nur, damit du endlich Ruhe gibst und ich nach Hause kann!", schnodderte er seine Zustimmung hochmütig, spielte O-Batyr bereits zum zweiten Mal genau in die Karten. *~~~+~~~* Der Pomme de resistance, wie ihn Pussys genial-umtriebiges Leckereien-Team getauft hatte, wies gewisse Ähnlichkeiten zum "Liebesapfel" auf, ausgenommen den Umstand, dass sich unter einer glasierten, aromatisierten Deckschicht kein Apfel verbarg. Umfang und Größe passten zwar, doch handelte es sich um eine lokale Daimonenfrucht, deren Fleisch für menschliche Gaumen vermutlich nach "Karamell-Schokolade-Erdnussbutter" gemundet hätte, auf der Zunge zerging, wenn man sich durch die Deckschicht geknabbert hatte. Auch Daimonen wussten eine solche Geschmacksexplosion zu schätzen. Wen kümmerte es schon, wenn man rund um Maul/Schnabel/Lefzen/Fangzähne anschließend eine Grundreinigung benötigte?! Wozu gab es lange, gespaltene, gewundene Zungen oder Hand-/Klauen-/Greiferrücken?! Yzibao zuckelte brav hinter O-Batyr her, verführt von diesem lukullischen Hochgenuss, selig und durchaus gesättigt, was den Kreislauf auf die Mitte konzentrierte und misstrauischen Argwohn im Oberstübchen subtil unterversorgt zurückließ. Weshalb es auch bald 3:0 für die "Seite" des Heroen stand, der von Musik angelockt einen gut bevölkerten Platz ansteuerte. Er "erinnerte" sich der Rhythmen und Melodien, auch wenn die Sprache zweifelsohne eine andere war. Man klatschte, bediente sich diverser Musikinstrumente, sang und tanzte dazu. "Machst du mit?", fragte O-Batyr höflich nach. Yzibao schnaubte, gerade noch Spuren aus seinen Mundwinkeln tilgend. "Damit du mir die Zehen zertrampelst? Pah!", versetzte er abschätzig, bewusst beleidigend. "Dann vielleicht etwas später!", förmlich verneigte sich der Heros, hauchte einen Kuss auf den Handrücken der gekaperten Rechten, bevor er sie freigab, sich umwandte, zu den Tanzenden trat. Ein alter Tanz, um blanke Klingen, immer schneller und schneller, in einen Rausch, eine Trance verfallend, sich ganz der Musik hingebend. *~~~+~~~* Yzibao verspürte einen mehr als deutlichen Anflug von Unbehagen. Der verwünschte Malabsorbo bewegte sich hochgeschwind und wie losgelöst, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Knie leicht eingedrückt, springend, leichtfüßig, wirbelnd, den dämlichen Stahlprügel abgelegt, angefeuert von den Umstehenden, die kehlige Jubellaute ausstießen. Es klang roh, urtümlich, rustikal, was ihm Angst machte. Unwillkürlich zog Yzibao den Umhang enger um sich. Nein, es war nicht gut zu bleiben! Noch schien alles in Ordnung, doch wenn erst der Mob entfesselt war, dann...!! Der Tanz hatte seinen Höhepunkt erreicht, die Stiefel waren noch heil, O-Batyr atmete schnell, in den tiefschwarzen Augen ein Feuer lodernd, aufgepeitscht, aufgerüttelt. »Los doch!«, drängte Yzibao sich selbst, »lauf! Lauf endlich!« Doch zu spät. Die glühenden Augen bannten ihn förmlich, er konnte sich nicht rühren! »Nein! Nein! DU bist doch hier der Vampir!«, jammerte seine Panik verschreckt. Trotzdem hielt O-Batyr ihn hier gefangen, auf den gestampften Boden genagelt! Alle Kraft schien ihm aus den Gliedern zu rinnen. Yzibao schwindelte. Da ergriff O-Batyr einfach seine Hand und zog ihn mitten hinein in einen Rundtanz. *~~~+~~~* "Puh, da haben wir uns ordentlich unsere kleinen Sünden abtrainiert!", verkündete O-Batyr gelassen. Er hatte sich die kurze Jacke abgestreift, hielt Yzibao an der Hand, der hinter ihm marschierte wie aufgezogen, den Umhang unter einen Arm geklemmt, den Tuchschal in der freien Hand apportierend. Eigentlich sollten ihnen die Sohlen glühen, so hatten sie sich verausgabt! Erhitzt genug waren sie jedenfalls. Weil die Melodien noch wild in Yzibaos Kopf wirbelten, achtete er nicht besonders auf den Weg, sodass er erst aus seiner Traumversunkenheit erwachte, als O-Batyr vor einem großen See innehielt. "Abkühlung, wunderbar!", proklamierte der betont aufgekratzt, ließ die Jacke sinken, entkleidete sich dann ohne jede Scham. Yzibao hingegen fühlte sich, als habe man ihm unvermittelt eine eiskalte Ladung Waschwasser über den Kopf geschüttet! "Was machst du da?!", erkundigte er sich erschrocken, "wo sind wir??" Die Lichtung nahm sich großzügig aus, doch sie grenzte an einen Wald. Auch hier fanden sich Sträucher und Bäume! "Ah, das Wasser ist herrlich weich!", lockte O-Batyr, "komm hinein, Yzzie." "Bist du wahnsinnig?!", überschlug sich Yzibaos Stimme, während er sich panisch umsah, "komm da raus, schnell!" "Auf keinen Fall", schüttelte O-Batyr launig den Kopf, "es erfrischt wunderbar. Komm!", streckte er auffordernd die Rechte aus. Sofort stolperte Yzibao zurück, den Umhang verkrampft umklammernd. "Das ist gefährlich!", mahnte er schrill, "bitte, lass uns gehen! Rasch!" Die Stirn betont runzelnd, was die zahlreichen, sich sammelnden Glühwürmchen- und Feuerfunkendaimonen illustrierten, seufzte O-Batyr übertrieben. "Nun, wenigstens ein paar Schwimmzüge, ja?", womit er sich schwungvoll herumwarf und davonkraulte. "Nein! Komm da raus, sofort!!", schimpfte Yzibao hektisch. Er trippelte von einem Fuß auf den anderen, blickte sich nervös um, die Schultern hochgezogen. "Ich gehe ohne dich!", verkündete er drohend, allerdings überschlug sich seine Stimme grell, "hörst du?! Ich geh zurück!" Wo war der verwünschte Kerl?! Kein Kopf mehr über der Wasserfläche?! "Komm raus! Ich scherze nicht, hörst du!", plädierte Yzibao verzweifelt, "ich lass dich allein hier!" Nur leichtes Kräuseln der Wasseroberfläche. Yzibao ballte die Fäuste, zerdrückte den wertvollen Stoff in hässliche Knitter. "Du blöder Kerl!", schrie er aufgelöst, wandte sich halb ab. Alles in ihm verlangte danach, SOFORT zu fliehen, sich nicht umzudrehen, nur zu laufen, so schnell, wie er es vermochte. Mit einem gequälten Wimmern ließ er Umhang und Schaltuch sinken, schlüpfte aus den flachen Sandalen, tastete sich, mit einem eilig geborgenen Stock, nervös ans Ufer heran. "Wenn du absäufst, bist du ganz allein daran schuld!", verurteilte er O-Batyrs waghalsige Unternehmung, "das kümmert mich kein Bisschen!" Inkonsequenterweise näherte er sich der Flachwasserzone, die Zunge gegen den Gaumen gepresst, um nicht zu schluchzen. Dabei hatte er den Blödmann beinahe gemocht! Unvermittelt tauchte, nur wenige Meter entfernt, O-Batyr wieder auf, schüttelte sich genüsslich. "Wunderbar zum Tauchen!", bekundete er mit einem aufreizenden Zwinkern. "Du, du Idiot!", bezichtigte Yzibao ihn erzürnt und ängstlich, "sauf doch ab! Hast du dann davon!" "Wie könnte ich so etwas Ungalantes tun, wo du offenkundig einschreiten wolltest, mich vor einem nassen Grab zu bewahren?", schnurrte O-Batyr, frech auf den Stock deutend. "Pah!", schleuderte Yzibao den Stock von sich, drehte sich herum, eilig aus dem feuchten Untergrund zu entwischen. Keine durchdachte Intention, denn so bot er O-Batyr den Rücken. Der buchte 4:0 ein, schloss bis auf Weiteres sein Kassenbuch und fegte Yzibao dank Gelände- und Uferkenntnis von den Beinen, sodass er ihn unter den schmalen Schultern und zarten Kniekehlen abfangen konnte, unterstützt vom Klammerreflex, der Yzibao veranlasste, einen Rettungsring suchend, die Arme um O-Batyrs Nacken zu schlingen. "Nein! Lass mich runter!", verlangte er, der Hysterie nahe. "Im Wasser, damit du es genießen kannst", O-Batyr schritt erprobt und selbstsicher tiefer. Schon überspülte das Seewasser Yzibaos Fußknöchel, der ihm wie ein Ertrinkender um den Hals hing und vor Schreck einen Schluckauf bekam. "Keine Angst", beruhigte der Heroe sanft, mit seiner sonoren Stimme, "ich lasse dich nicht untergehen." Yzibao klapperte hörbar mit den Zähnen, verkrampfte sich völlig, was O-Batyr nicht davon abhielt, so tief in den See zu waten, bis das Wasser unter seine Achseln reichte. Um sie herum tanzten und kreiselten die Glühwürmchen- und Feuerfunkendaimonen fröhlich. "Ich lasse jetzt deine Beine los", kündigte O-Batyr an. An den Spitzen bereits nasse Haare flogen heftig hin und her, so sehr schüttelte Yzibao den Kopf, schluchzte verzweifelt. "Halt dich einfach an mir fest", raunte O-Batyr zärtlich, "dir wird nichts geschehen." Ein Wimmern später gewann die Schwerkraft, konnte Yzibao trotz verkrampfter Entschlossenheit die Beine nicht eingeknickt oben halten. Umso panischer klebte er an O-Batyrs Nacken. "Alles ist gut", flüsterte der guttural, "spürst du, wie weich und angenehm warm das Wasser ist? Hab keine Angst, Yzzie. Es ist alles in Ordnung." Der Schluckauf quälte den Baobhan-Sith-Daimon unerbittlich. O-Batyr konterte damit, einen Arm zu lösen, was ein schrilles Quietschen provozierte, bevor er mit der Hand Wasser über Yzibaos weißblonden Schopf schöpfte. Das verschreckte Schluchzen vertrieb den Schluckauf. "Na, na!", neckte O-Batyr nachsichtig, "es ist nur Wasser. Wir gehen auch nicht tiefer, bis du schwimmen kannst." Yzibao winselte. Man hätte so ein klägliches Wimmern nicht bei einem Daimon mit derartig furchterregenden Leumund vermutet. "Alles ist gut", wiederholte O-Batyr, "sieh mich an, Yzibao. Alles ist gut." Geduldig wartete er, bis es dem Baobhan-Sith-Daimon tatsächlich gelang, sich ausreichend aus der Halskuhle zu lösen, um das verheulte Gesicht darzubieten. Der Heroe lächelte aufmunternd. "Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht", verkündete er schlicht. "...Bld...Bldmnn!", schnatterte Yzibao, das Nervenkostüm mehr als ausgefranst, was O-Batyr nicht krumm nahm, sondern leicht in die Knie ging, den aufgescheuchten Yzibao wieder auf die Arme nahm und wie ein holdes Fräulein aufs Ufer trug. *~~~+~~~* "Nass!", jammerte Yzibao, blickte an sich herab. "Du kannst mein Hemd bekommen", offerierte O-Batyr gelassen, "mit dem Umhang sieht man das gar nicht." Ein aufgebracht-aufgelöster Blick streifte ihn, dann kehrte Yzibao ihm jedoch den Rücken zu, kauerte sich hin, um sich, zwar Verrenkungen riskierend, möglichst diskret zu entblättern. O-Batyr legte das eigene Hemd um Yzibaos knochige Schultern, sammelte die nassen Kleidungsstücke in seiner blutroten Bauchbinde ein. Ihm selbst genügte die Jacke, den Oberkörper einigermaßen züchtig zu bedecken. Eingehüllt in Umhang und mit Tuchschal maskiert schnaubte Yzibao, auch wenn es nach Schnäuzen klang, "können wir jetzt ENDLICH gehen, ja?!" O-Batyr lächelte, justierte sein unverzichtbares Schwertgehänge. In diesem Augenblick hörten sie beide die Andeutung weiblichen Lachens, lockend, beschwingt. Yzibao entrang sich ein schrilles Keuchen, dann packte er O-Batyr bei der Hand und sprintete los, eine heillose, panische Flucht. *~~~+~~~* Kapitel 12 Das Gelächter verfolgte sie, wie ein undurchdringlicher, hartnäckiger Nebelschleier. Yzibao hielt erst, völlig ausgepumpt, inne, als sie gestampfte Erde, Felsen, Steine, Sand, kurz die Außenränder der gewaltigen Siedlung erreichten. Wild blickte er sich um, die Kapuze auf den Rücken geflogen, zerrte O-Batyr hinter sich, entblößte die Fangzähne, fauchend und zischend. "Er gehört mir! MIR! Ihr rührt ihn nicht an!", drohte Yzibao mit sich überschlagender Stimme. Der Heroe schlang ihm, ebenso besitzergreifend wie dieser verbale Eigentumsbeleg, die muskulösen Arme um die magere Brustpartie. "Ganz recht, meine Damen!", ergänzte er, nur Schemen erahnend, "nur seinen Anspruch erkenne ich an." In das Lachen mischten sich schrille Töne, es klang wie das Heulen eines Sturmwindes. Yzibao bleckte erneut das komplette Gebiss, ging leicht in die Hocke, die Fäuste geballt. "Ihr könnt mir nicht folgen!", brüllte er, "lasst uns in Ruhe!!" Dabei achtete er peinlich genau darauf, so weit es ging, von der Grasnarbe, den Büschen und Sträuchern entfernt zu sein. O-Batyr spähte in die Dunkelheit, versuchte den mutmaßlichen Feind auszumachen. Innerlich notierte er: 5:0. *~~~+~~~* Yzibao flog förmlich nach Hause, grundsätzlich den Weg wählend, der ihn ausschließlich über Steine, Felsen und Fliesen führte, zwischen Höhlen und gemauerten Häuserwänden vorbei. Er wollte sie nicht hören! Und dieser Blödmann...! "Geh weg!", fauchte er ihn an, die eigene Pforte aufsperrend, "verschwinde!" "Denkst du nicht, sie könnten mich erwischen, so schutz- und arglos?", raunte ihm der Malabsorbo zu, dicht aufrückend. "Nimm deinen Metallschwengel!", schluchzte-wütete Yzibao, "du willst ein Heroe sein?! Ha!" Was ihn betraf, so rief sein Lager! Unüberhörbar! Wenn er erst den Kopf unter seinen Decken versteckt hatte, würde das Zittern aufhören, würde er das alles einfach vergessen! "Dann ist es dir gleich, wenn sie mich vernaschen? Obwohl ich doch Dein bin?", geduldig klebte ihm O-Batyr wie ein Schatten auf den Fersen. "Sollen sie doch!", Yzibao versetzte ihm einen Stoß, damit er schnell hineinschlüpfen und noch schneller seine Pforte verriegeln konnte, "ist nur DEINE Schuld!" Er selbst wäre doch nie in den Wald gegangen oder in den verwünschten See! Nur, weil dieser Depp ihn abgelenkt und mit Süßkram vollgestopft hatte! Yzibao kletterte die Hühnerstiege eilends hoch, beförderte Decken und Kissen schwungvoll hinunter auf seinen steingefliesten Boden. Das Stofftier in den Halsausschnitt schiebend huschte er wieder herunter, bereitete sich ein Nest zu, gepolstert, bunt, tröstlich, warm. Nachdem er den Umhang abgestreift hatte, schälte er sich zornig das geliehene Hemd ab, feuerte es weit von sich. Eigentlich wollte er aufspringen, sich in der Ecke seines Kleidervorrats bedienen, doch nun zögerte er kleinmütig. Hier war er sicher, so viel Stein wie möglich, inmitten der kunstvollen Beleuchtung, sodass er sich einfach verkroch, die Stoffkatze umklammernd. *~~~+~~~* O-Batyr wartete geduldig, nutzte dann seinen Vorteil als vertrauter Futterspender der Käfer, die ihm erneut halfen, die eigentlich verriegelte Pforte zu überwinden. Er verschloss sie brav und gab die Bestechungsleckereien heraus, dann näherte er sich lautlos dem improvisierten Lager. Nicht mal eine weißblonde Haarsträhne lugte hervor. Gemächlich entledigte er sich seiner Kleidung, barg auch sein verschmähtes Hemd schmunzelnd, bevor er blank und bloß unter die Decken glitt. Yzibao kauerte viel zu verkrampft, um gut zu schlafen, doch schien die Aufregung ihren Zoll einzufordern, was O-Batyr dabei assistierte, sich selbst als Kuschel- und Wärmequelle unauffällig anzudienen. Nun, als Fazit ihres ersten gemeinsamen Ausflugs, konnte er festhalten, dass das, was er vermutet hatte, sich im Wesentlichen als zutreffend erwies. Der vorgebliche Baobhan-Sith-Daimon in seinen Armen, der so arrogant-unverschämt auftrat, fürchtete sich über alle Maßen vor dem, was er eigentlich darstellen sollte, schmiegte sich wie ein kleines Kind verzweifelt an ein Stofftier. O-Batyr platzierte einen warmen Kuss auf den weißblond schimmernden Hinterkopf. "Alles ist gut", wiederholte er im samtigen Bass, "ich lasse nicht zu, dass sie dich holen." Damit wob er den eigenen Leib um das kompakte Häufchen Elend unter den Decken. *~~~+~~~* Nichts war gut! Mit der widerwilligen Rückkehr in die Realität drängten sich unerwünschte Fakten auf, die es eigentlich verhinderten, jemals wieder den Kopf aus der Deckenzuflucht zu stecken. Yzibao erinnerte sich nicht nur plakativ und quasi in Primärfarben an den vergangenen Abend, nein, auch an die üblichen Umstände seines Lebens, zum Beispiel dem, sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen zu müssen! Aufstehen bedeutete jedoch zwangsläufig, nach Bekleidung suchen zu müssen, bei frischen Temperaturen, Begreifen, dass er schon viel zu lange herumgelegen hatte, dass die "Postbox" nicht sichtbar an der Pforte hing. Dass es jenseits der schützenden Decken verführerisch nach Essen roch! Yzibao umklammerte Maunz ein wenig fester, schnaufte, sich sammelnd, durch. Widerwillig, schob er vorsichtig den zerzausten, weißblonden Schopf heraus, wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer. Es musste längst Vormittag sein, dem Lichteinfall durch die Glasscheiben in der Kuppel nach zu urteilen. Neben ihm, sorgsam aufgestapelt, lagen Leibwäsche, eine schmale Hose und eine Tunika, dazu seine smaragdgrüne Weste. In Sichtweite trockneten an einer (dank freundlicher Unterstützung Ihrer braven Daimonenkäfer) spontan gesponnenen Wäscheleine die Kleider des Abends. Die, die er bei dem verwünschten Kerl in dessen blutroter Bauchbinde zurückgelassen hatte, um zu türmen. Yzibao schnaubte frustriert. Sich eine Decke eng um den Leib windend, Maunz im Griff, inspizierte er mit wackligen Knien (sie hätten sich gern mal gestreckt erholt, besten Dank auch!) seine Höhle. Das Aroma köstlicher Speisen entsprang einem mit dichten Tüchern umwickelten Topf, der offenkundig als "Kochkisten"-Alternative die Wärme halten sollte. Die Schüsseln der Käfer hingegen waren bereits blitzblank leer geputzt. "Vielfraße", grummelte Yzibao sehr leise. Sie mussten ihn, diesen durchgedrehten Stahlprügelschwinger, wieder heimlich hereingelassen haben! Der Baobhan-Sith-Daimon schniefte verhalten. Auch wenn bei Tageslicht die Situation nicht nach einem VÖLLIGEN Debakel aussah, trieben ihn profunde Sorgen um. Er wollte ganz sicher nicht, dass SIE hier aufkreuzten! Oder jemanden dazu animierten. Nie mehr zurück! Nie mehr so existieren! Das hatte er sich selbst geschworen, alles gewagt, sich entweder aus ihrer Einflusssphäre zu befreien oder dabei umzukommen. Yzibao seufzte, kehrte mit dem eingewickelten Topf zu seinem improvisierten Lager zurück. Maunz ließ er die noch unbekannte Kreation bewachen, während er grimmig in die eigenen, aber von dem UNVERSCHÄMTEN KERL herausgesuchten Kleider stieg. Er faltete auch zuerst die Decken ordentlich, klopfte die Kissen auf, bevor er sich neben den Topf kauerte und den Inhalt vorsichtig inspizierte. Sein Magen grölte vor Verlangen, beschämenderweise lief ihm sogar das Wasser im Mund zusammen! "Verdammt und zugenäht", konstatierte Yzibao matt, dann langte er kräftig zu. *~~~+~~~* Die "Postbox" hing nicht mehr an der Pforte, als O-Batyr, noch in seiner Malabsorbo-Aufmachung, dort eintraf. Offenbar hatte sein kapriziöser Blutlecker sie entdeckt und vermutlich auch zwischenzeitlich geleert. Ob er sich wohl in Arbeit stürzte, um alles zu verdrängen? Nicht unwahrscheinlich, urteilte man nach den Augenringen des Vortags. O-Batyr summte sonor. Wie zuvor zwängten sich seine fliegenden Verbündeten durch Schlüsselloch und Ritzen, halfen ihm, die Verriegelung zu überwinden. Er belohnte sie mit Leckereien, während er sich an der Garderobe seines wie Pech fließenden Umhangs, der Maske und seines Schwertgehänges entledigte. "Guten Abend", grüßte er munter, die allgemeine Großwetterlage zu erkunden. Auf der Chaiselongue residierten gestapelt Kissen und Decken, darauf thronte der Stoffkater mit dem grünen Glasperlenaugen. Das letzte freie Fleckchen nutzend schien Yzibao eine prachtvolle Borte an einen Kittel zu nähen. "Hast du kein Zuhause?! Geh wieder! Hör auf, meine Käfer zu füttern!", grollte es ihm grimmig entgegen, aber weil man arbeitete, schien zumindest eine Attacke noch unwahrscheinlich. O-Batyr näherte sich unerschrocken, ging vor Yzibao in die Hocke. "Ich hätte gern mein Zuhause bei dir", ging er ungeniert auf den Vorwurf ein, "außerdem habe ich dir auch etwas mitgebracht, nicht nur den Käfern." Das KLANG so, als hätte sich Yzibao über eine Zurücksetzung beschwert, dabei ging es doch ums PRINZIP! Natürlich eine perfide Taktik. Trotzdem. "Geh weg! Ich arbeite!", zischte Yzibao deshalb durch die Zähne, musste sich konzentrieren, weil die prächtige, dicht gewebte Borte mit dem feinen Hemdstoff verbunden werden musste, kein leichtes Unterfangen. Selbstredend ließ sich O-Batyr nicht im Mindesten darauf ein, seine Anwesenheit rapide zu beenden. Stattdessen erhob er sich geschmeidig (nicht so ungelenk wie eine gewisse andere Person, die verkrampft zu lange gelegen hatte!) und setzte eine Papptüte neben das Stofftier. "Wenn du damit fertig bist, lass uns ins Dampfbad gehen", schlug er selbstsicher vor. Nun hob Yzibao doch den Kopf an, denn das unterstützte das verbale Zusammenfalten. "Sag mal, tickst du nicht ganz richtig?! Ich geh nirgendwo mit dir hin! Hast du etwa vergessen, was gestern gelaufen ist?! Die sind hinter DIR her, nicht mir!", was man sich, zur eigenen Beruhigung, durchaus einreden konnte. O-Batyr ließ sich wieder nieder, die Beine im Schneidersitz gekreuzt, dabei das Stofftier im Arm. Yzibao ließ Nadel und Werkstück sinken. "Gib ihn her. Das ist mein Maunz", formulierte er sehr leise. Darin schwangen so viele Untertöne, Erinnerungen, Emotionen, dass es um viel mehr ging als ein häufig geflicktes, etwas merkwürdiges Stofftier. Sorgsam reichte O-Batyr die Stoffkatze ihrem Besitzer, der sie nicht nur hastig schnappte, sondern sich gleich in den Halsausschnitt der Tunika stopfte, sich ohne ein Wort, wieder der filigranen Nadelarbeit widmete. Der Heroe studierte die schmale Gestalt aufmerksam. Allzu lange würde die selbstauferlegte Beherrschung nicht anhalten, denn ihm entging keineswegs, dass seinen Gegenüber Sorgen plagten. "Weißt du, ich glaube nicht, dass SIE gesteigertes Interesse an mir haben", machte sich O-Batyr unerschrocken auf in ein großflächiges Minenfeld. "Was weißt du schon?!", knurrte Yzibao verächtlich, nicht mal den Kopf hebend. Seine Zungenspitze klemmte in einem Mundwinkel vor Konzentration. O-Batyr erhob sich, verschränkte die Arme auf dem Rücken und spazierte im Kreisrund, freundlich umschwärmt von geselligen Daimonenkäfern. "Tja, ich habe mich schon gefragt, warum du darauf bestehst, einen Malabsorbo zu treffen, der zusätzlich noch als Heroe gilt", holte er gemächlich aus. "Böse Energie und Halbgottblut, das ist tatsächlich nicht oft anzutreffen", gestand er gelassen zu, "aber die Details gestalten sich doch etwas ernüchternd, nicht wahr?" Der Baobhan-Sith-Daimon gab vor, sich ganz und gar seinem Werkstück zu widmen, das in die Zielgerade der Fertigstellung einbog. "Wie dir zweifellos nicht entgangen ist, esse und trinke ich ganz gewöhnlich. Ich lebe nicht von Energieabstrahlungen", konstatierte O-Batyr ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu all seiner Malabsorbo-Kollegschaft, "ich bin ebenso in der Lage, die Übelenergie aufzunehmen und zu neutralisieren, wie es mir gelingt, das Sedativum in deinem Speichel auszuschalten." Yzibao zuckte unmerklich zusammen. Nun hatte er seine Erklärung, warum O-Batyr zwar beim ersten Kontakt noch ein wenig geschwächelt hatte, doch dann nicht mehr zu bezwingen war. "Mein Organismus ist in der Lage, eine Menge unterschiedlicher Schadstoffe zu binden oder zu kontern", O-Batyr tanzte einen langsamen Schreittanz, was den schwirrenden Käfern als Unterhaltung sehr zusagte. "Folglich", dozierte er ohne Triumph, "gibt es von mir keine Energieabstrahlung zu kosten. Darüber hinaus wäre es auch nicht einfach, mich in einen Bann zu ziehen." Was SIE wohl ahnen mussten, wenn sie sich umhörten. "Deshalb fürchte ich, dass DU eher das Objekt ihrer Begierde bist", konkludierte er, vor der Chaiselongue innehaltend, "aber das warst du schon immer, nicht wahr?" Yzibao verputzte Fadenenden und antwortete nicht. Seine hochgezogenen Schultern, die verkrampfte Haltung jedoch, dies alles bewies O-Batyr, dass er mit seinen Überlegungen einen wunden Punkt getroffen hatte. "Haben sie dich als Kind in die Lehre genommen?", elastisch ging er in die Hocke, "solltest du für sie der Köder sein, wenn ihre Schönheit vergangen ist?" Man kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu, das feine Hemd sorgfältig faltend. "Es muss sehr schmerzhaft gewesen sein, dir die Fangzähne einzupflanzen und dich so lange mit Gift zu füttern, bis du in der Lage warst, sie effektiv zu kontrollieren", O-Batyr betrieb seine Aufklärung mit einer gewissen Gnadenlosigkeit, "eigentlich brauchst du kein Blut zu lecken, wäre es nicht als Antidot notwendig, nicht wahr?" Abrupt wandte sich Yzibao herum, sprang von der Chaiselongue auf die Beine und funkelte auf O-Batyr herab, das Gesicht in Ingrimm verzogen. "Was WILLST du eigentlich?! Kümmer dich um deinen Kram und lass mich in Ruhe!", brüllte er mit überschlagender Stimme, die Fäuste geballt. Ohne Mühe erhob sich O-Batyr, hielt aber ausreichend Distanz, dass Yzibao sich nicht bedrängt fühlte. "Ich begehre, Dein zu sein", stellte gelassen fest, "denn ich verspüre ein unwiderstehliches Verlangen nach deiner Gesellschaft, deiner Gegenwart." Yzibao entrang sich ein ersticktes, aber auch empörtes Schnauben. Die Hände in die schlanken Hüften gestützt versuchte er es mit verächtlichem Spott. "Ach, ist ja niedlich! Jetzt soll ich dir wohl vor die Stiefel sinken und hingerissen meine Zustimmung seufzen, wie?!", ätzte er provozierend. Der Malabsorbo lächelte amüsiert. "So gern ich dies sähe, ist das eher nicht zu erwarten", schmunzelte er, "wir können aber für heute damit beginnen, ins Dampfbad zu gehen." "Bestimmt nicht!", detonierte Yzibao mit blitzenden Katzenaugen, "seit ich dich kenne, habe ich nur Ärger!" "Dann räche dich an mir, zahl es mir heim", O-Batyr streckte die Rechte aus, "machen wir einen Abstecher ins Labyrinth!" Yzibao zögerte im letzten Moment, die Herausforderung heißblütig anzunehmen. Zwar rechnete er sich durchaus gute Chancen aus, dem blöden Kerl einen veritablen Flecktarnanzug auf die Figur zu stanzen, aber dazu musste er ja raus. Nicht, dass er den Weg an die Stadtgrenze scheute, bloß, gäbe es eine Möglichkeit, sich dort ebenfalls zu tummeln? Ihm aufzulauern? Ihn einzufangen? "Der Weg führt nur über Steine", soufflierte O-Batyr treffsicher zur Entscheidungsfindung, "dort sind weder Grün noch Bäume oder Sträucher." "Pff!", schnaubte Yzibao, das spitze Kinn hochgereckt, packte grimmig die Rechte und drückte sie so fest, wie er es vermochte, "spiel dich bloß nicht so auf, du Held!" Dem würde er schon ordentlich die Figur einpudern, aber hallo! *~~~+~~~* Das "Labyrinth" bestand aus verschiedenen Kammern und Hohlräumen, die Erosion und ein längst versickerter Fluss in weiches Gestein gegraben hatten. Von oben konnte man zusehen, wer sich unten in den jeweiligen Freiräumen sportlich betätigte. Man konnte Bälle gegen die Wände prallen lassen, Ringen, Turniertanz üben, die Grenzen setzten nur Gestein und Himmel sowie die eigene Kondition. Eine sehr populäre Unterhaltung bestand im Kontaktpuderkampf. Zwei Teilnehmende gingen in einen der runden Hohlräume, an den Händen/Klauen/Greifern/oberen Gliedmaßen kleine Puderbeutel angebracht. Ziel war es, den Gegenüber zu berühren, sodass sich das Puder farbig auf dessen Körper verteilte. Weniger Kraft als Geschicklich- und Wendigkeit mussten hier bewiesen werden. Welche Regeln sonst noch gelten sollten (Flugverbot, Trittverbot etc.) vereinbarten die Teilnehmenden unter sich. O-Batyr erstand bei dem greisen Daimon, der unentwegt Nüsse mümmelte, vier Bandagen mit Farbpulver. Sie wählten eine freie Kammer, die sie mit dem bereitstehenden Balken blockierten, dann entkleideten sie sich bis auf die Leibwäsche. Yzibao band sich die weißblonden Strähnen am Oberkopf aus dem Gesicht, funkelte grimmig. Er verwünschte die Anspannung, die ihn auf dem gesamten Weg nicht losgelassen hatte und auch die anfeuernden Rufe von oben, die ihn ob seines Erscheinungsbildes komplimentierten. Er knurrte. Aber es ging nicht anders, mit Umhang und Schaltuch vermummt, die Kapuze in die Stirn gezogen, SO konnte man hier nicht kämpfen! Weshalb er in den sauren Apfel biss, doch er würde sich schadlos halten an dem blöden Kerl, aber hallo! Wäre bestimmt auch lustig, auf dessen gebräunter Haut (pervers, der war NAHTLOS braun!!) grüne und gelbe Tupfen zu hinterlassen! O-Batyr, der nur eine Unterhose trug und mit Barfüßigkeit keine Schwierigkeiten hatte, justierte seine Bandagen mit blauem und rotem Puder gekonnt. Faustkämpfende verstanden sich auf derlei Fähigkeiten, doch er unternahm wie gewohnt keinen Versuch, Erinnerungen zu forcieren. Zweifellos würde er Schiffbruch erleiden, weil sich nichts vor seiner Ankunft in dieser Welt als gelebtes Ereignis memorieren ließ. "Geht's endlich los, oder brauchst du ne Einladung?", schnarrte Yzibao herausfordernd. O-Batyr verneigte sich leicht. "Ich bin bereit", antwortete er höflich. "Das WÜNSCHST du dir!", schleuderte ihm Yzibao entgegen und ging zum Angriff über. *~~~+~~~* Kapitel 13 Sie waren beide schon ordentlich markiert, was nicht verwunderlich war, denn seit über einer halben Stunde lieferten sie sich einen Schlagabtausch, wobei es nicht Schläge, sondern Berührungen waren. Yzibao keuchte entrüstet, weil ihm schon wieder Strähnen ins Gesicht fielen und er in Kürze wieder eine großzügig gestattete Unterbrechung in Anspruch würde nehmen müssen, was ihn erboste, ebenso wie die verblüffende Geschicklichkeit des Malabsorbo, seinem Zugriff immer wieder zu entschlüpfen! Hockte der denn nicht auf Pferderücken herum oder schwang bloß den blöden Metallprügel schwerfällig durch die Gegend?! Hundsgemeine Täuscherei!! Dennoch wollte Yzibao nicht aufstecken, auch wenn er Mühe hatte, ein Taumeln auszubalancieren. Hoch über ihnen stapelten sich die Zaungäste förmlich. Es hatte sich blitzartig herumgesprochen, dass die beiden jungen Daimonen dort außerhalb ihrer Freizeit als Malabsorbo und als Blutsauger aufzutreten pflegten, weshalb man nun mit großem Interesse und oft angehaltenem Atem verfolgte, wie sich der Kampf entspann. O-Batyr bewies eine erstaunliche Sprungkraft, kombiniert mit einer wieselflinken Reaktionsschnelligkeit, die ihn, der so athletisch-muskulös erschien, nicht zum leichten Opfer des ätherisch-schmalen Yzibao machte. Zudem glich ihr Kräftemessen weniger einem Kampf als einem variantenreichen Tanz, der immer wieder Takt und Richtung wechselte. Yzibao spürte, dass ihm zu allem Überfluss auch noch sein verräterischer Magen einen Streich spielte. Er hätte etwas essen sollen, nach dem Frühstück. Und dann, dann brauchte er auch eine Blutspende, rasch, wenn er nach dem ekelhaften Geschmack auf seiner Zunge urteilte, deshalb musste er mit einer Attacke den Sieg erzwingen. Bunt betupft waren sie beide, leider in einem recht ausgewogenen Maß. Yzibao kniff die smaragdgrünen Katzenaugen zu Schlitzen zusammen, schraubte sich dann energisch in die Höhe, rotierte, wich O-Batyr aus und lancierte seinen Angriff in Alles- oder Nichts-Manier. Der wich ihm aus, erkannte jedoch, dass Yzibaos Schwung zu gewaltig und die Felswand zu nahe waren, weshalb er sich in Yzibaos Rotation eindrehte und akzeptierte, mit ihm zu Boden zu gehen. Über ihm fauchte Yzibao frustriert, der GENAU erkannte, dass er geschont worden war. Deshalb klappte er ihm beide Hände ums Gesicht, was eine Farbwolke aus Puder auslöste, die O-Batyrs Haupt gelb und grün einnebelte. Oben buhte man, denn dieser Vorsprung war unfair erschlichen. O-Batyr blinzelte, sich selbst nicht mehr sonderlich ähnlich, lächelte dann und zog Yzibao auf sich herunter, hielt ihn fest in seinen Armen. Zappeln und Schimpfen änderten daran nicht das Mindeste. "Lass mich los, du galanter Holzbock, sonst beiß ich dich!", drohte Yzibao aufgebracht. "Wenn ich dich loslasse, gehen wir ins Dampfbad!", konterte O-Batyr unerschrocken. "Ich lass mich nicht gängeln, klar?!", protestierte der Baobhan-Sith-Daimon, dem nun, das amüsierte Gelächter in den Ohren, aufging, dass er seinem Ruf als gefürchteter Blutsaugerdaimon nicht gerade half. Die Zuschauenden jedenfalls urteilten, dass es hier wohl eine Kabbelei unter Freunden oder Liebhabern zu sehen gab, weshalb das Foul keines sein konnte, sondern bloß eine Ouvertüre zu anderen körperlichen Aktivitäten. "Waschen müssen wir uns ohnehin", argumentierte O-Batyr grinsend, noch ein wenig mehr triezend, um Yzibaos leicht entflammbares Temperament zu seinen Gunsten zu lenken. "Loslassen!", wand sich der wie ein Fisch auf ihm, unerbittlich in den Armen eingeschlossen. Weil O-Batyr nicht die geringsten Anstrengungen unternahm, dieser Aufforderung Folge zu leisten, entschloss sich Yzibao, ihn aus erzieherischen Gründen mit den Konsequenzen vertraut zu machen, indem er ihm die Fangzähne in die Kehle schlug. *~~~+~~~* Die Zuschauenden zerstreuten sich gut gelaunt, denn wenn die beiden da noch intimer werden wollten, musste man sich nicht als Zaungast unbeliebt machen. Knutschflecken zu verteilen, das galt ja nur als Einstiegssportart. So entging allen, ausgenommen den beiden Protagonisten, dass hier wahrhaftig Blut geleckt wurde, ohne dass O-Batyr bewusstlos wurde oder in Gefahr geriet, zu verbluten, weil sich die Gerinnung verzögerte. "Reicht das, um das Gift zu neutralisieren?", erkundigte er sich gelassen, nutzte die Gelegenheit, die weißblonden Strähnen blau und rot mit seinen Liebkosungen einzupudern. "Schnauze!", grummelte Yzibao unwillig, setzte sich, nun ungehindert, auf seinen Oberschenkeln auf. "Was für eine Ferkelei!", schimpfte er, denn sein einst fleckenfreies Leibchen war bunt, da sich auch die eigenen Farben mischten. "Das kann man alles waschen", tröstete O-Batyr lächelnd, "wir sollten uns auch säubern." Yzibao blickte auf ihn herunter, grimmig. "Du bist ein Depp!", versicherte er ihm verärgert, "du hättest gewinnen können! Mit der blöden Heldennummer ist es ein Wunder, dass du es so weit gebracht hast!" Der Malabsorbo musterte den schlanken, beinahe zu dünnen Daimon mit den langen Gliedern aufmerksam. "Es geht nicht ums Gewinnen oder Verlieren", antwortete er schließlich, "sondern darum, dass wir zusammen sind, etwas gemeinsam tun, Yzzie." "Nenn mich nicht so!", prompt wurde ihm die Nasenspitze eingeklemmt, was erneut Puderwolken auslöste. O-Batyr pustete sie geistesgegenwärtig nach oben, woraufhin Yzibao zu niesen begann, so heftig, dass er sich von O-Batyr herunterrollte und zusammengekrümmt hustete und keuchte. Sich rasch aufrichtend kam O-Batyr ihm mit etwas Wasser zur Hilfe, das er zuvor zu Erfrischungs- und Reinigungszwecken mitgebracht hatte. Bunt gefärbt, die Strähnen angeklebt, die smaragdgrünen Katzenaugen rotstichig, kolkte Yzibao ihm wütend entgegen, als er sich wieder einigermaßen aufrichten konnte: "das ist nur DEINE Schuld!" *~~~+~~~* Am Ausgang des Labyrinths konnte man sich sparsam mit Wasser benetzen, um Farbspuren zu entfernen. Das Rinnsal näherte sich in einem offenen Kanal außerhalb der Stadtgrenze der Begrünung dort. Yzibao lauschte nervös auf bekannt-verwünschte Stimmen, wurde zu seiner Erleichterung jedoch enttäuscht. Den knöchellangen Umhang übergeworfen apportierte er seine Kleider, hoffte, dass die Leibwäsche schnell trocknete. O-Batyr dirigierte ihn zu einer Bar mit Gassenausschank, wo er darauf bestand, dass sie beide einen Ambrosia deluxe tranken. Das sollte eine gute Grundlage sein, im Dampfbad Farbreste und schmerzende Muskelpartien Mores zu lehren! "Ziemlich unfair!", bemerkte Yzibao, während sie sich dem Strom der Flanierenden anschlossen, "wieso bist du nicht bloß ein blöder Reitfuzzie mit Laufhemmung?!" Der Malabsorbo lachte leise, sonor. "Nun, ich fürchte, ich verfüge über eine sehr große Bandbreite an Fähigkeiten und Fertigkeiten", antwortete er gelassen. Yzibao hakte nicht verbal nach, aber O-Batyr konnte sich die (nicht nur veritabel) gespitzten Ohren vorstellen. "Angefangen hat es vermutlich mit ganz normalen Menschen, die auf ihrem jeweiligen Betätigungsfeld besondere Leistungen erbracht haben, Krieger, Kämpfer, Soldaten, Reiter, abhängig von ihrer Situation", O-Batyr verringerte sein Tempo, damit Yzibao auf seiner Höhe ging und nicht missmutig hinter ihm her stapfte, "man erzählte sich Geschichten. Daraus wurden Legenden, Mythen, ein Archetyp, unsterblich, aber kein Halbgott, der zumindest einen göttlichen Elternteil vorzuweisen hat." Der Baobhan-Sith-Daimon schnaubte übertrieben geplagt, "so eine Pleite! Dann bist du bloß ein Heroe wegen des fortwährenden Geschwätzes?!" Erneut lachte O-Batyr, keineswegs verärgert. "Wenn du magst, kann ich dich mit Halbgöttern bekannt machen?", bot er an, "Herkules zum Beispiel.." "Bloß nicht!", lehnte Yzibao prompt ab, "die ticken doch alle nicht richtig im Oberstübchen! Alle Psychos! Kriegen plötzlich nen Rappel, und man wacht tot auf, weil sie ihre fünf Minuten hatten!" Es gelang O-Batyr mühsam, ein Prusten in Schach zu halten. Wenn Yzibao sich empörte, klang er so bodenständig und direkt, dass man sich kaum vorzustellen vermochte, wie er mit süßlicher Schmeichelei "Blutspender" anlockte. "Nun ja, dann wirst du wohl mit mir vorlieb nehmen müssen", antwortete er schmunzelnd. "Pff!", schnaubte Yzibao, "langsam hab ich Zweifel, dass mir so ne Halbgott-Sauce überhaupt bekommt!" Sie schwiegen einige Schritte lang versonnen, dann nahm O-Batyr den Faden wieder auf. "Ich kann nicht leugnen, dass dieses Halbgott-Dasein recht merkwürdig ist. Trotz all der Fähigkeiten der Männer, die diesen Archetyp gebildet haben, fehlt mir jede Erinnerung an ihr persönliches Leben", er runzelte die Stirn leicht, "vielleicht ist es auch gar nicht möglich, aus so vielen Existenzen eine einzige, gemeinsame Vergangenheit als Erinnerung zu formen. Möglicherweise ist mein Erscheinungsbild schon die größte Leistung einer Übereinstimmung." Er registrierte trotz der Kapuze einen scheelen Seitenblick. "Also, du erinnerst dich an nichts?", fast ein wenig schüchtern stieß Yzibao die Exploration dieses Phänomens an. "Zumindest nicht an Personen oder an mich selbst", antwortete O-Batyr ernsthaft, "oder an diese Ichs. Ich nutze ihre Fertigkeiten, ganz ohne darüber nachdenken zu müssen. Aber ICH, als Summe all der anderen vorher, lebe erst in dieser Welt, habe erst hier als EINE Person Erinnerungen." Wieder setzte ein längeres Schweigen ein, während sie sich dem Dampfbad näherten, das per Fahne auf dem Dach weithin signalisierte, ob man noch Platz fand oder es gerade zu voll war. "Trotzdem!", murmelte Yzibao schließlich, "verflixt unsportlich, dass du so fit bist! So nen Reiterknecht hätte ich LOCKER aufgemischt!" Mit einem nachsichtigen Lächeln ließ O-Batyr diesen recht optimistischen Befund unkommentiert stehen. Jetzt ging es darum, sich richtig wohlig zu fühlen! *~~~+~~~* Nach dem Dampfbad, dessen dichte Schwaden für ausreichend Schicklichkeit ganz ohne Fädchen am Leib sorgten, dirigierte O-Batyr den widerstrebenden Yzibao zur Massage. Ein geradezu dekadenter Luxus! Zumindest nach (eingeimpfter) Einschätzung eines Baobhan-Sith-Daimons, der seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen mit der Herstellung kostspieliger Stoffe finanzierte. Doch O-Batyr ließ sich nicht beirren. Manatee, die tatendurstig ihrer Berufung walten wollte, schüchterte Yzibao allein durch ihre Dimensionen so ein, dass er keinen Widerspruch mehr wagte. Der Malabsorbo selbst zog es vor, einige Bahnen in einem Schwimmbecken zu ziehen, das von natürlichen Quellen gespeist wurde und lauwarme Temperaturen versprach. Dass er schwimmen konnte (oder klettern), wusste er einfach. Wer diese Fähigkeiten wann erlernt hatte, mit wem, das konnte er nicht sagen. Ein etwas seltsames Gefühl, noch immer, aus einer unbekannten Vielzahl von Individuen über Jahrhunderte hinweg zu einer einzigen, wenn auch archetypischen Person verschmolzen worden zu sein. Als er, abgetrocknet und angekleidet, zu den Massageplätzen zurückkehrte, lächelte ihm Manatee mit gelupftem Zeigefinger vor dem Mund zu. Ihre wohlklingende, sanfte Stimme vertraute ihm an, dass der hübsche, kleine Daimon (jeder musste IHR klein vorkommen) eingeschlafen war wie ein Kind. O-Batyr lächelte beruhigend. Gemeinsam wickelten sie Yzibao in den Umhang, dann sammelte O-Batyr die überzähligen Kleidungsstücke ein, sie zu apportieren. "Was für ein prächtiger Stoff!", seufzte Manatee bewundernd, "der ist bestimmt unglaublich teuer!" Der Malabsorbo (inkognito) zwinkerte. "Nun, der Künstler befindet sich hier", wies er auf den tief schlummernden Yzibao, "es sollte sich bestimmt eine Möglichkeit finden, gegenseitige Werte auszutauschen." Manatee lachte leise, zwinkerte ihm zu. Dass man ihresgleichen verführende, lockende Sirenenrufe zugeschrieben hatte, konnte er nachvollziehen. Doch hätte man lieber dem sanften Klang lauschen sollen, als sich übelmeinende Schauergeschichten auszudenken! Er nahm Yzibao auf den Arm und trug ihn in leichtem Wiegeschritt zur Höhle hinauf, lächelte auf dem Weg in ebenso freundliche Gesichter anderer Personen, die nichts weiter sahen als zwei vertraute Daimonen, die einander zugetan waren. Vor der Pforte summte er leise nach den Daimonenkäfern. Sie kamen ihm zur Hilfe, sodass er nicht mal die Pforte selbst aufstoßen musste. Im Inneren der Höhle traten auch die Glühwürmchen- und Feuerfunkendaimonen auf den Plan, die ihre vornehme Laternenbehausung verließen, ihm ein Spalier leuchteten, damit er Yzibao unversehrt zur Chaiselongue transportieren konnte. Geübt baute er ein wohliges Nest aus Decken und Kissen, wickelte den entblößten Yzibao warm ein und platzierte auch Maunz in Reichweite. Die grünen Glasaugen inspizierten ihn prüfend, wie es O-Batyr empfand. Er verneigte sich höflich, sicherte erst die Pforte, bevor er Yzibaos Bekleidung ordentlich verstaute, sich ebenfalls auszog und zu seinem schmalen Gefährten glitt. Den weißblonden, losen Zopf liebkosend fragte sich O-Batyr, ob es ihm schon gelungen war, Yzibaos Herz ein wenig für sich zu öffnen. *~~~+~~~* Faunus beobachtete geduldig, wie der Engel das Blatt studierte, erneut, dann nach den hölzernen Stricknadeln griff, die bereit gelegten Wollknäuel in graduell abweichenden Nuancen begutachtete. Eigentlich hatte er angenommen, dass Xaruli unterschiedliche Knäuel verwenden würde, die selbst gefärbten Fäden entsprechend dem komplizierten Muster verschränkte, doch der Engel hatte mit stoischer Miene die aufgefädelten Garnstränge justiert, den Abstand reguliert, bevor er sie in kurzen Partien nacheinander einfärbte, das Muster somit IN den Faden prägte, was die mechanische Verarbeitung anschließend durchaus beschleunigte. Um ein Vielfaches. Es erstaunte den uralten Walddaimon. Nun, mit Engeln, vor allem einem Engel dieser Generation, hatte er keinen großen Umgang gepflegt. Allerdings gab es, wie ihm der KOK-Offize anvertraut hatte, überhaupt niemanden, der sich mit einem Engel auskannte, der über zwei Schwingenpaare verfügte, von den anderen Besonderheiten ganz zu schweigen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Faunus hatte Xaruli erklärt, welchen Eindruck er von der Herkunft des Musters gewonnen hatte, wer an sie herangetreten war, einer der besten Kunden für Xarulis Werke, Pullover, Mützen, Handschuhe, Schals, Überzieher, Mäntel, lange Hosen, Socken, Muffs, offene Beutel. Hier, wo er selbst lebte, konnte man niemanden begeistern. Die Walddaimonen und die zugewanderten Naturgeister zogen, wenn sie es für notwendig hielten, Körperpartien zu bedecken, gewebte Pflanzenfasern vor. Die abgestreifte Fellhülle eines Tieres tragen?! IGITT!! Faunus verfügte über einen weiten Horizont, dank seiner langen Lebensspanne und der ungewöhnlichen Bereitschaft, seinen Wald zu verlassen und sich die Welt anzusehen. Dieser "verrückten" Eingebung folgte er noch immer und speiste daher seine Lebenserfahrung mit immer neuen Erkenntnissen, weshalb er sich auch bereit erklärt hatte, den seltsamen Engel aufzunehmen. Eine Geste, die nicht überall auf Verständnis oder gar Gegenliebe stieß, doch der Respekt, den man ihm schuldete, verhinderte offene Kritik. "Was willst du daraus machen?", erkundigte sich Faunus bei seinem Schützling. Xaruli, der selbst lediglich eine Kittelschürze trug, die man unter seinen Flügelpaaren am Rücken kordelte, gestikulierte sparsam. "Ah, einen geschlossenen Umhang? Mit Kapuze? Eine gute Idee!", lobte Faunus, obwohl er nicht sicher sein konnte, dass der Engel LOB begriff oder wertschätzte. Nun, dem Kontrebandeur würde es wohl gefallen und seinem gewaltigen Galan noch mehr. Das Muster jedenfalls hatte Xaruli angeregt, seine Färbemethoden zu verändern! Zu Anfang hatten sie noch gefärbte Wolle eingetauscht gegen den Wert der verkauften Güter. Wirklich losgelegt hatten sie mit einem ungefärbten Wollknäuel und seinen Nadeln, als Demonstrationsobjekte. Woher wusste der Engel, wie man strickte? Er schien es sich selbst beizubringen, indem er Faunus zusah und sich dann daran versuchte. Körpermaße berücksichtigen, das hatte Faunus ihn jedenfalls nicht gelehrt, zumindest nicht bewusst. Unheimlich, hätte mancher wohl geurteilt, dieser Engel, noch in Kindergestalt, ohne Mimik, ohne Stimme, bis auf die schwarzen Augäpfel fahl und blass, nicht wohlgelitten. Es raschelte, aus Höflichkeit, nicht etwa, weil der Urheber sich nicht lautlos bewegen konnte. Faunus lupfte eine buschige Augenbraue und feilte an seinen Werkstücken weiter. "Hallo", heran schlenderte eine jugendliche Dryade, eingewandert nach dem Ende der Götterherrschaft, sich gleich heimisch fühlend unter den Walddaimonen. "Was ist das denn?", interessiert beugte sich das Naturwesen über die schmalen, eng gruppierten Steinschalen, in denen die gerafften Wollfäden sich färbten. Unaufgefordert ließ er sich sodann nieder, mit einem knappen Blätterschurz bekleidet, entnahm seiner Umhängetasche Papierbögen und farbige Kreidestücke. Schwarze Kohle huschte geschwind über das selbst geschöpfte Blatt. "Wie war's auf dem Markt, alter Mann? Hast du neue Dinge gesehen?", betont beiläufig erkundigte man sich, während rasch Blätter, Halme, Blüten und Sträucher Gestalt annahmen. "Wie wär's, wenn du mich mal begleitest, Tybalt?", konterte Faunus, der jugendliche Frechheiten bis zu einem gewissen Grad tolerierte. "Nöööö!", dunkle, verfilzte Locken flogen, "ich kann doch nicht den Wald verlassen! Dryade!", triumphierte er. An einen Baum gebunden, mit dessen Wesen verflochten, das Leben teilend. "Tatsächlich?", Faunus schnaubte, "welcher Baum wäre das wohl, hier?!" Eine beinahe unmoralische Frage, denn ohne Not enthüllte keine Dryade ihren "Seelenbaum", um sich nicht unnötig selbst zu gefährden. Andererseits, und das konnte man Faunus nicht verdenken, waren diese Bäume in der Menschenwelt gewachsen! Man durfte dann schon zweifeln, wie sich hier, auf der anderen Seite, im Exil, eine Bindung gestaltete. "Sag ich nich!", polterte Tybalt auch prompt, der mit seiner fleckigen Haut, den verschiedenfarbigen Augen und der athletischen Gestalt verdächtig nach "Platane" aussah. Eifrig kolorierte er nun seine Zeichnung, bevor er sie behutsam mit einem Käferlack bedeckte. "Hier!", streckte er sein hübsches Idyll auf Papier dem alten Walddaimon hin, "was könnte ich dafür bekommen, hm? Könnte ich dafür etwas Honig erhalten?" "Tsktsk!", schnalzte Faunus mit der Zunge, "unmanierlich UND verfressen!" Tybalt grinste bloß frech. Offiziell war ihm Honiggenuss natürlich untersagt, weil es sich ja um "Bienenkotze" handelte und somit tabu war, so als Pflanzenköstler, doch Tybalt befand, auch als Dryade, müsse man nicht alles so eng sehen und manches Gebot eher als eine Empfehlung denn als Regel betrachten. Eine Haltung, die ihm durchaus Prügel eingebracht hätte, ließe er sich dabei erwischen. "He, Langweiler!", wandte er sich dem strickenden Engel zu, "brauchst du nicht noch Farbstoff? Denk bloß nicht, dass ich dir was mitbringe!" Damit erhob er sich, verstaute sein Gemälde in einem großen, abgeschnittenem Halm, packte Kreide und Kohle weg. "Bis dann, alter Mann!", tippte er sich grüßend an den filzigen Lockenwust über einer Schläfe. Wenn er Material fand, dass der olle Engel zum Färben benutzen konnte, würde er vielleicht doch mit Faunus handelseinig und bekäme seinen Honig! *~~~+~~~* Tybalt genoss seine Freiheit, denn er musste nicht wie die Walddaimonenkinder eine Schule besuchen. Als Dryade konnte man ohnehin nicht allzu viel dazu lernen, nach dem Einführungskurs für Neuankömmlinge in der anderen Welt. Ihm war durchaus bewusst, dass er sich ein wenig seltsam verhielt. Andere Naturgeister, ob Nyaden oder Dryaden, Nymphen oder Sylphen, beschäftigten sich geradezu obsessiv mit ihrem jeweiligen Element, hegten und pflegten es, verteidigten es, kreisten nur um dessen Wohlergehen. Tybalt stromerte hingegen gern im Wald herum, streifte durch das Gelände, kletterte auf die höchsten Wipfel, immer auf der Suche nach Material, Papier zu schöpfen oder Farbstoffe zu finden, mit denen er zeichnen konnte. Besonders das Papiertrocknen stellte eine Herausforderung dar, weil es Hitze oder Sonneneinstrahlung benötigte, was im Wald selbst im gefilterten Zwielicht nicht gerade häufig angetroffen werden konnte. Weshalb Tybalt auch tollkühn auf steinige Hügel kletterte, die über die Bewuchsgrenze hinausragten. Da wurde ihm dann doch hin und wieder flau, so ganz auf Stein zu laufen, so ungeschützt zu sein. Trotzdem. Nur auf Blätter zu malen, das war ihm einfach zu wenig, auch wenn er solche Miniaturen durchaus meisterte. Aber wie sollte man das Panorama, das er mit wild klopfendem Herz von einem Hügel erblickte, auf eine doch recht bescheidene Blattfläche abbilden?! Nein, es musste Papier sein, in größerem Format! Möglichst mit sehr feinen Pflanzenfasern, die so geschickt eine Verbindung eingingen, dass der getrocknete Bogen dann recht glatt wirkte. Persönliche Ansprüche darüber hinaus pflegte er kaum. Wasser zum Trinken, Blätter und Fasern zur Herstellung seines einfachen Kittels, genug Pflanzenkost, Wurzeln, Nüsse, Eckern und Beeren zum Verzehr. Ein gemütliches Schlafplätzchen und hin und wieder heimlich etwas Honig. Seine Mal-Leidenschaft verwandelte ihn von einem schlichten Natur-Geist in einen scheel zu beäugenden Frei-Geist. Allerdings nahm ihn niemand für voll, weil er eben noch ein Dryadenkind war. Das hatte auch Vorteile, wie Tybalt sich immer dann selbst erinnerte, wenn er mal wieder abgekanzelt wurde, weil er sich für eine Dryade zu seltsam verhielt, zum Beispiel häufig Faunus Gesellschaft zu leisten (wenn auch unaufgefordert) und diesem seine Zeichnungen zum Handeln auf dem Markt mitzugeben! Von dem dubiosen Engel mal ganz abgesehen. Die meisten Natur-Geister kannten sich mit Engeln nicht aus, weil solche Geschöpfe in ihrem Milieu schlichtweg nicht existiert hatten. Hier hingegen konnte man sie ignorieren, solange diese nicht in irgendeiner Weise für ihr geliebtes Element bedrohlich wurden. Die Walddaimonenkinder hingegen hatten für den einzigen Engel, der ihnen hier begegnet war, nicht viel übrig. Die Doppelschwingen galten als unpraktisch. Zudem konnte der komische Xaruli nicht mal sprechen, wo es doch immer hieß, dass Engelszungen alles vermochten, verfügte der nicht mal über eine! Wahrscheinlich hatte er irgendwas angestellt, oder besaß gemeingefährliche Fähigkeiten, die es notwendig machten, ihn zu "knebeln"! Besser, man hielt sich von ihm fern und sah auch davon ab, ihn mit Matsch zu bewerfen. Tybalt hingegen verspürte durchaus Neugierde, denn vom äußeren Erscheinungsbild her schienen sie ja fast gleichaltrig zu sein. Zumindest überragte Xaruli ihn nicht, wenn die Flügel eingeklappt waren. Aber wenn einer nichts sagte, einen bloß hin und wieder mit diesen verkohlt wirkenden Augäpfel anstierte, dann fühlte man sich nicht wirklich eingeladen, auf Erkundungstour zu gehen! Obwohl es schon interessant wäre, mal zu erfahren, was der Engel vorher getan hatte, wo er hergekommen war. Tybalt näherte sich einem Hügel, der aus dem Wald herausragte. Wenn er eine ganze Zeitspanne lang in die Höhe stieg, würde er dort verschiedene Mineralien finden, die man recht gut zur Farbstoffgewinnung nutzen konnte. Hin und wieder entdeckte er sogar Metallerze, für die Waldbewohnenden nur Abscheu übrig hatten, die aber, wenn sie poliert und geduldig bearbeitet wurden, hübsch anzusehen waren und auf dem Markt getauscht werden konnten. In Honigwaffeln, beispielsweise. Auf halber Höhe setzte sich Tybalt einen selbst gefertigten Sonnenhut aus geflochtenen Grasfasern auf. Die Sonne stach zwar nicht zu unangenehm, aber die trockene Luft und die Wärme setzten Tybalt zu. Als er gerade erfreut zwei Fundstücke, die sich als Basis für leuchtendes Grün verwenden ließen, verstaute, bemerkte er Xaruli. Der Engel bewegte sich lautlos und geschmeidig, eine fahle Gestalt, ebenfalls mit einem Beutel ausgerüstet. "Du läufst mir doch hoffentlich nicht nach, oder?", herrschte Tybalt den Engel mit gerecktem Kinn an, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Xaruli zeigte keine Gemütsbewegung. Nun, das durfte man auch nicht erwarten, bei diesen puppenhaften Figuren! "Na schön, du darfst mir Gesellschaft leisten", gestattete die Dryade gnädig, "aber mops mir keine Farbstoffe, klar?!" Immerhin musste man die Fronten eindeutig abstecken. Sollte keiner meinen, dass sie hier verabredet gemeinsam herumstöberten! "Wir können aber tauschen", bot Tybalt großzügig an, "ist ja nur vernünftig." Damit ging er voraus, denn immerhin gehörte ER hierher, während der Engel bloß von einem KOK-Offize im Wald abgekippt worden war! *~~~+~~~* Wäre Xaruli nicht gewesen, hätte Tybalt verständig genug auf halber Höhe den Rückweg angetreten, weil ab dieser Grenze nicht mal mehr Strauchwerk wuchs, nur noch dürre Gräser, die sich in Ritzen quetschten, polierter, verwitternder Stein. Andererseits konnte die Dryade auch nicht zulassen, dass der Engel alle Entdeckungen und Abenteuer allein erlebte, denn dann hätte er selbst ja wie ein Hasenfuß gewirkt! Außerdem waren es seine winzigen Leuchtkäfer in der kleinen Schachtel, die die Höhle mit genügend Glimmerlicht erfüllten, um sie zu erkunden! So wurde es spät und auch unerfreulich kühl, als sie den Rückweg antraten, die jeweiligen Beutel gefüllt und die Kalebasse recht leer. Tybalt teilte die Wassermenge gerecht auf, seufzte dann. Der Himmel färbte sich schon ein, die Sonnen gingen nacheinander unter. "Besser, wir steigen morgen Früh runter und suchen uns was für die Nacht", murmelte er. Xaruli erhob sich plötzlich. Die Sonnen, am Horizont, erzeugten einen brennend roten Abendhimmel, schienen sich gegenseitig anzustrahlen, als stünden sie in Flammen. Tybalt blinzelte, die Augen zusammenkneifend, denn in den Wäldern bekam man die Sonnen vernünftigerweise nur gefiltert und abgemildert zu sehen. "Stimmt was nicht?", erkundigte er sich mit rapide wachsender Nervosität, weil der Engel seine vier Schwingen ausklappte, die Fäuste ballte. Blutrot färbten wie in einer Explosion die letzten Strahlen die ganze Welt, und Xaruli stieß eine gewaltige Lohe in den Himmel aus. *~~~+~~~* Kapitel 14 "Unter Garantie hat er sich mal wieder in Schwierigkeiten gebracht!", vertraute Yzibao betont selbstherrlich seinen Daimonenkäfern an. Seit drei Tagen hatte der verwünschte Kerl sich nicht blicken lassen, weshalb sie etwas missmutig herumbrummten. "Disziplin!", verlangte Yzibao kommandierend, "wer essen will, muss arbeiten! Ich ja auch!" Und er hatte sogar die Höhle verlassen, um Nahrungsmittel zu besorgen, was ihn durchaus Überwindung gekostet hatte, weil er sich immer noch sorgte. SIE gaben nicht so einfach auf. Aber solange er auf den Steinen blieb, inmitten von Gestein, konnte ihm nichts passieren, hoffte er zumindest. Zwar hatte der aufdringliche Malabsorbo ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er für eine Weile nicht vorbeikommen könne, weil er diverse Angelegenheiten zu betreuen hatte, doch empfand Yzibao eine gewisse Enttäuschung. Weshalb er sich über sich selbst ärgerte! Sollte er nicht vielmehr froh sein, dass keiner hier uneingeladen hereinplatzte, ihn von der Arbeit abhielt?! Außerdem war er ja wohl nicht auf diesen Rosstäuscher angewiesen, der hatte sich ohnehin hier viel zu sehr zu Hause gefühlt! Dennoch ging die Arbeit Yzibao nicht so rasch von der Hand wie gewohnt. *~~~+~~~* Tybalt rollte sich reflexartig nahe an die noch Wärme abstrahlenden Felsen heran, ein kompaktes Paket bildend. Xaruli brannte. Zumindest wirkte es so, denn sein ganzer Körper war nun in ein flammendes Orange getaucht, von den Zehen bis zu den langen Haaren und jeder einzelnen Feder. Darüber hinaus war er plötzlich gewachsen, überragte Tybalt mindestens um drei Häupter! Lohe um Lohe feuerte der Engel in die sich rasch ausbreitenden Dunkelheit des Nachthimmels. Der schlichte Kittel verwehte als Aschestaub hinunter ins bewaldete Tal. Tybalt gewann den Eindruck, dass er sehr viel mehr Abenteuer bekommen als erhofft hatte. *~~~+~~~* "Halt!", warnte ihn eine grimmige Stimme. O-Batyr wurzelte brav an, auch ohne die Aufforderung bereits im Bilde, denn vor ihm spannte sich ein beeindruckendes Werk, von beiden Seiten der Schubladenschränke und über mehrere Höhen. Also legte er brav Umhang, Maske und Schwertgehänge ab, apportierte nur noch mehrere Tüten mit Leckereien, Friedensangebote. Fasziniert verfolgte er, wie Yzibao in tänzerischer Eleganz und mit großer Grazie ein ganzes Daimonenkäferballett orchestrierte, um die komplexen Strukturen zu erzeugen. Was vor seinen Augen in die finale Phase ging, war ein imposanter Wandteppich, der mit dem Tableau des dreifachen Titelgewinns der Kataraktspiele aufwartete. Üblicherweise malte oder stickte man derartige Szenen auf den Stoff, doch ihn zu weben, war ein aufwändiges und kostspieliges Unterfangen. Er bemerkte kaum, wie die Zeit verstrich, bis Yzibao mit den Steinklingen die Fäden trennte, langsam den Wandteppich auffing. "Wunderschön", komplimentierte O-Batyr aufrichtig. "Vor allem viel Arbeit!", brummte Yzibao heiser, wankte etwas steif zu einem ausgelegten Tuch, auf das er sehr vorsichtig das Werk ausrollte. Unterdessen interessierten sich seine Helfendenscharen viel stärker für O-Batyr, der ihnen gutmütig die Schüsseln füllte. Ein sehr zufriedenes Brummen dröhnte förmlich in der Höhle. "Ich habe hier auch deinen Anteil", verkündete O-Batyr, ein Picknick ausrichtend. "Wer so viel isst, wird dick und träge!", bemerkte Yzibao spitz, die eigene Erschöpfung ignorierend. Oder es zumindest angestrengt versuchend. "Das würde ich auch behaupten, wenn ich ein verwitternder Vampir wäre und darauf angewiesen, dass mein Köder mädchenhaft-schlank und zu schwach bleibt, mir zu entwischen", versetzte O-Batyr ebenso beiläufig wie scharf. Yzibao warf ihm einen unbehaglichen Blick zu. "Wir können nichts dafür, wie wir beschaffen sind", wies er heiser auf einen Umstand hin, der in gewisser Weise die Baobhan-Sith-Daimonen rechtfertigte. Sie hatten sich ihre Konstitution nicht ausgesucht. O-Batyr wandte sich Yzibao zu. "Aber DU warst nicht so beschaffen", stellte er pointiert heraus. Sich auf der Chaiselongue in gewisser Distanz niederlassend nahm Yzibao Maunz in die Hände und ignorierte seinen grollenden Magen. "Manchmal läuft es eben nicht so perfekt", murmelte er, den Kopf gesenkt. Auch wenn er SIE fürchtete, so wollte er doch nicht unwidersprochen lassen, was O-Batyr hier skizzierte. SIE HATTEN ihm ein Zuhause gegeben, Bekleidung, Essen, Zuflucht. Hatten ihn das Tanzen gelehrt, ohne welches er seine Daimonenkäfer gar nicht zu diesen Höchstleistungen anleiten konnte. Er war geblieben, ein Teil ihrer Gemeinschaft, bis es nicht mehr auszuhalten war mit den Zweifeln, den Skrupeln, der nie ganz zu überwindenden Entfremdung. Er wollte nicht zurück, niemals! Doch er konnte ihnen auch nicht verdenken, dass sie bestrebt waren, sich ihre Investition zurückzuholen, solange er noch mit nützlichen (optischen) Qualitäten aufwarten konnte. In ihrer Gemeinschaft war es ohne Übertreibung überlebenswichtig, anziehend zu erscheinen, unwiderstehlich, verführerisch-lasziv. Man oder vielmehr frau blieb abhängig vom Kollektiv, vom Nachwuchs, von so engen Bindungen, die alles andere ausstachen. ER war geflohen, seiner Verantwortung entfleucht, hatte den heiligen, den wichtigsten Pakt von allen gebrochen. Nicht ohne Skrupel, nein! Gewissensbisse und auch die notwendige, isolierende Einsamkeit plagten ihn durchaus noch immer. Dennoch. Ein trotziger, verzweifelter, unnachgiebiger Funken hatte ihn entflammt, angestachelt, sich zu entscheiden. Er MUSSTE eine Seite wählen, es gab keinen Kompromiss, keine Schnittmenge. Ohne die Gemeinschaft der anderen hatte er auch den Hungertod zu vergegenwärtigen gehabt, allerdings nicht aus den Gründen, die er bei seiner Flucht besorgt erwogen hatte. Nicht als Baobhan-Sith-Daimon geboren zu sein bedeutete nicht, dass man die Vampirnotwendigkeiten so einfach hinter sich lassen konnte, aber das wusste er VORHER nicht. Glücklicherweise hatte er schneller gelernt als sein darbender Organismus, konnte die ihm trainierten Methoden anwenden, Blutspendende anzulocken und sich über Wasser zu halten, bis er ein Dach über dem Kopf und ein Auskommen gefunden hatte, ohne sich die unerwünschte Aufmerksamkeit der Mee-Poos zuzuziehen. Ein steiniger Weg, nicht nur im übertragenen Sinne. Yzibao zog Maunz ein wenig enger an sich heran. O-Batyr stand direkt vor ihm, als er erschrocken aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurückkehrte. Er fokussierte seine smaragdgrünen Katzenaugen auf den Malabsorbo, löste sogar eine Hand von Maunz, um weißblonde Strähnen hinter die spitzen Ohren zu verbannen. "Du hast gesagt, dass du zwar Fertigkeiten geerbt hast, aber keine Erinnerungen. Warum glaubst du eigentlich, ständig alles besser zu wissen?" Die tiefschwarzen Augen wichen ihm nicht aus, doch eine Antwort schien nicht allzu rasch gefunden zu werden, weshalb Yzibao sich in Positur warf. "Hast du überhaupt irgendwelche Beziehungen oder Bindungen?! Was gibt dir das Recht, dich als moralischer Imperativ aufzuspielen?!" In einer geschmeidig-fließenden Bewegung, die ihn erschreckt wegzucken ließ, nahm O-Batyr neben ihm auf der Chaiselongue Platz. "Ich habe tatsächlich bei Null angefangen", pflichtete O-Batyr ihm ruhig bei, "und nein, es gibt keine Familie für mich, immerhin", er zwinkerte spöttisch, "bin ich ein Archetyp, keine Person." "Pff!", winkte Yzibao ab, stopfte sich Maunz aber zur Sicherheit in den Ausschnitt seiner grünen Weste, "hat dich aber nicht lange aufgehalten! Genug Ego für eine eigene Person hast du mittlerweile ja wohl angesammelt!" Nein, charmant und entgegenkommend konnte man das wirklich nicht nennen! Andererseits bot sich hier die Gelegenheit, hinter Masken, Spiegel und Vorhänge zu blicken, unter die Oberfläche. Yzibao konnte sich des drängenden Gefühls nicht erwehren, dass er besser sehr viel mehr herausfand über diesen lästigen, aufdringlichen, sturen Verehrer? O-Batyr schmunzelte, den Blick auf seine Hände gerichtet, denen man anhand gewisser Schwielen noch immer ansah, dass er gewohnt war, mit Waffen umzugehen. "Stimmt, inzwischen habe ich wohl wirklich eine Art von Charakter entwickelt", gab er mit einem gewissen Vergnügen zu. Er wandte den Kopf, um Yzibao direkt anzusehen, der nervös sogar die Beine anzog, um eine gewisse Distanz zu wahren. "Vielleicht fälle ich ein zu hartes Urteil über deine Lehrerin und ihre Verwandtschaft. Möglicherweise ist das Verhältnis von Geben und Nehmen eine Zeitlang ausgeglichen gewesen", antwortete er ernst auf Yzibaos Vorhaltungen. Dem fiel sofort die Flaute in die argumentativen Segel, ihm die Leviten zu lesen. "Tja, wenn du das einsiehst!", murmelte der Baobhan-Sith-Daimon schließlich verdrossen im Rückzugsgefecht. Um sein Selbstverständnis etwas aufzupolieren, wählte er ein anderes Sujet aus, das ihn beschäftigte, zu seiner erheblichen Verärgerung. Deshalb setzte er sich lotrecht auf, die nackten Fußsohlen auf die Steinfliesen, funkelte O-Batyr grimmig an. "Aber mal was anderes: wie kommst du dazu, hier ständig einzufallen und meine Käfer vollzustopfen?! Das ist hier doch kein Streunerasyl, wo man kommt und geht, wie es einem gerade beliebt!" O-Batyr zeigte sich, zu seiner erbosten Empörung, nicht im Mindesten beeindruckt. "Ich will dich sehen", gab der doch schlicht zurück, "also komme ich hierher, wo ich dich unter Garantie antreffe. Es gefällt mir, wie gut sich die Käfer um dich kümmern, daher bringe ich ihnen gerne Belohnungen für ihre Mühe." Sein verschmitzter Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er TATSÄCHLICH davon überzeugt war, Yzibao benötige dringend die Aufsicht einer Legion fliegender Daimonen im Miniaturformat! "Aber mir passt das gar nicht, hörst du?!", explodierte Yzibao deshalb folgerichtig, "außerdem kannst du jetzt ja wieder abhauen, denn 'gesehen' hast du mich ja wohl!" Damit konnte er beim Malabsorbo keinen Erfolg verbuchen. "Nur einmal hingucken, das ist mir viel zu wenig", konstatierte der doch ganz unverschämt, "ich möchte dich ständig ansehen, mit dir sprechen, bei dir sein." Quasselte diesen Unsinn doch mit bierernster Miene! Frechheit! "Oh toll!", ätzte Yzibao entrüstet, die Fäuste in die schmalen Hüften stemmend, "es kümmert dich natürlich KEINEN Deut, was ich will! Klar, typisches Heldengebaren! Weiß ja immer alles am Besten! Danke auch!" O-Batyr strich sich kurz über die dicken, schwarzen Strähnen an seinem Oberkopf. "Da triffst du meinen wunden Punkt", lächelte er versonnen, betrachtete Yzibao so eindringlich, als wolle er sich dessen Erscheinung förmlich in den Verstand beizen, "was dich betrifft, weiß ich nicht Bescheid." Selbstredend fühlte sich der Baobhan-Sith-Daimon herausgefordert, eine weitere Attacke zu reiten, doch das leichte Lächeln auf den durchaus attraktiven Zügen des Malabsorbo ließ ihn von diesem gewohnten Gebaren Abstand nehmen. Es lag etwas Verletzliches darin, was man bei SEINEM Kaliber nie und nimmer vermuten würde. "Es liegt wahrscheinlich in meiner Natur als Archetyp", selbstironisch lupfte O-Batyr seine ausdrucksstarken Augenbrauen, "aber ich verfüge über einen inneren Kompass, der mir genau vorgibt, wie ich zu urteilen habe." Da musste er nicht mal das Beispiel mit dem Säugling und dem Übelenergie-Träger als eine seiner jüngeren Eskapaden erwähnen. "Nicht Geld, nicht Einfluss, nicht gute Worte, keine Befehle oder Treueschwüre können mich davon abbringen", eröffnete O-Batyr eine schlichte Wahrheit, die ihn AUSMACHTE, KERN seines Seins war, "zu schützen, zu bewahren, zu bekämpfen." Gegen Willkür, Gewalt, Missbrauch, Unterdrückung, Hass, Intrigen. Kein Lehnsherr, kein König, kein General konnte ihn je dazu bringen, diesen Codex zu verletzen, sich selbst treu zu sein. "Prächtig, oh Beschützer der Witwen und Waisen!", schnaubte Yzibao, "ich gehöre aber NICHT zu deiner Zielgruppe, also kannst du dich frohgemut subtrahieren!" Ein anderer Heroe wäre möglicherweise beleidigt gewesen, doch O-Batyr erkannte unter den geäußerten Provokationen und Frechheiten die profunde Verunsicherung seines widerstrebenden Gastgebers. Er streckte eine Hand aus, hielt inne, als Yzibao reflexartig vor ihm wegzuckte, wartete geduldig, bis er, sehr zögerlich, einen Gegenpart behutsam umschließen konnte. "Dessen bin ich mir auch bewusst", zwinkerte er humorvoll, Grinsekringel in den Mundwinkeln, "es ist nur so, dass der Kompass bei DIR nicht funktioniert." *~~~+~~~* Yzibao starrte, mit herabgesackter Kinnlade, den eigentlich zu fürchtenden Malabsorbo, fassungslos an. "Also", stotterte er perplex, "was solln das jetz heißen?! Dass ich ein ganz mieser Molch bin, oder wie?!" Wobei er unbewusst auf seine Vergangenheit anspielte. O-Batyr hob ihre Hände leicht, beugte sich, um den verdatterten Yzibao auf dessen Handrücken zu küssen. "Es bedeutet, dass ich nie mit meiner gewohnten Sicherheit weiß, woran ich bei dir bin", erläuterte O-Batyr ernst, "ich zweifle an meinen Einschätzungen, meinem Urteil. Ich kann schlichtweg nicht objektiv sein, was dich betrifft." Drei Wimpernschläge später entzog Yzibao entschieden seine Hand, verschränkte die dünnen Arme vor der Brust und Maunz, wandte den Blick ab, das Kinn demonstrativ hoch gelupft, "na toll, ich mach dich KONFUS, und deshalb lungerst du hier ständig herum?!" SO konnte man es, mit gewisser, säurehaltiger Schärfe, auch formulieren, vor allem, wenn man sich gerade selbst recht verwirrt, eingeschüchtert und beeindruckt fühlte. O-Batyr hingegen lachte leise, wohlwollend, mit seiner tiefen, sonoren Stimme. Er erhob sich von der Chaiselongue mit beneidenswerter Geschmeidigkeit. "Du bist etwas Besonderes für mich", bestätigte er lächelnd, "nicht nur aus den ganz offenkundigen Gründen. Deshalb bin ich hier, bei dir." Yzibao schmollte betont, den Kopf abgewandt, weil er hoffte, auf diese Art seine Beunruhigung nicht so leicht zu offenbaren. Er fühlte sich O-Batyr nicht gewachsen, und das bereitete ihm große Sorgen. O-Batyr, dem zwar die direkte Beobachtung des Mienenspiels in dem feingeschnittenen Gesicht verwehrt wurde, erkannte an der Körpersprache, dass Yzibao sich bedrängt fühlte. Ein leichtes Zusammenkauern, die hochgezogenen Schultern und natürlich das Stofftier, wie ein Schutzschild. Ein Talisman. Ein einziges Memento aus der Zeit vor den Vampirinnen? Er entschied, das Thema zu wechseln, sich energisch an seine Taktik erinnernd, "lass uns etwas essen, Yzzie. Es ist nicht nötig, sich zu kasteien. Du musst nicht wie ein junges Mädchen erscheinen." "Aha!", schnaubte der Baobhan-Sith-Daimon, dankbar für eine Einladung, zurückzukeilen, "DAHER weht der Wind! Wenn dir nicht passt, wie ich aussehe, ist mir das SCHNURZ, hörst du?!" Unerwartet schwungvoll wurde er an den Handgelenken auf die bloßen Fußsohlen befördert. "Mir gefällt SEHR, was ich sehe!", funkelten ihn die tiefschwarzen Augen unter den markanten Augenbrauen an, "trotzdem werde ich nicht tolerieren, dass du dich krank hungerst." "Ich hungere überhaupt nicht!", widersprach Yzibao beleidigt, "ich hab bloß keine Zeit..." Ein gutes Stichwort, wie sein Magen als zweites, oft vernachlässigtes Gehirn, meinte, sich lautstark in Szene setzte. "JETZT ist Zeit", verkündete O-Batyr streng, "ich will nicht, dass der Pudding zerläuft!" "Pudding?", Yzibao schnupperte reflexartig, "was für Pudding?" O-Batyr lächelte schelmisch, als er sich mit einer Verbeugung abwandte, einladend auf das Picknick gestikulierte. Wenn Liebe durch den Magen ging, hatte er zumindest schon einen Fürsprecher gewonnen! *~~~+~~~* Endlich stellte Xaruli das Feuerspucken ein. Die Flügel senkten sich langsam, resignierend, klappten in ihre gewohnte, gefaltete Form, die sie so täuschend klein und kurz wirken ließ. Tybalt räusperte sich verschreckt. Wenn IRGENDWER das Spektakel gesehen hatte, steckten sie in MÄCHTIGEN Schwierigkeiten! "Ist-ist alles in Ordnung mit dir?" Langsam wandte sich der Engel herum. Nur die schwarzen Augäpfel leuchteten nicht in einem Orangeton, der selbst die Herbstfärbung mancher Blätter in den Schatten stellte. Die Dryade schluckte, fühlte sich nun doch sehr klein. "Tut dir was weh?", erkundigte er sich trotzdem tapfer. Die Miene des Engels blieb gewohnt blank. Dennoch, nach einigen spannungsgeladenen Augenblicken tippte Xaruli sich an die Schläfen. "Kopfweh?", optionierte Tybalt, "oh, ich würde dir ja gern Wasser geben, aber wir haben keins mehr." Er war sich nicht sicher, ob es half, Xaruli Minzblätter zum Kauen zu geben. Xaruli schüttelte langsam den Kopf. "Oh, kein Kopfweh. Etwas in deinem Kopf, ja?", grübelte er, abgelenkt von der aufsteigenden Kälte. Jetzt wäre doch eine Decke oder ein Wollpullover nett gewesen, ganz gleich, was andere davon hielten! "Hmmm, Erinnerungen? Ist dir etwas von früher eingefallen?", kam ihm ein Geistesblitz. Der Engel nickte knapp, ging in die Hocke und angelte seinen Beutel heran, arrangierte den Inhalt, diverse Gesteinsbrocken. Dann nahm Xaruli einen hellen Kreidestein, begann, auf dem felsigen Plateau zu zeichnen. Neugierig kauerte sich Tybalt neben ihn, kommentierte laut die gar nicht mal so ungeschickten Zeichnungen. "Ah, das sind Engel, oder?", erriet er, "deine Familie? Freunde?" Xaruli zögerte, schüttelte dann langsam den Kopf. Tybalt warf die Stirn in Falten, "aber es sind Engel, richtig? So wie du?" Der Engel nickte knapp, malte mit einem gewaltigen Kreis eine Art Stern. In diesen legte Xaruli verschiedene helle, rötliche Steine, die die Farbe symbolisieren sollten. Zögerlich interpretierte Tybalt verschiedene Gesten des Engels, "also, ihr fliegt. Es ist dunkel? Ah, also dunkel. Und traurig? Einsam? Aha, da ist eine Sonne. Sie spuckt Flammen? Sind es unsere Sonnen? Nein? Hmmm..." Tybalt grübelte. Demnach musste Xaruli aus einer anderen Welt kommen, richtig? Der Engel zeichnete nun die Engel mit rötlichem Stein, viel näher an der Sonne. Nur ein Engel blieb weiß und zurück. Xaruli sprenkelte die Sonne mit dunklen Kohletupfen, verwischte die anderen Engel. "Also", Tybalt zögerte, "sie sind in die Sonne geflogen und dann? Was meinst du mit den schwarzen Punkten?" Xaruli wischte mit der Rechten über den Felsen, haschte Aschekrümel. Tybalt starrte erschrocken in die schwarzen Augäpfel. "Sie, sie sind verbrannt?", flüsterte er entsetzt. Alle bis auf Xaruli? "Aber, aber warum sind sie in die Sonne geflogen?!", platzte es aus ihm heraus, bevor er sich bremsen konnte. Sie mussten doch die Flammeneruptionen gesehen haben! Der Engel erhob sich langsam, blickte in den nun sternenübersäten Himmel, öffnete den Mund, stieß eine Flamme meterhoch in die Dunkelheit, hob die Arme, als wolle er die Flammen einfangen, senkte den Kopf, blickte auf Tybalt herunter. Der zuckte verwirrt mit den Schultern. Xaruli ging in die Hocke, deutete auf Tybalts Umhängerohr, in dem dieser seine Zeichnungen aufbewahrte. Zögerlich reichte die Dryade ihm das Gewünschte, doch der Engel wies mit der freien Hand auf eine unsichtbare Verbindung zwischen Tybalt und seinen Zeichnungen hin. "Sie wollten das Feuer?", versuchte Tybalt schließlich hilflos einen Erklärungsversuch. Zu seiner Erschütterung nickte Xaruli entschieden. "Aber sie sind verbrannt! Sie konnten das Feuer nicht bekommen! Das ist doch verrückt!", protestierte Tybalt heftig, zog eilig sein Aufbewahrungsrohr zurück. Xaruli blickte ihn stumm an. Tybalt biss sich verlegen auf die Unterlippe. "Tut mir leid", entschuldigte er sich verlegen, berührte vorsichtig mit der Fingerspitze einen orangefarbenen Handrücken, "ich wollte nicht so grob sein. Du bist bestimmt traurig." Der Engel wandte den Kopf, bot sein Profil, so makellos, puppenhaft wie gewohnt. Nach einigen Augenblicken rückte Tybalt wagemutig heran, schob einen dünnen Arm über die Schwingen, tröstend. Er war sich nicht sicher, ob der Engel traurig war oder überhaupt verstand, was er fühlte, aber seine Zeichnung sprach doch Bände. Der eine, weiße, kleine Engel, der nicht mit all den anderen in die Flammen geflogen war. *~~~+~~~* "Hör mal", wagte sich Tybalt, zusammengekauert, die letzte, gespeicherte Wärme des Gesteins schmerzlich vermissend, an den Engel an seiner Seite, "es ist besser, wir behalten dein Talent als Flammenwerfer erst mal für uns." Er seufzte, "macht einen im Wald nicht gerade populär, weißt du?" Zwar erinnerte er sich vage an eine der Erzählungen von Faunus aus dessen reichhaltigem Erfahrungsschatz, dass anderswo Pflanzen durch Brand erst ihre Samen ausbringen konnten, aber Tybalt war felsenfest überzeugt, dass das HIER ausschied. "Du solltest vielleicht erst mal hier bleiben", ergänzte er, "bis uns etwas eingefallen ist, warum du jetzt so anders aussiehst", beispielsweise recht groß und vollkommen orange. "Ich steige morgen runter und hole unsere Sachen", beschloss er, "Faunus erzähle ich, dass wir einen guten Ort fürs Papiertrocknen gefunden haben." Selbst wenn der alte Walddaimon misstrauisch werden sollte, so schien Tybalt diese Lösung doch die beste Option. Er stellte sich im Geist eine Liste zusammen, was alles benötigt wurde, nämlich Wasser, essbare Vorräte, ihre Habseligkeiten, Blätter, um einen Kittel oder Schurz für Xaruli zu improvisieren... Darüber schlief er ein, sackte an dem Engel herab. Xaruli dem Schicksal zu überlassen erwog Tybalt keinen Moment lang. *~~~+~~~* Yzibao fühlte sich benommen, erhitzt, ungewöhnlich leicht. Leichtsinnig? Komisch. Hatte er vielleicht zu viel gegessen? Konzentrierte seine Verdauung jetzt alles Blut auf sich und ließ sein Gehirn unterversorgt? Kam daher diese seltsame Empfindung eines Fiebers? "Wie war der Pudding?", erkundigte sich O-Batyr gerade, sorgsam die wenigen Reste des opulenten Picknicks verstauend. "Gut. Lecker", bemühte sich Yzibao um eine zusammenhängende Antwort, doch seine Zunge schien schwerfällig. Er konnte sich nicht richtig besinnen. "Wie fühlst du dich? Ist dir warm? Keine Übelkeit?" Unverschämterweise streckte der verwünschte Kerl ihn doch auf Kissen und Decken aus! "Warm", bestätigte Yzibao verwirrt. Warum war er eben noch ungehalten gewesen? Wenn er Gedanken erfasste, schienen sie wie Schemen einfach zu verschwinden, sich aufzulösen! Hilflos wischte er sich über den Schopf, keuchte leise. Irgendwas stimmte nicht mit ihm! Er bemühte sich, den Arm zu heben, um nach O-Batyr zu fassen, weil er seiner Zunge nicht mehr zutraute, seine Bitte um Beistand zu formulieren. Seine Hand wurde zwar genommen, aber nur kurz gedrückt. "Du fühlst dich entspannt, nicht wahr?", raunte O-Batyr über ihm, erdreistete sich, ihn einfach zu entkleiden! Zugegeben, die Hitze plagte ihn, aber so viel Eigenmacht konnte nicht entschuldigt werden! "Hnnghh!", protestierte Yzibao, rang mit schweren Augenlidern. "Ich werde dich befreien, Yzzie", raunte ihm O-Batyr zu, eindringlich, rau, doch damit konnte Yzibao nichts mehr anfangen. Die Augen fielen ihm zu und sein Kopf zur Seite. *~~~+~~~* O-Batyr hob sich Yzibao auf die gekreuzten Beine, schlang stützend die Arme um den besinnungslosen Daimon. Der mit einem hochprozentigen Likör versetzte Pudding erfüllte seinen Zweck ganz hervorragend. Wie der Malabsorbo vermutet hatte, verfügte der Baobhan-Sith-Daimon nicht über einschlägige Erfahrung mit Alkohol. Der nicht gut für dessen Aufgabenerledigung, nicht gut im Blut geeignet war und außerdem im Wald, entfernt von Siedlungen, recht schwierig zu bekommen, sah man mal von gärenden, überreifen Früchten ab. Während er Yzibaos Oberkörper an seiner Schulter stützte, fasste er mit der freien Hand das spitze Kinn, schob den Daumen behutsam in einen Mundwinkel, um die Kiefer zu separieren. Er zögerte, fragte seinen sonst so unfehlbaren Kompass nach dessen Richtungsvorgabe. Doch wie gehabt: die Kompassnadel kreiselte wild, Unrecht-Recht, Eigennutz-Selbstlosigkeit, Dominanz-Gleichberechtigung, Gefühl-Verstand... Bei Yzibao konnte er sich nicht sicher sein, war nicht unfehlbar. Allerdings lag es auch nicht in seiner "Natur", sich kleinmütig zurückzuziehen, wenn er keine Sicherheit erlangen konnte. Etwas gab es zu tun, glaubte er zumindest. Dann musste die profunde Verwirrung ausgehalten werden! O-Batyr balancierte den betäubten Yzibao aus und küsste ihn, eindeutig unkeusch und kein bisschen zurückgenommen. *~~~+~~~* Einer zweiten Gelegenheit konnte er sich nicht sicher sein, deshalb zog O-Batyr alle Register. Speichelnasse Zungenküsse, großflächiges Liebkosen der zarten, makellosen, bleichen Haut, ein gewaltiger Kontrast zu seiner eigenen Beschaffenheit, sei es Statur, Teint, Haare, Glieder. Maunz, der auf ein Kissen verbannt war, funkelte ihn mit den grünen Glasaugen verurteilend an. O-Batyr, der nicht mehr sprechen konnte, streichelte mit dem Handrücken zärtlich über eine gerötete Wange. Er wollte nicht zurück, die Entscheidung war getroffen. Jetzt galt es, auch die Verdammnis riskierend, eine weitere Premiere erfolgreich zu absolvieren, den zerbrechlichen Körper vorzubereiten, dass er mit allem, was ihm zu Gebote stand, oral und anal, die Attacke führen würde. *~~~+~~~* Kapitel 15 Der Sonnenaufgang kam früh, allerdings nicht früh genug für Tybalt, der sich erst mal die steifen Glieder frei schütteln musste. Ganz gleich, wie verwerflich es aussehen mochte: er WÜRDE sich von Xaruli einen Pullover borgen, wenn sie hier länger die Nächte verbrachten! Selbstverständlich hätte er auch eine Decke oder ein Äquivalent aus Pflanzenfasern nutzen können, doch woher nehmen, vor allem so schnell?! Der Engel saß neben ihm, unverändert. "Guten Morgen", grüßte Tybalt, hustete leicht, "denkst du, dass dir der Tau reicht, bis ich mit Wasser wiederkomme?" Xaruli nickte leicht. Der Sonnenaufgang färbte Gebirge und Wälder, die gesamte Aussicht, in rötliche Töne. "Hör mal!", wagemutig fasste Tybalt eine Schulter, "versuch bitte, keine Flammen rauszupusten, ja? Wir stecken ohnehin schon im Schlamassel." Er war sich nicht sicher, ob Xaruli seiner Aufforderung folgte, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Mit den frühen Sonnenstrahlen kletterte er, so schnell es ging und sein Durst zuließ, hinunter, atmete auf, als das Grün endlich die Oberhand gewann. Es lag noch jede Menge Plackerei vor ihm! *~~~+~~~* Yzibao erwachte nicht so, wie er das gewöhnlich zu tun pflegte, pünktlich aus dem leichten Schlaf in die Gegenwart zurückkehrend, der Körper bereits ohne sein Zutun auf Betriebsbereitschaft: Augen aufschlagen, ein wenig Räkeln, um die Gesamtlage zu erkunden, sich aufsetzen... Bleigewichte schienen hingegen jetzt seinen Körper auf den Boden zu fesseln, ein seltsamer Geschmack füllte seinen Mundraum aus. Maunz lag an seiner Seite, die Decken festgestopft. Yzibao erprobte Hände und Füße. Als er jedoch versuchte, sich zur Seite zu drehen, registrierte er einen dumpfen Schmerz im verlängerten Rückgrat, und nicht nur außerhalb. Er keuchte winselnd. Was war bloß passiert? Sie hatten den leckeren Pudding zum Abschluss gegessen, dann war ihm so komisch geworden, und dann? Wirre Bilder schwirrten vor seinen gequält gesenkten Augenlidern. Wimmernd zog Yzibao mühsam die Beine vor die Brust und erstickte sein mattes Schluchzen im Kopfkissen. *~~~+~~~* O-Batyr ließ sich wie gewohnt von den Daimonenkäfern herein, die das Futter witterten. Allerdings schienen sie etwas lauter als gewohnt herumzulärmen und bildeten eine nervöse Wolke um ihn herum. Er streifte sich rasch Umhang, Maske und Schwertgehänge ab. Yzibao setzte sich auf dem improvisierten Deckenlager gerade mühsam auf, die dünnen, nackten Arme zitterten unter der Anstrengung. Wirre, weißblonde Strähnen verklebten seine Sicht, da konnte nicht mal der Scheitelwirbel am Hinterkopf für den gewohnten Guckschlitz sorgen. "DU!", fauchte er rau, griff um sich und schleuderte ächzend ein Kissen nach O-Batyr, der sich näherte, es beiläufig auffing. Ein zweites Geschoss trudelte in seine Richtung, wurde unter die andere Achsel geklemmt. "Du wagst es, hier aufzukreuzen?!", Yzibaos Stimme überschlug sich, er stand, vollkommen nackt, wacklig zwischen Decken und weiteren Kissen. Bevor O-Batyr auch nur Silben formen konnte, wurde ein größeres Kissen bei den Zipfeln gepackt, dann überwand Yzibao schwankend, jedoch von unmissverständlichem Groll angetrieben, die Distanz und schlug damit auf O-Batyr ein. Ein wirklicher Schaden konnte nicht entstehen, doch auch ungeachtet dieses Umstandes leistete der Malabsorbo keine Gegenwehr. Aber er hielt weiter auf Yzibao zu, der erschrocken aufkrächzte und rückwärts taumelte, gut gepolsterte Wurfgeschosse einsetzte. Im letzten Schwung fegte er auch versehentlich Maunz mit. O-Batyr fing, der beiden ersten Kissen längst ledig, das Stofftier auf. "MAUNZ!", schrillte Yzibao entsetzt, ließ das letzte Kissen fahren. Nun verfügte O-Batyr über ein Faustpfand, mit dem er schier alles durchzusetzen vermochte! "Gib ihn mir", die ausgestreckte Rechte zitterte, Yzibao schob sogar die Unterlippe vor, versuchte, herrisch das Kinn zu lupfen. In seinen smaragdgrünen, fiebrig glänzenden Katzenaugen stand jedoch Panik. Mit gebotener Ruhe wurde ihm Maunz zurückgereicht, den er sofort an sich drückte. "Verschwinde. Geh weg, hörst du?!", zischte Yzibao, halb abgekehrt, ermattet, "mir geht's nicht gut, und DU trägst daran die Schuld!" Langsam ging er in die Hocke, das Stofftier immer noch umarmend, widerstrebend nach einer Decke haschend. "Dein Scheiß-Kompass ist kaputt, dass du es weißt!", fauchte er heiser, wischte sich wütend mit dem Handrücken über die Augen. Na toll, ging jetzt der nächste Schub los?! Von O-Batyr noch immer keine Einlassung. Aufgeblasener, selbstherrlicher, brutaler, arroganter Stockfisch-Mistkerl-Vollidiot! "Hat's dir die Sprache verschlagen?! Aber Entschuldigungen kannst du dir sparen!", schimpfte Yzibao schniefend. Er spürte schon wieder die aufbrandenden Hitzewellen, die ersten Schweißperlen auf der Haut und diesen üblen Geschmack im Mund, den er ausspülen musste, bevor er sich übergab. O-Batyr legte ihm eine Hand auf die nackte Schulter. Hastig fuhr Yzibao herum, nach hinten fallend, auf die nackten vier Buchstaben. Der Malabsorbo präsentierte ihm seine Zunge, punktiert, angeschwollen, grässlich verfärbt. Yzibao ächzte leicht, dann funkelte er betont grimmig. "Du bist ein Idiot", konstatierte er ätzend, "das ist ja noch schlimmer als bei mir am Anfang. Was machst du, wenn dein ach so tolles Immunsystem jetzt die Grätsche macht, hm?! Unsterblich bist du nämlich nicht!" Eine Antwort konnte er nicht erwarten, aber das dezente Schmunzeln und die kurz gelupften Schultern verärgerten ihn maßlos. "Arroganter Pinsel!", titulierte er O-Batyr aufgebracht, stieß ihn mit der freien Hand vor die Brust. "Niemand hat dich darum gebeten!", brüllte er heiser, Maunz hinter sich schiebend, in Sicherheit, während er nun wieder mit beiden Händen ein Kissen packen konnte, es wiederholt auf O-Batyr sausen ließ, bis eine Naht dem Druck nicht standhielt und sich Schwefelspinnerkokons, die man gern als Füllung benutzte, frei im Raum verteilten. Yzibao keuchte, ließ das lädierte Kissen fallen, presste eine Hand auf den Mund. Igitt! Außerdem stand er förmlich im Schwitzwasser, ein dumpfer Schmerz pochte anfallartig hinter seinen Schläfen. Mühsam rappelte er sich auf, tappte auf bloßen Sohlen splitternackt zur Pumpe. Gerade noch gelang es ihm, das Quantum Wasser aufzuschütten, um sie in Betrieb zu setzen. Eilig spülte er sich den Mund aus, wischte sich dann mit einem Lappen über die Haut. Sie roch merkwürdig. In einem Holzeimer daneben weichten seine Kleider noch ein, die von dem seltsamen Geruch durchdrungen waren, weil er geschwitzt hatte wie ein Auerochse auf dem Spieß! Mit einem weiteren Schub begannen seine Knochen zu schmerzen. Das hatte, wie er grantig feststellte, zumindest den Vorteil, ihn von dem noch immer vorhandenen, leichten Unwohlempfinden in seinem Unterleib abzulenken. Schwankend lehnte er sich an der nackten Höhlenwand an. Tränen perlten aus seinen Augen, er konnte nichts daran ändern. ENT-Giften, einfach toll! Man triefte, siffte und leckte aus jeder Pore! Gleich würde er auch noch hinaus müssen, zur Gemeinschaftskompostlatrine! Yzibao biss die Zähne aufeinander und wünschte, wenigstens fluchen zu können, aber der weißglühende Schmerz von seinen Schläfen, nun direkt hinter seinen Augäpfeln angekommen, verlangte ihm alles an Selbstbeherrschung ab, über das er noch gebieten konnte. Unversehens schlang sich eine Decke um seine zitternde, nackte Gestalt, wurde er von den Füßen gelupft und auf die Arme gehoben. Er konnte aus Protest lediglich erbarmungswürdig aufstöhnen. Auf seine Stirn, mit klebrigen Strähnen bedeckt, dampfte ein Kuss. Yzibao schluchzte leise, rollte sich zusammen. *~~~+~~~* O-Batyr hatte keine Mühe, Yzibao zum Abtritt zu transportieren, das Wasserlassen zu überwachen und ihn zurück zu befördern. Dort sortierte er, während der Baobhan-Sith-Daimon zusammengerollt und winselnd auf der Chaiselongue kauerte, das vormalige Lager ordentlich. Anschließend legte er Yzibao wieder dort ab, drückte ihm Maunz in die Halsbeuge, denn er verzichtete darauf, die verknäulten Glieder gewaltsam zu entfalten. Sich aufrichtend atmete er tief durch. Die Daimonenkäfer umschwirrten ihn laut brummend. Er hätte gern geäußert, dass er nicht mit einer so heftigen Reaktion gerechnet hatte, andererseits war er im Begriff, etwas Unerhörtes, bisher Unbekanntes zu wagen. Damit waren zwangsläufig Risiken verbunden, darüber konnte man sich nicht selbst täuschen. O-Batyr wusch die Wäsche und Lappen aus dem Eimer, improvisierte eine entsprechende Leine. Er räumte auf, wischte kalt über die Steinfliesen, bereitete einen Ambrosia-Trank zu, von dem er sich erhoffte, dass er Yzibao etwas dabei half, die Immunreaktion besser auszuhalten. Probeweise bewegte er dann die eigene Zunge. Die Lähmung schien nachzulassen, über das Farbspektrum wollte er sich lieber nicht versichern. Andererseits, wenn man darauf bestand, einen Vampir sexuell zu nötigen, musste man mit Gegenwehr rechnen! O-Batyr ließ sich neben Yzibao nieder, kämmte behutsam durch die verklebten Strähnen. Der Schub schien vorüber, ließ einen völlig erschöpften, überschlanken Leib zurück, der sich wie ein geprügelter Hund zusammenkrümmte, um die Angriffsfläche zu reduzieren. Tränenperlen klebten in den Augenwinkeln. Der Malabsorbo erwiderte den strengen Glasaugenblick des Stofftiers. Maunz, die seelische Stütze des verführerischen, gefährlichen, einsamen, ängstlichen Daimons an seiner Seite, auf eine gewisse Weise immer noch ein kleines Kind, das sich mit einer befremdlichen Umwelt anzufreunden hatte. Er beugte sich herab, küsste die freigelegte Stirn, dann erhob er sich, strebte entschlossen der Garderobe zu. Es galt, weitere Vorkehrungen zu treffen! *~~~+~~~* Tybalt schwankte, schwer beladen und sich auf den Wanderstock stützend, am hereinbrechenden Abend, zurück auf "ihren" Berg. Seine Rüstung für dieses verrückte Abenteuer hatte sehr viel mehr Zeit beansprucht, als er angenommen hatte. Sämtliche verfügbaren Kalebassen waren mit Wasser gefüllt, die Beutel mit allem, was er pflücken, aufklauben, ausgraben und eintauschen konnte, dazu die Klapprahmen fürs Papier, Xarulis Habseligkeiten rechts und links verdoppelte sich sein Umfang quasi durch all diese Lasten. Verblüffenderweise hatte Faunus ihm keinerlei Steine in den Weg gelegt, die Erklärung über Xarulis Absenz akzeptiert. Die Dryade hatte tapfer der Versuchung widerstanden, sich umzuhören, ob irgendwer in der Nacht verdächtige Ereignisse beobachtet hatte. Bloß keinen Argwohn erwecken! "Entschuldige, ich habe länger gebraucht", adressierte er den Engel recht ausgepumpt, aber auch erleichtert, denn Xaruli, noch immer recht groß, wies nun eine eher pfirsichfarbene Tönung auf, schien ein wenig geschrumpft. Wenn man lang genug wartete, würde er dann wieder wie gewohnt erscheinen? Ächzend setzte Tybalt seine Lasten ab, verteilte sie und überreicht zuerst das Wasser. Von Xaruli kam weder Protest noch Vorwurf oder Klage, nicht mal ein Anzeichen der Ungeduld, allerdings, so empfand die Dryade das nun durchaus, nahm es sich doch recht schwierig aus, mit jemanden zu kommunizieren, der nicht sprechen konnte und keine Mimik präsentierte! Er ließ sich neben dem Engel nieder. "Wir sind noch nicht aufgeflogen", berichtete er, genüsslich weiche Eckern kauend, denn sein Magen jammerte nach Nahrung, "aber ich konnte Faunus auch noch nichts sagen." Xaruli sortierte sein Nadeln und begann, an einem Werkstück zu stricken, mechanisch, gleichmäßig. Tybalt seufzte, denn es schien ihm, als müsse er auch hier die gesamte Zukunftsplanung übernehmen. "Wenn du dich wieder zurückverwandelst, dann steigen wir auch wieder runter", versprach er mit aufmunterndem Tonfall. Er wollte jedoch lieber nicht erwägen, was passierte, wenn sich bei Xaruli weitere Erinnerungen einstellten. *~~~+~~~* Yzibao hätte O-Batyr wirklich WIRKLICH gern verwünscht! Bloß konnte er darauf das bisschen Kraft und Geistesgegenwart nicht verschwenden. Der verfluchte Kerl hatte sich mit ihm verbarrikadiert, Vorräte beschafft und alle Vorkehrungen getroffen, um ihm das Vampir-Erbe auszutreiben. "Warum holst du nicht noch einen verdammten Meißel?!", fauchte Yzibao, schluchzend, wieder einen Fieberanfall erwartend, immerhin waren die Fangzähne noch in seinem Oberkiefer verankert! Wollte der Idiot sie ihm nicht auch noch gleich rausbrechen, wenn er ihm schon das Dasein verleidete?! O-Batyr, der die Kissen ausgeschüttelt hatte, wandte sich ihm zu, etwas zerzauster als gewohnt, "ich glaube, sie lösen nur aus, wenn dein Blutdurst groß ist, also sollten sie eigentlich ungefährlich sein, wenn du kein Vampir mehr bist." "Oh, danke für die Diagnose, Professor!", schnaubte Yzibao, versuchte, ein Kissen zu greifen, es als Schlagwaffe einzusetzen. Er konnte gerade mal einen Zipfel mit der Faust quetschen, für mehr, selbst das Anheben seines Armes, reichte seine Kraft einfach nicht aus. Yzibao schloss die Augen, keuchte und verwünschte das Geräusch in seinen Ohren. Ihm war schon wieder so heiß, dass er am Liebsten aus seiner eigenen Haut geschlüpft wäre! O-Batyr fasste ihn leicht am Beckenknochen, schob ein Kissen unter sein verlängertes Rückgrat. Was diese Polsterung zeitigte, wusste Yzibao nur zu genau. Durch einen Tränenfilm, der ihm die Wimpern verklebte, funkelte er hoch zum Malabsorbo. Dessen nackter Oberkörper war gezeichnet von verschorfenden, verheilenden und frischen Kratz- und Bisswunden. Auch über den gesamten Rücken und die rasierten Schädelpartien zogen sich blutige und verkrustende Fingernagelspuren, weniger Ausdruck einer konzertierten Gegenwehr als der verzweifelte, ungelenke Versuch, sich Halt zu verschaffen. Yzibao vermutete, weil ihn stets ein Fieberwahn ergriff, dass er keinerlei Kontrolle über seinen sich ekstatisch windenden, zuckenden Körper hatte. Es war ihm unerträglich peinlich, völlig die Selbstbeherrschung zu verlieren, sodass es sich leichter anließ, diese Gedanken zu verdrängen, zu leugnen, vor ihnen die Augen fest zuzukneifen, auch wenn das nicht half, diese widerspenstige Stimme in seinem Hinterkopf zu ersticken, die ihm bescheinigte, dass trotz Unwillens, Scham, Zorn, Hilflosigkeit ein Teil seiner Selbst willig und herausfordernd die Avancen annahm. Sah man die Spuren am Leib des Malabsorbo, die dezenten Schatten unter den Augen trotz der Sonnenbräune, die rissigen Mundwinkel, konnte man sich auch selbst testieren, dass hier auf Augenhöhe agiert wurde. O-Batyrs vergleichbar kühle Hand, die eine gelöste Strähne aus dem Zopf von seiner glühenden Wange kämmte, zog ihn in die unmittelbare Gegenwart zurück. Yzibao fauchte erschöpft. Das Fieber, das seinen Leib martern würde, verlieh ihm gleichzeitig die erforderliche Geschmeidigkeit, sich vor Lust zu winden, Muskeln und Sehnen anzuspannen, um O-Batyr einen Geschmack davon zu verpassen, welche Risiken der einging. "Du bist so ein Idiot!", verkündete Yzibao erstickt, die gewohnte Ouvertüre. Er bezweifelte, dass dessen Anstrengungen ihn "entgiften" würden, immerhin lebte er schon mehr als ein ganzes Jahrzehnt als vollwertiger Baobhan-Sith-Daimon! Dafür verpasste sich dieser aufdringliche, sture Trottel selbst ständig gefährliche Dosen, geriet an die Grenzen seiner körperlichen Widerstandsfähigkeit, wollte trotzdem nicht von diesem verrückten Unterfangen ablassen! Ein Depp eben! *~~~+~~~* O-Batyr beugte sich hinab, schob die Hand besitzergreifend unter den schmalen Nacken. Die weißblonden Strähnen hatte er in einer der Phasen, die Yzibao nahe der Bewusstlosigkeit vor Erschöpfung schlafen ließen, zu einem kurzen Zopf geflochten. Erst küsste er die dünnen Lippen, die er regelmäßig mit einer pflegenden Creme behandelte, dann teilte er sie mit seiner Zungenspitze. Yzibaos Mundhöhle glühte, sodass er zunächst für einen Sekundenbruchteil befürchtet hatte, die eigene Zunge würde ihm gedünstet werden, aber es ließ sich aushalten, wenn er den eigenen, sehr viel kühleren Speichel ausgiebig mit Yzibaos mischte. Ihre feuchten Küsse, beide Immunsysteme auf Trab haltend, waren nicht gefährlich für seine eigene Zunge. Heikel wurde es erst, wenn er mit Yzibao intim war, dann lief er immer wieder Gefahr, von den Fangzähnen erwischt zu werden, die ihm mehr als einmal glatt die Zunge durchstochen hatten. Aber keine der Wunden nahm er übel, keine ließ ihn nur einen Herzschlag lang zögern. Er bedachte den zarten, schmalen Körper mit aller Aufmerksamkeit, streichelte ihn, verteilte auch hier speichelfeuchte Spuren. Zudem hatte er einen hilfreichen Indikator seiner Anstrengungen entdeckt, der Yzibao vermutlich selbst nicht bekannt war: die gewöhnlich mondscheinblasse Haut des Baobhan-Sith-Daimons tauchte sich in einen rosigen Schimmer, wenn Yzibao erregt war, je wärmer die Tönung, umso intensiver die Reaktion. Keine Schatzsuchenden hätten begeisterter auf diesen Erfolgskompass blicken können! O-Batyr fehlten zwar konstant persönliche Erinnerungen, aber er spürte, dass ihm gewisse Fertigkeiten durchaus nicht abgingen. Dass er einen unzweifelhaft männlichen Daimon als Partner gewählt hatte, tat seiner Selbstgewissheit keinen Abbruch, nein, er empfand es, bis zu einem gewissen Grad, als veritablen Vorteil. Wo er Hand anzulegen hatte, konnte er selbst erproben, das eigene Gefallen als Einstieg nutzen, Yzibaos Präferenzen herauszufinden. Der schwierige Part bestand darin, in dessen Unterleib einzudringen. Notwendige Vorkehrungen mussten getroffen werden, selbstredend, aber auch die Psyche galt es zu berücksichtigen. Der Malabsorbo wusste schlichtweg, dass Yzibao, entgegen der Ondits über die verführerischen Vampir-Dirnen, die man kolportierte, keine derartigen Erfahrungen vorweisen konnte. Schon ihr erstes Aufeinandertreffen hatte ihm bewiesen, dass Yzibao lediglich den Verführer spielte, Nähe zuließ, bis er den Biss ansetzen konnte, dann seinen Einsatz beendete. Wenn er selbst nun Anstalten unternahm, eine Körperpartie zu invahieren, die gewöhnlich als "Ausgang" fungierte, musste es O-Batyr gelingen, diesen Übergriff so lustvoll zu gestalten, dass die berechtigten Vorbehalte überflügelt wurden. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Auch wenn er unbestritten seine überlegene Körperkraft einsetzte, sollte sich Yzibao nicht unterlegen, nicht ausgeliefert, nicht benutzt und unterworfen fühlen, sondern gleichberechtigt, herausfordernd, verlangend. Vielleicht nicht unmittelbar bei der Premiere, wo sie beide in unterschiedlichen Graden der Selbstkontrolle ihre Grenzen ausloteten, aber jedes Mal danach. O-Batyr fand, dass seine Bilanz, wenn auch nicht so glänzend wie erhofft, doch recht passabel bis ordentlich ausfiel. Er liebkoste jedes Fleckchen, von den Haarspitzen bis zu den smaragdgrün lackierten Fußnägeln der Zehen, kontrollierte im wirbelnden Schein der Feuerfunkendaimonen die Farbnuance der Haut. Wenn Yzibao sich wand wie ein Fisch, die Augäpfel so verdreht, dass man nur noch das Weiße erblickte, stöhnte und unartikuliert seinen Einsatz einforderte, dann erst bemächtigte er sich dieses fragilen Körperparts, genoss, mit nur einem kleinen Funken Schuldgefühl, den heftigen, ebenbürtigen Kraftaustausch, die Dynamik, die in verschiedenen, einander folgenden Explosionen ihren Höhepunkt fand, ergoss seinen Samen in den überhitzten Körper, um sein Ziel zu erreichen. *~~~+~~~* Kapitel 16 Tybalt malte diverse Skizzen und Porträts, mischte Farben und kletterte immer wieder hinunter, um Wasser und für sich selbst Nahrung zu holen. Farbnachschub zu gewinnen, das gelang durchaus gut, auch ging die Papierherstellung recht flott durch die Sonneneinstrahlung. Was ihm jedoch Sorge bereitete, war Xarulis Gemütszustand, wobei der sich kaum ergründen ließ. Wenn er ihn fragte, wie der sich fühle, ob noch weitere Erinnerungen gekommen waren, erhielt er nicht mehr als ein knappes Kopfschütteln. Dennoch ruhten immer öfter die Nadeln, auch das Färben der Fäden hatte bis dato noch nicht begonnen, allerdings musste schließlich auch Wasser gespart werden. Ein ganz klein wenig fand Tybalt sich überfordert mit dieser Situation. Wie sollte er Xaruli trösten? Trauerte der Engel überhaupt? Was beschäftigte Xaruli? Er konnte nur hoffen, dass bald sämtliche Tönung des Teints wieder verschwand und der Engel zurückschrumpfte in das bleiche, kindgroße Erscheinungsbild, das alle kannten! *~~~+~~~* Yzibao hatte sich daran gewöhnt, in O-Batyrs Armen, meist auf seinem Schoß, geborgen zur Besinnung zu kommen, während der ihm mit feuchten Tüchern den nackten Leib abrieb, die Haare kämmte oder ihn einfach wiegte, dabei sonor summend. Obwohl die Erfahrung der Schmerzen als Kind ihn eigentlich abgehärtet haben sollten, erstaunte es Yzibao doch, wie empfindlich man wieder über die Zeit werden konnte. Oder war er bloß verweichlicht?! Keine erhebende Vorstellung! Doch die Frage, ob man "als harter Knochen" durchgehen konnte, verabschiedete sich ebenso wie der Entschluss, dem Malabsorbo vorzuhalten, was für ein dämlicher Depp der sei. Die tiefschwarzen Augen signalisierten Yzibao unbeeindruckt, dass ihr Besitzer stur bis zum Gehtnichtmehr zu sein pflegte, zumindest dieses Vorhaben betreffend. Er würde befreit werden, ganz gleich, ob er nun wollte oder nicht, keine Zeihung würde daran etwas ändern. Da konnte man sich die ohnehin verdampfende Spucke auch sparen! Eigentlich hätte er, befand Yzibao etwas beschämt, mehr Widerstand leisten sollen, allerdings nahm sich das schwierig aus, wenn man ebenso aufmerksam wie zartfühlend umsorgt wurde, ohne ihn zu bemuttern oder seiner Selbstständigkeit zu berauben. Wenn die eigenen Kräfte es zuließen, dann durfte er selbst an einem der unzähligen Becher Ambrosia nippen, sich die Decke um die Schultern zupfen, austreten gehen. Wirklich problematisch, O-Batyr zu zürnen! Wie viel Zeit war verstrichen? Yzibao wusste es nicht zu sagen, als er sich auf die Seite rollte und hoch stemmte. Seine Daimonenkäfer umwölkten ihn gut gelaunt, genossen ihre Freizeit. Zum ersten Mal erblickte er O-Batyr nicht bei einer Beschäftigung, sondern neben sich ruhend. Atmete der überhaupt?! Der Baobhan-Sith-Daimon beugte sich über den Malabsorbo, legte eine Handfläche auf den breiten Brustkorb. O-Batyr stöhnte leise. Yzibao entschied, dass Fiebermessen sinnlos war, weil er selbst weiterhin von innen heraus glühte. "Dummkopf!", schimpfte er heiser, registrierte an der Halsschlagader einen matten Puls, "du hast es übertrieben!" Unter ihm blinzelte O-Batyr erschöpft. "Einfach prächtig!", knurrte Yzibao, "typisch Held! Grenzen und Vernunft sind was für andere, wie?!" Energisch klappte er die dünnen, langen Beine an, erhob sich, was besser funktionierte als erwartet. Wäsche trocknete noch, die nächste Ladung Käferfutter stand bereit, was bedeutete, dass O-Batyr zumindest noch vor einer Weile seiner selbst gewählten Aufgabe nachgekommen war. Yzibao mischte Getränke an, balancierte sie hinüber zu ihrem Lager. O-Batyr bemühte sich, auf die Ellenbogen zu gelangen. Er keuchte dabei vernehmlich, sichtlich angeschlagen. "Na herrlich!", grummelte Yzibao, um seine Sorge zu tarnen, "wahrscheinlich wache ich nach dem nächsten Schub auf, und du liegst hier tot herum! Das hast du dir dann selbst zuzuschreiben, klar?!" Etwas grob, um seine Vorwürfe zu unterstreichen, zerrte er O-Batyr an sich heran, bevor er ihm den Anteil Ambrosia einflößte. Der Malabsorbo lächelte ausgelaugt. "Habe wohl...meinen Heldenstatus...überreizt, hm?", versuchte er mit rauer Stimme zu necken. Yzibao kniff ihn in die gerade Nasenspitze. "Wenn du hier verreckst", hielt er ihm streng vor, "hast du alles verbockt! Dann ist auch mein Ruf ruiniert! Ganz zu schweigen von dem Papierkram!" Er ließ O-Batyr nicht nur auf einem eilig geklopften Kissen niedersinken, sondern setzte, um seiner Mahnung mehr Gewicht zu verleihen, auch noch Maunz direkt neben O-Batyr. Sollte der sich ruhig beobachtet und strenger Inspektion unterworfen fühlen! Auch wenn Yzibao spürte, dass der nächste Schub sich näherte, zwang er sich wieder auf die Beine, um alle notwendigen Vorkehrungen zu erledigen, dann kroch er zu O-Batyr unter die Decken und seufzte leise über die Waghalsigkeit ihres Unterfangens. *~~~+~~~* Es war mehr Zeit verstrichen, als O-Batyr geschätzt hatte. Zumindest die Daimonenkäfer erinnerten ihn mit höflicher Penetranz daran, dass ihre regelmäßige Mahlzeit sich nicht unerheblich verspätet hatte. Aber ihm selbst ging es wieder sehr viel besser, vor allem, nachdem er nicht nur Flüssignahrung zu sich genommen, sondern richtig gespeist hatte. Die Zwangspause verhalf seinem Körper zur notwendigen Rekonvaleszenz. Studierte man die ohne Spiegel erkennbaren Spuren von Fangzähnen und Fingernägeln, konnte er sich definitiv auf der Erfolgsspur vermuten. Nachdem O-Batyr sämtliche Haushaltsangelegenheiten erledigt hatte, ließ er sich wieder neben Yzibao nieder. Der hatte ihm tatsächlich Maunz als Wachposten abgetreten, was ihn rührte, auch wenn die grünen Glasaugen ihn gewohnt streng maßen. Behutsam schlug er die verwirrten Decken zurück, hob die Gliedmaßen nacheinander an, sie mit kaltem Wasser abzutupfen. Endlich klappte Yzibao die Lider auf Halbmast, blinzelte, noch in der Orientierungsphase. "Ich bin nicht tot", verkündete O-Batyr schmunzelnd eine nach seinem Empfinden durchaus positive Botschaft. "Kinder und Narren", krächzte Yzibao heiser, rieb sich mit den Fäusten die Augen. O-Batyr beugte sich herunter, fädelte die Arme unter dessen Achseln und richtete ihn in eine sitzende Position auf. Yzibao stöhnte leise. "Mir wird schon wieder heiß", murmelte er, hustete dann. Er nahm den aufmerksam gereichten Becher Ambrosia und knurrte, "langsam kann ich das Zeug nicht mehr sehen! Ach du Schande!" Der Malabsorbo schenkte ihm einen prüfenden Blick. Yzibao zog eine grimmige Grimasse. "Sieh dir meine Nägel an! Grauenvoll! So kann ich nicht mehr vor die Tür gehen!", beklagte sich Yzibao empört, wechselte den Becher von rechts auf links und umgekehrt. "Ich kann mich darum kümmern?", bot O-Batyr höflich an. Ihn traf ein mehr als skeptischer Blick aus den smaragdgrünen Katzenaugen. "Ich will dir ja nicht zu nahe treten", schnaubte Yzibao in GENAU dieser Absicht, "aber was verstehst du von Nagelpflege?" O-Batyr lächelte aufreizend. "Feilen, lackieren, so schwer kann das schon nicht sein", erwiderte er die Provokation selbstsicher. Der Baobhan-Sith-Daimon schnalzte mit der Zungenspitze. "Danke, aber nein, danke! Ich mache das lieber selbst!", verweigerte er O-Batyr den Vertrauensbeweis, der ihn immer noch aufmerksam studierte. Yzibao weigerte sich, dem Blick auszuweichen, ganz gleich, wie lange sich das Schweigen auch hinzog! "Wie fühlst du dich?", O-Batyrs tiefe Stimme klang sachlich, ruhig, nicht mehr so herausfordernd wie zuvor. Eigentlich eine Einladung, ein paar Gemeinheiten zurückzufeuern, wo sich schon eine offene Flanke bot, doch Yzibao verspürte dazu nicht die geringste Veranlassung, was ihn eigentlich hätte beunruhigen sollen! Er seufzte leise, senkte den Kopf, zupfte sich eine Decke zurecht. "Ich weiß es nicht", bekannte er auf die unterschwellige Frage, "ich spüre die nächste Fieberwelle. Vielleicht kann man es nicht rückgängig machen." O-Batyrs kräftige Hand liebkoste seinen zerzausten Schopf, dann wanderte sie in seinen Nacken, damit seine Stirn geküsst werden konnte. "Gib uns mehr Zeit", warb der Malabsorbo vertraulich. Yzibao zuckte unbehaglich mit den Schultern. "Du bist es doch, der es übertrieben hat!", murmelte er, kratzte am Lack seines Daumennagels. O-Batyr küsste ihn auf die Schläfe. "Ja, das war keine Glanzleistung", gestand der Malabsorbo freimütig ein, "ich habe mich hinreißen lassen." Was Yzibao veranlasste, den Blick wieder zu heben, die tiefschwarzen Augen zu studieren. "Warum schaust du mich so an?", wisperte er schließlich leise. An seiner Seite, in vertrauter Nähe, huschte ein verlegenes Lächeln über O-Batyrs durchaus zerknitterte Miene. Er verkürzte die Distanz und raunte in Yzibaos spitzes Ohr, "weil ich dich begehre, nicht nur wegen der Entgiftung." Unwillkürlich stieg Yzibao das Blut in die Wangen, jagte eine Hitzewelle durch seinen Körper, die noch nicht mit dem nächsten Fieberschub in Zusammenhang stand. Was sollte er bloß darauf antworten?! O-Batyr lehnte die Stirn an seine Schläfe. "Ich habe das Konzept zwar verstanden, aber nie begriffen", flüsterte er, "doch nun muss ich gestehen: ich liebe dich. Keine andere Diagnose drängt sich auf." Yzibao ließ seine Hände umfangen. "Schwingst immer geschraubte Reden, wenn du in der Klemme steckst!", antwortete er hilflos. Liebe kam bei Baobhan-Sith-Daimonen nicht vor. Wenn er selbst einschätzen sollte, wie es sich mit O-Batyr verhielt, dann wusste er sich keine simple Replik. Er richtete sich auf, sah dem Malabsorbo ins Gesicht. Von der gewohnten Selbstgewissheit dort keine Spur. Nein, sie waren beide verunsichert, was jedoch keine Ausrede darstellte, sich vor Entscheidungen zu drücken oder verschreckt wie das Kaninchen vor der Schlange zu verharren! "Schätze, wir raufen uns zusammen", Yzibao lächelte selbstironisch, "finden heraus, wie's weitergeht." Nun, eine gewisse Vorstellung von der unmittelbaren Zukunft hatten sie beide, dank der vergangenen Zeit. Für Yzibao gab es keinen Anlass, sich O-Batyr zu verweigern, denn immerhin, das konnte er nicht leugnen, selbst wenn das Fieber kam, fühlte er sich noch euphorisch gut nach dem Sex! *~~~+~~~* "Ich finde, ich bin ganz anstellig", testierte O-Batyr sich selbst, während er Yzibao feucht abrieb. Der inspizierte mit grimmiger Resignation seine gefeilten und neu lackierten Nägel. "Da hat dir bestimmt jemand geholfen!", vermutete der Baobhan-Sith-Daimon im Rückzugsgefecht. Schließlich wirkte der Malabsorbo nicht wie jemand, der sich um solche Details der feinen Selbstdarstellung kümmerte! "Ich habe mir Ratschläge erbeten", bestätigte O-Batyr ungeniert. Unkenntnis konnte man nicht als Ausrede gelten lassen, befand er. Zudem sollte sich eine derartige Dienstleistung mit ein wenig Geschick auch meistern lassen, wenn man sich darum bemühte. Yzibao seufzte und rappelte sich auf. "Na schön, es ist gar nicht übel", bekannte er widerwillig. O-Batyr reichte ihm den gewohnten Becher an. So langsam hing Yzibao der Ambrosia-Trunk zum Halse heraus, ganz gleich, wie praktisch und nahrhaft dieser auch war! Nachdem O-Batyr den geleerten Becher ausgespült hatte und zu ihm zurückgekehrt war, packte Yzibao den Saum der schlichten Hemdbluse. Er zupfte sie über das gekämmte Haupt, dessen Schädelseiten gestutzt worden waren. Der Malabsorbo erhob keinen Protest, sondern ließ sich kommentarlos inspizieren. "Nur noch zwei Bisswunden", stellte Yzibao schließlich fest, von den gewohnten Kratzern abgesehen, die sich auch reduziert hatten. Möglicherweise sollte er zukünftig seine Nägel kürzer getrimmt halten? O-Batyr betrachtete ihn ruhig, was Yzibao zu einem Schnauben veranlasste. "Jetzt denkst du Held, dass wir es beinahe geschafft haben, wie?", grummelte er, "aber MÖGLICHERWEISE schmeckst du mir auch einfach nicht mehr, weil du so viel Vampirgift intus hast!" Auch wenn er selbst an diese Hypothese nicht so recht glaubte. "Sollte ich dann nicht auch einen gewissen Blutdurst verspüren?", konterte O-Batyr gelassen. Mies, ihm hier mit vernünftigen Argumenten zu kommen! Yzibao gab sich betont verdrießlich, "ist dir wenigstens ordentlich schlecht? Übler Geschmack im Mund?", markierte er gehässige Hoffnung. O-Batyr lächelte amüsiert, das Manöver selbstredend durchschaut. "Nein, ich fühle mich gut und gewappnet", nahm er jedwede Brise aus den Pseudo-Segeln. Der Baobhan-Sith-Daimon bemühte ein Schnauben, lupfte die Arme knapp und ließ sie dann, Frustration vorgebend, auf die Decken und Kissen sacken. "Na schön, schon gut! Es könnte ein Quäntchen Hoffnung bestehen, dass dein total waghalsiger Plan funktioniert!", gestand er ein. "Das glaube ich auch", raunte O-Batyr, begab sich auf alle Viere, Yzibao wie ein Raubtier belauernd. Der funkelte herausfordernd zurück, zuckte nicht mal mit der Wimper, obwohl der Malabsorbo über ihm kauerte, ihre Nasenspitzen nur einen kurzen Stüber getrennt. "Aber danach will ich endlich was Anständiges essen!", forderte er schließlich, das spitze Kinn reckend. "Versprochen", wisperte O-Batyr prompt. Wenn er Yzibao nach allen Regeln der Kunst vernaschen durfte, war das nur gerecht! *~~~+~~~* Man musste nicht nachdenken, genug zu tun, zu fühlen, auszukosten bis zur Neige, gab es schließlich. Aber das Hirn konnte Pausen offenkundig nicht leiden und ließ sich seine Rotation der Rädchen nicht nehmen! Weshalb Yzibao, obwohl bestimmt zu 99% anderweitig sehr heftig und leidenschaftlich engagiert, die Feststellung ungefragt behelligte: es ging längst nicht mehr um die Entgiftung. Sie fielen, in unterschiedlichen Graden der eigenen Kräfte, schlichtweg aus Lust übereinander her. Schlimmer noch, mit aufreizenden Lauten spornte er O-Batyr sogar an! Sein Stolz jaulte zwar empört, wurde jedoch gnadenlos überstimmt. So, wie sich Yzibao hin und wieder ekstatisch im Tanz verlieren konnte, stürzte er sich auch in diese ganzkörperliche Erfahrung, sich mitreißen lassen, das Tempo anziehen, schneller, wilder, ungezügelter. Und er konnte O-Batyr alle Verantwortung überlassen, immerhin galt ja der Helden-Codex, nicht wahr? *~~~+~~~* O-Batyr rollte sich gerade noch zur Seite ab, notlandete auf einem Kissen. Sein Atem flog dahin, in seinem ganzen Leib prickelte es. Trotz einer nicht zu leugnenden Ermattung nach einem wiederholten Orgasmus fühlte er sich so quicklebendig und alert wie selten. In seinen Ohren klang noch Yzibaos Stöhnen und lustvolles Fauchen nach. Einander ungehemmt Vergnügen schenken zu können, das stellte eine Versuchung dar, die O-Batyr nicht abzuwehren vermochte. Vielmehr, das gestand er sich ehrlich ein, wollte er diese Freizeitbeschäftigung auf gar keinen Fall missen! Mit einem Ächzen drehte er sich auf die Seite, legte einen muskulösen Arm über den nackten Oberkörper des früheren Vampirs. Ein merklich rosiger Schimmer überhauchte die zarte Figur, ließ diesen viel lebendiger, nahbarer erscheinen als die frühere, marmorne Blässe. Yzibaos Kopf war auf die Seite gesunken, die feucht schimmernden Lippen noch leicht geöffnet. Wenn er sich einließ, dann ohne Scheuklappen oder Bremsvorrichtungen, was O-Batyr durchaus beeindruckte, seinen Respekt erlangte. Sanft strich er entflohene, weißblonde Strähnen aus dem dezent glühenden Gesicht. Man würde Knüppel einsetzen müssen, um den eigenen Anspruch zu verteidigen, schoss dem Malabsorbo durch den Kopf. Er lächelte versonnen, dann, sich seiner Verantwortung bewusst, stemmte er sich wieder auf die Ellenbogen, sortierte Decken, um Yzibao fürsorglich einzupacken. Noch einige Augenblicke länger studierte er stumm den süßen Schläfer, dann hieß es, das Versprechen einzulösen! *~~~+~~~* "Yzzie, wach auf, du machst die Käfer nervös." Mit einem grollenden Brummen signalisierte Yzibao, dass er die dunkle Stimme durchaus vernommen hatte. Musste er sich aber gleich erheben, wo er recht bequem lag, sein Körper sich warm, geschmeidig und aller Beschwerden ledig fühlte? Ein Kuss neckte seine Nasenspitze. "Hmmmjaja", grummelte Yzibao, rümpfte die Nasenspitze sportlich, betrieb Gesichtsgymnastik, bevor er die Lider hochklappte. Über ihm lehnte O-Batyr, sichtlich amüsiert über das Schauspiel. "Hilft gegen Falten", behauptete Yzibao entschieden, "hab ich was verpasst?" O-Batyr lachte leise, fasste ihn schwungvoll unter und setzte ihn auf. "Dein Magen knurrt so laut, dass deine fliegenden Freunde beunruhigt sind", wies er mit einem Lächeln auf die Käferwolke hin. Bevor Yzibao die Verantwortung von sich weisen konnte, lärmte seine Körpermitte erneut. "Oh", stellte er fest, klappte aber eilig den Mund zu, denn prompt registrierten die übrigen Sinne einen verführerischen Geruch, was vermehrt Speichel produzierte. Schmunzelnd rückte O-Batyr ein wenig beiseite, präsentierte eine Picknicktafel, die sich gebogen hätte, wäre sie nicht auf den Steinfliesen angerichtet. "Oooohhhh!", komplimentierte Yzibao ausschweifend, kam auf alle Viere, seine vollkommene Blöße ignorierend. Dann entsann er sich aber einer strengen Prägung zur Sittsamkeit. "Ich muss mich aber zuerst waschen!", konstatierte er verdrießlich. Der Malabsorbo zwinkerte. "Ich schlage vor, dass wir das einfach parallel in Angriff nehmen", er ließ Yzibao eine kleine Waschschüssel mit Lappen und Handtuch sehen. Verstohlen über die leckenden Mundwinkel mit dem Handrücken wischend nickte Yzibao, "diesen Vorschlag unterstütze ich uneingeschränkt. Guten Appetit!" Damit erkundete er begeistert das Angebot, gestattete O-Batyr aber beiläufig, nacheinander seine Glieder zu entführen, um sie abzureiben. Nachdem er wirklich so üppig und ausgiebig wie noch nie zuvor in seinem Leben getafelt hatte, wandte sich Yzibao dem Malabsorbo zu, mit strengem Blick. "Sag mal, Bati, woher hast du so viel Geld, mich so lange durchzufüttern?!" O-Batyr stutzte, lächelte dann. Einen Kosenamen hatte ihm noch niemand verliehen. "Tja, dein Misstrauen ist berechtigt", gab er sich jedoch neckisch, "Helden sind notorisch unfähig, mit Geld oder Schätzen umzugehen. Wie gewonnen, so zerronnen, meistens jedenfalls." Über den smaradgrünen Katzenaugen wölbten sich skeptisch die feinen Augenbrauen. Dass man sie überhaupt zu sehen bekam, lag an einer sehr aparten Zopffrisur, die sich O-Batyr zu flechten erdreistet hatte. "Die Käfer und ich haben uns zusammengerauft", löste O-Batyr das Rätsel, erhob sich und holte einen großen, geflochtenen Korb. Darin befanden sich Armbänder, Schleifen, Haarbänder, Borten und feine Kordeln, mit farbenprächtigen, aber schlichten Mustern, recht folkloristisch gehalten. "Sie lassen sich recht gut absetzen", O-Batyr ließ sich mit gekreuzten Beinen neben Yzibao nieder, "ich konnte auch Einiges eintauschen." Yzibao betrachtete die einzelnen Artikel eingehend. "Das hast du mit den Käfern hinbekommen?", versicherte er sich überrascht. Eigentlich waren die Daimonenkäfer auf ihn geprägt. Sie galten im Allgemeinen auch nicht als sonderlich intelligent. Dass sie sich auf O-Batyr einließen, von ihm anweisen, das verblüffte ihn durchaus. O-Batyr legte ihm einen muskulösen Arm um die nackten Schultern. "Nun, wir essen eben recht gern, da tun wir uns zusammen", scherzte er, platzierte einen Kuss auf Yzibaos Schläfe. "Außerdem", raunte er leise, "sind wir alle ganz vernarrt in dich." Prompt färbten sich Yzibaos Wangen ein wenig rosiger. Abrupt drehte er den Kopf und funkelte O-Batyr an. "Du versuchst, mich in Verlegenheit zu bringen! Unfair!", beschwerte er sich. "Revanchier dich einfach", konterte der Malabsorbo frech. Yzibao schmollte, angelte Maunz heran, den er knuddelte. "Jetzt, wo ich vom Essen müde bin?! Eine ganz Mieser-Molch-Taktik!", klagte er kindlich. O-Batyr lachte. "Nun, dann halt noch ein Nickerchen!", schlug er zärtlich vor, "wenn du wach bist, gehen wir ins Dampfbad, zu Manatee, ja?" Das war ein Vorschlag, den Yzibao durchaus gnädig positiv bescheiden konnte. *~~~+~~~* Die Entlohnung als "Übelenergie"-Detektor und -Vernichter war nicht gerade hoch, doch immerhin konnte man ja nach Herzenslust alles verzehren! Andererseits, wenn man wie O-Batyr selbst nicht von Energie lebte, reichte es gerade so hin, weshalb er sich auch stets anderweitig nützlich machte. Man tauschte Gefälligkeiten. Den Schlafplatz verdiente er sich regelmäßig damit, in dem Wabenbau nach oben zu klettern und schwindelfrei das Dach zu putzen sowie alles auf die Gefahren von herabstürzendem Gut zu überprüfen. Mal packte er mit an, mal putzte er. Daimonen benötigten in der Regel nicht sonderlich viel Geld in Münzen. Der Große M finanzierte die Leistungen für die Allgemeinheit weniger über Steuern als über seine Aktivitäten in der Menschenwelt. Lehrgänge, Kurse, Beratungen, Eigentum an Grundstücken und Firmen: immerhin, wer hat's erfunden? Jedenfalls nicht die Schweizer! O-Batyr erlöste einige Vorräte und Gefallen mit dem Inhalt des Korbes, besorgte Käferfutter. Dann, daran führte kein Weg vorbei, müsste er Yzibao wohl eingestehen, dass er kurzerhand in dessen Werkstatt/Höhle eingezogen war, auch wenn sich sein Besitz in eine schlichte Tasche stopfen ließ. Sein Blick blieb an einem Marktstand hängen. "Sei gegrüßt", initiierte er höflich ein Anbahnungsgespräch, "was möchtest du dafür haben?" *~~~+~~~* Yzibao kauerte, zur Abwechslung mal wieder bekleidet, vor einem kleinen Spiegel. Er schnitt Grimassen, doch so sehr er sich auch bemühte: die Fangzähne schnellten nicht hervor. Hatte O-Batyr recht? War er wirklich kein Baobhan-Sith-Daimon mehr? Er seufzte. Die Probe aufs Exempel wollte er nicht gerade dann absolvieren, wenn sie unter anderen Daimonen waren. Man konnte davon ausgehen, dass ahnungslose Zivilpersonen keinen Geschmack daran fanden, wenn in ihrer unmittelbaren Nähe ein spitzzahniges Individuum unkontrolliert Venen attackierte. Maunz saß neben ihm auf einem Kissen. "Du hast es auch gemerkt, oder?", vertraute sich Yzibao seinem geliebten Stofftier an, "dass er hier eingezogen ist." Immerhin kannte er selbst seine Höhle wie die eigene Westentasche. Dieser Umstand erfüllte ihn mit einem gewissen Kribbeln der Unruhe. Konnte das gutgehen? Überhaupt, wenn er kein Vampir mehr war, dann änderte sich sein Leben beträchtlich! Keine Angst mehr, vor die Tür zu gehen, nicht mehr ständig die Kapuze ins Gesicht gezogen, mit einem Tuchschal maskiert. Vielleicht konnte er sich sogar Grünstreifen, Bäumen und Hecken nähern, ohne befürchten zu müssen, dass man ihn zurückholte. Die plötzliche Freiheit ließ seinen Atem stocken. Und O-Batyr, Bati, würde da sein. Er schreckte auf, als die Pforte sich öffnete. Der Malabsorbo, ohne seinen Umhang, die Maske und das Schwertgehänge, schob sich mit einem merklich geleerten Korb hinein, dafür andere Güter transportierend. Wie immer hatten ihn die Daimonenkäfer ungeniert eingelassen. "Entschuldige, Yzzie, es hat ein wenig länger gedauert", lächelte O-Batyr aufmunternd. Yzibao nickte bloß, erhob sich, ging ihm entgegen, um einen Teil der Lasten zu übernehmen. "Mir ist aufgefallen", stellte er betont beiläufig fest, "dass du hier eingezogen bist." O-Batyr, der neben ihm Käferfutter aufteilte, hielt inne, wandte ihm den Kopf zu. "Das stimmt", gestand er ruhig ein, "ich möchte so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen." "Ganz schön selbstbewusst!", schnaubte Yzibao, bevor er sehr viel zögerlicher ergänzte, "glaubst du nicht, dass du es mal über haben wirst?" O-Batyr lächelte wieder, die tiefschwarzen Augen unter den markanten Augenbrauen glitzerten agitiert. "Auf keinen Fall", versicherte er in felsenfester Überzeugung, "lass mich Dein sein, Yzibao." Verlegen mit den Schultern rollend grummelte der vor sich hin. "Na ja, wenn dich sonst keiner reklamiert, kann ich das schon übernehmen", gab er sich widerwillig kulant, "immerhin bist du recht praktisch, so, im Hausgebrauch." Bevor er sich weiter über O-Batyrs gerade nützliche Fertigkeiten auslassen konnte, hatte der ihn um die Hüften gefasst und wild im Kreis gewirbelt. Einen Absturz zu verhindern schlang Yzibao eilig die dünnen Arme um O-Batyrs Nacken, kreischte vor Vergnügen. O-Batyr reduzierte langsam das Kreiseln, schmunzelte in die mutwillig funkelnden, smaragdgrünen Katzenaugen. Er legte die Stirn an Yzibaos, genoss die rosige Färbung der hellen Haut, das Wehen der fliehenden Atemzüge. "Ich liebe dich, Yzzie", raunte er kehlig, sich deutlich bewusst, dass er damit noch ein tieferes Glühen auf Yzibaos Wangen erzeugte. Yzibao schmiegte das Gesicht prompt in seine Halsbeuge. Sie hielten einander eine Weile eng umschlungen, bemerkten, dass ihre Herzen den gleichen Rhythmus fanden. "Ich habe etwas für dich", kündigte O-Batyr schließlich rau an. So veranlasste er Yzibao, den Kopf zu heben, ihn anzusehen, die Umarmung zu lockern. O-Batyr streifte sanft die dünnen Arme von seinen Schultern, nahm Yzibaos Rechte und schob einen schmalen, fein gedrechselten, polierten Ring aus Wurzelholz auf einen langen Finger. "Sei du auch Mein", begleitete er seine Geste, von der eigenen Nervosität überrascht. Yzibao studierte den Reif. "So ein kostbares Holz!", wisperte er beeindruckt, "wie hast du...?" Dann hob er den Kopf, wandte sich der Garderobe zu. Wirkte das Schwertgehänge nicht seltsam leicht?! Fassungslos blickte er in O-Batyrs ruhiges Gesicht, "aber dein Schwert?!" "Ich brauche es nicht. Aber dich, dich brauche ich." Yzibao nahm O-Batyrs Hände, drückte sie fest, schluckte wiederholt, reckte dann kämpferisch das Kinn. "Also schön!", er räusperte sich, "fein. Du willst Mein sein, dann halt jetzt still!" Die Katzenaugen schließend summte er leise, eine sehr komplizierte Melodie. Rasch umschwirrten Daimonenkäfer O-Batyrs Handgelenke, woben zwei Bänder mit komplexen Mustern in matt schimmerndem Schwarz, so eng, dass man sie nicht lösen konnte, ohne sie zu zerstören. O-Batyr konnte die Erschöpfung in den feinen Linien erkennen, die Yzibaos Gesicht zeichneten. "Danke schön", flüsterte er sanft, küsste Yzibao zärtlich auf die Lippen. Yzibao lächelte verlegen. "Gehen wir jetzt ins Dampfbad?", lenkte er scheu ab, "du hast Manatee doch bestimmt mit einem maßgeschneiderten Artikel von mir geködert, oder?" Der Malabsorbo lachte anerkennend, hauchte einen Kuss auf Yzibaos Handrücken. "Du kennst mich wirklich gut", zwinkerte er, "nun, wollen wir?" Yzibao wollte, selbstverständlich. Danach beabsichtigte er, O-Batyrs Fertigkeiten zwischen Kissen und Decken erneut zu erproben! *~~~+~~~* Kapitel 17 Tybalt verstaute die Kalebassen zwischen den Ästen in "seinem" Baum, atmete erleichtert auf. Ohne großes Aufsehen hatten sie es zurück geschafft, mit vielen neuen Bögen Papier, komplett verstrickten Wollvorräten und genug Färbematerial zum Experimentieren. Xaruli wartete in der Nähe, so, als hätte er sich nie verändert, sah man von dem fehlenden Kittel ab, für den Tybalt sich noch eine Alternative oder eine plausible Erklärung einfallen lassen musste. Er lächelte erfreut zum Engel hinüber, hängte sich wie gewohnt seinen Beutel und das Transportrohr um. Der alte Faunus würde bestimmt aus dem Häuschen sein, sie wiederzusehen. Wenn man dann über Tauschgüter auf dem Markt verhandelte, konnte man möglicherweise Honigbonbons zur Sprache bringen. Die Flammenwerferei musste ja nicht gleich aufs Tapet! *~~~+~~~* Yzibao schob die Rechte in O-Batyrs Linke. Sie standen an einer Lichtung, Wind raschelte durch Blätter und Halme. O-Batyrs Daumen liebkoste kreisend Yzibaos Handrücken. Er spürte die nervöse Anspannung seines Gefährten, dann hörte er sie, wie ein helles Raunen, Schemen, die sich im Schatten der Bäume bewegten. Yzibao atmete tief durch. "Ich bin keiner mehr von euch", verkündete er mit zitternder Stimme, räusperte sich, "der Pakt ist aufgelöst." Ein schrilles Zischen erfüllte schmerzhaft ihre Trommelfelle. Unvermittelt materialisierte sich eine vage Gestalt vor Yzibao, packte ihn an der Kehle. O-Batyr knurrte, hob die rechte Faust, doch Yzibao hob die freie Linke gebieterisch. Er blickte direkt in die von Tüchern verhüllte Miene. "Lass mich gehen", wisperte er, "bitte." Ein Zischen, dann saß ein hölzerner Dolch an O-Batyrs Hals, poliert als scharfe Klinge. "Nein!", plädierte Yzibao gequält, "er trägt keine Schuld! Du weißt, dass ich euch fremd geblieben bin! Ich bin kein Baobhan-Sith!" "Komm nicht mehr her", blitzartig verschwanden nicht nur Dolch, sondern auch der verhüllte Schemen. Yzibao sackten vor Erleichterung die Beine weg. O-Batyr ging in die Hocke, hob ihn auf die eigenen Arme. "Gehen wir", bestimmte er, küsste Yzibaos fiebrige Stirn. Yzibao weinte leise, nickte hastig, schmiegte sich trostsuchend an ihn. Irgendwann würde er O-Batyr erzählen, was seine "Ziehmutter" ihm offenbart hatte: er lebte in Freiheit um den Preis ihres Lebens, weil sie nicht fähig war, Blutspender anzulocken und keine Tochter oder Enkelin hatte, die sie versorgen würde. *~~~+~~~* Tybalt unterdrückte einen Fluch. Wieso mussten die sich gerade jetzt hier treffen?! Auf keinen Fall wollte er mit Xaruli in irgendwelche Auseinandersetzungen geraten, vor allem nicht mit dubiosen Gestalten, die sich verhüllten und wie Sirenen sangen. Von Baobhan-Sith-Daimonen hatte er gehört, wenn auch nicht allzu viel. Grundsätzlich riet man jedoch, sie weiträumig zu vermeiden, was allerdings nicht gelang, wenn diese verwünschten Schemen geradewegs in ihre Richtung huschten! Er packte Xarulis Hand, denn es hatte keinen Sinn, sich in ein Gebüsch zu ducken, wie sie es reflexartig getan hatten. Naturwesen SPÜRTEN Anwesenheiten. "Lauf!", forderte er den Engel auf und zerrte ihn im Zickzack über Wurzel und Halm, nicht schnell genug, denn unvermittelt prallte er gegen eine recht robuste Erscheinung. "Was haben wir da?", die Stimme gurrte, klang mädchenhaft, doch in Tybalts Kopf schrillten Alarmglocken. "Wir haben nichts gesehen und gehört!", sprudelte er hastig heraus, schob sich vor Xaruli. Nicht mal Gesichtszüge ließen sich erkennen zwischen Stoffbahnen, dann flog Tybalt schneller als ein Blinzeln hart durch die Luft. Die Landung presste ihm den Atem aus dem Leib, jagte einen klingelnden Schmerz durch seine Knochen. "Ein schönes Gesicht", konstatierte eine Stimme geschäftsmäßig, "du gehörst jetzt mir." "Nein!", begehrte Tybalt auf, "bitte, lass Xaruli in Ruhe! Er will kein Blutsauger sein!" Obwohl ihn alles schmerzte, kam die Dryade schwankend wieder hoch, den stummen Gefährten zu verteidigen. Ein hölzerner Dolch saß schneller als jeder Protest an seiner Kehle. "Schweig, du dämlicher Bengel!" Tybalt ballte die Fäuste. Ihm war übel vor Angst und abklingenden Schmerzen, aber er wollte Xaruli nicht diesem Schemen ohne Gesicht überlassen. "Du verstehst das nicht!", appellierte er an die Vernunft, "Xaruli ist ein Engel..." Bevor der Dolch ihm die Halsader durchtrennen konnte, fauchte Xarulis Lohe wie ein Fanal meterweit über die Köpfe. *~~~+~~~* Die Flamme erhitzte die sie umgehende Luft derartig, dass diese flimmerte und flirrte. Tybalt verschwendete keine Zeit. Er roch den Brandgeruch, hörte ein Unheil verheißendes Knacken und Knistern. Ihm stellten sich die Haare am gesamten Leib auf, fügten dem Orchester seines Übelbefindens noch eine weitere, unerwünschte Komponente hinzu. Dennoch raste er, Xaruli am Handgelenk mit sich zerrend, in heilloser Flucht davon, preschte über Trampelpfade und durch schmale Lücken im Bewuchs. Sein Magen rebellierte, seine Lungen protestierten, galliger Geschmack kleidete seine Mundhöhle aus, sein Kopf allerdings arbeitete adrenalinbesoffen auf Hochtouren. Keine Waldbewohnenden goutierten Feuer. SIE stanken nach Feuer, hatten vielleicht Rußanhaftungen am Leib. Man wäre nicht geneigt, ZUERST Fragen zu stellen, deshalb mussten sie raus, raus aus dem Wald, sich verstecken, dort, wo man sie nicht so leicht aufstöbern konnte, ihnen nicht folgte. In die Stadt! *~~~+~~~* Nach einer verstohlenen Umrundung der halben Stadt, sicher auf Steinen, geduckt, entschied Tybalt in der hereinbrechenden Dunkelheit, dass sie es wagen konnten, sich vorsichtig auf weniger belebten Gassen in das unbekannte Terrain zu wagen. Zur Erleichterung der Dryade schenkte ihnen niemand besondere Beachtung, auch wenn Xaruli die einzige Gestalt in leuchtendem Orange mit einen Doppelschwingenpaar war. Andererseits zeigte sich hier auch schon die Welten übergreifende Weisheit: Stadtluft macht frei. Man hatte sich schlichtweg daran gewöhnt, dass die Welt von sehr unterschiedlichen Wesen bevölkert war. Begegnete man einander höflich, mit Respekt und der Anerkennung des jeweiligen Existenzrechts, gab es keinen Grund, sich anzufeinden. Falls dieser gesellschaftliche Grundkonsens temporär in Vergessenheit geriet, konnten Mee-Poos oder die P.U.D.E.L. nachhaltig daran erinnern. Tybalt führte Xaruli an der Hand, verzichtete darauf, sich damit selbst zu frustrieren, in dessen mangelnder Mimik irgendwas erkennen zu wollen. Für ihn stand fest, dass die Katze aus dem Sack war. In Windeseile (oder Rauchfahnen-Tempo) würde sich verbreitet haben, welches Talent der Engel offenbart hatte, wer ihn begleitete. Tybalt unterdrückte ein entmutigendes Seufzen. Er konnte nur hoffen, dass kein großer Schaden eingetreten war. Selbstverständlich traf, zumindest aus seiner Sicht, Xaruli keine Schuld. Hätte dieser dämliche Baobhan-Sith-Vampir nicht darauf beharrt, ausgerechnet einen Engel rekrutieren zu wollen, wäre die Eskalation ausgeblieben! Außerdem konnte er Xaruli wohl kaum vorhalten, dass der ihn beschützen wollte, so, wie er zuerst für seinen Gefährten in die Bresche gesprungen war. "Wir suchen uns zunächst mal einen Schlafplatz", flüsterte er zu Xaruli hoch. Als Dryade hatte er noch nie zuvor den Wald verlassen. Selbst wenn er artig Faunus' Erzählungen und Berichten gelauscht hatte, zog er doch in Zweifel, sich fugenlos hier anpassen zu können. Dazu gab es viel zu viel Unbekanntes zu sehen, Fehler zu machen, aufzufallen! Er musste sich überlegen, wie er sie über Wasser halten konnte. Bis auf seine gewohnten Arbeitsmaterialien und eine kleine Kalebasse hatten sie nichts dabei. Xarulis Strickwerke hingen noch in "seinem" Baum, darauf wartend, dass Faunus sie am Markt feilbot. Genau! Faunus würde bestimmt rasch auf den Markt kommen und dann könnte man alles klarstellen! Diese erfreuliche Aussicht hob seine Laune beträchtlich. Xaruli blieb stehen, starrte in den sternenübersäten Himmel. "Nicht hier!", beschwor Tybalt ihn aufgeschreckt. Wollte der Engel, erneut übermannt von seinen traurigen Erinnerungen, etwa wieder eine Lohe in den Himmel sengen?! Tybalt konnte durchaus nachvollziehen, warum man der nächtlichen Kälte und Dunkelheit metaphorisch gesehen heimleuchten wollte, aber just in diesem Moment und an diesem Ort schien das keine gute Idee zu sein! Eilig blickte er sich selbst um, wies dann auf die überkrängende Felswand. Lichter erhellten sie, sodass er annahm, es handle sich um genutzte Höhlen und Behausungen. "Suchen wir uns da oben ein Plätzchen, ja? In Ordnung?", drängte er Xaruli zur Zustimmung, selbst wenn ihm recht flau bei dem Gedanken wurde, nach diesem aufreibenden Tag auch noch einen sehr anspruchsvollen Aufstieg bewältigen zu müssen. *~~~+~~~* Strix knuddelte das Weihnachtsbaumkissen und grübelte über seine Zukunft nach. Er musste wieder raus aus der Höhle, aus Tankreds Nest, darüber gab es Einvernehmen. Aber was sollte er anfangen? Energiesensitive Daimonen würden ihm jedenfalls weiträumig aus dem Weg gehen, so viel stand auch schon fest. Welche Fähigkeiten sollte er einbringen? Bücher in der Menschenwelt zu lieben, in ihren großartigen, prächtigen, bunten Tempeln, das half nicht gerade beim Lebensunterhalt auf dieser Seite der Demarkationslinie, vor allem, wenn man aufgrund eines sehr aufsehenerregenden Sündenfalls nie mehr den Zaun überklimmen konnte. Selbstverständlich könnte er sich Bücher über die Kontrebandeure beschaffen lassen, schnell lesen, das ließ sich für ihn gut an. Doch wie sollte er sie entlohnen? Strix grummelte, unzufrieden mit sich selbst. In diesem Moment hörte er ungewohnte Geräusche. Es klang nicht nach Tankred, doch auf dieser Ebene lebten sie quasi allein! Strix nahm eine Lampe mit aufgeregten Leuchtkäfern, legte sich das eigene Cape um und wagte sich hinaus. "Hallo?", erkundigte er sich, die Augen hinter den großen, runden Brillengläsern angestrengt in die Dunkelheit spähend. "Oh, Entschuldigung!", haspelte eine kleine Person hinter dem knorrigen Gestrüpp, das die Bruchkante markierte, "wir wollen bloß hier übernachten", dabei klapperten hörbar Zähne. "Wer ist wir...oh...", registrierte er den zweiten Schattenwurf, hob die Laterne höher. "Du liebe Güte!", stellte der Dämon verblüfft fest, "ein Engel mit vier Schwingen?" Strix traf eine spontane Entscheidung, denn seine Neugierde überwog jede Besorgnis, "kommt rein, ja? Ich bin Strix." *~~~+~~~* Tybalt atmete erleichtert auf. Wie warm es in der Höhle war! Der nette Daimon lieh ihm sogar sein Cape! "Eine Dryade, oder?", die großen, runden Brillengläser blitzten, frisch poliert, "das ist aber selten! In der Stadt, meine ich." Man musste eilig improvisieren. "Wir sind gerade erst angekommen", plapperte Tybalt hastig, "ich heiße Tybalt und das ist Xaruli. Er kann nicht sprechen, aber er hört und versteht alles." Der Nachsatz diente der Vermeidung von Missverständnissen, denn manche glaubten, wer nicht der Sprache mächtig sei, müsse zwingend taub sein und deshalb angebrüllt werden. "Ein Engel ohne Engelszunge? Kurios!", die Brille wurde justiert, dann Wasser und für Tybalt sogar eine Wurzelsuppe offeriert. Sehr dankbar leerte er die Schale. "Ich bin überrascht, dass ihr es hier hoch geschafft habt. Ist ziemlich anstrengend", Strix schmuste mit einem der schönsten Kissen, das Tybalt je gesehen hatte. "Wir wollen nicht stören", beschwichtigte die Dryade eilig, "es schien bloß so, als würden wir hier oben niemandem den Platz wegnehmen." "Oh, tut ihr auch nicht, allerdings sind im Moment die Höhlen alle besetzt", tat der geflügelte Daimon kund, wies mit dem spitzen Kinn neugierig auf Tybalts Transportrohr, "ist das für deine Profession?" Erleichtert, dass das kritische Thema ihrer Übernachtung zunächst aus dem Fokus geriet, präsentierte Tybalt seine Zeichnungen. "Wunderbar!", lobte man interessiert, "die Farben sind auch prächtig getroffen." "Wir wollen unseren Lebensunterhalt so bestreiten, ich zeichne und Xaruli strickt, also, er kreiert Kleidungsstücke aus Wolle!", bemühte sich Tybalt, ein sehr erwachsenes und überlegtes Konzept zu transportieren. Keinesfalls hielt er es für hilfreich, als halbwüchsig entdeckt zu werden oder als flüchtiger Begleiter eines fliegenden Flammenwerfers. "Es gibt verschiedene Märkte", nickte Strix, "da könnt ihr es bestimmt versuchen." Tybalt drückte Xaruli verstohlen die Hand, auch wenn er nicht sicher war, dass dieser die Ermunterung der Geste als solche begriff oder benötigte. Dann begann er, mit ihrem Gastgeber über Bäume zu plaudern, offenkundig ein großes Interesse des Käuzchens. *~~~+~~~* Tankred staunte nicht schlecht, als er seine Höhle betrat, sich von Umhang, Maske und Rüstung befreite. Neben seinem Nest saß eine große, orangefarbene Gestalt mit imponierenden Flügeln. Daneben lag, in das Cape seines Käuzchens gehüllt, eine viel kleinere Person. Sein Käuzchen wiederum schmiegte sich gewohnt an das geliebte Kissen und vertraute ihm leise an, dass die beiden Neuankömmlinge bloß für die Nacht Unterschlupf benötigten. Man habe sich ganz prächtig unterhalten! Als Gegenleistung werde die kleine Dryade ein Bild von ihnen zeichnen, das daure gar nicht lange und fordere kein ewiges Stillsitzen. Der Falkendaimon unterdrückte nachsichtig jede, durchaus angebrachte Kritik am Großmut seines Gefährten. Das Käuzchen schien glücklich, die beiden Fremden, zumindest der leise schnorksende Knabe, ungefährlich. Wie gewohnt breitete er eine Schwinge über ihrem Nest aus und bekuschelte sein Käuzchen vertraut. Doch, das Leben zu zweit, das behagte ihm wirklich sehr! *~~~+~~~* Tybalt, der sogar noch ein Frühstück bekam, was er für ausgesprochen großzügig hielt, begab sich am Morgen flink an das zugesagte Doppelporträt. Glücklicherweise fiel es ihm sehr leicht, sich Charakteristika einzuprägen, sodass der Falkendaimon pünktlich zu seinem Tagwerk aufbrechen konnte. Dessen Ausrüstung als Malabsorbo erforderte weitere Erläuterungen, denen die Dryade verblüfft lauschte. Man konnte allein von Energieabstrahlung leben? In der Menschenwelt?! Potzblitz, wer hätte das gedacht! Er bat Xaruli, der sich mustergültig verhielt, indem er gar nichts unternahm, oben auf dem Plateau auf ihn zu warten. Zu zweit wären sie bestimmt zu auffällig, und Tybalt wollte ein "flaches Profil" wahren, bis er herausgefunden hatte, wie schlimm es um sie bestellt war. Aber zunächst galt es auch, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, weshalb es notwendig wurde, die Märkte zu erkunden, vielleicht sogar auf Faunus zu stoßen! Und dabei auf Gerüchte zu achten, die den Nachgang ihrer spektakulären Flucht bildeten. *~~~+~~~* Xaruli konnte sich nicht erinnern, jemals einem so gesprächigen Wesen begegnet zu sein. Der Daimon, der sich Strix nannte, plauderte mit ihm oder führte Selbstgespräche, denn Xaruli konnte nicht antworten. Offenkundig jedoch stellte er ein Objekt großen Interesses dar. In der Stadt gab es viele Engel, wie der Daimon ihm berichtete. Die meisten, einer sehr viel jüngeren Generation angehörend, in humanoider Erscheinung, wiesen keine Flügel mehr auf, konnten jedoch sprechen und gewöhnten sich rasch ein. Es gab sogar hartnäckige Gerüchte, dass einige Individuen wurden, Gefühle entwickelten, sogar Leidenschaften! Warum jedoch fehlte ihm, dem so üppig mit Schwingen ausgestatteten, die bekannte Engelszunge? Konnte er sich an etwas erinnern? Was war seine Aufgabe gewesen? Mochte er das Stricken? Etwas methodisch konstruieren? Wie hatte es ihm im Wald zugesagt? Mochte er lieber Mischwälder? Oder Nadelwälder? Genügten ihm auch Sonnenlicht und Wasser? Ah, habe er vielleicht Lust, Lesen und Schreiben zu lernen? Xaruli betrachtete die kleine Tafel, die Kreidezeichen, aber so sehr er sich darum bemühte, er konnte kein einziges Schriftzeichen aufmalen. Ganz gleich, wie intensiv er die Vorgaben studierte: sie schienen zu verlaufen, sich zu verändern, sich ihm zu entziehen. Der Daimon runzelte die Stirn. Die Augen hinter den großen, runden Brillengläsern zogen sich zu Schlitzen zusammen. "Das ist ein äußerst erstaunliches Phänomen!", bekundete Strix schließlich nachdenklich, dann, als wolle er ihn aufmuntern, kratzte er geschickt in eine flache Steintafel Zeichen. "Ein Namensschild", überreichte er lächelnd das Präsent, "du kannst dich damit selbst vorstellen. Bei den Menschen nennt man es Visitenkarte." Xaruli nahm die kleine Tafel entgegen, doch nicht einmal seinen Namen konnte er entziffern. *~~~+~~~* Tybalt spulte, nach eigenem Empfinden, auf dem recht harten Boden der weitläufigen Metropole, einen ganzen Marathon ab. Um Unauffälligkeit bemüht stromerte er durch die Gassen und Straßen, blickte sich auf den Plätzen um. Fast überall wurden sie genutzt, um dort mobile Stände vorzuhalten, manchmal auch nur Körbchen oder eine Decke. Und was es alles zu bestaunen gab, von den Händlern und Passanten ganz zu schweigen! Der Dryade wurde mehr als bewusst, dass ein Leben im Wald, mochte dieser auch noch so vielfältig sein, nur eine winzige Schnittmenge mit dem Panoptikum hier bot. Ein wenig einschüchternd nahm sich das zweifelsohne aus, aber Aufgeben kam nicht in Frage! Überall spähte er nach einer Offerte von Holzartikeln oder Strickwaren, suchte den alten Walddaimon oder erkundigte sich wagemutig nach derartigen Artikeln. Direkt nach Faunus zu fragen, das verkniff er sich, denn vielleicht hätte es ja unerwünschtes Aufsehen erregt! Gegen Mittag, schon hungrig, musste Tybalt sich den Tatsachen stellen: herumlaufen genügte nicht, wenn der Magen knurrte. Auch ohne Faunus aufzustöbern hieß es, sich über Wasser zu halten! Was also tun? Ob er sich irgendwo in ein Eckchen stellen konnte, einige Zeichnungen ausbreiten, um so Kundschaft zu interessieren? Er schob sich, um der sengenden Hitze zu entwischen, die ihm nicht sonderlich gut zu bekommen schien, urteilte man nach den Kopfschmerzen, unter ein Sonnensegel. "Ooooohhhh!", staunte er hingerissen, denn unversehens strahlten ihn wundervolle Farben an, durchscheinend, prächtig! Die Hände rasch auf dem Rücken verschränkend, um nicht in Versuchung zu geraten, eines der kleinen Wunderwerke zu berühren, ging er in die Hocke. "Wunderschön!", seufzte er verzaubert und fragte sich, wie es gelang, diese Farben in einem festen Werkstoff einzufangen. Auch begriff er nicht ganz, welchem Zweck einige der Objekte dienten. "Möchtest du eine Lampe kaufen?", kollerte eine sehr tiefe, raue Stimme erheblich über ihm. Erschrocken fuhr Tybalt zusammen, verlor das Gleichgewicht und plumpste auf seine spärliche Kehrseite. "Oh, Verzeihung, ich wollte dir keine Angst einjagen!", bekundete die raue Stimme Reue. Die Dryade blickte auf und starrte auf ein großflächiges, wie versteinert wirkendes Ponem. Der gewaltige Daimon bemühte sich um ein Lächeln. Es wirkte scheu und verlegen, keineswegs wie etwas, was man bei einer derart imposanten Erscheinung vermuten würde. "Ich war nur überrascht!", hastig kam Tybalt auf die Beine, "ist das wirklich eine Lampe? Aber, wie funktioniert sie?" Der Steindaimon räusperte sich, bevor er mit den gewaltigen Händen die fragilen Gebilde behutsam anhob und sie Tybalt erklärte. "Sie sind alle so schön", murmelte die Dryade bewundernd, "woraus sind sie gemacht? Es sieht aus wie erstarrtes Licht." Man schwieg einen Augenblick, durchaus überrascht. Tybalt raufte sich durch die wirren Haare. "Ich bin gerade erst angekommen", gestand er, "so ein Material habe ich noch nie gesehen. Es erinnert an Baumharz, aber.." "Glas", antwortete der steinerne Gigant sanft, "sie sind aus Glas. Dazu verschmilzt man verschiedene Quarze und Sand, unter anderem." "Flüssiger Stein?!", Tybalt kam aus dem Staunen gar nicht heraus, "unglaublich!" "Du kannst mich gern in meiner Werkstatt besuchen", bot der Riese sonor an, "dann zeige ich es dir. Ich heiße Ümir." "Tybalt!", streckte die Dryade die Hand aus und strahlte hoch, "ich darf es wirklich sehen?" "Es wäre mir ein Vergnügen!", versicherte Ümir ihm und berührte sehr behutsam die kleine Hand, "beherrscht du auch ein Handwerk?" Rasch zupfte Tybalt einige seiner Zeichnungen aus dem Transportrohr. "Ich male", blätterte er eine Auswahl auf, "ich kann auch Porträts anfertigen", wies er auf die Rohzeichnung seiner beiden Gastgeber hin. "Das ist beeindruckend", komplimentierte der steinerne Riese, "willst du deine Dienste hier anbieten?" Tybalt fasste sich ein Herz, denn sein Gefühl riet ihm, dem gewaltigen Daimon zu vertrauen, der so freundlich agierte. "Ich würde schon gern", bekannte er verlegen, "weil ich für mich und meinen Freund auch etwas zu essen bekommen muss. Aber ich habe noch nie auf einem Markt etwas feilgeboten." Ümir wies einladend auf seine sorgfältig arrangierten und vor Zusammenstößen geschützten Lampen und Laternen hin, "hier ist Platz genug, wenn du magst. Die meisten hier haben ihre Stammplätze, aber wir können auch zusammenrücken." "Danke schön!", strahlte Tybalt hoch, "wirklich, vielen Dank, Ümir!" "Nichts zu danken", murmelte der Steindaimon verlegen, so tief, dass man die Resonanz unter den Fußsohlen spürte, "ich bin neugierig, wie du zeichnest." Die Dryade schmunzelte, "ich bin neugierig zu sehen, wie man dieses Glas herstellt. Da haben wir schon was gemeinsam!" *~~~+~~~* Kapitel 18 Xaruli saß in der sengenden Hitze ungeschützt auf dem Hochplateau, blickte hinunter auf die weitläufige Stadt mit ihren ganz unterschiedlichen Behausungen, bunt, voller wimmelndem Leben, aber kaum von Vegetation geprägt, ganz anders als der Wald. Er war froh, dass ihn ihr Gastgeber für eine Weile sich selbst überlassen hatte. So viele Worte hatten sich über ihn ergossen, von Engeln, von Generationen, von Aufgaben, von Zweckbestimmung. Xaruli studierte seine Hände, die Füße, Arme und Beine. Eine humanoide Gestalt, Flügel, zum Fliegen, offenkundig, Augen, die sehen konnten, Ohren, die hören konnten. Ein Mund ohne Zunge, aus dem Feuer gespuckt werden konnte. Engel waren zweckbestimmte Werkzeuge, hieß es. Die anderen konnten sprechen, lesen, schreiben. Sie entwickelten Gefühle. Xaruli starrte in die Ferne, jenseits von Feldern, einer Steppe, einem Gebirge. Was mochte seine Aufgabe sein? SEINE Zweckbestimmung? Wozu benötigte man ein flugfähiges Wesen, das Feuer spie? Und warum, warum konnte er sich nicht mitteilen? Wieso verfügte er über keine Zunge? Was verhinderte, dass er Schriftzeichen identifizierte, wo ihm doch sonst Zeichnungen oder Muster durchaus gelangen? Xaruli verspürte ein Unbehagen. Der Daimon hatte ihm ausführlich erklärt, dass Abweichungen von Erwartungen und tatsächlichen Fakten Gefühle erzeugten, nicht nur Informationen blieben. Jedes lebendige Wesen entwickelte Emotionen, weil es keine Maschine, kein Apparat war, weil es sich seiner Selbst bewusst wurde. Erkenntnis. Xaruli registrierte, dass er rapide Übung gewann, über sich selbst zu reflektieren, ohne dabei etwas "tun" zu wollen. Zugegeben, Stricken benötigte Utensilien, über die er momentan nicht verfügte, aber er vermochte es nun, hier ganz ruhig zu sitzen und nachzudenken, über seine Bestimmung, über Gefühle. Nachdenken bedeutete, das eigene Erleben zu hinterfragen, Ursachen zu ergründen, Erwartungen zu hegen, diese zu überprüfen, zu ändern, ein stetiger Prozess. Strix hatte ihm stolz darüber berichtet, dass unzählige Aufzeichnungen angefertigt wurden, von dem, was war, und auch von dem, was sein könnte. Imagination. Im Kopf konnte man ALLES erleben, erwägen, ausprobieren. Es gab nur die Grenzen, die man sich selbst setzte. »Warum?«, dachte der Engel, »warum sind sie auf den glühenden, Feuer spuckenden Stern zugeflogen?« Ihr eigenes Feuer konnte nichts ausrichten, dennoch erinnerte er sich keines Zögerns. Was hatte ihn abgehalten? Worin hatte er sich unterschieden? Warum stürmten sie auf diesen Stern zu? Xaruli registrierte Unwohlsein. Hätte er nicht wie sie sein müssen? Hatte er versagt? Doch worin bestand ihre Aufgabe? Was war der Zweck?! Strix hatte ihm erläutert, was die anderen, die "jüngeren" Engel so taten: helfen, bewahren, umsorgen, unterstützen. Wie vereinbarte sich das mit feuriger Lohe und Flugfähigkeit? Da er dem Käuzchen nichts von seinem Talent verraten hatte, konnte er nicht auf dessen Analysefähigkeiten zurückgreifen. Bewahren, beschützen. Feuer, so hatte Tybalt ihm ausdrücklich erklärt, stellte im Wald eine Gefahr dar. Gefahren waren Bedrohungen, die Schmerzen, Verletzungen nach sich zogen. Wie ein spitzer Gegenstand an einer Kehle. Xaruli überdachte diese Erkenntnis. Faunus hatte ständig mit spitzen Gegenständen hantiert, sie hergestellt. Nichts war ihm dabei bedrohlich vorgekommen. Doch das in Stoff verhüllte Wesen, das Tybalt den Dolch an den Hals hielt, hatte er selbst ohne Zögern als Gefahr eingestuft und Feuer gespuckt. Gegenstände, die zur Gefahr beitrugen, nannte man Waffen. Xaruli erhob sich langsam. War er selbst eine Waffe? Ein Werkzeug der Gefahr? Deshalb stumm, nur hörend und sehend geschaffen, um seinen Zweck zu erfüllen? Welche Bedrohung hatte dann dieser Stern dargestellt, im eiskalten Nichts eines unendlich großen Raums? Oder waren sie dorthin gesandt worden, sich selbst auszulöschen? Wie schadhaftes Werkzeug, das keine Reparatur mehr lohnte und keinen anderen Zweck erfüllen konnte. *~~~+~~~* Tybalt eilte in der anbrechenden Nacht zurück zum Hochplateau, zu gut gelaunt, um den aufreibenden Aufstieg als Belastung zu empfinden. Das tat auch gar nicht Not, denn unversehens erschien Tankred, der Malabsorbo, vor ihm. "Hallo, guten Abend, ich habe das Porträt fertig!", verkündete die Dryade aufgekratzt die gute Neuigkeit. "Auch dir einen guten Abend", der Falkendaimon registrierte durchaus verwundert, dass er trotz seiner ehrfurchtgebietenden Aufmachung keinen abschreckenden Eindruck auf das kleine Naturwesen machte. Wirklich, eine eher ungewohnte Erfahrung. "Warte, ich fasse dich unter!", teilte er deshalb ungezwungen mit, schnappte sich Tybalt, der erst erschrocken aufquiekte, dann aber die Beschleunigung in die Höhe genoss. Wie praktisch! Und wie schnell! In der Höhle wartete schon Strix auf sie, zeigte sich ebenso wie Tankred begeistert von ihrem großformatigen Porträt, schon mit Käferlack überzogen. Man beschloss sofort, es auf einen Rahmen ziehen zu lassen und beim Nest an einem Ehrenplatz aufzuhängen! Tybalt lächelte vergnügt und hoffte, man werde ihnen auch für diese Nacht Unterschlupf bieten. Ehrensache für die beiden vergnügten Daimonen. Xaruli, der sich im Hintergrund gehalten hatte, betrachtete Tybalt, wie es diesem schien, sehr prüfend. "Faunus habe ich leider nicht gefunden", wisperte Tybalt vertraulich, "obwohl ich schon ein paar Miniaturen eintauschen konnte, hat es noch nicht für eine Kittelschürze gereicht", bedauerte er. Eigentlich gab es ja nichts zu verhüllen, doch die anderen Engel, die er gesehen hatte, trugen alle Bekleidung. Es wäre besser, man passte sich den örtlichen Gepflogenheiten an! "Aber schau mal, ich hab etwas für dich", überreichte er Xaruli einen kleinen Beutel, strahlte ihn erwartungsvoll an. Der Engel löste die sichernde Schnur und griff hinein. Bunte Glasperlen schimmerten prächtig im Licht der Laternen, mit denen die beiden Daimonen ihre Höhle zu erhellen pflegten. "Aus Glas!", raunte Tybalt aufgedreht, sich mühsam bezwingend, "sind sie nicht phantastisch?! Du kannst damit auch Muster legen!" Dann wiederholte er die Erläuterungen, die ihm seine neuen Freunde Ümir und Fidibus zum Murmelspiel gegeben hatten. "Morgen überreiche ich ihnen das versprochene Porträt, und dann zeigt Ümir mir sogar, wie man dieses Glas herstellt", vertraute er dem Engel an, der probeweise ein geometrisches Muster improvisierte. Tybalt empfand großen Stolz, Xaruli ein Geschenk machen zu können, das jedem Vergleich standhielt. Darüber vergaß er auch zu erwähnen, dass sich bisher noch kein Gerücht über ihre Flucht aus dem Wald ausgebreitet hatte. *~~~+~~~* Xaruli blickte ins Dämmerlicht der Höhle. Die beiden Daimonen schliefen in ihrem Nest, aneinandergeschmiegt, die Flügel fast verwoben, einander wärmend und beschützend. Der Engel betrachtete die Dryade an seiner Seite, zusammengerollt, ein wenig blass unter der gefleckten Haut, in das geliehene Cape gewickelt. Vorsichtig entfaltete er eine seiner vier Schwingen, um etwas Wärme zu spenden. Die Glasperlengabe hatte ihn überrascht, ebenso wie die kleine Tafel mit seinem Namen darin eingekerbt. Er verfügte nun über Besitztümer, eine Feststellung, die ihn frappierte. Es kam ihm ungewöhnlich vor, etwas sein Eigen zu nennen. Doch wieso? Warum glaubte ein Teil seiner Selbst, dies sei nicht der Norm entsprechend? Wer stellte diese Regel auf? Ein Schöpfer? Sein "Hersteller"? Tybalt hatte ihm erklärt, dass man mit großer Hitze dieses Glas herstellte, indem man andere Stoffe schmolz. Dem Geheimnis würde die Dryade morgen auf die Spur kommen. Also war Hitze hilfreich, doch Feuer nicht unbedingt? Die Welt um ihn herum war verwirrend. Oder kam ihm das nur so vor, weil er begonnen hatte zu denken? Xaruli fragte sich einmal mehr, ob diese sich rapide entwickelnde Befähigung nicht DER Defekt war, der ihn gehindert hatte, den anderen Engeln zu folgen. *~~~+~~~* Ümir setzte sich Tybalt auf eine Schulter, als sie gemeinsam zur "Alten Karawanserei" aufbrachen. Er vermutete, dass die Glasherstellung, die Fertigstellung ihres gemeinsamen Porträts und überhaupt die Aufregung in der Stadt als Neuankömmling ihren Tribut forderten, weshalb die kleine Dryade so erschöpft wirkte. Wie jeden Abend, wenn Fidibus nicht frei hatte, wartete er in der Nähe des Portals, lauschte den Kontrebandeuren, die schon vorher aus der Menschenwelt zurückgekehrt waren. Hin und wieder raunte er nun Tybalt Erklärungen zu, der auf seiner Schulter verharrte, ungewohnt still blieb. Da schlüpfte auch Fidibus durchs Portal, winkte aufgekratzt und preschte los, sich wie jeden Abend mit Nahrhaftem zum Sofortverzehr einzudecken. Herumschleichen, Konterbande erbeuten, das machte nun mal sehr hungrig! "Habt ihr schon gehört?", plapperte er, rasch den Krug leerend, "an der Außengrenze zum Wald hin soll es ein Feuer gegeben haben! Ein Daimon ist zu Tode gekommen, heißt es!" Tybalt rutschte ungelenk von Ümirs Schulter herab. "Zu Tode gekommen?", flüsterte er verschreckt. Fidibus, unter der gewohnten Woll-Verpuppung kaum kenntlich, nickte minimal, "die anderen haben an der Pforte davon erzählt! Lichterloh verbrannt! Ein Ungeheuer habe die Flammen ausgespien." "Ungeheuer?", Ümir mischte sich mit sonorer Stimme ein, "was für ein Ungeheuer?" "Ich weiß es nicht", Fidibus flitzte los, den leeren Krug abzugeben, kehrte dann spornstreichs zurück, "aber die Aufregung ist groß! Man sucht überall danach, habe ich gehört. Die Waldleute behaupten, es sei mit einem Jungen geflohen." "Das kann nicht sein!", wisperte Tybalt tonlos, taumelte, hielt sich die Schläfen. "Ist dir nicht gut?", Fidibus wischte sofort an seine Seite, "bist du krank? Sollen wir dich nach Hause bringen?" Aber zu Tybalt drangen seine Fragen nicht mehr durch, da dieser spannungslos in Ümirs eilig ausgestreckte Hand kippte. *~~~+~~~* Tankred beeilte sich, zu seiner Höhle zurückzukommen. Man musste keine höhere Mathematik bemühen, um nach der brodelnden Gerüchteküche zu schließen, dass sich die flüchtigen zwei Brandschatzenden ausgerechnet bei ihnen verbargen. Hoffentlich war seinem Käuzchen keine einzige Daune gekrümmt worden! Strix empfing ihn jedoch besorgt, wenn auch aus ganz anderen Gründen. "Hast du Xaruli gesehen?", erkundigte sich das Käuzchen beunruhigt, "ich habe angenommen, dass er wie immer oben auf dem Plateau sitzt, aber er ist nicht mehr da!" "Besser für ihn und für uns!", beschied der Falkendaimon grimmig, schloss die Arme eng um sein Käuzchen, "ist dir auch nichts passiert?!" "Passiert?!", Strix rückte durch Naserümpfen seine Brille mit den großen, runden Gläsern zurecht, konnte sich in der herzhaften Umarmung kaum rühren, "warum sollte mir was passiert sein?" Für Tankred die Aufforderung, die Gerüchte zu wiederholen, die er aufgeschnappt hatte, von Mordbrennerei im Wald, von einem toten Baobhan-Sith-Daimon und von einem gewaltigen Ungeheuer, das mit einem jungen Naturwesen geflohen war. "Xaruli und Tybalt?! Unmöglich!", protestierte Strix entschieden, "sie sind beide liebenswert und harmlos! Tybalt ist ein Künstler, das hast du selbst gesehen! Als Dryade würde er niemals mit Feuer operieren, denn das könnte auch seinen Baum gefährden!" "Was ist mit dem Engel?", kraulte Tankred misstrauisch durch Strix aufgeflustes Federkleid, "so einen habe ich noch nie zu Gesicht bekommen!" "Aber Engel bewahren und beschützen!", konterte Strix mit einer allgemeinen Wahrheit, "den Wald anzuzünden, das käme ihnen nie in den Sinn!" Draußen hörten sie es poltern. "Xaruli?" "Wer ist da?!" Beide Daimonen warfen sich strenge/verlegene Blicke zu. Tankred, der noch seine Rüstung, wenn auch ohne Maske und Umhang, trug, öffnete. Vor der Höhle beugte sich ein gewaltiger Steindaimon herab. "Das sind sie!", triumphierte ein wanderndes Wollwaren-Exponat, "wie auf Tybalts Skizze!" Damit legte der gigantische Steinriese eine schlaffe Gestalt behutsam im Schein der Laternen ab. *~~~+~~~* Kapitel 19 O-Batyr betrat, wie immer im Verbund mit den Daimonenkäfern, lautlos die geräumige Höhle, streifte sich rasch Umhang und Maske ab. "Yzzie?", rief er sonor. "Hrmpf!", antwortete Yzibao sowohl eloquent als auch ausführlich, ursächlich, wie der Malabsorbo rasch erkannte, als er mit großen Schritten zwischen den hohen Schubladenschränken zur Chaiselongue eilte, weil Yzibao mit einem prachtvollen Umhang kämpfte. Zu diesem Zweck hatte er sich verschiedene Fäden zwischen die Lippen geklemmt und rang nun mit dem finalen Abschluss. Hilfreich beteiligte sich O-Batyr nach einem inspizierenden Blick an dem Kampf, der schließlich siegreich beendet wurde. Yzibao ächzte vernehmlich, dehnte und streckte die langen Gliedmaßen. "Verflixt und zugenäht, ich bin ganz steif von der Fummelei!", schnaubte er, ohne jede Zweideutigkeit. "Du warst den ganzen Tag hier drin?", erkundigte sich O-Batyr, während er luftige Gebäckstückchen aus einer Tüte von Pussys Patisserie angelte und Yzibao schlicht in den Mund schob. Man kaute hingerissen und nickte, um nicht das Wesentliche mit Beiläufigem zu vermischen. Innerlich atmete O-Batyr erleichtert auf. "Warum?", hakte Yzibao nach, die smaragdgrünen Katzenaugen eindringlich auf den Malabsorbo konzentriert, der sich eingestehen musste, seinen Freund unterschätzt zu haben. O-Batyr griff einfach zu, zog Yzibao in seine Arme, hielt ihn fest, dann raunte er leise in ein spitzes Ohr, "es gehen Gerüchte herum, dass ein Ungeheuer einen Baobhan-Sith-Daimon im Wald verbrannt hat, dort, wo wir deine Ziehmutter getroffen haben." Yzibao, dem die Dramatik der Geste zunächst missfallen hatte, grub die lackierten Fingernägel in die kurze Jacke. "Verbrannt?! Aber warum...? Und bist du sicher, dass...?" Die weißblonden Strähnen liebkosend murmelte O-Batyr, "niemand weiß Genaues. Ich habe mich nur gesorgt, dass..." "Dass ich mich hier gräme?", vollendete Yzibao den Satz, funkelte in die tiefschwarzen Augen unter den ausdrucksstarken Augenbrauen. Er atmete tief durch, straffte seine schlanke Gestalt und ballte entschlossen die Fäuste. "Das habe ich hinter mir", bekannte er mit hochgerecktem Kinn, "denn ohne einen Köder wird sie unweigerlich sterben. Verhungern", präzisierte er, schluckte nun doch hastig. Er konnte den Unglauben auf der Miene des Malabsorbo lesen. "So ist das", wisperte Yzibao, zwang sich, die Fassung zu wahren, wie er es sich streng vorgenommen hatte, "wenn man kein Blut mehr bekommt, dann stirbt man." Weshalb die letzte, verzweifelte Aktion darin bestanden hatte, einen fremden Daimonenjungen als Lebensversicherung auszubilden. Tja, so verhielt es sich eben! Niemand konnte schließlich etwas dafür oder auch dagegen, wie man beschaffen war! Yzibao schniefte leicht und haschte nach der Leckereien-Tüte. Ablenkung half immer. Diva sein! Souverän, unbeeindruckt, stets auf Haltung bedacht! O-Batyr ließ sich jedoch nicht täuschen, zog ihn erneut an sich und wiegte ihn tröstend, küsste ihm die Stirn und die nassen Wangen. Auch wenn es kein feiner Zug war, so verspürte der Malabsorbo doch eine gewisse Erleichterung. Niemand würde ihm Yzibao nun streitig machen können, auf "ältere Rechte" pochen. *~~~+~~~* Strix fackelte nicht lange, auch wenn er mit diesem Element keine Schnittmengen wünschte, ganz sicher nicht! Hier war seine Expertise gefragt, und ER hatte nun mal eine Affinität zu Bäumen und dichtem Bewuchs! "Es ist wahrscheinlich die Umgebung hier", kommentierte er, studierte Tybalt, der trotz gespendetem Cape unkontrolliert zitterte, "Naturwesen sind eigentlich nicht fähig, ihr jeweiliges Refugium für länger zu verlassen." "Was ist eine Dryade?", erkundigte sich der Woll-Kegel, als Fidibus vorgestellt, Kontrebandeur. "Ein Wesen, das mit einem Baum oder einer Baumart sehr eng verbunden ist", spulte Strix Erkenntnisse ab, "gewöhnlich in einem eher schattigen, feuchten Milieu akklimatisiert." "Was tun wir denn jetzt? Wie sollen wir ihn nach Hause bringen?", ganz pragmatisch klang hier eindeutig der Transporteur durch. Tankred schnaubte. "Das wäre gerade keine so gute Idee!", grummelte er grimmig, "ich vermute, er ist einer der gesuchten Brandstifter. Wer weiß, was sie mit ihm anstellen?" "So was würde Tybalt nie tun!", protestierten gleich zwei empörte Stimmen. Mit einer teilte er sein Nest, was jede schroffe Antwort verbat, im eigenen Interesse. "Also müssen wir einen anderen Wald finden", mischte sich der gewaltige Steindaimon namens Ümir ein, der vor der Höhle kauerte. "Und das rasch", pflichtete Strix ihm entschieden und tatendurstig bei, "sonst geht es ihm bald noch schlechter." "Was hast du vor?!", alarmiert fasste Tankred nach Strix' Rechter. Der funkelte durch die großen, runden Brillengläser entschlossen, "ich zeige Ümir den Weg, damit wir Tybalt in einen Wald bringen, selbstverständlich!", nickte er mehrfach, seine Überzeugung demonstrierend, "ich habe mich hier lange genug verkrochen." "Lass mich das lieber machen!", wandte der Falkendaimon eilig ein, doch seine Hand fand sich erstaunlich kräftig gedrückt. "Du kannst uns begleiten", legte das Käuzchen kämpferisch fest, "bis der Wald zu dicht wird." Denn, wie sie beide wussten, hielt Tankred nicht allzu viel von dichtem Geäst. Der schnaubte frustriert, aber er kannte diesen Blick. Weitere Verhandlungen würden fruchtlos verlaufen! *~~~+~~~* Ümir barg den leise schnarchenden Fidibus sanft an seiner Brust, in seinen rechten Arm gekuschelt. Im anderen transportierte er den zitternden Tybalt, dessen Elend ihn selbst ergriff. Er konnte nicht glauben, dass die kleine Dryade absichtlich jemandem einen Schaden zufügte. Möglicherweise stellten sich auch die Gerüchte als maßlos übertrieben heraus. Andererseits war der Engel, Xaruli, von dem Tybalt ihn als seinem Gefährten und guten Freund ein wenig erzählt hatte, spurlos verschwunden. Mit großen Schritten folgte er den beiden gefiederten Daimonen, die ihm den Weg wiesen. Längst lag die Stadt hinter ihm, hatte er sich über einen Pass in ein benachbartes Tal begeben, wo sich langsam an einer Flanke dieses Gebirgszugs Bäume verdichteten. "Ich übernehme den Rest", entschied Strix, denn hier konnte man sich nur noch vorsichtig bewegen, wollte man nicht in Zweigen hängen bleiben. Tankred grummelte vernehmlich, jedoch resigniert. Das Käuzchen lud sich Tybalt auf die Arme, keine ganz leichte Last, aber die Wichtigkeit seiner Mission verlieh Strix ausreichend Kräfte. Bald fand er, etwas separiert, eine sehr alte, mächtige Platane, in einer kleinen Senke, so fleckig wie die Haut der Dryade, die verschiedenfarbigen Augen, wenn man sich der Mühe unterzog, genau hinzuschauen, eigentlich offenkundig. Vorsichtig legte er Tybalt zwischen die Wurzeln am Stamm. "Was machst du da?", erkundigte sich eine Stimme durchaus kritisch von oben. Mit guter Nachtsicht für Strix keine Überraschung, "mein Freund Tybalt hier muss sich erholen. Ich heiße übrigens Strix. Und wer bist du?" Neben ihm plumpste eine schmale Gestalt gelenkig auf den Boden, gedämpft von Moosen, Gräsern und abgeworfenen Blättern. "Ifan", stellte eine burschikose Erscheinung klar, "wieso ist der so erledigt?" Strix studierte sie eingehend: auch eine Dryade, jedoch mit grünem Stoppelschnitt auf dem Kopf, dazu roten Augen und einem knappen Nadelgewand. "Er hat in der Stadt gelebt, für kurze Zeit, wo es kaum Bäume und sehr viele Steine und Felsen gibt", erläuterte er, zutreffend vermutend, dass "Stadt" hier keine Assoziationen weckte. "Schön blöd", konstatierte Ifan, tippte mit einem großen Zeh gegen Tybalts nun ruhige Gestalt. "Kannst du bei ihm bleiben, bis er aufwacht?", sondierte Strix Optionen. "Schon", beiläufig leerte Ifan das Transportrohr und inspizierte uneingeladen die Zeichnungen, von ebenfalls neugierigen Feuerfunkendaimonen umschwirrt, "was bekomm ich dafür?" Strix schluckte die bissige Bemerkung herunter, die seinen Schnabel unbedingt verlassen wollte, aber »keine Kopfnuss, du ungezogenes Gör!« würde nicht gerade dem gegenseitigen Vertrauensaufbau dienen. Stattdessen holte er einen Knabberriegel heraus. Dieser wurde studiert, dann nickte die Dryade knapp. "Abgemacht", schon kaute sie engagiert, "ich pass auf den Bubi auf, Maestre Kauz. Kannst jetzt die Flatter machen." Wirklich, keine Manieren, diese unverschämte Dryade! Doch sie mussten zurück, der Rückweg war weit und es erschien ihm besser, wenn niemand wusste, wo sich Tybalt aufhielt. *~~~+~~~* "Also, ich würd jetz aufwachn, an deiner Stelle." Tybalt blinzelte, versuchte zu verstehen, warum ihn eine fremde Stimme ansprach und wer ihn vehement mit einem spitzen Finger in die Seite stach. "Morgen." Vor seinen verklebten Augen konzentrierte sich langsam ein Gesicht, stoppelige, grüne Haare, runder Kopf, rote Augen, Nadelkleid. Ruckartig setzte Tybalt sich auf. Eine Dryade, noch dazu von einer offenkundig giftigen Art! Schlimmer noch: ein Mädchen! "Du heißt Tybalt", erinnerte ihn die Dryade, stippte ihn schon wieder in die Seite, "ich bin Ifan. Hab dem Kauz versprochen, auf dich aufzupassen, bis du wach bist." "Strix?! Wo bin ich hier?!", rappelte Tybalt sich wacklig auf. "Im Wald", Ifan kletterte mühelos an der gewaltigen Platane hoch, "solltest da besser abhauen." "Was?! Warum?!", Tybalt blickte verwirrt um sich, "wo ist Strix? Wie bin ich hierher gekommen? Und Ümir?" Über ihm schnalzte die burschikose Erscheinung, "mach dich da lieber weg." Da bemerkte Tybalt dumpfe Schläge unter seinen Fußsohlen. Panisch blickte er sich um, zog sich mühsam am Stamm hoch. Schnaubend assistierte ihm Ifan. Nicht wenige Augenblicke später donnerte eine Rotte Wildschweine vorbei, mächtige Bachen mit ihren Frischlingen. Denen kam man besser großräumig nicht in die Quere! Tybalt hielt sich den Kopf. Er fühlte sich zwar körperlich deutlich gesünder, doch die Lücke in seinen Erinnerungen bereitete ihm ebenso schnell Kummer. "Die sind weg, der Kauz, der Falke, so n Steinriese und ein Gnom in Wolle", Ifan baumelte mit nackten Beinen vom Geäst, schnitt den Wildschweinen unter ihnen Grimassen. "War da sonst noch jemand?", erkundigte sich Tybalt leise. "Nö", zeigte Ifan keine besondere Betroffenheit. Da ein Abstieg sich momentan nicht gerade anbot, biss Tybalt die Zähne aufeinander und kletterte nach oben. Er musste sich orientieren, herausfinden, wo die Stadt lag! Seine Sinne verwirrten ihn, denn sie teilten ihm unmissverständlich mit, dass er sich NICHT in seinem heimatlichen Wald befand! Gab es denn noch mehr Wälder in der Nähe? Oder sollte er mit "Nähe" lieber vorsichtig operieren? Ifan folgte ihm, neugierig, dies aber hinter einer betont gelangweilten Miene tarnend. Obgleich die Platane ein wirklich imposanter, alter Baum war, reichte ihr Wipfel gerade so hoch, dass man Flanken eines Gebirges erkennen konnte. "Wie komme ich da am Schnellsten hinauf?", erkundigte sich Tybalt entschlossen. Xaruli würde ihn bestimmt suchen! Vermissen! Er musste gewarnt werden, damit man ihm nichts antat! "Was willste da? Sind bloß Steine und Fels", Ifan nagte Eckern und bot ihm großmütig auch etwas von ihrem Vorrat an. Verlegen bediente sich Tybalt und bedankte sich artig. "Ich muss wissen, wie ich wieder zurück in die Stadt komme", erklärte er, "ich wurde von meinem Freund getrennt." "Schön blöd", urteilte Ifan abschätzig, "die Figuren gestern sind extra ewig marschiert, weil du diese 'Stadt' nicht verträgst. Wenn dein Freund schlau ist, kommt er hierher." "Aber er weiß doch gar nicht, wo ich bin!", stellte Tybalt energisch richtig, "nicht mal ICH weiß das!" Ifan schnaubte, "reg dich mal ab, Bubi. Was haste eigentlich ausgefressen?" Tybalt funkelte sie wütend an, "Ich heiße Tybalt, und nicht Bubi! Und ich habe nichts ausgefressen!" "Warum biste dann in diese 'Stadt', die dich krank macht?", schoss Ifan zurück, grinste ihn mit von Eckern verfärbten Zähnen an. "Um meine Bilder einzutauschen!", feuerte Tybalt zurück, "ich zeichne und male nämlich. In der Stadt gibt es viele schöne Dinge!" "Hmmm", Ifan nickte, "solche zum Beispiel, wie?" Dabei schwenkte sie einen kleinen Beutel mit Glasmurmeln, drehte ihm eine Nase. "Die-die sind von Ümir! Gib sie zurück!", forderte Tybalt. Hatte der Steinriese sie ihm zum Abschied dagelassen? "Schön sind die, glatt. Fein", Ifan ließ den Beutel zwischen beiden Händen hin und her wandern, "wär schad, wenn sie runter fallen." "Sehr subtil!", fauchte Tybalt, wagte sich aber nicht näher heran, "sie gehören dir nicht." "Also, noch mal von vorne", Ifan streckte ihm die Zunge raus, "was haste angestellt?" Tybalt ballte die Fäuste. Mädchen! Grässliche Kreaturen! Und auch noch eine Eiben-Dryade! "Es gab lediglich ein kleines Missverständnis", knurrte er schließlich, "deshalb sind wir in die Stadt entwischt." "Wer is 'wir'?", Ifan setzte die Daumenschrauben an und genoss es sichtlich, was Tybalt derart verärgerte, dass er seine Zurückhaltung vergaß und explodierte. "Mein Freund und ich! Xaruli ist ein Engel, was dir wahrscheinlich genauso wenig sagt wie 'Stadt'! Wir sind von Baobhan-Sith-Daimonen behelligt worden, und da haben wir uns gewehrt!" Den Beutel an der Schnur um die Finger wirbelnd beäugte Ifan ihn kritisch. "Ich weiß, was Engel sind", wies sie ihn hoheitsvoll zurecht, "so Figuren von der Himmelsseite. Aber die Vampir-Schwestern können mit denen nichts anfangen. Erzähl mir hier also nichts vom Zentauren!" "Tu ich nicht!", verteidigte sich Tybalt aufgebracht, "eine von denen wollte Xaruli einfach mitnehmen! Ich hab versucht, ihnen das zu erklären, weil Xaruli nicht sprechen kann, aber diese komische Alte wurde gleich handgreiflich!" "Und da haste sie plattgemacht, ja?", Ifan grinste kriegerisch, "der is das klapprige Gebiss weggeflogen, ha!" Tybalt sackte die Kinnlade zwischen die Kniekehlen. Waren sie vielleicht schon zu hoch in die Platane gestiegen, und dieser komischen Dryade bekam die Luft nicht gut?! Die roten Augen funkelten. "Und? Rechter Haken, linker Haken?! Oder wie?", Ifan ließ die Fäuste erstaunlich präzise fliegen. Tybalt seufzte, seine Schultern sackten herab. "Wir haben uns nicht geprügelt", stellte er richtig, "vielmehr haben wir uns beschleunigt nach einer eindringlichen Warnung zurückgezogen." Ifan schnalzte mit der Zunge, "getürmt seid ihr! Tsktsk. Was für ne 'Warnung' bremst denn nen hungrigen Vampir?" Nun grummelte Tybalt verdrießlich, aber entschlossen, dieses vorlaute, ungezogene Dryaden-Gör Respekt zu lehren. "Beispielsweise ein Feuerstoß über ihrem Kopf!" *~~~+~~~* Xaruli folgte entschieden der Richtung, die er für sich vom Hochplateau aus festgelegt hatte. Sengende Sonne, eine Savanne, das störte ihn nicht, auch kein spärlicher Bewuchs. Am Vortag hatte er lange nachgedacht, über ein großes Haus mit unzähligen Büchern, die man lesen konnte, über Bäume, über ausgebreitete Flügel, ein weiches, wunderschönes Kissen und einen Beutel voller Glasmurmeln. Über das Behüten, Beschützen, Bewahren. Über eine Dryade, fern vom Wald, die gegen einen Vampir-Daimon angetreten war, über einen Falkendaimon, der ein Käuzchen für sich gewonnen hatte, über ein geliehenes Cape über einer kleinen, frierenden Gestalt. Schließlich war Xaruli zu dem Schluss gekommen, dass er ein defektes Werkzeug war, eines, das nicht tat, was ihm aufgetragen, bestimmt war. Strix hatte ihm erklärt, dass alle Engel wohl Aufgaben gehabt hatten und nach ihrem Zweck beschaffen waren. Hier jedoch erhielten sie als erstes Namen. Wer einen Namen hatte, war nicht länger ein Es, ein Werkzeug, ein Automat, sondern ein Individuum, dem man ein eigenes Erleben zubilligte. War man kein Werkzeug mehr, trug man Verantwortung, weil man einen Willen hatte, Entscheidungen treffen konnte. Xaruli hatte sich entschieden. Tybalt war eine Dryade, dazu noch eine junge. Er brauchte Grün um sich herum, Schatten, Feuchtigkeit. In die Stadt waren sie nur geflohen, weil ER kein Beschützer, kein Bewahrer war, sondern eine Waffe, ein feuerspeiendes Werkzeug, das nicht sprechen konnte, nicht schreiben, nicht lesen. Um nichts zu verraten? Um nicht zu widersprechen? Xaruli wusste es nicht. Außer der Erinnerung an die große Finsternis und den Stern, in dessen glühenden Eruptionen die anderen Engel zu Asche verbrannt waren, hatte er keine Vorstellungen vom "Davor". Aber er gehörte nicht in den Wald oder an Orte, wo Feuer Gefahr mit sich brachte. Anders als die anderen konnte er nicht sprechen, argumentieren, verhandeln, sondern spuckte gleich Flammen. Hitze. Feuer. Flammen waren verzaubernd, von einer magischen Schönheit. Es war deshalb besser, sofort zu gehen, auch für Tybalt, denn dann gab es keinen Grund mehr, sich gegen die eigene Natur zu quälen, um ihn zu beschützen. Xaruli entschied, dass er keines Schutzes bedurfte und auch eines solchen nicht würdig war. *~~~+~~~* "Ihr habt die Alte abgefackelt?! Boah!" Tybalt sträubten sich sämtliche Haare bei der morbiden Faszination, mit der Ifan auf ihre fixe Idee bestand. "Gar nicht wahr!", argumentierte er erneut dagegen, "es war bloß eine Warnung! Über ihren Kopf!" "Pah!", Ifan zappelte mit den nackten Beinen auf dem großen Ast, "bestimmt hat sich das Wickelzeuch entzündet! Und, WUSCH, weg isse!" Man konnte gar nicht genug Missbilligung in Worte legen. "Du verhältst dich sehr kindisch", tadelte Tybalt deshalb streng, "Xaruli würde niemandem etwas zuleide tun." "Quatsch!", feuerte Ifan sichtlich vergnügt zurück, "wenn einer Feuer spucken kann, doch nicht bloß zum Grillen! DU hast keine Ahnung von Engeln, Bubi." "Als wenn du es besser wüsstest!", schimpfte Tybalt verärgert zurück. "Klar weiß ich das!", triumphierte Ifan, streckte ihm die Zunge raus, "wirste schon sehen!" Damit ließ sie sich einfach rücklings vom Ast fallen, überschlug sich ein Mal gekonnt und landete zwischen den quiekenden Frischlingen. *~~~+~~~* Kapitel 20 Strix saß bei Ümir in der Werkstatt und verfolgte gespannt, wie dieser eine farbenprächtige Lampe formte. Nach diesem Abenteuer einfach am Morgen so auseinanderzugehen, das hatte ihnen nicht zugesagt, auch wenn Tankred besorgt eingeworfen hatte, er möge sich doch nicht übernehmen, sondern ausruhen, es bestünde keine Eile! Nein, hatte Strix für sich entschieden, lange genug hatte er Gedanken gewälzt, wie er in die Welt zurückkehren sollte, ohne ein schlüssiges Ergebnis, deshalb gefiel es ihm, hier zusehen zu dürfen, ohne dass Ümir von der abstrahlenden Übelenergie-Signatur abgestoßen wurde oder von ihm wich, weil er gegen DIE REGEL verstoßen hatte. Vielmehr hatte der gewaltige Steindaimon ihm aufmerksam gelauscht und Mitgefühl signalisiert. Etwas lieben, beschützen zu wollen, nicht um den eigenen Vorteil, das konnte er nachvollziehen. Außerdem ging ihnen auch Tybalt nicht aus dem Sinn. Ob die freche Dryade ihr Wort gehalten hatte? Wie mochte es ihm ergehen, in einem fremden Wald? Es schien am gestrigen Abend die richtige Entscheidung zu sein, doch bei Tageslicht betrachtet konnten sie gewisse Zweifel nicht abstreiten. Was, wenn sich die Gerüchte auch in diesem Wald verbreiteten? Würde man Tybalt etwas vorhalten, ihn vielleicht davonjagen? Da sie beide waschechte Daimonen und keine eingewanderten Naturwesen aus menschlichen Göttlichkeitsvorstellungen waren, fühlten sie sich nicht ganz souverän auf fremden Terrain. "Ob er ihn wohl suchen wird, der Engel?", bemerkte Ümir mit seiner sonoren Stimme vorsichtig. Strix justierte die Brille auf seinem schmalen Nasenrücken. "Schwer zu sagen", antwortete er nachdenklich, "ich glaube nicht, dass die Gerüchte ihn erreicht haben und er deshalb verschwunden ist. Vielleicht hat er sich ja auch erinnert." "Woran?", Ümir zog sich vorsichtig von der Laterne zurück, die langsam abkühlte. Das Käuzchen seufzte, "wenn ich das richtig verstanden habe, scheint Xaruli nichts von vorher zu wissen. Ein sehr eigentümlicher Engel." Eine Weile schwiegen sie beide, beobachteten die Entwicklung des jüngsten Werkstücks. "Ich habe noch nie gehört, dass ein Engel jemanden angegriffen hätte", bemerkte Strix fürs Protokoll. Andererseits, das gestand er zu, hatte er bisher seine Zeit auch nicht gerade häufig auf dieser Seite verbracht, sondern in fremden Welten, zwischen Seiten, in seinem Tempel. "Was mich wundert", Ümir kollerte, sich einmal mehr seiner rauen Stimme schämend, "ist, dass dieser Vampir-Daimon nicht gemerkt haben soll, dass Xaruli ein Engel ist." Immerhin, so, wie Tybalt ihn geschildert und Strix ihn beschrieben hatte, handelte es sich um ein flammend orangefarbenes Wesen mit zwei Doppelschwingen. Eher ungewöhnlich, Verwechslungspotential mit einem "normalen" Daimon anzunehmen. "Eine sehr verwirrende Geschichte", pflichtete Strix ihm bei, "eigentlich hätten doch die P.U.D.E.L. auftauchen müssen, oder nicht?" Zumindest galt das für Kapitalverbrechen oder Verstöße gegen die Regeln! Wie er selbst ja leidvoll erfahren hatte. "Sehr merkwürdig", nickte er, kniff ein wenig die Augen hinter den großen, runden Brillengläsern zusammen. Ümir hob vorsichtig seine neue Laterne auf einen gepolsterten Verkaufsständer. "Ich werde bei nächster Gelegenheit mal zu diesem Wald gehen", vertraute er Strix an, "nach Tybalt schauen. Auch Fidibus sorgt sich." "Oh, dann möchte ich mich anschließen!", Strix lächelte zu Ümir hoch, "ich brauche ohnehin mehr Bewegung." Außerdem gefiel ihm die Aussicht, sich in einem richtigen Wald aufhalten zu können. Ein wenig vermisste er doch die "grüne" Wand um ein kuscheliges Nest. Andererseits wäre es sehr ungezogen, Tankred damit zu behelligen, der sich seinerseits so sehr entgegenkommend und verständnisvoll zeigte! "Tybalt könnte auch eine Decke brauchen", erinnerte er sich selbst laut, "er schien immer zu frieren." Nun richtete Ümir sich auf, "ich könnte bei meinem Nachbarn fragen. Er fertigt prächtige Stoffe an." Nicht eine Viertelstunde später wusste Strix nicht nur, wer sein geliebtes Weihnachtsbaumkissen kreiert hatte, nein, drei sehr unterschiedliche Köpfe steckten zusammen, um Neuigkeiten und Vermutungen auszutauschen, bis sie zu dem Schluss kamen, dass die Welt klein war und hin und wieder sehr mysteriös funktionierte! *~~~+~~~* Tybalt gelang zu der felsenfesten Erkenntnis, dass Ifan verrückt war. Welche Dryade stürzte sich denn sonst zwischen Frischlinge und Bachen, um dann, laut kreischend vor Vergnügen, den Hügel im Zickzack zwischen Bäumen und Sträuchern hinauf zu rennen?! Die Wildschweinrotte gab schließlich auf, auch, weil Ifan nicht zögerte, sie von oben mit stacheligen Krumps zu bewerfen. Ungefährdet nahm Tybalt die Verfolgung auf, notgedrungen, denn erstens wollte er die Glasmurmeln zurückerhalten, und zweitens lag der Hügel ja auf seinem Weg nach oben. Außerdem juckte es ihn doch, ganz gegen seinen Entschluss, stoisch zu bleiben, zu erfahren, woher die ungezogene Dryade glaubte, so viel über Engel zu wissen! Ifan hatte unterdessen schon die halbe Bergflanke erklommen. Hier gab es aufgrund von Höhe und Witterung nur noch verkrüppelte, kleine, geduckte Bäume, dürres Gesträuch und kratziges Gras. "Na, endlich hier?", grinste sie Tybalt an, der eine Grimasse schnitt und gebieterisch die Hand ausstreckte. "Gib mir die Glasmurmeln!", forderte er. "Pff!", pfiff Ifan durch die Zähne, warf ihm dann nachlässig den Beutel zu, "Kleingeist." "Diebin!", konterte Tybalt fuchsig, doch die Dryade lachte bloß, was ihn wiederum verwirrte. Er wurde nun wirklich nicht schlau aus ihr! "Da müssen wir hin", deutete Ifan auf eine Anhöhe. "Wirklich?", Tybalt studierte den sehr steilen Anstieg, der unangenehm schmal wirkte, kritisch. "Hat mir ein Vögelchen geflüstert!", feixte Ifan, "aber davon verstehste nix." Tybalt knurrte, dann gewann jedoch seine Neugierde die Überhand, "du verstehst, was die Vögel sagen?" "Hmm", Ifan kletterte mit dem Geschick einer Gams am Felsen hoch, "sicher. Hab nen Bussard getroffen, der mir davon erzählt hat." "Wovon denn?", Tybalt musste sich sehr auf seine Balance konzentrieren. Dagegen war der Aufenthalt mit Xaruli auf dem eigenen Berg ein Honigbonbonschlecken gewesen! "Wirste gleich sehen", Ifan lachte, "bist ganz schön ungelenk!" "Gar nicht wahr! Ich bin nur ein wenig aus der Übung", behauptete Tybalt gekränkt, aber sein Stolz verhinderte nicht, dass er zur helfenden Hand griff, um über ein besonders schwieriges Passstück zu gelangen. Dann stand er vor einer glatten Felswand, nur ein winziges Sims über dem Abgrund. "Siehste?", Ifan ging schwindelfrei in die Hocke und tippte auf die Bruchkante, "von da oben hat Geröll hier den Felsen abgeschlagen. War früher viel breiter." Tybalt verrenkte sich beinahe den Hals, um genug erkennen zu können. Jemand hatte sich dort verewigt, wie Handabdrücke zeigten. Zugegeben, es waren eher Klauen, aber mit einer Farbe, die gleißte, möglicherweise besondere Bestandteile enthielt, denn die Erosion und die Witterung hatten sie nicht abgeschliffen. In den Felsen gekerbt konnte man ein ganzes Panorama erkennen, geflügelte Wesen, mit vier oder gar sechs Schwingen. Aus ihren Mündern schien etwas zu kommen, das in Wellen dargestellt wurde. In gezackten Linien flogen von ihren Händen auch Blitze, erhoben sich wirbelnde Wolken. "Was tun die da?", warf Tybalt Ifan einen fragenden Blick zu. "Siehste doch!", triumphierte die Dryade feixend, "die machen alles so richtig platt!" "Das kann man aber nicht sehen!", widersprach Tybalt, "es ist nicht dargestellt, was ihr Ziel ist!" "Na, volle Attacke eben, was denn sonst!", wies Ifan ihn entschieden zurecht, "man kann's wohl sehen!" "Nicht auf dieser Bildtafel!", beharrte Tybalt, denn die Engelschar strebte in eine Richtung, und dort schloss sich keine Darstellung an. Ifan pfiff durchdringend, nachdem sie mit den roten Augen gerollt hatte. Ein großer Schatten senkte sich wenig später über sie. Tybalt drückte sich noch enger an die Felswand. Ein Condotora schwebte über ihnen. Ifan winkte, trat einen Schritt vor ins Leere und stürzte hinab. *~~~+~~~* "Du bist vollkommen und heillos verrückt", stellte Tybalt fest. Ifan, die neben ihm hockte, die nackten Beine baumelnd, reichte dem Condotora einen recht verwittert wirkenden Fisch. Tybalt wollte lieber gar nicht erst spekulieren, was der Rückenbeutel der Dryade sonst noch enthielt. "Hasenfuß!", titulierte sie ihn grinsend. Ihr wohlkalkulierter Absturz ins Nichts war elegant von dem gewaltigen Condotora abgefangen worden, der sie ebenso sicher wie sanft hoch auf eine Bergkuppe transportiert hatte. Auch wenn Tybalt nicht darüber nachdenken wollte, was ihn bewogen hatte, ihrem Beispiel zu folgen: er HATTE es getan, weshalb er nun ebenfalls in luftiger Höhe kauerte und trotz all der Aufregung eilig sein kostbares Papier mit Skizzen des Rundumblicks füllte. "Da, siehste? Da hat der Blitz reingehauen", gestikulierte Ifan, kraulte dabei vertraut das gewaltige Tier neben ihr. Die Stirn runzelnd studierte Tybalt die Aussicht. "Aber warum hätten sie hier so ein Chaos anrichten sollen?", warf er ein. "Wieso kann dein Kumpel Feuer spucken?", konterte Ifan unbekümmert, "zu irgendwas wird's schon nützlich sein." Tybalt schnaubte. Ifan warf ihm einen kritischen Blick zu, "jetzt denk doch mal nach!" Ausgerechnet die Empfehlung, die er IHR gerade geben wollte. "Wie ist denn hier alles so geworden, wie's jetzt aussieht? Bevor wir hier waren?" Nun... Tybalt grübelte. "So n Berg kommt ja nicht von allein zustande", belehrte ihn Ifan, "Oder Flüsse! Alles verändert sich, aber irgendwas muss ja am Anfang 'los!' gerufen haben!" Dem ließ sich, ohne eindeutige Beweise, schlecht widersprechen, konstatierte Tybalt stumm. "Wo sind sie dann hin?", fragte er sich halblaut. Wo waren die Engel vom Bild? Waren sie alle verbrannt? Verschwunden, als sie nicht mehr benötigt wurden? "Pack dein Zeug. Ist spät, wir müssen wieder runter", gebot Ifan. "Warte noch einen Augenblick, ja? Welches ist der höchste Baum?", Tybalt blickte sich suchend um. "Warum willste das wissen?", Ifan musterte ihn neugierig. Tybald seufzte leise, "vielleicht schickt Xaruli mir ja ein Zeichen." Indem er den Himmel für ihn erleuchtete. *~~~+~~~* Xarulis schwarze Augäpfel hatten keine Mühe mit der scheinbar gleichförmigen Landschaft. Von der Savanne war er einer unsichtbaren Linie gefolgt, wo das Licht nur so gleißte, weil unzählige winzige Körnchen die Sonnenstrahlen reflektierten. Trocken und heiß, eine endlose Wüstenei, allerdings nicht, wenn man mit geeigneten Sinnen auf sie blickte. Hitze flirrte um Xaruli. Seine orangefarbene Haut, Federn und Haare, schienen noch intensiver zu strahlen. Wie eine Flamme, ein Feuer, ein Brand. Xaruli schüttelte die Verlockung ab, sich in Vorstellungen zu verlieren. Ihre Anziehungskraft war so erstaunlich groß wie das reale Objekt, staunte er. Dabei gab es dieses Feuer nur in seinem Kopf, hinter seinen Augen! Ah, Ideen! Phantasien. Der Kauz hatte ihm das erklärt. Für den Verstand gab es keine Grenzen. Erstaunlich. *~~~+~~~* Ifan kauerte neben Tybalt in der höchsten Astgabel. Zu seiner Verblüffung verzichtete sie darauf, ständig zu fragen, was es denn zu sehen geben würde, wenn überhaupt. Gegen seinen Willen konnte er sein Interesse nicht unterdrücken. "Sag mal, bist du die einzige Dryade hier?", erkundigte er sich leise, zog die Schultern hoch. Ganz schön frisch hier oben, nach dem Sonnenuntergang! "Quatsch!", Ifan schnaubte, "aber die anderen kleben eben an ihrem Baum fest! Langweiler!" "Aha", murmelte Tybalt. Darin ähnelte man sich wohl, nämlich ein wenig unternehmungslustiger zu sein als der Rest der Truppe. "Wie macht man das, dieses 'Papier'?", Ifan wackelte mit den bloßen Zehen. "Das kann ich dir zeigen", bot Tybalt an, "ich habe ohnehin nichts mehr übrig." Weil er einfach das gewaltige Panorama abbilden MUSSTE! So sehr er mit Herzklopfen das Abenteuer mit den Condotora wertschätze: eine baldige Wiederholung tat nicht not! "Abgemacht!", Ifan rammte ihm robust einen spitzen Ellenbogen in die Seite, "aber nich morgen. Morgen sind die Vorräte dran." Tybalt, der großzügig mitversorgt worden war, zog beschämt die Schultern hoch. "Hast deinen Wald nicht gesehen, richtig?", bohrte Ifan ungeniert in einer anderen Wunde. "Nein", murmelte Tybalt geknickt. Über den Bergpass konnte man im Dunst möglicherweise die Stadt vermuten, aber die Distanz war gewaltig. Ob er damit richtig lag, konnte er nicht mal beweisen. "Da! DA!", Ifan packte seine Linke so fest, dass Tybalt reflexartig protestierte. "Autsch! He...", jede Klage fror ein, als er wie Ifan auch gebannt in den Himmel starrte. Von einem nicht einsehbaren Punkt am Boden aus stach ein Lichtfinger zu den Sternen hoch, eine imposante Flammenzunge. *~~~+~~~* Xaruli legte alle Kraft in den Feuerstoß. Es überraschte ihn, wie mühelos ihm dies gelang. Ob Tybalt nach ihm Ausschau hielt? Vermutlich schon. Daimonen und Naturwesen schienen sehr aufeinander zu achten, sich zu sorgen. Darauf verließ er sich auch, was Tybalt betraf. Die Daimonen in der Stadt, Tankred und Strix, würden ihn beschützen, ihm zureden, in den Wald zurückzukehren. Wie mochte es wohl sein, Worte finden und aussprechen zu können? Xaruli stellte sein nächtliches Fanal ein, entschied, weiter über die Dünen zu wandern. *~~~+~~~* Eine Menge Daimonen hatten es gesehen, den Feuerfinger Richtung Firmament. Wer ihn nicht selbst gesehen hatte, wurde umgehend per Mund-Propaganda darauf aufmerksam gemacht. O-Batyr brachte diese Neuigkeit zu Yzibao, der wiederum von der kuriosen Verstrickung verschiedener Personen berichtete, die die Schauder-Moritat vom brennenden Meuchelmord in ein anderes Licht rückte. Dabei arbeitete er in tänzerischer Anmut an einem schlicht wirkenden Stoff mit erstaunlichen Schattierungen der Farbe Grün. Eine Weile ließ sich der Malabsorbo gefallen, dass Yzibao mit den Daimonenkäfern ein aufregendes Ballett absolvierte, dann drängelte er sich konsequent dazwischen. "He! Bati, du bringst alles durcheinander", bevor der Protest von Handgreiflichkeiten aus der Tiefe der Künstlerseele unterstützt wurde, knebelte und fesselte O-Batyr Yzibao entschieden. "Genug von anderen Leuten", brummte er im Bass, "jetzt bin ICH dran!" Yzibao fauchte. "Also wirklich, du benimmst dich wie ein Kleinkind!", schimpfte er, obwohl ihn die Küsse schon angezählt hatten. Trotzdem. Ein bisschen Selbstbeherrschung konnte O-Batyr doch an den Tag legen, oder nicht?! Der konnte wohl, wollte aber definitiv nicht, weshalb sich die Auseinandersetzung zwischen Kissen und Decken fortsetzte, bis Yzibao seine Einwände aufgab, um sich genüsslich verwöhnen zu lassen. *~~~+~~~* "Ich komme mit!", Fidibus nickte, wie gewohnt bei Ümir angeschmiegt, dessen Wärme genießend, "auch wenn ich schlafe! Und ich bin dir wirklich nicht lästig?" Ümir hob die freie, gewaltige Hand, um sehr zart über den wilden Lockenschopf zu streicheln. "Ich habe dich immer gern bei mir", kollerte er dumpf, "es freut mich, dass du bei mir bist." Fidibus strahlte zu ihm hoch. "Ich bin auch am Liebsten mit dir zusammen!", versicherte er eifrig, blinzelte dann, gähnte, kippte ohne Ankündigung in die vorausschauend geöffnete Hand des Steinriesen. Der bugsierte den kleinen, nur in Unterwäsche gewandeten Freund vertraut in seine Armbeuge, an die mächtige Brustpartie. Behutsam breitete Ümir anschließend mit der freien Rechten eine dünne Decke über die kleine Gestalt seines Gefährten. Es faszinierte ihn noch immer, wie Fidibus von einem Moment auf den nächsten tief schlafend oder glockenschlaghellwach sein konnte. Ganz erstaunlich, wie sehr sich sein Leben verändert hatte, nachdem er endlich seinen Mut zusammengenommen und Fidibus angesprochen hatte! *~~~+~~~* Tankred legte behutsam eine Schwinge über Strix' Schulter. "Ich denke, das war's für heute", stellte er leise fest. Das Feuerspektakel hatte ja lange genug gedauert! Wie viel Energie musste es den Engel gekostet haben?! Insgeheim verspürte er eine profunde Erleichterung, Xaruli nicht mehr in unmittelbarer Nähe zu wissen. Nicht nur in Wäldern brannte es fix, auch in einer Höhle, in der sich ein geräumiges Nest befand. Zudem hegte er gewisse Vorbehalte gegenüber Gestalten, die kein Wort über die Lippen brachten, erschwerende Umstände hin oder her! "Ob Tybalt es auch gesehen hat? Ich muss ihm das unbedingt erzählen!", verstohlen rieb sich Strix die Augen hinter den großen, runden Brillengläsern. "Ja, aber nicht gleich", gab Tankred streng vor. Jetzt rief ihr Nest! Außerdem verspürte er ein definitives Kuschel- und Schnäbeldefizit. Dann wollte er, wenigstens ein bisschen, umworben werden, die kleine Reisegesellschaft zu begleiten, auch wenn er zu viel Geäst nicht sonderlich goutierte. Andererseits, der Malabsorbo seufzte geschlagen, wenn Strix so selig und engagiert das Weihnachtsbaumkissen beflauschte, war er bereits besiegt. Nun ja, Liebe eben! *~~~+~~~* Kapitel 21 Xaruli hatte gerade eine Anhöhe hinter sich gebracht, als unvermittelt hinter ihm aus dem Sand eine Gestalt in die Höhe schnellte, einen spitzen, unterarmlangen Dorn an seinen Hals hielt. "Wohin des Wegs, mein schöner Freund? Oh, du bist ja irre warm!", bevor der Engel sich rühren konnte, wurde er umgestoßen und eine nur wenig kleinere Gestalt umklammerte ihn entschlossen, mit langen, sehr dünnen Gliedern, einer schuppigen Haut und einem knochigen Kamm auf dem Schädel. "Ooooohhh, wunderbar!", stöhnte eine erstaunlich lebendige Stimme an Xarulis Ohr lüstern, "du bist ganz heiß! Mehr! Hmmmhhh!" Obwohl Xaruli sich nicht rührte, zappelte und rutschte der mutmaßliche Schuppendaimon auf ihm herum, seufzte und ächzte vor Wohlbehagen. Der Engel prüfte seine eigene Reaktion, doch verblüffenderweise verspürte er keine Bedrohung, was mutmaßlich auch daran lag, dass der gefährliche Dorn der Klaue entglitten war. In sehr engagiertem Kontakt mit der glatten, orangefarbenen Haut! Geduldig und auch neugierig verfolgte Xaruli ohne Gegenwehr das ein wenig befremdliche Geschehen und Agieren auf seinem makellosen Leib. "Entschuldige, Kamerad!", erklang es ein wenig später, durchaus mitgenommen, an seiner Seite, "ist ewig her, dass ich es getrieben habe. Da wird man riemig." Xaruli begriff nicht. "Ich habe mich auch noch gar nicht mit dir bekannt gemacht", der schuppige Daimon richtete sich ein wenig auf, aber nicht zu weit, um von Xarulis Körperwärme weiter zu zehren, "ich bin Zrqaa, einsamer Wanderer. Und du, mein feuriger Freund?" Xaruli nutzte seine wiedererlangte Bewegungsfreiheit, um aus dem Glasmurmelbeutel die kleine Tafel zu ziehen. Er blies eine bescheidene Flamme in die Höhe, um das Entziffern zu erleichtern. Dabei verbuchte er interessiert, dass der bis auf einen knappen Lendenschurz unbekleidete Schuppendaimon keineswegs von ihm zurückwich. Offenbar fürchtete er Flammen nicht besonders. Bemerkenswert. "Wohow! Dachte mir doch, dass du das Spektakel vorhin verursacht hast!", Zrqaa schien jedoch nicht abgeschreckt, was Xaruli erstaunte. Vielmehr voll des Lobs, der Anerkennung? "Ah, 'Xaruli', das ist dein Name? Kannst du nicht sprechen?", Die Schiefertafel wurde zurückgereicht, "macht nichts, dafür rede ich wahrscheinlich viel zu viel!" Ungeniert schmiegte sich Zrqaa einfach an, "ich sag dir lieber gleich, dass mein Clan mich rausgeschmissen hat. Normal zieht keiner allein hier durch die Wüste, weißt du?" Xaruli lauschte, mangels Alternativen, erstaunt über sich selbst, dass er diesen schuppigen Daimon nicht als Bedrohung einstufte. "Tja, das erklär ich dir besser, du bist ja nicht von hier, oder? Nein? Ah, dachte ich mir. Also, bei uns leben die Männlein, ich bin eins, hast du sicher gemerkt, und die Weiblein getrennt. Nur ab und an im Jahr treffen wir uns, für den Nachwuchs", Zrqaa streichelte mit seinen Klauen über Xarulis Federn, "oh, verstehst du das mit dem Nachwuchs? Männlein, Weiblein, Einlochen, Weiblein bekommt kleinen Daimon? Na, so funktioniert das üblicherweise. Aber anstatt jetzt die Weiblein zu beglücken, hatten einige meiner Kumpels und ich zusammen Spaß." Man grübelte kurz, "also, ich schätze mal, bei deiner Ausstattung sollte ich das skizzieren. Hier unten, die Wünschelrute, die hast du ja schon vorhin bemerkt, nicht wahr? Also, wenn sie steht wie ne Eins, ist Vergnügen angesagt. Und dann gibt's da den Hinterausgang. Den kann man auch nutzen, bloß gibt's keinen Nachwuchs." Der geschuppte Daimon kuschelte vertraulich, "kam nicht gut an, gar nicht, deshalb wurde ich rausgeschmissen. Ist schon eine Weile her. Hatte niemanden zum Reden, zum Spaß haben, und du bist so schön warm! Hast du was dagegen, meine Rute anzufassen? Nein? Genial!" Xaruli hatte durchaus Mühe, die Erklärung, die ihm präsentiert wurde, zu begreifen. Seine Anatomiekenntnisse erschöpften sich rasch, und bis dato hatte niemand es für angezeigt gehalten, ihm die feinen Details der Biologie bei Daimonen zu erläutern. Andererseits war dieser Zrqaa das erste Wesen, dass seine immense Hitzeabstrahlung nicht als bedrohlich empfand, sondern genoss und nun danach verlangte, von ihm berührt zu werden. Auch die Reaktionen auf diesen Kontakt verblüfften Xaruli. Gefühle. Emotionen. Triebe. Begierden. Begriffe, die er zwar gelernt hatte, aber zwischen Verstehen und Begreifen, wie der Kauz es formuliert hatte, konnten ganze Welten liegen. Illustriert hatte er dies, die großen, runden Brillengläser vor Eifer beschlagen, mit einem Buch. Man verstand zwar, dass der Einband Papierseiten zusammenhielt, auf denen wiederum Zeichen und/oder Illustrationen aufgebracht waren. Doch den Sinn zu begreifen, nicht nur des Inhalts, sondern die Zweckbestimmung, etwas aufbewahren, verbreiten, festhalten zu wollen, das verlangte nach "Begreifen". Mehr als das haptische Erlebnis! Xaruli urteilte, dass er sich im Prozess des "Verstehens" befand, durch äußere Beobachtung. Aber bis zum "Begreifen" dieser hochkomplexen Vorstellungen würde er sich noch um ein Erhebliches mehr in seiner persönlichen Entwicklung steigern müssen. Was ihm eingab, dass er möglicherweise doch ein Ziel hatte, diese Welt zu begreifen, in der gerade ALLES interessant war. *~~~+~~~* "Aufwachen", bestimmte Ifan energisch. Tybalt seufzte, schickte sich aber drein, denn obwohl es unter dem Nadelbusch warm und geschützt gewesen war, fühlte er sich doch ein wenig beengt. "Erst das Wasser", Ifan packte ihn unaufgefordert am Handgelenk, krächzte vernehmlich. Sie stieß auf keinerlei Einwände, da auch Tybalt durstig war. Zügig folgte die Dryade einem Trampelpfad durch den Wald, bis auch Tybalt leises Murmeln hören konnte. Ganz nah an die sprudelnde Quelle gelangten sie jedoch nicht, da ihre Besitzerin sie eifersüchtig behütete. Ifan scherte sich keinen Deut um die spitzen Bemerkungen zu ihrem Erscheinungsbild, sondern schlürfte laut das kalte, klare Wasser und füllte ihren Vorrat auf. Tybalt tat es ihr nach, nachdem sein Versuch, sich bekannt zu machen, mit einem abschätzigen Blick und Schweigen quittiert worden war. "Lass die Schnepfe!", wieder mal rammte ihm Ifan robust den Ellenbogen in die Seite, "suchen wir uns was Feines!" Dabei grinste sie spitzbübisch-listig. Mangels Alternativen folgte Tybalt ihr. Einige späte Beeren, dazu Wurzeln, krautige Pflanzen, Fruchtkörper von Pilzen: geboten wurde genug. Als sie jedoch einen größeren Flusslauf beschlichen, schwante Tybalt neues Ungemach. Nicht zu unrecht, denn erstaunlich geschickt gelang es Ifan nicht nur, einen Fisch zu packen, sondern ihn auch noch im hohen Bogen auf das Kiesbett des früheren Verlaufs zu schleudern, dann rammte sie einen spitzen Dorn durch den Kopf, ohne jedes Zögern. Tybalt spürte förmlich, wie ihm das Blut in die Zehen sackte. Ifan beachtete ihn nicht, streifte sich ihren Rückenbeutel ab, zog einige große Blätter heraus, um den nun toten Fisch einzuwickeln. "Ähem", räusperte sich Tybalt, noch immer käsig, "dein Gewand ist hinten gerissen." "Oh, schon wieder? Mist!", kommentierte die Dryade unbeeindruckt, "warte mal, ich hab ne Nadel hier. Kannste stopfen?" Eine Fähigkeit, über die Tybalt durchaus verfügte, aber er wurzelte an. "Was machste denn für n Gesicht?", Ifan schnitt ihm feixend eine Grimasse, "bis zum Po isses ja wohl nich hin!" "Nein, aber das sind ziemlich schlimme Narben", stellte Tybalt heiser fest. "Tja, da muss ich mich auf dein Urteil verlassen", Ifan reichte ihm einfach Baumnadel und Leinzwirn, "hab's noch nie gesehen." Dazu hätte sie sich wohl auch sehr verrenken müssen. Während Tybalt, ein wenig verlegen und noch immer verstört nähte, verstaute Ifan den eingewickelten Fisch in ihrem großen Beutel. "Ist immer gut, nen Fisch zu haben", erläuterte sie, "Condotoras mögen die nämlich." "Wie ist das passiert?", erkundigte sich Tybalt, der zu recht vermutete, dass höfliche Zurückhaltung ihm nicht weiterhalf. "War so ne Steinlawine, Geröll und so was. Viel Regen. Hat nen Hang unterspült", Ifan nahm die Nähutensilien wieder entgegen, verstaute sie und justierte ihren Beutel, "hat mich voll erwischt. Die Vögel sagen, ich war aber noch nicht ganz hin. Dann sind Kronks gekommen, die haben mich rausgebuddelt und versorgt." "Kronks?", wiederholte Tybalt skeptisch, "die gibt es doch gar nicht. Das sind bloß Schauermärchen." "Was du nicht alles weißt!", beschied ihm Ifan mit zuckersüßem Lächeln. Prompt lief Tybalt zu eigener Scham rot an, denn auch bei den Engeln hatte er sich eines Besseren belehren lassen müssen. "War das hier in der Nähe?", ablenkend blickte er sich unbehaglich um. "Nö", erläuterte Ifan ausschweifend, "komm jetz, ich weiß, wo wir lange Halme bekommen können. Für dein Papier." Erst mit einigen Momenten Verspätung begriff Tybalt, dass Ifan offenbar doch eine gewisse Vorstellung davon hatte, was er so tat. "Bist du sicher, dass dir kein Vogel gezwitschert hat, wie man Papier herstellt?", erkundigte er sich prompt misstrauisch. Ifan warf ihm über die Schulter einen kessen Blick zu, zwinkerte dann, "wo du gerade fragst, es könnte ein Kronk gewesen sein." Tybalt knurrte vernehmlich. Wirklich, sie triezte ihn ständig! Mädchen! *~~~+~~~* Kapitel 22 Xaruli befand, dass Zrqaa gewisse Ähnlichkeiten mit Tybalt aufwies. Nicht äußerlich, oh nein, denn dazu lebten sie in viel zu unterschiedlichen Milieus, aber auch der schuppige Daimon nahm ihn einfach bei der Hand, wobei er selbst Klauen mit sechs Greifknochen aufwies, zwischen denen sich, besonders bei den Füßen, ledrige Häute spannten, was ihm das Vorwärtskommen auf den sandigen Dünen erheblich erleichterte. Auch Zrqaa füllte fürsorglich Wasser an einem kleinen Loch ab, das er buddelte, ließ den Engel zuerst trinken, bot ihm weiße, aufgequollene Maden an, die er aufstöberte und geschickt mit dem langen Dorn aufspießte. Darüber hinaus strich er ihm fortwährend über die Federn, die Haut, die Haare, plauderte dabei, auch wenn er zwischendrin kurze Verschnaufpausen einlegte. "Ich weiß, dass du ein Engel bist, aber bestimmt der erste, der hier nach Ewigkeiten vorbeikommt. Bei uns werden nämlich Geschichten erzählt, aus der Vergangenheit, weitergegeben, von einer Generation an die nächste. Klar, wir können auch schreiben, aber trotzdem halten wir daran fest. Also, Engel, jedenfalls, die kamen vor Ewigkeiten mal hierher. Keine Schuppen, ganz glatte Haut und weder Männlein, noch Weiblein", Zrqaa wies mit dem Kinn auf Xaruli. "Echt verblüffend. Konnte ich kaum glauben, als ich es gehört hab. Hat mir aber eingeleuchtet, warum nie jemand wieder einen Engel gesehen hat. Wo sollen die auch herkommen, so ohne Fortpflanzung?" Eine Frage, die Xaruli auch nicht beantworten konnte, selbst wenn er hätte sprechen können, doch er verfügte über keine Erinnerung diesbezüglich. "Willst du eigentlich irgendwo Bestimmtes hin? Hab ich noch gar nicht gefragt, oder? Na, ich könnte dich begleiten! Ist nicht so einsam. Wäre auch mein Vorteil, so, wie gestern Nacht!", er seufzte, "ich hab gefroren, musste mich im Sand einbuddeln, aber man wird ja doch steif und dann ist es gefährlich, deshalb leben wir ja in Clans. Nur ich eben nicht." Der Daimon blieb stehen, betrachtete Xaruli, hob die freie Hand, ihm über die Wange zu streicheln, "wartet jemand auf dich? Hast du deshalb die Flamme losgelassen? Ich bring dich hin, versprochen, allein schon, weil du so lieb bist. Hätte nicht jeder mitgemacht." Eine Feststellung, die Xaruli gelinde irritierte, denn ihm hatte sich der Eindruck aufgedrängt, dass man Zrqaa isoliert hatte, gerade WEIL andere mitgemacht hatten, bei diesen geheimnisvollen Betätigungen, die den schuppigen Daimon in Ekstase zu versetzen schienen. Ein Phänomen, das der Engel interessiert verfolgt hatte. Könnte man doch nur Worte formen! "Willst du wissen, wo wir gerade sind, ja?", schon plapperte Zrqaa weiter, ging in die Hocke, malte mit einer Kralle in den staubigen Boden. Er erläuterte markante Punkte in der Szenerie, aber Xaruli hatte kein konkretes Ziel, zumindest kein geographisches. So gesehen befand er sich durchaus am richtigen Ort. Er ging neben Zrqaa in die Hocke und begann, die improvisierte Karte selbst zu ergänzen. *~~~+~~~* Zrqaa studierte die Zeichnungen aufmerksam und dolmetschte laut. Mittlerweile hatte er ergründet, dass es kein bestimmtes Ziel gab, dafür jedoch einen Abmarschort inmitten von zahlreichen Bäumen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie das sein musste, überall gewaltige Stämme, Blätter, Feuchtigkeit in der Luft und Schatten! Andererseits hatten sich immer mal Fremde verirrt, die von solchen Orten erzählt hatten. Man konnte schließlich nicht alles auf Halluzinationen durch Dehydrierung schieben! Auch von Städten, wo man sehr eng in Häusern aus Stein lebte, hatte Zrqaa gehört. Es wäre eine Alternative für ihn gewesen, sich weit vorzuwagen, um eine neue Heimat zu finden, einen Ort, wo er nicht ausgestoßen allein bleiben musste, immer auf Achse, um nicht zu verdursten oder zu verhungern, nicht des Nachts, wenn alles auskühlte, Gefahr lief, eine leichte Beute zu werden, weil er sich kaum noch zu rühren vermochte. Wo es andere gäbe, mit denen er sich unterhalten könnte, nicht nur Selbstgespräche führen, wie in der letzten Zeit, wo er sich hin und wieder gefragt hatte, was er tun würde, wenn er sich selbst antwortete, ob er dann dem Wahnsinn anheim gefallen wäre, das letzte Stadium erreicht hätte. Die Einsamkeit der eigenen Gesellschaft konnte einen dazu treiben, das wussten alle. Um diese verstörende Perspektive abzuwenden, streichelte er vertraut über Xarulis Arm. Dieser Kontakt "erdete" ihn, denn eine Fata Morgana oder Wahnvorstellungen fühlten sich ganz gewiss nicht so real an! Zrqaa konzentrierte sich wieder auf das Ergründen des Geheimnisses seines neuen Freundes. Xaruli hatte ihn damit vertraut gemacht, dass sein Feuer sich nicht mit dem "Baumland" vertrug, weshalb die kleine Person, die er skizziert hatte, ein Freund, wieder an diesen Ort zurückkehren sollte. "Das Zeichen war also für ihn, damit er sich nicht sorgt? Bestimmt hat er es gesehen! Hier hat es JEDER gesehen!", munterte er den Engel auf und streichelte ihm, fast schon eine tradierte Angewohnheit, über die Haare, die Federn, "oh, stört dich das? Ich kann meine Klauen nicht bei mir behalten, stimmt, aber ich meine es wirklich nicht böse! Du bist so besonders und fühlst dich so gut an, da kann ich mich nicht beherrschen." Eben, weil es keine Schuppen, keinen Hornkamm gab. Glatt. Weich. Seidig. Und die Federn erst! "Also, wenn du kein bestimmtes Ziel hast, dann kann ich dir einfach hier die Gegend zeigen, ja? Bist immerhin eine sehr weite Strecke gereist!", bot er hoffnungsvoll an. Es wäre einfach wunderbar, jemanden zum, nun ja, Kommunizieren zu haben! Auch wenn sie dabei im Staub Skizzen zeichnen mussten. Nicht mehr allein, nicht mehr frieren. Jemanden, den man halten konnte, für den man sich einsetzte. Zrqaa lächelte Xaruli an, auch wenn ihrer beider Mimik nicht für große Gefühlsbekundungen geeignet war. Trotzdem. Gerade war es schön, einfach schön. *~~~+~~~* "Du solltest besser lernen, Fische zu fangen", beschied Ifan, bündelte das Schilfrohr ordentlich. Ihrer "Ernte" war eine lautstarke, nicht besonders feine Auseinandersetzung mit zwei Naturgeistern vorangegangen, die ihren ausufernden Teich für sakrosankt hielten, was Ifan offenkundig als überzogenes Wunschdenken kategorisierte, selbstverständlich ablehnte und sich selbst bediente, mit scharfer Steinklinge, nachdem sie skrupellos diverse Kiesel über die Wasserfläche hatte springen lassen, bis die entstehenden Kreise so ziemlich alles in Unruhe versetzt hatte, was hier lebte. Gefolgt von diversen kleineren Scharmützeln untereinander, wer in der Pflicht sein konnte, diese unverschämte Dryade zu vertreiben. Andererseits wirkte sie nun mal nicht nur unmanierlich, sondern auch recht martialisch. Ließe man sie ein paar Halme kürzen, würde sie sich möglicherweise umso rascher wieder verziehen. Frieden könnte einkehren... Tybalt vermutete, dass seine aufbrausende Begleiterin DESHALB allein war, weil sie sich so selbstherrlich durchsetzte und gar nicht wie eine "normale" Dryade agierte! Vielleicht war doch etwas dran an der Geschichte mit der Rettung durch Kronks, immerhin galten die als gemeingefährlich aggressiv, prügelten sich und andere dauernd! Selbst wenn er die Geschichten immer als Erfindungen eingestuft hatte, die man Daimonenkindern erzählte, um sie zur Räson zu bringen. "Ich mag keinen Fisch", brummte Tybalt, der sein eigenes Bündel verschnürte. Die Fasern waren schön lang, konnten gut geschält und verarbeitet werden zu soliden Papierbögen. Man konnte sie zu einem Flechtgewebe verarbeiten, was eine besonders prächtige Unterlage für spezielle Gemälde ergab! "Das hilft schon mal gewaltig", grinste Ifan ihn an, "macht dir dann ja nicht viel aus, sie zu kloppen." "Doch, selbstverständlich!", widersprach Tybalt entgeistert, "warum sollte ich sie 'kloppen', wenn ich mit ihnen nichts anfangen kann?!" Er ahnte wohl, dass er gerade in einen der zahlreichen Fettnäpfe gestampft war, wieder mal. Ifan genoss es zweifellos, diese um ihn zu gruppieren und ihren Erfolg zu feiern, deshalb verdrehte sie auch demonstrativ die roten Augen. "Jetzt denk mal nach, Bubi!" Noch so eine Einladung, sich zu vergessen! "Wer MAG Fisch?" "Andere Fische?!", leierte Tybalt übellaunig. "Wer noch?", Ifan ignorierte seine Verstimmung, was diese gleich noch verstärkte. "Keine Ahnung!", schnaubte Tybalt, schulterte sein großes Bündel mit einiger Mühe. Die Dryade an seiner Seite lud sich ihre Last auf die kräftigen Schultern. "Schätze, du warst bei euch wohl nicht das hellste Licht, wie?", feixte sie provozierend. Tybalt knurrte, aber allzu lange musste er nicht auf die Auflösung warten. "VÖGEL mögen Fisch", soufflierte Ifan grinsend, "und VÖGEL können ziemlich weite Strecken zurücklegen." "Aha", grummelte Tybalt, "und weiter?" "Und weiter?!", Ifan seufzte übertrieben, als könne sie so viel Begriffsstutzigkeit nicht aushalten, "SIE können Botschaften über Gebirgsketten transportieren." Abrupt blieb Tybalt stehen, starrte sie an, "du-du meinst, ich könnte eine Nachricht schicken?! Aber wie soll ein Vogel den richtigen Adressaten finden?!" Ifan musterte ihn mitleidig, "glaub es oder nicht, aber es gibt SCHLAUE Vögel. Die, die ein bisschen heller sind als...!" Tybalt verdeckte ihren Mund mit der flachen Hand. "Ich HAB'S kapiert!", schimpfte er, "schön, ich gebe zu, dass du viel cleverer bist als ich, ja?! Bist du NUN zufrieden?!" Die Dryade zog die Mundwinkel noch höher. "Dass du mir das aber nicht vergisst!", gurrte sie amüsiert. Aus tiefstem Herzensgrund seufzte Tybalt laut auf. Würde das jetzt jeden Tag so gehen, dass sie ihn aufzog und triezte?! Ifan lachte, "haste nen Mostapfel erwischt, so zitronig, wie du guckst?!" Grummelnd murmelte Tybalt, den Blick eilig auf seine Füße senkend, "kannst du nicht auch mal nett zu mir sein?" Unversehens wurde sein ohnehin wilder Schopf gerauft. "Ich bin ZIEMLICH nett zu dir!", raunte Ifan, schnickte ihm dann vor die Stirn, "los jetz, oder ich ess die Rüben allein!" "Rüben? Zuckerrüben?! He, warte!", Tybalt eilte Ifan hinterher. Er hatte so eine Ahnung, als wäre es bestimmt nicht das letzte Mal, dass er hoffnungslos ins Hintertreffen geriet und ihr dann hinterherrannte. Aber so übel war es auch nicht. Vielleicht könnte er sich sogar daran gewöhnen, dass sie ein Mädchen war! *~~~+~~~* Kapitel 23 Zrqaa warf einen kritischen Blick über die Ebene bis zu dem gewaltig aufragenden Felsmassiv in einiger Entfernung. Es war alt, sehr alt. Er ging in die Hocke und legte die Klauen auf den Sand. Xarulis schwarze Augäpfel richteten sich auf ihn, geduldig, wie Zrqaa annahm. Den ganzen Tag über hatte er Xaruli alle Überlieferungen erzählt, die er kannte. Sie hatten sich das Wasser geteilt. Der Engel ging an seiner Klaue, ohne Abwehr oder Widerwillen. Zrqaa fühlte sich entspannt und glücklich wie schon lange nicht mehr, zumindest bis eben. Aber Xaruli hielt es offenbar für wichtig, das Massiv zu besteigen. Zrqaa erhob sich schließlich, straffte seine langen, sehr dünnen Gliedmaßen. Er deutete Xaruli an, dass sie schweigen sollten, was dem Engel offenkundig keine Probleme bereiten würde. Dann initiierte er einen leichten, gleitenden Gang über den schlüpfrigen, schwimmenden Sand. Sie hatten bereits die Hälfe der Distanz zurückgelegt, als Zrqaa das gefürchtete Knacken hörte. Entsetzt sah er sich nach Xaruli um, der ihm in kurzer Entfernung folgte. "Lauf!", brüllte er und stürmte los. Ob es vielleicht half, sich zu trennen?! Aber das Geräusch, das rasch anschwoll zu einem Donnern und Tosen, ließ diese Option als unnütz erscheinen. Zrqaa rannte, rannte wie noch nie zuvor, warf sich auf alle Viere, gegen den Sog ankämpfend. Das Felsmassiv wuchs zwar stetig vor seinen Augen, aber nicht schnell genug, obwohl er um sein Leben sprintete und hochgeschwind krabbelte. Schon spürte er die gegenläufige Bewegung, das Abdriften der Sandkörner, Wogen und Wellen bildend. Er würde es nicht schaffen. Der Wahamuth wäre ihr Ende. *~~~+~~~* Zrqaa brachen die Knie ein, als er sehr festen, heißen Fels unter den Klauen spürte. Er zitterte, lachte und schluchzte, vor Verwirrung, Erleichterung und abklingender Todesangst. Xaruli ging neben ihm in die Hocke. Sofort schlang Zrqaa die Arme um den anmutigen Nacken, schmiegte sich an die orangefarbene Gestalt und leckte dem Engel mit der gespaltenen Zunge die Wange. Gerettet! Im letzten Augenblick! "Danke...ich hatte vergessen...du kannst ja fliegen!", stammelte er begeistert. Und wie! Mühelos hatte Xaruli ihn unter den Achseln gepackt, sich mit wenig Anlauf dynamisch vom weg sackenden Boden hoch gedrückt, war so hoch aufgestiegen, dass Zrqaa sogar in der Ferne das Lager seines Clans erkannt hatte, während unten, im Sandmeer, der Wahamuth mit seinen unzähligen, walzenraupenartigen Beinen nach ihnen haschte, sich aber nicht ausreichend hoch katapultieren konnte, mMit einem enormen Schlag wieder zurückfiel, dass der Panzer unüberhörbar knackte. Unbeeindruckt hatte Xaruli den Flug bis auf das Felsmassiv fortgesetzt. "Wirklich dumm von mir!", bekannte Zrqaa, streichelte über das glatte Gesicht, "da lasse ich dich die ganze Zeit auch zu Fuß laufen!" Xaruli klappte seine beeindruckenden Doppelschwingen aus, studierte sie. "Du hast das aber schon mal gemacht, nicht wahr?", setzte sich Zrqaa zögerlich auf die Spur von etwas Ungeheuerlichem. Der Engel neigte den Kopf leicht, schüttelte ihn dann. "Das war dein erster Flug?!", unversehens hielt Zrqaa die makellosen Hände in seinen Klauen, "wirklich?!" Ein anderer hätte wohl Vorwürfe angedeutet, vielleicht gespottet, aber Zrqaa wusste es besser, "oh, natürlich, in dem Baumland dort war nicht genug Platz! Da hättest du gar nicht fliegen können, logisch!" Er warf sich Xaruli erneut an den Hals und umarmte ihn fest, "ich danke dir, dass du mich gerettet hast! Die Aussicht von da oben ist gigantisch!" Eine Idee später zog er sich leicht zurück, strahlte Xaruli an, "weißt du was?! Wenn du so hoch fliegen kannst, kannst du doch da oben dein Feuerzeichen absetzen, nicht wahr?! Das wäre dann bestimmt noch in größerer Entfernung zu erkennen!" Xaruli nickte beifällig, dann, weil er begriff, dass er selbst entscheiden konnte, fasste er Zrqaa einfach bei der Klaue, stieg, die Flügel artig eingeklappt, langsam den uralten Gebirgszug hinauf. Er musste nicht allein sein. Hier war er keine Gefahr. Hier gab es jemanden zu bewahren, beschützen. Strix hatte ihm berichtet, dass die anderen Engel gelernt hatten, zu fühlen, ein Individuum zu sein, zu leben, wo es zuvor nur zeitlose Ewigkeit, den absoluten Stillstand gegeben hatte. »Ich«, dachte Xaruli zum ersten Mal, »Ich, Xaruli, werde sein und vergehen, fühlen und verstehen, erkennen.« Zrqaa rückte ein wenig näher an ihn heran während ihrer Klettertour, denn die Sonnen gingen nun schnell unter, weshalb die Temperaturen ebenso rapide fielen. Xaruli hielt an und legte einen Arm um Zrqaas schmale Schultern, zog ihn eng heran. Der schuppige Daimon seufzte wohlig und kuschelte, ihn mit beiden Armen umschlingend, für das Fortkommen nicht gerade förderlich, aber so eilig hatte Xaruli es nicht. Er dachte über die passende Botschaft nach, die er absetzen wollte. *~~~+~~~* Unzählige Augenpaare richteten sich gespannt auf den Nachthimmel. Die einen flusten ihr Federkleid auf, sich gegenseitig zu durchdringen, andere hockten, nur in ein gemeinsames, seidenweiches Tuch gehüllt, von abklingender Leidenschaft erhitzt, hoch oben auf ihrer Höhle. Ganz gut ließ es sich auch, mit zuckersüß verschmiertem Mund, in einer mächtigen Baumkrone an. Würde wieder ein Flammenzeichen am Firmament erscheinen? Was hatte es zu bedeuten? Für wen war es bestimmt? Man kannte durchaus Feuerwerk, oh ja, doch ein Flammenstoß von dieser Güte? Nein, das nahm sich tatsächlich besonders aus. Konnte es das Ungeheuer sein? Wie merkwürdig, dass man die P.U.D.E.L. nirgends gesichtet hatte! Gab es vielleicht gar kein verbranntes Opfer? Die drei Konspiranten, die ihre Häupter zusammengesteckt hatten, machten sich ihren eigenen Reim. *~~~+~~~* Zrqaa kauerte, die Beine eng angezogen und umschlungen, auf dem Felsmassiv. Die abstrahlende Wärme des Tages verlor sich langsam. Er spürte die Kälte, die ihn allmählich lähmen würde. Den Kopf in den Nacken gelegt wartete er jedoch gespannt darauf, was Xaruli tun würde. Der Engel selbst hatte sich, im Vertrauen auf Fähigkeiten, die er bis dato nicht erprobt hatte, in die Luft geschwungen, nutzte die Thermik. Wie kurios, dass er bis dahin einfach nicht auf den Gedanken gekommen war, seine Flügel auszubreiten und zu fliegen! Aber alle anderen gingen zu Fuß, im Wald hätte er ohnehin keinen Freiraum um sich gehabt und niemand flog. »Die Grenzen sind in unserem Kopf«, rief er sich Strix' ernsten Hinweis in Erinnerung. Weil er nichts über sich selbst wusste, die Bestimmung, seinen Zweck, hatte er sich selbst nicht auf die Probe gestellt, bis eine Situation ihn reflexartig herausforderte. Feuer spucken. Fliegen. Außerdem verfügte er über eine humanoide Gestalt, was zweifellos auch Nutzen stiften konnte. Abgesehen vom Stricken. Xaruli fragte sich, was Fliegen so ausmachte. Konnte man Spiralen fliegen? Um sich selbst rotieren? Wie wäre ein Gleitflug zu bemessen? Und wenn er flog, musste er sich dann auch Gedanken darüber machen, was es zu unterlassen galt, um einen Absturz zu verhindern? Hätte der Engel zu seufzen vermocht, wäre dies wohl eine passende Gelegenheit gewesen. Leben, über die bloße Existenz hinaus, war WIRKLICH eine anstrengende Herausforderung! Doch darauf kam es jetzt nicht an, weshalb Xaruli Flammen in den Nachthimmel entließ, weit oben, sich um die eigene Achse drehte und komplexe Figuren flog. Dabei verspürte er zum ersten Mal so etwas wie Freude. *~~~+~~~* "Üppige Vorstellung.", kommentierte Ifan, rammte Tybalt, der sich langsam an diese kameradschaftliche Misshandlung gewöhnte, den spitzen Ellenbogen in die Seite. Er blickte in die Ferne, wo nach langen Augenblicken kein loderndes Feuerspiel mehr die fernen Gestirne in den Schatten stellte. "Er kann fliegen", konstatierte Tybalt leise, zu sich selbst. Wieso jetzt? Wer hatte es ihm gezeigt? Oder war er von selbst darauf gekommen? Zugegeben, die Erinnerung an die Attacke auf die fremde Sonne, da war schon von "Fliegen" die Rede-die Skizze gewesen, aber... Während ihrer gemeinsamen Zeit jedenfalls hatte der Engel kein einziges Mal diese Fähigkeit demonstriert. "Komm runter, wird kalt hier", brachte sich Ifan in Erinnerung, begab sich, von Feuerfunkendaimonen freundlich umkreist, an den Abstieg. Tybalt bemerkte bei sich eine gewisse Traurigkeit. Er musste sich eingestehen, dass Xaruli ihm entwachsen war, offenbar eigene Schritte in die Welt unternahm. Die Dryade seufzte melancholisch. "Jammer jetz hier nich rum, weil der Engel tut, was er soll!", schnaubte Ifan robust, schubste Tybalt handgreiflich unter einen ausladenden Nadelbaum. "Woher willst du wissen, was er 'soll'?!", knurrte Tybalt, rollte sich ein. Das Bett abgestorbener Nadeln mochte eine gewisse Wärme bieten, aber pieksig war es trotzdem! Und klebrig von Harz auch! "Na, hat er jetz Flügel und nen eingebauten Flammenwerfer, oder nich?", konterte Ifan rhetorisch, richtete sich neben ihm ein. Fakten, die man nicht bestreiten konnte. "Sah mir aus, als hätt der Federmatz Spaß", die Dryade schaufelte sich trockene Nadeln über, "also geht's ihm prächtig! Kannst also aufhören, trübsinnig herumzuknoddern." "Ich knoddere überhaupt nicht herum!", protestierte Tybalt, "was auch immer das sein soll!" Diese giftige Eiben-Dryade verstand eben nichts davon, wenn man befreundet war und sich umeinander kümmerte! Ifan schnaubte, kehrte ihm den Rücken zu, "hast noch ne Menge zu lernen, Bubi. Alle Vögel müssen ihr Nest verlassen." Tybalt verschränkte die Arme vor der Brust und präsentierte seinerseits die Rückenpartie, "pah! Xaruli ist kein Vogel! Und er hat nicht in einem Nest gewohnt, sondern einer Erdhütte!" Ein vielsagendes Schweigen quittierte seine beleidigten Ausführungen, was Tybalt nicht daran hinderte, widerwillig die Wahrheit in Ifans Andeutungen anzuerkennen. Engel gehörten nicht in den Wald, zumindest nicht mit Xarulis Beschaffenheit. Früher oder später wäre ein Abschied nicht zu vermeiden gewesen. Trotzdem! Tybalt schniefte leise, denn nun konnte er vor sich selbst nicht mehr verleugnen, dass Xaruli nicht zurückkommen würde und dass er sich ob dieser Tatsache jämmerlich allein fühlte. *~~~+~~~* "Ich glaub nicht, dass man ihn herumfliegen lassen würde, wenn er was wirklich Schlimmes angestellt hätte", bemerkte Fidibus, auf Ümirs Schulter reitend. Der Steindaimon nickte beifällig. Man konnte dieses Feuerschauspiel am Himmel wohl kaum übersehen, weshalb die letzte Autorität, der Große M, darüber informiert sein musste und üblicherweise, pikantes Wortspiel, nicht lange fackelte, wenn jemand das Existenzrecht seiner Mitdaimonen nicht respektierte. "Wir können an unserem nächsten freien Tag hingehen, zu Tybalt", schlug Fidibus unterdessen vor, "also, natürlich nur, wenn es dir recht ist! Immerhin trägst du die Hauptlast!" Er tippte sich auf den Wollmützenzipfel. "Vorher sollte die spezielle Decke fertig sein", kommentierte Ümir im Bass, "ich möchte meinen Nachbarn aber nicht zu sehr drängen." Die Laterne, die er zum Tausch angeboten hatte, stand schon bereit, doch wenn er sich nicht sehr irrte, hatte der Malabsorbo, der eingezogen war, ein Veto eingelegt, damit sich sein zarter Nachbar nicht zu sehr aufrieb, Aufträge zu erledigen. Was der Steindaimon selbstverständlich unterstützte! Ümir drehte den Kopf leicht, denn Fidibus erschien ihm ungewohnt schweigsam. "Geht's dir nicht gut?", erkundigte er sich besorgt. Fidibus seufzte, dann wisperte er kaum hörbar in Ümirs Ohr, "ich hab ohne Auftrag für Strix ein Buch geborgt." Obwohl er durchaus fand, kein bedeutendes Vergehen begangen zu haben, plagte ihn doch sein Gewissen, weil Kontrebandeure NIEMALS ohne offiziellen Auftrag etwas aus der Menschenwelt temporär "verlegten"! Einfühlsam wartete Ümir mit Nachfragen, bis er seine Höhle sorgsam abgeschlossen hatte von der Welt, dann heizte er sich durch, was Fidibus wie immer veranlasste, Wollschichten abzuwerfen wie eine Zwiebel ihre Häute. Nur in Unterwäsche schmiegte sich der Daimon, gänzlich unbelastet von Ümirs eher rauer Haut, an dessen Leib. "Weißt du", raunte er vertraulich, konspirativ, aber auch ein wenig schuldbewusst, "Strix erinnerte sich an ein Buch über Engel in der Menschenwelt. Und weil er nicht mehr hinüber kann..." Hatte das Käuzchen unverbindlich eruiert, ob Fidibus nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten behilflich sein konnte. "Nun", Ümir spürte feinfühlig, dass sein Urteil gefragt war, "es dient ja einem guten Zweck. Strix möchte sicher etwas über Xaruli herausfinden. Das kann nicht schaden." "Nicht wahr?", Fidibus kuschelte sich in Ümirs gewaltige Hand, seufzte wohlig von der abstrahlenden Hitze, "das dachte ich mir ja auch! Aber trotzdem piesackt es mich schon." So kläglich, wie er klang, ließ er auch den Kopf hängen, selbst die Locken wirkten schlapp. Sehr vorsichtig streichelte der Steindaimon mit der freien Hand über den wirren Schopf. "Das verstehe ich. Die Regel zu beachten, das ist wichtig. Aber zu jeder Regel gibt es auch Ausnahmen, für ganz besondere Fälle, nicht wahr?", argumentierte er kühn. Fidibus blickte zu ihm hoch, lächelte schief. "Da hast du recht. Ich bin bloß ein bisschen einfältig, weißt du, und deshalb nicht sicher, dass ich mich auf mein Urteil verlassen sollte", bekannte er freimütig. Herausgefordert konterte Ümir ungewohnt scharf, denn er mutmaßte, man habe Fidibus gewisse geistige Limitationen eingeredet, "ich finde nicht, dass du einfältig bist! Du hast gründlich nachgedacht und eine Entscheidung getroffen. Das ist aller Ehren wert. Ich für meinen Teil bin jedenfalls stolz auf dich!" Er schnaufte nach dieser langen Lobrede so enragiert auf, dass er seine Höhle glatt um ganze zwei Grad erhitzte! Unter ihm, in Hand und an den Leib geschmiegt, hing Fidibus' Unterkiefer vor Staunen beinahe bei den Knien. "Oh, bin ich dir zu nahe getreten?", erkundigte sich Ümir verlegen, die Schultern rund, sich einrollend, um nicht ganz so massiv zu erscheinen. Herrje, warum hatte er sich so hinreißen lassen, sein Temperament nicht gezügelt?! "Nein, gar nicht!", Fidibus kam auf die Beine, balancierte sicher auf Ümirs Oberschenkel, breitete die Arme aus und versuchte, so viel wie möglich von ihm zu umarmen. "Das ist so lieb von dir!", lachte er aufgemuntert, "jetzt fühl ich mich ganz kribbelig!" Nun, mit diesem Effekt konnte Ümir gut leben, denn er fühlte sich auch jedes Mal ganz kribbelig, wenn Fidibus ihn so hingerissen und begeistert anlächelte! *~~~+~~~* "Ich brauche nur noch etwas mehr Zeit!", verlangte Yzibao, zupfte an einer Stange, die sein jüngstes Projekt trug. "Morgen", pflichtete O-Batyr bei, konterte die Ausweichbewegung des Daimons aus und umschlang ihn entschieden. "Von wegen! Ich sag dir nicht, wann du Mies-Murks einsaugen sollst, also erzähl mir nicht, wie ich mein Atelier führe!", schimpfte Yzibao, zappelte. "Das liegt mir fern", lächelte der Malabsorbo, wie gewohnt schon in seiner "altklunkrigen" Reiter-Aufmachung, denn er entledigte sich seines Umhangs und der Maske gleich neben der Pforte. Yzibao schnaubte grimmig, was weißblonde Strähnen aus seinem feingeschnittenen Gesicht wehte und die smaragdgrünen Katzenaugen enthüllte. Sie blickten verärgert unter kritischen Augenbrauen hervor. "Es ist so", O-Batyr zwinkerte, "dass ich mir bei Medusa ihre Dampfnudeln in Sauce habe mitgeben lassen. Wenn man die nicht richtig heiß isst..." Amüsiert registrierte er das unwillkürliche Schlucken seines geliebten Gefährten. "Du-du bist ein ganz fürchterlicher Kerl!", ließ Yzibao ihn wissen, leckte sich hastig die Mundwinkel, weil ihm das sprichwörtliche Wasser zusammenlief. "Ja, ich weiß", versicherte O-Batyr mit sonorer Stimme ernst, "wir können uns deshalb glücklich schätzen, dass du es auf dich nimmst, mich zu maßregeln." Yzibao schob die Unterlippe vor, zappelte, aber in den Katzenaugen konnte man Verunsicherung lesen. So ganz überzeugt war er von der eigenen Pflichterfüllung nicht. "Ich-ich hab eben zu tun!", verteidigte er sich im Rückwärtsgang, "es ist unfair von dir, jedes Wort gleich auf die Goldwaage zu legen!" Hin und wieder pflegte O-Batyr die Schraube noch ein paar Umdrehungen weiter aufzudrehen, denn er konnte selten widerstehen, Yzibao ein wenig zu necken, doch angesichts dessen blasser, vermutlich schon ermüdeter Erscheinung verzichtete er darauf, schoss einfach vor, ihn aufreizend und ausgiebig zu küssen, bis sich die dünnen Arme um seinen Nacken wanden, an ihm festhielten, nicht länger zu entschlüpfen versuchten. "Lass uns etwas essen, ja, Yzzie?", raunte O-Batyr zärtlich, verteilte versöhnliche Streicheleinheiten über die fast ätherische Gestalt. "Also schön, in Ordnung! Jetzt lass mich aber los, Bati!", knuffte Yzibao sich Bewegungsfreiheit herbei, "du bist NICHT eingeladen, MICH zu vernaschen!" Demütig senkte O-Batyr das Haupt, verneigte sich sogar formvollendet. Aber aufgeschoben bedeutete schließlich nicht aufgehoben, nicht wahr? Und mit Dampfnudeln beschwert würde Yzibao ihm nicht allzu weit entwischen können... *~~~+~~~* Xaruli landete elegant, begleitet vom begeisterten Klatschen und klappernden Zähnen. "T-toll! S-sehr b-b-eindr-cknd!", schnatterte Zrqaa, klappte hastig wieder zusammen. Der Engel faltete mühelos seine großen Doppelschwingen ein, ließ sich nieder und hob auffordernd die Arme an. Ein eingefrorenes Lächeln bröckelte den Raureif auf Zrqaas Gesicht, der der Einladung ungelenk Folge leistete, sich rittlings auf Xarulis Schoß einrichtete und die Arme um ihn schlang. Zur Verbesserung der Gesamtsituation feuerte Xaruli einige Lohen ab. Die Hitze verhalf Zrqaa zu größerer Geschmeidigkeit, der sich ankuschelte, hingerissen aufseufzte, als Xaruli ihm über den Rücken zu streichen begann. "Ooooh, das ist so angenehm! Wunderbar! Du hast auch eine phantastische Vorstellung abgeliefert, Xaruli! Ich war ganz sprachlos, nicht nur, weil mir die Zunge vereist ist!", der Daimon atmete tief durch, entspannte sich merklich, "dein Freund hat das bestimmt gesehen! Jetzt weiß er, dass es dir gut geht! Ehrlich, das ist der verrückteste Tag seit langem! Ich fühle mich wie Feuerwerk!" Dieser Begriff sagte Xaruli nichts, weshalb er sich leicht zurücklehnte aus ihrer verschränkten Gemeinschaft und Zrqaa ansah. "Ach, kennst du das nicht?", der Daimon lächelte, "entschuldige. Man feuert ganz leichte Behältnisse ab, die mit einer Pulvermischung gefüllt sind. Wenn die Zündschnur abgebrannt ist, springt der Funken in das Gemisch, alles explodiert!" Er streckte die Hände aus, um den Radius zu demonstrieren, "dabei verwendet man Bestandteile, die farbig verbrennen, also, die einzelnen Pulver. So kann man Bilder an den Nachthimmel malen." Xaruli staunte, auch wenn seine Mimik dies nicht transportieren konnte. Brennende, farbige Pulver? War das vielleicht vergleichbar mit den Materialien, die er mit Tybalt gesucht hatte, um Farben herzustellen? Zrqaa hauchte ihm Küsse auf die Wange, streichelte durch seine Haare. "Weißt du, früher hatten wir hier auch mal Feuerwerk", erzählte er, "ein fahrender Händler brachte es mit, als die noch häufig unterwegs waren." Er rückte noch näher an den Engel heran, seufzte ob der Wärme, "es wird nur von zertifizierten Optime hergestellt. Man man muss sich unbedingt an die Regeln halten", erläuterte Zrqaa. "Wir sollten die Stäbe mit den Pulverköpfen nur im Notfall einsetzen", er richtete sich ein wenig auf, "jedes Kind bekommt bei uns einen Rufer, das ist eine Art Flöte an einem sehr dünnen Seil. Man lässt sie kreisen, dann erzeugt sie einen Sirenenton. Damit kann man Hilfe holen oder vor Gefahren warnen." Zrqaa zog die mageren Schultern etwas höher, "mein Rufer ist natürlich zerstört worden, als ich vom Clan ausgeschlossen wurde, sonst hätte ich ihn dir gezeigt. Nun, jedenfalls kann man die Sirenen hören, aber nicht sehen, wo genau das Geräusch herkommt, deshalb ließ sich der Händler damals erweichen, für den Notfall dem Clan einige Feuerwerkskörper zu überlassen. Dummerweise hat einer schnell gemerkt, dass man sie nicht nur, wie geboten, in den Himmel ausrichten konnte." Der Daimon seufzte, leckte Xaruli vertraulich mit der gespaltenen Zunge über die Wange, "jedenfalls wurden die Feuerwerke abgeschossen und verletzten nicht nur die Zielobjekte. Der Händler ist nie mehr gekommen.Tja, kein Feuerwerk mehr, aber manchmal schießen sie weit entfernt Feuerwerk in den Himmel. Wenn dann das Wetter stimmt, kein Dunst, kein Sandsturm, dann können wir es zumindest erahnen." Xaruli überdachte diese Enthüllungen. Unterdessen liebkoste Zrqaa den Engel zärtlich. "Ich bin so froh, dir begegnet zu sein", wisperte er verliebt, "du hast mein Leben gerettet und wärmst mich auf, hörst mir zu! Ich danke dir, Xaruli, wirklich, vielen Dank!" Der Engel wandte den Kopf, studierte das Daimonengesicht. Es wirkte glücklich, seinetwegen. Er spürte Verantwortung. Und Entscheidungsfreude, weshalb er seine Arme löste, um unter dem knappen Lendenschurz vorne und hinten das zu expedieren, was er erst jüngst gelernt hatte. Zrqaa, der sich genüsslich stöhnend und windend an ihn schmiegte, ihn immer wieder hingebungsvoll auf den geschlossenen Mund küsste, krächzte rau, "du...du musst...das nicht tun...uuooohhh...hmmmmm...oh, Xaruli...." Aber Xaruli fand, dass sich diese Handreichungen für ihn mühelos darstellten, weshalb es keinen Grund gab, sie zu unterlassen. Im Übrigen konstatierte er für sich selbst, fand er durchaus Gefallen daran, Zrqaa Gutes zu tun. Bewahren, beschützen, behüten. Fürsorge. Hätte Xaruli über eine nennenswerte Mimik verfügt, wäre ihr eine definitive Entschlossenheit zu entnehmen gewesen. Er WÜRDE ein Engel sein, der HIER seinen Platz fand! *~~~+~~~* Tankred beäugte durchaus kritisch Strix' Leseeifer. "Es ist schon ziemlich spät", stellte er schließlich fest, "lies doch morgen weiter." "Geht nicht!", die Nachtzipfelmütze wurde justiert, "morgen muss Fidibus es zurückbringen." Da sträubte sich dem Falkendaimon das Gefieder, "Moment mal, du hast das Buch ausgeliehen? Als Konterbande?!" Üblicherweise mussten derartige Artikel angemeldet werden, und es wurde natürlich geprüft, ob das gewünschte Objekt zeitweise eingeführt werden durfte. Nicht alles, was man drüben sah oder entdeckte, entpuppte sich als harmlos, was die unbändige Neugierde der Daimonen betraf. "Es ist für einen guten Zweck", murmelte das Käuzchen geistesabwesend, bestrebt, so rasch wie möglich die Materie zu erfassen, was Tankred einen Stoßseufzer entlockte. "Ehrlich!", grummelte er, "suchst DU dir die Schwierigkeiten aus, oder finden sie DICH einfach von selbst?!" Strix beäugte ihn einen Augenblick durch die großen, runden Gläser, etwas konsterniert. "Ich stecke keineswegs in Schwierigkeiten", konterte er entschlossen, "wir haben bloß nicht ewig Zeit, diese Anmelde- und Genehmigungsprozedur zu durchlaufen." Tankred wollte gar nicht daran denken, wie oft die Mee-Poos beispielsweise diese Art von Entschuldigung zu hören bekamen. Vermutlich würden sie vor Gericht landen. Nun ja, über Eintönigkeit in seinem Leben konnte er sich JETZT wenigstens nicht mehr beklagen. "Versuch wenigstens, dich nicht erwischen zu lassen, ja?", bemühte er sich um einen Appell der Schadensbegrenzung. Strix nickte bloß beiläufig, wieder in den Text vertieft. »Prost Mahlzeit!«, dachte der Falkendämon geschlagen, »wieso ist dieses Käuzchen bloß so eigensinnig?!« Andererseits konnte er nicht leugnen, dass er wieder weich werden würde, wenn Strix sich an ihn kuschelte, ganz gleich, welche Kalamitäten der dabei furchtlos bis waghalsig ersann. *~~~+~~~* Xaruli dachte nach, denn er benötigte keinen Schlaf. Hin und wieder stieß er einen kleinen Flammenstoß aus, damit der selig-ekstatisch erschöpft schlafende Zrqaa nicht fror. Feuerwerkskörper. Pulver. Flöten an einem dünnen Strick. Ein Wahamuth. Zrqaa hatte ihm erklärt, dass diese gewaltigen, gepanzerten Wesen das Sandmeer durchpflügten. Allein auf den massiven Bergen war man geschützt vor ihnen, wobei niemand zu sagen vermochte, ob sie etwa Daimonen verzehrten oder was ein Wahamuth so aß. Tatsache jedoch blieb, dass in ihrem fast raketenartigen Antrieb ein gewaltiger Sog entstand. Man wurde vom nachrutschenden Sand förmlich eingesaugt und schneller zerdrückt, als man ersticken konnte, weshalb niemand viel über das Wesen der Wahamuth wusste. Zrqaa hatte in die vage Richtung gedeutet, wo man früher mal den Kadaver eines Wahamuth entdeckt hatte. Sich dort umzusehen hatte lange als Mutprobe gegolten, bis drei Jungs nicht mehr zurückgekehrt waren. Seitdem galt es als verboten, sich dort umzusehen, weil es zu weit war, das nächste Bergmassiv zu erreichen, wenn man entdeckt wurde. Xaruli dachte über Raupen nach, über Kerbtiere, die er im Wald gesehen hatte. Wo, fragte er sich, sind die reisenden Händler geblieben, von denen der schuppige Daimon ihm berichtet hatte. Wie hatten sie die gewaltigen Strecken durchmessen? Die Rede war von einem "Wüstenschiff" gewesen, das Zrqaa ihm sogar aufgezeichnet hatte. Das gab Xaruli Anlass zu Kontemplation. Auch Faunus hatte davon erzählt, dass es Gegenden gab, in denen bis zum Horizont nur Wasser vorhanden war. Man benutzte Schiffe, schwimmende Fortbewegungsmittel, die auch als Unterkunft dienten. Diese schnitten durch die Wellen und andere wiederum hatten eine sehr breite Auflagefläche. Xaruli konnte nicht behaupten, die Dynamik von so viel Wasser zu verstehen. Was den Sand betraf, konnte er sich nur auf die Beobachtungen aus der Vogelperspektive berufen, als der Wahamuth sich wieder zurückgezogen hatte. Gleichmäßig strich er über den schuppigen Leib seines Gefährten. Ob Zrqaa Wollbekleidung helfen würde? Wenn er Wolle hätte, seine Nadeln dazu, stellte es ganz sicher kein Problem dar, den schlanken Daimon entsprechend einzukleiden. Andererseits schien es hier keine vergleichbaren Fasern zu geben. Tauschen konnte man auch nur, wenn man etwas anbot, was die andere Seite interessierte. Man benötigte auch einen Markt, eine Messe, eine Börse dazu. Xaruli entschied, dass er viel zu wenig über seine Umgebung wusste. Das konnte so nicht bleiben. Wer Entscheidungen treffen wollte, musste Bescheid wissen. Weshalb er sich auch als Engel mit dem unabweislichen Virus der "Erkenntnis" infizierte. *~~~+~~~* Tankred seufzte leise, als er seinem Nest entstieg. Strix, im Nachthemd mit Nachtzipfelmütze, lag erledigt neben ihrem Nest, ganz zusammengerollt, das leidige Buch, selbstverständlich, artig zugeklappt und sorgsam beiseite deponiert. Der Große M bewahre, wenn der Buchrücken über Gebühr belastet würde! Ein schändlicher Frevel sondergleichen! Tankred selbst verspürte diesbezüglich weniger Skrupel, immerhin waren es bloß Pflanzenfasern, Leim und Farbe! Dennoch hütete er sich davor, solche unmanierlich profanen Gedanken zu äußern. Behutsam klaubte er Strix auf, hob ihn in ihr Nest und breitete Strix' Cape über diesem aus, schob auch das Weihnachtsbaumkissen heran, damit es bekuschelt würde. Man konnte wirklich nur hoffen, dass sich dieser Aufwand lohnte! Er stellte Wasser und ein paar Knabberriegel in Reichweite, bevor er sich als Malabsorbo für sein Tagwerk in Schale warf und schicksalsergeben das Buch einsteckte, es dem Kontrebandeur zu überbringen. *~~~+~~~* Ümir bewegte sich geschickt in großen Schritten zur "Alten Karawanserei", Fidibus im Arm haltend. Der musste erschöpft sein, denn noch schnorkste er leise und gänzlich unverpackt in die gewohnten Wollschichten! Der Steindaimon orderte für seinen kleinen Begleiter Frühstück. Mittlerweile waren sie ein gewohnter Anblick, man staunte und stutzte nicht mehr so ungläubig. Abrupt richtete sich Fidibus auf, die violetten Augen mit Pupillenschlitz reibend. "Guten Morgen, Ümir!", grüßte er vertraulich, "oje, habe ich verschlafen?" Ümir ersparte sich ausschweifende Erklärungen, reichte schlicht das Frühstück an. Ihn begeisterte es immer wieder, dass Fidibus es verzehren und sich zeitgleich völlig verpuppen konnte, ohne dabei in Konflikt mit Gliedmaßen zu geraten! "Tut mir leid, dass ich dir nicht Gesellschaft geleistet habe!", plapperte Fidibus aus Strickschichten, "dafür habe ich prima geschlafen! Du auch?" Bevor Ümir eine sonor kollernde Bestätigung entlassen konnte, präsentierte sich ihnen gänzlich unerwartet ein Malabsorbo. "Die Erleuchtung muss warten", brummte er kryptisch, steckte Fidibus verstohlen das Buch zu, "aber morgen ist ja auch noch ein Tag." Damit wischte er auch schon eilig davon, ein weniger prominentes Tor aufzusuchen. Ümir glaubte, die Schultern unter den Wollschichten sinken zu sehen, von Erleichterung durchdrungen. Er tippte vorsichtig die Wollmütze an, unter der sich der lockige Schopf samt der Hörnchen verbarg. "Ich wünsche dir viel Erfolg", lächelte er zu Fidibus herab, "heute Abend hole ich dich wieder hier ab, in Ordnung?" "Prima! Ich freu mich schon!", drang es sehr viel munterer zu ihm herauf, wurde seine Hand umarmt, "hab du auch einen schönen Tag, Ümir!" Schon flitzte Fidibus davon, sich seinen Kollegen anzuschließen. Der Steindaimon richtete sich auf und entschied, dass er auf dem Markt seine Lampen feilbieten wolle. Immerhin wäre er dann auch im Epizentrum der neuesten Gerüchte! *~~~+~~~* O-Batyr küsste Yzibao ein jetzt aber auch wirklich und entschieden letztes Mal. Der blinzelte mit Schlafzimmerblick aus den smaragdgrünen Katzenaugen zu ihm hoch, räkelte sich geschmeidig-wohlig, splitternackt zwischen Kissen und Decken, nur von Maunz bewacht. "Wenn ich heute nicht richtig vorankomme, trägst du die Verantwortung!", grummelte Yzibao, ein wenig griesgrämig. Schon beschämend, hatte er sich von Dampfnudeln in Sauce einlullen lassen und dann... Vernaschen traf es nicht mal ansatzweise! Der ungezogene Heros hatte ihn wie ein Büfett abgegrast, bis nichts mehr übrig blieb! Was er nun, etwas wehleidig, durchaus spürte. Wahrscheinlich mit Absicht, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht immer die Arbeit vorziehen sollte! Tyrann! "Ich werde mich jedem Urteil stellen", schnurrte O-Batyr, der unverschämt zufrieden wirkte, dabei beschwingt lächelte. "Setz bloß die blöde Maske nicht ab!", knurrte Yzibao, richtete sich ächzend auf, "sonst denken die Leute noch, du wärst auf Drogen!" O-Batyr lachte bloß, legte ihm aber eine Decke um die bloßen Schultern. "Massage und Dampfbad heute Abend", stellte er verlockend in Aussicht. Yzibao lupfte kritisch eine Augenbraue, pustete lästige, weißblonde Strähnen aus dem Gesicht. "Kannst du dir das überhaupt leisten?", erkundigte er sich misstrauisch. Der Malabsorbo zwinkerte herausfordernd. "Ich werde einfach einige meiner vielen Talente zum Einsatz bringen", neckte er Yzibao. Der schnaubte verdrießlich, "Geheimniskrämer! Angeber! Heimlichtuer!" O-Batyr schmunzelte in sich hinein, streifte sich den wie Pech fließenden, schwarzen Umhang über. Bevor er die Maske kordeln konnte, warf sich ihm jemand hinterrücks an den Hals. Recht verlässlich, Yzibaos strenges Gewissen, gepaart mit seinen eingetrichterten Minderwertigkeitsgefühlen, was Beziehungen betraf. Der Heros strich über die dünnen, nackten Arme, "ich liebe dich auch sehr, Yzzie. Lass uns das heute Abend feiern." An seinem Ohr knurrte es guttural, von einem Stoßseufzer gefolgt, "als wenn wir das nicht jeden Tag täten!" Wenn auch, zugegeben, mit unterschiedlich ausgeprägter Intensität. O-Batyr wandte sich geschmeidig herum, umarmte die zarte, nackte Gestalt, pfiff dann nach den fröhlich herbei schwärmenden Daimonenkäfern. Sie würden Yzibao schon auf Trab halten und davon ablenken, dass der sich ein klein wenig einsam fühlte, wenn O-Batyr morgens aufbrach. Dann, grinste er hinter der Maske, verdiente er sich die Schimpftirade, die schon gleich erklang! *~~~+~~~* Kapitel 24 Man konnte nicht meckern, nun, theoretisch bestand die Möglichkeit durchaus, aber Tybalt hegte kein gesteigertes Interesse, mit Ifans Verärgerung leben zu müssen! Die nicht zögerte, sich mal wieder äußerst unbeliebt zu machen, aber man benötigte nun mal für die Papierherstellung Wasser, damit man aus den sehr klein gewalzten und gemahlenen Faserstückchen einen dicken Brei anrühren konnte. Tybalt vermisste seine Rahmen, doch er wusste sich selbstredend zu helfen. Der Faserbrei konnte ja auch auf flache Steine aufgestrichen werden, die dann in den Sonnen trockneten, was verlangte, dass man auf entsprechende Höhen kletterte. Ifan verfolgte neugierig jeden einzelnen Arbeitsschritt. Die beleidigte Nymphe, die sie verjagen wollte, weil sie glaubte, man werde ihr Gewässer beschmutzen, wurde derart mit Schlamm und Matsch beschmissen, dass sie kreischend abtauchte. Ihre Opponentin rieb sich kurz durch die grünen Stoppel, zwinkerte dann mit den roten Augen in Tybalts fassungslose Miene. "Die is nich ganz so schnell von Begriff", erklärte Ifan ungerührt, "und knausrig mit dem Wasser." Was in den Augen der Dryade nicht anging, weil alle Wasserstellen für alle da waren! Ihr bereiteten solche Auseinandersetzungen nicht die geringsten Sorgen, wie es Tybalt schien. Stattdessen wurden ihm so lange mit kritischen Fragen und Fingerzeigen alle Informationen entlockt, bis er gepiesackt alles zu seiner persönlichen Variante des Papierschöpfens preisgab. "Bisschen bröckelig", kommentierte Ifan, strich über ihre austrocknenden Faserfladen. Tybalt seufzte. "Trocknung nur durch die Sonnen klappt nicht so gut wie mit Belüftung", erläuterte er. Andererseits verlangte es ihn auch danach, rasch eine Botschaft abzusetzen, damit Xaruli wusste, dass ihm nichts geschehen war! Falls der doch noch nach ihm Ausschau hielt... Ifan kaute an einer Knolle, schob ihm beiläufig auch eine hinüber. "Wenn's jetz schon so mürbe is", sie zerrieb eine Ecke, "geht's bestimmt kaputt, da, wo dein Engel is." "Warum sollte es das? Und hör bitte auf, die Ränder abzuknipsen!", grummelte Tybalt, der durchaus die Qualitätsmängel erkannte. Neben ihm richtete sich Ifan auf, ein mahnendes Zeichen für ihn, Aufmerksamkeit zu signalisieren, "na ja, während du hier den Schleim aufgestrichen hast", Tybalt brummelte bei dieser wenig schmeichelhaften Beschreibung, "hab ich die Lauscher aufgesperrt." Die Dryade langte einfach nach seiner Tasche, entzog ihr einen Kreidestein. Tybalt verzichtete auf einen Protest, der ohnehin auf Ifan keinen Eindruck gemacht hätte. Sie malte neben ihm in groben Strichen. "Also, da, wo gestern das Feuer am Himmel war", Ifan zog eine Umrisslinie um ihre nackten Zehen, "da is nichts, nur Sand. Heiß. Steine." Neben ihr runzelte Tybalt die Stirn, "woher weißt du das? Als wir ganz oben auf dem Vorsprung waren", begann er, doch Ifan rammte ihm ihren Ellenbogen in die Seite. "Ich hab zugehört!", wies sie ihn streng zurecht, "erinnerste dich, was ich über die Vögel gesagt hab? Es is wirklich weit weg. Vögel, die wandern, wissen Bescheid." Stumm studierte Tybalt die grobe Kartendarstellung, von den nackten Zehen bis zum Gebirgsmassiv, dahinter, in großer Marschentfernung, die Stadt, und viel weiter, immer weiter, so weit, wie Ifans Arm reichte, das Sternchen, als Zeichen für Xarulis nächtliches Feuerwerk. Ifans Ellenbogen traf seine Seite erneut. "Besser wär's also, du machst's wie oben!", deutete sie auf das uralte Gemälde am abgebrochenen Steinsims, "kratzt was in Stein! Oder ne Tafel!" Er seufzte, "selbst wenn ich das täte, so kann Xaruli nicht lesen. So kleine, feine Zeichnungen in Stein kratzen, das schaffe ich nicht." Dazu würde man, wie er vermutete, spezielles Werkzeug benötigen, ein Material, das noch viel härter als Stein war, dazu auch noch spitz. "Matsch!", schlug Ifan vor, die zu seiner Überraschung mitgegrübelt hatte, "manchmal wird der furchtbar hart!" Tybalt lupfte eine Augenbraue. "Du meinst, in feuchten Matsch einritzen, der dann trocknet", formulierte er bedächtig. Ifan grinste ihn frech an. "Wenn das mal kein Plan is!", feuerte sie ihn an, riss ihn ungeniert aus der Hocke hoch, "komm, mischen wir die olle Nymphe noch mal richtig auf!" Fraglos sagte ihr dieser Aspekt ihres Experiments am Meisten zu! *~~~+~~~* Zrqaa schüttelte stumm den Kopf, richtete sich auf. Er konnte, aufs Äußerste konzentriert, die minimalen Erschütterungen erahnen, die der Wahamuth unter dem Sand auslöste. Offenkundig verspürte dieser noch kein Bedürfnis, sich von ihrem Felsmassiv zu entfernen, das deshalb nicht besiedelt war, weil es eben nicht leicht erreicht werden konnte, die ungeschützte Strecke zu gewaltig blieb. Xaruli neben ihm studierte ebenfalls die Umgebung, die schwarzen Augäpfel funkelnd. Er ging in die Hocke, malte mit dem Zeigefinger eine Skizze. Zrqaa runzelte die Stirn leicht, "du willst dorthin, wo der Kadaver liegt? Nun, ich kann dich sicher anleiten, aber was willst du dort tun?" Der Engel erhob sich, breitete seine beeindruckenden Doppelschwingen aus. Seine gesamte Haltung drückte Entschiedenheit aus. Zrqaa zuckte lässig mit den schmalen Schultern, lächelte breit, "nun, du bist hier der Engel, richtig? Dann kann ja nichts schiefgehen!" Trotzdem raste ihm das Herz in der Brust, als Xaruli ihn fest umschlang und sich vom Felsen in die Luft erhob. *~~~+~~~* Ümir sortierte bunte Glassplitter. Man konnte sie hübsch arrangieren, zu kunstvollen Mosaiken. Er blickte auf, als er ein Räuspern hörte. "Faunus!" Der alte Walddaimon nickte gravitätisch, "ach, bleib ruhig sitzen, Ümir. Wir sollten uns unterhalten, über einen gemeinsamen Freund." Der Steindaimon nickte eilig, schenkte Faunus rasch Wasser in einen Glasbecher ein, den er für Kundschaft an seinem Stand vorhielt. Faunus nippte anerkennend. Gute Manieren, aufmerksam, zurückhaltend, ein prachtvoller Bursche, nicht nur der äußeren Erscheinung nach. Er schob sein gewaltiges Bündel näher, ließ Ümir einen Blick hineinwerfen: Wollbekleidung, Stricknadeln, Rahmen, Töpfchen, Pinsel, Kalebassen. Langsam sackten ihm die gewaltigen Schultern herab. Der alte Walddämon seufzte leise. Nein, gute Nachrichten hatte er nicht in petto. *~~~+~~~* Xaruli hatte keine Mühe, den von Zrqaa ausgedeuteten Ort zu erreichen. Er landete federleicht mit seinem Passagier direkt bei der toten Hülle. "Gewaltig, oder?", der schuppige Daimon ging sofort in die Hocke, obwohl ihn der Anblick in Erstaunen versetzte, doch er wollte nicht das Schicksal der drei Jungen erleiden, deshalb galt es gleich zu ertasten, ob sich irgendwo verdächtige Echi im Sand erahnen ließen! Der Engel klappte die Flügel sorgsam ein, marschierte dann um die Karkasse herum. Sie entsprach in Teilen seiner Vermutung aus der nächtlichen Kontemplation. Um dem gewaltigen Druck innerhalb des Sandmeers standzuhalten, musste der Wahamuth über eine Panzerung verfügen. Diese hatte jedoch bewegliche Gelenke, sonst wäre kein Fortkommen möglich. Eine Spitze, dann flächige Elemente, gleitend, tragend. Zrqaa verfolgte erstaunt, wie Xaruli einen Teil der Panzerung auseinander zog, ungehindert von den fehlenden Gelenken. Dann begann er sogar, die von der Sonne ausgedörrten Innereien, nunmehr lederartig geschrumpft und mumifiziert, auszulösen! "Äh, kann ich dir helfen?", brachte er sich zögernd ein. Xaruli nickte, deutete auf den langen Dorn an Zrqaas Gürtel. Dem schien es, als streife die Anmutung eines wilden Grinsens das puppenhafte Gesicht des Engels. Man musste gespannt sein! *~~~+~~~* Strix flitzte eilig zur Höhle des Steindämons, Ümir. Dabei kümmerte ihn wenig, wie energiesensitive Daimonen auf ihn reagierten, oder dass er seit einer Ewigkeit wieder unter Leuten war! Nein, mit missionarischer Entschlossenheit wollte er seinen Beitrag leisten! Außerdem hatte Tankred ihn einfach ausschlafen lassen, was eine lässliche, wenn auch liebevolle Entgleisung darstellte! *~~~+~~~* "Und nun?", Yzibao fasste die unerfreuliche Situation zusammen. Ümir, der zum ersten Mal in seiner Höhle Gastgeber einer konspirativen Vereinigung war, räusperte sich verlegen. "Morgen gehen wir zu Tybalt. Er muss ja Bescheid wissen", kündigte er tollkühn an. Außerdem konnte man ihm gleich auch sein Hab und Gut überreichen, dazu das prachtvolle Kapuzencape, welches auch als Decke dienen konnte. "Aber was sagen wir ihm über Xaruli?", brachte sich Strix grimmig ein. Er HATTE sein Bestes gegeben, seine Erkenntnisse geteilt, weshalb nun drei ratlose Gesichter inmitten wunderschöner Laternen und Lampen grübelten. "Klingt mir verdächtig nach einer Vergiftung. Drogen", lautete Yzibaos Urteil, der daran zweifelte, dass die menschlichen Verfassenden die Lage korrekt erfasst hatten. Auch Strix konnte sich seiner Sache nicht sicher sein. Wieso sollten Engel gegen Engel kämpfen?! Woher kam dann ein Drachen?! Und der gesamte Rest, freie Assoziationen und Metaphern in allen Ehren, las sich tatsächlich so, als habe einer zu lange am Hochprozentigen geschnüffelt! Ohnehin hatten Engel nichts bei Menschen zu suchen, das wussten ja alle! Auch schien es ganz und gar nicht verständlich, aus welchem Grund da irgendwer gegen irgendwen kämpfte! Oder tutete. Alles sehr verwirrend. Selbst wenn Xaruli ein feuerspeiender Engel war, so hatten sie nicht erlebt, dass er auf andere Engel losging. Außerdem verdroschen sich Engel nicht gegenseitig. Andererseits, man wusste nicht, was auf der anderen Seite so vor sich ging. Gegangen war. Gerüchteweise hatten sich Engel dort quasi ewig um ihre jeweilige Aufgabe gekümmert. In der merkwürdigen Schilderung schien es jedoch so, als sei das Feuer ausschließlich dazu da, irgendwem etwas anzutun, also nicht "für" etwas da zu sein, sondern "dagegen". Warum aber sollte man Engel mit Aufgaben betrauen, die man gar nicht benötigte? Oder die schädlich waren? "Wir könnten uns darauf beschränken", machte Strix endlich einen Vorschlag, "ihm zu sagen, dass Xaruli keine Schuld daran trägt, am Ende dieses Baobhan-Sith-Daimons." Zugegeben, sein Feuer hatte dazu beigetragen, aber zweifelsohne galt die Attacke als geplanter Suizid, zumindest nach ihrer einhelligen Überzeugung. "Du solltest vielleicht das krude Zeug aus diesem Buch vergessen", riet Yzibao, der ein Schaudern nicht unterdrücken konnte in Erinnerung an seine Ziehmutter. Ihre verzweifelte Entschlossenheit kannte er nur zu gut. Strix seufzte, nahm die Brille ab und polierte die großen, runden Gläser gründlich. "Ich dachte, wenn ich an die Quelle gehe, bekomme ich den richtigen Hinweis", bekannte er, "aber daraus werde ich einfach nicht schlau. Ganz recht, ich kann wohl kaum empfehlen, dass Xarulis Talente ihn als fliegendes Kampfmittel ausweisen." Ümir räusperte sich, "möglicherweise fällt Tybalt etwas ein? Er kennt Xaruli am Längsten. Wenn er aus eigenem Antrieb das Stricken und Färben von Wolle gelernt hat, kann er bestimmt auch andere, ungefährliche Fertigkeiten erwerben." Nach einem langen Moment stiller Einkehr, ob sich noch ein besserer Vorschlag fand, nickten drei Köpfe unisono, dann begann Strix, die Expedition für den nächsten Tag zu planen. *~~~+~~~* Zrqaa hielt Ausschau. Würde ihre Anwesenheit unbemerkt bleiben? Bis zu den nächsten Felsen betrug die Distanz mehr, als ein engagierter Sprint überbrücken konnte. Zugegeben, Xaruli konnte in die Luft entkommen, aber wenn sie überrumpelt wurden... Der Engel ging methodisch vor, wie Zrqaa nicht umhin konnte zu registrieren. Er löste die Karkasse in Bestandteile auf, Panzerbruchstücke hier, lederartige Innereien dort, andere Einzelteile da hinten. Aber nicht nur das. Einem Plan folgend, der sich dem schuppigen Daimon nicht erschloss, verband er auch wieder Parts miteinander, blies Feuer auf die geschrumpften, ausgetrockneten Innereien, um sie zur Kooperation zu zwingen. Endlich betraute er Zrqaa auch mit einer Aufgabe, nämlich Streifen fest aneinanderzufügen. Es roch nach versengtem Chitin, nicht gerade angenehm, aber Zrqaa begab sich entschlossen an die Arbeit. Was mochte Xaruli vorhaben? Wozu schabte er an dieser grässlichen Haut herum? *~~~+~~~* Tybalt seufzte und verzierte sein Gesicht unbewusst mit einem weiteren lehmigen Streifen, als er mit dem Handrücken die Stirn touchierte. Wie bei der Papierherstellung erwies es sich als recht schwierig, die richtige Mischung für den "Matsch" zu finden, weich genug, dort erkennbare Zeichnungen einzudrücken und gleichzeitig in der Sonne zu einem festen, soliden Material auszutrocknen. Ifan hatte sich zeitweise beteiligt, dann aber auch wieder entfernt, legte ihm ab und an beiläufig etwas zum Essen hin. Bei ihrer letzten Rückkehr kehrte sie Papierbröckchen vor ihm aus. "Also, das hat nich geklappt", lautete ihr unverbrämtes Urteil. Tybalt knurrte, durchaus frustriert. "Lass uns morgen weitermachen, wird dunkel", Ifan klopfte ihm auf die Schulter, "dein Kumpel schmeißt bestimmt wieder n Feuerwerk für dich!" Nun, das bedeutete zumindest, dass es Xaruli gut ging. Trotzdem. Tybalt fühlte sich unzulänglich, denn ER konnte nicht antworten, und wahrscheinlich wusste Xaruli auch gar nicht, wo er abgeblieben war! "Könntest auch über ne Alternative nachdenken", Ifan sammelte Utensilien ein. "Ach ja?", Tybalt rieb sich müde die Augen. "Lederhaut", bemerkte Ifan knapp, was ihr einen entsetzten Blick einbrachte. "Die-die Haut von Tieren?!", krächzte Tybalt schockiert. "Brauchen sie nicht mehr, wenn sie hin sind", stellte Ifan zutreffend fest. Allerdings konnte man kaum davon ausgehen, dass bequemer Weise irgendwo ein Tier tot umfiel und gern seinen Beitrag für eine größere Nachricht leistete! "Ich werde nichts töten!", zischte Tybalt empört. "Wie du meinst", zuckte Ifan gleichmütig mit den Schultern. Ihn hingegen schauderte, denn zu deutlich stand ihm vor Augen, wie die Eiben-Dryade den Fisch gefangen und erledigt hatte. Tybalt folgte ihr stumm, mit sich selbst im Zwiespalt, ob seine Reaktion zu harsch ausgefallen war. Fühlte sie sich beleidigt? "Entschuldige bitte, dass ich so grob war", formulierte er schließlich kleinlaut. Die roten Augen studierten ihn eingehend in der einsetzenden Dunkelheit. "Is nich leicht, sich immer an die Regeln zu halten", stellte Ifan ruhig fest, "aber is ja jetz noch nich so, als gingen uns die Ideen aus!" Was für sie offenbar das leidige Thema beendete. Erleichtert schloss Tybalt zu ihr auf. Er fragte sich, ob es daran lag, dass sie eine giftige Eibe als Dryade bevorzugte, oder dass sie ein Mädchen war, denn irgendwie merkwürdig war Ifan in jedem Fall! *~~~+~~~* "Also, das hat er jedenfalls erzählt. Hört sich doch völlig blödsinnig an, oder?!", Yzibao, die weißblonden Strähnen hochgesteckt, wenn auch schon in dezenter Auflösung, wisperte O-Batyr die Neuigkeiten im Dampfbad zu, durchaus mit der Erwartung, dass seiner Einschätzung beigepflichtet werden würde. Der Malabsorbo, bis auf das obligatorische Lendentuch unbedeckt, pflügte durch seine recht überschaubaren Erinnerungen. Vage entsann er sich einer gewissen Frömmigkeit, verordnet, erwartet, nahezu gesetzmäßig, doch Details konnte er nicht aufführen. "Ich kann das nicht beurteilen", antwortete er schließlich, "aber vermutlich hilft es auch nicht weiter." Immerhin, es drehte sich um einen fliegenden Engel, der Feuer spucken konnte. Wenn dessen Urteilsfähigkeit zu wünschen ließ, konnte man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die P.U.D.E.L. ihn aus dem Verkehr ziehen würden, ganz gleich, wie weit er sich entfernte. "Es gibt auch bestimmt vernünftige Einsatzmöglichkeiten", wiederholte Yzibao energisch seine Ausführungen vom späten Nachmittag, "Feuer zum Anheizen ist immer gefragt." Zumindest, wenn man nicht gerade eine der zahlreichen geothermischen Angebote nutzen konnte. O-Batyr studierte durch den dichten Dampf die vagen Umrisse seines geliebten Gefährten, "du beabsichtigst aber nicht, morgen die Expedition zu begleiten, oder?" "Morgen? Ha!", schnaubte der Daimon grimmig, "schon mitten in der Nacht wollen sie wegen der Distanz losziehen!" Was mit ihrem gegenwärtigen Vergnügen bereits kollidierte. "Außerdem könnte ich kaum mithalten", ergänzte Yzibao spitz. Ohne Flügel oder mit einer so gewaltigen Schrittlänge wie ein Steindaimon ausgestattet wäre er nur hinderlich für das zügige Fortkommen. "Das erleichtert mich", ließ sich O-Batyr auf ärgerliche Vorhaltungen ein. "Hör mal!", fauchte Yzibao prompt, "hältst du mich für so dumm?! Außerdem habe ich meinen Beitrag ja wohl geleistet!" Auf den Kapuzenmantel mit diversen Nutzungsmöglichkeiten war er durchaus stolz! Der Heros lächelte, im Dampf unkenntlich. "Nun, mich freut das, weil wir dann ausreichend Zeit für uns haben", gab er freimütig zu. Niemand würde mehr höflich, aber nachdrücklich anklopfen wegen eines Gefallens, kein Kollege seufzend Sorgen mitteilen, was diese leidige Angelegenheit betraf. "Pah!", Yzibao erhob sich, die Hände in die mageren Hüften gestützt, "solltest du nicht weniger selbstsüchtig sein, so als Held?!" O-Batyr schmunzelte. "Ich glaube, die Legendenbildung hat so einige pragmatische Aspekte des Heldendaseins unterschlagen", schnurrte er amüsiert mit sonorer Stimme, beispielsweise den Umstand, dass Helden sich durchaus auf eigene Interessen konzentrierten, auf das, was nötig war, andere glauben zu machen, man sei besonders, Heldenmaterial. "Echt ernüchternd!", grummelte Yzibao, "im Übrigen ist mir jetzt heiß genug!" Gleichbedeutend mit seinem Wunsch, diese Räumlichkeit zu verlassen. "In Ordnung", O-Batyr griff nach Yzibaos Hand, verschränkte ihre Finger miteinander. Er bog jedoch nicht ab zu den Massagehöhlen oder Ankleideräumen, sondern in einen breiten Schacht, wo man eine gewaltige Höhle mit Thermalquellen zu einem sehr ansprechenden Schwimmbecken umgewidmet hatte, samt Dekor und Wasserorgel! "Oh nein!", protestierte Yzibao verschreckt, doch O-Batyr unterlief sein Manöver, hob ihn auf die Arme und marschierte schnurstracks ins wohlig temperierte Wasser. Erwartungsgemäß klammerte der Daimon sich an ihn, dabei unentwegt zischend, dass er ihm das heimzahlen würde, was für ein mieser Molch er doch sei... Allerdings verstummten diese Verwünschungen, als das Wasser ihre Achseln erreichte. "Ich will das nicht!", bekundete Yzibao schrill, "lass mich raus!" "Dann müsste ich dich loslassen, Yzzie", konterte O-Batyr unbewegt, bemerkte die glasige Qualität der smaragdgrünen Katzenaugen. Yzibao war nicht wasserscheu per se, aber tiefere Gewässer, nicht nur Seen in Waldnähe, bereiteten ihm offenbar großes Unbehagen. "Bring-bring mich gefälligst zurück!", verlangte Yzibao ängstlich. "Noch nicht", O-Batyr löste seinen Arm unter Yzibaos Kniekehlen. Der umklammerte prompt seinen Nacken mit einem erschreckten Keuchen. "Yzzie", der Malabsorbo breitete die Arme aus, "ich werde mich jetzt auf den Rücken legen. So können wir ein bisschen schwimmen." "Nein! Ich will das nicht, hörst du?!", protestierte Yzibao, die Stimme so hoch und hell wie die eines Kindes, panisch, verzweifelt. "Halt dich einfach an mir fest", O-Batyr erzeugte mit den ausgebreiteten Armen Wellenbewegungen, "es kann dir nichts passieren." Dann stieß er sich schwungvoll vom Boden ab, zog mit geübter Körperspannung seinen Leib flach aufs Wasser, trotz des Passagiers, der sich gerade eher wie ein Mühlstein verhielt, aber O-Batyr wusste, dass er mit einer geraden, flächigen Auflage nichts zu fürchten hatte. Anders als Yzibao, der schluchzte und sich dabei auch noch verschluckte! Mit Armen und Beinen versetzte O-Batyr sie in eine gemächliche Vorwärtsbewegung, in tieferem Bereich vom Auftrieb dezent unterstützt. Stocksteif wie ein Brett balancierte Yzibao dabei auf seinem Torso, sich schniefend seinem unvermeidlichen Ende ergebend. "Siehst du?", O-Batyr pilotierte mit Selbstvertrauen, den Blick an die prächtig ausgeschmückte Höhlendecke gerichtet, wo man Hinweise eingeschlossen hatte. Rotstichige Katzenaugen wurden zögerlich geöffnet. "Das Wasser trägt uns", stellte O-Batyr sanft das Offenkundige fest, "hab keine Angst, Yzzie. Genieß es." Yzibao schnüffelte, funkelte ihn erbost an. "Wenn wir hier raus sind und ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, werde ich dir das heimzahlen!", drohte er in kindlich anmutendem Zorn. O-Batyr nickte verständnisvoll, "darauf verlasse ich mich auch. Wenn dann noch die Käfer kommen und uns einspinnen..." Er konnte an Yzibaos gewittriger Miene lesen, dass der ihm gerne für diese süffisante Bemerkung die Nase so richtig eingeklemmt hätte! Allerdings wäre es für erzieherische Maßnahmen dieses Kalibers erforderlich, den sicheren Halt um den muskulösen Nacken aufzugeben. Der Malabsorbo zwinkerte mit den tiefschwarzen Augen. "Du bist so ein mieser Molch!", titulierte Yzibao ihn schließlich enragiert, aber hilflos. "Hmmm, kann schon sein", antwortete O-Batyr liebenswürdig und senkte genüsslich die Lider. Er verließ sich darauf, dass Yzibao ihn noch energisch anweisen würde, wenn die Gefahr bestand, in andere Schwimmende zu treiben oder mit einem stationären Hindernis zu kollidieren. *~~~+~~~* Tankred versuchte gar nicht erst, sein eigensinniges Käuzchen von dem geplanten Vorhaben abzuhalten. Stattdessen schob er lieber noch zwei weitere Knabberriegel in die prall gefüllte Tasche. "Sieh mal!", Strix präsentierte praktische Wollhandschuhe, eine Mütze mit Ohrenklappen und einen voluminösen Schal, "prima, nicht?! Für die Höhen bin ich jetzt gerüstet!" Das Design, ein changierendes Muster in waldgrünen Nuancen, musste natürlich seinem Käuzchen zusagen! "Faunus hat sie uns überlassen", erklärte Strix unbeeindruckt von der resignierten Zurückhaltung des Falkendaimons, "Xaruli wird sie wohl kaum benötigen, in der Wüste, meine ich." Außerdem, darüber hatten sie kurz bei Ümir debattiert, waren ihnen keine haarigen Tiere bekannt, die in Steppen oder Wüsten lebten. Die Einsatzmöglichkeiten für die Strickfähigkeiten des Engels auf diesem speziellen Gebiet erschienen somit eher vernachlässigbar. "Wir treffen uns etwas außerhalb", noch mal kontrollierte Strix seine Wasservorräte, "ich hoffe wirklich, dass es Tybalt gefällt, wo er gerade ist, sonst müssen wir uns nach einem anderen Wald umsehen." Denn, das hatte der alte Faunus unmissverständlich klar gemacht: zurück konnte Tybalt nicht gehen. Man würde ihn ausgrenzen, schneiden, meiden. Für ein einigermaßen gesichertes Überleben ganz sicher keine guten Voraussetzungen! "Ich trage natürlich auch Verantwortung", ließ Strix Tankred wissen, "immerhin war es ja meine Idee! Aber ich glaube, dass Dryaden einen Wald brauchen, auch wenn es ihm hier gut gefallen hat." Dann gab es ja auch noch die ganze seltsame Konstellation mit dem Engel, Xaruli, zu besprechen! Zugegeben, Vögel mochten Wälder, auch Daimonen seiner Sorte, man KONNTE im Wald fliegen, allerdings verfügte keiner von ihnen über die sehr seltene Fähigkeit, ohne Hilfsmittel alles in Brand zu setzen. Dazu musste man addieren, dass sich Xarulis Potential erst im Sonnenschein, in der Stadt, so richtig entwickelt hatte. Möglicherweise bedurfte er deshalb einer stärkeren Exposition, was Schatten liebende Waldbewohnende ganz sicher nicht taten! Angetrieben von seiner unbändigen Neugierde beließ es Strix bei einer festen Umarmung und einem aufmunternden Lächeln, entschieden die Brille justierend. Tankred warf einen fast flehenden Blick hoch in das Gesicht des Steindaimons, der nicht nur sämtliche Habseligkeiten schulterte, sondern auch einen kleinen Wollberg apportierte, der in einen ganzen Strickanzug mit dem Farbenspiel seiner ungewöhnlichen Haut gehüllt war und leise schnorkste. Ümir nickte knapp, noch immer scheu, dann setzte sich die ungewöhnliche Reisegesellschaft in Bewegung, immer wieder nach dem Firmament Ausschau haltend, ob auch in dieser Nacht ein Feuerzeichen abgesetzt werden würde. *~~~+~~~* Xaruli spürte die nachlassende Hitze vom Boden, dort gespeichert, während schon weiter oben sehr viel kühlere Temperaturen Einzug hielten. Noch wusste er nicht allzu viel über Thermik und das Segeln, aber er hatte ein vertrauenerweckendes Gespür für das Gleiten entwickelt. Zusammengerafft wirkte das Segel eher wie ein ledriger Stoffballen, doch der Engel entschied, dass jetzt ein Test nicht schaden konnte. Zrqaa kauerte, wie angewiesen, auf dem verarbeiteten Stück des Wahamuth-Panzers. Immer wieder blickte er nervös um sich, lauschte. Die Vorstellung, die einbrechende Nacht ohne den Schutz eines Berges im Sandmeer zu verbringen, gefiel ihm gar nicht. Andererseits wollte er Xaruli auch nicht bedrängen, der den ganzen Tag ohne Unterbrechung mit großer Geduld gearbeitet hatte. Der Engel entfernte sich etwas, achtete darauf, dass die "Seile" ordentlich auf dem Sand lagen, dann breitete er seine imponierenden Doppelschwingen aus, stieß sich mühelos vom Boden ab. Das Segeltuch, noch zusammengerollt, blähte sich kaum auf, als er eine bemerkenswerte Höhe erreicht hatte, die Seile sich strafften. Xaruli stieß Flammen aus, erhitzte die Luft direkt um sich, die in die kühlere Nachtatmosphäre nach oben stieg. Nun, das Prinzip schien ausbaufähig zu sein, doch das focht ihn nun nicht an, denn sein "Wüstenschiff", vorne zugespitzt, dann flach auslaufend, nahm mühelos Fahrt auf. Die Seile unter den Achseln haltend flog Xaruli mit hohem Tempo vorneweg, von der Segelfläche, die er nur wenig über sich ausgebreitet hatte, kaum unterstützt. Ob das tagsüber besser funktionierte? Wie viel Luftbewegung wäre nötig? Zrqaa unter ihm, der sich in Kauerhaltung festklammerte, stieß einen Warnruf aus. Der Engel beschleunigte, hielt auf ein breites, nicht allzu hohes Felsmassiv zu. Der Schlitten glitt flott voran, man konnte allerdings das typische Geräusch des Sandsogs schon vernehmen. Es entstand, wenn ein Wahamuth an die Oberfläche strebte. Nun, dieser hier würde sich einen blutigen Schädel holen, wenn er glaubte, sie erwischen zu können. Xaruli gestattete sich ein zufriedenes Mundwinkelzucken. Außerdem, sobald der Schlitten auf dem Felsen lag, hatte er auch noch eine Botschaft zu übermitteln. Dass er gekommen war, um zu bleiben. *~~~+~~~* O-Batyr nahm es nicht krumm, dass Yzibao entschieden hatte, KEIN WORT mehr mit ihm zu wechseln, als er empört den Schacht nach oben gewählt hatte. Nach dieser ZUMUTUNG brauchte er mindestens eine gründliche Massage! Der Malabsorbo nutzte einen sehr viel kühleren Abschnitt, noch einige sportliche Schwimmzüge zu absolvieren. Am Ende, dazu gratulierte er sich selbst, lag Yzibao entspannt auf ihm, nicht mehr völlig verkrampft und nahezu hysterisch. Ob das eine Methode der Baobhan-Sith-Vampirinnen gewesen war, Gehorsam und Folgsamkeit zu erzwingen? Möglicherweise würde sich Yzibao ihm irgendwann mal anvertrauen. Nun, zumindest hatte er die wärmende Schwerelosigkeit schon mal erfahren, das musste für den Anfang reichen. O-Batyr trocknete sich ab und schlüpfte in seine gewohnte Aufmachung der leichten Reiteruniform, dann machte er sich auf die Suche nach Yzibao. Manatee lächelte ihn an, farbenprächtige, in folkloristischem Stil gehaltene Borten an ihren gewaltigen Kittel, ihre "Eintrittskarte" für diesen Abend, da sich O-Batyr durchaus seiner Möglichkeiten besann. Den Daimonenkäfern bereitete es auch keine große Mühe, mit ihm verkaufsfähige Produkte herzustellen. Auf Manatees Massageliege schlief Yzibao, die weißblonden Haare schon mehrheitlich dem Dutt entkommen, vollkommen erledigt. O-Batyr betrachtete ihn einen Augenblick länger, fast andächtig, eine schöne, ätherische Erscheinung, die nicht ahnen ließ, wie viel Temperament, Grazie, Anmut und verletzliche Sanftmut sie umhüllte. Gemeinsam mit Manatee wickelte er Yzibao in dessen Kapuzenumhang, nahm ihn auf die Arme. Die restlichen Habseligkeiten zusammengepackt und von Manatee schmunzelnd an sein eigentlich nutzloses Schwertgehänge gebunden, machte er sich auf den Heimweg. Die hilfreichen Daimonenkäfer ließen sie ein. O-Batyr legte Yzibao auf dem improvisierten Decken- und Kissenlager ab, zupfte den Umhang heraus und stopfte stattdessen Maunz in die dünnen Arme. Er verschloss die Pforte sorgsam, fütterte die diensteifrigen Käfer, dann entkleidete er sich selbst und schlüpfte zu seinem Gefährten. "Hmmm, Maunz", murmelte Yzibao leise, im Schlaf, zog kindlich die Knie hoch. Der Heros angelte weitere Decken heran, rutschte auch näher, liebkoste mit der Hand sanft zarte Schläfen. Kein Zweifel, er liebte diesen ungewöhnlichen Daimon! "Bati", überwand Yzibao die Distanz, quetschte Maunz zwischen ihnen ein, sich förmlich in O-Batyrs Gestalt verkriechend. "Alles in Ordnung, Yzzie", summte O-Batyr sonor, küsste die Stirn durch weißblonde Strähnen. Er streichelte zärtlich jedes erreichbare Fleckchen, langsam, bedächtig, dankbar, versunken, bis ihm selbst die Augenlider zufielen. Die Daimonenkäfer brummten zufrieden und signalisierten den Glühwürmchendaimonen, sich tief in die Laternen zurückzuziehen, damit sie alle eine erholsame Nacht mit schönen Träumen verbringen konnten. *~~~+~~~* Der Wahamuth legte an Tempo zu. Xaruli warf den Kopf in den Nacken und stieß feurige Lohen hoch in die sich ausbeulende Segelfläche. Keine Frage, hier musste noch Hand angelegt werden, aber zumindest beschleunigte ihr "Wüstenschiff" erheblich. Unten hörte er Zrqaa pfeifen, einen schrillen Alarmruf, nicht etwa mit dem Instrument, das man allen Kindern gab, nur ihm entzogen hatte, sondern durch die Zähne. Eine unwillkürliche Reaktion angesichts der Gefahr? Der Engel kontemplierte dies, ohne aus dem Takt seiner Flügelschläge zu kommen. Zu warnen, obwohl er niemandem dies mehr schuldig war, hatte man ihn doch seinem Schicksal überantwortet, allerdings schien Zrqaa nicht von Bitterkeit oder Rachegefühlen erfüllt, eher, als habe er die Notwendigkeit dieses Verdikts eingesehen. Für Xaruli unverständlich, doch er gab zu, dass die physischen Aspekte gewisser Interaktionen ihn noch immer in ihrem Kontext vor Rätsel stellte. Wer mit wem wann...wo...warum? Oder auch nicht? Sehr mysteriös. Unten zeichnete sich ein deutlicher, trichterförmig sich ausweitender Graben hinter ihrem Sandschlitten ab. Offenbar war dieser Wahamuth darauf aus, das Rennen für sich zu entscheiden. Xaruli erhöhte die Schlagfrequenz seiner Flügel. Tief unter ihm, sich zusammenkauernd und mit aller Kraft festklammernd, fragte sich Zrqaa mit mehr als einem Quäntchen Verzweiflung, wie der Engel zu bremsen beabsichtigte, denn rapide wuchs das flache Felsmassiv vor ihnen in aller Breite an. Würden sie daran zerschellen?! *~~~+~~~* Tybalt zog die Schultern hoch, während er neben Ifan in einer Astgabel nahe dem Baumwipfel kauerte. Kein Papier und die Experimente mit der "Tontafel" gescheitert, da fühlte er sich durchaus etwas geknickt. Ifan keineswegs, sie kaute an einer Wurzel. Um sich abzulenken, zog er widerstrebend Erkundigungen ein. "Also, die Vögel", begann er zögerlich, "wieso fliegen die zur Wüste?" Prompt spürte er einen spöttischen Seitenblick, was ihn veranlasste, stur geradeaus zu stieren, auch wenn sich da nichts tat. "Die fliegen nich zur Wüste", korrigierte Ifan schließlich grinsend, "sondern drüber. Unten is das Wasser im Boden, also nich gerade leicht zu bekommen." Zweifelnd zog Tybalt die Augenbrauen hoch. "Gibt jede Menge hinter der Wüste", ließ sich Ifan amüsiert aus, "is ne große Welt da draußen." "Ach ja?", grummelte Tybalt betont skeptisch. "Hmm", mümmelte Ifan ungeniert, schluckte, "ganz viel Wasser, jede Menge unterschiedlicher Wälder, Eis und Schnee, Sandhügel, Graslandschaften. Für jeden was Feines." "Und das erzählen dir die Vögel?", brummte Tybalt misstrauisch. Er war sich nämlich nicht sicher, ob Ifan nicht eine weitere Gelegenheit nutzte, ihn aufzuziehen. "Klar!", die Eiben-Dryade zog ihren Beutel vom Rücken, kramte darin herum. Sofort kreisten auch neugierige Glühwürmchendaimonen um sie, halfen bei der Suche. Auf der nicht ganz sauberen Handfläche präsentierten sich eine unglaublich gefärbte Feder, eine schneckenhausförmig gedrehte Muschel, ein schillerndes Stück schuppiger Haut... "Woher ist das alles?", Tybalt staunte beeindruckt. "Getauscht. Gegen Fisch und so", Ifan verstaute ihre Schätze wieder. Tybalt versank in nachdenkliches Schweigen. "Also gibt es ziemlich viel da draußen, richtig?", eruierte er ungeahnte, aber auch beängstigende Möglichkeiten. "Jede Menge", bestätigte Ifan, baumelte mit den Beinen. "Oh", murmelte Tybalt. Demnach konnte Xaruli, der ja nicht wie er selbst auf einen Wald, die Nähe zu Bäumen angewiesen war für sein Wohlbefinden, überall hingehen. Oder fliegen. "Für jeden gibt's n Platz", ergänzte Ifan, die offenkundig Mitleid mit ihm hatte, was ihn nicht gerade aufbaute, "musst dich bloß mit den Einheimischen arrangieren." Nun, in ihrem Fall, dachte Tybalt ungewohnt kriegerisch, wohl eher umgekehrt! "Gibt es denn auch einen Ort für Engel?", wollte er sich nicht so leicht auskontern lassen. Dass Ifan immer das letzte Wort haben sollte, schmeckte ihm nämlich gar nicht. "Na, Himmel, die andere Seite, würd ich mal sagen", grinste sie ihn an, ließ die Glühwürmchen durch ihre Stoppelfrisur marschieren. Die Augen verdrehend grummelte Tybalt, "mal davon abgesehen." "Tja!", Ifan baumelte wieder mit den Beinen, "die suchen sich auch ihren Platz, da, wo sie was tun können." "Aber es gibt jetzt keine spezielle Region oder Gegend?", fahndete Tybalt nach Informationsbrocken. "Hab ich noch nix von gehört", gestand Ifan ohne jede Zurückhaltung ein, "wenn sie extra rüber kommen, können sie sich ja nur n Platz suchen, wo schon Daimonen sind." In ihrem Unterton schwang mit, dass man diese einfache, logische Schlussfolgerung durchaus hätte selbst ziehen müssen. Tybalt grummelte leise. "Es is so", Ifan rammte ihm in gewohnt rustikaler Vertrautheit den Ellenbogen in die Seite, "nich jeder kann überall leben. Wir sind nun mal unterschiedlich." DAS verstand sich ja wohl von selbst! Bevor Tybalt jedoch eine spöttische Replik äußern konnte, explorierte Ifan diesen Gedankengang weiter, "biste ne Dryade, brauchste Wald." Wieder Einschlag des spitzen Ellenbogens, "dein Engel, der hat's nun mal mit Flammen und so. Ist erst richtig aus sich rausgegangen, als er was abfackeln konnte." "Das-das war keine Absicht!", widersprach Tybalt energisch, "Xaruli kann gut stricken! Wir haben gemeinsam Farben gemischt, also...!" "Aber ausgewachsen is der Engel erst, als er Feuer und Flamme war", ließ sich Ifan gewohnt selbstgewiss nicht beirren. "Nur für den Moment!", immerhin reduzierten sich Größe und Färbung ja nach einigen Tagen wieder. Zumindest beim ersten Mal. Die Eiben-Dryade beäugte ihn kritisch bis streng. "Red dir nich was ein, Bubi!", versetzte sie knapp, "sieht für mich nämlich verdächtig danach aus, als kämste SELBST nich klar!" Tybalt ballte die Fäuste. "Du weißt gar nichts!", fauchte er aufgebracht zurück, "Xaruli ist jetzt ganz allein! All die anderen sind verbrannt..." Das "Hoppla" setzte zu spät ein, ihn diese verräterischen Worte herunterschlucken zu lassen. Ifan konnte dies kaum entgegen. "Sieh mal an, du Heimlichtuer!", stippte sie ihn in die malträtierte Seite, "was genau is mit den anderen Flammenengeln passiert?" Die Unterlippe vorschiebend presste Tybalt die Zähne fest aufeinander, verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust. Verwünscht noch eins, wieso war ihm das entschlüpft?! Dabei hatte er Xaruli doch versprochen, absolutes Stillschweigen zu wahren! "Eingeschnappt sein hilft dir auch nich weiter", bescheinigte Ifan ihm unbeeindruckt, "ich seh das aber als Vorteil. Wenn keiner sonst mehr da is, kann er sein und tun, was er will." "Von allein sein hat aber keiner was gesagt!", polterte Tybalt, über seine Indiskretion verärgert. Die Eiben-Dryade lupfte eine Augenbraue über ihren roten Augen, "wieso glaubste bloß so felsenfest dran, dass der Engel allein is? Wüste bedeutet nich, dass da nix los wär." Tybalt knurrte, reckte das Kinn höher, "Xaruli kann nicht sprechen, klar?! Aus irgendeinem Grund auch nicht lesen oder schreiben! Wie soll er da mit anderen Kontakt aufnehmen?! Vielleicht steckt er sogar in der Klemme..." Ifan prustete neben ihm los. "Das ist nicht lustig!", schimpfte Tybalt enragiert. "Doch!", antwortete Ifan ihm entschieden, "isses. Wenn dem einer krumm kommt, sengt er ihm eben die Matte ab. Überall verständlich, würd ich meinen." "Pah!", grollte Tybalt, argumentatorisch bereits in die Ecke manövriert. "Außerdem kreiselt er da ja oben so rum, bläst Feuer durch die Gegend", Ifan setzte unerbittlich nach, "sieht für mich so aus, als hätte er jede Menge Spaß." "Das kannst du nicht wissen!", beharrte Tybalt auf seiner Vorstellung eines einsamen, vertriebenen Xaruli, der nur aufgrund eines Missverständnisses geflohen war. Die Eiben-Dryade schnaubte. "Kannst dich auf n Kopp stellen", konstatierte sie final, "Wald is nun mal Deins und nich Seins. Irgendwann muss jeder aus m Nest raus." Tybalt warf ihr einen bitterbösen Blick zu, dann kletterte er entschieden den Baum herunter. Gab schließlich genug andere, um es sich darin bequem zu machen! *~~~+~~~* Zrqaa schloss schicksalsergeben die Augen, ballte sich kompakt zusammen und klammerte sich an den Sandschlitten. Ein alles zerschmetternder Aufprall war nicht zu verhindern. Hinter ihnen dröhnte das Tosen des sich verschiebenden Sandes, ganz Gebirge gerieten in diesem feinkörnigen Meer in Bewegung. Musste ein gewaltiger Brocken sein, dieser Wahamuth! Xaruli raffte anhand der Seile die Segelfläche enger zusammen, feuerte die Luft darunter so an, dass diese flimmerte und verschwamm. Mit kräftigem Flügelschlag richtete er den immensen Vorwärtsdrang aus. Ein kurzer, letzter Aufsetzer, dann erhob sich das "Wüstenschiff", flog förmlich und schabte das Felsmassiv hoch. Hätte Zrqaa die Augen geöffnet, wäre er von dem entstehenden Funkenregen durchaus fasziniert gewesen! So aber landete ihr Schlitten ein weiteres Mal sehr viel höher recht hart auf Gestein, rutschte weiter. Der Panzer knirschte leicht, hielt jedoch dieser Beanspruchung mühelos stand. Xaruli ließ die Segelfläche aufflattern, zog rasch die Seile zu sich her, steuerte mit den Flügeln dagegen, um das unkontrollierte Ausbrechen zu verhindern. Dann erschütterte ein gewaltiger Gong die gesamte Umgebung. Schallwellen drangen durch Sand und Gestein, wirkten wie eine seismische Eruption. Der Wahamuth hatte nicht rechtzeitig gebremst. *~~~+~~~* Kapitel 25 Ümir balancierte Gepäck und den leise schnorksenden Fidibus mühelos aus, konzentrierte sich auf die Laterne, die er an einem großen Stock befestigt hatte. Sie fungierte als Herold, den Pfad auszuleuchten. Strix flog etwas versetzt vor ihm, erkundete das Gebirge. Dabei bestritt er die Unterhaltung, die zuvor Fidibus geprägt hatte, der immer etwas zu berichten wusste. Der Steindaimon hörte aufmerksam zu, wie das Käuzchen von dem "Tempel" erzählte, von der für ihn verlorenen, paradiesischen Welt, in der alle über die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten hinaus grenzenlos Horizonte versetzen konnte! Erfundene und wahre Geschichten, Bildbände, Lehrreiches und Unterhaltsames, ein Füllhorn an Gelegenheiten, über sich selbst hinaus zu wachsen. Schließlich konnte man einen Geist nicht halten, diesen Energiefunken, der Leben genannt wurde, nicht einfangen, nicht konservieren! Aber er konnte wandern, in fremde Gefilde, immer neue Gedanken formulieren, Gefühle erfahren! Ümir seufzte mitfühlend, ein kollernder Laut. Für Strix war dieses Zauberreich verloren. Ein Jammer! "Nun überlege ich schon eine Weile", Strix, der nicht nur ihr Fortkommen erkundete, sondern auch gen Himmel auf das Feuerzeichen spähte, bekundete selbstkritisch, "aber mir ist nie die Idee gekommen, dass wir hier einen solchen Ort schaffen könnten." Selbstredend gab es öffentliche Collectio. mit vielen Texten, zu allen möglichen Gebieten, aber auch Erzählungen, Legenden, sogar Gebrauchsanweisungen, ganz zu schweigen von den Einrichtungen an den Schulen und Universitäten! Nur schien es Strix so, als hege bisher niemand dieselbe, geradezu schwärmerische Hingabe für diese Orte der grenzenlosen Möglichkeiten! Keine Leidenschaft! "Ein weiteres Problem", vertraute er sich Ümir an, "ist der Umstand, dass ich energiesensitiven Daimonen nicht mehr zu nahe kommen kann, ohne dass die sich beschweren", was Kontakte reduzierte, "aber wenn ich mich als Collecte melden würde, könnte ich vielleicht an dieser unambitionierten Haltung etwas ändern", konkludierte Strix, "ich müsste mich eben ein wenig beschränken." Was bestimmte Daimonengruppen betraf. "Klingt für mich nach einem sehr guten Vorhaben", pflichtete Ümir ihm sonor bei. "Abgesehen von meinem Werdegang als Regel Nummer 1-Sünder!", seufzte Strix. Nicht gerade die Visitenkarte, die einen dafür empfahl, ein so bedeutendes Amt ausüben zu dürfen. "Dann bist du schon abgelehnt worden?", stellte Ümir tollkühn die alles entscheidende Frage. Riskierte er gerade, den Reisegefährten zu verärgern? Vor Nervosität heizte er an, was Fidibus in seinem Tiefschlaf ein wohliges Brummen entlockte. "Nun, ich habe es noch nicht in Angriff genommen", bekannte Strix Farbe, was jedoch verborgen blieb, da er sich vorausschauend mit Schal, Mütze und Handschuhen maskiert bzw. bedeckt hatte, um nicht in Gefahr zu geraten, frieren zu müssen. Bevor Ümir etwas äußern konnte, pflichtete ihm Strix aber entschlossen bei, "du hast natürlich recht, ich sollte mir nicht das Schlimmste ausmalen, ohne überhaupt etwas gewagt zu haben!" Der Steindaimon erwog nicht mal, in diese Richtung zu denken, weshalb ihn verblüffte, dass Strix ihm derart offene Worte zutraute. "Wenn wir uns um Tybalt gekümmert haben, ist das meine nächste Mission!", verkündete das Käuzchen kämpferisch, "ich gebe nicht auf!" Unwillkürlich zog Ümir ein wenig die gewaltigen Schultern ein. Strix' Eifer konnte einem hin und wieder durchaus Angst einjagen! *~~~+~~~* Zrqaa glaubte, es müsse den Berg in der Mitte spalten. Obwohl der Aufprall schon erfolgt war, spürte man immer noch Nachschwingungen. Xaruli landete neben ihm, die Miene, wenn man wirklich GENAU hinsah, dezent zufrieden. "Das-das war unglaublich!", stammelte der schuppige Daimon, versuchte, sich aus seiner kauernden Haltung zu lösen, aber die Kälte kroch ihm bereits hinderlich in die langen Glieder. Hilfsbereit ging Xaruli vor ihm in die Hocke, pflückte ihn ab wie ein Kind, hob ihn auf und suchte sich ein bequemes Plätzchen. Zrqaa seufzte leise, schmiegte sich an, leckte dem Engel vertraut über die Wange. Gleich würde Xaruli ihn wieder verwöhnen, selbstlos, gefühlvoll, aufmerksam, freundlich! Er umklammerte den Nacken, spürte die seidigen Haare, die ihn so anzogen, ignorierte das schmerzhafte Zusammenziehen in seiner Brust. "Ich liebe dich", raunte er in ein perfektes Ohr, "bitte lass mich immer bei dir sein!" Xaruli, der bereits jenseits des Lendenschurzes geübt an ekstatischer Verzückung arbeitete, drehte den Kopf leicht, streifte mit der Nasenspitze die des Daimons auf seinem Schoß. Er nickte leicht. Nichts sprach schließlich dagegen, und zudem, das entschied er für sich selbst, half Zrqaa ihm dabei, Aufgaben zu entdecken! Außerdem, das erstaunte den Engel selbst, würde er es bedauern, nicht mehr diese aparte Schuppenstruktur berühren zu können. Oder die stoßweisen Atemzüge zu hören, den donnernden Herzschlag! Zrqaa war schlichtweg ein natürlicher Profi darin zu leben. Wenn er als Engel "leben" lernen wollte, brauchte er definitiv Optime auf diesem Fachgebiet! *~~~+~~~* Ümir und Strix zuckten zusammen, als eine gänzlich unerwartete Schallwelle sich im Gebirge brach. Abrupt verharrten beide, sahen sich nervös um. Hatte es irgendwo eingeschlagen?! Aber der Nachthimmel zeigte nicht die mindesten Anzeichen für ein Gewitter! Ohne ein Wort zu wechseln entschieden sie, ein wenig beschleunigter in das Tal abzusteigen. *~~~+~~~* In Zrqaas Ohren klingelte es, jedoch nicht aufgrund der Spätfolgen des Einschlags, nein, von überall her hörte er den sirrenden Alarmton der Rufer-Flöten. Die Luft schien in ihrer hohen Frequenz zu vibrieren. Keine Frage, die Kollision des Wahamuth hatte Eindruck hinterlassen, nicht nur beim Fels. Ein wenig besorgt streichelte er durch Xarulis Haare, dessen schwarze Augäpfel sich auf die Umgebung richteten. "Ich glaube nicht, dass irgendwer jetzt was unternehmen wird", murmelte der schuppige Daimon und schmiegte sich enger an die glatte Engelshaut an. Außerdem bezweifelte er, dass man Xaruli konfrontieren würde, ohne vorher eruiert zu haben, wie diese Auseinandersetzung ausgehen konnte. "Vielleicht, wenn du jetzt fliegst", Zrqaa wickelte eine Engelslocke um eine Kralle, "könntest du mal schauen, ob du den Wahamuth siehst?" Die Kopfschmerzen, musste man annehmen, könnten durchaus gewisse Rachegelüste befeuern. Xaruli wandte den Kopf, studierte ihn. "So was ist bis jetzt noch nicht passiert, weißt du?", argumentierte Zrqaa tapfer, schauderte leicht, denn ihn fror schon wieder, trotz des sehr engagierten Schäferviertelstündchens gerade eben. Unvermittelt erhob sich der Engel, hielt ihn dabei sichernd umschlungen, sodass Zrqaa nicht einfach vom Schoß purzelte, dann wurden seine Arme eng um den Nacken gelegt, während Xaruli ihn um den Leib fasste. Einige Stöße der sich mühelos entfaltenden Doppelschwingen später befanden sie sich schon recht hoch über dem flachen, aber ausgedehnten Felsmassiv. Vom schrillen Pfeifkonzert abgesehen tat sich jedoch nichts Auffälliges. Xaruli blies eine gewaltige Lohe in den Himmel. Eher einer Eingebung als einer tatsächlichen Anweisung folgend wickelte Zrqaa eilig die dünnen, langen Beine um die Hüften des Engels. Triumphgeschrei oder Fanfarentöne, die Mauern zum Einstürzen brachten, standen Xaruli zwar nicht zu Gebote, doch er konnte Loopings und enge Spiralen drehen, vom eigenen Feuer hell erleuchtet. Zrqaa, der zum ersten Mal Flugpartner bei diesen rasanten, spektakulären Manövern wurde, erledigte die Orchestrierung. Sein ekstatischer Jubel, zwischen Freude und nervenkitzelnder Panik oszillierend, übertönte sogar die Pfiffe! *~~~+~~~* Tybalt kletterte vom Baum herunter und verkroch sich unter einer dichten Hecke, keineswegs ein bevorzugtes Plätzchen, aber ihm war kalt und er fühlte sich ganz und gar nicht grandios. Die wilden Flugmanöver, die er an ihrem Flammenschein erkennen konnte, schienen Ifans These zu unterstreichen: Xaruli kam zurecht, brauchte ihn nicht mehr, hatte sich, von einem Augenblick zum nächsten, vollständig gemausert. Nun ja, ohne die Federn abzuwerfen. Die kleine, fahle, weiße Putte schoss nun als orangefarbener Flammenwerfer blitzschnell über den Himmel, imposant, gewaltig, ausgewachsen. Die Dryade kauerte sich zusammen und zog die Schultern hoch. Es war UNFAIR! Einen Freund zu verlieren, nachdem sie sich gerade zusammengerauft hatten, gemeinsam gefährliche Begegnungen überstanden! Und nun, nach einem Tag voller Pleiten, Pech und Pannen, ohne Papier, ohne Erfolg beim Tontafelbacken, frustrierte ihn diese unwillkommene Erkenntnis noch stärker. Ifan würde bestimmt ganz UNERTRÄGLICH sein, wenn sich herausstellte, dass sie recht hatte! Dabei tat sie ohnehin schon ständig so ALLWISSEND! Tybalt seufzte. Selbst seine Versuche, sich in ungerechte Rage flüchten zu wollen, erschienen ihm schal und lächerlich. Er war hier allein, gestrandet in einem fremden Wald, weit weg von der Stadt. Ob er es die weite Strecke über die Gebirgszüge schaffen würde, stand in den Sternen. Sternen, die er sehen würde, wenn ihm unterwegs die Energie ausging, weil nicht genug "Grün" für seine Konstitution erreichbar war! Und nun fühlte er sich auch noch einsam. "Mist!", schnüffelte er leise, drückte seinen Beutel enger an sich, spürte die Glasmurmeln. Alle seine Freunde waren woanders. Nach all den Abenteuern entsprach dieses Ende so gar nicht seinen Vorstellungen. »Morgen!«, nahm er sich fest vor, schniefte verstohlen, »Morgen denk ich mir was aus!« Dann würde alles besser werden. Ganz sicher! *~~~+~~~* Eigentlich, befand Yzibao, schuldete er O-Batyr eine saftige Revanche, allein schon, um zu demonstrieren, dass der nicht einfach über ihn verfügen und für ihn Entscheidungen treffen konnte! Bloß, so im gedämpften Schein der Laterne, das friedliche Gesicht betrachtend, verspürte Yzibao keinen Antrieb, sich zu rächen. Der Heros wirkte jünger, sanfter, trügerisch harmloser. Vermutlich, weil die markanten Augenbrauen gerade entspannte Bögen bildeten und die tiefschwarzen Augen nicht durchdringend funkelten! Yzibao tauschte einen Blick mit Maunz. Die Schwimmerei WAR eine ausgesuchte, vorsätzliche Gemeinheit gewesen. Dazu konnte es keine zwei Meinungen geben! Andererseits sah Yzibao auch die Parallelen zu der tollkühn-waghalsig bis lebensgefährlichen Aktion, ihn zu "entgiften", oder mit ihm in den Wald zu spazieren. Wie oft hatte er O-Batyr deshalb schon verwünscht?! Weil der Kerl einfach viel durchtriebener, schlauer, selbstloser und entschlossener war, als man ihm zutraute! Gefährlich, um es in ein Wort zu gießen. Yzibao seufzte, beugte sich vor und kniff aus erzieherischen Gründen in die gerade Nasenspitze. Prompt nieste O-Batyr, was selbstredend nicht zum Programm gehörte! Ebenso wenig die krakenartigen Arme, die blitzschnell nach oben schossen und Yzibao einfingen, auf den breiten Brustkorb platzierten. "He!", beklagte sich Yzibao, "ich hab noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen!" "Hmmm", brummte O-Batyr, kraulte ihm unverschämt angenehm und vertraulich den Nacken, während die andere Hand seinen knochigen Rücken bestrich. Man könnte jetzt natürlich die Fäuste schwingen, wenn man die Arme irgendwie aus der Umarmung löste! Yzibao seufzte erneut vernehmlich und aus tiefster Seele. "Du hast Glück, dass ich dich einigermaßen leiden kann!", versetzte er grimmig, "deshalb lasse ich noch mal Gnade vor Recht ergehen! Aber gewöhn dich da nicht dran!" "Hmmm", kommentierte O-Batyr, was in Yzibao den Verdacht nährte, dieser sei gar nicht wach, sondern antworte einfach im Schlaf! "Unverschämt! Du hörst mir gar..." O-Batyr engagierte sich ausdauernd und kenntnisreich, Yzibao liebevoll zu knebeln. Der schickte sich drein und schmiegte sich an die gastfreundliche Wärme verströmende Gestalt. Er würde sich wirklich anstrengen müssen, um O-Batyr irgendwann mal in die Schranken weisen zu können! *~~~+~~~* "Da isser", stellte eine vertraut-gefürchtete Stimme munter fest. Tybalt seufzte unwillig, erkannte aber rasch, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter unter dem Busch schlafend zu stellen. Ifan kannte keinerlei Pardon, das wusste er schließlich am Besten! Grummelnd kroch er hervor. "Hat morgens immer ne Mordslaune, so ohne was zu beißen", behauptete die Eiben-Dryade unverschämt. Aber mit wem...?? Tybalt stieß einen kleinen Schrei aus, als er Strix erkannte. Impulsiv warf er sich in die einladend ausgestreckten Arme des Käuzchens, schniefte sogar leicht. "Geht es dir gut, Tybalt?", erkundigte sich Strix besorgt, studierte ihn durch die großen, runden Gläser eindringlich. "Durchaus!", antwortete die Dryade artig, "was tust du hier? Oh, sind das Fidibus und Ümir?!" Der Steindaimon nickte freundlich, etwas auf Distanz bleibend, da er sich sonst in die Schonung hätte zwängen müssen. Fidibus hingegen, ganz Wollknäuel, winkte mit einem Fäustling und schloss sich einfach der Rudelumarmung an. "Hallo, hallo, mein Freund! Gefällt es dir hier? Hast du dich schon eingelebt? Und schon eine Freundin gefunden?!", wie gewohnt sprudelte der Kontrebandeur über vor guter Laune und Zuversicht. Tybalt unterdrückte die spontane Replik, dass Ifan nicht unbedingt unter "Freundin" im Sinne von "freundlich gesinnt, zuvorkommend, höflich, manierlich" subsumiert werden konnte. Aus den Augenwinkeln registrierte er überdies, dass sie bereits begeistert an einen Knabberriegel knusperte, den sie bestimmt auf ihre unverschämte Art dem Käuzchen entlockt hatte! "Es ist wunderbar, dass ihr hier seid, aber warum?", platzte Tybalt stattdessen heraus, immerhin waren ihm, dank des Ausflugs in sehr luftige Höhen mit dem Condotora, die Distanzen zur entfernten Stadt nun bekannt. "Tja", Strix legte ihm einen Arm um die Schultern, "das liegt daran, dass wir uns um dich gesorgt haben. Unter anderem." "Unter anderem?", erkundigte sich Tybalt mit einem schrillen Unterton. "He, wofür sind die?", brachte Ifan, die zu Ümir geschlendert war, sich in Erinnerung. Dabei hielt sie ein Paar von Xarulis Stricknadeln, sodass Tybalt der gewaltigen Last gewahr wurde, die der Steindaimon transportierte. *~~~+~~~* Xaruli benötigte keinen Schlaf, weshalb er die Gelegenheit nutzte, seinen Horizont mit stoischer Geduld zu erweitern. Nachdenken. Verstand benutzen. Er blies eine kleine Lohe heraus, Zrqaa zu wärmen, der sich im Schlaf an ihn schmiegte, hin und wieder unwillkürlich zuckte. Wahrscheinlich Träume. Xaruli träumte nicht. Engel träumten nicht. Faunus hatte ihm dieses Phänomen zu erklären versucht, dass im Kopf, hinter den Augen, fremde Welten existierten, mit eigenen oder keinen Regeln, die Geschichten oder Episoden formten. Vorstellungen. Phantasien. Der Unterschied zum "Ausdenken" bestand darin, dass man Träume nicht per se lenken konnte, dass sie scheinbar von selbst entstanden, ihre eigene Regie hatten. Manchmal wollten sie einem etwas sagen, aber verschlüsselt, codiert, weil es Dinge im Kopf und Dinge im Herz und Dinge im Magen gab, die hin und wieder ganz durcheinander gerieten. Verwirrend. Vor allem, wie Xaruli befand, wenn man über zwei von drei gar nicht erst verfügte, werksgemäß. Der Engel glitt behutsam über die schlanke, schuppige Rückenpartie des Daimons auf seinem Schoß, registrierte die Beschaffenheit durch seine Hand. Für ihn war das, was ihm seine Sinne meldeten, die Wahrheit, die Realität. Fakten. Wenn man jedoch träumte, wo alles ebenso WIRKEN konnte, als sei es real, wahr, wie wusste man dann, was Traum und was Wachzustand war? Wenn man nie aufwachen würde, gäbe es dann überhaupt einen Unterschied? Wie funktionierte es, dass Daimonen, Göttlichkeiten, Menschen, Waldwesen, dass sie wussten, wann sie träumten und wann nicht? Etwas beängstigend. Die Vorstellung, dass man sich selbst nicht trauen konnte, dass man sich vielleicht irrte, dass das, was einem die eigenen Sinne meldeten, vielleicht gar nicht stimmte. Oder zumindest mit dem ÜBEREINSTIMMTE, was im Durchschnitt für wahr und real gehalten wurde! Xaruli konnte nicht seufzen, aber er begriff nun eine gewisse unduldsame Melancholie, die man mit Frustration verband. Gefühle stellten zumindest Rätsel dar, die man über Beobachtung und Erfahrung lösen konnte! Er versuchte, seine Gedanken auf naheliegendere Fragestellungen zu konzentrieren. Beispielsweise musste es doch möglich sein, eine Lösung dafür zu finden, dass Zrqaa so entsetzlich fror! Offenbar rückten die anderen Daimonen im Clan des Nachts immer eng zusammen, wärmten sich gegenseitig, während einige von ihnen Wache hielten. Da sie sämtliche gut erreichbaren Felsformationen besetzten, konnten sie deren abstrahlende Hitze zumindest eine Weile noch nutzen. Für die Ausgestoßenen blieb nur der wenig nützliche Sand oder ungenutzte Felsen, auf denen man festsaß, Gefahr lief, von einem Wahamuth erwischt zu werden oder zu verdursten. Xaruli überdachte die Möglichkeiten. In der Savanne waren ihm keine größeren Lebewesen mit wolligem Pelz begegnet. Hier in der Wüste schienen, die Wahamuth mal ausgenommen, die Daimonen die größten Lebewesen zu sein, alle ohne Pelz. Keine Bäume oder Sträucher mit nützlichen Fasern. Der knappe Lendenschurz, einziges Bekleidungsstück, war aus verschiedenen Reptilienhäuten zusammengesetzt, kleine Tiere, die ebenfalls im Schutz von Sand und Felsen existierten. Wenn er seine Wolle hier hätte, wäre es ein Leichtes, Zrqaa einzukleiden! Dann müsste dieser die Nacht auch nicht fürchten. Man benötigte demnach Wolle, Garne, Fasern, Nadeln oder Dornen. Konnte man so etwas irgendwo bekommen? Vielleicht nicht hier, in der Wüste, doch wenn es ihm gelang, ihren Sandschlitten zu verbessern, wäre es leicht möglich, am anderen Ende der Wüste nachzusehen, wer dort lebte. Ob man vielleicht dort einen Tausch verabreden könnte. Was das Augenmerk auf die Probleme mit dem Wüstenschiff lenkte. Thermik und Gleiten, Fliegen und Landen, das alles funktionierte ohne Anstrengung, sogar ohne bewusste Entscheidung! Als wäre ihm dieses Rüstzeug bereits einprogrammiert. Mit dem Sandschlitten verhielt es sich jedoch nicht so. Die unterschiedlichen Temperaturen und ihr Einfluss auf die Flugeigenschaften durch die Thermik würden sich als nützlich erweisen, wenn er die aufsteigende heiße Luft auf definiertem Raum einfing, quasi eine Art offene Kugel formte. Mit seinen Feuerstößen war dies ja gelungen und hob den Schlitten in die Höhe! Allerdings, das galt es noch dringend zu erforschen, wie verhielt es sich damit, wenn tagsüber die Luft am Boden brütend heiß war? Konnte er mit seiner Flamme dann überhaupt einen Unterschied machen? Außerdem stellte sich die Frage des Steuerns. Sich die Seile unter die Achseln zu klemmen, das konnte nicht die Antwort sein. Eine breite Fläche, Wind, oder zumindest Luftbewegungen, einzufangen, schien eine nützliche Idee zu sein. Andererseits sollte man diese Fangfläche, diese Segelfläche auch justieren können. Ausrichten. Sonst ging es einem wie dem Wahamuth, der ungebremst in einen Fels rauschte. Weshalb möglicherweise Segelfläche und offene Schwebekugel getrennt werden mussten. Wieso ließ es sich so einfach an, mit den eigenen Flügeln zu fliegen, und so schwierig, diese Prinzipien zu übertragen?! Gab es da vielleicht irgendwo Vorbilder? Immerhin hatte er von Faunus Einiges an Fertigkeiten lernen können, da wäre es auch möglich, sich anderweitig Kompetenzen abzuschauen! Wo? Rief er sich Zrqaas Erzählungen ins Gedächtnis, wären die fahrenden Händler eine gute Informationsquelle, bloß schienen diese seit langer Zeit die Wüste nicht mehr zu durchqueren. Blieben sie am Rand? Hatten sie sich zur Ruhe gesetzt? Xaruli durchforstete seine Erinnerungen an die Stadt und Strix' Monologe, ob dort von fahrenden Händlern die Rede gewesen war. Nein, aber die Stadt versorgte sich mutmaßlich über ihre Umgebung selbst, benötigte keine Expedition quer durch die Wüste. Nun, mit Sicherheit konnte er das allerdings auch nicht ausschließen. Es wäre demnach angezeigt, zuerst ihren Sandschlitten so weit zu ertüchtigen, dass man damit das Sandmeer durchqueren konnte. Dann, mit Zrqaas Unterstützung, könnte er Erkundigungen einziehen. Zu fahrenden Händlern, Wüstenschiffen, Wolle oder Garnen. Abrupt setzte Xaruli sich auf. Zum ersten Mal verspürte er ein erstaunlich heftiges Unbehagen. Aus dem imaginären Augenwinkel hatte sich etwas angeschlichen, ein Gedanke, der nicht unmittelbar mit den gerade getätigten Überlegungen zu tun hatte. Eingebung. Idee. Aha. Xaruli mochte diese erste Eingebung nicht sonderlich, denn sie stellte sich in Form einer Frage bei ihm uneingeladen vor. »Wie kommt es, dass du zum Fliegen Widerstand benötigst, aber in diesem schwarzen Raum, eiskalt, schweben konntest, noch weit von dem Stern entfernt?« Der Engel starrte mit den schwarzen Augäpfeln lange in den Sternenhimmel über sich. Die Schlussfolgerung, die er schließlich zog, gefiel ihm gar nicht. Möglicherweise war seine einzige Erinnerung gar keine Realität. Kein Faktum. Sondern ein Traum? Eine Erfindung? Ihn schauderte. *~~~+~~~* Nachdem die Sonnen mit ihren Strahlen das Tal und den Wald freundlich erhellt hatten (gemäßigt, selbstredend), saßen auf einer bescheidenen Lichtung fünf unterschiedliche Personen zusammen. "Ich kann nicht mehr zurück", wiederholte Tybalt leise, studierte seine Habseligkeiten. Rahmen, Töpfe, Pinsel, kostbare Reste Papier, Bilder, Kalebassen, wenige Kleidungsstücke, etwas Vorratshaltung in Blättern und Krügen, dazu der umwerfend schöne Kapuzenmantel von Yzibao, eine handliche, in allen Regenbogenfarben schimmernde Glaslaterne von Ümir, kostbare Honigbonbons von Faunus, der offenkundig seine geheime Leidenschaft nicht missbilligte und die letzten Strickwaren von Xaruli. Ifan wählte ungeniert eine feuerrote Mütze, dazu einen für sie übergroßen Pullover, dessen Ärmel sie krempelte und an den Beinen einband. "Perfekt!", befand sie, "wie benutzt man die Dinger?" Eigentlich hätte Tybalt die Strickwaren einfordern müssen, gehörten sie doch Xaruli, allerdings wäre es wohl unmöglich, ihm diese zu bringen und es stand zu bezweifeln, dass er sie brauchte, machten ihm Kälte oder Hitze ja nicht zu schaffen. Bevor ihn heulendes Elend überkam, rammte ihm Ifan gewohnt rustikal ihren Ellenbogen in die Seite. "Wie geht das nun, dieses Stricken?!", brachte sie ihre Forderung in Erinnerung. "Dafür brauchen wir Fäden!", knurrte Tybalt, wischte sich verstohlen die Augen, "außerdem habe ich jetzt andere Sorgen!" Zum Beispiel, wie er sich hier arrangieren sollte, dass er hier allein war, niemanden kannte, die Freunde bald aufbrechen mussten, er Xaruli nicht erreichen konnte... "Was für Sorgen?", Ifan rollte mit den Augen, "haste nicht nen ganzen Riegel verdrückt? Sonnenschein, dein ganzer Kram hier! Is doch alles astrein!" Tybalt brauste ob dieser atemberaubend unverschämten Ignoranz seines persönlichen Leidensdrucks heftig auf, "gar nichts ist astrein! Ich kann nie mehr nach Hause! Xaruli ist ganz weit weg! Genauso wie die Stadt! Soll ich jetzt hier...!" Bevor er sich um Kopf und Kragen schimpfen konnte, schleuderte ihm Ifan geübt eine Ladung feuchten Schlamm mitten ins Gesicht. Ümir, Strix und Fidibus, die erschrocken der Eskalation gelauscht hatten, schnappten unisono nach Luft. "Hier is Platz für alle", versetzte Ifan mit lodernd roten Augen, die Hände in die Hüften gestützt, "es gibt ne Menge Platanen. Niemand muss hungern. Wenn du endlich dein bisschen Grips einsetzen würdest, wüsstest du auch, wie du dem Engel ne Botschaft senden könntest!" Befehlend fasste sie Fidibus an einem Fäustling, zog ihn auf die Beine, "Fidi-Kumpel, los, ich zeig dir mal die Umgebung!" Solcherart beschleunigt folgte der Kontrebandeur, im eisernen Handgriff, einen hilflosen Blick mit Ümir austauschend. Es schien zumindest für den Augenblick angezeigt, die Streithähne zu separieren. "Hoppla", bemerkte Strix gedämpft, "scheint eine Art Territorial-Instinkt zu sein." Allerdings staunte das Käuzchen durchaus darüber, denn Eiben befanden sich nicht in Sichtweite. "Pah!", knurrte Tybalt, reinigte sich das Gesicht, "das macht sie ständig! Schmeißt mit Schlamm, springt zwischen Frischlinge, wirft mit irgendwas! Immer sucht sie Streit!" Um seinen Standpunkt zu untermauern, ergänzte er den Auftakt um die Aufzählung aller Missetaten seit seiner Ankunft: Fischmord, Flugstunde, Besserwisserei über Engel, Glasmurmel-Entwendung, fortgesetztes Beteiligen beim vergeblichen Papierschöpfen oder beim Tontafel-Debakel, gekrönt von der gestrigen Aussage, dass es Xaruli garantiert gut ginge und überhaupt, jeder müsse sein Nest verlassen! Ümir und Strix wechselten Blicke. "Ein Felsbild, sagst du? Wo ungefähr?", beim Käuzchen obsiegte die unstillbare Neugierde und das Verlangen, irgendeinen, wenn auch verspäteten Sinn, in seine jüngste Lektüre zu bringen. Tybalt deutete vage die Richtung an und knurrte, "dabei fehlt die Hälfte! Und nur, weil das Gelände von oben EIN WENIG derangiert aussieht, kann man doch nicht schließen, dass Engel hier als Landschaftsarchitekten unterwegs waren!" Das empörte ihn durchaus. "Aha. Entschuldigt mich bitte einige Augenblicke!", Strix ließ die Strickwaren in seinem persönlichen Besitz zurück, "bin gleich wieder da!" Selbstredend musste er sich ein eigenes Bild machen, das ging gar nicht anders. "Sie ist unerträglich UNSENSIBEL!", beklagte Tybalt sich bei Ümir, der weiterhin stoisch neben ihm versteinerte, "kein bisschen kann sie nachvollziehen, wie einsam sich Xaruli vorkommen muss! Oder dass er vielleicht annimmt, er sei ein Mörder! Dabei kann das gar nicht sein!" Die Dryade schnappte in ihrem Furor hörbar nach Luft, um die nächste Tirade folgen zu lassen, "außerdem hat sie keinen Grund, sich hier aufzuschwingen als Lokalpatriotin! Angeblich haben Kronks sie aus einer Steinlawine ausgebuddelt und hier abgesetzt!" Wobei schließlich alle wussten, dass Kronks gar nicht existierten! Sie dienten lediglich als finstere Drohung gegen unbotmäßiges Verhalten juveniler Daimonen! Ümir lauschte aufmerksam. "Und sie liegt hier mit jedem im Streit! Ich meine, die Wasser-Nymphen beschmeißt sie auch mit Schlamm! Oder ärgert die Wildschweine! Schönes Vorbild!", nun schnaubte Tybalt recht unfein, ballte die Fäuste, "immer muss sie das letzte Wort haben! Und sie macht dauernd irgendwelchen halsbrecherischen Unsinn! Nur, weil sie angeblich versteht, was Vögel sagen!" Der Steindaimon breitete, sehr vorsichtig, die Panorama-Zeichnungen aus, die Tybalt unlängst auf dem Berg in aller Eile angefertigt hatte, nach seinem Jungfernflug mit dem Condotora. "Nun", behutsam näherte sich Ümir dem kritischen Sujet, "wenn es dir hier nicht gefällt, kann ich dich und deine Habseligkeiten auch woanders hinbringen. Kein Problem." Dabei suchte er mögliche Alternativ-Waldgebiete in Reichweite. Zurück konnte Tybalt zweifelsohne nicht mehr. In der Stadt leben, das ging jedoch auch nicht, zu viel Steine, zu wenig Bäume und schattiges Grün. Die Dryade seufzte mutlos. "Die Stadt war toll", vertraute Tybalt Ümir leise an, "es gab so viel zu sehen! Alle waren so emsig, so viele Professionen, so viel zu lernen!" Nicht wie das immer gleiche Allerlei der Naturwesen im Wald, ihrer ehemaligen Göttlichkeit entzogen, aber auf das jeweilige Element fokussiert. Zugegeben, Daimonen waren einfallsreicher, aber jemand musste schon so wie Faunus herumgekommen sein, um sich der Mühe zu unterziehen, sich mit einem Naturwesen abzugeben. Die galten, in gewisser Weise, als unerträglich monothematisch und nervtötend einfältig. "Wie möchtest du denn leben?", tastete sich der Steindaimon sanft an das heikle Thema heran. Von einer Wald-Stadt gab es im Umkreis nichts zu sehen, hatte er auch nichts gehört. Tybalt zog die Beine an und umarmte sie, den Blick auf die Knie konzentriert, "wir haben uns nicht verabschiedet. Xaruli ist bestimmt gegangen, weil er dachte, er wäre mir eine Last. Aber wir sind doch Freunde!" Schon zog er die Schultern hoch bis zu den spitzen Ohren. Beide schwiegen eine Weile, kontemplierten die schwierige Situation. Unterdessen landete Strix geschickt, marschierte wieder zu ihnen. "Ganz schön beeindruckend!", kommentierte er das steinerne Bild, "aber da nur noch eine Hälfte erhalten ist, werden wir wohl nicht herausfinden, was diese Engel tatsächlich getan haben." Immerhin, man musste es möglicherweise als eine metaphorische Darstellung begreifen, nicht unbedingt als ein tatsächliches oder gar historisches Geschehen. "Du denkst auch, dass Xaruli nicht hierher gehört, oder?", schoss Tybalt geradewegs heraus. "Ja", antwortete Strix ohne jedes Zögern, "immerhin macht es auf mich den Eindruck, als entwickle er sein Potential da, wo er sich gerade befindet. Seine Flugmanöver mit Feuerspeien sind atemberaubend!" Hier sprach er, zumindest, was die aeronautischen Fähigkeiten betraf, durchaus als ausgewiesener Kenner und Könner. Käuzchen eben! Tybalt ließ den Kopf hängen, verzichtete aber auf jeden Protest. Es verhielt sich ja nicht so, als wäre ihm dieser unerfreuliche Gedanke gar nicht gekommen, er wollte ihn bloß nicht gelten lassen! "Möchtest du Xaruli eine Botschaft übermitteln?", brachte Ümir sich wieder ein. Dass Freunde ohne ein Wort, nun, zumindest entsprechende Gesten, auseinander gingen, missfiel ihm ebenfalls. Es war zu traurig. "Das ist eine gute Idee!", nahm Strix den verbalen Ball auf, "von der Stadt aus ist es näher zur Wüste hin, wo er zumindest die letzten Tage gewesen zu sein scheint!" Die Dryade seufzte, "Ifan hat erzählt, dass Vögel die Wüste überfliegen. Denen wollte ich eine Tafel mitgeben, aber das klappt einfach nicht. Wahrscheinlich fliegen die auch bloß hin, wenn es kälter wird." "So lange kann es natürlich nicht warten", signalisierte Strix unbedingtes Verständnis, "bestimmt gibt es eine andere Möglichkeit!" Schließlich hatte die Stadt ein hochentwickeltes Nachrichtensystem mit Rohrpost-Schächten überall! Dienstleistung wurde groß geschrieben! (Gut, der Rechtschreibung zufolge ohnehin, aber hier auch aus Prinzip und Überzeugung!) "Tybalt braucht auch ein Zuhause", erinnerte Ümir an das zweite Problem, dessen Lösung noch ausstand. Strix stutzte hinter den großen, runden Brillengläsern erkennbar, "ach ja? Gefällt es dir hier nicht? Nun, ein Umzug lässt sich zweifellos auch bewältigen, aber weißt du schon, wohin du gerne möchtest?" Tybalt betrachtete die von ihm selbst skizzierte Landschaft, aus der Condotora-Perspektive. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, musste er eingestehen, dass er bisher nur einen Bruchteil des Tals erkundet hatte. Außerdem nahm sich die von Strix ausgewählte, freistehende Platane auch gar nicht schlecht aus. Bloß fühlte er sich hier allein, während er in der Stadt sofort Freundschaften geschlossen hatte. Alles war fremd. Er war der Neue. Wie Xaruli damals. Er seufzte leise. "Es ist schon in Ordnung hier", murmelte er, "ich muss mich nur daran gewöhnen, dass dies hier jetzt mein Zuhause ist." Mitfühlend wölbte Ümir seine gewaltige Steinpranke um ihn. Strix räusperte sich verlegen, "wenn wir dir helfen können...?" Die Dryade richtete sich auf, lächelte zerknittert, "das habt ihr ja bereits getan! Mehr als genug. Danke schön, auch für euren Besuch hier", nickte Tybalt tapfer, "ich werde mich schon einleben!" In diesen kritischen Moment platzten Ifan und Fidibus. "Ümir! Strix! Schaut mal! Oh, ist das nicht einfach unglaublich?!", der Kontrebandeur schwenkte zwei ziemlich große, jüngst definitiv verstorbene Fische. Tybalt verdrehte schnaubend die Augen. Strix rückte seine Brille zurecht. "Die sin lecker, Maestre Kauz", adressierte Ifan ihn grinsend, "Vögel mögen die besonders." Fidibus kletterte schon trotz Fischballast, dekorativ auf zwei Haselzweigen aufgespießt, und in Wollumhüllung, auf Ümirs Bein. "Kann man die so essen? Ich habe noch nie Fisch gegessen! Oh, dieser Wald hier ist phantastisch!", plapperte er unbefangen. Ifan feixte. "Ja, is n feiner Wald hier. Gibt sogar Kronks", triezte sie Tybalt, der demonstrativ weghörte. "Wir haben aber leider keine gesehen", ergänzte Fidibus munter, "ich war schon sehr neugierig! Es hat so einen Spaß gemacht, Ümir!" Seine Stimme strahlte, vom Rest seiner Erscheinung musste man es vermuten. Ümir nahm beide Fisch-Spieße entgegen. Strix rückte näher, schielte durchaus interessiert auf die große Hand. Der Steindaimon hauchte behutsam, aber stetig auf die Fische. Im Nu waren sie sehr durch und dampften. "He!", fand Ifan erst nach einigen Atemzügen ihre vorwitzige Zunge wieder, "wie machst du das?" "Ich kann meine Körpertemperatur stark anheben", erklärte Ümir bescheiden, errötete dezent, was Fidibus sofort nutzte, zumindest Hände und Gesicht freizulegen, sich einen Fisch auf Haselrute zu nehmen. Pustend nagte er an seinem Exemplar. Strix, der die zweite Portion erhielt, schnüffelte hungrig, ignorierte seine beschlagenden Brillengläser und knabberte fröhlich mit. "Herr Steindaimon", Ifan kramte in ihrem berüchtigten Rückenbeutel, "magst du vielleicht das hier essen?" Ümir entnahm ihrer Handfläche einen ebenso großen, flachen Stein. In diesem war ein seltsames Tier eingeschlossen worden, vor unzähligen Jahrhunderten. "Das ist eine Delikatesse!", kollerte Ümir, um eine niedrige Phonzahl bemüht, "bist du dir sicher, Fräulein Ifan?" Die Eiben-Dryade grinste, "klar doch, hau rein, Kamerad! Hast mir immerhin die tollen Glasmurmeln mitgebracht!" Sie plumpste uneingeladen neben Tybalt nieder, packte zwei große Blätter aus, in denen sich Pilze, Samen und Grünzeug quetschten, "und, Maestre Kauz, hast du was über den Flammenspucker rausgefunden? Was wird er als nächstes abfackeln?" Die Äußerung sollte unverkennbar provozieren, vor allem Tybalt, doch der entrollte das kostbare letzte Stück Papier, das ihm die Freunde aus der Stadt mitgebracht hatten, griff seine Malutensilien. "Also, das kann ich nicht beantworten", Strix unterbrach seine manierliche Nagerei am erheblich reduzierten Fisch, "aber diese unglückselige Episode im Wald erscheint mir nicht symptomatisch." "Aha! Schätze, ich hatte recht, und die Alte wollte eingeäschert werden!", triumphierte Ifan gnadenlos direkt. Das Käuzchen räusperte sich, um wenigstens den Anstand zu wahren. "Offenbar suchte sie einen schnellen Tod", teilte er die gemeinsame Einschätzung des Triumvirats in Ümirs Werkstatt mit. "Na, praktisch, dass ihr zwei da herumgestolpert seid", kommentierte Ifan, mümmelte Samen, "hier hätte sie echt Pech gehabt. Feuer haben wir nur, wenn irgendwo der Blitz reinhaut." Was Fidibus, temporär im Schmausehimmel, aufschreckte, "Gewitter?! Mit Blitzen?! Also, das ist mir aber nicht geheuer!" Der Woll-Turm rotierte nervös. "Nur keine Panik", Ifan kletterte unbefangen auf Ümirs Bein, um Fidibus einen Arm um die Schultern zu legen, "riecht nicht nass. Kein Gewitter in den nächsten Tagen." Da hegte sie keinerlei Zweifel, denn die Vögel hätten sich darüber auch ausgiebig unterhalten. Das Wetter kam sofort hinter dem Essen in der Kommunikationskette. "Oh, wirklich?", Fidibus atmete erleichtert auf, "das ist gut." Ifan grinste noch breiter, wandte sich dann wieder Ümir zu, "sag mal, Herr Steindaimon, wie stellt man eigentlich Glas her?" Tybalt seufzte unwillkürlich. Es gab offenbar NICHTS, dass Ifan nicht auszuspähen wünschte! *~~~+~~~* Zrqaa marschierte vorsichtig um ihren Fels herum. Nachdem er nach Wasser gebuddelt, Xaruli, wie es sich gehörte, zuerst hatte trinken lassen, und dann auch noch einige Sandmaden erwischt hatte, suchte er nach Spuren, doch der Fels schien unversehrt. Nirgendwo spürte er die verräterischen Eruptionen der Annäherung eines Wahamuth. Hin und wieder drang das sirrende Geräusch der Rufer-Flöten an sein Ohr. Kein Wunder, auch den anderen Daimonen war die Ruhe unheimlich, immerhin konnte niemand sich entsinnen, dass ein Wahamuth mal gegen eine massive Bergkette gestoßen war! Xaruli landete anmutig neben ihm. "Alles still", berichtete Zrqaa, "nun, zumindest keine Aktivitäten. Glaubst du, dass der Wahamuth sich verletzt hat?" Das ließ sich auch für den Engel nicht einschätzen. Andererseits stellten die Wahamuth momentan keine Bedrohung dar, die ihn prioritär beschäftigte. Xaruli ging in die Hocke und malte in den Sand eine Skizze. Der schuppige Daimon kauerte sich neben ihn, in Gewohnheit über seine Engelslocken und die eingeklappten Flügel streichelnd. "Du willst weiter in diese Richtung? Tja, so weit bin ich nie gekommen, daher weiß ich nicht, welche Clans dort leben", Zrqaa runzelte die Stirn, was die schuppige Haut kaum enthüllte, "von der Distanz her könnten wir es schaffen, immer genug Felsen als Sicherheitspolster zu haben. Allerdings, wenn dort jemand haust", er seufzte. Die schwarzen Augäpfel studierten ihn eindringlich. Xarulis Mienenspiel hatte sich nicht merklich verändert, sodass Zrqaa nicht ermessen konnte, was dieser gerade dachte. "Das, was da gestern passiert ist, hat es noch nie gegeben", erklärte er deshalb, "zumindest kenne ich keine einzige Erzählung darüber. Deshalb könnte es sein, dass man uns nicht gerade freudig ziehen lässt." Oder sie beispielsweise daran hinderte, bestimmte Felsmassive als Rastplätze zu nutzen. Der Engel tippte auf die Linie, die das Ende des Sandmeers, der Wüste, markierte, ein imposanter Gebirgszug, den man aufgrund der immensen Hitze nur wie ein Trugbild in der Ferne erahnen konnte. "Von uns ist noch niemand dahin gelangt", erläuterte Zrqaa, "ich weiß nicht, was sich hinter dem Gebirge befindet." Er war sich auch keineswegs sicher, ob er ein so imposantes Gebirge besteigen konnte. Xaruli zeichnete den Sandschlitten samt improvisierten Ballon-/Segel-Auf-/Antrieb neben die Karte. So konnte die Konstruktion nicht bleiben, aber die Kontemplation der letzten Nacht hatte ihm aufgezeigt, dass er nicht nur mehr Wissen benötigte, sondern auch Materialien. Den alten Wahamuth-Kadaver auszuschlachten, das genügte nicht. Doch ohne ihr Wüstenschiff konnte er sich nicht schnell und wendig genug bewegen! Zrqaa ballte kurz seine Klauen. "Also, wenn ich es bin, der dich behindert", schnitt er tapfer das schwierige Thema an, "dann..." Xaruli war schließlich durch nichts verpflichtet, sich von ihm, der nicht fliegen konnte, nicht schneller als ein Wahamuth laufen, ausbremsen zu lassen in seinem Vorwärtsdrang. Der Engel drehte ihm den Kopf zu, streifte seine Nasenspitze mit der eigenen. Nicht zufällig. Er hob die Rechte, legte sie um Zrqaas schuppiges Haupt. Es stand für Xaruli außer Frage, Zrqaa wieder aus reiner Bequemlichkeit der Isolation als Ausgestoßener zu überlassen. Zrqaa lächelte erleichtert, leckte Xaruli mit der gespaltenen Zunge über die Wange, "also, dann schauen wir einfach, wie weit wir heute kommen, ja?" *~~~+~~~* Während Fidibus ausführlich und nahezu ohne Atempause von den unglaublichen Entdeckungen berichtete, die sein erster Besuch in einem richtigen Wald mit sich gebracht hatte, flog Strix vorneweg. Auf seinem Rücken befand sich neben dem eigenen Rucksack auch das kostbare Rohr, in welches Tybalt seine Botschaft an Xaruli verstaut hatte, eine skizzierte Karte, auf der die Stadt, das Gebirge, das Tal mit dem Wald und auch der andere, kleinere Wald angedeutet wurden. An jedem Ort dann lächelnd die Freunde, die Xaruli zeigen sollten, dass alle wohlauf waren. Und falls er es wünschte, wo er sie besuchen könne, Faunus. Strix, Tankred, Ümir und Fidibus. Ifan und Tybalt. Das Käuzchen dachte nach, warm in die Strickaccessoires des Engels gehüllt, wie man wohl dieses Bild unversehrt in die Wüste transportieren konnte. Irgendwer würde eine solche Dienstleistung garantiert im Angebot haben, richtig?! Außerdem stand er bei Tybalt im Wort! Vage lauschte er auch den Abenteuern des Kontrebandeurs, der Ifan für außergewöhnlich nett und kenntnisreich hielt! Immerhin hatte sie ihm alles gezeigt, mit ihm Fische gefangen und sich von ihm ganz aufmerksam erzählen lassen, was er so auf der anderen Seite tat! Zudem konnte sie klettern und sich anschleichen, sodass sie ganz bestimmt auch ein prima Kontrebandeur sein könnte! Als der Wortschwall schließlich abrupt verstummte, wusste Strix, dass Fidibus eingeschlafen war. Ümir marschierte unterdessen in großen Schritten unbeeindruckt hinter ihm her. "Was meinst du?", wandte sich Strix um, "wird Tybalt sich gut einleben?" Der gewaltige Steindaimon nickte entschieden. "Am Anfang braucht man etwas Zeit und Mut", erinnerte er sich an seine eigenen Gehversuche in der großen Stadt, "aber er ist ja nicht ohne Hilfe." Auch wenn diese sich recht rustikal zu tarnen wusste. Strix kicherte leise, "ja, diese kleine Eiben-Dryade ist wirklich bemerkenswert." Er nahm sich vor, so tapfer wie Tybalt zu sein, was sein eigenes Vorhaben, ein Collecte der Sonderklasse zu werden, betraf! *~~~+~~~* Tybalt wickelte sich in den prächtigen Kapuzenmantel und stieg auf den Baum mit dem höchsten Wipfel. Natürlich, die Vorsehung konnte wohl gar nicht anders, hockte dort schon in der Astgabel, noch immer in die neuen Wollstrickwaren gekleidet, Ifan. "Noch nix passiert", ließ sie ihn wissen, mümmelte dabei irgendwelche Samen. Schweigend, mit höflich-deutlichem Abstand, machte Tybalt es sich bequem. Ob Xaruli mal zu Besuch kommen würde? Fliegen konnte er ja, deshalb wären Gebirge und Distanz kein Hindernis. Andererseits, wenn er sich erst mal etablieren musste, da, in der Wüste, Tybalt schauderte unwillkürlich bei der Vorstellung allgegenwärtigen Sands!, würde er sich wohl eine ganze Weile keine Freizeit erlauben können. "Wie machn die das, diese Bonbons?", Ifan unterbrach ihre begeisterte Kauerei. Tybalt fuhr alarmiert herum, doch sein Bonbonvorrat schien unangetastet. "Fibi-Kumpel hat mir welche von diesem Faunus gegeben", erläuterte die Eiben-Dryade ungefragt, "ziemlich süß. Wie macht man die?" In der Distanz stoßseufzte Tybalt. Hörte diese unverschämte Dryade eigentlich NIE auf, alle mit ihren Fragen zu löchern?! Unseligerweise machte sie ihm gerade aber auch bewusst, dass er die technischen Details nicht vollumfänglich kannte. "Na, erst mal benötigt man Honig", verschaffte er sich Freiraum zum eiligen Nachdenken, "Bienen-Kotze!" Dass diese naturgetreue, wenn auch unschmeichelhafte Beschreibung Ifan abschrecken würde, stand allerdings nicht zu erwarten. "Bienen, hm?", grübelte sie, "ham wir hier nich. Hummeln und so andere Viecher schon." Was denen wohl gerade das Plündern und Ausbuddeln ihrer Behausungen ersparte, dachte Tybalt grantig. "Man muss den Honig aus den Waben kratzen und schleudern", wiederholte er das, was er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Ifan knabberte weiter. "Dann erhitzt man die süße Masse kochend heiß und streicht sie auf kalten, glatten Stein, damit man die Bonbons hobeln kann, bevor alles austrocknet", diesen Vorgang hatte Tybalt, zumindest den letzten Part, in der Stadt tatsächlich beobachten dürfen. Nicht nur aus Honig fertigte man Karamellen und andere Maulverkleber, aber die handwerklichen Feinheiten wurden selbstredend gehütet wie jedes Geheimnis. "Hm, wenn wir das mit Zuckerrüben versuchen wollten, wäre dein Flammenspeier echt nützlich", kontemplierte Ifan herausfordernd. "Mit Zuckerrüben?! Quatsch, die sind doch viel zu-zu nass! Zu viel Wasser!", wimmelte Tybalt entschieden diesen Versuchsaufbau ab. "Wasser kann man austrocknen lassen", beschied Ifan in dem nachdenklichen Tonfall, der Tybalt alle Härchen aufstellen ließ. Oh verräterisches Geschick, sie hatte schon wieder eine IDEE!!! "Toll, und wie willst du die große Hitze erzeugen?! Die Bonbonmasse muss kochend heiß sein!", mäkelte Tybalt herum. Ifan grinste breit, justierte die offenkundig bereits innig geliebte Wollmütze. "Du, mein Freund", sie feixte, "hast noch überhaupt KEINE Vorstellung davon, was wir hier alles so können!" Tybalt schauderte es bis zum Schüttelfrost. *~~~+~~~* Kapitel 26 Die Gebirgskette warf einen gewaltigen, gezackten Schatten auf den sandigen, teilweise versteppten Boden darunter. In ihrer Höhe verschwanden die scharfkantigen Grate in einem abendlichen Dunstschleier. Zrqaa schnüffelte schon eine ganze Weile irritiert. Irgendwie roch die Luft hier anders! Aber er konnte sich darauf noch keinen Reim machen, da er hauptsächlich damit beschäftigt war, sich festzuhalten und zu lauschen, in ihrem Wüstenschiff nicht so einfach, was die Eruptionen plötzlicher Wahamuth-Aktivitäten betraf, denn der Panzer über den Sandwogen dämpfte das, was seine Füße mühelos auffangen konnten. Hin und wieder vernahm er auch das alarmierende Sirren von Rufern, doch seit der letzten, längeren Zeitspanne ertönte es gar nicht mehr, dennoch spürte er, dass man einen großen Teil ihrer rasanten Reise beobachtet hatte. Xaruli ließ sich anmutig neben ihm auf den Boden sinken, ohne Anzeichen von Anstrengung. Allerdings hatte Zrqaa die auch zuvor nicht bemerkt, was er eher seiner mangelnden Erfahrung mit der Körpersprache von Engeln zuschrieb. "Geht es dir gut?", erkundigte er sich daher, rappelte sich durchgeschüttelt trotz des leichten Gleitens auf, "möchtest du dich lieber erst mal ausruhen?" Weiter kämen sie ohnehin nicht mehr, denn hier bildete diese gewaltige Gebirgskette, die schon jetzt, vor Sonnenuntergang mit ihrem Schattenwurf Dunkelheit brachte, eine Barriere. "Ich suche mal Wasser!", kündigte der schuppige Daimon eilfertig an, auch wenn er sich durch die Luft ein wenig beeinträchtigt fühlte. Mit jedem weiteren Schritt schüttelte er die Benommenheit seiner langen, dünnen Glieder ab, ging schließlich in die Hocke und buddelte eifrig. Ohne Zuruf begab sich Xaruli zu ihm, schöpfte ein wenig Wasser. Auch Zrqaa trank, leckte sich über die Fläche seiner Klaue. "Wollen wir uns ein Quartier für die Nacht suchen? Ohne Sonne kann ich nicht gut klettern", ließ er den Engel wissen. Schlimmer noch, in Kürze würde die Kälte seine Glieder lähmen, und ein wenig wurde ihm auch bange bei dem Gedanken, ein so scharfkantiges, scharrtig wirkendes Gestein in derartiger Höhe besteigen zu müssen. Gab es vielleicht einen Pass, der das Durchqueren dem Überqueren vorzog? Xaruli nahm ihn an die Hand, suchte ohne Mühe einen Aufstieg. Dabei registrierte Zrqaa verblüfft, dass ihr Sandschlitten bereits fest zwischen zwei Felsen verstaut war, in ihrem Schattenwurf zumindest von der Wüste aus getarnt. Unbeirrt begab sich Xaruli immer weiter nach oben, erprobte mit Bedacht jeden Schritt. Zrqaa gab seine Zurückhaltung auf, umschloss die Engelshand mit beiden Klauen, konzentrierte sich bloß darauf, keinen Fehltritt zu machen. Wie konnte sich Xaruli in dieser Dunkelheit bloß so gut zurechtfinden? Hier reflektierte kein zurückgeworfenes Mondlicht die Umgebung! Schließlich, unter einem Überhang, hielt er inne. Prompt sackten Zrqaa die knotigen Knie weg, plumpste er ungelenk auf den schroffen, von Geröll geprägten Boden. Sanft strich Xaruli über den Knochenkamm, während seine schwarzen Augäpfel prüfend die Felswand inspizierten, dann blies er mit ordentlich Schwung seinen Flammenatem darauf. Das schwärzlich angelaufene Grau veränderte sich, die Hitze ließ die grobkörnige Oberfläche schmelzen, sich glätten. Zrqaa neben ihm keuchte vor Wonne, denn die abstrahlende Wärme verschaffte ihm wohlige Erleichterung. Behutsam löste der Engel seine Hand aus den Klauen, nickte kurz, dann faltete er seine gewaltigen Doppelschwingen auf und entschwand im sich auflösenden Dunst der Gipfelkette. *~~~+~~~* Tankred beobachtete den Himmel, ignorierte das muntere Treiben bei der "Alten Karawanserei". Hin und wieder senkte er den Blick, aber er erwartete, Ümir, Fidibus und natürlich sein Käuzchen bei der Annäherung zu Fuß sofort zu entdecken. Wie merkwürdig es doch war: da lebte er schon eine ganze Weile allein, und jetzt, nach bloß einer Nacht und einem Tag, fühlte er sich schon nicht disponiert, zu seinem Nest zurückzukehren, weil Strix nicht dort war. Weil dieses eigensinnige, waghalsige, neugierige, unbelehrbare Käuzchen in fremde Wälder zog, um nach einer Dryade zu sehen! Zugegeben, ein Falkendaimon wie er, dazu noch Malabsorbo von Profession, hatte mit Naturwesen recht wenig zu schaffen. Das waren schlichtweg ganz gegensätzliche Konzepte! Außerdem fanden sich recht wenige Naturwesen dort, wo seine Art zu leben bevorzugte, nämlich in steinigen, hohen Höhen. Nicht ganz zu unrecht fürchtete er, dass Strix SEINE eigene Umgebung, dichte Laubwälder, durchaus vermisste. Tankred seufzte. Nun, möglicherweise, also, unter Umständen, war er ja bereit, Pflanzen in Töpfen oder ähnlichem anzusiedeln. Sie mussten selbstredend sturmsicher sein und keiner aufwändigen Pflege bedürfen. Bäume allerdings schloss er kategorisch aus. Die Wurzeln würden das Gestein zerstören, sie waren viel zu schwer und auch gar nicht geeignet, zog man die spärliche, "natürliche" Dekoration ihrer Höhle ins Kalkül. Dennoch, für kleinere Bepflanzungen fühlte er sich durchaus verhandlungsgeneigt. Die Schwierigkeit bestand darin, mit Strix überhaupt mal ein Gespräch führen zu können, ohne dass dessen Gedanken dauernd um dubiose Engel, Dryaden oder falsche Gerüchte kreisten! Er glättete seinen wie Pech fließenden, schwarzen Umhang. Außerdem, wenn er sich nicht ganz im Irrtum befand, würde Strix auch keine Ruhe geben, bis der zweite Unruhestifter kontaktiert war, weshalb er hier kauerte, sich einen steifen Nacken verschaffte und sich fragte, warum es neben Wald auch noch die Wüste sein musste!! *~~~+~~~* Xaruli war, als Werkzeug, nicht disponiert, in größeres Erstaunen auszubrechen, dennoch, und das verzeichnete er als einen weiteren Erfolg bei seiner Mission "zu leben", registrierte er eine gewisse Verblüffung über seine Erkenntnisse. Reine Beobachtung mochte dem Werkzeug genügen, er jedoch hatte sich auch Gedanken gemacht, hauptsächlich den Sandschlitten betreffend. Wenn er die Haut des Wahamuth zu einem offenen Ball falten könnte, würde sein feuriger Flammenstoß den schweren Panzer leicht über den Sand gleiten lassen, möglicherweise sogar ganz abheben. Jedoch musste ständig nachgefeuert werden, er sich folglich unterhalb der verengten Öffnung befinden. Gleichzeitig bestand das Problem der Ausrichtung. Der Schlitten musste gelenkt werden. Wind gab es wenig bis keinen, die Thermik wäre sicher hilfreich, aber sie reichte nicht aus, so von unten. Die notwendige Segelfläche wäre immens, und man müsste sie so ausrichten können, dass sie ihm nicht die Arme wegriss, weil er ja die beiden Stränge derzeit noch unter den Achseln eingeklemmt hielt und seine Schwingen die Richtung bestimmten. Tja, als natürlicher Flieger hatte man es definitiv leichter! Die feinen Flügelflächen fanden genug, sich abzustoßen, passten sich dem Gleitflug in der Thermik an. Er konnte kreiseln, sie mühelos einziehen, wie eine Rakete über den Himmel sausen... Mit einer winzigen Prise von Verärgerung, ein tatsächlich ganz junges Empfinden, konstatierte der Engel, dass er seine persönliche Disposition nicht einfach auf seine Konstruktion übertragen konnte. Im Augenblick lautete sein Plan, Auftrieb mit eingeschnürtem Luftsack von der Steuerung zu trennen. Allerdings fehlte unzweifelhaft hilfreiches Rüstzeug. Dann galt es auch, Zrqaas Befinden zu berücksichtigen. Obgleich es ihn keineswegs inkonvenierte, den liebesbedürftigen Daimon zu verwöhnen und des Nachts aufzuwärmen, befand Xaruli doch, dass zumindest das Frieren leicht abgestellt werden könnte. Wenn man bloß über entsprechendes Fasermaterial verfügte! Aber hier gab es nichts dergleichen! Er erhoffte sich von ihrer Reise bis zum äußersten Rand des Sandmeers zu diesem scharrtigen, gewaltigen Gebirgszug neue Erkenntnisse, beispielsweise, was sich dahinter verbarg. Höher und höher trugen ihn nun seine Schwingen, während er durch den Dunst nach Passagen über das dunkle Gestein suchte. Als er endlich den höchsten Punkt erreicht hatte, beleuchteten seine Flammenstöße in der Dunkelheit keinen sternenklaren Himmel, sondern aus Wasserdampf gebildete Wolkenformationen. *~~~+~~~* "Oh...oh! Sieh mal!", Strix wandte sich aufgeregt zu Ümir herum, der sich mit langen Schritten über die freie Ebene der Stadt näherte. Beide hielten inne, wobei der Steinriese so aufmerksam war, die freie Schulter als Lande- und Ausruhplatz für seinen gefiederten Begleiter zu offerieren. Anders als erwartet erschienen die Zeichen des Feuer spuckenden Engels keineswegs über der Wüste, sondern bildeten phantastische Blüten am Firmament, wie Rosen oder Päonien! "Wolken!", löste Strix das Rätsel beeindruckt, "das sind Wolken!" Ein herrliches Schauspiel, als würde auf das nachtschwarze Samt des Himmelszeltes mit warmen Glutfarben gestickt! "Das scheint jedoch weiter weg zu sein als gestern", tat Ümir gewohnt vorsichtig und kollernd im Bass seine Einschätzung kund. "Ich fürchte, du hast ganz recht!", pflichtete das Käuzchen ihm stirnrunzelnd bei, justierte die Brille auf der schmalen Nase. Herrje, das würde es wirklich nicht einfach machen, Tybalts Botschaft an den so reisefreudigen Engel zu übermitteln! *~~~+~~~* Zrqaa berührte sehr vorsichtig mit einer Kralle die abkühlende Wand. Er hatte, trotz eines Lebens in der Wüste unter immenser Einstrahlung der Sonnen, noch nie gesehen, dass Steine geschmolzen waren. Unglaublich! Das unversehrte Gestein barg Unebenheiten, Einschlüsse, die von Xaruli versengte Wand hingegen fühlte sich glatt an, hin und wieder, als sei ein Tropfen entlanggeglitten. Unwillkürlich rieb er sich über die dünnen Arme, schnupperte erneut. Die Luft roch komisch hier. Ob es an der Höhe lag? Oder an dem, was sich hinter dem Gebirgszug befand? Er atmete erleichtert auf, als Xaruli ebenso lautlos wie leichtfüßig hinter ihm aufsetzte, überwand eilig die Distanz und schmiegte sich an den orangefarbenen Leib. Der Engel feuerte über seine Schultern im Halbkreis Flammen ab, faltete dann die Doppelschwingen auf, um die Wärme länger einzufangen. "Ich konnte dich leider nicht von hier aus sehen", bekannte Zrqaa zerknirscht, denn der Überhang warf einen gewaltigen Schatten, "konntest du etwas erkennen?" Xaruli nickte leicht. "Ah, vielleicht eine Passage? Was befindet sich hinter den Bergen?", erkundigte sich Zrqaa neugierig. Seine Nasenspitze wurde sanft touchiert. "Hmm, du willst mich wohl überraschen, hm?", vermutete der schuppige Daimon zutreffend, streichelte durch die Engelslocken, "nun, fein! Dann sollten wir uns ausruhen, ja?" Ihm kroch zwar nicht mehr die grässliche Kälte in die Glieder, aber der lange Hoppelritt im Schlitten plus die Nervosität ob eines Racheaktes hatten ihn ausgelaugt. Gewohnt geschmeidig ließ sich Xaruli nieder, lud ein, auf seinem Schoß Platz zu nehmen, verwöhnt zu werden! Allerdings schlief Zrqaa schon nach den ersten Aufmerksamkeiten vor Erschöpfung ein. *~~~+~~~* Tankred hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Nach dem abendlichen Schauspiel, das ihm, der durchaus Höhen bereiste, verraten hatte, in welche Richtung sich der unerfreulich umtriebige Flammenspeier entfernt hatte, wollte er sich einen Vorteil verschaffen, indem er Strix einfach vom Boden abpflückte, Ümir mit dem schlafenden Woll-Türmchen einen Gruß entbot und zu ihrer Höhle flog. "Hast du das auch gesehen? Er muss sich ein gewaltiges Stück entfernt haben! Ich benötige unbedingt eine Karte!", drang an seine unwilligen Ohren. Selbstredend pflegte sein Käuzchen nicht, von der gewählten Mission auch nur einen Iota abzuweichen! "Ach ja, ich muss auch einen Botendienst finden, für Tybalts Nachricht an Xaruli! Gleich morgen ziehe ich los!", drohte Ungemach. Der Falkendaimon landete geübt, hielt Strix jedoch fest umschlungen, schob ihn in die Höhle und schnurstracks zu ihrem Nest. "Oh, und ich muss mit den KOK-Offize sprechen, für eine Beschäftigung als Collecte! Natürlich nicht als gewöhnlicher..." Tankred genügte es. Noch mehr Hiobsbotschaften, die geruhsame Zweisamkeit torpedierten, wollte er in dieser kurzen Nacht nicht mehr erfahren! Weshalb er Strix die Daunen so unnachgiebig aufflauschte, bis dieser trotz vergeblichen Protests in tiefen Schlaf fiel. *~~~+~~~* Die ersten Strahlen der Sonnen veranlassten Xaruli, sich mit Zrqaa auf den Armen zu erheben. Das Licht würde genügen, bis zu einer Passage zu fliegen, dort zu landen und sich über den Grat zu bewegen. Der Engel fürchtete keine Fallwinde oder ähnliche Kalamitäten, aber bereits am Abend hatte er die unterschiedliche Beschaffenheit der Luft registriert. Er wollte nicht das Risiko eingehen, aus mangelnder Erfahrung gegen Felsen gedrückt zu werden oder eine Bruchlandung hinzulegen. Außerdem bereitete ihm der Dunst gewisse Sorgen. Im Wald hatte es auf den Lichtungen auch diese feuchten Schleier gegeben, aber hier hatten sie eine ganz andere Qualität. Zudem verhinderte der hartnäckige Nebel eine sichere Orientierung, wenn man über den Grat kletterte. Zrqaa erwachte, als Xaruli landete. "Guten Morgen", optionierte er vorsichtig, blickte sich verwirrt um. Was war das? Eine Art Wasser in der Luft? Auf seiner schuppigen Haut kondensierten winzige Tropfen, das Wasser schmeckte jedoch recht ungewohnt. Xaruli faltete seine Schwingen eng an den Körper, streckte die Hand nach Zrqaas Klaue aus. "Das ist hier seltsam", selbst Zrqaas Stimme wurde gedämpft, klang fremd. Tapfer folgte er jedoch Xarulis Führung. Wahrscheinlich wäre er am Ende dieses Abenteuers weiter gereist als jeder andere in seinem Clan zuvor! *~~~+~~~* Eigentlich wäre ein ernstes Wort angezeigt gewesen, nun, mehrere, andererseits, hier wollte Strix gerecht sein, kündete Tankreds ausbleibendes Wecken von einer nicht misszuverstehenden Fürsorge. Er HATTE sich bei der Expedition zu Tybalts neuer Heimat durchaus an gewisse Grenzen gebracht, was allerdings daran lag, dass er nicht mehr in seinem "Tempel" unermüdlich auf und nieder fliegen konnte, sondern sich gramerfüllt im Nest verkrochen hatte. Während Strix nun, mit aufmerksam deponierten Knabberriegeln und aromatisiertem Wasser gestärkt, durch die Stadt zog, musste er erkennen, dass es nicht so einfach sein würde, Tybalts Bild an Xaruli liefern zu lassen. Transport- und Kurierleistungen innerhalb der Stadt? Kein Problem! Auch Handelstransporte durch die Umgebung gab es en masse, bloß nichts Richtung Wüste, weil dort nichts aufzutreiben war, das ein Geschäft ermöglicht hätte. Mit dem Sand konnte man nicht bauen. Gemüse, Obst, irgendwelche Früchte, Samen: Fehlanzeige! Stattdessen karge Landschaft, Gluthitze und sonst nichts, oder zumindest nichts, was bisher eine Nachfrage ausgelöst hätte. Wie also sollte er bloß dieses Problem lösen?! Nun, selbst ist der Kauz! Fliegen sollte ihm ermöglichen, zumindest eine gewisse Distanz zu absolvieren! Befand Strix, während er sich über öffentlich zugängliches Kartenmaterial beugte, nicht, dass die Wüste ihm viel geboten hätte. Erschwerend kam jedoch hinzu, dass Xaruli sich über große Entfernungen bewegte. Wenn man ihn dazu brächte, am Rande des Sandmeers zu warten, könnte man durch die Steppe ziehen und sich dort treffen! Strix blätterte entschlossen sein Notizbuch auf und zückte einen Stift. Signale, darauf käme es an! Just in diesem Moment war ihm veritabel ein Licht aufgegangen, was einen Teil des Problems betraf. *~~~+~~~* Nachdem sie über den Grat geklettert waren, durchaus vorsichtig, denn der Boden erwies sich als geröllbelastet und scharfkantig, fasste Xaruli Zrqaa wieder unter. Der Dunst klärte sich, die Hitze der Sonnen brachte klare Sicht auf die Welt jenseits des Gebirgszugs. Zrqaa konnte sich nicht erklären, was er dort sah. Blau-grün, eine teilweise spiegelnde Fläche! Außerdem verstärkte sich der ungewohnte Geruch in der Luft, ihre befremdliche Zusammensetzung auch noch! Er verrenkte sich beinahe den Kopf, da er die Arme um Xarulis Nacken geschlungen hielt, um den Flug nicht zu behindern. Der Engel hingegen entfernte sich sicherheitshalber von der Gebirgskette, bevor er in kurvenreichem Gleitflug dem Unbekannten näher kam. "Ist das-ist das Wasser?", erkundigte sich Zrqaa ungläubig. Aus dem Wasser ragte in Ufernähe eine variantenreiche Flora hervor, was Xaruli interessierte, der sich fragte, ob diese Gräser wohl zu Seilen, Stricken verarbeitet werden konnten. In einiger Distanz bewegten sich auch Häuser auf dem Wasser, sehr langsam, eher dümpelnd. "Wenn das alles Wasser ist", kramte Zrqaa fassungslos in überlieferten Erzählungen, "dann sind das Schiffe?" Aber nicht nur sie hatten ihr Augenmerk auf die für sie faszinierend exotische Umgebung gerichtet, nein, man hatte sie auch erspäht. Xaruli entließ eine meterlange Lohe in den Himmel. Aufgeregte Stimmen drangen an ihre Ohren, während sie über den schwimmenden Behausungen kreisten, doch niemand wirkte feindselig, eher neugierig. Schließlich hielt Xaruli eine Landung für ungefährlich genug. Er setzte langsam auf einem der größeren Boote auf, die mit ihrem flächigen Aufbau tatsächlich eher an Häuser mit Veranda erinnerten. Sofort näherte man sich, muntere Daimonen mit glatter, sonnenverwöhnter Haut, Schwimmhäuten zwischen den Zehen und Fingern. "Das Feuer am Himmel stammt von dir?" "Hast du wirklich den Berg überquert?" "Woher stammt ihr?" "Wie kommt es, dass du fliegen kannst?!" Fragen prasselten auf sie ein. Zrqaa hielt Xarulis Hand versichernd. "Ah, seid gegrüßt! Wir sind Reisende aus dem Sandmeer", verkündete er mit wachsender Sicherheit, "mein Gefährte Xaruli und ich, Zrqaa. Ich werde für Xaruli sprechen." Dessen Schwingen großes Interesse auslösten, nicht nur bei ihren Gastgebern, nein, es kreisten auch Vögel um die Hausboote! Auch näherten sich Kähne und Kanus, von Rudern oder Schrauben angetrieben, dazu noch Segel, die von der Brise unterstützt wurden, die durch das Gebirge und die Temperaturunterschiede angefacht wurde. Kein Zweifel, ihre Ankunft würde DAS Gesprächsthema der nächsten Tage sein! *~~~+~~~* »Wenn es einfach ist, könnte es jeder!«, rief sich Strix wiederholt in Erinnerung, aber er war GANZ SICHER NICHT die Sorte Kauz, die vor nickligen Schwierigkeiten einknickte, den Kopf unter die Flügel steckte, oh nein, meine Damen und Herren! Weshalb er zunächst eine der größeren Wäschereien aufgesucht hatte. An Bändern tanzten dort unzählige Kleidungsstücke im Dampf einen fröhlichen Reigen, während emsige Drachen ihres Amtes walteten. Ihr Chef-in-Rotation hinter dem Tresen war jedoch nicht sonderlich beglückt durch den eigenartigen Kunden, der Auskünfte wünschte und sich als gar lästig erwies. Da half wohl nichts anderes, als ihn mit einer ausweichenden Antwort auf eine etwas längere Tour durch die Nachbarschaft zu schicken! *~~~+~~~* Domitian aka Dom, Mee-Poo und stattlicher Inkubus, kannte sich mit heiklen Situationen aus, zwangsläufig, ob das versehentlich eingeschleppte Menschen im falschen Zug waren oder Quasi-In-Spe-Ex-Göttlichkeiten aus Ameisenanbetung. In gewisser Weise standen seine gedrechselten Hörner stets auf Empfang für sich anbahnende Schwierigkeiten, recht hinderlich, wenn man eigentlich gerade unterwegs war, sich ein wenig während der Arbeitszeit mit Flirts zu amüsieren. Aber es half eben nichts! Außerdem zeichnete ihn nicht nur eine professionelle Neugierde, sondern auch eine kindlich anmutende Begeisterung für Geschichten aus, weshalb er sich, stets adrett im Kilt gewandet, mit seiner Lanze und einem zähnestarrenden Grinsen, freundlich durch die Menge schob. "Also, deshalb benötige ich ja Hilfe! Ich will das Feuerwerk doch gar nicht in der Stadt abbrennen!", der kleine Kauz, mit Cape, hellen Hosen, Hosenträgern über einer Hemdbluse und einer gewaltigen Brille ausgestattet, gestikulierte ausschweifend. Bereits über eine halbe Stunde unterhielt er den kompletten Marktplatz des Viertels mit einer tragisch-abenteuerlichen Erzählung über den Flammen speienden Engel, eine heimatlose Dryade, echte Freunde, phantastische Reisen und dramatische Trennung. Nicht bloß Faktenschilderung, nein, auch gewonnene Erkenntnisse, seine eigenen Gedanken, die Dynamik eines Gerüchts, Emotionen! Es wurde schlichtweg alles geboten, was förmlich den Passier- und Geschäftsverkehr komplett zum Erliegen brachte, weil niemand etwas verpassen wollte. Wer nicht direkt daneben stand, wurde als "Audio-Verstärkung" angestupst und um Wiedergabe gebeten, weshalb ein ständiges leises Rauschen und Murmeln zu vernehmen war. "Kann dir nicht helfen!", versetzte der ganz in feuerfeste Lederhäute gekleidete Erdgeist entschieden, "kein Feuerwerk an Fremde!" "Dann begleite mich doch einfach! Ist gar nicht so weit", legte Strix gerade großzügig die Distanz auf einen gewissermaßen reduzierten Wahrheitsanteil aus. "Will nicht!", konterte der Erdgeist, demonstrativ die Arme vor der schmächtigen Brust verschränkend. Da hörte sich ja wohl alles auf! Irgendwo in eine STEPPE ziehen, um für die leidige Konkurrenz, die da einfach und anlasslos nachts den Himmel befeuerte, Raketen abzuschießen?! AUF KEINEN FALL! "Aber es ist wichtig!", plädierte Strix unerschrocken, "schau doch mal, ich kann die Botschaft sonst ja nicht weitergeben!" Damit schwenkte er das ausgerollte Bild von Tybalt, damit auch das Publikum etwas zu sehen bekam. Man murmelte und kommentierte. Hübsch, so was! Wäre auch nicht übel fürs Wohnzimmer, oder? Ach, der Künstler kam nicht mehr hierher? Im Wald, aha! "Guten Abend, Leute!", machte Domitian auf sich aufmerksam, "ich heiße Dom, Mee-Poo, und ich finde, wir sollten das kleine Problemchen klären", sonst quetschten sich noch mehr Leute auf den ohnehin überfüllten Markt. "Guten Abend, sehr erfreut, Herr Dom, ich heiße Strix", das Käuzchen streckte ihm eine Hand entgegen, "ich möchte gleich betonen, dass ich kein Feuerwerk in der Stadt abbrennen will." Somit nicht die geringste Absicht bestand, ein Verbot zu übertreten, immerhin, das durfte man nicht vergessen, war er der prominente Regel Nummer 1-Sünder! "Na schön, also, wenn ich das richtig verstanden habe", Domitian fasste zusammen, "willst du, dass eine Rakete als Signal am Rand der Wüste abgefeuert wird, ja?" "Exakt!", eifrig nickend klopfte Strix auf das Transportrohr, "damit Xaruli, das ist der einzig bekannte, Feuer spuckende Engel, diese Nachricht von seinem besten Freund erhält!" "Nur Optime feuern Raketen ab!", bellte der Erdgeist dazwischen, "nicht in der Stadt. Und ich mag keine Wüste." Auch keine Konkurrenz. Aber angesichts der latenten Sympathien für das getrennte Freundespaar hielt der Erdgeist es für besser, dieses Argument nicht anzubringen. "Ah, darf ich mich beteiligen?", mischte sich ein Vogeldaimon ein, "Kryptkr, von Aero-Flott! Haben die verehrten Wesen schon über einen Postkasten nachgedacht?" Nicht, dass die Aero-Flott mit ihren zahlreichen, farbenprächtigen Fledermausdaimonen außerhalb der Stadt Rohrpostbenachrichtigungen auslieferte, aber man hielt zumindest die Ausstattung vor! Strix seufzte, denn er hatte den halben Vormittag damit verbracht, sein Anliegen vergeblich auf die konventionelle Beförderungsweise absolvieren zu lassen. "Vorher wäre es mir wichtiger, überhaupt auf die Nachricht aufmerksam zu machen", stellte er streng heraus, "immerhin gibt es offenkundig keinen Postverkehr Richtung Sandmeer!" Da war die Aufbewahrungsbox doch nun wirklich nicht das drängendste Problem! "Wir von Aero-Flott", Kryptkr blieb gewohnt diplomatisch und beflissen, "sind immer daran interessiert, neue Kundenkreise zu gewinnen!" Auch wenn er persönlich nicht die geringste Vorstellung davon hatte, ob irgendwer irgendwas möglicherweise Daimonen (oder was auch immer) in der Wüste mitzuteilen hatte. Andererseits wäre ja ein Trend möglich! Zahlte man in Körnern oder Samen, enthielten sich jedenfalls die freundlichen Mitarbeitenden der Aero-Flott jeden Urteils! "Kein Feuerwerk in der Stadt. Kein Feuerwerk ohne Optime", der Erdgeist zweifelte am Verstand seiner drei Gegenüber, die sich über irgendwelche Details behakten, dabei hatte er schon HÖCHSTPERSÖNLICH alle Mitarbeit ausgeschlossen! Domitian zog die Stirn kraus. "Also, wir brauchen einen Feuerwerk-Optime, der an den Rand der Wüste reist", zählte er auf, "einen Kurier für die Botschaft." "Und natürlich, um Beschädigungen zu verhindern und als Adresse eine unserer patentierten Rohrpostauffangbehälter, Aero-Flott-Qualität!", brachte sich Kryptkr in Erinnerung. "Hallo, Verzeihung, die Ehrenwerten Daimonen?", über ihnen flatterte ein Wasserdrachen, ganz gewiss nicht von imponierender Größe, denn er reichte, auf die beiden Hinterbeine gestützt, gerade mal bis an Domitians Hüften heran. Blaugrüne Schuppen, ein sehr gepflegter Schnurrbart, vier goldene Hörnchen und ein grässlich pinkfarbener Rucksack mit einer Einhorn-Applikation auf dem langen, biegsamen Rücken. "Guten Abend, verzeihen Sie meine Dreistigkeit!", er lispelte sogar noch! "Guten Abend, Freund!", Domitian, der keinerlei Berührungsängste hatte, bot seine gewaltige Lanze als temporären Sitzplatz an, "kannst du uns helfen?" "Ich wäre ausgesprochen gern zu Diensten!", lispelte der Wasserdrache, blinzelte heftig mit dicht bewimperten Kulleraugen, "ICH kann ein Feuerwerk entzünden." "Pah!", fauchte der Erdgeist, "Amateur! Famulus! Schüler! Anfänger! PAH!" Unglaublich, dass sich hier so eine Mini-Portion erdreistete, die Konkurrenz zu unterstützen! Überhaupt, woher stammte dieser lispelnde Saboteur?! "Gestatten, Casimir.", der Wasserdrache kringelte sich ein wenig eingeschüchtert um die Lanze, "ich weile derzeit zu Besuch bei meinen Cousins hier." Er nickte Strix zu, "verehrter Herr, Sie sprachen vorhin vor, in der Reinigung 'Zur goldenen Schuppe', und ich kam nicht umhin, Ihr Anliegen zu vernehmen." "Das stimmt!", bestätigte Strix, nickte heftig, woraufhin die Brille mit den großen, runden Gläsern auf seiner schmalen Nase neu justiert werden musste, "bist du tatsächlich Feuerwerker?" "Oh, in der Tat!", Casimir kramte, sich mühelos verdrehend, in seinem Rucksack, beförderte eine in Lederhaut eingebrannte Urkunde, "das Familiengeschäft liegt mir leider so gar nicht." Während Domitian interessiert den Meisterbrief musterte, fauchte der Erdgeist frustriert. Ungezogener Bengel! Na warte, wenn das die Innung erfuhr! Dann würde er aber etwas zu hören bekommen, dass ihm die vier Hörner klingelten! "Leider bin ich gegen Seifenlauge allergisch", bekannte der Wasserdrache unterdessen bekümmert, "meine Augen..." "Ach herrje!", bekundete das Käuzchen Mitgefühl, "hat eine geschlossene Brille auch nicht geholfen?" Casimir senkte den Drachenkopf und schniefte leise, denn gewissermaßen war es sehr isolierend, als Wasserdrache mit Feuer hantieren zu müssen, vor allem, wenn einem die Schwefelhölzer feucht wurden! "Nun!", verkündete Domitian ausschweifend, reichte die Urkunde ihrem Besitzer zurück, "dann wäre das schon mal gelöst, oder? Casimir, Kamerad, bist du bereit, zur Wüste zu ziehen und ein Feuerwerk abzubrennen?" "Allzu gern, Herr Domitian!", nickte der kleine Wasserdrachen euphorisch, immerhin hatte er Ferien, und seine Cousins samt der Wäscherei boten ihm nicht gerade eine Erholung, was seine Allergien betraf! "Wo bleibt die Sicherheit?!", fauchte der Erdgeist, "bloß Optime zweiten Grades! Ich verlange Aufsicht!" "Uh", stellte Domitian fest. Als Mee-Poo beschränkte sich sein Revier auf die Stadt, so ausgedehnt und vielfältig sie war, eine gewaltige Metropole. Aber die Wüste zählte nicht dazu, und er brannte auch nicht unbedingt darauf, diese kennenzulernen. "Das liegt auf meiner Route", grollte eine dunkle Stimme. In ihr schwang, ganz naturgegeben, eine Ahnung von Verhängnis mit. "Äh, hallo, Oona", grüßte Domitian nach oben, wo auf einem niedrigen Flachdach eine Person sich langsam aufrichtete, "mal wieder hier?" Ein gewaltiger Schatten warf sich über den Marktplatz, und wer konnte, huschte bemüht unauffällig in weniger bevölkerte Gassen und Hauseingänge. *~~~+~~~* Zrqaa schwirrte der Kopf. So viele Daimonen! Mindestens drei mal so viele wie in seinem Clan! Es störte ihn nicht, dass er ständig berührt wurde, weil diese Daimonen einen wie ihn, mit seiner schuppigen Haut und dem Hornkamm, noch nie erblickt hatten. Sie waren aufgeschlossen, freundlich, redeten sehr viel, und er kam kaum mit dem Dolmetschen nach, weil Xaruli auch neugierig war, mit dem Finger auf die Bodenplanken zeichnete, gestikulierte, was Zrqaa dann laut aussprach. Wenigstens bekam er einen Fisch serviert, wobei man ihm helfen musste, denn der Daimon hatte so ein Tier noch nie zuvor gesehen und keine Vorstellung davon, was er wie verzehren sollte! Gegen Mittag hing plötzlich der Himmel voller Wolken! Wasser kam herunter, nicht einige Tropfen, nein, ein Regenguss! Zrqaa staunte fassungslos. All diese Begriffe, Wasser vom Himmel, in der Luft, geballt bis zur Undurchsichtigkeit: Regen, Wolken, Regenbogen, Hagel, Schnee, das waren für ihn Bestandteile exotischer Erzählungen gewesen. Nie hätte er geglaubt, sie leibhaftig erleben zu dürfen! Obwohl ihn alles faszinierte, er es sogar wagte, sich vertrauensvoll ins Wasser sinken zu lassen (!), spürte er, dass ihm diese Umgebung nicht gut tat. Mit fortschreitender Dauer des Tages fiel ihm das Atmen schwer, schmeckte er auf der Zunge einen unbekannten Belag. Xaruli, der ihn nicht aus den Augen ließ, bot seinen Schoß zur Rast an, feuerte, sehr zur Gaudi der Daimonenkinder, Lohen in die Luft, um die allgegenwärtige Feuchtigkeit etwas auszutrocknen. Allein, Zrqaa spürte sie dann noch drückender, verzichtete aber nachsichtig auf eine Beschwerde, dazu fühlte er sich nicht mehr disponiert. Außerdem schämte er sich ein wenig, weil der Engel so fleißig und umtriebig war, während er selbst gar nichts zu ihrer beider Fortkommen beitrug! Tatsächlich hatte Xaruli sich in die Arbeit gestürzt, ohne dies selbst so einzuschätzen, denn er sah hier Möglichkeiten, die sich jenseits des Gebirgszugs nicht anboten. Man hatte ihm signalisiert, dass er bedenkenlos die zähen Grashalme und Binsen absäbeln durfte, weshalb er in geübtem Geschick Seile und Stricke gewunden, diese dann zu einem imposanten Netz miteinander verwoben hatte. Ein Fesselballon, war das der Begriff? Eine der alten Daimonen saß gemütlich an seiner Seite und schmauchte nahezu ununterbrochen an einer langstieligen Pfeife, galt als uneingeschränkte Autorität, weil sie sogar bis in die weiteste Ferne gereist war, wo die Tropfen vom Himmel sich in Eis verwandelten, wo sie sich aufschichteten, blendend weiß! Die Daimon wusste von Flugapparaten zu erzählen, die sie gesehen hatte, durch einen magischen Spiegel, auf der anderen Seite. Menschen. Sie erhoben sich ohne Flügel in die Lüfte, mit allerlei Gerätschaften! Außerdem hatte sie Xaruli mit einem anderen Antrieb bekannt gemacht, wo das schlichte Ruderblatt nicht ausreichte: Schrauben! Propeller im Wasser, mit beweglichen Gelenken! Es gab Federspannung zu bewundern, die sich entlud, ein stets zu pflegendes Werk aus Muttern, Schrauben, um eine gleichmäßige Geschwindigkeit zu ermöglichen. Normale Daimonen hätte die Flut an Informationen, Vorführungen und Erzählungen zweifelsohne überfordert, Xaruli jedoch spürte, wie in seinem Verstand selbst Schwungräder in Gang gerieten, als hätte sein Kopf nur darauf gewartet, mit diesen Neuigkeiten und Erkenntnissen gefüttert zu werden! Er besichtigte die Segelmasten, die Vertäuung, Ruderpinnen, Spinnaker, komplexe Systeme, die man über Generationen hinweg verbessert hatte, widerstandsfähig in diesem eigentümlichen, wassergetränkten Klima. Er tauschte einen Teil seiner Glasmurmeln gegen einen Umhang aus brauner, etwas zottiger Wolle ein, von Tieren stammend, die am Wasser lebten, aber dort, wo sich heftige Jahreszeiten abwechselten. Gegen Abend entschied er, dass es Zeit für sie wurde, aufzubrechen. "Komm uns mal wieder besuchen!" "Wirst du heute Abend auch noch mal Feuer in den Himmel zeichnen?" "Grüße die Leute auf der anderen Seite von uns hier!" Gute Wünsche begleiteten ihn, als er, hinterrücks schwer beladen mit gerolltem Umhang und dem Fesselballonnetz, vorne den benommenen, ächzenden Zrqaa, abhob. Tatsächlich, auch das Fliegen ließ sich schwieriger an, als goutierten seine Federn die feuchte Luft nicht sonderlich. Auf dem Pass setzte er behutsam Zrqaa ab, der blinzelte, keuchte, hustete, ging in die Hocke, ihn in den wärmenden Umhang zu wickeln, den Hornkamm sanft zu streicheln. Ganz wie Tybalt! Sich nicht beklagend, die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden hintanstellen! Weil Freunde das taten. Xaruli blies Lohen zwischen die Felsen des engen Grats, um die Kälte in Schach zu halten, dann beugte er sich hinab und drückte die glühenden Lippen geschlossen auf den Mund des schuppigen Daimons. *~~~+~~~* Technisch gesehen handelte es sich um einen Banshee, eine irische Todesfee. Praktisch schlug Oona definitiv aus der Art: Gardemaß fast zwei Meter, muskulös, mit ausgebreiteten Schwingen eher an einen Gargoyle erinnernd. Kein schriller Sopran, unzweifelhaft Alt, kurz getrimmte schwarze Haare, markante Gesichtszüge, veilchenfarbene Augen. Sie trug nützliche Hosen mit zahlreichen Taschen, eine geschnürte Weste, Armstulpen und einen Kapuzenschal, nicht zu vergessen eine gewaltige Schocklanze. In geschmeidiger Leichtigkeit sprang sie vom Dach und setzte neben Domitian auf. Sie musste nie dazu auffordern, ihr Platz zu machen, das passierte von selbst. Domitian fühlte sich neben ihr beinahe filigran, von den anderen Umstehenden ganz zu schweigen. "Also schön", fühlte der Mee-Poo sich endlich wieder gewappnet, "dann würdest du wohl Strix hier und Casimir begleiten?" Oona grinste. "Falls jemand meine Marke sehen möchte", schnurrte sie in einem sehr tiefen Alt. Niemand, nicht mal der knurrige Erdgeist, meldete sich. Außerhalb der Metropole gab es auch Beauftragte für Sicherheit und Frieden: Inspize. Sie waren auf sich allein gestellt, deshalb wussten alle, dass man sich besser vertrug, bevor sich Inspize bemüßigt fühlten, einzugreifen. Möglicherweise nur die P.U.D.E.L. konnten gefährlicher und fähiger sein! "Fein!", auch Strix fand seine Sprache wieder, "Inspize Oona, Herr Casimir, ich danke Ihnen sehr!" Jetzt konnte doch nun wirklich nichts mehr schiefgehen, nicht wahr? "Was den Rohrpostkasten betrifft", mischte sich Kryptkr ein, "Aero-Flott ist gern zu besonderen Konditionen als Einführungsangebot bereit." Strix warf die Stirn in Falten, denn er hatte schon jetzt keine Ahnung, wie er Casimir und das Feuerwerk bezahlen sollte. "Was soll es denn kosten?", erkundigte sich eine schicksalsergebene Stimme. Das Käuzchen strahlte, als sich ein Malabsorbo im vollen Ornat den Weg bahnte. *~~~+~~~* Xaruli beendete seinen Blütenzauber mit den Dunstwolken und flog in Spiralen hinunter zum Grat, wo er Zrqaa zurückgelassen hatte. Tatsächlich, das konnte man nicht ignorieren: die Feuchtigkeit beeinträchtigte sein Gefieder! Er schüttelte die Doppelschwingen energisch aus, faltete sie dann eng ein. Kein Wunder, dass es dem armen Zrqaa nicht gut ging, so viel Nässe, darauf waren sie einfach nicht eingestellt! Der schuppige Daimon saß inzwischen auf, in den haarigen Umhang eingewickelt. Er hatte keinerlei Bedenken, sich in abgestreiftes "Fell" anderer Tiere einzuhüllen, wie Xaruli konstatierte. Nun, Zrqaa war eben auch keine Dryade. "Schön!", murmelte der Daimon, versuchte sich an einem Lächeln und hustete erneut erbärmlich. Xaruli hob das kompakte Paket auf seinen Schoß, rieb, wie er es Tankred hatte tun sehen, über Rücken und Arme. "Irgendwie", Zrqaa seufzte beschämt, "bekommt mir das Klima nicht." Er fürchtete sich davor, dass Xaruli ihn zurückließ, denn immerhin gab es hinter dem Meer noch viel mehr zu entdecken! Unversehens wurde er fester gedrückt, erhielt einen heißen Kuss auf den Hornkamm. "Tut mir so leid", wisperte Zrqaa und schniefte. Das knochige Kinn lupfend rieb Xaruli die Nasenspitze an Zrqaas, blickte entschlossen mit den schwarzen Augäpfeln in das von kondensierendem Wasser gezeichnete Gesicht. Er würde Zrqaa nicht allein lassen. Außerdem gab es keinen Zweifel daran, dass die Wüste ihnen beiden besser zusagte als dieses "Wasserland" hinter dem Gebirge, und, diesbezüglich blieb er ehrlich mit sich selbst, schwirrten in seinem Kopf diverse Ideen, wie er das Wüstenschiff flotter machen konnte. Also würde es morgen wieder auf der anderen Seite hinunter gehen, um herauszufinden, was sich alles umsetzen ließ. Xaruli faltete die Doppelschwingen auf und wiegte Zrqaa sanft in den Schlaf. *~~~+~~~* "Ich werde mitkommen", stellte Tankred fest, "keine Diskussion!" Er apportierte den Rohrpostkasten und zog an der anderen Hand Strix mit sich. Ihn schauderte bei der Vorstellung, was sich das Käuzchen wohl als nächstens einfallen lassen würde. Außerdem, in die Wüste?! Dieses Wald- und Wiesen-Käuzchen?! Der Falkendaimon schnaubte. "Vielen Dank", murmelte Strix, dem dämmerte, dass er möglicherweise ein wenig über die Stränge geschlagen hatte, "ich werde dir das Geld ersetzen." "Darum geht's nicht!", knurrte Tankred, "du kennst einfach deine Grenzen nicht! Bis an die Wüste fliegen, das ist was anderes als eben mal durch den Wald!" "Erlaube mal!", sträubte Strix sein Gefieder, "ich habe mir darüber selbstverständlich Gedanken gemacht! Ich kann.." "Nein!", schimpfte Tankred und ließ Strix' Hand los, fasste ihn einfach um die Hüfte und hob ab, "du nimmst 'Hals- und Beinbruch' einfach nicht ernst!" Überhaupt konnte er diesem alten Fliegergruß so gar nichts abgewinnen! "Also wirklich!", empörte sich das Käuzchen beleidigt, "ich bin ein ausgezeichneter Aeronaut!" "Du bist ohne Brille blind wie ein Maulwurf!", konterte Tankred grimmig, "du verträgst keine Hitze! Dein Orientierungssinn ist auch bloß so lala!" "Das", Strix schluckte getroffen, "das ist gemein!" Als wäre er sich nicht gewisser Defizite bewusst! "Nein, gemein wäre", knurrte Tankred und landete auf dem Plateau bei ihrer Höhle, "dich einfach kopfüber in dein Verderben rennen lassen, weil du dich für unverletzlich hältst!" Damit zog er Strix so fest in seine Arme, den vermaledeiten Rohrpostkasten sinken lassend, dass dem Käuzchen glatt die Luft abgedrückt wurde! "Ich lass nicht zu, dass dir was passiert!", zischte der Falkendaimon leidenschaftlich, "du bist MEIN Käuzchen!" Eigensinnig, waghalsig, tollkühn, verrückt, engagiert, träumerisch, wortgewaltig.... Auf keinen Fall, nie und nimmer, würde er akzeptieren, dass ein Versäumnis, ein Fehltritt, irgendwas sie trennte! *~~~+~~~* Tybalt wickelte sich in seinen in prächtigen Grüntönen schimmernden Kapuzenmantel, fragte sich, ob Xaruli aufhören würde, nachts Feuerspuren am Himmel zu ziehen, wenn es Strix gelang, seine Botschaft zu übermitteln. Ob er jemals erfahren würde, was dem Engel in der Zwischenzeit begegnet war. Ob er einsam und allein in der Wüste ruhelos wanderte, nun, flog, ohne Ziel, ohne Ansprache, ohne eine Seele, die sich um ihn sorgte! Er zog die Schultern hoch und tat sich auch ein wenig selbst leid, denn mit ihm hatte an diesem Tag auch niemand ein Wort gewechselt, was möglicherweise daran lag, dass er auf der Anhöhe seine Rahmen zur Papierherstellung ausgelegt hatte. Selbst Ifan hatte sich nicht gezeigt, dabei plagte sie ihn doch sonst ständig! Nur die Nymphe hatte ihn angeknurrt, bis er ihr eine Packung Schlamm ins Gesicht geschleudert hatte. Zeigte ihm doch glatt ihre Zähne! Blödes Fischweib! Als gehöre ihr die Quelle allein! Auch wenn ihm der Gedanke missfiel: möglicherweise hatte Ifan doch ein klein wenig recht und nur die volle Ladung feuchter Dreck lehrte die nickelige Nymphe Mores! *~~~+~~~* Kapitel 27 Oona nahm, Widerspruch mit einem grimmigen Blick erstickend, den Rohrpostkasten an sich, band ihn sich zu ihrem Rucksack auf den Rücken. Tankred, ohne seine Malabsorbo-Ausrüstung, entschied, dass er schon mit Wasser- und Nahrungsvorrat für Strix genug zu tragen hatte. Der justierte gerade den jüngst erstandenen, breitkrempigen Strohhut und lächelte unternehmungslustig in die Runde. Er war bereit, klopfte versichernd auf das Transportrohr mit der Bildbotschaft! Casimir, der Wasserdrachen, zischelte nervös. Dreimal hatte er seine Schwefelhölzer überprüft, die Raketen, Ersatzmaterial, Zunder, Zündschnüre, Pulver. Sein erster großer Einsatz als Optime! Er war außerdem bepackt mit Wasser und einer ganzen Flasche Emulsion, um seinen wasserschuppigen Körper vor dem Austrocknen zu bewahren. "Dann wollen wir mal", übernahm Oona die Spitze, erhob sich mühelos in den klaren Morgenhimmel. Am Stadtrand, wo sie starteten, jubelte eine erstaunliche Menge an Daimonen. Selbst Ümir winkte scheu. Alle wollten selbstredend erfahren, wie es weiterging, nachdem das kleine Käuzchen ihnen so mitreißend diese verschlungene Freundschaftsgeschichte geschildert hatte! Der Falkendaimon, der das Schlusslicht übernahm, seufzte innerlich. Von wegen Collecte! Wenn das hier überstanden war, hegte er keinen Zweifel daran, dass die KOK-Offize sein Käuzchen als Fabule anwerben würden. Geruhsam, zurückgezogen zwischen Büchern, Tafeln und Schriftrollen agieren?! Ha! *~~~+~~~* Xaruli bugsierte den Wahamuth-Panzer wieder auf den Sand unterhalb der felsigen Ausläufer des Gebirges, dann stopfte er mit Geschick die Haut in sein Flechtwerk, um den Fesselballon zu vollenden. Hmmm, zum Stabilisieren würde er noch einen Abschluss am offenen Ende benötigen! Zrqaa, der etwas mühsam atmete, aber nicht mehr erbärmlich röchelte, bewachte den teuren Umhang. Dafür hatte Xaruli einen Teil seiner kostbaren Glasmurmeln geopfert, nur, um ihm etwas Bequemlichkeit zu verschaffen! Er schämte sich durchaus seiner Schwäche. Xaruli, der die gedrückte Stimmung an den hochgezogenen Schultern erkannte und an dem Ausbleiben des gewohnten Plauderns, zog Zrqaa an den Klauen hoch. Im Sand malte er diverse Ergänzungen, die nach seinem Empfinden ihrem Sandschlitten erheblich mehr Schnittigkeit verleihen würden. "Ich glaube, ich verstehe", murmelte Zrqaa gedankenvoll, "doch woher wollen wir das alles nehmen?" Selbstredend konnte Xaruli nicht lächeln, aber er reckte das Kinn und ballte selbstgewiss die Fäuste. Jetzt, wo er eine recht konkrete Vorstellung davon hatte, wie sie sich mit ihrem Gefährt bewegen konnten, würde er sich schon um das notwendige Material kümmern! *~~~+~~~* "Vielen Dank, ehrenwerte Oona!", schnaufte Casimir. Es beschämte ihn zwar ungemein, dass er sich quasi um den Nacken der Inspize kringeln musste, doch sonst hätten sie zweifelsohne noch mehr Pausen einlegen müssen. "Nicht der Rede wert", bescheinigte ihm der Banshee. Oona war es gewöhnt, ihren ganzen Besitz inklusive der Schocklanze zu transportieren, auch im Flug. Nicht umsonst konnte sie prächtige Muskeln präsentieren, die selbst Domitian einen respektvollen Pfiff entlockt hatten. Hinter ihnen zog der Falkendaimon das Käuzchen mit sich, dem der Steppenwind gar nicht so gut bekam. Außerdem gab es bloß Gras zu sehen, verkrüppelte Sträucher, krautige Pflanzen, knotige, sehr vereinzelte Bäume. Keine geeignete Umgebung für ein Käuzchen! Tankred verzichtete auf jeden besserwisserischen Kommentar. Er hoffte bloß, genug Wasser und Proviant eingepackt zu haben. Außerdem hätte kein Einwand etwas genutzt, denn trotz der Plackerei und Mühsal war Strix nicht abzuhalten, sein gegebenes Wort zu erfüllen. Nicht mal das Transportrohr hatte er ihm abschmeicheln können, um die Last zu erleichtern! Der Falkendaimon seufzte lautlos. Wirklich, ein verrücktes Käuzchen, das er für sich gewonnen hatte! Er wagte gar nicht darüber zu spekulieren, was diese Leidenschaft über IHN aussagte! *~~~+~~~* "Du musst mitkommen!", verlangte Ifan, wuchs beinahe neben Tybalt aus dem Boden, der vor Schreck einige Pilze fallen ließ. Ärgerlich sammelte er sie auf, denn sich so überraschen zu lassen, das missfiel ihm sehr. "Wieso sollte ich 'müssen'?", erkundigte er sich spitz, in dem Tonfall, der suggerierte, dass er keineswegs eine Notwendigkeit anerkannte. "Weil's wichtig ist!", beharrte die Eiben-Dryade, packte ihn einfach am Handgelenk. "He!", protestierte Tybalt, doch da es gerade bergab ging, konnte er nicht einfach bremsen, ohne gefährlich ins Stolpern und Straucheln zu geraten. Aber nicht nur das! Ifan beschleunigte auch noch, bis sie beide rannten, wieder den Berg hoch, einem Trampelpfad folgend, der sich verlor, als der Bewuchs wich, direkt auf eine massive Felswand zu, die von hängenden Pflanzen bewohnt wurde. *~~~+~~~* Der Fesselballon funktionierte, auch ohne das noch fehlende Endstück, durchaus prächtig. Zwar war die Tragkraft nicht groß genug, den Panzer ganz vom Sand abzuheben, doch glitt der das Wüstenschiff nun geschmeidig und leicht dahin. Xaruli erhitzte immer wieder die gefangene Luft, lenkte mit kräftigen Flügelschlägen den Sandschlitten. Zrqaa lauschte auf ihre Umgebung, nicht nur auf das sirrende Pfeifen der Flöter, das sie begleitete, sondern auch auf etwaige Wahamuth-Aktivitäten. Per Handzeichen signalisierte er immer wieder hoch zu Xaruli, wie es stand. Der Engel spürte Vorfreude. Erwartung. Dass noch Einiges an Arbeit vor ihm lag, schreckte ihn kein bisschen. *~~~+~~~* "Wand! Wand Wand WAND!", kreischte Tybalt alarmiert. Sie würden direkt gegen den Felsen rennen! Tatsächlich, doch anstelle eines sehr schmerzhaften Aufpralls ihres Sprints flackerten diverse Leuchtwürmer verschreckt auf, als sie durch die überhängenden Lianen IN den Fels stürmten. "Haha!", lachte Ifan, reduzierte das Tempo, was Tybalt bedeutete, dass sie sich hier auskannte und ihn mal wieder angeführt hatte! Bevor er einen gerechtfertigten Ausbruch von Empörung kultivieren konnte, zog sie ihn tiefer in das Höhlensystem hinein. "Wir müssen uns beeilen, sonst geht alles kaputt!", verkündete Ifan streng, "zumindest könnte das passieren." "Was?! Hör mal, zerr mich nicht so herum!", beklagte sich Tybalt, "außerdem reicht es mir jetzt!" "Weil du nicht Bescheid weißt", signalisierte Ifan ungewohnt nachsichtig Verständnis, "pass auf deinen Kopf auf!" Gerade noch rechtzeitig, sonst hätte Tybalt sich wirklich an der tiefen Decke des Tunnels eine Beule geholt. "Wohin gehen wir überhaupt?!", grummelte er hilflos. Es gefiel ihm gar nicht, so vollkommen von Fels umgeben zu sein und auf Leuchtwürmer angewiesen! Selbst mit Xaruli in der Höhle hatte er immer darauf geachtet, sich nicht zu tief zu wagen! "Siehste gleich", Ifan lachte. "Bin schon gespannt!", Tybalt schnaubte, hatte Mühe, nicht über die eigenen Füße zu stolpern, denn die Sicht wurde noch schlechter, "ehrlich, du bist die verrückteste Dryade, die ich je kennengelernt habe!" Die Eiben-Dryade schmunzelte, "bist ein Charmeur, was?" Hinter ihr stöhnte Tybalt geplagt auf. *~~~+~~~* Xaruli arbeitete sich ungeniert durch die kärglichen Reste der Wahamuth-Karkasse. Am Panzer hatte er bereits mit der ledrigen Haut eine improvisierte Ruderpinne angebracht, die man dank flexiblem Gelenk sogar ganz einziehen konnte. Der Fesselballon, gesunken, sorgsam ausgebreitet, erhielt mit gekoppelten Läufern sein stabiles Endstück. Jetzt galt es, mit der Schrauben-Turbinen-Idee herauszufinden, ob seine Flügelkraft auch ersetzt werden konnte! Zrqaa, der seit einer geraumen Weile nicht mehr ächzte, sondern sich viel besser befand, lauschte auf Wahamuth-Aktivitäten. Vor ihm, im Sand, konnte er die Skizzen erkennen, die Xaruli gemalt hatte. Ein richtiges Wüstenschiff würden sie haben und er dürfte es lenken! Außerdem schien der Engel über Sandproben nachzudenken, wie man Glas herstellen konnte als Tauschware. Möglicherweise könnte man für die Nacht Fasern bekommen, aus denen Bekleidung gefertigt würde. Und dann war da ein Herzsymbol. Xaruli hatte es aufgemalt, ihm auf die Nasenspitze getippt und dann die eigene berührt. Zrqaa, der schon einige Male sehr euphorisch-ekstatische Empfindungen erlebt hatte, zitterte trotz der Gluthitze bei der bloßen Erinnerung. Er würde nicht mehr allein sein müssen. Xaruli ließ sich von ihm lieben! Nichts konnte ihn mehr erschüttern als die Gewissheit, dass seine Gefühle erwidert wurden. *~~~+~~~* Plötzlich erfüllte ein Glitzern und Schimmern die gewaltige Höhle, die sich nach einem engen Tunnel vor Tybalt auftat. Kristalle oder Steine? Er wusste es nicht einzuschätzen, doch das Licht der Leuchtwürmer brach sich überall, vervielfältigte sich, ganz zu schweigen von einem brodelnden, dampfenden Loch, das feurig-rote Glut an die Wände warf. "Los, los!", drängte Ifan. Tybalt glaubte, einen gewaltigen Schatten verschwinden zu sehen, doch er traute seinen Augenwinkeln nicht recht. Ein umgedrehter, fossiler Schildkrötenpanzer schaukelte auf einem kleineren Loch, das Dampf entweichen ließ. "So, wie geht das jetzt mit diesen Bonbons?", Ifan packte unternehmungslustig zwei Lederlappen. Ungläubig starrte Tybalt in ihr eifriges Gesicht, "hä?!" Die Eiben-Dryade verdrehte die roten Augen, balancierte den Schildkrötenpanzer aus. Darin, zähflüssig, von ausgelöstem Wasser geduldig durch die Geothermie befreit, befand sich Zuckerrübensirup. "Wie nun?!", kommandierte sie, "ausschütten und dann?!" Dabei verteilte sie schon, angestrengt den improvisierten Topf umklammernd, die kochend heiße Masse auf eine glatte Steinfläche. "Du liebe Güte!", murmelte Tybalt. Er fingerte einen kostbaren, sehr scharfen Steinsplitter aus seinem Beutel und begann, die zähe Masse zu zerstückeln. "Heiß heiß heiß!", beklagte er sich dabei pausenlos, denn obwohl er die Zuckerschicht nicht berührte, strahlte sie verbrühende Hitze aus. "Also, Bonbons, ohne Bienenkotze", stellte Ifan zufrieden fest, die Hände in die Hüften gestützt. Tybalt schnaufte, plumpste wenig elegant auf einen glatten Felsen. "Wieso machst du so was?!", brach es schrill aus ihm heraus. Welche Dryade kroch tief unter die Erde, dann auch noch in möglicherweise einen Vulkan, um Zuckerrüben auszukochen?! Ifan grinste, rammte ihm einen Ellenbogen gewohnt rustikal in die Seite. "Waren lecker!", erläuterte sie ausschweifend, "also, wieso nich?" Neben ihr barg Tybalt aufstöhnend den Kopf in den Händen. Hatte er wirklich geglaubt, dass neue Leben hier würde langweilig werden?! *~~~+~~~* Zrqaa fuhr zusammen, als er die Eruptionen wahrnahm. Noch während er warnend und schrill pfiff, wandte er sich Xaruli zu. Der rang mit den Überresten des Wahamuth-Kadavers, neben dem Sandschlitten, der ohne den gefüllten Fesselballon keinesfalls abheben konnte. Zrqaa warf Xaruli einen panischen Blick zu. Der Wahamuth, dessen rapide Annäherung er deutlich spüren konnte, hielt direkt auf Xaruli und den Sandschlitten zu! Er zögerte keinen Augenblick, sondern rannte los, in entgegensetzte Richtung, obwohl ihm bewusst war, dass er es niemals bis zum nächsten Felsmassiv schaffen würde. Aber die Vibrationen seiner Schritte lenkten den Wahamuth sicher ab! Zrqaa beschleunigte, stieß sich mit förmlich vom sandigen Boden ab. Schon spürte er das Rieseln unter seinen Klauen, das Nachrutschen. Aber nicht nur die gewohnten Geräusche der Läufer, nein, dieser Wahamuth gab schrille, hochfrequente Laute von sich! Das hatte er noch nie gehört. Es klang gequält, schmerzerfüllt, wütend, verzweifelt. Keine Frage, das war der Wahamuth, der gegen den Felsen geprallt war, als er sie das letzte Mal verfolgt hatte! Zrqaa sah schon schwarze Sternchen, aber das hielt ihn nicht auf. Wenn er nur lief, lange genug, ausdauernd genug, hätte Xaruli die Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Hinter ihm rutschte der lose Boden förmlich weg, als sich der Wahamuth nach oben katapultierte, für einen Augenblick die Sonnen verdunkelte. Zrqaa hatte keine Luft mehr zu schreien. *~~~+~~~* Tybalt atmete erleichtert durch, als er wieder an der Oberfläche saß, den freien Himmel unter Bäumen über sich. Er sortierte, den Mund von einem der jüngst abgekühlten Bonbons zugeklebt, Blätter und Beeren, mit denen er Farben herzustellen pflegte. Ifan kauerte neben ihm, beobachtete interessiert sein Tun, während mal rechts, mal links ihre Backe sich merklich ausbeulte. "Und dann?", eine Frage, die Tybalt durchaus zu fürchten gelernt hatte. Schließlich gab die Eiben-Dryade nicht auf, bis sie alles in Erfahrung gebracht hatte, was sie auch nur ansatzweise kümmerte. Er mümmelte betont mürrisch, wies auf die kärglichen Krümel in einem kleinen Töpfchen, machte reibende Bewegungen. "Ah, pulverisieren, ha? Und dann Wasser? Oder was anderes?" Tybalt grummelte, schluckte nachdrücklich und entschied, dass er sich wohl doch äußern musste. "Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass zu viel Neugierde unhöflich ist?", knurrte er bärbeißig. "Hm", kommentierte Ifan nonchalant, "eher, dass irgendwer keine Ahnung hat und nich schnell genug ne schlaue Antwort raushauen kann." Wieder einmal grinste sie ihn frech an. "Künstler fragt man nicht so einfach nach ihren Handwerksgeheimnissen!", polterte er, ein dezentes Erröten verwünschend. "Ich könnt n paar Schnörkel einbauen?", bot Ifan ungeniert an, "n bisschen schleimen." Das, befürchtete Tybalt mit gewissem Grauen, würde sich wahrscheinlich noch demoralisierender auf seine Psyche auswirken. Er seufzte. "Lass mich erst mal die Pulver verarbeiten, damit sie richtig trocknen können", schickte er sich drein. Immerhin, zu seiner Erleichterung, hatte sie noch nicht begonnen, selbst zu zeichnen! Und um sich ein klein wenig schadlos zu halten, was ungehörige Wissbegierde betraf, konterte er, "für wen haben wir übrigens die Hälfte der Bonbons da gelassen?" Ifan feixte, "na, für die Kronks natürlich!" *~~~+~~~* Zrqaa wurde unvermittelt hochgerissen, während sich um ihn herum die Welt verfinsterte. Dann verspürte er einen gewaltigen Schlag, wirbelte durch die Luft und prallte, wieder in der mittäglichen Gluthitze, auf Sand, der gar nicht weich bettete. Xaruli! Obwohl er in den Ohren nur noch ein Summen vernahm, sein Blick unscharf war, wusste er doch, dass er sofort wieder aufstehen musste. Der Wahamuth lag gänzlich auf dem Sand, auch wenn hier und da Ladungen tiefer rutschten in den Gang, den er gebohrt hatte. Wieder richtete er sich auf. Zrqaa, der nichts hören konnte, aber die Vibrationen verspürte, ahnte, dass das gewaltige Tier sich fallen lassen würde, um die orangefarbene Gestalt zerschmettern zu können, die in seinem Schatten reglos lag. Der schuppige Daimon trampelte und sprang auf der Stelle, den Wahamuth zu irritieren, dann begann er zu laufen, obwohl er Mühe hatte, genug Luft zu schöpfen. Der riesige Kopf des raupenartigen Tiers wandte sich mühsam herum. Kein Fels. Keine Zuflucht. Zrqaa wählte das hintere Ende, noch im Sand steckend, sprang auf den Panzer. Nun erklärte sich auch das seltsame Geräusch, denn entlang des gesamten Rückens zog sich ein Riss, der rohes Innenleben erkennen ließ, das entsetzlich stank und ausgaste. Der Wahamuth krümmte sich. Zrqaa flehte stumm, dass dies genügte, ausreichend Abstand sei. Dann begann das gewaltige Tier, sich zu drehen, in eine Rotation zu verfallen, denn es registrierte wohl, dass sich etwas auf seinem ohnehin verwundeten Leib bewegte. Einen wilden Schrei ausstoßend sprintete Zrqaa zum gepanzerten Schädel. *~~~+~~~* "Haben Sie das gehört?", erkundigte sich Casimir besorgt. Oona spähte in die Ferne, doch die Steppe bot wenig, was ihnen, hier in der Luft, gefährlich werden konnte. "Ich höre nichts", stellte sie fest, aber das hatte nicht allzu viel zu bedeuten. Nicht jede Frequenz stand ihr zu Gebote. Der Wasserdrachen schauderte, "klingt fürchterlich. Hab so was noch nie vernommen", murmelte er nervös. "Kommt es näher?", das zählte für Oona in erster Linie. "Nein...nein. Und...jetzt ist es weg, das Geräusch", stellte Casimir verunsichert fest. Oona brummte. Sie würde die Gegend noch genauer im Blick ihrer geschwärzten Augengläser behalten! *~~~+~~~* Zrqaa schluchzte aus tiefster Seele, aber er rammte seinen gewaltigen Dorn so oft in die stinkende Wunde, bis kein Zittern mehr durch den Wahamuth lief. Schlotternd rutschte er von dem gewaltigen Raupenleib herunter, stolperte zu Xaruli, der nur einen Meter entfernt von der dampfenden Leiche im Sand lag, reglos. Kostbare Tränen vergießend brach Zrqaa neben dem Engel ein, beugte sich über ihn und umklammerte ihn. Von einem Doppelschwingenpaar war nur noch ein einzelner Stumpf übrig, der andere Flügel zerknickt. Das zweite Paar war eingeklappt und hatte im Sturz viele zerbrochene Federn verloren. *~~~+~~~* "Weiter fliegen wir nicht", stellte Tankred entschieden fest. Das karge Gras unter ihnen verabschiedete sich final, kein Schatten mehr, nur noch Geröll, Sand und Felsen. "Bis zum Ende der Wüste!", erinnerte er grimmig. Strix kauerte unter einem verkrüppelten, längst abgestorbenen, kahlen Baum. Das versprach keinen Schatten, aber wenigstens konnte er sich einen Moment ausruhen. "Ja, als Außenposten nicht übel", konstatierte Oona, blickte sich gründlich um, ersetzte ihre geschwärzten Augengläser sogar durch einen Feldstecher. "Nun, wenn es keine Einwände gibt, könnten wir dieses Gewächs hier für den Rohrpostkasten benutzen?", mischte sich Casimir ein. Tankred nickte knapp, nahm sich des Kastens an und beäugte den früheren Baum kritisch. "Tja, also", wandte er sich um, Assistenz zu erbitten, "wie hoch denn in etwa?" Immerhin hatte er zwar eine genaue Vorstellung davon, wie groß Xaruli in aufrechter Haltung gewesen war, doch wenn andere sich nun auch beteiligen wollten? Falls hier irgendwer lebte. Casimir, der in Strix' Schattenwurf verstohlen seine Schuppen einölte, schickte einen fragenden Blick zu Oona. Die nahm Maß, zog zwei Steinsplitter als Keile aus ihren Taschen und rammte diese mit Wucht in das versteinerte Holz. Es gab, knirschend und knackend, nach. Gemeinsam mit Tankred justierte sie den Außenposten zivilisierter Fernkommunikation. "Schätze, wir warten mit dem Feuerwerk, bis es ganz dunkel ist", gab sie bekannt. In der Zwischenzeit würde sie entlang der Grasnarbe patrouillieren, um herauszufinden, wer da vorhin so seltsame Geräusche erzeugt hatte. *~~~+~~~* Als Xaruli die Augen öffnete, erblickte er den letzten Schimmer der konsekutiven Sonnenuntergänge am Himmel. Zrqaa hielt ihn in den dünnen Armen, streichelte und küsste ihn unablässig. "Hast du große Schmerzen?", erkundigte er sich gepeinigt, leckte über Xarulis Handfläche, die seine Wange streifte. Schmerzen? Ah. Der Engel registrierte, dass er Fehlfunktionen zu verzeichnen hatte. Aber obwohl ihn diese Schäden inkonvenierten und deshalb ein gewisses Unbehagen auslösten, verspürte er kein Leid, allerdings wachsende Sorge, was die elende Erscheinung seines Gefährten betraf. "Ich glaube, dass dein rechtes Bein und der Arm gebrochen sind", Zrqaa streichelte ihn unablässig, "und deine Schwingen..." Er brach ab, wandte den Kopf zur Seite. Xaruli versuchte, sich aufzusetzen, was mit der linken Seite recht ungelenk gelang. Wo war der Sandschlitten? Wo der Wahamuth? "Langsam, du tust dir noch weh!", ermahnte der schuppige Daimon ihn aufgeschreckt, "beweg dich nicht so viel!" Er atmete tief durch. "Ich habe um Hilfe gerufen, aber niemand ist gekommen, deshalb habe ich dich mit dem Umhang hierher gezogen", und alles andere zurückgelassen. Aber hier, auf dem flachen Felsen, gab es wenigstens Wasser. Wasser, das er unermüdlich zwischen die stummen Lippen geträufelt hatte. "Wenn es dir besser geht", Zrqaa bemühte sich um Tapferkeit, "dann ziehen wir zur Steppe hin, wo ich Hilfe holen kann." Dass ihm keiner seiner Clan-Mitglieder oder andere Nachbarn zu Hilfe geeilt waren, konnte er nachvollziehen. Wegen des Wahamuth. Xaruli hob die Linke, streichelte über die schuppige Haut, den Hornkamm. Es missfiel ihm, dass Zrqaa so kummervoll klang, so verkrümmt kauerte, frieren musste, weil er auf dem haarigen Umhang lag! "Ich habe den Wahamuth getötet!", stieß der Daimon schließlich hervor, "ich wollte es nicht tun, aber...!!" Aber dann hätte der Xaruli unter seinem gepanzerten Leib zerquetscht. Schon wieder schluchzte er, wie den halben Tag lang, doch der Schreck wollte und wollte nicht abklingen! Außerdem fürchtete er sich davor, dass Xaruli seinen Verletzungen erliegen würde. Hätte es ihn so erwischt, wäre er bestimmt schon gestorben! "Ich lass dich nicht allein!", wisperte er, küsste Xaruli, "hab keine Angst, ja? Alles wird gut! Wir schaffen das schon!" Worte, die er hauptsächlich für sich selbst fand, denn im Augenblick, bereits die lähmende Kälte in seinen dünnen Gliedern spürend, wusste er keinen Ausweg mehr. *~~~+~~~* Casimir postierte sich in gehöriger Entfernung zu seiner kleinen Expeditionsgesellschaft. Er war durchaus nervös, aber entschlossen, seinem Optime-Brief Ehre zu erweisen. Oona hatte ihm ohne viel Aufhebens dabei geholfen, eine mobile Abschussrampe zu errichten und saß nun, die Schocklanze in Reichweite, bequem auf dem harten Boden. Der Falkendaimon hatte den Arm um das Käuzchen gelegt, das durchaus erschöpft wirkte, jedoch das Transportrohr noch immer wie einen Talisman umklammerte. Tief durchatmend richtete der Wasserdrachen seine Aufmerksamkeit auf die Schwefelhölzer. Über ihnen war der nächtliche Himmel frei, nichts konnte getroffen oder von Funken versengt werden. Es war aber auch noch keine Feueraktivität am Firmament zu verzeichnen gewesen, die einen Hinweis darauf gab, wo sich der Engel befand. Casimir erzeugte eine Flamme und entzündete die Lunte der ersten Rakete. *~~~+~~~* "Oh!", Zrqaa verdrehte sich den Kopf, die grünen Funken am Nachthimmel zu betrachten, "Feuerwerk!" Umsichtig half er Xaruli, sich aufzurichten, doch das genügte dem Engel noch nicht. Er wollte stehen! "Oh nein, du wirst", Zrqaa verstummte, widerwillig in den warmen Umhang gehüllt, den Kiefer verblüfft hängend. Nicht nur Xarulis rechte Hand griff sicher nach seinem Arm, nein, auch das rechte Bein trug das Gewicht wieder! Die bleich-weiße Färbung war einem quittegelben Farbton gewichen. Xaruli beäugte seinen orangefarbenen Leib knapp, dann warf er den Kopf in den Nacken und schleuderte eine gewaltige Lohe in den Himmel. »Sieh mal an!«, dachte der Engel, »ich bin ein sich selbst wartendes Werkzeug, praktisch!« Nicht einen Wimpernschlag später schlang ihm Zrqaa die Arme um den Hals, schluchzte vor Erleichterung. Xaruli erwiderte die Umarmung. Tja, seine Schwingen schienen definitiv länger zu benötigen, sich zu erholen, aber hoffnungslos nahm sich seine Situation nun gewiss nicht mehr aus. Über ihnen, in der Ferne, wo das Sandmeer endete und die Steppe begann, tanzten nun blaue Funken in einem Glitzerregen vom Himmel. Xaruli antwortete mit einem kaskadierenden Feuerstoß. Na, wenn das keine Nachricht für sie war! *~~~+~~~* "Schau mal!", Tybalt, bereits an Ellenbogenstöße gewöhnt, schreckte aus einem leichten Dösen in der Astgabel hoch. Am Himmel glitzerten tatsächlich farbige Funken! Die Flammenstöße, auf die sie so lange gewartet haben, kamen jedoch in großer Distanz vom Boden. "Wie geht das, hm?!", Ifan, aufgeweckt wie sonst auch, warf ihm einen wissbegierigen Blick zu. Er zuckte nonchalant mit den Schultern, konnte es sich aber auch nicht erklären. Allerdings hoffte er zuversichtlich, dass dieser farbige Glitzerregen am Nachthimmel mit seiner Botschaft an Xaruli in Zusammenhang stand. "Explodierende Leuchtkäfer?", mutmaßte Ifan unterdessen, schaukelte aufgeregt. Der gesamte Baumwipfel geriet folglich in Schwingungen. "He, nicht so wild!", beklagte sich Tybalt prompt, der zwar keine Ahnung von Seekrankheit hatte, aber erwartete, sie sich hier auch noch zuzuziehen. "Oder Schwärmer! Die haben farbiges Pulver gefressen, so wie deine Farben, und jetzt rülpsen sie es raus! Oder pupsen!" Tybalt schnaubte kritisch, wenn auch zurückhaltend. Allzu oft hatte sich der scheinbare Unsinn, den Ifan heraustrompetete, später als Realität erwiesen, was ihn dann wie einen Hanswurst dastehen ließ! "Wenn es Käfer wären, würden sie nicht einfach explodieren", argumentierte er, "außerdem glitzern die Funken erst da oben!" "Vielleicht ist die Luft da besser?", mutmaßte Ifan ungeniert, "da können sie so richtig abgasen!" Ihr Tonfall verriet ungenierte Begeisterung für dieses anrüchige Sujet. "Wenn das stimmen würde, warum sieht man das denn sonst nicht?", wagte Tybalt tapfer Widerspruch. "Weil sie sonst eingesperrt sind und nur für diesen Moment mit Farbe gemästet wurden!", konterte Ifan feixend. Tybalt entschied, sich nicht weiter an diesen Spekulationen zu beteiligen, vielmehr konzentrierte er sich auf die Flammenstöße. Warum flog Xaruli nicht wie vorher? Ging es ihm gut? Die Flammen selbst wirkten so mächtig wie gewohnt, loderten in den Himmel. Ob er die Botschaft wohl in Empfang nahm? Und dann, würde alles enden? *~~~+~~~* "Er kommt gar nicht!", stellte Strix fest, nachdem auch die letzte Rakete in den Himmel geschossen worden war. Nicht mal vom Boden gelöst hatte sich der Engel! "Vielleicht glaubt er, wir wollten ihn wegen dieser Sache im Wald belangen", brummte Tankred, der befand, man habe sein Möglichstes getan. "Aber nein!", widersprach Strix ihm heftig, "das hätte man ja zuvor schon tun können, immerhin ist er nicht gerade unauffällig!" Der Falkendaimon grummelte leiser, "aber JETZT ist eine Inspize unterwegs." Möglicherweise hatte sich dieser Umstand schon per Stiller Post (oder wie auch immer die unsichtbaren Bewohnenden dieses überdimensionierten Katzenklos kommunizierten!) herumgesprochen! "Ist ein gutes Stück entfernt", Oona, die zwar Tankreds Worte vernommen hatte, sich aber nicht daran störte, setzte ihren Feldstecher ab. "Konnten Sie etwas Genaues erkennen, ehrenwerte Inspize Oona?", Casimir, erleichtert, dass alle Raketen planvoll und in der richtigen Höhe gezündet hatten, blinzelte aus Kulleraugen hoch. "Hm", der Banshee runzelte leicht die Stirn, "Ausgangspunkt der Flammen ist etwas über Bodenniveau." Ihre Linke signalisierte ihre Brusthöhe, "keine Flugbewegung." Durch die blendende Helligkeit der einzelnen Lohen konnte sie auch keine Details ausmachen. "Gemorst hat er nicht, oder?", wandte sie sich dem Käuzchen zu. "Ah, nein", Strix schüttelte entschieden den Kopf, wickelte sich gegen die Kälte enger in sein Cape, "aus einem nicht bekannten Grund kann Xaruli weder lesen, noch schreiben. Zeichnen, ja." Er seufzte leise, "ich verstehe es auch nicht, aber er kann auch nicht sprechen, keine Engelszunge. Sehr ungewöhnlich. Keine Schriftzeichen. Wir haben unterschiedliche erprobt." Die Inspize ließ sich neben ihrer aufgepflanzten Schocklanze nieder. "Wir sollten uns jetzt ausruhen", legte sie den Fahrplan fest, "es war ein anstrengender Tag." Dann streute sie gesammelte Trockenknister um ihr improvisiertes Lager aus, die eine unerwünschte Annäherung unterbinden sollten. *~~~+~~~* Zrqaa streichelte durch die Engelslocken, versuchte, den Blick auf die weißen, geschrumpften, teils abgerissenen Doppelschwingen zu vermeiden. "Werden wir morgen dort hingehen?", erkundigte er sich bange. Wenn man eigens farbige Raketen in den Himmel schoss, dort, wo niemand lebte, dann wollten Xarulis Freunde ihn vielleicht wieder zu sich holen? "Es ist allerdings nicht ganz ungefährlich", murmelte er, "einen Teil der Strecke ist man ungeschützt." Einige der größeren Felsmassive waren von Clan-Mitgliedern bewohnt, die es vermutlich nicht goutierten, wenn sie dort eine Rast einlegten. Xaruli strich ihm über die schuppige Haut, drückte ihn behutsam, aber entschieden an sich. Er musste nachdenken und sein mutiger, selbstloser Gefährte endlich schlafen! *~~~+~~~* Kapitel 28 "Aber wenn er heute kommt, wo er doch viel besser sehen kann?!", Strix ballte die Fäuste. Sie konnten doch nicht einfach aufbrechen, zurückkehren, ohne dass er sicher war, die Botschaft ihrem Empfänger überantwortet zu haben! "Wir haben nicht so viel Proviant, um darauf zu warten, wann es ihm beliebt, hier aufzukreuzen!", stellte Tankred streng klar. "Aber wenn nun andere die Botschaft mitnehmen?", immerhin, das Transportrohr steckte im Rohrpostkasten, der ordnungsgemäß durch eine kleine Flagge anzeigte, dass er gefüllt war. "Wer denn?!", gestikulierte der Falkendaimon grimmig, "hier ist NIEMAND!" Oona mischte sich in den Streit ein, der bereits aufgeflauschte Daunen zeitigte. "Ich komme auf meiner Runde hier vorbei und sehe einfach nach, ob das Bild abgeholt worden ist", verkündete sie, "im Übrigen sollten wir aufbrechen. Die Temperaturen steigen schon an." Casimir, der sich schüchtern um die Schocklanze ringelte, erkundigte sich, "Ehrenwerte Inspize Oona, werden Sie uns zurück zur Stadt begleiten?" Der Banshee schüttelte knapp den Kopf, "wenn wir die Steppe hinter uns lassen, werde ich meine übliche Runde wieder aufnehmen. Was ist, möchtest du in deinen Ferien eine Bergtour unternehmen?" Der Wasserdrache stutzte, "eine Bergtour?" "Ja", die Inspize lächelte sparsam, "es gibt einen gewaltigen Gebirgszug, der die Steppe und die Wüste von einem feucht-warmen Gebiet trennt." Er zögerte, aber es stand zu befürchten, dass er weder in der Metropole, noch bei seinen Cousins in der nächsten Zeit wohlgelitten sein würde, nachdem er seiner Profession nachgegangen war als Feuerwerk-Optime gegen die örtliche Innung. "Ich denke, es wäre angebracht, meinen Horizont gründlich zu erweitern", formulierte er langsam, die Schnurrbarthaare glättend. Wer konnte sich auch den Luxus leisten, mit einer Inspize zu reisen?! Sicherer ging es doch gar nicht! "Dann machen wir uns jetzt auf den Weg", stellte Tankred kategorisch fest, streckte die Hand aus, "Käuzchen?" Strix schmollte zwar, erkannte jedoch, dass es keinen Sinn hatte, länger auszuharren, auch wenn er es entsetzlich enttäuschend fand, so zurückzukehren, ohne ein gutes Ende, ohne ein fröhliches Wiedersehen, eine Botschaft in die umgekehrte Richtung, einen Gruß an Tybalt! Der Falkendämon hielt sich nicht lange auf, sondern schnappte sich das Käuzchen geübt um die Mitte und hob ab. Allzu viele Bäume mochte er zwar nicht, aber überall Sandkörner und Staub im Gefieder, das behagte ihm noch weniger! Jedenfalls reichte es ihm jetzt erst mal mit Abenteuern! Oona schmunzelte, bot Casimir den Platz auf ihren Schultern an und federte ebenfalls mühelos von der Grassode ab. Sie hatte das Gefühl, als würde sie bestimmt nicht das letzte Mal von diesem umtriebigen Käuzchen hören! *~~~+~~~* Zrqaa grub nach Wasser. Viel fand er nicht, weil er sich über Gebühr bedient hatte, um Xaruli damit zu versorgen, dessen vermeintlichen Tod zu verhindern. Am Morgen nach dem epischen Kampf mit dem Wahamuth, der in Wirklichkeit nicht mal zehn Minuten bis zum letzten Zucken gedauert hatte, fühlte er sich benommen, wie eine andere Person. Vorher war er lediglich ausgestoßen gewesen, weil es ihm gefiel, von anderen Männchen verwöhnt zu werden, JETZT hatte er einen Wahamuth getötet! Nicht, dass ihn etwa Stolz erfüllt hätte, nein, ganz im Gegenteil, es bekümmerte ihn. Er hatte den Tod des Wahamuth nicht gewollt, ebenso wenig dessen mutmaßlich letale Verletzung durch den Aufprall mit dem Felsmassiv. Warum musste es so enden? Andererseits, wenn er die sich langsam wieder in das gewohnte Orange färbenden Glieder des Engels betrachtete, konnte er auch nicht mit seiner Entscheidung hadern. Xaruli zu beschützen, ihn zu retten, das erzeugte keinerlei Zweifel. Niemals hätte er mit dem bewusstlosen Gefährten fliehen können, ihn außer Reichweite ziehen. Allein schon der Transport zu dem flachen Massiv hatte ihn beinahe alle Kräfte gekostet! Denn tragen konnte er den Engel nicht, hatte ihn auf dem Fellumhang hinter sich her zerren müssen, alles zurücklassen. Eine glatte Handfläche legte sich auf seinen Hornkamm, streichelte ihn. Zrqaa blickte hoch, lächelte bemüht, ignorierte die zerstörten Flügel entschlossen, damit ihm nicht ständig das Herz zusammenkrampfte. Xaruli hingegen hatte die kurze Nacht genutzt. Er konnte sich bewegen, laufen, greifen. Zugegeben, an Fliegen war wohl für eine ganze Weile nicht zu denken, aber darauf kam es auch gar nicht an, denn immerhin hatte er sich vorher ja auch zu Fuß bewegt! Was stand nun als Nächstes zu tun an? Nun, als Erstes galt es, ihren Sandschlitten zu bergen, Schäden festzustellen. Konnte man vielleicht den Fesselballon schon nutzen? Die Ruderpinne funktionierte zumindest im Prinzip, deshalb sollte es möglich sein, über den Sand zu gleiten und mit ihrer Hilfe den Schlitten auszusteuern. Wenn ausreichend sichergestellt war, dass sich ihr Sandschlitten mühelos bewegen konnte, würde er mit Zrqaa an den Rand reisen, dorthin, wo das Feuerwerk abgeschossen worden war. Eine Botschaft an ihn, ganz unzweifelhaft. Er ging in die Hocke, fasste Zrqaas Klauen mit beiden Händen und zog diesen auf die dünnen Beine. Der Weg zum Schlitten sollte ungefährlich sein, denn auch die Wahamuth mussten begriffen haben, dass einer von ihnen jetzt in der Sonnenglut briet! *~~~+~~~* Tybalt beäugte misstrauisch, aber auch schicksalsergeben, wie Ifan die Farben in seinen Töpfchen anrührte, durchaus anstellig, das konnte man nicht bestreiten. "Du hast mir noch nicht gezeigt, wie das mit den Strick-Dingern geht", erinnerte sie ihn beiläufig. "Dazu brauchen wir aber lange Fasern", grummelte er, glättete die ersten, sehr viel besseren Papierbögen, "richtig lange! Nicht bloß ein paar dünne Hälmchen!" "Und wie macht man die?", Ifan stöpselte umtriebig. "Mit einer Spule, genau!", improvisierte Tybalt hastig, "man muss die einzelnen Fasern ganz fest ineinander verdrehen!" Da Xaruli fertige Wollfäden genutzt hatte, konnte er über Details bloß fabulieren. "WasisneSpule?", die einzelnen Töpfchen wurden in größter Konzentration einem Setzkasten anvertraut. "So eine Art schwerer Keil! Der zieht die Fasern in die Länge, damit man sie aufwickeln kann", kämpfte Tybalt hastig mit dem Unbekannten. "Aha", ließ Ifan ihn wissen, die roten Augen durchleuchteten ihn förmlich, "also Fellfäden-Wolle." Sie setzte die geliebte Mütze ab und betrachtete sie eingehend. Tybalt schwante unwillkürlich die nächste Katastrophe. "Hör mal, du kannst nicht irgendeinem Tier einfach das Fell abrasieren, ja?!", warnte er aufgeschreckt. "Ich?", Ifan musterte ihn verblüfft, "Türlich nich!" Noch einen ungemütlichen Moment länger dilettierte Tybalt mit einem strengen Blick. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass diese grundehrliche Versicherung nicht ALLES umfasste, was er ausschließen wollte. *~~~+~~~* Xaruli umrundete den zweiten Wahamuth, der unweit der ausgeplünderten Reste des ersten lag und stank. Nein, das stand außer Zweifel, bedienen konnte man sich an diesem Exemplar erst, wenn ein größerer Anteil verrottet war. Zrqaa, der bei ihrem unversehrten Sandschlitten kauerte, wirkte noch immer angeschlagen. Aber gut, Ersatzteile und Nachschub standen dementsprechend zur Verfügung, wenn man die Geduld aufbrachte. Der Engel wandte sich entschlossen ab, hielt auf ihr Wüstenschiff zu. Dieses Mal stand der Fesselballon schon hoch in der heißen Luft, lupfte den Sandschlitten beinahe vom Boden. Die Halteseile waren aufgerollt worden, damit Xaruli, im Panzer stehend, keine Mühe hatte, die gefangene Luft anzufachen. Er überließ mit einer auffordernden Geste den Platz an der Ruderpinne seinem Gefährten. Zrqaa lächelte nervös. "Ich hoffe, dass ich das richtig mache", murmelte der schuppige Daimon. Xaruli beugte sich vor, rieb ihre Nasenspitzen aneinander. Ihn beschlichen nicht die geringsten Zweifel! *~~~+~~~* Zrqaa wartete unbehaglich neben ihrem Sandschlitten, beäugte die Steppe. Xaruli hatte die seltsame Einrichtung geöffnet, woraufhin der kleine Zeiger verschwunden war. Nun rollte er etwas aus. Langsam sank die Dämmerung über die Zrqaa fremde Umgebung und er fürchtete, Xaruli würde sich entschließen, doch zu gehen, immerhin gab es hier stets festen Boden, hatte man für ihn sogar den Nachthimmel bemalt! Bange verfolgte er die Annäherung des Engels, der ihm nun auch das Papier präsentierte, eine Karte mit verschiedenen Personen. "Sie möchten wohl, dass du sie besuchst, nicht wahr?", zwang Zrqaa sich zu einem munteren Tonfall. Xaruli deutete auf ihr Wüstenschiff und schüttelte energisch den Kopf. Solange es noch nicht abheben konnte, stand ganz außer Zweifel, dass er das Sandmeer hinter sich lassen würde! "Wenn es deinen Flügeln wieder gut geht", Zrqaa räusperte sich, "dann passe ich auf den Schlitten auf und du kannst sie treffen, ja?" Wenn dem Engel ihr Schlitten so viel bedeutete, würde er auch zurückkommen! Die schwarzen Augäpfel musterten ihn unverwandt. "Ich verstehe das", wiederholt nickte Zrqaa, "Freunde und Familie sind sehr wichtig! Ich warte, das macht mir nichts aus!" Endlich rollte Xaruli das Bild ein, schob es in den Beutel, der sein Namensschild und die restlichen Glasmurmeln enthielt, dann legte er beide Hände um Zrqaas Haupt, rieb ihre Nasenspitzen aneinander. "Solange du wiederkommst, macht es mir nichts aus", versprach der schuppige Dämon leise, doch Xaruli hegte keinerlei Absichten, seinen Gefährten der ausgestoßenen Einsamkeit der Wüste zu überlassen. Wenn er irgendwann einmal dieses Sandmeer verabschiedete, dann nur mit Zrqaa an seiner Seite. Er löste seine Hände, nahm Zrqaa bei einer Klaue und wanderte mit ihm zum versteinerten Baum. Prüfend blickte er sich um. Wie konnte ER eine Botschaft hinterlassen?! Hier lagen kein Papier, kein Stück Rinde und ein Kohlestift bereit. Hmmm.... Xaruli zog Zrqaa zu einigen Steinsplittern, sammelte sie auf. Er deponierte sie in den losen Sand, ganz wie ein Mosaik, feuerte dann so ausdauernd mit weißglühender Lohe auf sie, bis sich ihre Oberfläche verflüssigte. Zrqaa neben ihm keuchte beeindruckt. Artig reichte er auch seinen Dorn weiter, damit Xaruli SEINE Nachricht in das rasch auskühlende Steinpaneel kratzen konnte. Der Engel richtete sich zufrieden auf. Er tippte auf die Skizze, dann nacheinander auf ihre Nasenspitzen und den Dorn. Zrqaa nickte und kratzte geschickt die Schriftzeichen für ihre Namen unter zwei muntere Gestalten, die vor einem Sandschlitten Hand-Klaue hielten. *~~~+~~~* "Und dann?!", Strix seufzte tief, die schmächtigen Schultern sackten herunter, "dann sind wir umgekehrt." Einige Herzschläge ungläubigen Schweigens schlossen sich an, bevor das Auditorium zu raunen begann. Wie denn, keine Antwort?! Keine Wiedersehensfreude?! "Wir hoffen, dass gleich ein Feuerzeichen kommt!", das Käuzchen seufzte erneut. "Und da war niemand, da draußen?", zugegeben, sie alle hatten nur eine vage Ahnung, was sich in diesem unterbevölkerten Gebiet so tat, denn von da kam ja nichts! Zumindest keine Handelsreisenden oder interessante Neuigkeiten. Da konnte man vermutlich ungehindert tot über dem Zaun hängen, und niemand störte sich daran. "Niemand ist uns begegnet", gestand Strix ein, "aber Casimir, der Wasserdrache und unser Feuerwerks-Optime, hat unterwegs ein seltsames Geräusch gehört." "Ach ja? Was für eins?" "Vermutlich das Gähnen der Langeweile, weil da nichts los ist." "Könnte aber auch etwas anderes gewesen sein!" "Zum Beispiel?! Der berühmte Baum, der umkippt, ohne dass einer zuhört?!" Man diskutierte lebhafter. Am Nachthimmel, recht weit oben, detonierte eine Rakete mit silbernem Glitzern. "Ooooh, wer war das?! Ist das bei der Wüste?!" Strix blickte ebenso verblüfft an den Himmel, wo sich langsam die letzten Partikel auflösten. Wie konnte das sein? "Eine Antwort! Das ist das Signal, dass Antwortpost im Kasten ist!", vermutete jemand euphorisch in der Menge. Nicht mal drei Atemzüge später herrschte darüber im gesamten Rund Konsens. Klar, wie sollte man sonst auch die Aero-Flott auf die Leerung aufmerksam machen?! Der Rohrpostkasten war ja nicht angeschlossen ans System! Tankred, der sich als Malabsorbo durch die Menge schob, um das verrückte Käuzchen abzupflücken, bevor es sich in die nächste Kalamität brachte, hegte eine andere Vermutung. Der Wasserdrache, mutmaßlich entsetzlich sentimental, hatte bestimmt eine Rakete dort heimlich zurückgelassen, damit sich hier gleich ein neues Schlamassel auftrat! "Nein!", knurrte er Strix an, bevor der auch nur den Schnabel öffnen konnte, "ausgeschlossen, wir fliegen da nicht hin! Du wartest, bis die Inspize ihre Runde beendet!" Ihm reichte es jetzt nämlich. Zu seiner maßlosen Verwunderung widersprach Strix ihm nicht, sondern ließ sich artig schnappen und beschleunigt vom Markt durch die Luft entfernen. Unter ihm blühten bereits wunderliche, phantasievolle, begeisterte Mutmaßungen, wie es wohl weitergehen würde. "Wusstest du", das Käuzchen kuschelte getröstet ob der guten Nachricht, "dass es einen unterirdischen Gang zum Wald hin gibt, wo Tybalt und Ifan leben?" Tankred stöhnte vernehmlich auf. *~~~+~~~* Oona tauchte ihre nackten Füße gemütlich in das Wasser, unterdrückte ein nachsichtiges Grinsen. Casimir, der ihr sein Arbeitsmaterial anvertraut hatte, das AUF KEINEN FALL feucht werden durfte, planschte ausgelassen mit den Wasserdaimonenkindern herum, die eigentlich schon schlafen sollten. So, so, der kleine Feuerwerk-Optime hatte also ein ganz weiches Drachenherz! Nun, die dicht bewimperten Kulleraugen verrieten schon Einiges. Dann würde sie sich eben mit ihrer Runde auch kreativ zeigen, um die Antwort des Feuerengels an seine Freunde abzuliefern. *~~~+~~~* Tybalt starrte ungläubig auf den losen Haufen dunkler Wolle. Dieser roch noch nach dem Körperfett seiner ehemaligen Tragenden.. "Hier", Ifan, die ihn in aller Frühe aus der Platane geschüttelt hatte, drückte ihm auch noch eine Spindel in die Hand. "Ich KANN das nicht!", protestierte Tybalt schrill, "was hast du jetzt bloß wieder angestellt?!" "Ich doch nich!", widersprach die Eiben-Dryade gelassen, "also, wie ziehen wir jetzt die Fäden lang?" Tybalt jaulte auf, "ich will HEIM!!" *~~~+~~~* "Und da lagen sie dann herum, so vollgefressen, dass sie sich nicht rühren konnten und ihr Fell war geschoren!!" "Wirklich geschoren? Oder eher die Mauser?" "Sind doch keine Vögel!" "Wurde jemand verletzt?" "Pah, wie denn, die Viecher sind gewaltig! Die waren zu satt für irgendwas!" "Wer macht so was?" "Und wozu soll man die Zotteln denn verwenden?! Sind doch ganz kratzig!" "Und sie riechen!" "Na hör mal, jeder riecht ja irgendwie!" "Herr Kauz! Herr Kauz!" Strix, der eifrig lauschte und sich durch die diskutierende Menge schob, blieb stehen. "Sagen Sie, Herr Kauz, was denken Sie darüber?" "Ja, genau, wer macht so was?" "Kronks, sage ich euch!" "Quatsch, die gibt es doch gar nicht!" "Ach ja?! Nur, weil sie keiner gesehen hat?! Aber Luft atmest du schon, oder?!" "Das ist ja wohl nicht dasselbe!" Strix zückte sein Notizbuch aus dem Umhängebeutel und stenografierte emsig. "Ja, das muss man doch herausfinden!" "Aber keiner hat P.U.D.E.L. gesehen!" "Und?! Wir wollen wissen, was dahinter steckt!" "Pah, das kriegt doch keiner mehr raus!" Das Käuzchen räusperte sich. "Also, man könnte sich schon etwas vorstellen", begann er, und weil er so viele Erzählungen kannte, die er in seinem "Tempel" erfahren hatte, fiel es ihm leicht, eine mögliche Erklärung in eine phantastische Geschichte einzuspinnen. Unweit lehnten sich zwei KOK-Offize an eine Hauswand an. "Also, macht sich gut, der Kauz!" "Hmm, sehr spannend. Gefällt mir." Sie nickten sich zu. Daumen hoch für eine weitere, ganz neue Profession! *~~~+~~~* Freiwillig, so ohne Not, würde er NIEMALS hier aufschlagen! Ganz klare Sache! Aber er verspürte immer noch so etwas wie eine Verpflichtung, auch wenn ihm die dekadente Bande hier MÄCHTIG auf den Trichter ging! Lodur knurrte grimmig rüber zum inkontinenten Fenriswolf, der prompt den ausgefransten Teppich wässerte und sich dann verkroch. Seine schlimmste Prüfung müsste er jetzt noch überstehen und dem zottelbärtigen, alten Dummschwätzer zuhören, bevor er sich endlich an die Arbeit begeben konnte. Lacrimosa, sein rosafarbenes Engelchen, blieb brav einige Schritte hinter ihm, lächelte so klebrig und süß wie Zuckerwatte in die Runde. *~~~+~~~* "Dämlicher Dampfplauderer! Schnarchsack! Chauvinistischer Schwachmat!", Lodur donnerte diese derogativen Ausführungen nicht lautstark durch die Gegend, aber sie mussten heraus. Ungefährlich, denn sein Engel konnte sie ja nicht hören, was gelegentliche Entgleisungen entschuldigte. Dieser unqualifizierte Zausel hatte weder seine neue Frisur komplimentiert, noch seinen akkurat gestutzten, prächtig gewachsten Schnurrbart erwähnt, dabei zeigte sich hier die mühelose Meisterschaft seines Engel-Kompagnons!! Gut, es ließ sich auch leichter kommunizieren, das stimmte. Aber machte er jetzt nicht unheimlich was her?! Richtig chic, das befand er ja selbst, und er hatte JAHRTAUSENDE an Moden kommen und gehen sehen! "Ignoranter Pfeifenkopp!" Lacrimosa spazierte neben ihm auf gleicher Höhe, immerhin waren sie ja nicht mehr bei Ex-Götterns unterwegs, in der Exklave, die man ihnen zugestanden hatte. Der rosafarbene Engel trug einen braun-geblümten Overall und alles an Werkzeug, was Flora-Pflegenden zu Gebote stand. Ja, man konnte ihn, Lodur, einen kauzigen Kodderer schimpfen (außer Reichweite seiner Dampfhammerfäuste), aber er ließ sich nicht lumpen, wenn jemand das Handwerk verstand! Apropos Handwerk! Der frühere Gott und nun überzeugte Daimon legte eine Pranke auf seine geölte Schleuder, blickte finster um sich Richtung Himmel. Wo trieben sich die schietigen Mistviecher des alten Großmauls herum? Nur, weil der in die blöden Flugaffen vernarrt war, durften sie jeden bescheißen, ganz ungestraft! Lodur vermutete grimmig, dass die beiden blöden Raben eigentlich das Gehirn seines EX-EX-EX-aber so was von EX-Partners waren, und der bloß die ausgestopfte Dekoration. Aber ihm sollten sie besser nicht auf den Kopf kacken, denn ER würde sie runterholen, aber zackig! Er schnaubte. Diesen Ausflug, pünktlich einmal im Monat, unternahm er nur wegen der Yggdrasil. Sie hatte nichts getan, war mit dieser armseligen Bande übergesiedelt worden und bedurfte der Pflege, wovon natürlich keiner der Dumpfbacken hier etwas verstand! Met saufen, aufgeblasen öde Anekdoten aus der frühen Steinzeit brabbeln und sich die Läuse im Pelz pulen, mehr hatten die hier doch nicht drauf! Aber so eine Weltenesche war eben nicht von der Welt! Er wollte sie nicht an dem fiesen Schlauchpilz eingehen lassen, der ihre "gemeinen" Verwandten nahe ans Aussterben führte. Eigentlich hätte er die Yggdrasil gern aus dieser Umgebung von Degeneration, Vernachlässigung und grassierender Blödheit entnommen, das blieb jedoch untersagt, da ließ der Große M aus Rücksicht auf den Vollidioten mit der Augenklappe nicht mit sich spaßen! "Pah!", schimpfte Lodur, stets aufs Neue aufgebracht, weshalb er eben einmal im Monat hierher pilgerte, mörderische Anwandlungen standhaft unterdrückte und sich liebevoll um die uralte Pflanze kümmerte. Er legte eine Pranke auf die schmale Schulter des Engels. Lacrimosa blickte hoch, lächelte aber keineswegs mehr so zuckrig wie zuvor. Tarnung, darauf hatten sie sich verständigt, nicht, dass das nötig gewesen wäre, weil der oberste Schnarchsack den Engel nicht mal zur Kenntnis nahm. Gab es in seiner Welt nicht, existierte also nicht! "Trinken wir ne Brause!", schlug Lodur vor. Sein Engel hatte sich schließlich mustergültig verhalten, trotz dieser ganzen Deppen! Außerdem war Lacrimosa in Rekordzeit ausgewachsen, ein Zeichen dafür, dass die gewählten Aufgaben ihrem Engelsanspruch mehr als genügten! Ja, Herr Lodur, der sich sonst so gar nicht mit allem beschäftigen wollte, was nicht entfernt Chlorophyll verarbeitete, hatte sich dem Thema ausführlich gewidmet. Abgesehen von der Taubheit, die ihn nicht störte, weil Lacrimosa ihn auch nicht in Grund und Boden schwatzte. Es gab REIN GAR NICHTS auszusetzen an seinem Engel! Selbst die für seine eigene, gewaltige Körpergröße etwas zierliche Anmutung (der rosige Kopf erreichte gerade mal seine Ellenbogen) inkommodierte ihn nicht. Zudem bewahrheitete sich das, was die beiden aufdringlichen Daimonen ihm diktiert hatten: Lacrimosa war ENORM gut im Lippenablesen und bei der Körpersprache-Analyse. Der Engel selbst hätte, mit einem zuckrigen Grinsen, ergänzt, auch noch im "Lodur-Management", aber das ging schließlich niemanden etwas an. Der beäugte gerade kritisch den Himmel, doch die beiden heimtückischen Federsäcke zogen es vor, in Deckung zu bleiben. "Gut für euch, dann fallen die Chicken-Nuggets heute aus", knurrte Lodur. Lacrimosa tippte ihn an, ganz subtil, beiläufig. Aufmerksam blickte er herunter, in eine nicht ganz geschlossene Tasche des Overalls. Ein kleines Blättchen ragte hervor. Lodur schnappte unwillkürlich nach Luft. Der Engel lächelte hoch, so breit, dass die Ohren förmlich Besuch bekamen, weshalb die Ahnungslosen glaubten, Lacrimosa sei ein wenig beschränkt. Lodur hingegen, der es sehr viel besser wusste, lachte so dröhnend heraus, dass einige Hauswände mitschwangen. Ja, er HATTE gewisse Regeln, was Kleptomanie betraf! Aber, verdammt noch mal, Pflanzen-Kleptomanie, DIE entschuldigte er immer und überall. Lacrimosa schmunzelte (das hatte der Engel bei Lodur abgeschaut, der gern mit seinen Kakteen flirtete und ihnen Komplimente machte), tätschelte den Ableger der Yggdrasil zärtlich. Ja, zu zweit waren sie einfach DAS perfekte Team! *~~~+~~~* ENDE *~~~+~~~* Vielen Dank fürs Lesen! kimera